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Die exportkontrollrechtliche Ausfuhrgenehmigung - EFA-Schriften

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Mendel Verlag


<strong>Schriften</strong>reihe<br />

des Europäischen Forums<br />

für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll e.V.<br />

an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster<br />

Band 42<br />

II


<strong>Die</strong> <strong>exportkontrollrechtliche</strong><br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

unter Berücksichtigung von Gemeinschaftsverwaltungs-<br />

recht und Aspekten der Gefahrenprävention<br />

von<br />

Nils Weith<br />

Mendel Verlag<br />

III


D 6<br />

Mendel Verlag GmbH & Co. KG<br />

Gerichtsstraße 42, 58452 Witten<br />

Telefon +49-2302-202930<br />

Fax +49-2302-2029311<br />

E-Mail info@mendel-verlag.de<br />

Internet mendel-verlag.de<br />

ISBN 978-3-930670-69-7<br />

Alle Angaben ohne Gewähr. Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen jeglicher Art sind nur<br />

nach Genehmigung durch den Verlag erlaubt.<br />

Herausgeber: Europäisches Forum für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll e.V.,<br />

Universitätsstr. 14-16, 48143 Münster, E-Mail: efa@uni-muenster.de<br />

Einbandentwurf: KJM GmbH Werbeagentur, Hafenweg 22, 48155 Münster, Internet:<br />

www.KJM.de<br />

© 2009 by Mendel Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten<br />

IV


Meinen Kindern Pascal, Chiara-Eliza und Leni Johanna<br />

V


Vorwort<br />

VI


Vorwort<br />

Vorwort<br />

<strong>Die</strong> vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2008 von der Rechtswissenschaftlichen<br />

Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster<br />

als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten im<br />

Wesentlichen bis Januar 2008 berücksichtigt werden.<br />

Im Laufe der Arbeit an einer Dissertation kommt bisweilen die Frage auf,<br />

wofür die Mühe lohnt. Beim Verfassen des Vorwortes findet sich schließlich<br />

zumindest ein Teil der Antwort: Auch, um einmal offiziell danken zu können.<br />

Mein herzlicher Dank zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans-<br />

Michael Wolffgang. Er hat mich dazu ermutigt, in dieser Arbeit praktische<br />

Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenzuführen. Bei<br />

der Entwicklung des Themas und in der Umsetzung hat er mich regelmäßig<br />

bestärkt. Ohne seine Geduld hätte ich diese interessante wissenschaftliche<br />

Aufgabe nicht mit meinen beruflichen Pflichten und familiären Freuden vereinbaren<br />

können. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr.<br />

Christian Calliess. Er hat nicht nur das Zweitgutachten gefertigt, sondern<br />

stand mir schon in einem sehr frühen Stadium der Arbeit mit Zeit und Rat<br />

zur Seite.<br />

Mein Dank gilt auch den Kollegen und Freunden, die mich immer in dem<br />

Projekt unterstützt und/oder mit Korrekturhilfen geholfen haben. Dazu gehören<br />

besonders Dr. Daniela Hein und Christof Wegner sowie Evelyn Helm,<br />

Johannes Höfer und Dr. Alexander von Portatius.<br />

Schließlich und ganz besonders danke ich meiner Familie. Meine Eltern Ulrike<br />

und Werner haben mir das juristische Studium ermöglicht. Und auch in<br />

den zurückliegenden Jahren waren sie jederzeit bereit, mich bei meinen Projekten<br />

und Zielen zu unterstützen. Ohne sie wäre vieles nicht möglich gewesen.<br />

Gleiches gilt selbstverständlich für meine Frau Sandra. Nicht nur ihr<br />

täglicher Zuspruch, sondern auch ihr geduldiger Verzicht sind der Grundstein<br />

für diese Arbeit. Vor allem ihre und die Lebensfreude unserer drei Kinder<br />

sind die wesentliche Quelle der Kraft und Ausdauer, die man für erfolgreiche<br />

Projekte braucht. Zum Dank dafür eine feste Umarmung!<br />

Berlin, im Mai 2009 Nils Weith<br />

VII


Inhaltsübersicht<br />

VIII


Inhaltsübersicht<br />

Inhaltsübersicht<br />

Seite<br />

Widmung ....................................................................................................... V<br />

Vorwort ........................................................................................................VII<br />

Inhaltsverzeichnis .........................................................................................XI<br />

Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XXI<br />

Literaturverzeichnis ...............................................................................XXVII<br />

Einleitung.............................................................................................. 1<br />

Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei<br />

Exportkontrollen.................................................................................. 3<br />

I. Standortbestimmung.......................................................................... 3<br />

II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle ............................................. 4<br />

III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die<br />

nationale Gesetzgebung ................................................................... 58<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1.......................................................... 79<br />

Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und<br />

gerichtliche Überprüfung ................................................................. 81<br />

I. Standortbestimmung........................................................................ 81<br />

II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der<br />

Verwaltung........................................................................................ 82<br />

III. Typus administrativen Handelns bei der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 117<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2........................................................ 135<br />

Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung................................................... 137<br />

I. Standortbestimmung...................................................................... 137<br />

II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite...................... 138<br />

IX


Inhaltsübersicht<br />

III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge................................. 170<br />

IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung .............................. 196<br />

V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts .................... 226<br />

VI. Schlussfolgerungen aus Teil 3........................................................ 272<br />

Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der<br />

Risikovorsorge bei Exportkontrollen ............................................ 273<br />

I. Standortbestimmung...................................................................... 273<br />

II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten.................................................... 273<br />

III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 306<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre ...... 320<br />

Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der<br />

Risikovorsorge durch Exportkontrollen ....................................... 325<br />

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse................................. 325<br />

X


Inhaltsverzeichnis<br />

Seite<br />

Widmung ....................................................................................................... V<br />

Vorwort ........................................................................................................VII<br />

Inhaltsübersicht.............................................................................................IX<br />

Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XXI<br />

Literaturverzeichnis ...............................................................................XXVII<br />

Einleitung.............................................................................................. 1<br />

Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei<br />

Exportkontrollen.................................................................................. 3<br />

I. Standortbestimmung.......................................................................... 3<br />

II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle ............................................. 4<br />

1. Exportkontrollrecht als Teil des Außenwirtschaftsrechts..................... 5<br />

2. Geschichtliche Entwicklung ................................................................ 7<br />

a) Handelsbeschränkungen und der Weg zu<br />

Exportkontrollen ........................................................................... 8<br />

b) Exportkontrollen nach 1945.......................................................... 9<br />

c) Jüngere Entwicklungen bei Exportkontrollen............................. 11<br />

d) Ergebnis....................................................................................... 12<br />

3. Kontrollansatz und Regelungssystem ................................................ 12<br />

a) Begriff des Dual-use-Gutes und Kontrollansätze ....................... 12<br />

b) Das internationale Kontrollsystem.............................................. 15<br />

c) <strong>Die</strong> Exportkontrollregimes.......................................................... 15<br />

aa) Nuclear Suppliers Group und Zangger Committee ............. 16<br />

bb) Missile Technology Control Regime ................................... 17<br />

cc) Australische Gruppe und CWÜ ........................................... 18<br />

dd) Wassenaar Regime ............................................................... 18<br />

d) Ergebnis....................................................................................... 19<br />

4. Europäische und nationale Kontrollvorschriften ............................... 20<br />

a) Kompetenzabgrenzung................................................................ 20<br />

b) <strong>Die</strong> EG-Dual-use-Verordnung..................................................... 22<br />

c) Nationale Vorschriften................................................................. 26<br />

d) Nationale Kontrollen für Rüstungsgüter..................................... 28<br />

e) Nationale Kontrollen für Dual-use-Güter ................................... 30<br />

XI


Inhaltsverzeichnis<br />

f) Sachliche und formelle Zuständigkeit......................................... 31<br />

g) Ergebnis....................................................................................... 32<br />

5. Exportkontrollrechtliche Genehmigungstatbestände ......................... 32<br />

a) Allgemeine Erwägungen............................................................. 32<br />

b) Genehmigungsvoraussetzungen nach dem AWG ....................... 34<br />

aa) Außenwirtschaftsfreiheit und<br />

Beschränkungskriterien........................................................ 34<br />

bb) Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik ........................... 37<br />

cc) Völkerfriede ......................................................................... 39<br />

dd) Begriff der Auswärtigen Beziehungen................................. 39<br />

ee) Quantifizierung des geschützten Adressatenkreises ............ 44<br />

c) Genehmigungsvoraussetzungen nach der Dual-use-VO ............ 44<br />

d) Genehmigungskriterien im Vergleich ......................................... 46<br />

aa) Außen- und Sicherheitspolitik ............................................. 46<br />

bb) Sonstige Überlegungen ........................................................ 47<br />

e) Eingriffschwelle - Reichweite des Gefährdungsbegriffs ............ 48<br />

f) Entscheidungsleitende Vorgaben................................................. 51<br />

aa) Grundsätzliche Erwägungen bei Rüstungsexporten ............ 51<br />

bb) Genehmigungsleitlinien bei Dual-use-Gütern ...................... 54<br />

cc) Genehmigungspolitik und Selbstbindung der<br />

Verwaltung ........................................................................... 55<br />

g) Ergebnis....................................................................................... 56<br />

6. Verfahrenserleichterungen.................................................................. 57<br />

7. Zusammenfassung der Ergebnisse ..................................................... 57<br />

III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die<br />

nationale Gesetzgebung ................................................................... 58<br />

1. Das nationale Verwaltungsrecht......................................................... 58<br />

a) Historie und Rechtsquellen des Verwaltungsrechts .................... 58<br />

b) Systematik des Verwaltungsrechts .............................................. 60<br />

c) Verfassungsrechtliche Vorgaben und Einflüsse .......................... 61<br />

d) Ergebnis....................................................................................... 62<br />

2. Das Gemeinschaftsverwaltungsrecht ................................................. 62<br />

3. Verfahrensgrundsätze und Grundrechte............................................. 65<br />

a) Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit............................................... 67<br />

b) Exportkontrollrelevante Grundrechte ......................................... 70<br />

c) Ergebnis....................................................................................... 71<br />

4. Vollzug des Gemeinschaftsrechts....................................................... 71<br />

a) Anwendungsvorrang und Rechtsangleichung............................. 71<br />

aa) Auflösung der direkten Kollision......................................... 72<br />

bb) Auflösung der indirekten Kollision...................................... 74<br />

XII


Inhaltsverzeichnis<br />

cc) Ergebnis................................................................................ 76<br />

b) Anwendungsvorrang und Exportkontrolle.................................. 76<br />

c) Ergebnis....................................................................................... 79<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1.......................................................... 79<br />

Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und<br />

gerichtliche Überprüfung ................................................................. 81<br />

I. Standortbestimmung........................................................................ 81<br />

II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der<br />

Verwaltung........................................................................................ 82<br />

1. Strukturelle Umsetzung der Verwaltungsautonomie.......................... 82<br />

2. Verfassungsvorgaben und Verwaltungsautonomie............................. 83<br />

a) Verfassungsvorgaben und Kontrolldichte ................................... 83<br />

b) Struktur der Verwaltungsautonomie und<br />

Genehmigungsanspruch .............................................................. 84<br />

c) Rechtsprechung des BVerfG ....................................................... 85<br />

d) Ergebnis....................................................................................... 87<br />

3. Überprüfungskompetenz der Gerichte............................................... 88<br />

a) <strong>Die</strong> Ermessensfehlerlehre ........................................................... 88<br />

aa) <strong>Die</strong> rechtliche Ausgestaltung von Ermessen........................ 88<br />

bb) Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung............... 89<br />

(1) Ermessensfehlgebrauch (Ermessensdefizit und<br />

unzureichende Sachverhaltsermittlung) ...................... 89<br />

(2) Ermessensnichtgebrauch ............................................. 90<br />

(3) Ermessensüberschreitung ............................................ 90<br />

(4) Ermessensreduzierung (auf Null)................................ 91<br />

cc) Subjektiver Anspruch des Betroffenen ................................ 91<br />

b) Beurteilungsspielraum der Verwaltung....................................... 92<br />

aa) Rechtsgrundlagen................................................................. 92<br />

bb) Grad der Bestimmtheit der Norm......................................... 95<br />

cc) Grundsätze der gerichtlichen Prüfungstiefe......................... 97<br />

c) Abgrenzungsfragen und rechtstechnische Konsequenzen.......... 99<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 100<br />

4. Gemeinschaftsrechtliche Betrachtung.............................................. 101<br />

a) Entscheidungsspielraum im<br />

Gemeinschaftsverwaltungsrecht ............................................... 101<br />

b) Interpretation der EuGH-Rechtsprechung mittels<br />

Rechtsvergleich ......................................................................... 106<br />

5. <strong>Die</strong> rechtlichen Folgen fehlerhafter Ermessensausübung................ 111<br />

XIII


Inhaltsverzeichnis<br />

6. Gemeinsamkeiten der gerichtlichen Prüfungstiefe im<br />

nationalen Recht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht ................... 113<br />

a) Vergleich der Fehlerlehren ........................................................ 113<br />

b) Einheitliches Prüfungsschema und Gewichtung der<br />

Evidenzlehre.............................................................................. 116<br />

7. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 117<br />

III. Typus administrativen Handelns bei der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 117<br />

1. <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung in der Exportkontrolle .......................... 118<br />

a) Vorbemerkungen zum Vergleich der Regelungsbereiche<br />

in AWG und Dual-use-VO........................................................ 118<br />

b) Verwendungsprognose und Sachverhaltsermittlung................. 119<br />

aa) Verwendungsprognose als Grundlage der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>......................................................... 119<br />

bb) Zutreffende Sachverhaltsermittlung................................... 120<br />

c) Instrumente der Erkenntnisgewinnung ..................................... 122<br />

d) Erkenntnisdefizite ..................................................................... 123<br />

e) Mitwirkungspflichten und Beweislast ...................................... 125<br />

f) Ergebnis..................................................................................... 126<br />

2. Qualität der Genehmigungsentscheidung ........................................ 126<br />

a) Nationale Genehmigungstatbestände........................................ 126<br />

b) Gemeinschaftsrechtlicher Genehmigungstatbestand und<br />

die Entscheidungsprärogative ................................................... 128<br />

aa) Wortlaut und Normzweck .................................................. 128<br />

bb) Ansatz der Einschätzungsprärogative und<br />

Rechtsprechung.................................................................. 129<br />

cc) Kompensation der Kontrolldefizite durch Verfahren......... 132<br />

c) Ergebnis..................................................................................... 132<br />

3. Fehlerfolgen und Bestandskraft der Entscheidung .......................... 133<br />

4. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 135<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2........................................................ 135<br />

Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung................................................... 137<br />

I. Standortbestimmung...................................................................... 137<br />

II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite...................... 138<br />

1. Der Sicherheitsbegriff im Wandel.................................................... 139<br />

a) Innere und äußere sowie technische Sicherheit ........................ 139<br />

b) Sicherheit, Fortschritt und Vorsorge.......................................... 142<br />

XIV


Inhaltsverzeichnis<br />

c) Ergebnis..................................................................................... 143<br />

2. Sicherheit und Verfassung................................................................ 143<br />

3. Qualität des staatlichen Sicherheitsauftrages................................... 146<br />

a) Sicherheit als Gemeinwohlbelang............................................. 146<br />

b) Grundrecht auf Sicherheit und staatliche Schutzpflichten........ 147<br />

c) Sicherheitsbegriff und Schutzpflichtendogmatik auf EU-<br />

Ebene......................................................................................... 150<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 152<br />

4. Reichweite des Sicherheitsbegriffs .................................................. 153<br />

a) Gefahrenbegriff ......................................................................... 153<br />

aa) Nationales Recht ................................................................ 153<br />

bb) Gemeinschaftsrecht............................................................ 156<br />

cc) Abgrenzung der Gefahrenschwelle.................................... 157<br />

b) Konkrete, abstrakte und latente Gefahr..................................... 157<br />

c) Risiko und Restrisiko ................................................................ 159<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 161<br />

5. Das Vorsorgeprinzip......................................................................... 161<br />

a) Zusammenhang von Wissen und Sicherheit ............................. 161<br />

b) Der Vorsorgestaat ...................................................................... 164<br />

c) Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht....................................... 166<br />

aa) Entwicklung des Vorsorgeprinzips im internationalen<br />

Kontext............................................................................... 166<br />

bb) Das Vorsorgeprinzip in der Rechtspraxis........................... 168<br />

III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge................................. 170<br />

1. Reichweite des Vorsorgetatbestandes und<br />

Verhaltenssteuerung ......................................................................... 171<br />

a) Kompetenzabgrenzung, Gesetzesvorbehalt und<br />

Bestimmtheitsgrundsatz ............................................................ 171<br />

b) Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften ...................... 172<br />

c) Instrumente der Verhaltenssteuerung ........................................ 174<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 176<br />

2. Struktur des Vorsorgeprinzips .......................................................... 177<br />

a) Feststellung eines Vorsorgeanlasses.......................................... 178<br />

b) Sachverhaltsermittlung und Bewertung.................................... 179<br />

aa) Bestimmung des Schadenpotenzials - Prognose................ 179<br />

bb) Standardisierte Risikoschwellen ........................................ 180<br />

cc) Verfahrensansätze zur Kompensation von<br />

Erkenntnisdefiziten ............................................................ 181<br />

c) Vorsorgeprinzip und Beweislast................................................ 184<br />

aa) Allgemeine Beweislastgrundsätze ..................................... 185<br />

XV


Inhaltsverzeichnis<br />

bb) Beweiserhebung bei Erkenntnisdefiziten und<br />

Modifikation der Beweislast .............................................. 187<br />

cc) Beweislast und Verfassung................................................. 191<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 194<br />

3. Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses.................................................... 194<br />

4. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 196<br />

IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung .............................. 196<br />

1. Subjektiv öffentlicher Anspruch auf Sicherheit ............................... 197<br />

2. Auflösung der Interessenkollision durch Abwägung....................... 201<br />

a) Verhältnismäßigkeit und Risikoverteilung................................ 202<br />

b) <strong>Die</strong> klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung ............................ 204<br />

aa) Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit ................ 204<br />

bb) Verursachungszuweisung ................................................... 205<br />

cc) Interessen des Betroffenen und Gemeinwohl .................... 207<br />

dd) Mehrpolige Grundrechtsbeziehungen und wirksamer<br />

Grundrechtsschutz.............................................................. 208<br />

ee) Untermaßverbot und multipolare<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung ............................................. 210<br />

c) <strong>Die</strong> Freiheitsverträglichkeitsprüfung im multipolaren<br />

Verfassungsrechtsverhältnis ...................................................... 213<br />

aa) Staatliche Handlungsverpflichtung .................................... 213<br />

bb) Berücksichtigung staatlicher Schutzpflichten im<br />

Verfahren............................................................................ 215<br />

cc) Interessenabwägung durch die<br />

Freiheitsverträglichkeitsprüfung ........................................ 216<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 220<br />

3. Gerichtliche Kontrolle der multipolaren Entscheidung ................... 221<br />

a) Legislatives Tätigwerden .......................................................... 221<br />

b) Kontrolle der Genehmigungsentscheidung............................... 223<br />

c) Ergebnis..................................................................................... 225<br />

4. Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................ 226<br />

V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts .................... 226<br />

1. Risiko und Vorsorgeprinzip im Polizeirecht .................................... 227<br />

a) Subjektivierung der Gefahr und vorbeugende Prävention<br />

im Polizeirecht .......................................................................... 228<br />

b) Vorsorge als bereichsübergreifendes allgemeines<br />

Rechtsprinzip............................................................................. 233<br />

c) Spezifisch im Polizeirecht angelegtes Vorsorgeprinzip ............ 235<br />

aa) Eingriffsadressat und Störerprinzip.................................... 235<br />

XVI


Inhaltsverzeichnis<br />

bb) Aufgabenabgrenzung der Polizei zu anderen<br />

Behörden ............................................................................ 236<br />

cc) Vorliegen von Erkenntnisdefiziten und Bestimmung<br />

der Eingriffsschwelle ......................................................... 240<br />

dd) Kooperative Ansätze und Rationalisierung des<br />

Verfahrens .......................................................................... 241<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 243<br />

2. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf Exportkontrollen ........... 243<br />

a) Wortlaut und Schutzzweck der Genehmigungstatbestände ...... 244<br />

aa) Allgemeine Abgrenzungsfragen......................................... 244<br />

bb) Struktureller Normansatz und Sicherheit als<br />

Bezugspunkt der Prognose.................................... 245<br />

cc) Bezugnahme auf Sicherheit als Kollektivbelang ............... 248<br />

dd) Konkretisierung des Normzwecks ..................................... 251<br />

ee) Abgrenzung von Gefahr und Risiko im Kontext von<br />

Ungewissheit...................................................................... 252<br />

ff) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von<br />

Rüstungsgütern................................................................... 255<br />

gg) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von Dual-use-<br />

Gütern................................................................................. 256<br />

hh) Zusammenfassende Wertung des Risikobezugs von<br />

Exportkontrollen ................................................................ 260<br />

b) Normkonkretisierung und standardisierte<br />

Eingriffsschwellen..................................................................... 261<br />

c) Sicherstellung der beabsichtigten Endverwendung im<br />

Verfahren................................................................................... 265<br />

aa) Aufklärung zur Minimierung von<br />

Erkenntnisdefiziten und Transparenzgebot........................ 265<br />

bb) Rationalisierung des Verfahrens und kooperative<br />

Ansätze............................................................................... 267<br />

d) Vergleich der Exportkontrollen zum technischen<br />

Sicherheitsrecht......................................................................... 269<br />

3. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf die Europäische<br />

Regelungsebene................................................................................ 271<br />

VI. Schlussfolgerungen aus Teil 3........................................................ 272<br />

Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der<br />

Risikovorsorge bei Exportkontrollen ............................................ 273<br />

I. Standortbestimmung...................................................................... 273<br />

XVII


Inhaltsverzeichnis<br />

II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten.................................................... 273<br />

1. Bestehen eines Vorsorgeanlasses, Bestimmtheit der Norm und<br />

Beweislast ........................................................................................ 274<br />

a) Bestimmtheitsgebot und Verfahrenskompensation................... 275<br />

b) Normstruktur und angemessene Beweislastverteilung ............. 275<br />

c) Ergebnis..................................................................................... 280<br />

2. Verhältnismäßigkeit der Genehmigungserfordernisse .................... 280<br />

a) Exportkontrollrelevante Grundrechte und ihre Schranken ....... 280<br />

aa) Gleichbehandlungsgrundsatz und Willkürverbot............... 281<br />

bb) Handlungsfreiheit............................................................... 282<br />

cc) Berufsausübungsfreiheit und unternehmerische<br />

Freiheit ............................................................................... 283<br />

dd) Eigentumsgarantie.............................................................. 285<br />

ee) Zusammenfassung.............................................................. 287<br />

b) Bestimmung der betroffenen Schutzgüter bzw.<br />

potenziellen Risikoopfer ........................................................... 287<br />

aa) Bezug der Abwägung beim Schutz des<br />

Kollektivrechtsgutes Sicherheit ......................................... 287<br />

bb) Rechte des Betroffenen in Verbindung mit dem<br />

Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und<br />

Gesundheit.......................................................................... 288<br />

c) Abwägung der Belange im Rahmen der klassischen<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung und der multipolare<br />

Prüfungsansatz .......................................................................... 289<br />

aa) Klassischer Prüfungsansatz................................................ 289<br />

bb) Begründung zum multipolaren Prüfungsansatz ................. 290<br />

cc) Grundrechtsgeltung und Schutzadressat ............................ 291<br />

dd) Individualisierung der geschützten Rechtsgüter ................ 293<br />

ee) Verhältnismäßigkeitsprüfung der einschlägigen<br />

Genehmigungserfordernisse............................................... 294<br />

(1) Mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis ................. 295<br />

(2) Genehmigungserfordernis als geeignetes<br />

Schutzkonzept ........................................................... 296<br />

(3) Erforderlichkeit des Schutzkonzeptes -<br />

Alternativenprüfung und<br />

Entscheidungskorridor............................................... 296<br />

(4) Interessenabwägung und zumutbarer Eingriff .......... 299<br />

(5) Typisierungen des zumutbaren Eingriffs................... 303<br />

(6) Zwischenergebnis...................................................... 305<br />

d) Ergebnis..................................................................................... 306<br />

XVIII


Inhaltsverzeichnis<br />

3. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 306<br />

III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 306<br />

1. Ermessensfehlerlehren und begrenzter Prüfungsrahmen................. 307<br />

a) Abgrenzung nationaler und gemeinschaftsrechtlicher<br />

Prüfungstiefe ............................................................................. 307<br />

b) Prüfungsschema unter Einbeziehung von<br />

Ermessensfehlerlehren und Vorsorgestrukturen........................ 308<br />

2. Formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung.................................... 310<br />

3. Materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung im Kontext von<br />

Entscheidungsspielraum und Vorsorgeprinzip................................. 310<br />

a) Vorsorgeanlass - administrative Risikoermittlung bei der<br />

Exportkontrolle ......................................................................... 311<br />

b) Bewertung des Vorsorgeanlasses und Einhaltung des<br />

Abwägungsrahmens .................................................................. 313<br />

aa) Ermessensgrenzen und Abwägungsrahmen....................... 313<br />

bb) Betroffene Belange und Abwägungsvorgang..................... 314<br />

c) Ergebnis..................................................................................... 318<br />

4. Fehlerfolgen: Nichtigkeit oder Aufhebung der Entscheidung ......... 318<br />

5. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 319<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre ...... 320<br />

Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der<br />

Risikovorsorge durch Exportkontrollen ....................................... 325<br />

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse................................. 325<br />

XIX


Abkürzungsverzeichnis<br />

Abkürzungsverzeichnis<br />

AA Auswärtiges Amt<br />

a.A. andere Ansicht<br />

a.a.O. am angegebenen Ort<br />

ABC-Waffen- Atom-, biologische-, chemische Waffen<br />

ABl. EG Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften<br />

Abs. Absatz<br />

Abschn. Abschnitt<br />

a.F. alte Fassung<br />

AG Allgemeingenehmigung, Australische Gruppe,<br />

Aktiengesellschaft, Amtsgericht<br />

AHK Alliierte Hohe Kommission<br />

AL Ausfuhrliste<br />

Alt. Alternative<br />

Amtl. Amtlich<br />

Anh. Anhang<br />

Anm. Anmerkung<br />

AÖR Archiv des öffentlichen Rechts<br />

Art. Artikel<br />

ASV Atomwaffensperrvertrag (=NPT)<br />

Aufl. Auflage<br />

ausf. ausführlich<br />

AWG Außenwirtschaftsgesetz<br />

AW-Prax Außenwirtschaftliche Praxis (Jahr, Seite)<br />

AWR Außenwirtschaftsrecht<br />

AWV Außenwirtschaftsverordnung<br />

Az. Aktenzeichen<br />

AzG Auskunft zur Güterliste<br />

BAFA Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle<br />

BAnz Bundesanzeiger<br />

BAW Bundesamt für Wirtschaft<br />

Bd. Band<br />

Begr. Begründung<br />

Bek. Bekanntmachung<br />

BGB Bürgerliches Gesetzbuch<br />

BGBl (I, II) Bundesgesetzblatt Teil I, Teil 2 (Jahr/Seite)<br />

BGH Bundesgerichtshof<br />

BK Bundeskanzleramt<br />

XXI


Abkürzungsverzeichnis<br />

BKA Bundeskriminalamt<br />

BMF Bundesministerium der Finanzen<br />

BMI Bundesministerium des Innern<br />

BMJ Bundesministerium der Justiz<br />

BMVg Bundesministerium der Verteidigung<br />

BMWi Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie<br />

BMZ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung<br />

BND Bundesnachrichtendienst<br />

BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik<br />

BSR Bundessicherheitsrat<br />

BReg Bundesregierung<br />

BTag Bundestag<br />

BT-Drs.- Bundestagsdrucksache (Legislaturperiode/Nummer)<br />

BVerfG Bundesverfassungsgericht<br />

BVerfGE Bundesverfassungsgerichtsentscheidung<br />

(Band/Seite)<br />

BVerwG Bundesverwaltungsgericht<br />

BVerwGE Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung<br />

(Band/Seite)<br />

BWÜ Übereinkommen über biologische und Toxinwaffen<br />

bzw. beziehungsweise<br />

ca. circa<br />

CoArm Ratsarbeitsgruppe der EU im Bereich Waffen<br />

und Rüstungsgüter<br />

CoCom Coordination Committee for Multilateral Export<br />

Controls<br />

COREU Telexnetz der außenpolitischen Zusammenarbeit<br />

CWÜ Chemiewaffenübereinkommen<br />

CWÜAG Ausführungsgesetz zum CWÜ<br />

CWÜV Ausführungsverordnung zum CWÜAG<br />

ders. derselbe<br />

d.h. das heißt<br />

Dok. Dokument<br />

DÖV <strong>Die</strong> öffentliche Verwaltung<br />

Dual-use-VO EG-Dual use -Verordnung<br />

DVBl Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr/Seite)<br />

XXII


Abkürzungsverzeichnis<br />

EAG Europäische Atom Gemeinschaft<br />

EG Europäische Gemeinschaft<br />

EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />

EGV Vertrag über die Europäischen Gemeinschaft<br />

EG-VO EG-Verordnung<br />

EL Einfuhrliste<br />

EMRK Europäische Menschenrechtskonvention<br />

Entw. Entwurf<br />

erg. ergänzend<br />

Erl. Erlass (Behörde)<br />

EuGH Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />

EU Europäischen Union<br />

EUC End use Certificate (auch EVE = Endverwendungserklärung)<br />

EUR Euro (Währung)<br />

EUV Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-<br />

Vertrag)<br />

EVE siehe EUC<br />

EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />

f. folgende<br />

FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

ff. fortfolgende<br />

Fn. Fußnote<br />

FS Festschrift<br />

FuE Forschung und Entwicklung<br />

G8 Gruppe der acht führenden Industrieländer<br />

GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

GATS Allgemeines Abkommen über den Handel mit<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen<br />

GATT Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen<br />

gem. gemäß<br />

GewO Gewerbeordnung<br />

GG Grundgesetz<br />

ggf. gegebenenfalls<br />

GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung<br />

COARM EU-Ratsarbeitsgruppe betreffend Rüstungsgüterkontrollen<br />

grds. Grundsätzlich<br />

h.A. herrschende Ansicht<br />

Haddex Handbuch der deutschen Exportkontrolle<br />

XXIII


Abkürzungsverzeichnis<br />

HdB Handbuch<br />

HFSK-Report Report der Hessischen Stiftung Friedens- und<br />

Konfliktforschung<br />

Hrsg. Herausgeber<br />

IAEO/IAEA Internationale Atomenergie Organisation = International<br />

Atomic Energy Agency<br />

IC Import Certificate<br />

i.d.F. in der Fassung<br />

i.d.R. in der Regel<br />

i.e.S. im engeren Sinne<br />

IHK Industrie- und Handelskammer<br />

i.V.m. in Verbindung mit<br />

i.Z.m. in Zusammenhang mit<br />

JA Juristische Arbeit (Jahr/Seite)<br />

JR Juristische Rundschau (Jahr/Seite)<br />

Jura Juristische Ausbildung (Jahr/Seite)<br />

JuS Juristische Schulung (Jahr/Seite)<br />

JZ Juristische Zeitung (Jahr/Seite)<br />

KOM Europäische Kommission<br />

KR Kontrollrat<br />

KWKG Kriegswaffenkontrollgesetz<br />

KWL Kriegswaffenliste<br />

Lit. Literatur<br />

Losebl.-Slg. Loseblattsammlung<br />

MRG Militärregierungsgesetz<br />

MTCR Missile Technology Control Regime<br />

NATO Nordatlantikvertragsorganisation<br />

n.F. neue Fassung<br />

NJW Neue Juristische Wochenschrift (Jahr/Seite)<br />

NPT Non Proliferation Treaty (auch NVV= Nichtverbreitungsvertrag)<br />

Nr. Nummer<br />

NSG Nuclear Suppliers Group<br />

NStE Neue Entscheidungssammlung zum Strafrecht<br />

NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht (Jahr/Seite)<br />

NRO Nichtregierungsorganisation<br />

NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht<br />

OFD Oberfinanzdirektion<br />

o.g. oben genannt<br />

OHG Offene Handelsgesellschaft<br />

OLAF Amt für Betrugsbekämpfung<br />

XXIV


Abkürzungsverzeichnis<br />

OLG Oberlandesgericht<br />

OPCW Organisation für das Verbot chemischer Waffen<br />

OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />

in Europa<br />

OwiG Ordnungswidrigkeitengesetz<br />

POLARM EU-Ratsarbeitsgruppe zur Abrüstungspolitik<br />

RA Runderlass Außenwirtschaft<br />

RG Reichsgericht<br />

RGBl I, II Reichsgesetzblatt Teil I, Teil 2 (Band/Seite)<br />

Rs Rechtssache<br />

Rspr. Rechtsprechung<br />

SE Europäische Aktiengesellschaft<br />

Slg. Sammlung<br />

s.o. siehe oben<br />

StGB Strafgesetzbuch<br />

StPO Strafprozessordnung<br />

SWP Stiftung für Wissenschaft und Politk<br />

u.a. und andere/ unter anderem<br />

Urt. Urteil<br />

usw. und so weiter<br />

TU Technische Unterstützung<br />

TWA Trading with The Enemy Act<br />

verb. verbundene<br />

VerwArchiv Verwaltungsarchiv (Jahr/Seite)<br />

vgl. vergleiche<br />

VN Vereinte Nationen<br />

VN-Res Resolution der Vereinten Nationen (Beschluss)<br />

VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz<br />

VWGO Verwaltungsgerichtsordnung<br />

WaffenG Waffengesetz<br />

WTO Welthandelsorganisation<br />

z.B. zum Beispiel<br />

ZIS Zollinformationssystem<br />

ZK Zollkodex<br />

ZKA Zollkriminalamt<br />

ZPO Zivilprozessordnung<br />

XXV


Literaturverzeichnis<br />

XXVI


Literaturverzeichnis<br />

Literaturverzeichnis<br />

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XXVII


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XLII


Einleitung<br />

I. Standortbestimmung<br />

<strong>Die</strong>se Arbeit befasst sich mit den praktischen Auswirkungen, die das Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

auf die Anwendung nationalen Rechts hat. Ein<br />

konkretes Beispiel dafür bietet das Recht der Exportkontrolle, welches für<br />

die vorliegende Untersuchung im Mittelpunkt stehen soll. In diesem Rechtsgebiet<br />

können verfahrensrechtliche Einflüsse des Gemeinschaftsrechts, vor<br />

allem im Rahmen der Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> nach der Verordnung<br />

(EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22. Juni 2000 über eine Gemeinschaftsregelung<br />

für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien<br />

mit doppeltem Verwendungszweck1 (im Folgenden Dual-use-VO), zu<br />

gegenüber rein nationalen Kontrollpflichten divergierenden Entscheidungsmaßstäben<br />

führen. Teilbereiche des Exportkontrollrechts und einzelne <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände<br />

werden aus Kompetenzgründen oder aufgrund<br />

einer gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung noch immer im nationalen<br />

Recht geregelt, dort auf der Rechtsgrundlage des Außenwirtschaftsgesetzes<br />

(im Folgenden AWG) und der Außenwirtschaftsverordnung (im<br />

Folgenden AWV).<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en können also nach beiden Rechtskreisen erteilt werden.<br />

Folgende Beispiele sollen das veranschaulichen:<br />

(1) Das Unternehmen M soll Kryptosoftware nach Russland liefern. <strong>Die</strong><br />

Software ist in Anhang I der Dual-use-VO gelistet, ihre Lieferung aus<br />

der EU daher gemeinschaftsrechtlich genehmigungspflichtig.<br />

(2) Der Reifenhersteller C erhält einen Auftrag zur Lieferung von LKW-<br />

Reifen an das syrische Militär. <strong>Die</strong> Reifen sind nicht gelistet. Eine Genehmigungspflicht<br />

besteht dennoch nach der nationalen Regelung des<br />

§ 5c AWV, weil die Lieferung in ein Land der Länderliste K geht und<br />

eine militärische Verwendung geplant ist.<br />

<strong>Die</strong> Arbeit greift die Folgen des Auseinanderfallens der Regelungskreise für<br />

die Entscheidungsfindung auf. Im Rahmen des jeweiligen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestandes<br />

spielt der Entscheidungsspielraum der Behörde eine besondere<br />

Rolle. Ob es hierbei zu inhaltlichen Abweichungen zwischen europäischer<br />

und nationaler Rechtsgrundlage kommt, richtet sich nach den jeweils<br />

einschlägigen materiellen Entscheidungskriterien und den formellen<br />

Verfahrensvorgaben. So richtet sich Beispiel 1 nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts,<br />

Beispiel 2 nach dem nationalen Verwaltungsrecht. Vor al-<br />

1 Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22. Juni 2000, Abl. EG Nr. L 159 S. 1<br />

1


Einleitung<br />

lem die jeweils einschlägigen Grundsätze zur Ausübung von Verwaltungsermessen<br />

und entsprechende gerichtliche Prüfungsmaßstäbe können die Behördenentscheidung<br />

im jeweiligen Regelungsbereich beeinflussen. <strong>Die</strong><br />

Möglichkeit, in beiden Rechtskreisen tätig zu werden, stellt die zuständige<br />

Verwaltungsbehörde demnach vor zusätzliche Herausforderungen. Ob und<br />

in welchem Ausmaß in den jeweiligen Regelungsbereichen tatsächlich unterschiedliche<br />

Maßstäbe für die Verwaltungsentscheidung gelten, muss auch<br />

im Rahmen des sicherheitsrechtlichen Kontextes beantwortet werden. Für<br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong> Genehmigungstatbestände ist das Prognoseelement<br />

der Rechtsgutgefährdung von besonderer Bedeutung. Insoweit muss die vorliegende<br />

Arbeit allgemeine Grundsätze zur gerichtlichen Prüfung von Prognoseentscheidungen<br />

ebenso berücksichtigen wie die sicherheitsrechtlichen<br />

Grundsätze zu den Anforderungen an die Gefahrenabwehr.<br />

<strong>Die</strong> Grenze der Untersuchung ergibt sich aus den konkreten Bezugsnormen<br />

im Kontext der Genehmigungspflichten bei Dual-use-Gütern. Wenngleich<br />

sich die vorliegende Arbeit wegen der Perspektive von EG-Recht und<br />

AWG/AWV auf die Regelungen zu Dual-use-Gütern beschränkt, ist hinsichtlich<br />

wesentlicher Abgrenzungsfragen auch ein Blick auf die Funktionsweise<br />

von Rüstungsgüterkontrollen notwendig. Denn auf nationaler Ebene<br />

gleichen sich die rechtlichen Vorgaben zur Entscheidung strukturell,<br />

die Genehmigungskriterien einbezogen. Im Rahmen der einschlägigen<br />

Prognoseentscheidung wird es aber im Wesentlichen auf den Vergleich der<br />

nationalen und europäischen Dual-use-Güter-Kontrolle ankommen. Hierbei<br />

werden in Rechtsprechung und Wissenschaft herausgearbeitete verfassungsrechtliche<br />

und sicherheitsrechtliche Aspekte aufgegriffen, soweit diese für<br />

Ausfuhrentscheidungen von Relevanz sind. Bezogen auf die Reichweite der<br />

staatlichen Sicherheitsgewährleistungen und die Bestimmung der Eingriffsschwelle<br />

sollen dabei Gefahren- und Risikoprävention abgegrenzt sowie die<br />

Übertragbarkeit technischer wie verhaltensbezogener Kontrollansätze aus<br />

anderen Bereichen des Sicherheitsrechts untersucht werden.<br />

Ziel der Untersuchung ist es letztlich, konkrete Prüfungsmaßstäbe für die<br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong> <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> herauszuarbeiten, die Anhaltspunkte<br />

für die verfassungsrechtlichen Grenzen und die gerichtliche Prüfungstiefe<br />

bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Behördenentscheidungen bieten.<br />

Am Ende der Arbeit soll ein Prüfungsschema stehen, das die verfassungsrechtlichen<br />

Maßstäbe bei Entscheidungsspielräumen und die Kriterien für<br />

eine prognoseorientierte Ausübung staatlicher Schutzpflichten im sicherheitsrechtlichen<br />

Gefahren- und Risikoumfeld zusammenführt.<br />

2


I. Standortbestimmung<br />

Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

I. Standortbestimmung<br />

Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle kennzeichnet sich durch die Besonderheit<br />

nebeneinander stehender nationaler Regelungen nach dem AWG und<br />

der AWV sowie nach der gemeinschaftsrechtlichen Dual-use-VO. In beiden<br />

Bereichen bestehen Genehmigungspflichten für die Ausfuhr von Dual-use-<br />

Gütern. <strong>Die</strong>se Situation beruht auf den EU-Kompetenzen zur Handelspolitik<br />

(Art. 133 EG). <strong>Die</strong>se werden durch im nationalen Bereich verbliebene<br />

Kompetenzen der Sicherheitspolitik eingeschränkt (Art. 296 EG). Damit<br />

bietet das Exportkontrollrecht zahlreiche Anknüpfungspunkte für das Verhältnis<br />

und den Vergleich europäischer und nationaler Vorschriften sowie die<br />

Wirkung übergeordneter Prinzipien. Das Nebeneinander der Regelungen<br />

wird auch mit den Begriffen Parallelität, Zweigleisigkeit oder Duales Recht<br />

umschrieben. Im Kontext der Kontrollermächtigungen spielen auch internationale<br />

Vereinbarungen eine Rolle.<br />

<strong>Die</strong> Kriterien für die jeweils relevanten Genehmigungstatbestände ergeben<br />

sich aus den Vorschriften und übergeordneten Prinzipen beider Rechtskreise.<br />

Es gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze. Im Vergleich der Kriterien<br />

lässt sich feststellen, ob es zu unterschiedlichen Kontrollmaßstäben kommt.<br />

Wegen des engen Bezuges zu Fragen der sicherheits- und außenpolitischen<br />

Interessen des Staates sind auch die hiermit verbundenen Maßstäbe von Bedeutung.<br />

<strong>Die</strong> <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungskriterien und politischen<br />

Leitlinien reichen für die Entscheidungsfindung nicht aus. <strong>Die</strong> Behörde<br />

kann den tatsächlich zu Grunde liegenden Sachverhalt oftmals nur<br />

schwer ermitteln. Gerade bei Dual-use-Gütern stellen sich für die Verifikation<br />

der Antragsangaben besondere Herausforderungen, da Verwendungsmöglichkeiten<br />

für militärische und zivile Bereiche denkbar sind. Hinzu kommt<br />

die Prognose, die der tatbestandsmäßige „Gefahrenbegriff“ erfordert. Hier<br />

muss eine Wertung des Rechtsanwenders erfolgen, gleichwohl muss die Behörde<br />

die Grenzen der damit verbundenen Wertungsspielräume einhalten.<br />

<strong>Die</strong> Behörde muss die Vorgaben des allgemeinen Verfahrensrechts und darüber<br />

stehenden Verfahrensprinzipien des Gemeinschaftsverwaltungsrechts<br />

beachten. Es ist untrennbarer Bestandteil der Gemeinschaftsverfassung. Es<br />

legitimiert das Verwaltungshandeln auf europäischer Ebene. Es kommt zu<br />

einer mittelbaren oder zur direkten Verwaltung europarechtlicher Vorschrif-<br />

3


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

ten, entweder durch die nationalen oder aber durch europäische Verwaltungsbehörden.<br />

Im vorliegenden Kontext der Exportkontrolle geht es um die<br />

direkte Verwaltung europäischer Vorschriften durch die nationale Behörde.<br />

Ein Allgemeines Verwaltungsgesetz, wie auf nationaler Ebene, gibt es im<br />

Gemeinschaftsverwaltungsrecht nicht. Dennoch wird zwischen „besonderen“<br />

Verwaltungsvorschriften im Rahmen der jeweils einschlägigen Rechtsetzung<br />

durch die EG sowie aus den Verträgen abgeleiteten „allgemeinen“<br />

Verfahrensgrundsätzen unterschieden. Letztere ergeben sich aus dem Verfassungskontext<br />

der Verwaltungsvorschriften. <strong>Die</strong>se Vorgaben nehmen auf<br />

nationales Recht Einfluss und müssen in die Prüfung einbezogen werden.<br />

Einander widersprechende Vorgaben müssen aufgelöst werden. Das kann<br />

sich auf den Vollzug der materiellen Genehmigungsvorschriften auswirken.<br />

<strong>Die</strong> einheitliche Rechtsanwendung in der EU muss im Rahmen der Verträge<br />

stattfinden. <strong>Die</strong> vertragskonforme Auslegung der jeweiligen Norm erfordert<br />

die Einbeziehung der Harmonisierungsziele.<br />

II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Das Tätigwerden der Verwaltungsbehörde auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht<br />

oder von nationalem Recht wird auch als zweigleisiges Verwaltungshandeln<br />

bezeichnet. Das ist denkbar, wenn die Europäische Gemeinschaft<br />

tätig wird und nationale Kompetenzen fortbestehen. Art. 23 Abs. 1<br />

GG berechtigt und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland zur Übertragung<br />

hoheitlicher Kompetenzen an die EU, deren Organe nach Maßgabe<br />

des Gemeinschaftsvertrages handeln2 . Gleichzeitig unterliegt die EU nach<br />

Art. 2 Abs. 2 EUV dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Sie darf<br />

zur Erreichung von Gemeinschaftszielen tätig werden, wenn Maßnahmen<br />

der Mitgliedstaaten selbst dafür nicht ausreichen3 . Auf diese Weise können<br />

die Kompetenzen der Mitgliedstaaten ganz oder teilweise beschränkt werden.<br />

Bei den Exportkontrollen hat die Gemeinschaft Regelungsbefugnisse für<br />

unmittelbar der Handelspolitik zuzurechnende Maßnahmen. <strong>Die</strong> Ausfuhr<br />

von Rüstungsgütern ist hier nicht berührt, sie wird der Sicherheitspolitik zugeordnet.<br />

Darauf beruhende Beschränkungen sind dem nationalen Recht<br />

vorbehalten. Das auch als ordre public bezeichnete Prinzip des Vorbehaltes<br />

nationaler Interessen der Sicherheit und Ordnung kann bei handelspolitisch<br />

2 Maurer, Staatsrecht I, S. 128<br />

3 Vgl. hierzu Hilf/Pache, in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar<br />

zum EUV und EGV, Bd. I, Art 2 EUV Rn 22<br />

4


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

motivierten Regelungen zu nationalen Sonderregelungen führen. Auf Basis<br />

dieser verschiedenen Regelungskompetenzen hat sich das Rechtsgebiet der<br />

Exportkontrolle entwickelt. <strong>Die</strong> damit erforderliche Kompetenzabgrenzung<br />

bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en muss anhand des einschlägigen Sachverhaltes<br />

erfolgen. <strong>Die</strong> Bestimmung des Kompetenzrahmens richtet sich zunächst<br />

nach der Unterscheidung von Rüstungs- und Dual-use-Gütern. Für die Ausfuhr<br />

von Dual-use-Gütern können beide Rechtskreise einschlägig sein. Dort<br />

kommt es zur Zweigleisigkeit des Exportkontrollrechts. <strong>Die</strong> Unterschiede<br />

auf Tatbestands- und Rechtsfolgenebene wie im Verfahrensrecht können<br />

sich auf die Behördenentscheidung auswirken.<br />

1. Exportkontrollrecht als Teil des Außenwirtschaftsrechts<br />

Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle gehört zum besonderen Verwaltungsrecht.<br />

Es ist Bestandteil des Außenwirtschaftsrechts und damit Teil des Wirtschaftsverwaltungsrechts4<br />

. Exportkontrollen stehen neben internationalen<br />

handelspolitischen Vereinbarungen und beziehen sich auf den grenzüberschreitenden<br />

Austausch von Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen, die sicherheitspolitisch<br />

relevant, also missbrauchsanfällig sind. <strong>Die</strong> sicherheitsmotivierte Beschränkung<br />

des Warenverkehrs ist ein Eingriff in wirtschaftliches Handeln<br />

und hat ökonomische Auswirkungen. <strong>Die</strong> entsprechenden Wechselwirkungen<br />

beider Interessen bergen erhebliches Konfliktpotenzial5 . Der Aspekt<br />

wirtschaftlicher Interessen wird durch die rechtliche Zuordnung zum Außenwirtschaftsrecht<br />

hervorgehoben. Demgegenüber sind sicherheitspolitische<br />

Erwägungen im Zusammenspiel mit den auswärtigen Beziehungen<br />

auszulegen6 . Auch weiche Aspekte der Konfliktprävention wie die Menschenrechte<br />

sind erfasst7 .<br />

Exportkontrollen stützen sich auf internationale politische Vereinbarungen.<br />

<strong>Die</strong> Kontrollvorschriften für Ausfuhren und grenzüberschreitende <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

gehen daher nicht allein auf nationale Bedürfnisse oder Gemeinschaftsinteressen<br />

zurück. Sie können auch auf der Umsetzung internationa-<br />

4 Vgl. nur Haddex, Handbuch der deutschen Exportkontrolle, Band 1, Teil 1, Rn 10 ff;<br />

Wolffgang, in: Bieneck, Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, § 8 A, S. 147; Hucko,<br />

Exportkontrollrecht, in: Ehlers/Wolffgang, Rechtsfragen der Ausfuhrkontrolle und<br />

Ausfuhrförderung, S. 39; Reuter, Außenwirtschafts- und Exportkontrollrecht Deutschland/<br />

Europäische Union, S. 1, 247; von Bogdandy, <strong>Die</strong> außenwirtschaftsrechtliche<br />

Genehmigung, Verwaltungsarchiv 83 (1992), S. 53, 57<br />

5 So Gerth, „Exportkontrolle quo vadis?“, AW-Prax 2004, S. 95<br />

6 Vgl. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3) , Bd. IV, E 16, Art. 9 Rn 7<br />

7 So im Ergebnis Beutel, in: Wolffgang/Simonsen, AWR-Kommentar, Bd. 2, 611 Rn 15<br />

5


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

ler Embargos und Sanktionen oder auf multilateralen bzw. völkerrechtlichen<br />

Vereinbarungen beruhen. Das System der Exportkontrollen ist daher komplex,<br />

auch weil damit mehrere Zielrichtungen verfolgt werden. Zunächst<br />

geht es um die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen<br />

(MVW, Nonproliferation) und Bemühungen, eine unkontrollierte<br />

Verbreitung konventioneller Rüstungsgüter auszuschließen. <strong>Die</strong> Verfügbarkeit<br />

von konventionellen Waffen beziehungsweise die Fähigkeit, sie zu entwickeln<br />

oder herzustellen, ist ein Schlüsselelement bei der Entstehung von<br />

gewaltsamen Konflikten.<br />

<strong>Die</strong> Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wie auch Rüstungsgütern<br />

ist nicht nur durch den Transfer der jeweiligen Endprodukte (Waffensystem<br />

bzw. ABC-Waffe/Trägersystem) möglich, sondern auch durch den Transfer<br />

von Komponenten, Herstellungsausrüstung und Herstellungstechnologie.<br />

Um entsprechendes Produktionspotenzial zu verhindern, müssen Exportkontrollen<br />

differenziert ansetzen. Neben spezifischen Militär- und Rüstungsgütern<br />

werden deshalb auch als Mehrzweck- oder Dual-use-Güter bezeichnete<br />

Güter kontrolliert. Sie eignen sich sowohl für militärische als auch zivile<br />

Verwendungen. Bei der Eignung kommt es auch auf die Zweckbestimmung<br />

an. Um eine Abgrenzung zum rein zivilen Single-use zu ermöglichen, muss<br />

das Ziel von Exportkontrollen berücksichtigt werden. Es bedarf eines Missbrauchspotenzials,<br />

das über die bloße subjektive Missbrauchsabsicht hinausgeht.<br />

Der spezifische Bezug des Gutes zu einem militärischen oder einem<br />

gesetzlich missbilligten Einsatz ist erforderlich.<br />

<strong>Die</strong> Intensität möglicher Rechtseingriffe, die regelmäßig zu Lasten der Teilnehmer<br />

am Außenwirtschaftsverkehr gehen, richtet sich nach dem Gefährdungspotenzial<br />

einzelner Handlungen und nach der Sensitivität betroffener<br />

Güter. Verbote bilden die umfassendste Form eines Eingriffs in den Außenwirtschaftsverkehr.<br />

Sie gehen Genehmigungspflichten vor und sind vorrangig<br />

zu beachten8 . Sie stehen im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen<br />

oder Embargos, die auf besonders gefährliche Empfänger (oder<br />

Empfängerländer) gerichtet sind. Verbote greifen am weitesten in die Außenwirtschaftsfreiheit<br />

des Betroffenen ein, sie sind nur ausnahmsweise verhältnismäßig<br />

und damit gerechtfertigt. Verbote finden sich zum Beispiel im<br />

Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG; §§ 17, 18, 18a) oder bei Embargobestimmungen.<br />

Embargos schränken den Handel mit betroffenen Ländern oder Personen aus<br />

sicherheitspolitischen Erwägungen ein. Instrumente, wie Leistungs- oder<br />

8 Haddex (FN 4), Bd, 1, Teil 1, Rn 70<br />

6


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Lieferverbote, stehen zur Verfügung. Dabei erfolgt eine Aussetzung der<br />

Wirtschaftsbeziehungen gegenüber Drittländern (Handel, Zahlungs- und<br />

Kapitalverkehr). Soweit für bestimmte Güter bereits Genehmigungspflichten<br />

bestehen, kann die Umsetzung einer Verbotsvorschrift administrativ erfolgen,<br />

indem die Behörde eine beantragte Genehmigung verweigert. Zu unterscheiden<br />

sind Totalembargos (Handels- und Finanzembargo) und Teilembargos<br />

(z.B. Waffenlieferungen) 9 . <strong>Die</strong> rechtsverbindliche Umsetzung von internationalen<br />

Gremien gefassten Embargobeschlüssen erfolgt durch eine<br />

EG-Verordnung oder auf nationaler Ebene (AWG, AWV). Rechtsgrundlage<br />

sind Art. 60 und 301 EG sowie der Auffangnorm des Art. 308 EG. Alternativ<br />

können die Mitgliedstaaten im Rahmen nationaler sicherheitspolitischer<br />

Erwägungen Maßnahmen ergreifen.<br />

Neben den Verboten stehen Genehmigungspflichten und sonstige Beschränkungen,<br />

z.B. Meldeverpflichtungen. Sie stellen regelmäßig einen gegenüber<br />

dem Ausfuhrverbot geringeren Eingriff dar. Bei der Ausfuhr bestimmter Dual-use-Güter<br />

und Technologien sind zwei unterschiedliche Typen von Genehmigungspflichten<br />

zu unterscheiden. Neben der Erfassung des betroffenen<br />

Gutes in der Ausfuhrliste bestehen Genehmigungspflichten, wenn trotz<br />

der Eignung eines Gutes für zivile Zwecke ein Verwendungszusammenhang<br />

mit Massenvernichtungswaffen oder Trägertechnologien vorliegt. <strong>Die</strong>se als<br />

Verwendungstatbestände oder auch Auffang- bzw. „catch all“-Vorschrift bezeichneten<br />

Genehmigungsvorbehalte gibt es auch für militärisch relevante<br />

Güter. Einer Genehmigung bedarf es aber nur, wenn die Lieferungen in<br />

Länder stattfinden, die mit einem Waffenembargo belegt sind oder in einer<br />

Liste von als besonders gefährlich eingestuften Ländern aufgeführt sind.<br />

Solche Genehmigungstatbestände müssen aber im Umfang sowie Eingriffsintensität<br />

von regelmäßig weiter gefassten Embargobestimmungen unterschieden<br />

werden.<br />

Im Ergebnis ist festzustellen, dass Exportkontrollen als besonderes Verwaltungsrecht<br />

zum Wirtschaftsverwaltungsrecht zählen. <strong>Die</strong> verfügbaren Instrumente,<br />

insbesondere Genehmigungspflichten, beschränken den Außenwirtschaftsverkehr.<br />

2. Geschichtliche Entwicklung<br />

<strong>Die</strong> Auslegung der Kriterien für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung erfordert<br />

neben der Analyse des Wortlautes eine Betrachtung des Sinn und<br />

Zweckes der betreffenden Regelung. <strong>Die</strong> sicherheits- wie handelspolitischen<br />

9 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich, Grundzüge der Exportkontrolle, B. Rn 79<br />

7


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Motive der Regelungen sind für die ratio legis ebenso wichtig wie die historische<br />

Betrachtung. Daher soll zunächst ein kurzer Blick auf die Entwicklungsgeschichte<br />

von Exportkontrollen und sonstigen Handelsbeschränkungen<br />

erfolgen.<br />

a) Handelsbeschränkungen und der Weg zu Exportkontrollen<br />

Handelsbeschränkungen gibt es so lange wie den Handel selbst, wenn auch<br />

mit sehr unterschiedlichen Motiven, z.B. die Einflussnahme auf die Kriegsführung<br />

mittels Kontrolle von Militär- oder Zivilgütern oder aber der Staatsfinanzierung<br />

durch Wegezölle10 . <strong>Die</strong> Wurzeln der Exportkontrollen werden<br />

u.a. auf die Zeit des Merkantilismus im 16. bis 18. Jahrhundert zurückgeführt11<br />

. Hier wollten die Zentralgewalten ihre politische Macht ausbauen,<br />

indem sie für positive Handelsbilanzen sorgten und gesunde Staatseinnahmen<br />

hatten. Der Außenhandel wurde gefördert, fremder Handel behindert.<br />

Gerade Preußen verfolgte eine sehr aktive Wirtschaftspolitik. Mit diversen<br />

Handelsbeschränkungen wie Ein- und Ausfuhrverboten sowie Zöllen, ergänzt<br />

durch bilaterale Abkommen, entwickelte sich ein komplexes Regelungssystem12<br />

. Liberale und protektionistisch ausgerichtete Politiken wechselten<br />

sich in der Folge ab.<br />

Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden erste Handelsembargos und Boykottmaßnahmen<br />

eingeführt. Genehmigungspflichten oder Ausfuhrverbote<br />

flankierten kriegerische Auseinandersetzungen. <strong>Die</strong> Sicherheitsinteressen<br />

des Staates wurden zum Motiv außenwirtschaftlicher Beschränkungen13 . Im<br />

Jahr 1917 wurde in den USA der Trading With The Enemy Act (TWA) verabschiedet.<br />

Er regelte umfassend Exportbeschränkungen, um die Unterstützung<br />

des Feindes durch Kriegsgegner zu verhindern14 . Während des 1.<br />

Weltkrieges wurden auch in Deutschland Beschränkungen dieser Art eingeführt.<br />

Sie betrafen zwar zunächst den Zahlungs- und Kapitalverkehr, erfassten<br />

aber aufgrund von Devisenbeschränkungen mittelbar auch den Warenverkehr15<br />

. Unmittelbare Ausfuhrverbote erfassten nicht nur auf wichtige Lebensmittel<br />

und Arzneimittel, sondern auch „Waffen, Munition, Pulver und<br />

10 So Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 3; zur Entwicklung von Handelsbeschränkungen<br />

s.a. Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 1 Rn 1 ff.<br />

11 Vgl. Hucko/Wagner, Textsammlung zum Außenwirtschaftsrecht, Einf. S. 9 ff.<br />

12 Ott/Schäfer, Wirtschafts-Ploetz, 1984, S. 87 und 108<br />

13 Zu Ausfuhrverbotsermächtigungen in den USA: Bamberger/Hölscher, in: Wolffgang/Simonsen<br />

(FN 7) Bd. 1, 60 Rn. 1<br />

14 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 11<br />

15 Devisengesetz 1935 , RGBl I S. 106, und Ergänzungsverordnungen, Neuregelung Devisengesetz<br />

1938, RGBl I S. 1734<br />

8


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Sprengstoffe sowie andere wichtige Artikel des Kriegsbedarfs und Gegenstände,<br />

die zur Herstellung von Kriegsbedarfsartikeln dienen“ 16 . Hinzu kamen<br />

Rohstoffe für den Kriegsbedarf17 . In Bezug auf die Herstellung von<br />

Kriegsbedarfsartikeln wurden auch Dual-use-Güter der Exportkontrolle unterworfen18<br />

.<br />

Erste völkerrechtliche Ansätze zu gemeinsamen Verbotsstandards im Zusammenhang<br />

mit Waffeneinsätzen, mittelbar auch für Rüstungskontrollen,<br />

gab es mit den Den Haager Abkommen im Jahr 1907. Sie ächteten den Einsatz<br />

von Giftgas-Waffen, z.B. in Form eines Giftgasverbotes und Verbotes<br />

für den Einsatz von Dumdum-Geschossen19 . Es folgten internationale Maßnahmen<br />

gegen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, später im<br />

„Genfer Giftgasprotokoll“ vom 17.06.1925 spezifiziert. Es erfasste Giftgase<br />

und bakteriologische Mittel. <strong>Die</strong>se Initiativen mündeten mit zunehmender<br />

Bedeutung von MVW während des 2. Weltkrieges und in Folge der atomaren<br />

Aufrüstung danach in die Gründung von Exportkontrollregimes.<br />

b) Exportkontrollen nach 1945<br />

Umfassende Exportkontrollregelungen wurden auf internationaler Ebene<br />

erst nach 1945 diskutiert. <strong>Die</strong> USA verabschiedeten im Jahre 1949 den Export<br />

Control Act. <strong>Die</strong>ser wurde auch als erstes Exportkontrollsystem der<br />

USA zu Friedenszeiten betitelt20 . Damit sollte nicht nur die Remilitarisierung<br />

Deutschlands verhindert werden, es ging darum, den im aufkeimenden<br />

Kalten Krieg immer wichtiger werdenden Technologievorsprung westlicher<br />

Nationen vor dem Ostblock zu schützen.<br />

<strong>Die</strong> nationalen Exportkontrollen in Deutschland beschränkten sich zunächst<br />

auf die Gewährleistung und Durchsetzung von Verboten. Das bis ins Jahr<br />

1955 geltende Besatzungsstatut setzte die maßgeblichen Regelungen. Erst<br />

nach 1955 kam es schrittweise zur Liberalisierung des Außenwirtschaftsverkehrs21<br />

. Verordnungen wurden angepasst, Verfahrensfragen auf die Bundesregierung<br />

(Bundesminister für Wirtschaft) übertragen. <strong>Die</strong>se nutzte den gewonnenen<br />

Spielraum und stellte mittels Runderlassen praktisch den Grund-<br />

16 Veröff. in RGBl I S. 265<br />

17 Veröff. in RGBl I S. 267<br />

18 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 13 zur Verordnung über Außenhandelskontrolle<br />

1919, RGBl I S. 2128, sowie zum Gesetz über Kriegswaffengerät 1927, RGBl I S.<br />

239; vgl. auch Schulz, Das Außenwirtschaftsgesetz, Teil 1 A Rn. 13<br />

19 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 15<br />

20 Hofhansel, Commercial Competition and National Security, S. 47<br />

21 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich, Kommentar zum Außenwirtschaftsrecht, Einführung<br />

AWG, S.48; Wolffgang, in: Bieneck, (FN 4), § 1 Rn 13<br />

9


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

satz der Ausfuhrfreiheit her22 . Verfahrenstechnisch wurde dabei von Allgemeingenehmigungen<br />

Gebrauch gemacht. Schließlich wurde der Grundsatz<br />

der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs (kurz Außenwirtschaftsfreiheit)<br />

in Art. 1 AWG verankert23 . Das bis dahin formal bestehende Verbot mit Erlaubnisvorbehalt<br />

wurde durch eine Genehmigungspflicht ersetzt. Neben dem<br />

AWG ist zum 01.09.1961 auch ihr bedeutendstes Ausführungsgesetz, die<br />

Außenwirtschaftsverordnung (AWV), in Kraft getreten.<br />

Auch auf europäischer Ebene verstärkte sich ab Mitte der 50'er Jahre die internationale<br />

Zusammenarbeit. Im außenwirtschaftlichen Bereich wurden mit<br />

EGKS, EWG und EAG nationale Rechtsetzungsbefugnisse an die EU übertragen.<br />

<strong>Die</strong>se sollten sich für die spätere Koordination von Exportkontrollen<br />

als beispielhaft erweisen. Eine erste gemeinsame Ausfuhrregelung wurde<br />

mit der EG-Ausfuhr-Verordnung 1969 (nachfolgend kurz EG-VO 69) geschaffen24<br />

. Sie sieht eine umfassend an die EG übertragene Gemeinschaftskompetenz<br />

für Handelspolitik vor. <strong>Die</strong> dabei verfolgten Zwecke richteten<br />

sich auf die Sicherung der Verfügbarkeit bestimmter Güter innerhalb der<br />

EU. Wie schon zuvor im AWG, wurde in Art. 1 EG-V0 69 der Grundsatz der<br />

Außenwirtschaftsfreiheit festgeschrieben. Er wird auf das Primärrecht gestützt,<br />

insbesondere das in Art. 133 EG statuierte Bekenntnis zur liberalen<br />

Handelspolitik sowie nach der Rechtsprechung des EuGH auf die aus dem<br />

EMRK abgeleiteten Grundrechte zur Berufs-, Handels-, Gewerbe- und<br />

Wettbewerbsfreiheit25 . Zur Handelsfreiheit gehöre auch die Außenhandelsbzw.<br />

Ausfuhrfreiheit26 . Auch hier wird die Wiederkehr des Liberalitätsprinzips<br />

deutlich. <strong>Die</strong> Ausfuhr- bzw. Außenwirtschaftsfreiheit ist systematischer<br />

Ausgangspunkt für die Rechtfertigung von Eingriffen in damit verbundene<br />

Rechtspositionen. Gem. Art. 11 EG-VO 69 werden die Mitgliedstaaten ermächtigt,<br />

bei Vorliegen von Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung<br />

("ordre public") nationale Beschränkungen vorzunehmen. Der EuGH<br />

sieht darin eine spezifische Ermächtigung der Mitgliedstaaten, zusätzliche<br />

nationale Vorschriften einzuführen27 . Sicherheitspolitische Überlegungen,<br />

wie sie in der modernen Exportkontrolle im Mittelpunkt stehen, waren aber<br />

22 Schulz (FN 18), Teil 1A Rn 21<br />

23 BGBl I 1961, 481, 495, 1555 (Begründung des Entwurfs in BR-Drs. Nr. 191/59)<br />

24 Verordnung (EWG) Nr. 2603/96 vom 20.12.1969, Abl. EG Nr. l 324, S. 25ff.<br />

25 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. IV, E 16 Rn 18<br />

26 Hohmann, in: Hohmann/John, Kommentar zum Ausfuhrrecht, Teil 1/ EG-VO 69 Art 1<br />

Rn 1; zur Herleitung Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 1, 122, zu Art 8<br />

Rn 14, zur Außenwirtschaftsfreiheit s.a. Epping, in: ebenda, Bd. 1, 20, Rn 31<br />

27 EuGH in den Urteilen vom 17.10.1995 Rs C 70/94 - Werner, Slg. 1995 I 3189 sowie<br />

Rs C 83/94 - Leifer , Slg. 1995 I 3231<br />

10


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

bei Inkrafttreten der EG-VO 69 nur ein Nebenaspekt. Im Zentrum standen<br />

wirtschaftspolitisch motivierte Handelsbeschränkungen inklusive der Einfuhr<br />

bestimmter Güter. Obwohl die EG-VO 69 noch heute gilt, beschränkt<br />

sich die Praxisrelevanz auf ihre Art. 1 und 11. Grad der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

und Reichweite ihrer Schranken sind nach wie vor strittig. Dazu tragen<br />

auch WTO-Vorgaben bei, die der EuGH bei seinen Erwägungen berücksichtigt<br />

28 .<br />

c) Jüngere Entwicklungen bei Exportkontrollen<br />

Eine nennenswerte Fortentwicklung der bestehenden Exportkontrollbestimmungen<br />

folgte im Jahr 1984. Sie stand unter dem Eindruck der Giftgaseinsätze<br />

im Iran-Irak-Krieg (Erster Golfkrieg) sowie eines Skandals um deutsche<br />

Zulieferungen für eine Anlage in Rabta/Libyen, die zur Giftgasherstellung<br />

genutzt wurde29 . <strong>Die</strong> politischen Bemühungen um verbesserte Kontrollmechanismen<br />

verstärkten sich, nachdem im Irak ein Programm für Massenvernichtungswaffen<br />

aufgedeckt wurde. Nach dem zweiten Golfkrieg im<br />

Jahr 1990/91 wurden deshalb besonders die institutionellen Voraussetzungen<br />

der Kontrollen überarbeitet30 . Materiell wurden die nationalen Exportkontrollvorschriften<br />

mit den Änderungen des AWG im Jahre 1992 verschärft31 ,<br />

z.B. in Form der Einzeleingriffsbefugnis des Bundesministeriums für Wirtschaft<br />

und Technologie (BMWi) bei gegen das nationale Interesse gerichteten<br />

Handlungen. Hinzu kamen die Einbeziehung von Auslandsdeutschen in<br />

Exportkontrollen, Verwendungstatbestände als Auffangnorm für nicht gelistete<br />

Güter sowie stringentere Strafvorschriften.<br />

Zeitgleich begannen die Arbeiten an einer neuen EG-Verordnung, sie sollte<br />

umfassendere Exportkontrollen der Mitgliedstaaten koordinieren helfen. <strong>Die</strong><br />

bis dahin bestehende Verordnung (EG) Nr. 428/89, betreffend die Ausfuhr<br />

bestimmter chemischer Erzeugnisse, erfasste nur wenige Güter. Ergebnis der<br />

Fortentwicklung war die im Zusammenwirken von EG und GASP verabschiedete<br />

Verordnung (EG) Nr. 3381/94 Gemeinschaftsregelung der Ausfuhrkontrolle<br />

von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (GASP-<br />

Beschluss 94/942). <strong>Die</strong> EG-Dual-use-VO Nr. 3381/1994 trat zum<br />

01.07.1995 in Kraft32 . Auch bis dahin bestehende nationale Regelungen im<br />

28 Zur gemeinschaftsrechtlichen Anerkennung Grundrechtsgewährleistungen durch<br />

EuGH-Rspr.: Epping, <strong>Die</strong> Außenwirtschaftfreiheit, S. 576<br />

29 Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 1 Rn 6<br />

30 Dazu Weith/Wegner/Ehrlich, (FN 9), B. Rn 31<br />

31 Hucko/Wagner (FN 11), Einf. S. 19<br />

32 Haddex, (Fn 4), Bd. 1, Teil 1 Rn 11<br />

11


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Dual-use-Güter-Bereich wurden abgelöst33 . <strong>Die</strong> neue Verordnung (im Folgenden<br />

Dual-use-VO 1994) sowie ein Beschluss des Rates gem. Art. J 3.<br />

EUV a.F. in Form der Gemeinsamen Aktion bildeten somit die Grundlage<br />

für die Modernisierung der nationalen Exportkontrollen in Europa. Exportkontrollregeln<br />

wurden zwar allgemein als Maßnahmen der Außen- und Sicherheitspolitik<br />

eingestuft; die EG-Regelung war gleichwohl durch das Ziel<br />

eines freien europäischen Binnenmarktes sowie gleicher Wettbewerbsbedingungen<br />

in Europa motiviert. Rechtlich knüpfte sie deshalb für den Bereich<br />

der Dual-use-Güter an die handelspolitischen Kompetenzen der EU an. Wegen<br />

des bei Dual-use-Gütern bestehenden Bezuges zur gemeinsamen Außen-<br />

und Sicherheitspolitik der EU waren die Lösungsansätze dennoch kooperativ<br />

ausgestaltet. Instrumente beider Politiken wurden genutzt, daher<br />

rührt auch die Bezeichnung als integriertes System. Auf die Abgrenzung zu<br />

der den nationalen Kompetenzen der Mitgliedstaaten vorbehaltenen Kontrolle<br />

von Rüstungsgütern wird aber noch zurückzukommen sein.<br />

Mit der heute geltenden Dual-use-VO Nr. 1334/2000 erfolgte danach eine<br />

Fortentwicklung hin zu einheitlichen materiellen Vorgaben, die ausschließlich<br />

im Rahmen der Handelspolitik gelten. Zudem verstärkten die Mitgliedstaaten<br />

ihre administrative Zusammenarbeit. <strong>Die</strong> entsprechende Umsetzung<br />

ins nationale Recht erfolgte zeitgleich zum Inkrafttreten der Dual-use-VO.<br />

Grundlage waren die 51. Änderungsverordnung zur AWV am 23.08.2000<br />

und die Anpassung der Allgemeingenehmigungen34 .<br />

d) Ergebnis<br />

Es bleibt festzuhalten, dass in der geschichtlichen Entwicklung vor allem<br />

der sicherheitspolitische Aspekt von Handelsbeschränkungen in die Exportkontrollen<br />

Eingang fand und als ihr wesentliches Motiv gilt. <strong>Die</strong> Kompetenzübertragung<br />

auf die EU im Bereich der Handelspolitik führte zu einer<br />

Überlappung rein sicherheitspolitischer nationaler Vorschriften mit Handelsbeschränkungen<br />

auf europäischer Ebene, die für Dual-use-Güter gelten.<br />

3. Kontrollansatz und Regelungssystem<br />

a) Begriff des Dual-use-Gutes und Kontrollansätze<br />

<strong>Die</strong> Kontrolle von Exporten sensitiver Güter und Technologien mit Dualuse-Charakter<br />

hat also eine langjährige Entwicklung hinter sich. <strong>Die</strong>se sind<br />

33 Ehrlich, in: Bieneck, (FN 4), § 2 Rn 5<br />

34 Vgl. Bekanntmachung im BAnZ 183/2000 vom 27.09.2000, 19229<br />

12


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

auch Folge des EU-Harmonisierungsprozesses. <strong>Die</strong> auf nationaler und europäischer<br />

Ebene vorzufindenden verwaltungsrechtlichen Regelungen betreffen<br />

aber nicht Rüstungsgüter. Hier muss eine Kompetenzabgrenzung erfolgen.<br />

Bei beiden Gruppen ergeben sich darüber hinaus unterschiedliche Kontrollbedürfnisse.<br />

<strong>Die</strong> sicherheitspolitische Zielsetzung von Exportkontrollen bei Rüstungsgütern<br />

und Kriegswaffen versteht sich von selbst. <strong>Die</strong> Unterscheidung nach<br />

Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern spielt bei der Frage, ob deren<br />

Ausfuhr der Kontrolle unterliegt, zunächst nur eine untergeordnete Rolle.<br />

Nach AWG unterliegen ausnahmslos alle Rüstungsgüter der Exportkontrolle.<br />

Handlungen, die keinen Export darstellen, werden in aller Regel nicht<br />

vom AWG erfasst, häufig aber vom KWKG. Nicht nur der deutsche Gesetzgeber,<br />

sondern auch andere EU-Staaten unterscheiden diese beiden Gruppen.<br />

Es geht dabei um die Differenzierung von Waffen einerseits und Baugruppen<br />

und Einzelteilen anderseits. Letztere sind oft gar nicht für die Waffen<br />

sondern nur für deren Umfeld (Logistik, Aufklärung, Kommunikation),<br />

bestimmt.<br />

Exportkontrollen für Rüstungs- und Dual-use-Güter stehen im Zusammenhang.<br />

Das bei Waffen bestehende Ziel von Lieferbeschränkungen gegenüber<br />

bestimmten Ländern wäre bei einfacher Umgehungsmöglichkeit mittels Lieferung<br />

von zugehöriger Ausrüstung, Material und technischem Know-how<br />

für den Aufbau einer eigenen Waffenproduktion in solchen Ländern konterkariert35<br />

. Beim Umlauf konventioneller Waffen, wie auch zur Verhinderung<br />

der Weiterverbreitung von ABC- bzw. Massenvernichtungswaffen, ergibt<br />

sich eine große politische Verantwortung der jeweiligen Regierung. Deren<br />

Wahrnehmung ist für das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik<br />

Deutschland von größter Bedeutung. Sie hat sich international verpflichtet,<br />

wie auch immer geartete Beiträge deutscher Exporteure zur missbräuchlichen<br />

Herstellung o.g. Waffen unter Anwendung der gegebenen Instrumentarien<br />

zu unterbinden. <strong>Die</strong> Definition der Dual-use-Güter ist deshalb relativ<br />

weit gefasst. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf Ausrüstung, Werkstoffe,<br />

Software und Technologie, insbesondere aus den Bereichen Chemie, Elektronik,<br />

Rechner, Telekommunikation, Informationssicherheit, Sensoren und<br />

Laser, Luftfahrt, Meeres- und Schiffstechnik, Antriebssysteme und Raumfahrttechnik36<br />

. Innerhalb der Güterlisten werden Dual-use-Güter mit exakten<br />

technischen oder naturwissenschaftlichen Parametern bezeichnet. Im Ge-<br />

35 Bachmann, AW-Prax 2003, S. 115<br />

36 Aufbauend auf dem Güterbegriff: „Bewegliche Sachen und Elektrizität einschließlich<br />

Software und Technologie“: Monreal/ Runte, GewArch 2000, S. 145<br />

13


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

gensatz zu Rüstungsgütern kommt es nicht auf eine besondere Konstruktion<br />

an.<br />

Letztlich ist jedes zivile Gut mittelbar auch für den Gebrauch bei militärischen<br />

Einsätzen geeignet, hat also Dual-use-Charakter. Als typisches Beispiel<br />

werden oft die von Flugzeugentführern verwandten Teppichmesser genannt.<br />

Bei der Abgrenzung zu "Single-use-Gütern" darf nicht nur die Frage<br />

eines denkbaren Missbrauchs stehen, sondern auch die nach dem funktionalen<br />

Bezug eines bestimmten Gutes und damit verbundener Kontrollnotwendigkeit.<br />

Eine sinnvolle Abgrenzung ist schließlich nur bei Feststellung eines<br />

gewissen Gefährdungspotenziales möglich. Nur so wird eine angemessene<br />

Kontrolldichte erzielt, die behördlich und praktisch umsetzbar ist. Mittels<br />

Aufnahme dieser sensitiven Güter in die Ausfuhrlisten wird die Reichweite<br />

des Genehmigungstatbestandes bestimmt. Im Rahmen von Verfahrenserleichterungen<br />

erfolgt dann die Feinjustierung der Kontrolldichte37 .<br />

Beschränkungen des Handels mit Dual-use-Gütern bestehen in Form der gesetzlichen<br />

Anordnung einer Genehmigungspflicht. Eine solche bildet die<br />

Ausnahme zum grundsätzlich freien Außenwirtschaftsverkehr. Genehmigungspflichten<br />

knüpfen an objektiv-technische Eigenschaften eines Gutes<br />

an, wenn es in eine Güterliste aufgenommen wird. Unabhängig von einer<br />

Listung kann auch die geplante Endverwendung maßgeblich sein38 . Als zusätzliches<br />

Kriterium der Genehmigungspflicht kommt das Bestimmungsland<br />

der Ausfuhr in Frage. Nicht an eine Liste anknüpfende Beschränkungen<br />

werden als Auffangtatbestand oder „catch-all-Vorschrift“ bezeichnet. Grund<br />

für diese Regelungen ist, dass Ausfuhrlisten nicht alle kontrollbedürftigen<br />

Sachverhalte erfassen können. Der Kontrollbedarf unterhalb der dort berücksichtigten<br />

Hightech-Ebene soll nicht durch undifferenzierte und damit<br />

für den zivilen Warenverkehr bürokratische Erweiterungen der Listen abgedeckt<br />

werden39 . Das nationale Recht ist an der Stelle mit dem europäischen<br />

Recht vergleichbar.<br />

Von der Frage einer Genehmigungspflicht ist die Genehmigungsfähigkeit zu<br />

unterscheiden. Erstere eröffnet das Verwaltungsverfahren. Letztere entscheidet<br />

über den Ausgang des Verfahrens.<br />

37 So Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 61<br />

38 Zum Vorrang der güterbezogene Tatbestände (gelistete Güter): Bachmann, AW-Prax<br />

2003, S. 115, 117<br />

39 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 5 Rn 232<br />

14


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

b) Das internationale Kontrollsystem<br />

Exportkontrollrechtliche Regelungen finden sich in einer Reihe von Gesetzen<br />

und Verordnungen. Dazu gehören Genehmigungspflichten im Warenund<br />

<strong>Die</strong>nstleistungsverkehr. <strong>Die</strong> nationalen Exportkontrollen müssen mit<br />

Vorgaben aus dem europäischen Recht und internationalen Abkommen vereinbar<br />

sein. Auch die internationalen Gremien, in denen die Mitglieder multilaterale<br />

Verpflichtungen eingehen, gehören zur Rüstungs- und Abrüstungskontrolle.<br />

Beispiele dafür sind die Vereinten Nationen, der OECD oder G8-<br />

Staaten. Insbesondere die Bemühungen zur Verhinderung von Proliferation<br />

im ABC-Waffen- und Trägertechnologiebereich gehen auf eine Reihe von<br />

völkerrechtlichen Vereinbarungen unterschiedlicher Rechtsqualität zurück.<br />

Solche wurden z.B. in den Genfer Protokollen von 1925, bei der B-Waffen-<br />

Konvention, dem Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ), dem Atomwaffensperrvertrag<br />

bzw. nuklearen Nichverbreitungsvertrag (Non Proliferation<br />

Treaty = NPT) sowie der IAEO-Satzung vereinbart40 . <strong>Die</strong>se politischen<br />

Plattformen haben für die Genehmigungssystematik zwar keine unmittelbare<br />

Relevanz, für die Kriterien und Leitlinien der Genehmigungsentscheidungen<br />

sind ihre Vorgaben dennoch maßgeblich.<br />

Wesentlichen Einfluss auf die national geltenden Regelungen haben die Absprachen<br />

in den Exportkontrollregimes. <strong>Die</strong>se internationalen Verpflichtungen<br />

der Bundesrepublik Deutschland bilden die Grundlage für die jeweils<br />

anzuwendende nationale Gesetzgebung und damit auch für die Kontrollstandards<br />

der entsprechenden Teilnehmerstaaten. Gleichwohl weichen Zielrichtung<br />

und Harmonisierungsgrad der Kontrollansätze in den einzelnen<br />

Regimes voneinander ab41 . Im Übrigen gelten auch für Dual-use-Güter und<br />

Rüstungsgüter zum Teil unterschiedliche Beschränkungen. <strong>Die</strong>se Unterscheidung<br />

muss wegen der begrenzten Regelungskompetenzen auch auf Ebene<br />

der Europäischen Union berücksichtigt werden.<br />

c) <strong>Die</strong> Exportkontrollregimes<br />

<strong>Die</strong> Exportkontrollregimes treffen eine Reihe von Vorgaben für die nationalen<br />

Exportkontrollen. Das CoCom-Regime war spätestens nach Ende des<br />

Kalten Krieges nicht mehr geeignet, die inzwischen weltweit, insbesondere<br />

aus Asien und Nahost, stattfindenden Beschaffungsversuche zu verhindern.<br />

<strong>Die</strong> Mitglieder entschlossen sich daher, für konventionelle Waffen und Du-<br />

40 Ricke, in: Bieneck (FN 4), § 7 Rn 3; Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 44<br />

41 Zum Konflikt von sicherheits- und rüstungspolitischen Interessen sowie wettbewerbspolitischen<br />

Fragen: Karpenstein, Europäisches Exportkontrollrecht für Dual-use-<br />

Güter, S. 180<br />

15


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

al-use-Güter ein neues, nicht bestimmten Staaten zugewandtes, zu gründen,<br />

das Wassenaar Arrangement (WA).<br />

Andere Kontrollregimes konzentrieren sich dagegen auf den Kampf gegen<br />

Massenvernichtungswaffen. Ergänzend zum Atomwaffensperrvertrag (auch<br />

Non Proliferation Treaty, NPT) stellen die Nuclear Suppliers Group (NSG)<br />

sowie das Missile Technology Control Regime (MTCR) angemessene Kontrollen<br />

sicher. Während NSG den Missbrauch von Nuklearmaterial verhindern<br />

will, widmet sich MTCR der Kontrolle der Herstellung von Trägertechnologie<br />

(Raketentechnik). <strong>Die</strong> Australia Group (AG) ist ein Zusammenschluss<br />

von Ländern, welche die Weiterverbreitung von chemischen und<br />

biologischen Komponenten zu verhindern sucht. Sie ergänzt das CWÜ und<br />

das BWÜ, die sich auf die Kontrolle von Beständen beschränken.<br />

<strong>Die</strong> Exportkontrollregimes NSG, MTCR, AG und WA bilden die inhaltliche<br />

und konzeptionelle Grundlage für nationale Exportkontrollen. Für alle Regime<br />

gilt, dass diese keine rechtsverbindlichen Vorgaben für Exportkontrollen<br />

machen. Sie haben nicht die Qualität eines völkerrechtlichen Vertrages42 .<br />

Regimeabsprachen für gleichgerichtete und damit effizientere Exportkontrollpolitiken<br />

sind allein politisch verbindlich43 . Für die Auslegung bestehender<br />

Genehmigungskriterien sind sie dennoch wichtig, da die Kriterien<br />

auf die Vorgaben der Exportkontrollregimes Bezug nehmen. Deshalb seien<br />

die dort entwickelten sachlichen Zuständigkeiten, Kontrollverpflichtungen<br />

und Leitlinien in Kürze dargestellt.<br />

aa) Nuclear Suppliers Group und Zangger Committee<br />

<strong>Die</strong> 1975 als „Londoner Klub“ gegründete Nuclear Suppliers Group (NSG)<br />

hat heute 45 Teilnehmerstaaten44 . Sie steht für Exportkontrollen zur Verhinderung<br />

der Weiterverbreitung von nuklearen Materialien, Ausrüstung und<br />

Technologie. Friedliche nukleare Zwecke sollen keinesfalls einen Beitrag<br />

zur Verbreitung nuklearer Waffen und Explosivstoffe leisten. Kontrollierte<br />

Güter sind in Listen für spezifische Nuklearausrüstungen und -materialien<br />

(Liste 1) sowie missbrauchsanfällige Dual-use-Güter (Liste 2) erfasst. Beide<br />

NSG-Listen enthalten Dual-use-Güter. Sie unterscheiden sich lediglich bezüglich<br />

des nuklearspezifischen Einsatzes, also dem Missbrauchspotenzial.<br />

Hintergrund der NSG-Gründung war die Zündung der indischen Atombombe<br />

1974 und die damit verbundene Erkenntnis, dass sich die Anzahl der<br />

Staaten im Besitz solcher Waffen erhöhen könnte, mit allen Folgen für die<br />

42 Haddex (Fn 4), Bd. 1, Teil 1, Kapitel 3 Rn 17<br />

43 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 50<br />

44 Vgl. aktuelle Übersicht auf www.nsg-online.org<br />

16


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Bedrohung der Menschheit. Nach Art. III NPT kontrolliert die IAEO die<br />

Weitergabe spaltbaren Nuklearmaterials vor Ort. Darüber hinaus sind auch<br />

für andere nuklearrelevante Güter Kontrollen notwendig.<br />

Güterlisten, die solche besonders gefährlichen Güter enthalten, erstellte zunächst<br />

im Jahr 1971 das Zangger Committee. <strong>Die</strong> NSG hat diese Ansätze<br />

aufgegriffen und entwickelt sie regelmäßig fort. Sie definiert Genehmigungsrichtlinien<br />

für Nukleartransfers unter Differenzierung der Liste 1-<br />

Güter bzw. Trigger Liste und der Liste 2-Güter. <strong>Die</strong> Genehmigungsrichtlinien<br />

für beide Listen sind unterschiedlich stringent. Für Dual-use-Güter der<br />

Liste 2 sind sie weniger formal45 . Ihr wesentlicher Gedanke ist die Versagung<br />

von Ausfuhren bzw. Genehmigungen für die Lieferung gelisteter Ausrüstungsgegenstände,<br />

Materialien, Software und Technologie, wenn die<br />

Nutzung in einem Nicht-Nuklearstaat erfolgen soll oder eine Verwendung<br />

bei Nuklearanreicherungsmaßnahmen in nicht den IAEO-Kontrollen unterliegenden<br />

Ländern geplant ist. Inakzeptable Weiterverarbeitungsrisiken oder<br />

Verstöße gegen diese Ziele des Vertrages sollen vermieden werden46 .<br />

Hier wird das Safeguard-Zusatzabkommen der NPT-Staaten relevant. Es<br />

ermöglicht Kontrollen vor Ort. <strong>Die</strong> Ermächtigung beruht auf einem Notenwechsel<br />

zwischen Liefer- und Empfängerstaat. <strong>Die</strong> Zusammenarbeit der<br />

NSG-Staaten und die Implementierung der Vereinbarungen standen zuletzt<br />

im Rahmen iranischer Nuklearaktivitäten im Brennpunkt.<br />

bb) Missile Technology Control Regime<br />

Das Missile Technology Control Regime (MTCR) wurde im Jahr 1987 von<br />

den Teilnehmern des Weltwirtschaftsgipfels (G7) als Londoner Abkommen<br />

zur Raketentechnologie gegründet. Es dient dem Zweck der Verhinderung<br />

der Weiterverbreitung von Gütern zur Herstellung von Trägersystemen für<br />

MVW. Trägersysteme gelten als gefährlichste Mittel, Massenvernichtungswaffen<br />

wirksam zu einem bestimmten Ziel zu transportieren. <strong>Die</strong>s wurde<br />

u.a. wegen der Raketeneinsätze im Iran-Irak-Krieg (so genannter „Städtekrieg“)<br />

deutlich. Davon unberührt ist der Bereich ziviler Raumfahrt. Mittlerweile<br />

zählt MTCR 34 Mitgliedstaaten47 .<br />

<strong>Die</strong> Kontrollen basieren auf Listen mit wichtigen Gütern für militärisch relevante<br />

Trägertechnologie und Dual-use-Güter, wenn sie für die Herstellung<br />

und Entwicklung von Trägersystemen Bedeutung haben. <strong>Die</strong> Kategorie 1-<br />

45 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 54 f.<br />

46 Vgl. NSG-Guidelines unter www.nsg-online.org<br />

47 Vgl. www.mtcr.info<br />

17


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Liste enthält komplette Trägersysteme; die Kategorie 2 dagegen für Raketentechnik<br />

wichtige Mehrzweckgüter mit Dual-use-Charakter. Nach den<br />

Genehmigungsrichtlinien des MTCR soll die Ausfuhr von Raketen aller Art<br />

sowie der MTCR-gelisteten Güter unterbunden werden, wenn eine Regierung<br />

im Empfängerland unter dem Verdacht steht, sie als Träger für Massenvernichtungswaffen<br />

verwenden zu wollen 48 .<br />

cc) Australische Gruppe und CWÜ<br />

<strong>Die</strong> Australische Gruppe (AG), gegründet im Jahre 1985, widmet sich der<br />

Kontrolle von Vorprodukten, Agenzien und Anlagen. Es geht vornehmlich<br />

um Dual-use-Güter, die für die Produktion von chemischen und biologischen<br />

Waffen relevant sind. Der AG gehören zur Zeit 39 Mitglieder an49 .<br />

Anlass für ihre Gründung war der Einsatz chemischer Waffen im iranischirakischen<br />

Krieg. <strong>Die</strong> Ergebnisse einer VN-Untersuchung im Frühjahr 1984<br />

brachten die Erkenntnis, dass die Verpflichtungen aus dem Genfer Protokoll<br />

1925 verletzt worden waren. Zumindest Teile des irakischen Chemiewaffenprogramms<br />

stammten aus legalen Handelsströmen. So wurde deutlich, dass<br />

nationale Exportkontrollen bei Dual-use-Chemikalien verbessert sowie auch<br />

international koordiniert werden mussten.<br />

Mit der AG besteht ein Forum für den Informationsaustausch über Beschaffungsmethoden<br />

und Entwicklungen in chemiewaffenverdächtigen Ländern.<br />

Folgende Kontrolllisten sind zu unterscheiden: Vorprodukte für chemische<br />

Waffen, Produktionsanlagen und Herstellungsausrüstung sowie Technologie<br />

zur Herstellung von Dual-use-Chemikalien, biotechnologische Ausrüstung<br />

mit Dual-use-Charakter, biologische Agenzien, Pflanzenpathogene, Tierpathogene.<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungs-Leitlinien orientieren sich an angemessenen<br />

Kontrollstandards im Empfängerland. Im Unterschied zum CWÜ geht es<br />

nicht um die Kontrolle oder Vernichtung vorhandener Chemikalien oder<br />

Waffenbestände, sondern ausschließlich um Ausfuhrkontrollen von Gütern<br />

mit Dual-use-Charakter50 .<br />

dd) Wassenaar Regime<br />

Im Jahr 1996 wurde das Wassenaar Regime (WA) gegründet. <strong>Die</strong> eingangs<br />

beschriebene Neuausrichtung des CoCom-Regimes führt zu dem Versuch,<br />

48 Ricke, in: Bieneck, (FN 4), § 7 Rn 75; .s.a. aktuelle MTCR-Guidelines unter<br />

www.mtcr.info<br />

49 Vgl. www.australiagroup.net<br />

50 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 64, auch mit Anmerkungen zur AG und ihrer gegenüber<br />

CWÜ ergänzenden Funktion, I Rn 18f.<br />

18


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

weltweit Kontrollen bei Exporten konventioneller Rüstungsgüter und Dualuse-Güter<br />

zu gewährleisten. Neben den westlichen Industrienationen traten<br />

rüstungsrelevante Staaten aus dem ehemaligen Ostblock ein, wie z.B. Russland<br />

und Ukraine 51 . <strong>Die</strong> Zahl der Wassenaar-Teilnehmerstaaten beläuft sich<br />

derzeit auf 39. Das WA will eine destabilisierende Anhäufung von konventionellen<br />

Waffen und dafür relevante Dual-use-Güter und Technologien verhindern.<br />

Koordinierte Exportkontrollen leisten einen Beitrag für weltweit<br />

mehr Sicherheit und Stabilität. Auch die Achtung der Menschenrechte durch<br />

den Empfängerstaat wird berücksichtigt 52 . Das allgemeine Ziel weltweiter<br />

Sicherheit und Stabilität unterscheidet sich von den konkreten Kontrollansätzen<br />

der anderen Exportkontrollregimes. Von wenigen Ausnahmen abgesehen,<br />

ist die Ächtung von Massenvernichtungswaffen weltweit anerkannt.<br />

Verbreitungsverbote sind deutlich weitergehend spezifiziert und harmonisiert<br />

als bei den nationalen Rüstungs- und Verteidigungspolitiken. Der Harmonisierungsprozess<br />

bei Rüstungskontrollen steht also vergleichsweise am<br />

Anfang. Auch im GASP-Bereich der EU ist das der Fall.<br />

Neben dem regelmäßigen Abgleich der Kontrolllisten und der Entwicklung<br />

gemeinsamer Standards für Exportkontrollen geht es beim WA auch um den<br />

Informationsaustausch der beteiligten Staaten. Er ermöglicht effektivere<br />

Kontrollen. In den letzten Jahren wichtige Themen waren z.B. Beschlüsse<br />

zu gemeinsamen Standards bei der Kontrolle von Manpads, Waffenvermittlungsgeschäften,<br />

unverkörperten Technologietransfers sowie zu „catch-all-„<br />

bzw. Verwendungstatbeständen und Fragen der Endverwenderdokumentation<br />

53 .<br />

d) Ergebnis<br />

Bei Exportkontrollen werden Dual-use-Güter und Rüstungsgüter unterschieden.<br />

<strong>Die</strong> internationalen Exportkotrollregimes koordinieren die nationalen<br />

Kontrollpolitiken. Sie haben spezifische Kontrollansätze und Leitlinien,<br />

die sich auf nukleare, chemische und biologische Massenvernichtungswaffen<br />

sowie Träger- bzw. Raketentechnologie und schließlich konventionelle<br />

Rüstungsgüter beziehen. Dual-use-Güter spielen bei allen Regimes<br />

eine gewichtige Rolle.<br />

51 Zu den Schwierigkeiten beim Übergang von CoCom zu WA und dem neuen Focus<br />

(„built on cold war“ und „new threads“): Hofhansel (FN 20), S. 3 f.<br />

52 Vgl. Basic Principles: unter www.wassenaar.org<br />

53 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 69<br />

19


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

4. Europäische und nationale Kontrollvorschriften<br />

a) Kompetenzabgrenzung<br />

<strong>Die</strong> Kompetenzen der Europäischen Union (EU) sind im EG-Vertrag verfasst.<br />

Sie dienen dem gemeinsamen Binnenmarkt. Hierzu gehören Fragen<br />

der Handelspolitik und damit verbundene Rechtsetzung, nicht aber die Sicherheitspolitik.<br />

Aus <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Sicht muss zwischen Handel<br />

und der Weitergabe von Rüstungsgütern unterschieden werden, auch zwischen<br />

europäischen und ausschließlich nationalen Regelungen. Soweit die<br />

Handelspolitik gem. Art. 133 Abs. 1 EG berührt ist, gelten zunächst die gemeinschaftlichen<br />

Vorschriften54 . Beschränkungen des Außenhandels werden<br />

dadurch ermöglicht, die Ermächtigungstatbestände finden sich also in der<br />

„1. EU-Säule“ (EG-Säule).<br />

Der Umfang der EU-Kompetenzen für die Handelspolitik war im Bereich<br />

Außenwirtschaft und damit auch mit Blick auf Exportkontrollen nicht immer<br />

unumstritten. Wegen der Ähnlichkeit zum Warenverkehr unterfallen<br />

z.B. auch nicht an einen Grenzübertritt anknüpfende <strong>Die</strong>nstleistungen sowie<br />

der Zahlungsverkehr dieser EU-Kompetenz. Voraussetzung ist aber, dass sie<br />

im Zusammenhang mit Handelsfragen stehen55 . Es war lange unklar, ob Erwägungen<br />

der Sicherheitspolitik bei der Kontrolle von Dual-use-Gütern gegen<br />

eine EU-Kompetenz in diesem Bereich sprechen. Auf das „integrierte<br />

System“ wurde bereits eingegangen.<br />

Der EuGH hat sich zwischenzeitlich dafür ausgesprochen56 . Danach stehen<br />

sicherheitspolitische Erwägungen beim Handel mit Dual-use-Gütern (im<br />

Vergleich zu spezifischen Rüstungsfragen) nicht im Vordergrund. Handelskompetenzen<br />

der EU sind daher im Ergebnis für die Kompetenzzuweisung<br />

maßgeblich. Der EuGH stellte zugleich fest, dass über Art. 133 EG hinausgehende<br />

nationale Maßnahmen nicht ausgeschlossen sind. Das stützt er auf<br />

Art. 11 der EG-VO 1969. Es kommt zu einem Spannungsverhältnis von EG-<br />

Kompetenzen und nationalen Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten. Der<br />

EuGH stellt im Ergebnis nicht auf das politische Ziel der Beschränkung,<br />

sondern deren objektiven Charakter als Handelsbeschränkung ab. So erfolgt<br />

wegen der objektiven Wirkung der Beschränkungen die Zuordnung zur<br />

Handelspolitik<br />

54 Zum Aufbau der EU: Zimmermann, in: Wolffgang, Öffentliches Recht und Europarecht,<br />

S. 230<br />

55 Bachmann, AW-Prax 2000, 448, 449<br />

56 EuGH in den Urteilen vom 17.10.1995 Rs C 70/94 - Werner und Rs C 83/94 - Leifer<br />

(FN 27)<br />

20


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

<strong>Die</strong> EuGH-Rechtsprechung wurde im System der aktuellen Gesetzgebung,<br />

insbesondere bei der Konzeption der Dual-use-VO57 berücksichtigt. <strong>Die</strong><br />

Öffnungsklausel in Art. 5 Abs. 1 Dual-use-VO trägt den Kompetenzzuweisungen<br />

beider EU-Säulen Rechnung. <strong>Die</strong> Dual-use-VO erhebt nicht den Anspruch,<br />

eine abschließende Regelung der Exportkontrolle von Dual-use-<br />

Gütern zu sein. In Absatz 12 der Präambel des EG-Vertrages heißt es deklaratorisch,<br />

dass die Mitgliedstaaten bis zu einer weitergehenden Harmonisierung<br />

innerhalb der Grenzen des Art. 30 EG das Recht behalten, die Verbringung<br />

von bestimmten Gütern mit doppeltem Verwendungszweck innerhalb<br />

der Europäischen Gemeinschaften zum Schutz der öffentlichen Ordnung<br />

und öffentlichen Sicherheit Kontrollen zu unterziehen.<br />

<strong>Die</strong> Grundlage für die so gewährte nationale Regelungsbefugnis bildet, wie<br />

die o.g. EuGH-Entscheidungen zeigen, Art. 11 der EG-VO 69. Er führt die<br />

öffentliche Sicherheit und Ordnung als Rechtfertigung für Beschränkungen<br />

der Außenhandelsfreiheit an. Zusätzliche über die Dual-use-VO hinausgehende<br />

nationale Ausfuhrbeschränkungen sind daher möglich. Art. 5 Dualuse-VO<br />

präzisiert diese Ermächtigung der Mitgliedstaaten und erfordert<br />

„Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Menschenrechtserwägungen“. Einen<br />

verbindlichen Kriterienkatalog, welche dies sind, gibt es aber nicht58 .<br />

Gem. Art. 249 EG als EG-Verordnung erlassene Vorschriften gelten auf Ebene<br />

der Mitgliedstaaten unmittelbar und verbindlich. Sie stehen einem Gesetz<br />

gleich und gelten in der gesamten EU einheitlich. Sie müssen bzw. dürfen<br />

deshalb nicht in nationales Recht umgesetzt werden59 .<br />

Auch Regelungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs unterfallen nach Art.<br />

58 ff. EG der EU-Kompetenz. Regelungen gegenüber Drittstaaten sind einbezogen.<br />

Exportkontrollrechtlich spielen diese nur eine mittelbare Rolle. Sie<br />

sind Bestandteil von Embargomaßnahmen der EU, die für die Mitgliedstaaten<br />

regelmäßig als EG-Verordnung unmittelbar rechtsverbindlich sind.<br />

Beschränkungen mit Bezug auf <strong>Die</strong>nstleistungen in oder für Drittstaaten gehören<br />

nicht zur Handelspolitik. Soweit die EU hierzu Regelungen trifft, ist<br />

dies nur im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

(GASP, „2. Säule der EU“) möglich. Gleiches gilt für den Handel mit Rüstungsgütern.<br />

Gem. Art. 296 Abs. 1 b) EG haben die EU-Mitgliedstaaten hier<br />

explizit ihre nationale Zuständigkeit behalten. Das Ziel der gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik ist Teil des EU-Vertrages von Maastricht ge-<br />

57 Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22.06.2000, Abl. EG Nr. L 159/1<br />

58 Simonsen, AW-Prax 2000, 252, 253<br />

59 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, Art. 249 EG, Rn 110 ff.<br />

21


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

m. Art. 11 EUV. <strong>Die</strong> praktische Umsetzung der Ziele erfolgt nach Art. 12<br />

EUV durch Ratsbeschluss über gemeinsame Strategien, Aktionen oder<br />

Standpunkte. Dazu gehören beispielsweise Wirtschaftssanktionen.<br />

Bezüglich der Kontrolle von Rüstungsgütern wurde die Ratsarbeitsgruppe<br />

(COARM) eingerichtet. <strong>Die</strong> Mitgliedstaaten einigten sich hier über eine<br />

gemeinsame Militärgüterliste und einen Verhaltenskodex für Exportentscheidungen.<br />

Innerhalb der GASP-Säule wird ein politisch verbindlicher<br />

Rahmen gesetzt. Das ermöglicht zumindest teilweise eine Harmonisierung<br />

der nationalen Rechtsvorschriften60 , was die nationalen Politiken und Maßnahmen<br />

effektiver gestaltet. <strong>Die</strong> rechtsverbindliche Umsetzung der Beschlüsse<br />

obliegt der nationalen Gesetzgebung. Seit ein paar Jahren wird<br />

auch die gemeinschaftsrechtlich verbindliche Umsetzung des VK-EU diskutiert.<br />

b) <strong>Die</strong> EG-Dual-use-Verordnung<br />

Wesentliche Regelungen für die Ausfuhrkontrolle von Dual-use-Gütern<br />

werden in der Dual-use-VO getroffen. Sie gewährleistet ein EU-weit harmonisiertes<br />

Kontrollniveau. Das Primärziel des freien Binnenmarktes soll<br />

mittels einheitlicher Kontrollstandards erreicht werden. So können Exportkontrollen<br />

möglichst weitgehend auf Lieferungen aus dem Wirtschaftsgebiet<br />

der EU beschränkt werden. <strong>Die</strong>sem Ziel kommt die Dual-use-VO deutlich<br />

näher als ihre Vorgängerin. Ausnahmen gibt es mit der Genehmigungspflicht<br />

für innergemeinschaftliche Verbringungen von Gütern des Anhanges IV. Es<br />

handelt sich um besonders sensitive Güter, im Wesentlichen mit Bezug auf<br />

MVW. Mit der Dual-use-VO werden einheitliche Zuständigkeiten geregelt,<br />

Kernbegriffe des Ausfuhrrechts geklärt sowie die institutionelle Zusammenarbeit<br />

in der EG verbessert61 . <strong>Die</strong> nationalen Regelungen in AWG und AWV<br />

sind auf die Vorgaben der EU abgestimmt. <strong>Die</strong> Vorschriften im jeweiligen<br />

Rechtskreis haben unmittelbare Geltung.<br />

Wenn sich nationale Vorschriften mit der Dual-use-VO inhaltlich überschneiden,<br />

gilt ein Anwendungsvorrang des EG-Rechts. Das nationale Recht<br />

tritt zurück. Darauf wird bei der allgemeinen Erörterung des Gemein-<br />

60 EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte (EU-Außenministerbeschluss) vom<br />

25.5.1998, DocNr. 8675/2/98 REV 2, veröffentlicht als Anhang zu den Exportkontrollpolitischen<br />

Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen<br />

und sonstigen Rüstungsgütern, BAnz Nr. 19 v. 28. Januar 200, S. 1299<br />

61 Simonsen, AW-Prax 2000, 252<br />

22


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

schaftsverwaltungsrechts noch einzugehen sein62 . Der Anwendungsbereich<br />

der Dual-use-VO (dort Art. 1) ist, wie schon erwähnt, auf Handelsbeschränkungen<br />

für Dual-use-Güter begrenzt. Der Güterbegriff erstreckt sich auf<br />

körperliche Gegenstände, d. h. Waren, Software und Technologie. Insbesondere<br />

bei Software und Technologie sind zwar auch mündliche oder elektronische<br />

Übertragungswege denkbar. <strong>Die</strong> EU-Regelung knüpft dagegen allein<br />

an die Existenz verkörperter Vorlagen, wie z.B. Hardware oder Papierformate,<br />

an.<br />

<strong>Die</strong> Handelsbeschränkungen der Dual-use-VO gelten weitestgehend gegenüber<br />

Drittländern. Im Binnenmarkt, also beim Handel zwischen den Mitgliedstaaten,<br />

sind Beschränkungen auf wenige Ausnahmen begrenzt. <strong>Die</strong><br />

Dual-use-VO regelt in Abgrenzung zum nicht gesetzestechnischen Exportbegriff<br />

zunächst Ausfuhren. Als Ausfuhr gilt gem. Art. 2b der Dual-use-VO<br />

die Verbringung aus dem Zollgebiet der Europäischen Union. Das Zollgebiet<br />

wird für Ausfuhrverfahren nach Art. 161 Zollkodex (ZK) bestimmt, abweichend<br />

bei Wiederausfuhren Art. 182 ZK. Das Zollgebiet entspricht<br />

grundsätzlich dem Hoheitsgebiet der 25 EU-Mitgliedstaaten63 . <strong>Die</strong>ser Ausfuhrbegriff<br />

wird ebenfalls in den nationalen Regelungen der AWV verwendet.<br />

<strong>Die</strong> Kontrollen beziehen sich auch auf vorübergehende Ausfuhren oder<br />

die Wiederausfuhr zuvor eingeführter Ware. Durchfuhren, der Transport<br />

durchs Bundesgebiet ohne zollamtliche Abfertigung, sind nicht erfasst. Ausfuhren<br />

innerhalb der EU, gesetzestechnisch als Verbringung bezeichnet, sind<br />

gem. Art. 21 Dual-use-VO und § 7 AWV nur in Teilen beschränkt.<br />

Neben der Dual-use-VO wurde inzwischen noch eine unmittelbar rechtsverbindliche<br />

Verordnung erlassen. Sie verfolgt Beschränkungen im Warenverkehr<br />

mit dem Ziel der Sicherung von Menschenrechten. <strong>Die</strong> Anti-Folter-<br />

Verordnung sieht Verbote und Genehmigungspflichten für den Handel mit<br />

bestimmten Gütern vor, die zur Vollstreckung der Todesstrafe, zur Folter oder<br />

zu anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung<br />

oder Strafe verwendet werden können64 .<br />

Im Vergleich zur EG-Dual-use-VO 1994 wurden bei der Dual-use-VO die<br />

Entscheidungen des EuGH zur Gemeinschaftskompetenz für die Exportkon-<br />

62 Zum Rangverhältnis vgl. Ehrlich, Das Genehmigungsverfahren für Dual-use-Waren<br />

im deutschen Exportkontrollrecht, S. 7; zur Abgrenzung der Genehmigungspflichten<br />

nach der Dual-use-VO zur AWV: Pietsch, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 1, 122,<br />

Art. 4 Rn 9<br />

63 Weitere Einzelheiten unter www.zoll.de<br />

64 Verordnung (EG) Nr. 1236/2005 vom 27.06.2005 (ABl. EG Nr. L 200/1 vom<br />

30.07.2005), dazu mehr in Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 110<br />

23


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

trolle von Dual-use-Gütern berücksichtigt65 . <strong>Die</strong> gemeinsamen Güterlisten<br />

wurden direkt in die Verordnung aufgenommen und die Kontrollen auf unverkörperte<br />

Technologietransfers ausgedehnt. Hinzu kamen eine neue Auffangnorm<br />

für die Ausfuhr nicht gelisteter Güter und der erstmals einheitlich<br />

definierte Ausführerbegriff. Eine wesentliche Verfahrensvereinfachung erfolgte<br />

mit Einführung der Allgemeinen Genehmigung EU 001. Schließlich<br />

wurden wichtige Definitionen vereinheitlicht und die verfahrenstechnischen<br />

Fragen fortentwickelt, was mittels Intensivierung und Institutionalisierung<br />

der administrativen Zusammenarbeit geschah.<br />

Es bleibt festzuhalten, dass die Dual-use-VO nicht nur materiellrechtliche<br />

Bestimmungen, sondern auch Verfahrensvorschriften enthält. Darauf wird<br />

noch gesondert einzugehen sein, da entsprechende Regelungen auf europäischer<br />

Ebene eher untypisch sind. Daher muss grundsätzlich auf nationales<br />

Verfahrensrecht zurückgegriffen werden.<br />

<strong>Die</strong> Regelungen der Dual-use-VO im Einzelnen:<br />

Art. 1 Dual-use-VO begrenzt die Regelungswirkung der Verordnung auf die<br />

Ausfuhr und Verbringung von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck.<br />

Zu unterscheiden sind die Bereiche Durchfuhr, Transithandel, <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

und Wissenstransfer. Technische <strong>Die</strong>nstleistungen und Wissenstransfer<br />

werden in der Gemeinsamen Aktion EG-2000/401/GASP zur technischen<br />

Unterstützung koordiniert66 . Art. 2 definiert eine Reihe von wesentlichen<br />

Rechtsbegriffen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Bestimmung des<br />

Ausführers, der mit der letzten Novellierung der Dual-use-VO nicht mehr an<br />

den Eigentümer einer Ware oder Technologie anknüpft, sondern als „Geschäftsherr“<br />

fungiert67 .<br />

Regelmäßiger Anknüpfungspunkt für Beschränkungen der Ausfuhr sind die<br />

technischen Eigenschaften des kontrollierten Gutes, z.B. weil es für militärische<br />

Zwecke besonders konstruiert ist oder eine Schlüsselkomponente für<br />

die Herstellung von Massenvernichtungswaffen darstellt. Bei Dual-use-<br />

Gütern kann auch die Art der beabsichtigten Endverwendung sowie in diesem<br />

Zusammenhang der konkrete Empfänger und/oder Endverwender maß-<br />

65 EuGHE vom 17.10.1995 Rs C-70/94 - Werner und C-83/94 - Leifer (FN 27)<br />

66 Gemeinsame Aktion des Rates vom 22. Juni 2000 betreffend die Kontrolle von technischer<br />

Unterstützung in Bezug auf bestimmte militärische Endverwendungen, ABl.<br />

EG Nr. L 159 S. 216<br />

67 Zum Hintergrund Monreal, AW-Prax 1999, S. 48 ff. (insbesondere „Geschäftsherrentheorie“);<br />

mit Verweis auf unterschiedliche Rechtssysteme - Zeitpunkt des Eigentumserwerbs:<br />

Simonsen in AW-Prax 2000, 312, 313<br />

24


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

geblich sein. Deshalb werden listen-, güter- sowie verwendungsbezogene<br />

Kontrollen unterschieden.<br />

Art. 3 Dual-use-VO betrifft alle von der Güterliste des Anhanges I erfassten<br />

Ausfuhren aus dem Gemeinschaftsgebiet. <strong>Die</strong> Liste wird regelmäßig angepasst,<br />

vor allem bei Änderungen in den Kontrollregimes. <strong>Die</strong> Änderungen<br />

werden in die nationalen Ausfuhrliste (Teil 1 Abschnitt C) übernommen.<br />

Güterbezogene Genehmigungspflichten bestehen unabhängig von der Endverwendung.<br />

Es geht allein um die technische Einstufung in eine Listenposition.<br />

<strong>Die</strong> erfassten Güter sind für einen bestimmten Zweck „besonders konstruiert“<br />

oder sie weisen objektiv-technische Merkmale auf, die eine spezifische<br />

Funktionalität oder Beschaffenheit ermöglichen68 . Ihre Listung ist Ausdruck<br />

der besonderen Sensitivität für eine Verwendung im Bereich der Herstellung<br />

von Rüstungsgütern oder von Trägertechnologie und Massenvernichtungswaffen.<br />

Hierunter fällt auch die in Beispiel 1 der Einleitung genannte<br />

Kryptosoftware.<br />

Art. 4 Dual-use-VO regelt verwendungsbezogene Genehmigungspflichten.<br />

Für die Genehmigungspflicht ist nicht die technische Beschaffenheit, sondern<br />

die beabsichtigte Endverwendung maßgeblich. In Art. 4 Abs. 1 ist die<br />

Verwendung im Zusammenhang mit der Herstellung von Massenvernichtungswaffen<br />

und Trägertechnologie geregelt. In Abs. 2 geht es hingegen um<br />

eine militärische Endverwendung in Embargoländern. Hierunter fällt daher<br />

nicht die Lieferung nach Syrien in Beispiel 2 der Einleitung. <strong>Die</strong> gleichlautende<br />

nationale Regelung des § 5c AWV geht hier weiter, da sie sich nicht<br />

auf Embargoländer beschränkt. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht der endverwendungsbezogenen<br />

Tatbestände knüpft an eine positive Kenntnis des Ausführers<br />

an, dass es um eine Ausfuhr für die genannten Zwecke geht. <strong>Die</strong> Kenntnis<br />

kann auch durch eine Unterrichtung der zuständigen Behörde hergestellt<br />

werden, das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). <strong>Die</strong><br />

Unterrichtung ist möglich, wenn das BAFA selbst gesicherte oder auch ungesicherte<br />

Kenntnis von einer genehmigungspflichtigen Verwendung hat,<br />

was durch die Formulierung „bestimmt sein oder bestimmt sein können“<br />

zum Ausdruck kommt69 .<br />

Art. 9 Dual-use-VO enthält Verfahrensvorschriften und betrifft die Entscheidungsmöglichkeiten<br />

der Behörde. Art. 8 Dual-use-VO gibt Hinweise<br />

68 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 4 Rn 163<br />

69 Haddex (FN 4), Teil 5 Rn 232a, 237, dort auch mit Einzelheiten zu einzelnen Verwendungsvarianten<br />

und gesetzlich bestimmten Kausalitäten bei den verschiedenen<br />

Genehmigungstatbeständen<br />

25


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

für die Entscheidungskriterien. Auf die Rechtsnatur dieser Entscheidung und<br />

die Maßstäbe für die gerichtliche Kontrolle wird noch einzugehen sein.<br />

Art. 21 Dual-use-VO beinhaltet eine für den Binnenmarkt ungewöhnliche<br />

Vorschrift. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht für innergemeinschaftliche Lieferungen,<br />

die Verbringung, soll für Güter des Anhanges IV gelten. Deren Sensitivität<br />

geht auf den Bezug zu Massenvernichtungswaffen zurück. Ein Teil der<br />

Güter ist der Allgemeingenehmigung zugänglich. Der Verwaltungsaufwand<br />

für betroffene Unternehmen hält sich daher in Grenzen. Art. 21 Abs. 2d)<br />

Dual-use-VO enthält eine Kooperationsverpflichtung der Mitgliedstaaten.<br />

Solche kooperativen Vorschriften sieht auch Art. 9 Abs. 2 und 3 vor, der<br />

Konsultationsverpflichtungen regelt. Hinzu kommen allgemeine Informationsaustauschpflichten<br />

in Art 15 bzw. 18 Dual-use-VO.<br />

c) Nationale Vorschriften<br />

<strong>Die</strong> nationalen Vorschriften der Exportkontrolle finden sich im Außenwirtschaftsgesetz<br />

(AWG) 70 sowie im Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) 71 .<br />

Wesentliche Regelung des AWG ist die Ermächtigung des § 2, der die<br />

Grundlage für die Beschränkung von Rechtsgeschäften und Handlungen im<br />

Außenwirtschaftsverkehr bildet. <strong>Die</strong> erforderlichen Einzelfragen regelt die<br />

Außenwirtschaftsverordnung (AWV). In der AWV sind verschiedene Abschnitte<br />

zu unterscheiden. In den Anhängen finden sich Güter- und Länderlisten,<br />

die im Zusammenspiel mit den einschlägigen Normen bestimmte Regelungswirkungen<br />

vorsehen, in Abhängigkeit vom Warencharakter (Ausfuhrliste<br />

mit den Abschnitten A, B und C) und Ziel der beabsichtigten Lieferung<br />

(Länderliste K). <strong>Die</strong> Ausfuhrliste unterscheidet Rüstungsgüter (Abschnitt<br />

A), Folterinstrumente (Abschnitt B) und Dual-use-Güter (Abschnitt<br />

C mit Bezug zu konventionellen Waffen und ABC-Waffen). <strong>Die</strong> für das<br />

KWKG einschlägigen Güter werden im Anhang der Kriegswaffenliste genannt.<br />

<strong>Die</strong> Abgrenzung der Kompetenzzuweisungen, Zuständigkeitsebenen<br />

und Regelungsbereiche ist nicht immer leicht zu erkennen. Bei Anwendung<br />

der nationalen Regelungen muss die Vorrangwirkung der EU-Regelungen<br />

beachtet werden.<br />

Auch die nationalen Regelungen der Exportkontrolle knüpfen an den Ausfuhrbegriff<br />

an. Als Ausfuhr gilt die „vorübergehende oder endgültige Ver-<br />

70 In der Fassung der Bekanntmachung vom 26.06.2006, BGBl. I S. 1386; zuletzt geändert<br />

durch Artikel 3 des Gesetzes vom 12.06.2007 BGBl. I 1037<br />

71 Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Absatz 2 GG in der Fassung der Bekanntmachung<br />

vom 22.11.1993 BGBl. I 1934, 2493, zuletzt geändert durch Verordnung v. 24. 4. 2007<br />

BAnz. Nr. 78, 4307<br />

26


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

bringung von Gemeinschaftswaren aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft<br />

einschließlich der Wiederausfuhr (Verbringung von Nichtgemeinschaftswaren)“.<br />

Unterschieden werden müssen die Teilnahme am Warenverkehr und<br />

die Durchführung von <strong>Die</strong>nstleistungen beziehungsweise technische Unterstützung.<br />

Innerhalb des Warenverkehrs gibt es Ausfuhr, Verbringung und<br />

Durchfuhr. Verbringung ist der Warenverkehr zwischen den EG-<br />

Mitgliedstaaten. Sie ist eine Sonderform der Ausfuhr gem. der §§ 4 Abs. 2<br />

Nr. 3 AWG i.V.m. 4c Nr. 2 AWV. Als Durchfuhr gilt die Beförderung von<br />

Sachen aus fremden Wirtschaftsgebieten durch das nationale Wirtschaftsgebiet,<br />

ohne das diese in den zollrechtlich freien Verkehr gelangen gem. § 4<br />

Abs. 2 Nr. 5 AWG.<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht von Ausfuhren hängt von der Qualifikation als<br />

Kriegswaffe, Rüstungsgut oder Dual-use-Gut ab. Maßgeblich für die Einstufung<br />

eines Gutes sind dessen spezifische technische Eigenschaften: Der nationale<br />

Güterbegriff entspricht im Wesentlichen dem der Dual-use-VO. Er<br />

umfasst Waren und ihre Bestandteile (bewegliche Sachen außer Wertpapiere<br />

und Zahlungsmittel § 4 Abs. 2 Nr. 3 AWG) sowie Software und Technologie.<br />

Rüstungsgüter sind Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter, respektive<br />

Waffen und ihre Komponenten. Deren militärische Endverwendung ist<br />

nicht nur beabsichtigt, sondern ergibt sich schon aus der Natur der Sache.<br />

Für die Genehmigungsentscheidung selbst räumt der Gesetzgeber gem. Art.<br />

7 AWG der Verwaltung unter Vorgabe bestimmter Kriterien oder Überlegungen<br />

einen gewissen Entscheidungsspielraum ein. Auf dieser Grundlage<br />

werden die außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen der Bundesregierung<br />

administrativ umgesetzt. <strong>Die</strong> Veraltung muss die Kriterien des Art. 7<br />

als entscheidungsleitende Vorgaben berücksichtigen. In den exportkontrollpolitischen<br />

Grundsätzen der Bundesregierung vom 19.01.2000 werden sie<br />

spezifiziert72 .<br />

Um effiziente Kontrollen sowie Wettbewerbsgleichheit zu ermöglichen,<br />

setzt sich die Bundesregierung für die weitere Harmonisierung internationaler<br />

Kontrollstandards und Kontrollpolitiken ein. Wenngleich es in der vorliegenden<br />

Untersuchung vor allem auf die Genehmigungsentscheidung bei<br />

Dual-use-Gütern ankommt, aufgrund des technischen und politischen Zusammenhanges<br />

mit der Rüstungsgüterkontrolle sollen zunächst beide Aspekte<br />

erörtert werden.<br />

72 Bek. im BAnz Nr. 19 v. 28.01.2000, S. 1299<br />

27


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

d) Nationale Kontrollen für Rüstungsgüter<br />

<strong>Die</strong> Ausfuhr von Rüstungsgütern wird in Deutschland auf Basis von zwei<br />

recht unterschiedlichen Rechtsgrundlagen kontrolliert. <strong>Die</strong> Eingriffsermächtigung<br />

des AWG wird durch die AWV und Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste<br />

(AL) umgesetzt. <strong>Die</strong> Regelungen gelten für alle Rüstungsgüter73 . Daneben<br />

gilt das KWKG mit seinem Anhang, der Kriegswaffenliste (KWL) sowie einigen<br />

Durchführungsverordnungen. Sie betreffen eine Teilmenge der Rüstungsgüter,<br />

die Kriegswaffen. Rüstungsgüter, die keine Kriegswaffen sind,<br />

werden als „sonstige Rüstungsgüter“ bezeichnet74 . Das KWKG sieht für militärische<br />

Waffen besonders restriktive Kontrollinstrumente vor, die über<br />

bloße Ausfuhrkontrollen hinausgehen. <strong>Die</strong>s wird mit Art. 26 Abs. 1 GG sogar<br />

von der Verfassung gefordert. Es wird deshalb dem „Verfassungsrecht<br />

im materiellen Sinne“ zugerechnet. <strong>Die</strong> im KWKG umfassend geregelten<br />

Genehmigungs- und Überwachungsinstrumente des KWKG können nicht<br />

auf die unüberschaubare Vielfalt und Vielzahl der sonstigen Rüstungsgüter<br />

erstreckt werden, die für sich allein genommen oft völlig ungefährlich<br />

sind75 .<br />

Im Anwendungsbereich des AWG gilt dagegen gem. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der<br />

Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit. Im Rahmen der noch zu erörternden<br />

Kontrolldichte von Genehmigungsentscheidungen stellt sich allerdings die<br />

Frage, welche Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs zu stellen<br />

sind. Der Gesetzgeber hat mit § 1 Abs. 2 AWG explizit Beschränkungsmöglichkeiten<br />

der Außenwirtschaftsfreiheit durch Gesetze oder<br />

Rechtsverordnung vorgesehen. Nach § 2 Abs. 3 S. 2 AWG werden die Ausfuhrbeschränkungen<br />

spezifiziert. Sie sollen in Art und Umfang auf das für<br />

die Erreichung des Gesetzeszweckes notwendige Maß beschränkt bleiben.<br />

<strong>Die</strong>ser Hinweis verdeutlicht die Relevanz des Freiheitsgedankens, vor allem<br />

aber auch des verfassungsmäßigen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.<br />

Auch die Formulierung des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG bestätigt seine Bedeutung,<br />

indem er einen Anspruch der Genehmigungserteilung bei unwesentlicher<br />

Gefährdung eines Rechtsgutes vorsieht76 . Das AWG selbst fungiert als<br />

Rahmengesetz. Es enthält zumindest für den Bereich der Exportkontrolle<br />

keine eigenen Beschränkungen.<br />

73 Vgl. Weber, JA 1990, 73 ff.; Bachmann, AW-Prax 2000, 488 ff.<br />

74 Zur Frage, welche Qualifikation von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern:<br />

Bieneck und Pathe/Wagner, in: Bieneck (FN 4), § 28 Rn 15 ff sowie § 38<br />

75 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 4ff.<br />

76 Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 1 AWG Rn 16 f.<br />

28


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

§ 2 Abs. 1 AWG sieht die Möglichkeit von Verboten und Genehmigungsvorbehalten<br />

vor. Sie werden durch Rechtsverordnungen umgesetzt. Das geschieht<br />

praktisch mit der AWV, was im Vergleich zu AWG-Änderungen ein<br />

flexibles Handeln der Bundesregierung gewährleistet, wenn eine konkrete<br />

Gefährdungslage besteht. Dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 Abs. 1<br />

GG wird über den Normzweck in § 7 AWG Rechnung getragen77 . Neben § 7<br />

werden auch in den §§ 5 und 6 Eingriffsermächtigungen statuiert. <strong>Die</strong>se Paragraphen<br />

setzen den inhaltlichen Rahmen für den Erlass von Beschränkungen.<br />

§ 5 AWG eröffnet dem Verordnungsgeber zum Beispiel die Möglichkeit,<br />

völkerrechtliche Verpflichtungen unmittelbar und zügig ohne ein neues<br />

besonderes Gesetz umzusetzen. Das gilt insbesondere für Resolutionen des<br />

VN-Sicherheitsrats. <strong>Die</strong> Ermächtigung für Beschränkungen in Form der Genehmigungstatbestände<br />

der Exportkontrollen beruht auf § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis<br />

3 AWG. Danach können sie eingeführt werden, um „die wesentlichen Sicherheitsinteressen<br />

der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten; eine<br />

Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten oder zu<br />

verhüten, dass die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland<br />

erheblich gestört werden“.<br />

Zu den Beschränkungstatbeständen gehören die Genehmigungspflichten<br />

nach § 5 AWV. Da diese keine weiteren Anhaltspunkte bieten, nach welchen<br />

Kriterien Genehmigungen versagt werden können, ist auf die in § 7 Abs. 1<br />

AWG genannten Gründe zurückzugreifen78 . § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AWG<br />

wird daher nicht zu Unrecht als „Einfallstor für politische Maßnahmen“ bezeichnet79<br />

. Es wird noch zu erörtern sein, welche Anforderungen an die<br />

Verwaltung gestellt sind, um eine verfassungsgemäße Anwendung des damit<br />

eröffneten Spielraums zu gewährleisten. Im juristischen Schrifttum sind gegen<br />

diese Ansammlung unbestimmter, allenfalls schwer justiziabler Rechtsbegriffe<br />

durchaus Bedenken vorgebracht worden80 .<br />

In § 7 Abs. 2 AWG wird die allgemeine Beschränkungsermächtigung des §<br />

7 Abs. 1 AWG konkretisiert, beispielhaft mit Anwendungsfällen des Warenverkehrs,<br />

z.B. die Ausfuhr § 5 Abs. 1 AWV, die Verbringung § 7 Abs. 1<br />

AWV. Erfasst sind aber auch Vermittlungsgeschäfte §§ 40 ff. AWV sowie<br />

77 Dazu auch Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 2 AWG Rn 3<br />

78 Zu den Bewegungsgründen im Einzelnen: Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd.<br />

2, 611, § 7 Rn 7ff., insbesondere zu der Tatsache, dass die Schutzgedanken der nationalen<br />

Sicherheitsinteressen in Art. 51 der UN-Charta und des friedlichen Zusammenlebens<br />

der Völker in Art. 2 UN-Charta (Gewaltverbot) international anerkannt sind<br />

79 Friedrich, NJW 1980, 2620, 2621<br />

80 Zu dieser Problematik näher: Weber, JA 90, 73, 78<br />

29


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

technische Unterstützung §§ 45 ff. AWV. § 7 Abs. 3 AWG erweitert dagegen<br />

den nach § 1 AWG an sich auf Gebietsansässige beschränkten Anwendungsbereich<br />

des AWG. Erfasst sind auch Beschränkungen gegenüber deutschen<br />

Staatsangehörigen mit Wohnsitz im Ausland.<br />

Auf die Genehmigungspflichten braucht nicht eingegangen zu werden. Für<br />

die vorliegende Untersuchung spielen die Rüstungsgüter nur eine mittelbare<br />

Rolle. Sie sind aber für die Berücksichtigung der ratio legis von Exportkontrollen<br />

und damit für einander ergänzende Entscheidungsleitlinien auch<br />

i.Z.m. Dual-use-Gütern von Bedeutung.<br />

e) Nationale Kontrollen für Dual-use-Güter<br />

<strong>Die</strong> für Rüstungsgüter getroffenen Ausführungen zur Beschränkungsermächtigung<br />

des AWG und der Umsetzung der Genehmigungspflichten der<br />

AWV gelten auch für Daul-use-Güter-Kontrollen. Auch für ihre Ausfuhr und<br />

Verbringung gilt der Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit. <strong>Die</strong> Kriterien<br />

für die Genehmigungsversagung im Einzelfall sind § 7 AWG zu entnehmen.<br />

<strong>Die</strong> Mitgliedstaaten können aufgrund der Ermächtigungsnorm des Art. 5<br />

Dual-use-VO ergänzende nationale Regelungen für die Kontrolle von Dualuse-Gütern<br />

treffen. Beispiel dafür sind zusätzliche Genehmigungspflichten<br />

in der AWV und international nicht vorgesehene Positionen der Ausfuhrliste.<br />

Grundlage dafür sind – wie bei Rüstungsgütern – die Ermächtigungsnormen<br />

des AWG. Auf die in diesem Punkt kritische Frage der Kompetenzzuweisung<br />

i.Z.m. der Reichweite der EU-Kompetenzen gem. Art. 133 EG<br />

wurde bereits eingegangen. <strong>Die</strong> Anwendbarkeit der Dual-use-VO und des<br />

nationalen Rechts ist für den Rechtsanwender schwer abgrenzbar, systematisch<br />

aber eindeutig81 . Das Rangverhältnis der Normen wird über Art. 249<br />

EG geregelt, der über die Anordnung der unmittelbaren Geltung von Verordnungen<br />

das Prinzip des Anwendungsvorranges von Gemeinschaftsrecht<br />

sicherstellt.<br />

<strong>Die</strong> AWV regelt nach § 5 Abs. 2 im gelisteten Dual-use-Güter-Bereich unmittelbar<br />

lediglich die nationalen Positionen von Teil 1 Abschnitt C der Ausfuhrliste.<br />

Güter des Anhanges I der Dual-use-VO sind in der Ausfuhrliste<br />

zusätzlich deklaratorisch wiedergegeben, aus Gründen der Übersichtlichkeit<br />

und Anwenderfreundlichkeit. Art. 3 Dual-use-VO bleibt die einschlägige<br />

Rechtsnorm. Neben den nationalen Sonderpositionen der Ausfuhrliste gibt<br />

es zusätzliche Genehmigungspflichten bei Ausfuhren mit dem Zweck militärischer<br />

Endverwendung in den Ländern der Liste K nach § 5c AWV sowie<br />

81 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 1 Rn 15<br />

30


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

zu zivilen nuklearen Zwecken nach § 5d AWV in die dort aufgeführten Länder.<br />

Zu den in beiden Vorschriften benannten Ländern gehören als besonders<br />

sensitiv oder instabil geltende Länder, wie z.B. Iran oder Nordkorea. Beide<br />

haben atomare Bestrebungen und unterwerfen sich nicht den internationalen<br />

Kontrollstandards. Syrien ist kein Embargoland, aber in der Länderliste K<br />

des § 5c AWV aufgeführt. Daher unterliegt Beispiel 2 der Einleitung der nationalen<br />

Genehmigungspflicht.<br />

Zur Wirkungsweise der Genehmigungspflichten für gelistete und ungelistete<br />

Dual-use-Güter wurde bereits im Rahmen der Darstellung zur Dual-use-VO<br />

Stellung genommen. Abschließend sei erwähnt, dass auch die Verbringungsgenehmigung<br />

§ 7 Abs. 2 AWV bei Kenntnis des Ausführers von einer Endverwendung<br />

der Lieferung außerhalb der EU eine nationale Besonderheit<br />

ist. Zudem beinhalten auch die §§ 45 ff. AWV zur Technischen Unterstützung<br />

rein nationale Regelungen. Sie gehen aus Kompetenzgründen nicht auf<br />

die Ermächtigungsklausel der Dual-use-VO zurück, sondern sind Ausfluss<br />

der schon benannten Gemeinsamen Aktion des Rates.<br />

f) Sachliche und formelle Zuständigkeit<br />

Für die sachliche Zuständigkeit in der Exportkontrolle sind folgende Vorschriften<br />

von Bedeutung. Gem. Art. 83 ff. GG ist in Deutschland der Bund<br />

für den Vollzug <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Vorschriften zuständig. Nach Art.<br />

87 Abs. 3 GG können durch das Bundesgesetz für Angelegenheiten, für die<br />

dem Bund die Gesetzgebung zusteht, selbstständige Bundesoberbehörden<br />

errichtet werden.<br />

Für das Exportkontrollrecht hat der Bund gem. Art. 73 Nr. 5 GG die ausschließliche<br />

Gesetzgebungskompetenz82 . Auf dieser Grundlage wurde mit<br />

dem Gesetz vom 28.02.199283 das Bundesausfuhramt errichtet, heute das<br />

BAFA. Es ist gem. § 28 Abs. 3 AWG i.V.m. der Zuständigkeitsverordnung<br />

zur Durchführung von Exportkontrollen ermächtigt84 . Das BAFA hat ebenfalls<br />

die Zuständigkeit für Entscheidungen bei Dual-use-Gütern. Sie sind<br />

gem. Art. 6 Abs. 2 Dual-use-VO den Mitgliedstaaten zugewiesen. Danach<br />

ist es im Grundsatz für alle <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Verfahren zuständig,<br />

82 Lärche, in: Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum GG, Artikel 73, Rn 97<br />

83 Veröff. in BGBl. I, S. 376<br />

84 Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten im Außenwirtschaftsverkehr vom<br />

18.07.1997, BGBl. I, S 1308<br />

31


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

auch nach dem Gemeinschaftsrecht 85 . Insoweit kommt es formal nicht zu<br />

der materiell festgestellten Zweigleisigkeit des Behördenhandelns, was bei<br />

der Umsetzung der Dual-use-VO durch den zuständigen Mitarbeiter der Behörde<br />

umso mehr berücksichtigt werden muss.<br />

g) Ergebnis<br />

Neben der Abgrenzung von Dual-use- und Rüstungsgütern muss bei den<br />

Dual-use-Gütern selbst das zweigleisige Kontrollsystem beachtet werden.<br />

<strong>Die</strong> nationalen Regelungen des AWG und der AWV gelten für bereits in der<br />

Dual-use-VO geregelte Genehmigungspflichten deklaratorisch, für weitergehende<br />

nationale Dual-use-Kontrollen sowie Rüstungsgüterkontrollen dagegen<br />

konstitutiv. <strong>Die</strong> sachliche Verfahrenszuständigkeit obliegt für beide<br />

Regelungskreise dem BAFA. Es hat je nach Sachverhalt die entsprechend<br />

geltenden Vorschriften zu berücksichtigen.<br />

5. Exportkontrollrechtliche Genehmigungstatbestände<br />

a) Allgemeine Erwägungen<br />

Unterliegt ein Vorhaben im Außenwirtschaftsverkehr dem Genehmigungsvorbehalt,<br />

muss die Verwaltung eine Entscheidung treffen. <strong>Die</strong> Genehmigungsbehörde<br />

prüft dabei zunächst das Bestehen einer Genehmigungspflicht.<br />

Erst wenn eine solche festgestellt wurde, befasst sie sich mit der<br />

Frage der Genehmigungsfähigkeit eines Antrages. Das <strong>exportkontrollrechtliche</strong><br />

Genehmigungsverfahren wird mit der Entscheidung über die Erteilung<br />

einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> abgeschlossen. <strong>Die</strong> zu erteilende Genehmigung<br />

wie auch Ablehnung eines Antrages stellen (begünstigende bzw. belastende)<br />

Verwaltungsakte im Sinne des allgemeinen Verwaltungsrechts nach § 35 S.<br />

1 VwVfG dar. <strong>Die</strong> Genehmigungsentscheidung entfaltet Bestandskraft, es<br />

sei denn sie wird mit den einschlägigen Rechtsbehelfen angefochten.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ist von anderen Entscheidungen der Exportkontrollbehörden<br />

abzugrenzen. Mit Bezug auf nicht gelistete Güter kann ein so<br />

genanntes Nullschreiben, also die Feststellung, dass eine Genehmigungspflicht<br />

gar nicht besteht, aber auch die Konstituierung einer Genehmigungspflicht<br />

aufgrund bestimmter Endverwendungsabsichten erfolgt. Beide haben<br />

85 Eine Ausnahme gilt für Kriegswaffen, die nicht im Außenwirtschaftsrecht geregelt<br />

sind und die Übertragung von Anteilen an Rüstungsunternehmen: Weith/Wegner/Ehrlich<br />

(Fn 9), D. Rn 77 und F. Rn 35<br />

32


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

ebenfalls die Qualität eines Verwaltungsaktes nach § 35 S. 1 VwVfG86 . <strong>Die</strong><br />

Voranfrage ist ein Instrument, mit dem ein Teilnehmer am Außenwirtschaftsverkehr<br />

vorab prüfen lassen kann, ob für ein derzeit noch nicht vertraglich<br />

gesichertes Projekt eine Genehmigung erteilt werden würde. Aus<br />

verwaltungsrechtlicher Sicht handelt es sich dabei um eine verbindliche<br />

Auskunft beziehungsweise Zusicherung nach § 38 VwVfG.<br />

Hingegen stellt die Auskunft zur Güterliste (AZG) keine das Verwaltungsverfahren<br />

abschließende Entscheidung dar87 . Es handelt sich um eine behördliche<br />

Auskunft, die Frage betreffend, ob eine ganz bestimmte Ware einer<br />

der Ausfuhrlisten unterfällt. Sie ergeht in Form eines technischen Gutachtens<br />

und vermittelt Klarheit hinsichtlich der Listenerfassung, hat aber<br />

selbst keine rechtlich regelnde Wirkung im Sinne des § 35 VwVfG.<br />

Zentraler Bezugspunkt aller <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbestände<br />

ist der Ausfuhrbegriff. Neben diesen klassischen güterbezogenen Exportkontrollen<br />

stehen weitergehende Kontrollansätze. <strong>Die</strong>nstleistungen in<br />

Form technischer Unterstützung bzw. Wissenstransfer knüpfen an die Person<br />

des Leistenden, den Ort der Leistung und den Bezug zu einem bestimmten<br />

sicherheitsrelevanten und damit sensitiven Verwendungszusammenhang an.<br />

Auch Vermittlungsleistungen (Brokering) oder die Meldepflicht für den ausländischen<br />

Anteilserwerb an Unternehmen, die Rüstungsgüter herstellen haben,<br />

mit dem Exportbegriff wenig gemein, dienen letztlich aber ebenso der<br />

Verhinderung unkontrollierter Lieferungen. <strong>Die</strong> Umgehung bestehender Warenverkehrsbeschränkungen<br />

und das Abwandern sensitiver Technologien<br />

ins Ausland soll erschwert werden.<br />

Es bleiben folgende Genehmigungstatbestände zur Ausfuhr und Verbringung<br />

festzuhalten88 :<br />

(1) Kontrolle von Rüstungsgütern: §§ 3 AWG i.V.m. 5 Abs. 1 AWV, § 7<br />

AWV<br />

(2) Kontrolle gelisteter Dual-use-Güter unter Verweis auf die Listenanhänge:<br />

Art. 3 Dual-use-VO, §§ 3 AWG i.V.m. 5 Abs. 2 AWV<br />

86 Vgl. zur Verwaltungsaktqualität vgl. Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), Bd. 1,<br />

§ 3 AWG, S. 6 (Anm.2); zu Rechtsbehelfen §§ 68 VwGO, Nebenbestimmungen nach<br />

§§ 30 AWG, 36 VwVfG: Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 404 und 406 ff.<br />

87 Vgl. Überblick in Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 9 Rn 626 ff. dazu auch Monreal/Runte,<br />

GewArchiv 2000, S.142, 148<br />

88 <strong>Die</strong> dogmatisch ebenfalls zu Exportkontrollen zu zählenden KWKG-Tatbestände sind<br />

hier ausgeblendet, insbesondere gilt hier das Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

nicht: vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 93, 100<br />

33


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

(3) Kontrolle ungelisteter Dual-use-Güter: Art. 4 Abs.1 und 2 Dual-use-VO,<br />

§§ 3 AWG i.V.m. 5c, 5d AWV<br />

(4) Verbringung von bestimmten Dual-use-Gütern (innerhalb der EU): Art.<br />

7, §§ 3 AWG i.V.m. 21 AWV<br />

Ob nach Feststellung der Genehmigungspflicht eine positive oder negative<br />

Verwaltungsentscheidung ergehen kann, regeln die Kriterien des § 7 Abs. 1<br />

AWG sowie Art. 8 Dual-use-VO. Ihre Anwendung bestimmt sich nach dem<br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbestand im jeweils eröffneten<br />

Regelungsbereich. Beide Kriterienkataloge beinhalten Erwägungen sowie<br />

rechtlich geschützte Interessen, deren mögliche Beeinträchtigung im Einzelfall<br />

zu prüfen ist. Dazu gehören auch die entscheidungsleitenden Vorgaben<br />

für die Verwaltung. Zusätzlich muss der vom Gesetzgeber eröffnete Ermessens-<br />

bzw. Beurteilungsspielraum beachtet werden. Auf die Begründung der<br />

hiermit verbundenen Entscheidungsspielräume wird zurückzukommen sein.<br />

<strong>Die</strong> der Entscheidung zu Grunde liegenden Normen sind ausfüllungsbedürftig.<br />

Ihre rechtmäßige Anwendung erfordert die Beachtung allgemeiner Verfassungs-<br />

und Verfahrensprinzipien sowie der Grundrechte der Betroffenen.<br />

b) Genehmigungsvoraussetzungen nach dem AWG<br />

aa) Außenwirtschaftsfreiheit und Beschränkungskriterien<br />

<strong>Die</strong> Außenwirtschaftsfreiheit wird gem. Art. 1 Abs. 1 S. 1 AWG als grundlegendes<br />

Prinzip statuiert. <strong>Die</strong> damit beschriebene Freiheit eines grenzüberschreitenden<br />

Waren-, <strong>Die</strong>nstleistungs- und sonstigen Wirtschaftsverkehrs<br />

bestätigt grundrechtlich verbürgte Ansprüche89 . Sie ergeben sich aus Ableitungen<br />

verfassungsrechtlicher Vorgaben. Hierzu gehören die allgemeine<br />

Handlungsfreiheit Art. 2 Abs. 1 GG, die über Art. 12 GG geschützte Unternehmerfreiheit<br />

sowie die Eigentumsgarantie Art. 14 GG90 . Insbesondere Art.<br />

12 GG schützt neben der freien Berufsausübung die freie unternehmerische<br />

Betätigung bzw. Gewerbefreiheit, was durch selbstverantwortliche unternehmerische<br />

Disposition nach Art. 2 Abs. 1 GG ergänzt wird. Ein mit <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Beschränkungen verbundener Eingriff muss mit<br />

Blick auf die genannten Freiheiten, insbesondere aber auf Art. 12 GG gerechtfertigt<br />

sein91 .<br />

Der Außenwirtschaftsfreiheit entgegen stehende Interessen, wie auch die im<br />

Zusammenhang mit der Sicherheitsgewährleistung stehenden Staatsziele,<br />

89 Hohmann, Angemessene Außenhandelsfreiheit im Vergleich, S. 216<br />

90 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), Einführung AWG, S. 28<br />

91 Hohmann (FN 89), S. 422; s.a. Epping (FN 28), S. 68<br />

34


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

müssen noch erörtert werden. Bereits hier sei auf die mit Art. 26 GG vom<br />

Verfassungsgeber hervorgehobene völkerrechtliche Friedenspflicht hingewiesen.<br />

Unmittelbare Geltung hat diese Vorgabe vor allem für die Kriegswaffenkontrolle.<br />

Mit der Friedenspflicht soll generell sichergestellt werden,<br />

dass die Bundesrepublik Deutschland keinesfalls in friedensgefährdende<br />

Handlungen involviert wird und sich die Verteidigungspolitik auf die Bündnissicherheit<br />

konzentriert92 . <strong>Die</strong> Kompetenz dafür hat nach Art. 73 Nr. 1 GG<br />

allein der Bund. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Beschränkungsermächtigungen<br />

des AWG gesehen werden.<br />

§ 3 Abs. 1 S. 1 AWG regelt die Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>, wenn<br />

mit der beabsichtigten Ausfuhr allenfalls eine unwesentliche oder aber gar<br />

keine Gefährdung eines Rechtsgutes zu erwarten ist. <strong>Die</strong> Schwelle der Unwesentlichkeit<br />

ist Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der<br />

Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs. Das bedarf einer zusätzlichen Wertung<br />

der Behörde. § 3 Abs. 1 S. 2 eröffnet auch in Fällen der wesentlichen Gefährdung<br />

geschützter Rechtsgüter und Belange bei Vorrang eines volks- und<br />

betriebswirtschaftlichen Exportinteresses eine Genehmigungsoption der Behörde.<br />

In der Praxis besteht dafür wegen der Gewichtung der jeweiligen Interessen<br />

aber kaum Relevanz.<br />

Den Maßstab für eine zulässige Beschränkung der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

in Form der Genehmigungsversagung formuliert § 7 Abs. 1 AWG. Danach<br />

sind die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland<br />

zu gewährleisten; eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker<br />

(ist) zu verhüten oder (es ist) zu verhüten, dass die auswärtigen Beziehungen<br />

der Bundesrepublik Deutschland erheblich gestört werden. <strong>Die</strong>se Kriterien<br />

bilden nicht nur eine Ermächtigung für die Beschränkungen der AWV, mithin<br />

die Einführung von Genehmigungspflichten. Sie sind auch der Maßstab<br />

für die Genehmigungsentscheidung im Einzelfall. <strong>Die</strong> Kriterien des § 7<br />

AWG weisen mit den für die Prüfung zu Grunde liegenden Termini der Sicherheitsinteressen,<br />

des Völkerfriedens und der Auswärtigen Beziehungen<br />

auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe auf. <strong>Die</strong> auch als Schutztrias bezeichneten<br />

Ermächtigungszwecke gehen ineinander über und verfolgen Staatsziele<br />

von sehr hohem Rang, die als Gemeinwohlbelang Beschränkungen der<br />

Berufsausübung sowie auch des Eigentums rechtfertigen und deshalb mit<br />

Art. 12 und 14 GG grundsätzlich vereinbar seien93 .<br />

92 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 23<br />

93 Hohmann, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 AWG, Rn 6 unter Verweis auf BVerfG,<br />

NJW 1992, S. 2624<br />

35


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Beschränkungen der Außenwirtschaftfreiheit sind gem. § 2 Abs. 3 S. 2<br />

AWG in Art und Ausmaß nach dem Normzweck begrenzt. <strong>Die</strong>s deckt sich<br />

bei Zugrundlegung der zentralen Frage nationaler Sicherheitsinteressen im<br />

Wesentlichen mit den bereits auf EU-Ebene zur Geltung von Art. 1 EG-VO<br />

69 getroffenen Feststellungen94 . Allerdings müsse das Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

faktisch als bloßer Programmsatz verstanden werden, da<br />

die Beschränkungen zahlreich sind und das Prinzip nicht zuletzt aufgrund<br />

der Anzahl internationaler Krisenherde kaum durchzuhalten sei95 . Auf die<br />

dogmatische Begründung, mit den durchaus subjektive Rechte vermittelnden<br />

Grundrechten, wird noch einzugehen sein. Bestimmtheitsgrundsatz, Gesetzesvorbehalt<br />

und damit die entsprechend gebotene verfassungskonforme<br />

Auslegung der mit dem Beschränkungstatbestand verbundenen unbestimmten<br />

Rechtsbegriffe spielen dafür eine große Rolle. Hier müssen die Schranken<br />

der Grundrechtsausübung und die Abwägung mit ihnen entgegenstehenden<br />

Verfassungsrechtsgütern einbezogen werden.<br />

Einen besonderen Hinweis verdient § 3 Abs. 2 AWG. <strong>Die</strong> Zuverlässigkeit<br />

des Ausführers ist Voraussetzung für die Erteilung einer Genehmigung.<br />

Letztlich geht es dabei um die Gewähr für die Einhaltung der Exportkontrollvorschriften<br />

im Unternehmen selbst, insbesondere die dafür notwendigen<br />

organisatorischen Voraussetzungen und die Bestimmung eines Ausfuhrverantwortlichen96<br />

. Eingefügt wurde diese personenbezogene Genehmigungsvoraussetzung<br />

mit einer AWG-Änderung im Jahr 1992, welche auf die<br />

schon zuvor erörterte Verstärkung der Kontrollen infolge des Rabta-<br />

Skandals zurückgeht97 . Gleichzeitig wurde ein Zuverlässigkeitsnachweis<br />

nach § 3 Abs. 2 AWG zur Genehmigungsvoraussetzung gemacht. <strong>Die</strong> verfassungsrechtliche<br />

Interpretation und Legitimität der mit einer Unzuverlässigkeitsfeststellung98<br />

verbundenen Verwaltungssanktionen ist nicht unstrittig99<br />

. <strong>Die</strong> dogmatische Verankerung dieses Instruments wird anlässlich der<br />

Konkretisierung des Entscheidungsspielraums der Behörde noch aufgegriffen.<br />

94 Vgl. Teil 1 II. 3.c)<br />

95 Epping, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 20 Rn 4 ff.<br />

96 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 AWG, Rn 155 ff.; siehe auch Pottmeyer,<br />

„Der Ausfuhrverantwortliche“ (zur Stellung im Unternehmen, Aufgaben und Risiken)<br />

97 Zur Zuverlässigkeit und der Rolle des Ausfuhrverantwortlichen: Sauer, in: Hohmann/John<br />

(FN 26), Teil 3 § 3 Rn 15<br />

98 Zum System der Zuverlässigkeit: Haddex (FN 4), Bd. 1 Teil 6 Rn 344 ff.<br />

99 Zu gesetzlich nicht geregelten Verwaltungssanktionen: Hohmann (FN 89), S. 248 f.<br />

36


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

bb) Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik<br />

Der Begriff der Sicherheitsinteressen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 AWG bezieht sich<br />

nicht auf ein Individualrechtsgut, wie z.B. die körperlichen Unversehrtheit<br />

eines Bürgers i.S.v. Art. 2 Abs. 2 GG. Es geht dabei um ein kollektives Interesse<br />

der staatlichen Gemeinschaft. Der so verfolgte Schutzzweck ist international<br />

anerkannt. In Art. 51 der UN-Charta ist das Selbstverteidigungsrecht<br />

eines Staates bei kriegerischen Angriffen festgeschrieben, bis Frieden<br />

und Sicherheit durch den Rat gewährleistet werden können. In Art. XXI<br />

GATT wird ebenfalls auf nationale Sicherheitsinteressen Bezug genommen.<br />

Sie rechtfertigen eine Ausnahme vom Ziel des freien Welthandels. Hierbei<br />

geht es auch um die Verteidigungsfähigkeit eines Staates. Das übergeordnete<br />

gesellschaftliche Interesse der Gewährleistung von Sicherheit bezieht sich<br />

mittelbar auf den Aspekt der körperlichen Unversehrtheit und das Leben der<br />

Bürger. Dafür hat der Staat mit dem Gewaltmonopol Verantwortung übernommen.<br />

<strong>Die</strong>s spiegelt sich im Regelungszweck des § 7 AWG wieder. Auf<br />

die verfassungsrechtliche Legitimation von sicherheitsrelevanten Eingriffen,<br />

die insoweit gegebene Reichweite des Sicherheitsbegriffs sowie die Frage<br />

der Abwägung gegenüber dazu kollidierenden Freiheitsrechten, wird noch<br />

einzugehen sein.<br />

Der Begriff der Sicherheitsinteressen im Sinne des § 7 AWG umfasst zunächst<br />

den herkömmlichen Sicherheitsbegriff, d.h. die innere und äußere Sicherheit<br />

des Staates100 . <strong>Die</strong> innere Sicherheit betrifft den Erhalt der öffentlichen<br />

Ordnung, insbesondere die Verhinderung von Angriffen auf staatliche<br />

Institutionen. Bei der äußeren Sicherheit geht es dagegen um die militärische<br />

Bedrohung des Staates von außen101 . Exportkontrollen dienen einer<br />

Verhinderung der militärrelevanten Stärkung eines potenziellen Aggressors<br />

oder unerwünschten instabilen Situationen. Auf die Entwicklungen während<br />

des Kalten Krieges und die inzwischen zunehmende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen<br />

wurde bereits hingewiesen102 . Zu den wesentlichen<br />

Sicherheitsinteressen gehört auch der Schutz vor sonstigen weltweiten Bedrohungslagen<br />

und Konflikten. Dazu zählt der internationale Terrorismus103 .<br />

Hier muss der Zusammenhang zum Merkmal des Völkerfriedens und dessen<br />

Interpretation gesehen werden. Fragen der inneren und äußeren Sicherheit<br />

sind in vielen Bereichen nicht mehr klar voneinander trennbar. Grenzüberscheitende<br />

Kriminalität und internationaler Terrorismus sind die plakativsten<br />

100 Dazu Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 611, § 7 AWG Rn 7<br />

101 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 AWG Rn 7<br />

102 Siehe Teil 1 II.3.c)<br />

103 Wolffgang, in: Bieneck, (FN 4), § 4 Rn 72<br />

37


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Beispiele dafür, dass eine eindeutige Zuordnung zu beiden Aufgaben häufig<br />

nicht möglich ist. Hierbei muss es zu einer umfassenden Behördenkooperation<br />

kommen, nationale Polizei- und Ordnungsbehörden sowie die Bundeswehr<br />

müssen ebenso zusammenarbeiten wie Polizei und Justiz, auch international.<br />

Zu Recht wird deshalb von einem erweiterten oder ganzheitlichen<br />

Sicherheitsbegriff ausgegangen104 . Das gilt auch und gerade für auf internationale<br />

Kooperation ausgerichtete Exportkontrollen105 . Von außen kommende<br />

Gefahren für die innere Sicherheit können in Verbindung mit dem Fehlverhalten<br />

eines Staates in der internationalen Zusammenarbeit bei der Gewährleistung<br />

innere Sicherheit zu einem Problem der äußeren Sicherheit<br />

werden106 .<br />

Mit Erweiterung des ursprünglich im AWG verfolgten Sicherheitsbegriffs<br />

wird zudem auch die militärische Versorgungssicherheit der Bundesrepublik<br />

Deutschland einbezogen107 . Mit dem 11. AWG-Änderungsgesetz108 wurde<br />

die Bundesregierung ermächtigt, den Erwerb sicherheitsrelevanter in<br />

Deutschland ansässiger Rüstungsunternehmen, § 7 Abs. 2 Nr. 5 AWG i.V.m.<br />

§§ 52 ff. AWV zu kontrollieren109 . <strong>Die</strong> Formulierung „Gewährleistung“ der<br />

Sicherheitsinteressen lässt erkennen, dass es nicht auf die konkrete Gefährdung<br />

eines Rechtsgutes ankommen soll. Erfasst scheint damit schon die<br />

Eignung eines Rechtsgeschäfts oder einer Handlung, die zur militärischen<br />

Schwächung der Bundesrepublik Deutschland führt. Es ginge also um<br />

Handlungen im Vorfeld einer Gefährdung im Einzelfall. Andererseits erfolgt<br />

eine Einengung des Tatbestandes, der die staatliche Gewährleistungspflicht<br />

auf wesentliche, also keinesfalls alle Sicherheitsinteressen des Staates bezieht.<br />

<strong>Die</strong> Anforderungen an diese sehr weit gehende, aber dennoch den<br />

Schranken der Verfassung genügende Gefahrenabwehr, müssen noch näher<br />

untersucht werden. Primär geht es dabei um Fragen zur Abgrenzung von sicherheitsrelevanten<br />

Gefahren und Risiken auf der einen sowie die angemessene<br />

Berücksichtigung der Freiheiten von Rechtssubjekten auf der anderen<br />

Seite. <strong>Die</strong> Diskussion ist aus dem Polizeirecht, aber auch aus dem Umweltrecht<br />

bekannt. Entsprechend müssen die Reichweite zulässiger Beschrän-<br />

104 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 2 Rn 2a<br />

105 Zur Verschmelzung der Begriffe aufgrund von Eurpäisierung und Globalisierung s.a.:<br />

Calliess, Äußere Sicherheit im Wandel, S. 13 ff.; so auch Kapitel 2 im Weißbuch zur<br />

Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr,<br />

www.weissbuch.de<br />

106 Möstl, <strong>Die</strong> staatliche Garantie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 287<br />

107 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), § 7 AWG, Rn 3<br />

108 11. Gesetz zur Änderung des AWG sowie der AWV v. 23.07. 2004, GBl. I S. 1859<br />

109 Dazu ausführlich Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 156 ff.<br />

38


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

kungen und Mindestanforderungen an die Darlegungslast der Verwaltung<br />

geprüft werden.<br />

cc) Völkerfriede<br />

Das friedliche Zusammenleben der Völker i.S.v. § 7 Abs.1 Nr. 2 AWG ist<br />

der Leitgedanke des bereits erwähnten Art. 51 und des Gewaltverbotes in<br />

Art. 2 Nr. 4 der VN-Charta. Der Bundesrepublik ist damit auch international<br />

verpflichtet, dem verfassungsrechtlichen Friedensauftrag nach Art. 26 GG<br />

zu entsprechen. Zu den internationalen Verpflichtungen gehören z.B. auch<br />

die Leitmotive des Wassenaar Arrangements, wonach Exporte keinen destabilisierenden<br />

Beitrag zu Konflikten zwischen Drittstaaten leisten sollen. Es<br />

geht dabei um eine generelle Vermeidung friedenstörender Konflikte. Hierunter<br />

fallen nach VN-Verständnis alle militärischen Aktionen, die nicht der<br />

Verteidigung gegen einen Angriff dienen oder als Kollektivmaßnahme der<br />

VN gerechtfertigt sind110 . Konflikte zwischen zwei Völkern innerhalb eines<br />

Staates sind ebenfalls erfasst. Nach dem Normzweck sollen sogar Konflikte<br />

innerhalb ethnischer Gruppen dazu gehören, wenn sie sich auf andere Völkergruppen<br />

oder Staaten ausweiten können. Dazu zählen auch terroristische<br />

Handlungen111 . Zu Störungen im Kriegssinne zählen ernsthafte Androhungen,<br />

die Förderungs- oder Vorbereitungshandlungen. Dazu gehören z.B.<br />

auch Waffenlieferungen112 .<br />

Bei den Exportkontrollen rückt in den letzten Jahren ihr Beitrag zur Terrorismusbekämpfung<br />

ins Blickfeld, vor allem durch Embargos im Waren- und<br />

Kapitalverkehr, aber auch bei Anwendung der Genehmigungstatbestände.<br />

<strong>Die</strong> Grenzen der Schutzzwecke Völkerfriede, innerer und äußerer Sicherheit<br />

sind fließend113 . Mit Blick auf den gesetzlichen Auftrag der Verhütung von<br />

Störungen im o.g. Sinne kommt die vorsorgende Komponente von § 7 AWG<br />

zum Ausdruck. Hierauf wird i.Z.m. den zulässigen Eingriffsschwellen nach<br />

Prinzipien der Gefahrenprävention noch näher einzugehen sein.<br />

dd) Begriff der Auswärtigen Beziehungen<br />

§ 7 Abs. 1 Nr. 3 regelt eine Beschränkungsermächtigung, wenn damit eine<br />

erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen verhütet werden kann.<br />

110 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 AWG, Rn 11, dazu auch EuGHE v.<br />

17.10.1995, RS C 70/94 – Leifer (FN 27)<br />

111 Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), §4 Rn 73<br />

112 Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 26 GG Rn 2<br />

113 Vgl. zur Bekämpfung des Terrorismus mit Mitteln des Außenwirtschaftsrechts Ricke,<br />

AW-Prax 2006, S. 411 sowie Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), C. Rn 44 ff.<br />

39


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Auch hier kommt mit dem gesetzlichen Auftrag der Verhütung von Störungen<br />

eine vorsorgende Komponente zum Ausdruck114 . Zunächst werden die<br />

auswärtigen Beziehungen mit den Beziehungen der Bundesrepublik<br />

Deutschland zu anderen Staaten und zu internationalen Organisationen definiert.<br />

Eine erhebliche Störung wird angenommen, wenn die Bundesrepublik<br />

durch Handlungen oder Rechtsgeschäfte einzelner Bürger in eine Lage gebracht<br />

wird, die eine Wahrnehmung ihrer Interessen bei diesen anderen Saaten<br />

oder Organisationen ernsthaft erschwert oder unmöglich macht. Zu den<br />

„erheblichen Störungen“ zählen Situationen, die es der Bundesrepublik erschweren,<br />

ihre Interessen gegenüber anderen Staaten wahrzunehmen. Beispiele<br />

dafür sind der Abbruch diplomatischer Beziehungen, ein Botschafterrückruf<br />

oder die Verurteilung in internationalen Gremien. <strong>Die</strong> für eine Störung<br />

notwendige Intensität der erwarteten Reaktion ist je nach Land unterschiedlich,<br />

dies hängt von der Qualität der Beziehungen ab115 .<br />

Eine Erschwerung der Interessenwahrnehmung im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr.<br />

3 AWG trifft keine Aussage, um welche Interessen es dabei geht. Dabei<br />

muss auf Art. 32 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden. Danach ist der Schutz<br />

außenpolitischer Interessen, also die Verhütung von erheblichen Störungen<br />

der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik, auch Teil der Liste verfassungsrechtlich<br />

geschützter Belange116 . <strong>Die</strong> Reichweite des Schutzgutes<br />

ist unklar. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, für dessen<br />

Anwendung wegen der politischen Einschätzungsprärogative der Bundesregierung<br />

ein erheblicher Bewertungsspielraum eingeräumt wird117 . Der Begriff<br />

wird gesetzlich nirgends näher definiert. Art. 32 Abs. 1 GG regelt lediglich<br />

die Pflege der auswärtigen Beziehungen, ohne diese z.B. in Form<br />

völkerrechtlicher Verträge zu konkretisieren, wie es z.B. in Art. 59 GG der<br />

Fall ist. Damit wäre jedwede Imagebeeinträchtigung zu Lasten der Bundesrepublik<br />

erfasst. Es gibt deshalb starke Zweifel an einer aus Art. 32 GG ableitbaren<br />

umfassenden Schutzpflicht, die Eingriffe des Staates in andere<br />

Rechtsgüter oder die Außenwirtschaftsfreiheit rechtfertigen könne118 . Es ist<br />

unbestritten, dass der Verwaltung wegen der politischen Dimension der Auslegung<br />

des unbestimmten Rechtsbegriffes auswärtiger Interessen ein breiter<br />

114 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 AWG Rn 17<br />

115 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), § 7 AWG Rn 9, auch unter Verweis auf<br />

BVerfGE v. 25.10.1991, Rs 2 BvR 374/90, NJW 1992, S. 2624<br />

116 BVerfGE v. 25.10.1991, (FN 115)<br />

117 So Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 AWG Rn 6 unter Hinweis auf diverse<br />

Entscheidungen des BVerfG<br />

118 Epping (FN 28), S. 356 ff.<br />

40


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Bewertungsspielraum zusteht119 . Der mit Art. 32 GG eröffnete Rahmen lässt<br />

jede Hypothese zur negativen Reaktion anderer Staaten oder Subjekte als<br />

„Störung“ erscheinen. Ohne eine nähere Bestimmung des auf diese Weise<br />

nahezu unbegrenzten Spielraumes, also des Bezugspunktes der betroffenen<br />

Interessen, wäre damit aber eine völlige Marginalisierung von Grundrechten<br />

und Individualfreiheiten möglich. Sie würden gegenüber dem Kollektivinteresse<br />

immer verdrängt. Der Anspruch auf gerichtlichen Schutz des Art. 19<br />

Abs. 4 GG würde bei einer derartig weit gefassten Eingriffsermächtigung<br />

der Verwaltung (und Politik) konterkariert, ein umfassendes Primat der Außenpolitik<br />

ohne programmatische Konkretisierungen deshalb verfassungsrechtlich<br />

fragwürdig. Es widerspräche dem Bestimmtheitsgebot des Art. 80<br />

Abs. 1 S. 2 GG120 .<br />

Der Grad der notwendigen Gefährdung und die hinreichende Bestimmtheit<br />

der Norm können aber nicht durch den bloßen Verweis auf internationale<br />

Verpflichtungen der Bundesrepublik und den Sicherheitsauftrag der Verfassung<br />

kompensiert werden. Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 Nr. 3 AWG bietet<br />

keine Anhaltspunkte für die Reichweite des Begriffs. <strong>Die</strong> auswärtigen Belange<br />

dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Es ist ein Bezug zu Rechtsgütern<br />

notwendig, die verfassungsrechtlich geschützt werden und damit auch<br />

vom Schutzzweck der Norm erfasst sind. Im Allgemeinen wird ein Zusammenhang<br />

mit dem nach Art. 2 Abs. 1 und 20a, 24, 25, 26 GG bestehendem<br />

sicherheitspolitischen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Staates gesehen.<br />

Hierzu zählen die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Bürger<br />

sowie sich daraus ableitende Sicherheits- und Friedensinteressen, aber<br />

auch der Beitrag zur Verwirklichung von Menschenrechten und das Einschreiten<br />

gegen terroristische Handlungen, welche das friedliche Zusammenleben<br />

der Völker stören121 . <strong>Die</strong> Formulierungen in § 7 Abs. 1 Nr. 3<br />

AWG decken sich mit diesem Verfassungsauftrag.<br />

Der auf die Ermächtigungsgrundlagen des § 7 Abs. 1 AWG bezogene Vorwurf<br />

fehlender Bestimmtheit wird vom BVerfG nicht geteilt und mehrfach<br />

119 So wird in der Exportkontrollliteratur immer wieder die Einschätzungsprärogative<br />

der Bundesregierung bemüht, die auf die Rechtsprechung des BVerfG zurückgeht:<br />

Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, § 7 AWG Rn 12; BVerfGE vom<br />

25.10.1991 2 BVR 374/90, NJW 1992, S. 2624 (FN 115), unter Verweis auf BVerf-<br />

GE 40,141,178 und 68, 1, 97<br />

120 Dazu auch Hohmann (FN 89), S. 466; Epping (FN 28), S. 362 ff., bestätigt auch<br />

durch BVerfGE 4, 157, 174 ff. – Saarstatut, wonach entsprechend zum Schutz des<br />

Wesensgehalts der Grundrechte die politischen Spielräume trotz völkerrechtlicher<br />

Vereinbarungen begrenzt sind<br />

121 Vgl. Hohmann ( FN 89), S. 463 f.<br />

41


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

zurückgewiesen122 . Der Schutzgutcharakter auswärtiger Beziehungen ergebe<br />

sich in dieser Gesamtschau nur im Zusammenhang mit o.g. Erwägungen, die<br />

letztlich auf staatlichen Schutzpflichten beruhen. Zwar sieht das BVerfG im<br />

Begriff der auswärtigen Beziehungen durchaus Bestimmtheitsdefizite. Ein<br />

bloßes Abstellen auf die erhebliche Gefährdung auswärtiger Beziehungen<br />

würde auf eine praktisch nicht überschaubare Vielfalt von Beziehungen abstellen<br />

und die Anlässe von Kontrollmaßnahmen ins Uferlose wachsen lassen123<br />

. Deshalb müsse die Auslegung der zunächst zu unbestimmten Definition<br />

verfahrensmäßig abgesichert und kompensiert werden. <strong>Die</strong>s könne auch<br />

außerhalb des AWG oder durch eine enge Auslegung im Rahmen der Verordnungsermächtigung<br />

des § 2 Abs. 1 i.V.m. den Ermächtigungszwecken<br />

des § 7 Abs. 2 AWG geschehen124 . Es hat daher die Wahrung des Bestimmtheitsgebotes<br />

in § 7 Abs. 1 Nr. 3 AWG vor allem mit dem Hinweis bejaht,<br />

dass über die Bezugnahme auf Ausfuhren von Kriegs- und strategischen Gütern<br />

im Sinne des § 7 Abs. 2 AWG an der Tendenz des Ermächtigungszweckes<br />

keine Zweifel bestehen könnten. Der zu auswärtigen Beziehungen formulierte<br />

Verfassungsauftrag muss im Ergebnis auf die Gefährdung der dort<br />

genannten Schutzgüter bezogen werden, die sämtlich sicherheitsorientiert<br />

sind.<br />

<strong>Die</strong>ser Befund bestätigt sich aufgrund der Vertretungsmacht der Bundesregierung<br />

bei der Ausübung auswärtiger Gewalt nach Art. 59 GG. <strong>Die</strong> völkerrechtlichen<br />

Zusagen, auch als völkerrechtlich wirksam gewordene Außenpolitik<br />

im Sinne des Art. 32 GG bezeichnet, müssen durch die Exekutive umgesetzt<br />

werden. Sie haben aufgrund der administrativen Kooperation auf internationaler<br />

Ebene und durch objektive internationale Regelungsstrukturen,<br />

wie z.B. in Regimes internationaler Organisationen, einen grenzüberschreitenden<br />

regulierenden gemeinwohlorientierten Schutzcharakter125 . Hier wiederum<br />

spielen Beziehungspflege und Imagefragen im Sinne des Art. 32 GG<br />

eine Rolle.<br />

Im Kontext von Exportkontrollen geht es um die Einhaltung der sicherheitsrelevanten<br />

internationalen Verpflichtungen. <strong>Die</strong> auswärtigen Interessen müssen<br />

also im Gesamtkontext des § 7 AWG interpretiert werden, wonach der<br />

Bezug von internationalen Exportkontrollen auf Fragen der inneren und äu-<br />

122 Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 4 Rn 81 und Nachweise bei Sauer, in: Hohmann/John<br />

(FN 26), Teil 3 § 7 AWG, Rn 19 f.<br />

123 So in BVerfGE 110, 33, 67 - Zollfahndungsdienstgesetz<br />

124 Dazu bereits BVerfGE, NJW 1992, S. 2624 (FN115)<br />

125 Calliess, Auswärtige Gewalt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.<br />

IV, § 83 Rn 2 und 6<br />

42


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

ßeren Sicherheit betroffener Länder gerichtet ist. Wegen der Internationalisierung<br />

von Gefahren wurde bereits angesprochen, dass beide Dimensionen<br />

verschmelzen, es faktisch zu einem einheitlichen Sicherheitsbegriff kommt.<br />

Dabei sind auch die Menschenrechte erfasst. Sie werden zwar nicht explizit<br />

genannt, aber über die auswärtigen Belange aufgrund diverser internationaler<br />

Verpflichtungen, z.B. auf UN- und EU-Ebene, sind sie einbezogen126 . Bei<br />

den auswärtigen Beziehungen im Sinne der Exportkontrolle geht es um den<br />

Ruf der Bundesrepublik Deutschland als verlässlicher Vertragspartner und<br />

ihre Glaubwürdigkeit bei der Umsetzung ihrer politischen (verbindlichen)<br />

Zusagen in das nationale Kontrollsystem. An dieser Stelle sind insbesondere<br />

die Verpflichtungen Deutschlands in den Exportkontrollregimes oder aufgrund<br />

der Chemie- und Biowaffenübereinkommen zu nennen, soweit diese<br />

nicht bereits auf der Grundlage gemeinschaftsrechtlicher Regelungen umgesetzt<br />

werden127 . Insoweit kommt es zu einer gewissen Deckungsgleichheit<br />

mit den sicherheitspolitisch motivierten Beschränkungen gem. § 7 Abs. 1<br />

Nr. 1 AWG. Vergleichbare Erwägungen finden regelmäßig auch im Bereich<br />

der auswärtigen Beziehungen statt128 . Es bleibt festzuhalten, dass die auswärtigen<br />

Belange und Sicherheitsinteressen des § 7 AWG nicht isoliert voneinander<br />

betrachtet werden dürfen129 .<br />

Schließlich wird das mit dem administrativen Entscheidungsspielraum verbundene<br />

Kontrolldefizit mit der parlamentarischen Nachkontrolle gem. § 27<br />

Abs. 2 AWG ein stückweit relativiert, so dass dem Anliegen des Bestimmtheitsgrundsatzes<br />

i.V.m. dem Gesetzesvorbehalt entsprochen werden kann130 .<br />

In der Praxis wurde hiervon aber noch nie Gebrauch gemacht131 . <strong>Die</strong> mit den<br />

exportkontrollpolitischen Grundsätzen der Bundesregierung erfolgte Konkretisierung<br />

der Entscheidungskriterien trägt ebenfalls dazu bei, dass der<br />

Gesetzgeber für eine hinreichende Bestimmung der gesetzlichen Zielsetzung<br />

sorgt, die nicht nur für die Bewertung von Ausfuhren bei Rüstungsgütern,<br />

sondern zumindest nach ihrer Zielsetzung auch bei den Dual-use-Gütern herangezogen<br />

werden können. Dennoch ist eine möglichst weitgehende ge-<br />

126 Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 611, zu § 7 AWG Rn 15<br />

127 Vgl. Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 4 Rn 75<br />

128 Dazu Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner, Risikomanagement im Exportkontrollrecht,<br />

S. 77 ff. unter Verweis auf BVerfG-Beschluss vom 25.10.1991 2 BVR<br />

374/90 in NJW 1992, S. 2624 (FN 115), v. Bogdandy (FN 4), S. 77; Tettinger,<br />

Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 443<br />

129 BVerfGE v. 25.10.1991 (vgl. FN 115)<br />

130 So Epping, in Wolffgang/Simonsen (FN 7), 611, § 27 Rn 13-15; s.a. BVerfGE, NJW<br />

1995, S. 1537, 1538<br />

131 Vgl. v. Bogdandy (FN 4), S. 61<br />

43


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

setzliche Präzisierung der Beschränkungsgründe des § 7 AWG wünschenswert<br />

132 . Letztlich müssen die o.g. Grundsätze zur verfassungskonformen<br />

Auslegung der Rechtsbegriffe zur Bestimmung ihrer Reichweite im Rahmen<br />

der Rechtmäßigkeit von Genehmigungsentscheidungen berücksichtigt werden.<br />

ee) Quantifizierung des geschützten Adressatenkreises<br />

<strong>Die</strong> einzelnen Genehmigungstatbestände knüpfen an qualitativ zunächst unterschiedliche<br />

Güter an, deren Ausfuhr aufgrund der Kriterien in § 7 AWG<br />

bzw. Art. 8 Dual-use-VO beschränkt werden kann. <strong>Die</strong> dahinter stehenden<br />

schützenswerten Interessen bzw. Rechtsgüter sind allen Kontrollansätzen<br />

gemein. Sie orientieren sich am Sicherheitsbegriff. Dahinter stehen das Gemeinwohl<br />

und die Inhaber schützenswerter Interessen. Zu ihnen gehören alle<br />

Personen, deren körperliche Integrität dem staatlichen Schutz unterliegt.<br />

Der Kreis der betroffenen Personen ist zunächst nicht näher konkretisiert.<br />

Im Unterschied zu den Sicherheitsinteressen können die auswärtigen Interessen<br />

nicht auf bestimmte Individuen bezogen werden. Hier ist der Staat als<br />

Ganzes Adressat. <strong>Die</strong> Mittel der Exportkontrolle dienen der Erfüllung seiner<br />

Schutzpflichten. Rechtsgutverletzungen sollen bereits frühzeitig unterbunden<br />

werden. Auf die Frage der dabei zu beachtenden Abwägungsbelange<br />

wird bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Genehmigungstatbestandes<br />

und der Genehmigungsentscheidung zurückzukommen sein.<br />

c) Genehmigungsvoraussetzungen nach der Dual-use-VO<br />

Das Prinzip der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs (oder Außenwirtschaftsfreiheit)<br />

ist im nationalen sowie gemeinschaftsrechtlichen Kontext<br />

vergleichbar. In Art. 1 EG-VO 1969 wird sie ebenso postuliert wie in § 1<br />

AWG. Beschränkungen der Außenwirtschaftsfreiheit sind als Ausnahme<br />

formuliert und müssen durch eine Ermächtigungsnorm gedeckt sein. <strong>Die</strong>s<br />

strahlt auf das Genehmigungserfordernis sowie die Genehmigungsfähigkeit<br />

einer Ausfuhr aus. <strong>Die</strong> Entscheidung muss sachlich gerechtfertigt und begründet<br />

sein. Entscheidungen nach Art. 9 Abs. 1 Dual-use-VO müssen die<br />

Kriterien im Katalog von Art. 8 Dual-use-VO berücksichtigen. Dazu gehören<br />

neben den generalklauselartig formulierten sachdienlichen Erwägungen:<br />

Kriterium Nr. 1: Verpflichtungen der internationalen Nichtverbreitungsregime<br />

oder aus einschlägigen internationalen Verträgen: Internationale Verpflichtungen<br />

der EU-Mitgliedstaaten (z.B. Exportkontrollregime)<br />

132 So auch eine Forderung von Hohmann (FN 89), S. 349<br />

44


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Kriterium Nr. 2: Verpflichtungen im Rahmen von Sanktionen, d.h. Embargobestimmungen<br />

(VN und OSZE-Sanktionen sowie Maßnahmen der EU in<br />

Form von Rats-Beschlüssen, Gemeinsame Aktionen, Gemeinsame Standpunkte<br />

sowie Verordnungen)<br />

Kriterium Nr. 3: Überlegungen der nationalen Außen- und Sicherheitspolitik<br />

einschließlich der Aspekte des VK-EU<br />

Kriterium Nr. 4: Überlegungen über die beabsichtigte Endverwendung und<br />

die Gefahr einer Umlenkung (von Waffen und waffenfähigen Gütern), also<br />

die Gefahr von Umgehungslieferungen.<br />

<strong>Die</strong> relativ offenen Formulierungen des Kriterienkataloges, insbesondere der<br />

generelle Verweis des Art. 8 auf alle sachdienlichen Erwägungen, müssen<br />

vor dem Hintergrund des noch nicht abgeschlossenen Harmonisierungsprozesses<br />

gesehen werden. Über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

nach dem EU-Vertrag gibt es hierzu zwar politische Ansätze, eine Regelungskompetenz<br />

der EU besteht aber gerade nicht. <strong>Die</strong> Mitgliedstaaten bewerten<br />

nach ihren eigenen Entscheidungsmaßstäben. Sie beziehen sämtliche<br />

internationale und völkerrechtliche Verpflichtungen ein. Soweit einzelne<br />

Mitgliedstaaten nicht unmittelbar verpflichtet sind, fühlen sie sich über die<br />

EU-Mitgliedschaft und ihre Verpflichtungen aus der Dual-use-VO und den<br />

GASP-Entschließungen daran gebunden. Ein einheitliches Schutzniveau ist<br />

damit gewährleistet. Bei der Auslegung einzelner Kriterien und der gefahren-<br />

bzw. sicherheitsrelevanten Bewertung konkreter Sachverhalte sind aber<br />

Abweichungen möglich. <strong>Die</strong> sachdienlichen Erwägungen erlauben einen<br />

dynamischen Schutz, der den aktuellen Entwicklungen und Beschlüssen,<br />

z.B. in den Exportkontrollregimes, Rechnung trägt133 . <strong>Die</strong> Auslegung dieses<br />

unbestimmten Rechtsbegriffes erfolgt nach dem Leitbild der beispielhaft<br />

benannten Kriterien, hinzu tritt die Zuverlässigkeit des Antragstellers. <strong>Die</strong><br />

Rechtfertigungsgründe sind auf den durch die Kriterien vermittelten Normzweck<br />

begrenzt. Für die sachgerechte Bewertung bedarf es der hinreichenden<br />

Sachverhaltsfeststellung, die durch Hinzuziehung größtmöglicher Expertise<br />

zu erfolgen hat, z.B. auch von nachrichtendienstlichen Informationen134<br />

.<br />

<strong>Die</strong> offene Formulierung des Kriterienkataloges führt dazu, dass weder Eingriffsschwelle<br />

noch geschützte Rechtsgüter hinreichend konkretisiert werden135<br />

. Auch hier ist zu prüfen, inwieweit eine Konkretisierung im Wege der<br />

133 Vgl. Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 122, zu Art. 8 Rn 2<br />

134 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 4 und 17<br />

135 So Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 122, zu Art. 8 Rn 12<br />

45


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

„verfassungskonformen“ Auslegung möglich ist. Auf EU-Ebene sind die im<br />

Gemeinschaftsverwaltungsrecht geltenden Rechtsprinzipien zu berücksichtigen.<br />

d) Genehmigungskriterien im Vergleich<br />

aa) Außen- und Sicherheitspolitik<br />

<strong>Die</strong> Überlegungen zur nationalen Außen- und Sicherheitspolitik (Kriterium<br />

3) in Art. 8 Dual-use-VO entsprechen den Belangen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 und<br />

3. Bei beiden Vorschriften geht es um Beeinträchtigungen bzw. die Gefährdung<br />

der öffentlichen Sicherheit oder die Störung auswärtiger Beziehungen.<br />

Auch nach der Dual-use-VO kommt es allein auf die Sicht der Mitgliedstaaten<br />

selbst an. Bereits ihrer Natur nach können diese Kriterien nicht einheitlich<br />

auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ausgelegt werden136 . Beide Bereiche<br />

betreffen die gemeinschaftlich koordinierten Politiken der Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gem. Art. 296 EG, unterfallen<br />

also systembedingt den nationalen Kompetenzen137 . <strong>Die</strong> Auslegungsgrundsätze<br />

zu § 7 Abs. 1 AWG können deshalb auch bei der Dual-use-VO herangezogen<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Rechtsordnung der Gemeinschaft ist Teil der öffentlichen Sicherheit.<br />

Beim Begriff der öffentlichen Ordnung muss aber berücksichtigt werden,<br />

dass dem Begriff auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein anderes Verständnis<br />

anhaftet138 . Der EuGH beschreibt sie als hoheitlich festgelegte Grundregeln,<br />

die wesentliche Interessen des Staates berühren139 . Somit müssen auch<br />

die Grundfreiheiten der Gemeinschaft einbezogen werden. <strong>Die</strong> Auslegung<br />

des Sicherheitsbegriffes muss im allgemeinen Gefahrenabwehrkontext erfolgen.<br />

<strong>Die</strong> bereits zuvor für die nationale Rechtsanwendung erörterte Notwendigkeit<br />

einer zusammenhängenden Betrachtung von Sicherheit und<br />

Auswärtiges wird vom EuGH bestätigt. Er hatte sich in seinen Entscheidungen<br />

zu Fritz Werner und Leiffer u.a. mit dem Begriff der öffentlichen Sicherheit<br />

beschäftigt. <strong>Die</strong>ser erfasse die innere wie auch äußere Sicherheit<br />

der Mitgliedsaaten im Sinne des Art. 36 EGV (30 EG). Bei Beschränkung<br />

auf Fragen der inneren Sicherheit im Binnenmarkt gelte ein restriktiverer<br />

136 Ebenda, Rn 26<br />

137 Dazu auch Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), zu Art. 8 DUV, S. 3: dem<br />

Kriterium des Art. 8c sei deshalb auch die rechtliche Relevanz abzusprechen, die Erwähnung<br />

der nationalen Kompetenzen sei „Besserwisserei“<br />

138 Vgl. Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 82 Rn 57, unter Verweis auf Lindner,<br />

JuS 2005, 302, 306<br />

139 EuGH Rs. 113/80 - Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625, Rn 7 f.<br />

46


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

Maßstab als bei Lieferungen in Drittländer. Zudem sei eine Abgrenzung von<br />

sicherheits- und außenpolitischen Erwägungen schwierig. <strong>Die</strong> Sicherheit der<br />

internationalen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten seien eng verknüpft140<br />

. Eine Beschränkung der aus Art. 1 EG-VO 1969 abgeleiteten Außenwirtschaftsfreiheit<br />

auf der Grundlage der Ausnahme des Art. 11 sei möglich.<br />

<strong>Die</strong>ser erlaubt mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen durch die Mitgliedstaaten<br />

aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Genehmigungserfordernisse<br />

würden die Warenverkehrsfreiheit Art. 28 EG (30<br />

EGV) in Form einer mengenmäßigen Beschränkung beeinträchtigen, was in<br />

Zusammenhang mit der auf Art. 133 EG (Art. 113 EGV) gestützten EG-VO<br />

1969 und Art. XI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens auch auf<br />

den internationalen Handel gegenüber Drittländern bezogen sei. <strong>Die</strong> Beschränkungen<br />

müssten allerdings dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

genügen, wobei den Mitgliedstaaten bei der Frage der Erforderlichkeit bestimmter<br />

Maßnahmen ein gewisser Ermessenspielraum zustünde. In diesem<br />

Zusammenhang komme es auch zu einer Beweislast des Antragstellers bezüglich<br />

der zivilen Endverwendung seiner Lieferung oder der unangemessenen<br />

Genehmigungsversagung, wenn eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit<br />

festgestellt wird141 .<br />

Der in Kriterium 3 erwähnte Verhaltenskodex der EU zu Rüstungsexporten<br />

entspricht dem Ansatz der exportkontrollpolitischen Grundsätze der Bundesregierung,<br />

die den EU-Kodex formal auf nationaler Ebene integrieren. Beide<br />

dienen der Konkretisierung der genannten Sicherheitsinteressen.<br />

bb) Sonstige Überlegungen<br />

<strong>Die</strong> internationalen Verpflichtungen (Kriterien 1 und 2) sind über die „Auswärtigen<br />

Beziehungen“ gem. § 7 AWG Abs. 1 Nr. 3 mit erfasst. Beide haben<br />

,wie schon erörtert, einen Bezug zur öffentlichen Sicherheit. Zum Teil sind<br />

die Verpflichtungen als höherrangiges Recht ohnehin verbindlich bzw. aus<br />

verfassungsrechtlichen Gründen zu beachten.<br />

<strong>Die</strong> Überlegungen zur Endverwendung in Kriterium 4 beinhalten wichtige<br />

Teilaspekte der Behördenprüfung. Sie werden aber über den Begriff der Gefährdung<br />

von Sicherheitsinteressen von § 7 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 3 AWG mit<br />

umfasst. <strong>Die</strong> Kriterien der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände in § 3 Abs. 1<br />

AWG und § 7 AWG stimmen letztlich - wenn auch in etwas anderer Formu-<br />

140 EuGH v. 17. Oktober 1995, Rs C 70/94 - Fritz Werner, Rn 25 f. (FN 27), unter Verweis<br />

auf EuGHE, Rs C 367/89, Slg. 1991, I.-4621-Les Accessoires Scientifiques<br />

141 EuGH v. 17. Oktober 1995, Rs C-83/94 – Leifer, Rn 20ff, 34ff. (FN 27)<br />

47


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

lierung und Reihenfolge - inhaltlich mit Art. 8 Dual-use-VO überein142 . <strong>Die</strong><br />

jeweiligen Kontrollansätze sind auch rational vergleichbar.<br />

<strong>Die</strong> Unwesentlichkeitsschwelle in § 3 AWG dient einer Konkretisierung des<br />

Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der in § 2 Abs. 3 AWG explizit, wegen<br />

der Ableitung aus den Gemeinschaftsprinzipien, auch im Rahmen der<br />

Überlegungen des Art. 8 EG-VO Berücksichtigung findet.<br />

<strong>Die</strong> in der EG-VO 1969 sowie im AWG deklarierte Außenwirtschaftsfreiheit<br />

muss neben dem Katalog Art. 8 Dual-use-VO oder § 7 AWG als Abwägungskriterium<br />

berücksichtigt werden143 . Zwar beinhaltet diese kein einklagbares<br />

Recht, sie ist aber ein Ermessenskriterium. Es ist im Rahmen der<br />

sachdienlichen Erwägungen unter Anwendung der Grundsätze der Gleichbehandlung<br />

und Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen144 . Auf die konkrete<br />

Abwägung wird im Rahmen der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

noch eingegangen.<br />

Schließlich bleibt festzustellen, dass trotz der materiell vergleichbaren Genehmigungskriterien<br />

gemeinschaftsrechtliche Prinzipien und Beschränkungen<br />

der nationalen Verwaltungsautonomie berücksichtigt werden müssen,<br />

wenn sie für die einheitliche Rechtsanwendung von Bedeutung sind. <strong>Die</strong> Existenz<br />

solcher Prinzipien und ihr Verhältnis zum nationalen Verwaltungsrecht<br />

bedürfen ebenso der Klärung wie eventuelle Abweichungen durch gemeinschaftsrechtliche<br />

Vorgaben bei der Auslegung von Rechtsbegriffen und<br />

Entscheidungsspielräumen der Verwaltung sowie deren richterlichen Kontrolle.<br />

e) Eingriffschwelle - Reichweite des Gefährdungsbegriffs<br />

<strong>Die</strong> Eingriffsschwellen nach Art. 8 Dual-use-VO bzw. §§ 3, 7 AWG bedürfen<br />

einer näheren Untersuchung. Bei den dort verwendeten Begriffen wie<br />

„sachdienliche Erwägungen“ und „Gefährdung“ handelt sich um unbestimmte<br />

Rechtsbegriffe. Ihre Reichweite bestimmt sich nicht nur nach dem<br />

Wortlaut, sondern auch nach dem Normzweck. Hierbei muss eine gemeinschafts-<br />

bzw. verfassungskonforme Auslegung erfolgen.<br />

142 Haddex (FN 4), Bd 1, Teil 6 Rn 397<br />

143 So Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 45: zur Berührung der Warenverkehrsfreiheit<br />

trotz der Begründung von Beschränkungen mit nationalen sicherheitspolitischen Interessen<br />

aus: EuGHE v. 14. Januar 1997, RS C 124-95 - Centro-Com Srl., Slg. I 1997<br />

S. 1081 – Rn 26<br />

144 Vgl. Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 45<br />

48


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

§ 3 AWG stellt im Wortlaut auf eine Gefährdung ab, was die Anwendung<br />

des Gefahrenbegriffs nahe legt. <strong>Die</strong> Formulierung in Art. 8 der Dual-use-VO<br />

(„Überlegungen“) bezieht sich nicht explizit auf eine Gefahr, beinhaltet aber<br />

dem Zweck nach zumindest eine prognostizierbare Beeinträchtigung der benannten<br />

Kriterien. Ein eindeutiger Hinweis auf die Qualität der vom Gesetzgeber<br />

geforderten Beeinträchtigung besteht in beiden Rechtskreisen nicht.<br />

Gleichwohl scheint sich der Gefährdungstatbestand des AWG nach den<br />

etablierten verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zur Gefahrenabwehr richten.<br />

Darauf wird noch zurückzukommen sein.<br />

Dem Normzweck der Exportkontrollen kommt eine für die Eingriffsschwelle<br />

maßgebliche Bedeutung zu. Exportkontrollen richten sich u.a. gegen Gewalt<br />

gegenüber dem Rechtsstaat und seinen Verbündeten, was mit der Terrorismusproblematik<br />

besondere Aktualität erfährt. Es geht letztlich immer um<br />

den Schutz der zivilen Bevölkerung vor existenzbedrohender Gewalt. Auch<br />

die im Sinne des Völkerfriedens, der auswärtigen Beziehungen und Menschenrechte<br />

tatbestandsmäßig geschützten Interessen haben zumindest mittelbare<br />

Rückwirkungen auf die äußere und innere Sicherheit der Bundesrepublik145<br />

. <strong>Die</strong>se Schutzzwecke sind Bezugspunkt und Maßstab für die Genehmigungsfrage.<br />

Wie soeben festgestellt, ergeben sich hierbei keine materiellen<br />

Unterschiede zwischen Dual-use-VO und AWG.<br />

Mit der Anknüpfung der Exportkontrolle an Fragen der äußeren und inneren<br />

Sicherheit ergeben sich Parallelen zum Polizeirecht. Aus diesem Grund<br />

wurden Exportkontrollen bisher dogmatisch in die Nähe des Polizeirechts<br />

gerückt. Bei den <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbeständen wird<br />

der klassische Gefahrenbegriff herangezogen. In der Exportkontrollliteratur<br />

sowie in der Rechtsprechung wird für die Auslegung der „Gefahr“ oder „Gefährdung“<br />

von der Anwendbarkeit des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs<br />

ausgegangen146 . Über das Vorliegen der Gefahr entscheidet die Wahrscheinlichkeit<br />

eines Schadeneintritts bei einem ungehinderten Fortgang des Geschehens.<br />

Der Grad der Wahrscheinlichkeit soll dabei von der Wertigkeit des<br />

zu schützenden Rechtsgutes abhängen147 . Danach sei eine konkrete Gefahr<br />

erforderlich, d.h. es müsse eine Schadenprognose anhand konkreter Sach-<br />

145 Zu den Definitionen vgl. Teil 1 II.5.b)bb) und Teil 1 II.5.d)aa)<br />

146 Zurückgehend auf v. Bogdandy (FN 4), S. 53, vgl. Ehrlich (FN 62), S. 99, so auch<br />

Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, § 3 AWG Rn 13; dazu auch Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich<br />

(FN 21), § 3 AWG, S. 4 (Anm.2); Haddex (FN 4),<br />

Teil 6 Rn 395 f.; hingegen kritisch Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3, § 3<br />

AWG Rn 10<br />

147 Vgl. Ehrlich (FN 62), S. 99, sowie Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2 § 3<br />

AWG Rn 13 unter Verweis auf Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 220<br />

49


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

verhaltsfeststellungen erfolgen, wobei die Anforderungen an die Prognose<br />

bei Exportkontrollen wegen der hochwertigen Rechtsgüter des § 7 AWG<br />

nicht zu hoch sein dürfen148 . Auch nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte<br />

genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die<br />

Zulassung des Exports zu einer Beeinträchtigung des in § 7 Abs. 1 Nr. 3 genannten<br />

Rechtsgutes führen werde149 . <strong>Die</strong>se Rechtsprechung stellt aber angesichts<br />

der Qualität der mit dem AWG verfolgten Schutzgüter ebenfalls<br />

keine allzu hohen Anforderungen an diese Wertung. Auf strenge Kausalitätsund<br />

Zurechungsmaßstäbe wird verzichtet. <strong>Die</strong> Darlegung einer (theoretischen)<br />

Schadensmöglichkeit könne dagegen nicht ausreichen und die Versagung<br />

der Genehmigung rechtfertigen150 . Bei der Abwägung werden das kollektive<br />

Sicherheitsinteresse und die dahinter stehenden Individualrechtsgüter<br />

sowie die Außenwirtschaftsfreiheit des Antragstellers gegenübergestellt.<br />

Der für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> regelmäßig verwendete Gefahrenbegriff<br />

muss von dem in der Exportkontrollliteratur inzwischen ebenfalls verwendeten<br />

Risikobegriff abgegrenzt werden. Häufig wird auch der missverständliche<br />

Begriff der Gefahrenvorsorge verwendet, z.B. wird bei Belangen des § 7<br />

AWG die gesetzliche Formulierung des Verhütens einer Störung genutzt.<br />

Damit wird die Geltung des klassischen Gefahrenbegriffs relativiert151 . Allerdings<br />

bestehe bei den Ansätzen des Risikomanagements die Gefahr, dass<br />

die Vorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle eine beliebige Ausdehnung erfährt,<br />

z.B. zum Besorgnis-Verdacht, Risiko-Verdacht, Gefahr eines Gefahren-Verdachts.<br />

Es dürfe nicht allein auf die Unterbrechung einer potenziell<br />

schädlichen Ereigniskette ankommen. Deshalb muss eine Typisierung des<br />

auch bei Exportkontrollen bestehenden Problems „Ungewissheit“ erfolgen.<br />

Es wird also durchaus anerkannt, dass die Einschätzungsprärogative der<br />

Verwaltung dieses inhaltliche Problem nicht löst und die Auslegung des Gefahrenbegriffs<br />

bei Exportkontrollen rechtsdogmatisch fortentwickelt werden<br />

muss152 . <strong>Die</strong> Reichweite des Eingriffs von Exportkontrollen muss im Kontext<br />

der Gefahrenprävention näher bestimmt werden, trotz der zunächst sehr<br />

unterschiedlich formulierten Tatbestände in Dual-use-VO und AWG. Nur auf<br />

dieser Grundlage kann die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs bestimmt werden.<br />

Dabei wiederum spielen Eignung und Erforderlichkeit des Mittels zur<br />

Erreichung des Normzwecks eine gewichtige Rolle. <strong>Die</strong> Anforderungen an<br />

148 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 13 unter Verweis auf v. Bogdandy (FN 4), S. 53<br />

149 Vgl. VG Frankfurt, Urteil v. 25.01.1996, 1 E 1218/93 (B), n. veröff.; s.a.Simonsen, in:<br />

Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 77 ff. mit Rechtsprechungshinweisen<br />

150 So Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 AWG Rn 11<br />

151 Ebenda, § 3 AWG Rn 10 und § 7 AWG Rn 17<br />

152 Dazu Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 77, 97 ff.<br />

50


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

die Kausalität zwischen Ausfuhr einer bestimmten Ware und dem möglichen<br />

Schaden für geschützte Rechtsgüter müssen für den behördlichen Eingriff<br />

spezifiziert werden. Der Aspekt der Wahrscheinlichkeitsprognose und das<br />

Vorliegen möglicher Erkenntnisdefizite bedürfen einer näheren Betrachtung,<br />

die auch die im technischen Sicherheitsrecht entwickelten Grundsätze berücksichtigt.<br />

<strong>Die</strong>s soll Gegenstand von Kapitel 3 der Arbeit sein. In Kapitel<br />

4 wird schließlich auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Genehmigungsvorbehalte<br />

und die dabei einzustellenden Belange eingegangen. Im<br />

Rahmen der Abwägung von Schutz- und Gefahrengut muss schließlich näher<br />

untersucht werden, welche Anforderungen an die Darlegung einer Gefahr<br />

bzw. Gefährdung für die betroffenen Belange zu stellen sind. Dazu<br />

muss insbesondere die Frage nach der Gewichtung des kollektiv wirkenden<br />

staatlichen Interesses gegenüber dem mit der Außenwirtschaftsfreiheit verbürgten<br />

Individualinteresses beantwortet werden.<br />

f) Entscheidungsleitende Vorgaben<br />

Entscheidungsleitende Vorgaben dienen der Konkretisierung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe oder der Ausfüllung von Wertungsspielräumen der Verwaltung<br />

und damit vor allem der dem Gleichbehandlungsgrundsatz geschuldeten<br />

einheitlichen Rechtsanwendung. <strong>Die</strong>se neben den gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen<br />

zweite Kategorie von Vorgaben ist in sich relativ<br />

heterogen und umfasst Kriterien der unterschiedlichsten Art und von unterschiedlicher<br />

politischer und rechtlicher Verbindlichkeit, wobei ebenfalls Dual-use-<br />

und Rüstungsgüter zu unterscheiden sind. Zunächst soll dabei auf<br />

veröffentlichte Leitlinien der Bundesregierung und der EU-Ratsgruppe eingegangen<br />

werden, danach auf behördeninterne Verfahrensanweisungen.<br />

aa) Grundsätzliche Erwägungen bei Rüstungsexporten<br />

Bei der Genehmigungsentscheidung zur Lieferung von Rüstungsgütern stehen<br />

die Einhaltung von nationalen und internationalen Sicherheitsinteressen<br />

sowie außenpolitische Belange im Vordergrund. Anders als bei den Dualuse-Gütern<br />

wirft die Sachverhaltsermittlung weniger Probleme auf. <strong>Die</strong> militärische<br />

Endverwendung ist regelmäßig bekannt, oft ergibt sie sich schon<br />

aus der Güterqualität. <strong>Die</strong> Genehmigungsfähigkeit hängt deshalb vor allem<br />

von der politischen Bewertung eines Vorgangs ab. <strong>Die</strong> „Politischen Grundsätze<br />

der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen<br />

Rüstungsgütern“ sowie europäische Vorgaben im EU-Verhaltenskodex153 enthalten Leitlinien für die Entscheidung im Einzelfall. Sie vermitteln kon-<br />

153 Vgl. Teil 1 II.4.a) (FN 60)<br />

51


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

kretere Vorstellungen davon, wie sich Bundesregierung und Parlament die<br />

Auslegung der gesetzlichen Genehmigungskriterien vorstellen. Sie wurden<br />

unter Beteiligung der Regierungskoalition erarbeitet und können deshalb als<br />

normkonkretisierende Richtlinien eingestuft werden154 . Sie sind zwar nicht<br />

unmittelbar rechtsverbindlich, dennoch entfalten sie politische Bindungswirkung.<br />

Das Vertrauen in die Kontrolleffizienz der Bundesregierung soll<br />

sichergestellt werden, die Auswärtigen Beziehungen würden bei Befolgung<br />

der politischen Grundsätze nicht beeinträchtigt. Im Verhältnis von Exekutive<br />

und Legislative stellen sie eine Übereinkunft der jeweils aktuellen Regierungskoalition<br />

dar. <strong>Die</strong> Rüstungsexportkontrollpolitik der Bundesregierung<br />

wird daran ausgerichtet, um Konflikte zwischen Regierung und Regierungsfraktionen<br />

zu vermeiden155 . Wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes sowie<br />

der Selbstbindung der Verwaltung haben sie die Qualität normkonkretisierender<br />

Vorschriften. Auf diese Weise entwickeln sie eine zumindest mittelbar<br />

rechtliche Wirkung. Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass<br />

auch diese Grundsätze Unklarheiten und Zielkonflikte enthalten, die weite<br />

Beurteilungsspielräume belassen und einer Konkretisierung durch die Verwaltung<br />

bedürfen156 .<br />

Wesentlicher Grundgedanke der Kriterien sind die länderspezifischen Vorgaben.<br />

Sie unterscheiden zwischen kooperativen Ländern, Verteidigungsbündnis<br />

und Drittstaaten, wo eine grundsätzlich restriktive Politik gelten<br />

soll. Für die Entscheidungen sollen auch Menschenrechtskriterien, das Vertrauen<br />

in die Exportkontrollpolitiken der belieferten Länder, ihr Vorgehen<br />

gegen internationale Kriminalität und Terrorismus sowie Fragen der Endverbleibssicherung<br />

eine Rolle spielen. Neben diesen Erwägungen wird die<br />

Völkerrechtstreue des Kauflandes, die Wirkung der betroffenen Lieferung<br />

auf die Stabilität der Region, die Gefahr einer Überrüstung des Empfängerlandes<br />

und der Schutz der nationalen Sicherheit geprüft. Selbstverständlich<br />

muss auch die Einhaltung der Leitlinien geprüft werden, die sich aus den<br />

Nonproliferationsverträgen, internationalen Embargos und sonstigen völ-<br />

154 Siehe dazu ausführlich Weith/Wegner/Ehrlich, (FN 9), G. Rn 17; zur Qualität interner<br />

Verwaltungsanweisungen auch Karpenstein (FN 41), S. 208; a.A. Pottmeyer;<br />

KWKG, Einl. Rn 228 , der dies aber nur für die 1982 ohne Parlamentsbeteiligung<br />

aufgestellten Richtlinien konstatiert; zum ermessensbegrenzenden Charakter: Epping<br />

(FN 28), S. 82<br />

155 Vgl. den geltenden Koalitionsvertrag vom 11.11.2005, Rn 6419:„Wir halten an den<br />

derzeit geltenden Rüstungsexportbestimmungen fest und setzen uns für eine Harmonisierung<br />

der Rüstungsexportrichtlinien innerhalb der EU ein.“; dazu auch sehr ausführlich<br />

Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 13 ff.<br />

156 Ebenda, G. Rn 21 f<br />

52


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

kerrechtlichen Verpflichtungen, wie z.B. den Exportkontrollregimes, ergeben157<br />

. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der unbestimmte Rechtsbegriff sicherheitspolitischer<br />

Erwägungen durch die politischen Grundsätze ergänzt<br />

wird. Gleichwohl verbleibt der Behörde ein großer Beurteilungsspielraum.<br />

Der EU-Verhaltenskodex ist eine Vereinbarung der EU-Staaten im Rahmen<br />

der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) von 1998. Er wurde<br />

in der Ratsarbeitsgruppe COARM ausgearbeitet und seither weiterentwickelt.<br />

Es bleibt bisher bei dem ausschließlich normkonkretisierenden Charakter<br />

für die jeweils geltenden nationalen Kontrollvorschriften für Rüstungsgüter,<br />

auch wenn über eine rechtlich verbindliche Regelung seit längerem<br />

nachgedacht wird. Zu beachten ist der in den operativen Bestimmungen<br />

vorgesehene Mechanismus einer so genannten no-undercut-policy, was eine<br />

Konsultation der Mitgliedstaaten für vergleichbare Genehmigungssachverhalte<br />

und damit eine gewisse Abstimmung der Genehmigungspolitiken ermöglicht.<br />

Eine Bindungswirkung der ausländischen Bewertung besteht zwar<br />

nicht, aber über die außenpolitische Rücksichtnahme entsteht durchaus ein<br />

außenpolitisch geprägter Reflex für die Genehmigungsfähigkeit eines Antrages,<br />

soweit die sicherheitspolitischen Bedenken geteilt werden158 .<br />

Der Verhaltenskodex ist Bestandteil der Politischen Grundsätze der Bundesregierung<br />

und wird gemeinsam mit diesen der Genehmigungspraxis für<br />

Rüstungsgüter zu Grunde gelegt. In diesen Grundsatzpapieren sind auch andere<br />

Leitlinien aus Gremien der EU, VN, dem schon erwähnten Exportkontrollregimes,<br />

vor allem dem Wassenaar Arrangement, oder der Beschlüsse<br />

der OSZE implementiert. Trotz bestehender gemeinsamer Leitlinien und internationaler<br />

Harmonisierung bestehen aber unter den Partnerstaaten durchaus<br />

Unterschiede in der Beurteilung genehmigungsfähiger Rüstungsexporte.<br />

Grund dafür sind im Detail durchaus verschiedene Politiken und Zielsetzungen,<br />

unterschiedliche historische Beziehungen zu Drittländern oder schlicht<br />

unterschiedliche politische Auffassungen zum Rüstungsexport selbst159 . Mit<br />

Bezug auf die völkerrechtlich verbindlichen Leitlinien bleibt festzuhalten,<br />

dass sie über den Umweg der außenpolitischen Dimension eines möglichen<br />

Verstoßes die Genehmigungsfähigkeit eines Antrages in Frage stellen können.<br />

157 Karpenstein (FN 41), S. 254<br />

158 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 36<br />

159 Hahn, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S.14<br />

53


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

bb) Genehmigungsleitlinien bei Dual-use-Gütern<br />

Falls bei der Beurteilung einer Ausfuhr Zweifel über die Auslegung des zutreffenden<br />

Genehmigungskriteriums bestehen, können die Exportkontrollpolitischen<br />

Grundsätze der Bundesregierung und VK-EU zu Rate gezogen<br />

werden. Zwar gelten diese unmittelbar nur für Rüstungsgüter. Sie haben<br />

aber eine gewisse Reflexwirkung für den Dual-use-Bereich, da deren Sensitivität<br />

bei militärischer Endverwendung vergleichbar ist. Genehmigungsentscheidungen<br />

müssen in beiden Bereichen konsistent sein. Da Dual-use-<br />

Güter für die Frage der militärischen Potenziale eines Empfängerlandes auf<br />

mittlere Sicht ebenso relevant sein können wie Direktlieferungen von Rüstungsgütern,<br />

spielen die dort genannten strategischen Kriterien eine ebenso<br />

bedeutende Rolle für die Lieferung von Dual-use-Gütern. Dazu gehören z.B.<br />

die Rüstungskooperation, die Billigung der Aufrüstung im Verteidigungsbündnis,<br />

die Einbindung des Empfängerlandes in internationale Absprachen<br />

zur Proliferationsbekämpfung, das Rüstungspotenzial sowie die Konfliktrelevanz<br />

möglicher Lieferungen. Deshalb wird auch von einem Verfließen der<br />

Grenzen zwischen militärischer und ziviler Produktion gesprochen160 . Im<br />

Falle der subjektiv geplanten zivilen Endverwendung und der Absicherung<br />

dieser Verwendung ist die Ausfuhr von Dual-use-Gütern genehmigungsfähig.<br />

Eine direkte Anwendbarkeit des VK-EU wird nach Nr. 6 seiner operativen<br />

Bestimmungen nur auf den begrenzten Anwendungsbereich von Lieferungen<br />

an das Militär, die Polizei oder ähnliche staatliche Einrichtungen<br />

postuliert.<br />

<strong>Die</strong> Dual-use-VO selbst enthält keine politischen Vorgaben für die Entscheidung<br />

aufgrund der dort vorgesehenen Notifizierungs- und Konsultationspflichten.<br />

<strong>Die</strong>se gelten für einzelne Antragsverfahren, bewirken aber faktisch<br />

einen gewissen Harmonisierungsdruck. Eine mittelbare Rechtsbindung<br />

erfolgt auch wegen der Präzedenzwirkung vorangegangener Entscheidungen.<br />

Auch Ablehnungsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten nach Art. 9<br />

Abs. 3 Dual-use-VO entfalten keine rechtliche Bindungswirkung. Allerdings<br />

entsteht wegen der regelmäßig betroffenen auswärtigen Beziehungen bei<br />

begründeten Ablehnungen ebenfalls eine faktische Bindungswirkung der noundercut-policy.<br />

<strong>Die</strong> Ausgestaltung gegenseitiger Informations- und Konsultationspflichten<br />

in den Exportkontrollregimes ist unterschiedlich.<br />

Insgesamt sind bei Genehmigungsentscheidungen im Dual-use-Bereich,<br />

ähnlich wie bei den Rüstungsgütern, die Leitlinien der internationalen Gremien<br />

und Organisationen zu beachten. Gleiches gilt für die Berücksichti-<br />

160 Mit Verweisen auf die Umsetzung europäischer Vereinbarungen in diversen Ländern:<br />

Karpenstein (FN 41), S. 116<br />

54


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

gung von Regelungen bestehender Embargos oder sonstiger Sanktionen gegenüber<br />

bestimmten Ländern, Personen oder Gruppen. Auf die im Bereich<br />

gelisteter Dual-use-Güter maßgeblichen Genehmigungsrichtlinien der Exportkontrollregimes<br />

wurde bereits eingegangen 161 .<br />

cc) Genehmigungspolitik und Selbstbindung der Verwaltung<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungspolitik bei Dual-use-Gütern unterscheidet sich nach dem<br />

Gefährdungsgrad der Endverwendung. Es leuchtet, unabhängig von einer<br />

nähren Analyse des Gefahrenkriteriums, ein, dass der Bezug zu weltweit geächteten<br />

MVW nicht zu den gleichen Ergebnissen führen muss wie die Verwendung<br />

für konventionelle Rüstungsgüter. <strong>Die</strong>s ergibt sich bereits aufgrund<br />

der Tatsache, dass MVW nach dem KWKG einem Exportverbot unterworfen<br />

sind. Das erfordert besonders strenge Maßstäbe. Des Weiteren gilt<br />

auch bei Dual-use-Gütern das Willkürverbot. Hierbei handelt es sich um ein<br />

Rechtsprinzip. <strong>Die</strong> Auslegung der Leitlinien führt im Einzelfall zur Selbstbindung<br />

der Verwaltung. <strong>Die</strong> Behörde muss vergleichbare Entscheidungen<br />

aus früheren Antragsverfahren, s genannte Präzedenzen, berücksichtigen.<br />

<strong>Die</strong> Vergleichbarkeit von Sachverhalten ist aufgrund meist komplexer technischer<br />

und empfängerbezogener Fragen oft schwierig darstellbar. Dennoch<br />

erfolgt eine gewisse Klassifizierung von Fallgruppen, die z.B. nach Empfängerländern,<br />

Empfängerinstitutionen oder Gütergruppen differenzieren162 .<br />

<strong>Die</strong> soeben erörterten Leit- und Richtlinien der Bundesregierung sind nicht<br />

zu verwechseln mit Behördenerlassen der zuständigen Behörden. Ihre Geltung<br />

wird oft wegen mangelnder Transparenz für den Rechtsanwender gerügt,<br />

was vor allem Folge der Geheimhaltungspraxis nachrichtendienstlicher<br />

Erkenntnisse und der fehlenden Homogenität informeller Anweisungen aus<br />

den einzelnen zuständigen Ministerien ist. Sie werden daher als kaum nachvollziehbar<br />

kritisiert163 . Behördenerlasse stellten keine hinreichend konkret<br />

formulierten Kontrollziele zu Verfügung, um einen Rechtseingriff zu rechtfertigen.<br />

Dazu sei angemerkt, dass Exportkontrollen nicht ganz zu Unrecht<br />

als regelungsfeindlicher Politikbereich gelten. Ein neben den genannten<br />

Grundsätzen weitgehendes Fehlen von veröffentlichten Entscheidungskriterien<br />

lässt sich dadurch erklären, dass internationale Beziehungen schon als<br />

solches regelungsfeindlich sind. Sie erfordern flexible Reaktionen, die vor<br />

allem der Gesetzgeber nicht leisten kann. <strong>Die</strong>se Argumente befreien die Exekutive<br />

dennoch nicht von den ihr angetragenen Konkretisierungsaufga-<br />

161 Vgl. Teil 1 II.3.c)<br />

162 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 66<br />

163 Karpenstein (FN 41), S. 125<br />

55


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

ben. Der Mangel an Vorhersehbarkeit durch den vom Gesetzgeber gewährten,<br />

mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der auswärtigen Beziehungen sowie<br />

den Sicherheitsinteressen sehr weit gefassten Beurteilungsspielraum<br />

muss inhaltlich kompensiert werden164 . <strong>Die</strong> behördeninternen Verfahrensanweisungen<br />

bzw. Erlasse tragen dennoch ein gutes Stück zur einheitlichen<br />

Rechtsanwendung bei. Sie werden in bestimmten Bereichen durchaus bekannt<br />

gemacht165 . Wenngleich politische Fallgruppen nicht in dem Maße<br />

existieren, wie es die Wirtschaft wünscht, so ermöglichen die Erlasse wenigstens<br />

eine einheitliche Auslegung bestimmter Definitionsmerkmale in<br />

den Genehmigungstatbeständen, z.B. der Herstellungsausrüstung. Es erfolgt<br />

eine Kategorisierung bestimmter besonders sensitiver Verwendungen, so<br />

dass die Rechtsanwendung erleichtert wird. Sie entfalten über das Willkürverbot<br />

sogar eine rechtlich durchsetzbare Selbstbindungswirkung.<br />

Zu einzelnen sensitiven Ländern gegeben die Länderlisten der Verwendungstatbestände<br />

gem. §§ 5c und 5d AWV Aufschluss. Zu besonders sensitiven<br />

Empfängern werden z.B. bezogen auf ihre Relevanz zur Herstellung<br />

von Massenvernichtungswaffen, Frühwarnschreiben der Bundesregierung<br />

erstellt und den Verbänden mitgeteilt. <strong>Die</strong>se können potenziell betroffene<br />

Exporteure informieren. <strong>Die</strong>s ist für verwendungsbedingte und von der<br />

Kenntnis des Lieferanten abhängige Genehmigungspflichten von erheblicher<br />

Bedeutung166 . In den Erlassen festgeschriebene, für die Rechtsanwendung<br />

relevante Auslegungsgrundsätze werden zudem mittelbar über Veröffentlichungen<br />

des BAFA sowie den Haddex transparent gemacht. Daran<br />

muss sich die Behörde messen lassen. Für eine verbesserte Spezifizierung<br />

der Genehmigungsleitlinien spricht die effektivere Selbstkontrolle der Verwaltung.<br />

Der Vollzug von Exportkontrollen würde ebenfalls erleichtert, insbesondere<br />

die angemessene Information von Partnerländern zur Vermeidung<br />

illegaler Umgehungen167 .<br />

g) Ergebnis<br />

Im Vergleich der nationalen und europäischen Genehmigungstatbestände<br />

zeigt sich, dass sich die Genehmigungskriterien im Wortlaut sowie auch<br />

nach der Zwecksetzung erheblich ähneln. Aus der unterschiedlichen Systematik<br />

von Beurteilungsspielräumen und Ermessen dürften sich wegen des<br />

164 Ebenda, S. 251 f.<br />

165 Vgl. Haddex, (FN 4), Bd. IV, mit diversen Anwendungserlassen, z.B. zu § 5c AWV<br />

166 Zur Kenntnis als Tatbestandsmerkmal vgl. Teil 2 II.4.b) für die Dual-use-VO; zur<br />

Funktionsweise von Frühwarnschreiben s.a. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 75<br />

ff. sowie Pietsch, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 612, § 5c AWV, Rn 31 ff.<br />

167 So Hohmann (FN 89), S. 529<br />

56


II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />

ohnehin bestehenden Entscheidungsspielraums der Behörde keine wesentlichen<br />

Abweichungen bei der Entscheidung ergeben. Für die rechtmäßige<br />

Entscheidung entscheidend sind die Reichweite des Gefahrenbegriffs, eine<br />

verfassungskonforme Rechtsanwendung durch die Behörde sowie seine<br />

Auslegung i.V.m. den bestehenden Entscheidungsleitlinien. Für die politischen<br />

Vorgaben bestehen mit dem VK-EU Harmonisierungsansätze, die in<br />

den exportkontrollpolitischen Grundsätzen der Bundesregierung umgesetzt<br />

worden sind.<br />

6. Verfahrenserleichterungen<br />

<strong>Die</strong> große Mehrzahl der Genehmigungen im Außenwirtschaftsrecht ergeht<br />

im Wege der Einzelfallentscheidung. Gleichwohl gibt es Verfahrenserleichterungen<br />

und Ausnahmetatbestände, die ein wichtiges gestalterisches Mittel<br />

darstellen, um Unternehmen und Verwaltung von unnötigen bürokratischen<br />

Belastungen zu entlasten. Das gilt z.B., wenn für bestimmte Fallgruppen ein<br />

exportkontrollpolitisches Bedürfnis nach einem individuellen Prüfungs- und<br />

Entscheidungsverfahren nicht notwendig erscheint. Verfahrenserleichterungen<br />

stellen dabei administrative Vereinfachungen des Genehmigungsverfahrens<br />

dar. Dazu gehören Allgemeingenehmigungen oder Sammelausfuhrgenehmigungen<br />

168 . Art. 6 Dual-use-VO ist Rechtsgrundlage dafür. Ausnahmetatbestände,<br />

wie die in den §§ 5, 5c, 5d und 7 AWV enthaltenen Wertfreigrenzen,<br />

heben die Genehmigungspflicht für bestimmte Fallgruppen auf.<br />

Der Gesetzgeber ist hierbei nicht gänzlich frei. Kontrollverpflichtungen aus<br />

Regimes bzw. der EU würden mit gesetzlichen Ausnahmetatbeständen nicht<br />

vollständig umgesetzt. Dagegen ist es den nationalen Behörden unbenommen,<br />

das Verfahren effizient und zielführend zu gestalten 169 .<br />

7. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Im Rechtsgebiet der Exportokontrollen müssen verschiedene Genehmigungstatbestände<br />

im nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Kontext unterschieden<br />

werden. Demnach gelten auch unterschiedliche Verfahrensprinzipien<br />

für die Rechtsanwendung. Dabei ist die Zielsetzung der Exportkontrollen<br />

zu berücksichtigen, die sich aus historischen Entwicklungen und in-<br />

168 Vgl. dazu Karpenstein (FN 41), S. 208, die Allgemeingenehmigungen werden regelmäßig<br />

als Bekanntmachung der zuständigen Behörde veröffentlicht, z.B. unter<br />

www.bafa.de<br />

169 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), F. Rn 93 ff. (auch mit Hinweisen auf die Genehmigungszahlen)<br />

57


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

ternationalen Aspekten ergibt. Auch normkonkretisierende Anwendungsrichtlinien<br />

der Regierung und Behörden gehören hierzu. Im Übrigen müssen<br />

vor allem die auf nationaler Ebene bestimmten sicherheitspoltischen Erwägungen<br />

der einzelnen EU-Mitgliedstaaten beachtet werden.<br />

III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale<br />

Gesetzgebung<br />

<strong>Die</strong> bei Exportkontrollregelungen erforderliche Unterscheidung von nationalen<br />

und gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften impliziert die Frage nach<br />

dem Verhältnis beider Rechtskreise zueinander. Das gilt zunächst für materiell-rechtliche<br />

Vorschriften, aber auch für das Verfahrensrecht. Beim Genehmigungsverfahren<br />

ist der Vollzug des jeweiligen materiellen Rechts und<br />

deshalb - soweit es um Genehmigungsverfahren für die Ausfuhr von Dualuse-Gütern<br />

im Sinne der Dual-use-VO geht - auch der Vollzug von Gemeinschaftsrecht<br />

betroffen. <strong>Die</strong> zuständige Behörde wendet das jeweils geltende<br />

Exportkontrollrecht an. Welche Maßstäbe die Behörde dabei zu beachten<br />

hat, insbesondere der Umfang zu berücksichtigender gemeinschaftsrechtlicher<br />

und nationaler Vorgaben, ist Gegenstand dieses Abschnitts.<br />

1. Das nationale Verwaltungsrecht<br />

a) Historie und Rechtsquellen des Verwaltungsrechts<br />

<strong>Die</strong> Prinzipien des Verwaltungsrechts erklären sich durch die nationale Verwaltungstradition.<br />

Hinzu kommt der EU-rechtliche Rahmen, der durch die<br />

Rechtssysteme in den europäischen Mitgliedstaaten beeinflusst wird.<br />

<strong>Die</strong> Ursprünge der im Verwaltungsrecht maßgeblichen Prinzipien, wie Gewaltenteilung<br />

und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, reichen in das frühe 18.<br />

Jahrhundert zurück. Es gelang erst allmählich, die Befugnisse einer zentralen<br />

Staatsgewalt herauszubilden. <strong>Die</strong> Verwaltungstätigkeit bestand zunächst<br />

in Eingriffs-, später auch in Hilfs- und Fördermaßnahmen. Erst danach setzte<br />

sich eine der wichtigsten Voraussetzungen für den liberalen Rechtsstaat<br />

durch, die Trennung von Justiz und Verwaltung. Im letzten Drittel des 19.<br />

Jahrhunderts entstanden in den Kleinstaaten Verwaltungsgerichte170 . <strong>Die</strong> bis<br />

dahin sehr absolut ausgeprägte, rechtlich ungebundene Verwaltung wurde in<br />

ein liberales Staatsmodell überführt. Sie sollte sich zunächst vor allem auf<br />

die Gewährleistung von Sicherheit und die Gefahrenabwehr zur Bewahrung<br />

170 Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S.192<br />

58


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

der öffentlichen Ordnung, also den Schutz der Bürger vor Eingriffen in deren<br />

Freiheiten und Eigentumspositionen beschränken. Eingriffe waren nur<br />

zulässig, wenn die Verwaltung durch ein vorab von der Volksvertretung gebilligtes<br />

Gesetz dazu ermächtigt wurde. Der entsprechende Gesetzesvorbehalt<br />

bezog sich vor allem auf durch Grundrechte vermittelte Schutzpositionen.<br />

<strong>Die</strong> neue Verteilung der Macht zwischen Monarchie und Bürgertum<br />

wurde durch einen verfassungsbildenden Prozess gefördert. Hierzu gehörten<br />

die Herausbildung einer parlamentarischen Volksvertretung und ihrer Mitwirkung<br />

bei der Gesetzgebung sowie die Begründung von Grundrechten.<br />

Am Ende dieses Prozesses standen das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung.<br />

Für die Entwicklung des Verwaltungsrechts war das von besonderer<br />

Bedeutung, da Eingriffe der Verwaltung in Freiheit und Rechte des<br />

Einzelnen im Ergebnis nur noch mit Hilfe einer rechtlichen Legitimation<br />

möglich wurden. Sie ergab sich allein aus den Schutzpflichten des Staates<br />

sowie dem geschützten Rechtsbereich Dritter. <strong>Die</strong> Grundrechte wurden<br />

erstmals 1848 explizit statuiert171 . <strong>Die</strong> Verwaltungsmacht wurde damit erheblich<br />

reduziert und fortan der Gesetzesbindung bzw. Gesetzmäßigkeit unterworfen172<br />

.<br />

Hinzu kam die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den einzelnen<br />

Ländern. Insbesondere das preußische OVG prägte eine Reihe von noch<br />

heute gültigen Grundsätzen173 . Im Zuge der Industrialisierung und Bevölkerungszunahme<br />

verstärkten sich die sozialen Nöte. <strong>Die</strong>se rückten den Staat<br />

und damit die Verwaltung auch als Leistungsträger in den Mittelpunkt. <strong>Die</strong>ser<br />

Aspekt findet sich in der Kurzformel des sozialen Rechtsstaats noch heute<br />

in der Verfassung wieder174 . Im Ergebnis bildeten diese Entwicklungen<br />

sowie die Erfahrungen der Verfassungsväter in Folge der jüngeren Geschichte<br />

vor 1949 die Grundlage des deutschen Grundgesetzes und der sich<br />

daraus abgeleiteten allgemeinen verwaltungsrechtlichen Prinzipien. Das nationale<br />

Verwaltungsrecht basiert aber nicht nur auf der Verfassung, sondern<br />

auch formellen Gesetzen, Rechtsverordnungen und Satzungen, die deren<br />

Vorgaben umsetzen. Es unterteilt sich in Bundes- und Landesrecht sowie<br />

Gewohnheitsrecht. Hierzu zählen auch das Richterrecht sowie das dort entwickelte<br />

allgemeine Rechtsprinzipien. Aus dieser Aufzählung ergibt sich die<br />

171 Zum Beschluss der Reichsversammlung vom 21. Dezember 1848 in der Frankfurter<br />

Paulskirche und der Grundrechtsentwicklung allgemein: Badura, Staatsrecht, Einl.<br />

Rn 24 f.<br />

172 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2 Rn 5 ff.<br />

173 Vgl. Mayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und Rechtsverfahrens, S. 1 ff. (1857)<br />

und Deutsches Verwaltungsrecht, S. 1 ff. (1924)<br />

174 W. Wolff, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 21 Rn 1<br />

59


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Unterscheidung geschriebener und ungeschriebener Rechtsquellen 175 . <strong>Die</strong><br />

entsprechenden allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätze sind aber letztlich<br />

alle auf Konkretisierungen des Verfassungsrechts zurückzuführen.<br />

b) Systematik des Verwaltungsrechts<br />

Das allgemeine Verwaltungsrecht176 regelt die Rechtsbeziehungen des Staates<br />

zu seinen Bürgern sowie die Funktionsweise der Institutionen der öffentlichen<br />

Verwaltung. <strong>Die</strong> Grundsätze dazu lassen sich aus der Verfassung ableiten177<br />

. Mit dem VwVfG erfolgte eine Rechtsvereinheitlichung der bis dahin<br />

bestehenden Ländervorschriften, die heute weitgehend dem Bundesgesetz<br />

entsprechen178 . Hier werden alle Handlungsformen der Verwaltung, namentlich<br />

der Verwaltungsakt, der Verwaltungsrealakt, die Rechtsverordnung,<br />

die Satzung, der öffentlich-rechtliche Vertrag und das Verfahren geregelt.<br />

In Abgrenzung zu Gesetzgebung und Gerichtsverfahren werden dabei<br />

die Rechte und Pflichten der Verfahrensbeteiligten, die besonderen Verfahrensarten,<br />

die Verwaltungsvollstreckung und die Organisation der Verwaltung<br />

festgesetzt. <strong>Die</strong> Konkretisierung einzelner Vorschriften erfolgt durch<br />

Rechtsprechung und Lehre179 .<br />

Das besondere Verwaltungsrecht ist das spezielle Verwaltungsrecht, welches<br />

auf die Erfordernisse konkreter sachlicher Verwaltungsaufgaben zugeschnitten<br />

ist. Es baut auf Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts auf<br />

und ergänzt oder modifiziert sie. Hierzu gehören z.B. das allgemeine Polizei-<br />

und Ordnungsrecht sowie das Umweltrecht, so das Immissionsschutzund<br />

Abfallrecht. Das besondere Verwaltungsrecht ist sowohl durch Bundes-,<br />

als auch durch Landesgesetze geregelt. Es wird in vielen Bereichen durch<br />

europäisches Recht überlagert und beeinflusst.<br />

Das Exportkontrollrecht ist als Teil des Außenwirtschaftsrechts dem besonderen<br />

Verwaltungsrecht zuzurechnen, innerhalb dieses Komplexes dem<br />

Wirtschaftsverwaltungsrecht. <strong>Die</strong> nationalen Exportkontrollregelungen des<br />

KWKG und AWG sind in Bundesgesetzen geregelt. Eine Ausnahme bildet<br />

die Dual-use-VO. Für das Genehmigungsverfahren ist damit grundsätzlich<br />

das allgemeine Verwaltungsrecht bzw. das dazugehörige Verwaltungsverfahrensrecht<br />

anwendbar, soweit nicht speziellere Vorschriften oder höherrangi-<br />

175 Vgl. Maurer (FN 172), § 4 Rn 1 ff.<br />

176 Zu den Verwaltungsbegriffen und zum Spektrum der Verwaltungstätigkeit Wolff (FN<br />

174), S. 22 ff.<br />

177 Vgl. Maurer (FN 172), § 2 Rn 14 und 17<br />

178 Dazu Knack, Kommentar zum VwVfG, vor § 1 Rn 2 (LITV)<br />

179 Hierzu Maurer (FN 172), § 4 Rn 23 ff<br />

60


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

ges Recht die allgemeinen Normen verdrängen 180 . Im Bereich der Genehmigungsentscheidung<br />

wird das für Exportkontrollfragen zuständige BAFA regelmäßig<br />

auf Antrag ein Verwaltungsverfahren im o.g. Sinne einleiten. Bei<br />

den formellen Verfahrensvoraussetzungen und der materiellen Entscheidung<br />

über die Genehmigung ist die Anwendbarkeit nationaler und europäischer<br />

Regelungen zu prüfen, insbesondere der im konkreten Fall einschlägige <strong>exportkontrollrechtliche</strong><br />

Genehmigungstatbestand.<br />

c) Verfassungsrechtliche Vorgaben und Einflüsse<br />

Es wurde schon ausgeführt, dass sich die Gerichte vor der expliziten Normierung<br />

des Verwaltungsverfahrensrechts ausschließlich an ungeschriebenen<br />

Grundsätzen orientieren mussten. <strong>Die</strong> Verfassung normiert die Erzeugungsbedingungen<br />

für die Gesetze und ihre inhaltlichen Schranken. Dazu<br />

zählen Grundrechte, Regelungen zur Normenhierarchie, fortschreitende<br />

Normkonkretisierung, Verfassungsprinzipien, wie Gesetzesbindung und -<br />

vorrang, Rechtsweggarantie, Gewaltenteilung und Bundesstaatsprinzip,<br />

Vorgaben für Organisation und Gesetzesvollzug. <strong>Die</strong> Verfassung regelt also<br />

beherrschende Elemente der Verwaltungstätigkeit, weshalb Verwaltungsrecht<br />

nicht ohne Grund als konkretisiertes Verfassungsrecht bezeichnet<br />

wird181 . Grundrechte sowie Verfassungsprinzipien wirken sich unmittelbar<br />

auf die tägliche Verwaltungspraxis aus182 .<br />

Für die Verwaltung von besonderer Bedeutung sind der Gleichheitssatz, das<br />

Rechtsstaatsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung.<br />

Insgesamt geben verfassungsmäßig verbürgte rechtsstaatliche<br />

und demokratische Verfahrensgrundsätze die Leitgedanken des Verfahrensrechts<br />

wieder183 . <strong>Die</strong> Gewährleistung der Grundrechte wird auch über Verfahrensrechte<br />

der Beteiligten sichergestellt. Gleiches gilt für den Umfang<br />

des Rechtsschutzes (Instanzenweg) und die gerichtliche Sachprüfung. Es<br />

wird damit deutlich, dass das Entscheidungsergebnis der Verwaltung nicht<br />

nur vom materiellen Gehalt des im Einzelfall einschlägigen Gesetzes bzw.<br />

subjektiven Rechtsanspruchs abhängt, sondern auch von der Ausformung<br />

des Verwaltungsverfahrens selbst. Es besteht ein untrennbarer Zusammenhang<br />

zwischen Verfahrensausgestaltung und Gewährleistungen des sachlich<br />

zutreffenden Ergebnisses einer Entscheidung184 . Verfahrensvorschriften so-<br />

180 Haddex (FN 4), Bd 1, Teil 6 Rn 313<br />

181 So Werner, DVBl. 1959, S.257<br />

182 Zur verfassungsrechtlichen Legitimation: Müller-Foell, Einführung in das Recht, § 7<br />

183 Wolff (FN 174), S. 71 Rn 16<br />

184 Ebenda, S. 120 Rn 12<br />

61


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

wie entsprechende Verfahrensprinzipien müssen deshalb immer vor diesem<br />

Hintergrund beurteilt und angewandt werden. Ein Widerspruch des Zieles<br />

Rechtsschutz zur Effizienz von Verwaltungsverfahren besteht nicht, wenn<br />

die Balance zwischen Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Funktionsfähigkeit<br />

der Verwaltung gewahrt ist.<br />

Das nationale Verwaltungssystem wird vom EG-Recht beeinflusst. Damit<br />

geht eine Überlagerung des nationalen Verfahrensrechts einher, die aufgrund<br />

des Harmonisierungsziels zur Veränderung des Verfahrensrechtskonzeptes,<br />

also zu einer entsprechenden Rückkoppelung, führt185 . <strong>Die</strong> noch zu treffenden<br />

Ausführungen zum Gemeinschaftsverwaltungsrecht sowie dessen Verhältnis<br />

zum nationalen Verwaltungsrecht müssen dies berücksichtigen. Auf<br />

Fragen des Völkerrechts soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.<br />

Soweit internationale exportkontrollrechtlich relevante Vorgaben bestehen,<br />

wurden diese durch den zuständigen europäischen oder aber nationalen Gesetzgeber<br />

berücksichtigt. Sie kommen bei den Entscheidungskriterien zur<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ebenfalls zum Tragen. <strong>Die</strong>s ist nicht Gegenstand der<br />

Überlagerung nationalen Rechts, sondern im Gegenteil, dort explizit über<br />

die Genehmigungspflichten und -kriterien berücksichtigt186 .<br />

d) Ergebnis<br />

Im Zentrum der nationalen Verwaltungsrechtstradition und der für die Verwatungsverfahren<br />

maßgeblichen Verfassungsprinzipien stehen Gesetzmäßigkeitsgrundsatz,<br />

Rechtsstaatsprinzip und Gewaltenteilung. Über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

und die Grundrechte werden die Grenzen staatlichen<br />

Handelns normiert. <strong>Die</strong>se Vorgaben sind in das allgemeine und besondere<br />

Verwaltungsverfahrensrecht eingeflossen. Es muss geprüft werden,<br />

ob sie durch das Gemeinschaftsrecht beeinflusst werden und es hierbei zu<br />

Abweichungen kommt.<br />

2. Das Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

Der Begriff des Gemeinschaftsrechts bezieht sich vor allem auf den EG-<br />

Vertrag 187 , die tragende Säule der Europäischen Union mit dem Charakter<br />

185 Knack (FN 178), vor § 1 Rn 21<br />

186 Vgl. Teil 1 II.5.d)bb) zu den Regimen und Teil 1 II.5.f)aa) zum VK-EU (siehe auch<br />

FN 60)<br />

187 Bezogen insbesondere auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Union von<br />

Maastricht, ABl. EG Nr. C 191 vom 29.07.1992, Vertrag von Amsterdam ABl. (EG)<br />

C 340 vom 10.11.1997 sowie Vertrag von Nizza ABl. EG C 325 vom 24.12.2002,<br />

aufbauend auf den Verträgen zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl,<br />

62


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

einer nationalen Verfassung188 . Grundsätze zur Gemeinsamen Außen- und<br />

Sicherheitspolitik sowie zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen sind nicht Gegenstand des Vertrages, sondern ergänzender (so<br />

genannte 2. und 3. Säule) Bestandteil der Europäischen Union189 . <strong>Die</strong> entsprechende<br />

Relevanz für die Exportkontrolle wurde erläutert. Zum Bereich<br />

des auch als Primärrecht bezeichneten EG-Vertrages und der darauf basierenden<br />

Rechtsetzung tritt auch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, allgemeines<br />

Völkerrecht und der Kernbestand allgemeiner Rechtsgrundsätze190 .<br />

Im Sekundärrecht von besonderer Bedeutung sind neben Richtlinien die in<br />

den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden EG-Verordnungen, zu denen auch<br />

die Dual-use-VO zählt. Das Gemeinschaftsrecht überlagert ebenso wie das<br />

Völkerrecht als supranationales Recht die nationalen Vorschriften191 . Insoweit<br />

ergeben sich eigenständige, in den Mitgliedstaaten verbindlich wirkende,<br />

Verbands- und Organkompetenzen der EG. Je nach Reichweite und Umfang<br />

der darauf beruhenden europäischen Regelungen kommt es zu Auswirkungen<br />

bei der Anwendbarkeit nationalen Rechts. Mit Blick auf die Rechtsprechung<br />

des EuGH im Lichte gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen<br />

der Mitgliedstaaten kommt es auch zu einer wechselseitigen Beeinflussung<br />

der Rechtssysteme192 . <strong>Die</strong> Mitgliedstaaten sind an die Prinzipien des Gemeinschaftsrechts<br />

gebunden.<br />

<strong>Die</strong> Grundlagen für das gemeinschaftliche Verfahrensrecht finden sich im<br />

EG-Vertrag nur fragmentarisch, so z.B. zur Begründungspflicht und zum Inkrafttreten<br />

von Sekundärrecht oder Dokumentenzugang Art. 253 bis 256 EG.<br />

Hinzu kommen vereinzelte spezifische Regelungen im Sekundärrecht, wie<br />

sie beispielsweise zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Dual-use-<br />

VO vorgesehen sind193 . <strong>Die</strong> bestehende Lücke hinsichtlich der für den Vollzug<br />

des materiellen Gemeinschaftsrechts notwendigen Verfahrensvorschriften<br />

versucht der EuGH mit seiner Judikatur zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen<br />

im Verwaltungsverfahren im Wege des wertenden Rechtsvergleichs zu<br />

BGBl. II 1952, S. 448, den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemneinschaft,<br />

BGBl. II 1957, S. 766, und zur Europäischen Atomgemeinschaft, BGBl.II 1957, S.<br />

1014<br />

188 Vgl. statt aller Schwarze, EU-Kommentar, Bd.1, Art. 220, Rn 12<br />

189 Vgl. Teil 2 II.4.a)<br />

190 Magiera/Sommermann, Verwaltung in der Europäischen Union, S.421<br />

191 <strong>Die</strong>s wurde in der Verfassung mit Art. 23 GG bestätigt.<br />

192 Der EuGH bestimmt dabei das Verhältnis zwischen dem europäischen auf der einen<br />

und den nationalen und Rechts- und Verfassungssystemen auf der anderen Seite: vgl.<br />

Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, S.2<br />

193 Vgl. dazu Teil 1 II.4.b)<br />

63


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

schließen und betätigt sich so faktisch als Motor der europäischen Integration194<br />

. Das verfassungsrechtliche Erklärungsmodell der EU ergibt sich aus<br />

den nationalen Rechtsordnungen sowie den übergeordneten Kompetenzen<br />

der Gemeinschaft. Dabei ist der Blick auf die europäischen Verfassungswerte<br />

notwendig. Wegen der rechtlichen Integration von inzwischen 27 nationalen<br />

Verwaltungsstrukturen ist die rechtsvergleichende Betrachtung unerlässlich.<br />

Das wird bei der Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt. <strong>Die</strong>se<br />

Kompetenz des EuGH ergibt sich in Ausübung seiner sich aus Art. 220 EG<br />

ergebenden Aufgabe zur Wahrung des Rechts auf der Grundlage der gemeinsamen<br />

Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der von ihnen<br />

abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte195<br />

. In welchem Umfang dabei tatsächlich von Rechtsgrundsätzen<br />

gesprochen werden kann, hängt von der Formulierung durch den EuGH<br />

und der Qualität der ständigen Rechtsprechung ab. Zumindest muss die wertende<br />

Betrachtung dem qualitativen Niveau eines entgegenstehenden nationalen<br />

Grundsatzes entsprechen196 . Der EuGH setzt so die systembildenden<br />

Akzente für das Gemeinschaftsverwaltungsrecht. Er definiert letztverbindlich<br />

dessen Verhältnis zu den nationalen Rechtssystemen und sorgt für die<br />

Gewährleistung eines einheitlichen Verwaltungsvollzugs des Gemeinschaftsrechts.<br />

<strong>Die</strong> unterschiedliche Anwendung europarechtlicher Regelungen<br />

würde nicht nur für die Betroffenen im Sinne des Art. 12 EG diskriminierend<br />

wirken, sie würde die praktische Wirksamkeit der einheitlichen Gesetzgebung<br />

bzw. das Effizienzgebot nach Art. 10 EG unterlaufen und somit<br />

gegen zwei wesentliche Grundsätze des EG-Rechts verstoßen197 .<br />

Im Ergebnis hat sich ein selbständiger Korpus europäischen Verwaltungsrechts<br />

herausgebildet, der allgemein mit dem Begriff Gemeinschaftsverwal-<br />

194 Dazu z.B. Fengler, <strong>Die</strong> Anhörung im europäischen Gemeinschaftsrecht und<br />

deutschen Verwaltungsverfahrensrecht; S. 13, Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht<br />

unter europäischem Einfluss, S. 109; Schnappauf, in: Magiera/ Sommermann<br />

(FN 190), S. 13, 22; Hirsch, Der EuGH im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht<br />

und nationalem Recht, 6. Jahresarbeitstagung des DAI, 2000, S. 5, 15<br />

195 Dazu grundlegend statt aller Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, (FN 3) Bd. III, Art. 220<br />

EG Rn 42, vgl. z.B. Rspr. des EuGH Rs. 4/73 - Nold - Slg. 1974, S. 491; EuGH Rs.<br />

44/79 – Hauer, Slg. 1979, S. 3727; EuGH Rs. 97-99/87 - Dow Chemical Ibérica, Slg.<br />

1989, S. 3165<br />

196 Vgl. Klein, Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts im europäischen Integrationsprozess<br />

in Rechtvereinheitlichung durch Gesetze 1992, S. 117, 152)<br />

197 Hierzu Classen, <strong>Die</strong> Europäische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 182 ff., s.a. von<br />

Danwitz, Verfassungsrechtliches System und europäische Integration, 1996, S. 281<br />

ff.<br />

64


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

tungsrecht umschrieben wird 198 . Es bleibt festzuhalten, dass neben sekundärrechtlichen<br />

Vorschriften zu einigen Rechtsbereichen zwischenzeitlich eine<br />

Reihe von durch den EuGH anerkannte gemeinschaftsverwaltungsrechtliche<br />

Prinzipien, wie Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit und Effektivitätsgebot,<br />

auf die nationale Rechtsanwendung Einfluss nehmen.<br />

3. Verfahrensgrundsätze und Grundrechte<br />

Aus dem Gemeinschaftsverfassungsrecht abgeleitete Verfahrensgarantien<br />

und deren Konnexität mit dem Umfang des gerichtlichen Rechtsschutzes basieren<br />

im Wesentlichen auf dem allen europäischen Verfassungen gemeinen<br />

Prinzip der Rechtsstaatlichkeit199 . Sie bilden somit die bedeutendste Quelle<br />

der Legitimation europäischer Hoheitsgewalt. Hierzu zählen vor allem die<br />

Prinzipien der Rechts- bzw. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Gesetzesvorbehalts200<br />

. Neben diesen formellen Verwaltungsrechtsgrundsätzen stehen<br />

die materiellen Grundsätze wie das Vertrauensschutzprinzip, der Anspruch<br />

auf Rechtssicherheit, Vertrauensschutzgedanke und das Verhältnismäßigkeitsprinzip201<br />

.<br />

Hierzu zählen auch die Grundrechtsgewährleistungen, deren europäischer<br />

Standard zugunsten einer gewissen Rechtvereinheitlichung zunächst aus<br />

dem Katalog der EMRK abgeleitet wurde202 . Dabei wird erneut auf allgemeine<br />

Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten, die wegen der Gewährleistung<br />

der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen berücksichtigt werden müssen,<br />

und gemeinschaftsrechtliche Prinzipien zurückgegriffen203 . Mit Verweis<br />

auf die Grundrechte-Charta204 in Art. 6 Abs. 2 EUV wurde diese Rechtsprechung<br />

aufgegriffen. <strong>Die</strong> Geltung allgemeiner Rechtsgrundsätze wurde somit<br />

auf eine weitere rechtliche Grundlage gestellt und die entsprechende Recht-<br />

198 Vgl. Nehl (FN 192,) S. 23 mit besonderer Erwähnung des Grundlagenwerkes von<br />

Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, zum Begriff auch Gassner, DVBl. 1995,<br />

S. 16 ff.<br />

199 So Nehl (FN 192), S. 84<br />

200 Vgl. EuGH, verb. Rs. 46/87, 227/88 - Hoechst, Slg. 1989, 2859<br />

201 Zur Doppelfunktion der Verwaltungsgrundsätze als Ausfluss rechtsstaatlicher Grundaussagen<br />

und spezifisches Verfahrensrecht: Koch, Arbeitsebene der EU–<br />

Verfahrensrecht der Integrationsverwaltung, S. 422<br />

202 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November<br />

1950, BGBl. 1952 II, S. 685, 953, in der Fassung des Protokolls Nr. 11, in Kraft<br />

getreten am 1. November 1998, BGBl. I 2000, S. 1253<br />

203 Z.B. EuGH, Rs 4/73 - Slg 1974, S.491, 506 ff. , Nold (so schon in FN 194), EuGH,<br />

Rs. 374/ 867, Slg,1989, S. 3283 - Orkem<br />

204 Veröff. in ABl. EG Nr. C 364/1 vom 18.12.2000<br />

65


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

sprechung des EuGH verfestigt205 . Danach achtet die Union die Grundrechte,<br />

wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind<br />

und wie sie sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts<br />

ergeben. <strong>Die</strong> Charta selbst gilt wegen der expliziten Formulierung „achten“<br />

als nicht rechtsverbindlich, womöglich auch, um eine politische Entscheidung<br />

über die Zukunft der Verfassung nicht zu gefährden206 . Der mit der<br />

EuGH-Rechtsprechung anerkannte Mindeststandard der Grundrechtsanerkennung207<br />

kann im Sinne der Wesensgehaltsrechtsprechung des BVerfG interpretiert<br />

werden. Adressat der Prinzipien sind die Organe der Union sowie<br />

die Behörden der Mitgliedstaaten, soweit sie im Rahmen der Gemeinschaftskompetenzen<br />

im unmittelbaren Direktvollzug von Gemeinschaftsrecht<br />

tätig werden208 .<br />

Unabhängig von einer gewissen faktischen Geltung der Charta muss in<br />

dogmatischer Hinsicht indes bis auf weiteres beachtet werden, dass für die<br />

Ausformung des Grundrechtsschutzes im Verhältnis zum Unionsbürger allein<br />

die Auslegung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze durch<br />

den EuGH maßgeblich ist. Zwischenzeitliche Bemühungen zu einer demokratischen<br />

Legitimation des europäischen Verfassungsprozesses209 und die<br />

damit verbundene Kodifizierung der Verfahrensgrundsätze sowie der gemeinschaftsrechtlichen<br />

Grundrechte haben mit der vorläufigen Aussetzung<br />

des Ratifizierungsprozesses zum Entwurf zur Verfassung für Europa, Teil II<br />

Art. II-61 ff. 210 vorläufig noch keinen Fortschritt ermöglicht. Aufgrund der<br />

bereits benannten verfassungsrechtlichen Legitimation der EUGH-<br />

Rechtsprechung ändert dies aber nichts an der Verbindlichkeit der zwischenzeitlich<br />

herausgearbeiteten Prinzipien. Allen Rechtsgrundsätzen gemein ist<br />

ihr an sich drittschützender, grundrechtsähnlicher Charakter. Ebenso wie im<br />

deutschen Verfassungsrecht sind die Grundrechte einerseits Abwehrrechte<br />

des Einzelnen gegenüber dem Staat als auch Bestandteile einer objektiven<br />

205 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I, nach Artikel 6 EUV Rn 4<br />

206 Unter Hinweis auf die EuGH-Rechtspr. Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd.<br />

I, Art 6 EUV, Rn 42 ff., 56 und Pernice/Mayer, ebenda Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 24<br />

207 Pernice/Mayer, ebenda Rn 27 und<br />

208 Statt aller Stumpf, in: Schwarze (FN 187), Art. 6 EUV Rn 16; Fengler (FN 193),S. 9;<br />

Epping (FN 28), S. 565<br />

209 Zum Streit über die Legitimation der vom EuGH begründeten Rechtsprechung: Nehl<br />

(FN 192), Fn 225<br />

210 Vertrag über eine Verfassung für Europa Amtsblatt der EU, Reihe C Nummer 310,<br />

vom 16.12.2004 (Auf Beschluss des Europäische Rates auf seiner Tagung am 21. und<br />

22. Juni 2007 in Brüssel soll der Vertrag Grundlage für die Ausarbeitung eines<br />

Reformvertrags sein. <strong>Die</strong> Substanz des Verfassungstextes soll in die bestehenden<br />

Grundlagenverträge eingearbeitet werden.)<br />

66


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

Wertordnung211 . <strong>Die</strong> Grundrechte sind auch beim Vollzug der Dual-use-VO<br />

zu berücksichtigen212 . Auf Einzelheiten zur Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen<br />

Gewährleistungen wird noch im Rahmen der Rechtsgüterabwägung<br />

anlässlich der gerichtlichen Rechtmäßigkeitsprüfung von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

einzugehen sein.<br />

Nachdem die Legitimation europäischer Grundrechte und Verfahrensgarantien<br />

geklärt ist, sollen zunächst die insbesondere vom EuGH geprägten und<br />

für <strong>exportkontrollrechtliche</strong> Entscheidungen bedeutsamen Rechtsgrundsätze<br />

dargestellt werden213 . Bei der Rechtsprechung von EuG und EuGH zu diesen<br />

allgemeinen Grundsätzen geht es allerdings nicht um absolute Rechte,<br />

sondern um die Hervorhebung einer zur Überwindung dieser Grundsätze erforderlichen<br />

erheblichen Abwägung sowie argumentativer Sorgfalt214 .<br />

a) Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit<br />

Aus dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit wird eine Reihe von Prinzipien<br />

abgeleitet, wie sie sich auch aus der nationalen Verfassung ergeben. Grundlegend<br />

sind die auch in der Grundrechte-Charta benannten formellen Rechte<br />

auf Anhörung, Akteneinsicht und in Ableitung aus dem Prinzip effektiven<br />

Rechtsschutzes215 das Recht auf die Begründung von Entscheidungen. Hinzu<br />

kommt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung216 . Als ein allgemeines<br />

Leitprinzip der Grundrechte-Charta gilt inzwischen der Grundsatz<br />

ordnungsgemäßer Verwaltung bzw. das aus dem angelsächsischen Recht<br />

entstammende Prinzip eines fairen Verwaltungsverfahrens (good governance<br />

principle). Neben dem ebenfalls im deutschen Rechtsstaatsprinzip verankerten<br />

Anhörungsrecht werden hierunter auch andere Elemente des rechtsstaatlichen<br />

Verfahrens abgeleitet. Hieraus ergibt sich z.B. eine Konkretisierung<br />

der Begründungspflicht bei rechtsstaatlichen Verwaltungseingriffen217 . <strong>Die</strong>se<br />

211 Vgl. EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609, 2639 f.; Rs. C-260/89, ERT, Slg.<br />

1991, I- S. 2925, 2964; Rs. C-288/89, Gouda, Slg. 1991 I, S. 4007, 4042<br />

212 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd. IV, E 16 Rn 18<br />

213 Mit ausführlicher Darstellung: Ehrlich (FN 62), S. 1 ff.<br />

214 Koch (FN 201), S. 464<br />

215 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.5.1986, Rs 222/84 /M.Johnston/ Chief Constable of the Royal<br />

Ulster Constabulary), Slg. 1986, S. 1651 ff., 1663 ff.<br />

216 EuGH, Urt. v. 22.3.1961, verb. Rs 42/59 u. 49/59 (Soceté nouvelle des usines de<br />

Pontlieue-Acèries du temple/ Hohe Behörde), Slg. 1961, S. 105 ff. ,172<br />

217 Schwarze (FN 198) , Einf. S. LXXXII, Koch, (FN 192), S. 441 mit einer Vielzahl<br />

von Rechtsprechungshinweisen, S. 444 zum Wechselbezug des Prinzips guter Verwaltung<br />

im Zusammenhang mit Verwaltungsorganisation, Geschäftsprozessen und<br />

subjektivem Rechtsschutz<br />

67


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

Grundsätze gelten auch bei Beurteilungsspielräumen und Verwaltungsermessen.<br />

Hinzu tritt das mit dem Ermessen korrelierende Prinzip der Selbstbindung<br />

der Verwaltung. <strong>Die</strong>ses ist Ausprägung des auch auf EU-Ebene gültigen<br />

Diskriminierungsverbotes, das praktisch alle Bereiche des Verwaltungshandelns<br />

betrifft und zur Selbstbindung der Verwaltung aufgrund einheitlicher<br />

Standards oder ständiger Verwaltungspraxis führt218 .<br />

Schließlich soll die für die materielle Rechtsdurchsetzung wesentliche<br />

Sachverhaltsermittlung näher betrachtet werden. Dabei geht es um den Umfang<br />

und die Verantwortlichkeit einer Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen<br />

(Tatbestandsmerkmale) für eine bestimmte Rechtsfolge. <strong>Die</strong> geltende<br />

Untersuchungs- und Amtsermittlungsmaxime korreliert mit der Mitwirkungspflicht<br />

des Betroffenen. Der Grad der Informationsbeschaffung kann<br />

sich auf die Abwägung im Rahmen von Beurteilungsspielräumen auswirken.<br />

Ebenso mag bei Defiziten der Ermittlung eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung<br />

auf der Rechtsfolgenseite beeinträchtigt sein. Eine sorgfältige<br />

Sachverhaltsermittlung gehört also zu den Grundlagen gesetzmäßiger Entscheidungsfindung219<br />

.<br />

Ein wesentlicher materieller Verfahrensgrundsatz ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,<br />

der in Art. 5 Abs. 3 EUV angesprochen und vom EuGH<br />

als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet<br />

wird220 . Er ist Ausgangspunkt für die Reichweite der Grundrechtsdurchsetzung<br />

und findet im Rahmen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung Beachtung221<br />

. In der Literatur wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schlüssel<br />

des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes bezeichnet222 . Nach der<br />

Rechtsprechung des EuGH entsprechen hoheitliche Maßnahmen, die für die<br />

Gemeinschaftsbürger belastend sind, nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,<br />

wenn mit der zu Grunde liegenden Regelung zulässige Ziele<br />

verfolgt werden, die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele geeignet und<br />

erforderlich sind. Unter mehreren geeigneten Mitteln ist dasjenige zu wählen,<br />

das den Einzelnen am wenigsten belastet. 223 Schließlich muss zwischen<br />

den auferlegten Belastungen und dem angestrebten Zweck ein angemesse-<br />

218 Dazu statt aller Schwarze, ebenda, Einf. S. LXX, vgl. nur EuGH - verb. Rs 16/77<br />

und 117/76 Ruckdeaschel/ Hauptzollamt Hamburg-St.Annen, Slg. 1977, 1753 Rn 7<br />

219 Ule, VerwArch 1971, S. 127<br />

220 EuGH, Rs. 41/79 u.a., Testa, Slg. 1980, 1979, 1997<br />

221 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd. III, Art. 249 EGV Rn 100<br />

222 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 304<br />

223 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, 1137; Rs.<br />

4/73, Nold, Slg. 1974, 491, 508; Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, 3747; Rs. 41/79<br />

u.a., Testa, Slg. 1980, 1979, 1997 f.<br />

68


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

nes Verhältnis bestehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) 224 . Damit<br />

folgt der EuGH den in Deutschland geltenden Anforderungen für das Übermaßverbot.<br />

Den Grundsatz der Rechtssicherheit bezeichnet der EuGH als eine bei der<br />

Vertragsanwendung zu beachtende Rechtsnorm225 und als grundlegendes<br />

Prinzip des Gemeinschaftsrechts226 . Dazu gehören das Rückwirkungsverbot<br />

sowie der Bestimmtheitsgrundsatz und die Bestandskraft227 . Als ein weiteres<br />

wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips setzt der Grundsatz des Vertrauensschutzes<br />

staatlichem Verhalten Grenzen. Das gilt dann, wenn ein<br />

Gemeinschaftsorgan einen objektiven Vertrauenstatbestand geschaffen hat,<br />

ein Wirtschaftsteilnehmer hierauf vertraut hat, sein Vertrauen schutzwürdig<br />

ist und sein Individualinteresse gegenüber dem Gemeinschaftsinteresse<br />

überwiegt228 . Solch ein berechtigtes Vertrauen besteht allerdings nicht, wenn<br />

eine Regelungsmaterie betroffen ist, die nach ihrer Zweckrichtung einer<br />

ständigen Anpassung unterworfen ist und die dementsprechend von den<br />

Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihres Ermessens geändert werden<br />

kann229 .<br />

<strong>Die</strong> Organe der Gemeinschaft verfügen bei der Wahl der erforderlichen Mittel<br />

zur Verfolgung ihrer Politik grundsätzlich über einen Ermessensspielraum230<br />

. Gerade dieser Gesichtspunkt dürfte es dem Ausführer im Exportkontrollrecht<br />

schwer machen, sich zur Wahrung seiner Rechte mit Erfolg auf<br />

den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen. Denn das Ausfuhrrecht<br />

unterliegt wegen der sich häufig und schnell ändernden außen- und sicherheitspolitischen<br />

Lage ständigem Wandel. Der Ausführer weiß um diesen<br />

Umstand und kann seine Dispositionen darauf einrichten. Aus anderen Entscheidungen<br />

des EuGH kann der Grundsatz abgeleitet werden, dass sich<br />

nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, wer sich selbst rechtswidrig ver-<br />

224 Dazu EuGH, Slg. 1989, 2237, 2269 - Schräder/Hauptzollamt Gronau; Zuleeg, NJW<br />

1994, 545, 547; Gornig/Trüe, JZ 1993, S. 884, 940<br />

225 So EuGH, Rs. 13/61, Bosch, Slg. 1962, 97, 113<br />

226 EuGH, Rs. C-143/93, Van Es Douane Agenten, Slg. 1996. I-431; Rs. C-313/99, Mulligan<br />

u.a., Urt. v. 20.6.2002, Slg. 2002, S. I-05719<br />

227 Statt aller Ehrlich (FN 62), S. 64 mit Vielzahl von Rspr.-Nachweisen<br />

228 Stumpf, in: Schwarze (FN 188), Art. 6 EUV, Rn 15<br />

229 Vgl. EuGH Rs. O´Dwyer u.a./Rat, Slg. 1995, II-2075, 2095; verb. Rs. C-258/90 u. C-<br />

259/90, Pesquerias de Bermeo und Naviera Laida/Kommission, Slg. 1992, I-2901,<br />

2944; EuGH Rs. C-241/95, Accrington Beef, Slg. 1996, I-6699, 6731; EuGH Rs. C-<br />

177/90, Kühn, Slg. 1992, I-35, 62 f.<br />

230 So EuGH, Rs. C-64/95, Lubella, Slg. 1996, I-5105, 5138<br />

69


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

hält. 231 Bei der Beurteilung des subjektiven Vertrauenstatbestandes ist maßgeblich,<br />

ob ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der<br />

Lage ist, den Erlass der seine Interessen berührenden Gemeinschaftsmaßnahme<br />

vorauszusehen und hierauf angemessen zu reagieren. 232 Bei der Beurteilung<br />

im Einzelfall kommt der Veröffentlichung der Rechtsakte eine besondere<br />

Bedeutung zu, weil die Wirtschaftsteilnehmer ihr Verhalten nach<br />

dem Regelungsinhalt ausrichten können.<br />

b) Exportkontrollrelevante Grundrechte<br />

<strong>Die</strong> Frage der grundrechtlichen Überprüfungskompetenz bei der Anwendung<br />

von EG-Vorschriften wurde in einer Reihe von Entscheidungen des<br />

BVerfG wie des EuGH herausgearbeitet. Vom Solange I-Beschluss des<br />

BVerfG233 bis hin zur Maastricht-Entscheidung234 wurde die zunächst geäußerte<br />

Annahme des Vorrangs der nationalen Verfassung schrittweise revidiert<br />

und schließlich der Ansatz eines Kooperationsverhältnisses von EuGH<br />

und BVerfG entwickelt. Danach sei in erster Linie der EuGH für die Rechtmäßigkeitsprüfung<br />

von Eingriffen zuständig, während sich die Prüfung des<br />

BVerfG auf die generelle Gewährleistung eines gewissen Mindeststandards<br />

der Grundrechte beschränkt. Im Ergebnis können bei einer gerichtlichen<br />

Kontrolle der Genehmigungsentscheidung nach der Dual-use-VO zunächst<br />

nur im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechtestandards geprüft werden.<br />

Allenfalls eine evidente Missachtung der nationalen Verfassung könnte<br />

beim BVerfG geprüft werden235 . In Zusammenhang mit der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs<br />

und ihr zu Grunde liegenden Verfassungsrechtsgütern236<br />

stellt sich deshalb die Frage vergleichbarer Maßstäbe aus gemeinschaftsrechtlicher<br />

Sicht.<br />

Der Grundsatz des § 1 AWG findet sich ebenso im Rahmen der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

nach Art. 1 EG-VO 1969 wieder, auf die sich der EuGH bei<br />

seinen Entscheidungen regelmäßig bezieht und die ein einklagbares Recht<br />

gewährleistet237 . Zu den dahinter stehenden, auch auf EU-Ebene anerkann-<br />

231 Z.B. EuGH, Rs. 67/84, Sideradria/Kommission, Slg. 1985, 3983; EuG, Rs. T-551/93,<br />

Industrias Pesqueras Campos, Slg. 1996, II-247<br />

232 Vgl. EuGH, Rs. O´Dwyer u.a./Rat, Slg. 1995, II-2075, 2097; Rs. C-22/94, Irish Farmers<br />

Association, Slg. 1997, I-1812, 1839<br />

233 Dazu BVerfGE 37, 271, 280 ff – Solange I<br />

234 Grundlegend: BVerfGE 89, 155, 174 ff. - Maastrichturteil<br />

235 Hohmann (FN 89), S. 421<br />

236 Vgl. dazu Teil 1 I.5.b)aa)<br />

237 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3), E 16 Rn 18 f. , s.a. EuGHE - Werner und Leifer<br />

(Fn 27)<br />

70


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

ten individualschützenden Grundrechten gehören die Eigentumsgarantie und<br />

die Berufsfreiheit 238 . <strong>Die</strong> Außenwirtschaftsfreiheit sei vor allem Bestandteil<br />

des Gemeinschaftsgrundrechts der Berufsfreiheit 239 , die das Recht umfasse,<br />

grundsätzlich alle Waren in Drittstaaten zu verbringen und mit drittländischen<br />

Unternehmen Handel zu treiben 240 , was aus Art. 11 der EG-Ausfuhr-<br />

VO hervorgeht, der auf eine tendenzielle Gleichbehandlung von Außenhandel<br />

und Binnenhandel zielt 241 . Auch zu berücksichtigen ist der Grundsatz der<br />

Gleichbehandlung. Hier sollen vergleichbare Sachverhalte nicht ohne sachlichen<br />

Grund unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich<br />

behandelt werden. Einen ausdrücklichen Gleichbehandlungsgrundsatz, wie<br />

er in Art. 3 GG statuiert ist, kennt das Gemeinschaftsrecht nicht. <strong>Die</strong> im EG-<br />

Vertrag verankerten Diskriminierungsverbote sind Ausprägung des Rechtsprinzips.<br />

Es betrifft alle Bereiche des Verwaltungshandelns und führt vor allem<br />

zu einer Selbstbindung der Verwaltung 242 . Auf die einzelnen Grundrechtsgewährleistungen<br />

und ihre Schranken wird bei den Ausführungen zu<br />

gerichtlichen Prüfungsmaßstäben für legislatives und administratives Handeln<br />

eingegangen.<br />

c) Ergebnis<br />

<strong>Die</strong> im Gemeinschaftsrecht geltenden Verfahrensprinzipien und Grundrechtsgewährleistungen<br />

decken sich weitgehend mit den nationalen Vorgaben.<br />

Sie alle müssen bei der gerichtlichen Prüfung legislativer und administrativer<br />

Maßnahmen auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage berücksichtigt<br />

werden.<br />

4. Vollzug des Gemeinschaftsrechts<br />

a) Anwendungsvorrang und Rechtsangleichung<br />

Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts steht in Verantwortung der Verwaltung<br />

der EU oder der Verwaltungen ihrer Mitgliedstaaten. <strong>Die</strong> jeweils zuständigen<br />

Behörden müssen das geltende Recht anwenden243 . Es wird zwischen<br />

238 Zur Reichweite der Außenwirtschaftsfreiheit und einschlägiger EuGH-Rechtspr. Epping<br />

(Fn 28), S. 575 ff.<br />

239 So u.a. Hohmann (FN 89), zu § 1 AWG Teil 3, Rn 6<br />

240 Ehlers/Pünder, in: Grabitz/Hilf (FN 3), E 15, 3. Teil Rn 27<br />

241 Hohmann (FN 89), S. 468<br />

242 Dazu statt aller Schwarze (FN 198), Einf. S. LXX (vgl. FN 216), zur objektiven<br />

Rechtfertigung der Differenzierung EuGH und Rs 250/83-Finsider, Slg. 1985, S. 131<br />

Rn 5<br />

243 Vgl. Teil 1 III.2.<br />

71


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

dem direkten Vollzug durch Behörden der EU selbst oder aber dem indirekten<br />

Vollzug durch die mitgliedstaatliche Behörde unterschieden244 . Der direkte<br />

Vollzug von Gemeinschaftsrecht betrifft die eigene Verwaltungstätigkeit<br />

der Gemeinschaftsorgane. <strong>Die</strong>ser Bereich spielt im Exportkontrollrecht<br />

keine Rolle, weil in diesem Rahmen keine EG-Behörden zuständig sind. Der<br />

indirekte Vollzug von Gemeinschaftsrecht betrifft die Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />

durch die mitgliedstaatliche Verwaltung. <strong>Die</strong>se Vollzugsart<br />

stellt den Regelfall dar und prägt auch das Exportkontrollrecht. Beim indirekten<br />

Vollzug werden der unmittelbar und mittelbar indirekte Vollzug unterschieden,<br />

was von der Rechtsnatur des angewendeten Rechts abhängt.<br />

Unmittelbar ist die Anwendung von Gemeinschaftsrecht, mittelbar dagegen<br />

die Anwendung von nationalen Durchführungsbestimmungen mit Bezug<br />

zum EG-Recht245 .<br />

Für den mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts maßgeblich ist<br />

zunächst das Rangverhältnis zwischen den beiden Rechtskreisen und dem<br />

damit einhergehenden Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale<br />

Recht. Es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Anwendung der<br />

sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Verfahrensgrundsätze auf die<br />

nationalen Regelungen und schließlich auch auf die konkrete Verwaltungsentscheidung<br />

haben. Soweit die nationale Behörde Gemeinschaftsrecht anwendet,<br />

kommt es zu einem Spannungsverhältnis gegenüber dem nationalen<br />

Recht.<br />

Wenn vergleichbare Regelungen auf EG- und nationaler Ebene zum gleichen<br />

Sachverhalt kollidieren, wird dies als direkte Kollision bezeichnet.<br />

Wenn es zu inhaltlichen Widersprüchen nicht unmittelbar vergleichbarer<br />

Regelungen in unterschiedlichen Kompetenzbereichen, also Wertungswidersprüchen,<br />

kommt, spricht man von einer indirekten Kollision246 .<br />

aa) Auflösung der direkten Kollision<br />

<strong>Die</strong> Lösung der direkten Kollision erfolgt nach dem Prinzip vom Anwendungsvorrang.<br />

<strong>Die</strong>ses Prinzip ist zwischenzeitlich unumstritten247 . In der<br />

praktischen Rechtsanwendung führt der Anwendungsvorrang dazu, dass sich<br />

244 Vgl. z.B. Ehlers, DVBl. 991, S. 605, 609 f. , Erichsen/Ehlers, Kommentar zum<br />

VwVfG, § 3 Rn 50 ff.<br />

245 So z.B. Knack (FN 178), vor § 1 Rn 23 f.<br />

246 Vgl. Kadelbach (FN 194), S. 260, Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen<br />

Verwaltungsrecht, S. 447<br />

247 Vgl. nur EuGH Rs 6/64 - Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 ff., Rs 106/77 - Sinnenthal II,<br />

Slg. 1978, 626 ff., BVerfGE 85, 191 ff., Jarass, NJW 1990, S. 2420 ff., s.a. Ehrlich<br />

(FN 62), S. 24, differenzierter: v. Danwitz (FN 197), S. 115, 159<br />

72


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

das Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalem Recht durchsetzt. <strong>Die</strong> Nichtigkeit<br />

der mitgliedstaatlichen Vorschrift hat dies allerdings nicht zur Folge248<br />

. Der Rückgriff auf nationales Recht ist im Ausnahmefall für im Gemeinschaftsrecht<br />

nicht geregelte Bereiche verwehrt, wenn das EG-Recht eine<br />

abschließende Regelung enthält. <strong>Die</strong>ses ist durch Auslegung zu ermitteln.<br />

Für die Reichweite des Vorrangprinzips müssen die Gerichte die Rangfolge<br />

nationaler Verfassungsprinzipien und die eigene Prüfungskompetenz beachten249<br />

. Grundsätzlich gilt zwar die Vorrangwirkung aller gemeinschaftsrechtlichen<br />

Regelungen. Das BVerfG hat wegen der im Zustimmungsgesetz zu<br />

den Gründungsverträgen auf den EuGH erfolgten Übertragung keine eigene<br />

Verwerfungsbefugnis hinsichtlich gemeinschaftsrechtswidriger EG-<br />

Regelungen250 . Dennoch spricht es von einem Kooperationsverhältnis mit<br />

dem EuGH. Das BVerfG will den allgemeinen Grundrechtsschutz nur in den<br />

Fällen prüfen und gewährleisten, in denen EU-Kompetenzen überschritten<br />

oder Grundrechte im Kern nicht mehr gewährleistet würden251 . <strong>Die</strong>se Fälle<br />

seien von dem o.g. Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt. Hier endet<br />

demnach die Vorrangwirkung. Das Vorrangprinzip erstreckt sich also auf<br />

zweierlei, die verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten unter Anwendung<br />

des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts sowie die Verfassungsgewährleistungen.<br />

In beiden Ebenen haben gemeinschaftsrechtliche<br />

Prinzipien Vorrang. <strong>Die</strong>s setzt die unmittelbare Anwendbarkeit des einschlägigen<br />

Gemeinschaftsrechts ohne weiteren Umsetzungsakt voraus. <strong>Die</strong>se<br />

Bindungswirkung führt dazu, dass sich die EG-Regelung im konkreten Einzelfall<br />

gegenüber entgegenstehenden nationalen Vorschriften durchsetzt. Es<br />

handelt sich um eine unmittelbare Anwendung gem. Art. 249 EG-Dual-use-<br />

VO. Unmittelbar anwendbar sind aber nicht nur primärrechtliche Vorschriften<br />

des EG-Vertrages, sondern auch daraus abgeleitete Rechtsgrundsätze.<br />

Der Grundsatz der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG ist in dem Fall<br />

deaktiviert252 . <strong>Die</strong> Gemeinschaftsregelungen können also gegenüber dem nationalen<br />

Recht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.<br />

248 So das BVerfG in BVerfGE 75, 223 ff.; zum Anwendungsvorrang in Abgrenzung der<br />

Nichtigkeit: Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 15 III ; BVerfGE 75, 223 ff.; Zuleeg, Das<br />

Recht der Europäischen Gemeinschaft im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 136 ff.;<br />

249 Blanke (FN 246), S. 448<br />

250 Kadelbach (FN 194), 214, 226<br />

251 Vgl. BVerfGE 89, S.156, LS7, 175 - Maastricht (wie FN 231)<br />

252 Fengler (FN 192), S.7<br />

73


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

bb) Auflösung der indirekten Kollision<br />

Der Fall der indirekten Kollision ist dann gegeben, wenn eine Norm des nationalen<br />

Verwaltungsrechts der Wirkung einer gemeinschaftsrechtlichen<br />

Vorschrift in anderem Regelungszusammenhang entgegensteht253 . Gleiches<br />

gilt für einen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts.<br />

Zur Frage der Lösung eines solchen Kollisionsfalls ist die EU-<br />

Rechtsprechung, insbesondere die Milchkontor-Entscheidung des EuGH<br />

von Bedeutung. Zwar unterscheidet der EuGH nicht ausdrücklich zwischen<br />

direkter und indirekter Kollision. In Bestätigung seiner ständigen Rechtsprechung<br />

zur Legitimation eines Gemeinschaftsverwaltungsrechts stellt er den<br />

Grundsatz auf, dass die Mitgliedstaaten nicht die Verwirklichung des europäischen<br />

Rechts praktisch unmöglich machen oder diese wesentlich erschweren<br />

dürften254 . Zudem müsse auch das Interesse der Gemeinschaft in<br />

vollem Umfang berücksichtigt werden255 . Beide Aussagen werden durch das<br />

Effektivitätsprinzip und die Gemeinschaftstreuepflicht nach Art. 10 EG verkörpert.<br />

Hinzu kommt das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG, welches<br />

durch das Effektivitätsprinzip abgedeckt ist, dass dem Vertragsziel der<br />

Schaffung gleichwertiger Wettbewerbsbedingungen dient. Das nationale<br />

Verfahrensrecht ist somit einer doppelten Schranke unterworfen256 . Der deshalb<br />

als Doppelschranken-Rechtsprechung bekannte Maßstab war vor allem<br />

im Zusammenhang mit der Rückforderung von gemeinschaftswidrig bewilligten<br />

Beihilfen entwickelt worden257 . In diesen Fällen kam es mit Blick auf<br />

die Rücknahme bereits gewährter Beihilfen zu einer indirekten Kollision<br />

zwischen dem Effektivitätsprinzip und den nationalen Verfahrensnormen zur<br />

Ausführung des Normbefehls, die ergänzend zum Gemeinschaftsrecht herangezogen<br />

werden sollten258 . In der Praxis macht sich der gemeinschaftsrechtliche<br />

Einfluss auf die nationalen Verfahrensordnungen hin zu bestimmten<br />

Konvergenzen nicht nur bei der Rücknahme von Verwaltungsakten, sondern<br />

vor allem auch bei den Vorschriften zu Begründungserfordernissen<br />

bemerkbar.<br />

253 Vgl. Kadelbach und Blanke unter FN 246<br />

254 Grundlegend EuGH , Rs 265/78, Slg. 1980, S. 617, 629 ff.; EuGH verb. Rs. 205 -<br />

215/82 - Milchkontor, Slg. 1983, 2633 ff., dazu mit sehr ausführlicher Darstellung:<br />

Ehrlich (Fn 62), S. 25 ff.<br />

255 Vgl. EuGH Rs. 94/87, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 175, 192<br />

256 Knack (FN 178), vor § 1 Rn 24, 29<br />

257 Zur Herleitung: v. Danwitz (FN 197), sowie zu den Rechtsprechungsgründen; im<br />

Einzelnen: Ehrlich (FN 62) , S. 35 und Fengler (FN 192), S. 127 ff.<br />

258 Zur Gesamtabwägung der Interessen durch den EuGH und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:<br />

Ehrlich (FN 62), S. 30<br />

74


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

<strong>Die</strong> Konfliktbereinigung bei indirekter Kollision erfolgt durch eine Angleichung<br />

der nationalen Vorschriften mittels Auslegung im Lichte des Gemeinschaftsrechts.<br />

<strong>Die</strong> Vollzugsautonomie der Mitgliedsaaten ist insoweit begrenzt.<br />

Hinter der Schrankenfunktion des EG-Rechts stehen die Gedanken<br />

der Gleichheit vor dem Recht, der Rechtssicherheit und der Zweckgerichtetheit<br />

von Gemeinschaftsrecht259 . <strong>Die</strong>ser Angleichungsmechanismus dient<br />

auch dem Ziel vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt. Es<br />

lässt sich bei Vergleich und Abwägung europäischer und nationaler Grundsätze<br />

prinzipiell feststellen, dass eine Betrachtung des Verwaltungsbezuges<br />

als Ganzes erforderlich ist260 . <strong>Die</strong> Rechtsangleichung erfolgt mittels Abwägung<br />

zwischen den nationalen Regelungen und den Gemeinschaftsinteressen.<br />

Neben dem Effektivitätsprinzip sind die genannten gemeinschaftsrechtliche<br />

Grundsätze wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit<br />

und Vertrauensschutz, aber auch die Grundrechte in die Abwägung einzustellen.<br />

Unantastbar durch das Gemeinschaftsrecht bleiben die durch Art. 79<br />

Abs. 3 GG geschützten Verfassungswerte. Zwischen den gemeinschaftsrechtlichen<br />

und nationalen Rechtsgrundsätzen soll im Rahmen der Abwägung<br />

ein Ausgleich erzielt werden, wobei nach den Grundsätzen der praktischen<br />

Konkordanz jedem Prinzip möglichst weitgehend Geltung zu verschaffen<br />

ist. <strong>Die</strong> Grenze bildet wiederum die Ewigkeitsgarantie nach Art. 79<br />

Abs. 3 GG261 . Hierbei sind das Spannungsfeld von den Zielen der Verfahrensvereinheitlichung,<br />

den nationalen Prägungen im Verhältnis von Verwaltungsfunktion<br />

sowie Parlaments- und Rechtsprechungsfunktion und bereichsspezifische<br />

Sonderregelungen zu berücksichtigen. Auch ein Regulierungsvakuum<br />

spricht für gesetzgeberisch gewollte Handlungs- und Verfahrensspielräume,<br />

was mit Blick auf den schlanken Staat in der Wirtschaftsverwaltung<br />

vieler Mitgliedstaaten eine Rolle spielt. Dem steht regelmäßig<br />

eine höhere Kontrollbefugnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber<br />

(Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes) 262 .<br />

Zusammenfassend lassen sich für die Auflösung indirekter Kollisionen in<br />

der praktischen Rechtsanwendung folgende Aussagen treffen263 :<br />

259 Kadelbach (FN 194), S. 115 f.<br />

260 Hierzu Schwarze (FN 198),S. 805 ff.<br />

261 Zu Literaturmeinungen und eingehender dogmatischer Betrachtung: Ehrlich (FN 62),<br />

S. 30 ff.<br />

262 Koch (FN 101), S. 546 und 547<br />

263 Ehrlich (FN 62), S. 53<br />

75


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

(1) Ist eine gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschrift vorhanden, genießt<br />

diese Anwendungsvorrang, wenn sie innerhalb von der EG zustehenden<br />

Gesetzgebungskompetenzen erlassen wurde.<br />

(2) Danach gehen sämtliche Normen des Gemeinschaftsrechts, sofern sie<br />

unmittelbar anwendbar sind, mitgliedstaatlichen Vorschriften vor.<br />

(3) Wenn und soweit das Gemeinschaftsrecht keine Verfahrensregelung<br />

enthält, kommt entsprechend der Vermutung zu Gunsten der nationalen<br />

Verfahrensautonomie mitgliedstaatliches Verwaltungsverfahrensrecht<br />

zur Anwendung.<br />

cc) Ergebnis<br />

Es bleibt festzustellen, dass der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten<br />

durch das Vorrangprinzip Grenzen gesetzt sind. Der Umgang<br />

mit indirekten Kollisionsfällen, wie er z.B. in der gesicherten Rechtsprechung<br />

zur Korrektur fehlerhaften mitgliedstaatlichen Vollzugs gemeinschaftsrechtlicher<br />

Vorschriften aufgezeigt wird264 , muss vor allem das gemeinschaftliche<br />

Effektivitätsprinzip sowie das Diskriminierungsverbot berücksichtigen.<br />

<strong>Die</strong> unter Anwendung mitgliedstaatlichen Verwaltungsverfahrensrechts<br />

gefundenen Ergebnisse sind also im Einzelfall daraufhin zu überprüfen,<br />

ob sie den gemeinschaftsrechtlich intendierten Wertentscheidungen<br />

oder Rechtsgrundsätzen entgegenstehen. Soweit dies nicht der Fall ist,<br />

kommt mitgliedstaatliches Verwaltungsverfahrensrecht ohne Einflussnahme<br />

von Gemeinschaftsrecht zur Anwendung. Soweit aber im Einzelfall eine indirekte<br />

Kollision besteht, ist die Lösung durch eine Abwägung zu suchen.<br />

Auf die entsprechenden verwaltungsrechtlichen Wirkungen soll am Beispiel<br />

der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>serteilung näher eingegangen werden.<br />

b) Anwendungsvorrang und Exportkontrolle<br />

Exportkontrollen werden durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen vollzogen.<br />

In Deutschland ist das BAFA zuständig. Das gilt für das nationale<br />

Exportkontrollrecht sowie für die Kontrollen nach der Dual-use-VO265 . <strong>Die</strong><br />

Dual-use-VO ist nach Art. 249 EG unmittelbar anwendbar. Es handelt sich<br />

um eine Form des unmittelbar indirekten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht,<br />

es kommt daher zur direkten Kollision der Regelungsbereiche. Bezogen auf<br />

das Exportkontrollrecht genießt die Dual-use-VO daher gegenüber dem<br />

AWG bzw. der AWV Anwendungsvorrang, soweit ihr Anwendungsbereich<br />

reicht.<br />

264 Dazu ausführlich Blanke (FN 246), S. 450 ff.<br />

265 Hierzu Weith/Wegner/Ehrlich, (FN 9), F. Rn 5<br />

76


III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />

Nach Art. 1 Dual-use-VO werden nur solche Güter erfasst, die sowohl zivilen<br />

als auch militärischen Verwendungen zugeführt werden können, also<br />

Dual-use-Güter. Nur im Rahmen dieser Genehmigungstatbestände wird ein<br />

Gemeinschaftssystem festgelegt. Nicht dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts<br />

unterfallen Waffen, Munition und sonstige Rüstungsgüter<br />

sowie die Erbringung von <strong>Die</strong>nstleistungen und die persönliche Weitergabe<br />

von Technologie im Rahmen technischer Unterstützung, was klarstellend in<br />

Art. 3 Abs. 3 Dual-use-VO erwähnt wird. <strong>Die</strong>se Transfers unterliegen der<br />

nationalen Exportkontrolle. Gleiches gilt für die Durchfuhr von Gütern<br />

durch das Gebiet der Gemeinschaft nach Art. 3 Abs. 4 Dual-use-VO.<br />

Aus <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Sicht sind alle im Bereich der Dual-use-VO<br />

getroffenen Regelungen sowie übergeordnete gemeinschaftsverwaltungsrechtliche<br />

Prinzipien von der Genehmigungsbehörde vorrangig zu beachten.<br />

<strong>Die</strong>s geschieht ohne Rücksicht auf entgegenstehende nationale Regelungen.<br />

<strong>Die</strong> Anwendung des nationalen Rechts ist zunächst ausgeschlossen. <strong>Die</strong>s gilt<br />

nicht nur für materiell-rechtliche Regelungen, sondern auch für Vorgaben<br />

zum Verwaltungsverfahren. Zwar wurde in der Exportkontrollliteratur häufig<br />

von der Anwendbarkeit des nationalen Verfahrensrechts auch im Rahmen<br />

der Dual-use-VO ausgegangen266 . <strong>Die</strong>se These widerspricht aber dem Vorrangprinzip<br />

beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht und kann deshalb nicht<br />

aufrechterhalten werden267 . Wegen unterschiedlicher Regelungsbereiche im<br />

materiellen Recht der Exportkontrolle besteht eine Zweigleisigkeit des<br />

Rechts. <strong>Die</strong> Vorgaben der Dual-use-VO sowie die nationalen Vorschriften<br />

des AWG stehen nebeneinander. Bezogen auf die Erteilung oder Versagung<br />

einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> muss die Entscheidung entweder nach Art. 9<br />

Abs. 1 Dual-use-VO erfolgen oder aber gem. § 3 Abs. 1 AWG. An dieser<br />

Stelle nochmals der Hinweis, dass § 3 Abs. 1 AWG nicht nur als Grundlage<br />

für konstitutiv wirkende Genehmigungspflichten bezüglich der Rüstungsgüter,<br />

sondern auch für die rein nationalen Genehmigungsvorbehalte bei Dualuse-Gütern<br />

gilt.<br />

<strong>Die</strong> verfahrensrechtlichen Erwägungen müssen damit nach gemeinschaftsverwaltungsrechtlichen<br />

Grundsätzen oder ausschließlich nach nationalen<br />

Gesichtspunkten erfolgen. Das Vorrangprinzip kann aber nur soweit greifen,<br />

266 Reuter, NJW 95, 2190, 2191; Reuter (FN 4) S. 291; Karpenstein/Sack, in: Hohmann/John<br />

(FN 26) Teil 2, Einl.,Rn 26 und Art. 8 Rn 3<br />

267 Vgl. Wolffgang, DVBl.1996, 277, 284, bestätigt durch Ehrlich, mit sehr ausführlicher<br />

Betrachtung (Fn 62) S. 78 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3) Bd. IV, E 16, Art.<br />

1, Rn 20, 23; Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7) Art. 6 Dual-use-VO, Rn 13<br />

ff.<br />

77


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

wie die Dual-use-VO zum Verwaltungsverfahren selbst Regelungen trifft.<br />

Allein in diesem Fall kann das Prinzip vom Anwendungsvorrang dem nationalen<br />

Verwaltungsrecht vorgehen268 .<br />

Für den Fall, dass im Gemeinschaftsrecht eine bestimmte Verfahrensvorschrift<br />

nicht vorgesehen ist, stellt sich die Frage, in welchem Umfang das<br />

nationale Verwaltungsverfahrensrecht beim Vollzug gemeinschaftsrechtlicher<br />

Vorschriften dennoch zur Anwendung kommen kann. <strong>Die</strong> Dual-use-VO<br />

enthält nur vereinzelt verfahrensrechtliche Vorschriften. <strong>Die</strong>s gilt z.B. für<br />

spezifische Regelungen zu Erlass, Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten<br />

sowie Nebenbestimmungen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

und die Ausübung verwaltungsrechtlichen Ermessens269 . Ein zusätzlicher<br />

Rückgriff auf die nationalen Vorschriften ist deshalb erforderlich und<br />

möglich. Das für alle Genehmigungsverfahren zuständige BAFA muss also<br />

im Rahmen des Vollzugs europäischer Vorgaben auch das Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

berücksichtigen.<br />

Bezogen auf die Anwendung des nationalen allgemeinen Verfahrensrechts<br />

erfolgt ein mittelbarer Vollzug. Damit kann es im Bereich des Verwaltungsverfahrensrechts<br />

kaum zu so genannten direkten Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht<br />

und nationalem Recht kommen. Es kann insoweit aber<br />

sehr wohl zur so genannten indirekten Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht<br />

und nationalem Recht kommen. Dabei handelt es sich genau genommen<br />

nicht um eine echte Kollision, so dass auch das Gebot des Anwendungsvorrangs<br />

zunächst versagen muss. Allerdings werden gemeinschaftsrechtliche<br />

Prinzipien von ihnen entgegenstehenden nationalen Vorschriften<br />

überlagert und damit faktisch an ihrer Geltung gehindert270 . <strong>Die</strong>se wurde<br />

oben mit dem Prinzip der Angleichung beschrieben.<br />

Es stellt sich die Frage, wie mit Fällen zu verfahren ist, bei denen die beabsichtigte<br />

Ausfuhr dem nationalen Recht unterliegt, das auf der Grundlage einer<br />

gemeinschaftsrechtlichen Öffnungsklausel erlassen wurde. Wenngleich<br />

hier das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten einen Handlungsrahmen<br />

eröffnet, ergeben sich die Regelungsanordnungen ausschließlich aus nationalen<br />

Genehmigungstatbeständen. So ist auch das nationale Verwaltungsver-<br />

268 Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 4 Rn 55<br />

269 Dazu Simonsen, in:Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 1, 122, Art.6 Dual-use-VO, Rn<br />

15 sowie Haddex, Bd.1, Teil 6 Rn 313<br />

270 Fengler (FN 192), S. 127<br />

78


IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1<br />

fahrensrecht anwendbar 271 . Das Gemeinschaftsrecht enthält lediglich die<br />

Kompetenzzuweisung, die dann vom nationalen Normgeber ausgefüllt wird.<br />

Jede andere Beurteilung führte dazu, dass dem nationalen Gesetzgeber die<br />

Befugnis verliehen wird, Gemeinschaftsrecht zu setzen. Im Übrigen besteht<br />

bei rein nationalen Regelungen nicht der Bedarf einer EU-weit einheitlichen<br />

Handhabung. Daraus folgt, dass nur die rein formale Betrachtung nach der<br />

Herkunft des Normgebers der anzuwendenden Vorschrift eine sachgerechte<br />

Zuordnung erlaubt. <strong>Die</strong> Rechtsauffassung, dass nationales Verfahrensrecht<br />

im Bereich der Dual-use-VO noch uneingeschränkt anwendbar ist, ist damit<br />

widerlegt 272 . <strong>Die</strong> Europäisierung des Verwaltungsrechts führe in der Konsequenz<br />

zu einer Spaltung des öffentlichen Rechts in einen in Annäherung an<br />

das Gemeinschaftsrecht mutierten und von derartigen Einflüssen freien<br />

Teil 273 .<br />

c) Ergebnis<br />

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Anwendung der Dual-use-<br />

VO Vorrangwirkung gegenüber der nationalen Dual-use-Güter-Kontrolle<br />

hat. Das Gemeinschaftsrecht und seine Auswirkung speziell auf das nationale<br />

Verfahrensrecht müssen deshalb berücksichtigt werden. Es kommt zu einer<br />

Zweigleisigkeit des Rechts. <strong>Die</strong> Verfahrensregelungen sind typisch für<br />

die Fälle indirekter Kollisionen, also diejenigen Regelungsmaterien, bei denen<br />

im Gemeinschaftsrecht keine hinreichenden Regelungen zum Verfahrensrecht,<br />

aber vorrangig wirkende übergeordnete Wertungen vorhanden<br />

sind. Insoweit müssen nationale Vorschriften zwar ergänzend, aber wegen<br />

der Vorrangwirkung im Lichte des Gemeinschaftsrechts angewendet werden.<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1<br />

<strong>Die</strong> Rechtsgrundlagen für Exportkontrollen finden sich im nationalen wie<br />

gemeinschaftsrechtlichen Regelungskreis. Das nationale Verwaltungsrecht<br />

wird durch das Gemeinschaftsverwaltungsrecht und damit einhergehende<br />

Prinzipien überlagert. Das Prinzip von Anwendungsvorrang führt bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Verfahren auf Grundlage der Dual-use-VO zu einer<br />

271 Karpenstein/Hohmann, in Hohmann/John (FN 26), Teil 2, Art. 8, Rn 3; a.A.<br />

Wolffgang, DVBl. 1996, S. 277, 284, der allenfalls eine Rückgriff auf nationale Vorschriften<br />

sieht; s.a.Lux, in: Dorsch, Kommentar Zollrecht, F II 14 Art. 8 Anm. 1<br />

272 Ehrlich (FN 62), S.141 (vgl. auch FN 266)<br />

273 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 79 unter Hinweis auf Kadelbach<br />

(FN 194), S. 14<br />

79


Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />

nachgeordneten Anwendbarkeit des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts.<br />

<strong>Die</strong>s gilt aber nur, soweit im Gemeinschaftsrecht noch keine Regelung<br />

getroffen wurde. Im Übrigen muss vor allem wegen des gemeinschaftsrechtlichen<br />

Effektivitätsgebotes und des Diskriminierungsverbotes eine Anwendung<br />

der nationalen Vorschriften im Lichte gemeinschaftsrechtlicher<br />

Prinzipien erfolgen. Dabei sind bei nationalen und gemeinschaftsrechtlichen<br />

Tatbeständen wesentliche Verfassungsgrundsätze, insbesondere deren Ausflüsse<br />

des Rechtsstaatsprinzips und die Grundrechte zu berücksichtigen.<br />

Für das Verwaltungsverfahren bei der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungserteilung<br />

ist wegen der (wenn auch lückenhaften) Verfahrensvorschriften<br />

in der Dual-use-VO eine praktische Relevanz des Anwendungsvorrangs<br />

gemeinschaftsverwaltungsrechtlicher Grundsätze gegeben. <strong>Die</strong> Zuordnung<br />

des im Einzelfall geltenden Verwaltungsverfahrensrechts erfolgt nach dem<br />

jeweils eröffneten Rechtskreis. Ob es dabei zu inhaltlich relevanten Divergenzen<br />

kommt, ist Gegenstand des folgenden Untersuchungsabschnitts.<br />

80


I. Standortbestimmung<br />

Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung<br />

und gerichtliche Überprüfung<br />

Nach dem sich die Untersuchung zunächst der Frage gewidmet hat, welche<br />

gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben bzw. Verfahrensvorschriften auf EU-<br />

Ebene für die <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungsverfahren von Relevanz<br />

sind und wie sich diese auf die Anwendung nationaler Verfahrensvorschriften<br />

auswirken, sollen die damit verbundenen Folgen für den Umgang<br />

mit Entscheidungsspielräumen der Verwaltung herausgearbeitet werden.<br />

I. Standortbestimmung<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungsentscheidung muss sich nach den gesetzlichen Genehmigungskriterien<br />

richten. In der Dual-use-VO bzw. im AWG vorgesehene Kriterien,<br />

sonstige entscheidungsleitende Erwägungen und übergeordnete Verfassungsprinzipien<br />

sind Maßstab für die konkrete Entscheidung im Einzelfall.<br />

<strong>Die</strong> Reichweite der gerichtlichen Kontrolle hängt vom Entscheidungsspielraum<br />

der Verwaltung ab. Dabei sind auch die Grundrechtspositionen<br />

der vom Genehmigungsverfahren Betroffenen zu berücksichtigen.<br />

Es geht hier, wie schon zuvor deutlich wurde, um möglicherweise unterschiedliche<br />

Vorgaben aus dem gemeinschaftsrechtlichen und nationalen<br />

Rechtskreis. Der dogmatische Hintergrund der jeweils einschlägigen Verfahrensgrundsätze<br />

274 und die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung sind zu<br />

berücksichtigen. Anhand des exportkontrollspezifischen Vergleichs der Ausübung<br />

verwaltungsrechtlichen Ermessens nach nationalen sowie gemeinschaftsrechtlichen<br />

Grundsätzen könnte sich schließlich zeigen, dass die<br />

Zweigleisigkeit des Rechts zu unterschiedlichen Kontrollmaßstäben der Gerichte<br />

führen kann. Zunächst stellt sich aber die grundsätzliche Frage, welcher<br />

Normcharakter der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung zuzubilligen<br />

ist. <strong>Die</strong> Abgrenzung von Ermessens- oder Anspruchsnorm mag den deutschen<br />

Verwaltungsjuristen präsent sein. Rechtstradition und Systemansätze<br />

des Gemeinschaftsrechts unterscheiden sich vom nationalen Recht allerdings<br />

erheblich. Ob sich in beiden Rechtskreisen geltende Prinzipien zur gerichtlichen<br />

Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen miteinander vereinbaren<br />

lassen, wird anhand der konkreten Betrachtung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände<br />

erörtert. In der praktischen Rechtsanwendung der Export-<br />

274 Zur Entwicklung und dem verfassungsrechtlichen Kontext des VwVfG vgl. Teil 1<br />

III.1.b)<br />

81


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

kontrollen führen strukturelle Unterschiede der Genehmigungspflichten<br />

nach AWG und Dual-use-VO unter Umständen zu Konsequenzen für die gerichtliche<br />

Kontrolle der Genehmigungsentscheidungen. Hierbei ist auch das<br />

Prognoseelement der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> wichtig.<br />

Zunächst werden Ermessensfehlerlehre und nationale Grundsätze zu Beurteilungsspielräumen<br />

der Gemeinschaftsrechtsentwicklung gegenübergestellt.<br />

II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der<br />

Verwaltung<br />

Bei der Betrachtung der Reichweite von Verwaltungsautonomie geht es regelmäßig<br />

um zwei Beziehungen, einmal um das Verhältnis von Legislative<br />

und Verwaltung, zum anderen um das von Verwaltung und Judikative. <strong>Die</strong><br />

Entscheidungsfreiheit der Verwaltung ist von der des Gesetzgebers abzugrenzen.<br />

<strong>Die</strong> Verfassung gibt dem Gesetzgeber deutlich weniger Vorgaben<br />

als der Verwaltung 275 . Im folgenden Abschnitt geht es allein um Fragen der<br />

Reichweite von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung.<br />

1. Strukturelle Umsetzung der Verwaltungsautonomie<br />

Im strukturellen Ansatz verwaltungsrechtlicher Entscheidungsautonomie<br />

wird nach der deutschen Rechtstradition zwischen dem Umgang mit unbestimmten<br />

Rechtsbegriffen und dem Verwaltungsermessen unterschieden.<br />

Beide geben der Verwaltung ein gewisses Maß an eigener Gestaltungsfreiheit<br />

und bestimmen den verfassungsrechtlich zulässigen Maßstab der Gewaltenteilung<br />

zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. <strong>Die</strong> damit<br />

einhergehende Lockerung des Gesetzesvorbehalts sorgt für eine sinnvolle<br />

Funktionsverschränkung im Sinne der optimalen Aufgabenverteilung 276 . Ein<br />

Wertungsspielraum der Verwaltung ist für die Anerkennung eines gesetzlich<br />

vorgesehenen Sachverhalts im konkreten Einzelfall denkbar, wenn der Gesetzgeber<br />

unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet. Unter Anwendung der<br />

anerkannten Auslegungsmethoden ist die Verwaltung im Rahmen ihrer Beurteilungskompetenz<br />

zum Ausfüllen dieses Rechtsbegriffs befugt. Ein anderer<br />

Fall liegt vor, wenn sie trotz Erfüllung des Tatbestandes hinsichtlich des<br />

ob und des wie der Rechtsfolge zwischen verschiedenen Verhaltensweisen<br />

wählen soll. <strong>Die</strong>ser Handlungsbereich wird als Verwaltungsermessen qualifiziert.<br />

Welche Form des Entscheidungsspielraums gegeben ist, muss durch<br />

275 Schwarze (FN 198), S. 282<br />

276 Wolff (FN 174), S. 98, Rn 46<br />

82


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

Auslegung und Entstehung des gesetzgeberischen Willens ermittelt werden<br />

277 .<br />

Strittig ist, in welchem Ausmaß die Verwaltung bei der Ausfüllung und<br />

Konkretisierung gesetzlicher Vorgaben der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle<br />

unterworfen ist. Der dabei verwendete Begriff Kontrolldichte bezeichnet<br />

Umfang und Intensität der gerichtlichen Nachprüfung der verwaltungsbehördlichen<br />

Rechtsanwendung nach Maßgabe des materiellen Rechts 278 .<br />

<strong>Die</strong> Grenzziehung für die Kontrolle obliege der Legislative. Sie habe Leitungs-<br />

und Lenkungsfunktion und müsse Inhalt, Zweck und Ausmaß der Bestimmung<br />

festlegen. Nach der Wesentlichkeitstheorie gelte dies insbesondere<br />

bei grundrechtsrelevanten Eingriffsermächtigungen 279 . Das Behördenhandeln<br />

müsse deshalb trotz Ermessen für den Richter messbar sein, er solle<br />

nicht erst die Grundlage des Messens finden müssen 280 . <strong>Die</strong> angemessene<br />

Balance zwischen der Verantwortung von Exekutive und Legislative ist bis<br />

heute strittig und gehört zu den schwierigsten Grundsatzfragen des Verwaltungsrechts<br />

281 . Sie muss anhand der dahinter stehenden verfassungsrechtlichen<br />

Prinzipien erörtert werden.<br />

2. Verfassungsvorgaben und Verwaltungsautonomie<br />

a) Verfassungsvorgaben und Kontrolldichte<br />

<strong>Die</strong> Reichweite der Verwaltungskompetenzen wird durch Verfassungsvorgaben<br />

festgelegt. <strong>Die</strong> Reichweite der Gesetzesbindung von Verwaltung und<br />

Rechtsprechung gem. Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt sich nach dem Gesetzesvorbehalt<br />

gem. Art. 20 Abs. 1 GG sowie dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit<br />

nach Art. 20 Abs. 3 GG. Darüber hinaus müssen die aus dem Gewaltenteilungs-<br />

und Demokratieprinzip herausgebildeten Prinzipien des Parlamentsvorbehalts<br />

sowie der Bestimmtheitsgrundsatz beachtet werden. Das<br />

Verhalten bestimmter Rechtssubjekte wird regelmäßig durch eine abstraktgenerelle<br />

gesetzliche Regelung bestimmt, unter die sich einzelne Sachverhaltskonstellationen<br />

fassen lassen. <strong>Die</strong> Verwaltung vollzieht die bestehenden<br />

Gesetze als Recht anwendendes Organ. Sie ist nach Feststellung des Sachverhalts<br />

und seiner Einordnung unter den betreffenden Tatbestand grund-<br />

277 Schwarze (FN 198), S. 257<br />

278 Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617, 623 ff.<br />

279 Vgl. ständ. Rspr. am Beispiel BVerfGE 58, 257, 268<br />

280 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 226; BVerwGE 39,355 f.<br />

281 So H.J.Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht, § 31 Gesetzgebundenheit und Verwaltungsspielräume<br />

83


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

sätzlich an die sich daraus ergebenden, konkreten Vorgaben zur Rechtsfolge<br />

gebunden. <strong>Die</strong> Verwaltung erfüllt damit ausschließlich den Gesetzesauftrag<br />

und unterliegt grundsätzlich einer umfassenden richterlichen Kontrolle. Sie<br />

ist allenfalls zur Rechtsauslegung und -anwendung anhand der klassischen<br />

Auslegungsmethoden befugt. Dazu gehören die Heranziehung von Wortlaut<br />

und Normzweck sowie historische Erwägungen 282 . <strong>Die</strong>se Maßstäbe überschneiden<br />

sich zum Teil, definieren aber die Grenzen der Interpretationsmöglichkeiten<br />

der Verwaltung bei der Rechtsanwendung. Hinzu kommt als<br />

Folge der Normenhierarchie die verfassungskonforme Auslegung, die Einbeziehung<br />

übergeordneter Rechtsprinzipien inklusive der individualschützenden<br />

Grundrechtsgarantien sowie die gemeinschaftskonforme Auslegung.<br />

<strong>Die</strong> genannten Rechtsprinzipien haben eine Doppelfunktion. Sie sind nicht<br />

nur Handlungsmaßstab für die Verwaltung, sondern setzen auch den Kontrollmaßstab<br />

für die Gerichte. Im Rahmen der verfassungsmäßig gewährten<br />

Rechtsweggarantie gem. Art. 19 Abs. 4 und Art. 97 Abs. 1 GG hat grundsätzlich<br />

eine vollständige rechtliche Überprüfung exekutiven Handelns<br />

durch die Judikative zu erfolgen. <strong>Die</strong>se Prinzipien sprechen deshalb zunächst<br />

gegen Entscheidungsspielräume der Verwaltung 283 .<br />

b) Struktur der Verwaltungsautonomie und Genehmigungsanspruch<br />

<strong>Die</strong> Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge kann sehr unterschiedlich<br />

strukturiert sein. Neben strikten Verbindungen, der so genannten gebundenen<br />

Verwaltung, soll der Gesetzgeber abweichend von o.g. Prinzipien der<br />

Verwaltung im Rahmen der Entscheidungsfindung in Ausnahmefällen eine<br />

eigene Einschätzungs- und Verantwortungskompetenz einräumen können.<br />

Hintergrund sind zunehmend komplexere Lebenssachverhalte. <strong>Die</strong>ser Vielgestaltigkeit<br />

wird der Staat oft nur unter Berücksichtigung der Umstände des<br />

Einzelfalls gerecht. Einzelfallgerechtigkeit kann der Gesetzgeber selbst aber<br />

nicht erreichen 284 . Der Bedarf einer selbstständigen Beurteilung gesetzlicher<br />

Vorgaben durch die Verwaltung steigt schon aus Gründen der dort vorhandenen<br />

Fachexpertise 285 . Gesetze werden in Abhängigkeit von der Rege-<br />

282 Grundlegend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 298 ff., zur verfassungskonformen<br />

Auslegung vgl. Dolzer/ Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum GG,<br />

zu Art. 20 GG, S. 11; vgl. dazu auch Wolffgang, in: Wolffgang (FN 54), S. 38<br />

283 Dazu ausführlich: Wolff (FN 174), S. 93, Rn 32, s.a. H.A.Wolff/Decker, Kommentar<br />

zur VwGO und zum VwVfG, § 114 VwGO Rn 60, vgl. nur BVerfGE 15, 275, 282<br />

284 Stüwe, in: Wolffgang (FN 54), S. 424<br />

285 Simonsen, in: Ehlers/Wolfgang/Lechleitner (FN 128) S. 77, unter Verweis auf Müller/Christensen,<br />

Juristische Methodik, Rz. 470; BVerfGE in NJW 1991, 2001 sowie<br />

84


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

lungsmaterie unterschiedlich konkret formuliert oder ausgestaltet. <strong>Die</strong> vollziehende<br />

Behörde ist dann nicht zwingend zu einem bestimmten Handeln<br />

verpflichtet 286 . Ob und in welchem Maße Gesetze der Verwaltung einen Entscheidungs-<br />

und Gestaltungsspielraum einräumen und damit auch dem gerichtlichen<br />

Rechtsschutz einen nur beschränkten Umfang zubilligen dürfen,<br />

ist von einer zumindest angemessenen Berücksichtigung der eingangs geschilderten<br />

rechtsstaatlichen Grundsätze abhängig 287 .<br />

Bei der Bestimmung der Durchsetzbarkeit der Rechtspositionen des Begünstigten<br />

im Rahmen staatlicher Genehmigungsverfahren, also eines Genehmigungsanspruchs,<br />

müssen folgende Erwägungen berücksichtigt werden. <strong>Die</strong><br />

Grundrechte selbst vermitteln grundsätzlich keinen Anspruch auf bestimmte<br />

Verwaltungsentscheidungen. Es ist dem Gesetzgeber überlassen, in welcher<br />

Form er die Reichweite der Grundrechte, insbesondere auch in Beachtung<br />

gegenläufiger Interessen und der Grundrechtsschranken, in einfachgesetzlichen<br />

Regelungen implementieren will. Gesetzesvorbehalt und Grundrechtsgewährleistung<br />

legen einen Anspruch bzw. die Qualität einer gebundenen<br />

Entscheidung zwar nahe. Das ebenso verfassungsrechtlich legitime Ziel eines<br />

Ausgleichs der Vielzahl privater und öffentlicher Belange ist aber wegen<br />

der gegebenen Entscheidungsnähe und unter Umständen größeren Expertise<br />

manchmal nur durch die Verwaltung und ihren Entscheidungsspielraum umsetzbar.<br />

Daher sind Genehmigungsvorbehalte ausnahmsweise als planerische<br />

oder Ermessensentscheidung zulässig 288 . Soweit ein bestimmtes Handeln<br />

einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen wird, also<br />

mit Genehmigungspflichten belegt wird, kann der Gesetzgeber dies aber<br />

auch ohne einen administrativen Spielraum ausgestalten 289 .<br />

c) Rechtsprechung des BVerfG<br />

Das BVerfG hat in zahlreichen Entscheidungen eine Systematik entwickelt,<br />

wann von einem verfassungsrechtlich legitimierten Entscheidungsspielraum<br />

der Verwaltung ausgegangen werden kann. Grundlegend dafür war u.a. die<br />

Devisenbewirtschaftungsentscheidung aus dem Jahre 1959 290 . Aus dem<br />

Rechtsstaatsprinzip könne abgeleitet werden, dass der Einzelne wissen<br />

Badura, Gestaltungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, in: Püttner,<br />

Festsschrift für Otto Bachoff, S. 169 ff.<br />

286 Mit Beispielen dazu Wolff (FN 174), S. 140<br />

287 Simonsen, in: Ehlers/Wolfgang/Lechleitner (FN 128), S. 77 unter Verweis auf Badura<br />

(FN 285), S. 169 ff.<br />

288 Calliess , Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 380<br />

289 V. Bogdandy (FN 4), S. 68<br />

290 Vgl. BVerfGE 9, 137, 149<br />

85


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

muss, inwieweit die Verwaltung in seinen Rechtskreis eingreifen darf. Ein<br />

genaues Umreißen des Tatbestandes sei aber nicht immer möglich. Damit<br />

werden im Grundsatz die Option eines Entschließungsermessens und die<br />

Nutzung unbestimmter Rechtsbegriffe anerkannt.<br />

In der Entscheidung zum Sammlungsgesetz 291 hat es zu den Anforderungen<br />

an ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgeführt, Zweck einer<br />

solchen vorbeugenden Betrachtung sei die Wahrung der Gemeinwohlinteressen<br />

zu gewährleisten. <strong>Die</strong> Gefahr für Rechtsgüter Dritter müsse daher im<br />

Einzelfall geprüft werden. Ein Ermessen, ob diese bestehe, sei auch bei<br />

Grundrechtseingriffen nicht ausgeschlossen. Um den Eingriff zu rechtfertigen,<br />

müssten aber die Voraussetzungen der Genehmigungsversagung klar<br />

sein. Für solche gesetzlichen Hinweise zu den Entscheidungskriterien seien<br />

nicht allein Beispiele ausreichend. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Eingriffsnorm<br />

müssten hinreichend bestimmt sein 292 , so dass die Vorhersehbarkeit<br />

der Wirkung einer Verordnungsermächtigung gewährleistet ist, beispielsweise<br />

durch Programmsätze für die Entscheidungsfindung der Verwaltung 293 . Je<br />

stärker die Grundrechte berührt werden, umso stärker müssten die Spielräume<br />

der Verwaltung begrenzt sein. Mit dieser Gleitformel werden nicht<br />

nur die Entscheidungsspielräume der Verwaltung, sondern auch die richterliche<br />

Rechtsfortbildung eingeschränkt 294 . <strong>Die</strong> Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes<br />

für die Reichweite der Entscheidungsspielräume wird deutlich.<br />

Ein Rechtsanspruch auf Genehmigung sei verfassungsrechtlich nicht geboten,<br />

wenn es bei der Verwaltungsentscheidung um die Berücksichtigung einzelfallübergreifender<br />

Konzepte zur Wahrung des Allgemeinwohls gehe. Hier<br />

kann es sein, dass im Vorgang selbst die Beeinträchtigung des Gemeinwohls<br />

nicht ausreicht, um einen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen, aber die Kumulation<br />

vergleichbarer Vorgänge zu einer solchen nicht mehr akzeptablen<br />

Gemeinwohlbeeinträchtigung führen kann. Deshalb müssen auch Planungsakte<br />

zulässig sein 295 . <strong>Die</strong> Notwendigkeit der Verwendung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe wurde in diesem Zusammenhang in der Reiten-im-Walde-<br />

Entscheidung bestätigt 296 , wonach wegen der Vielzahl der betroffenen Inte-<br />

291 BVerfGE 20,150,154<br />

292 So bereits BVerfGE 8, 276, 325<br />

293 BVerfGE 58, 257, 277 ff.<br />

294 BVerfGE 83, 130 und 49, 89, auf dieses Urteil eingehend: Bleckmann, Staatsrecht, §<br />

48 V 1<br />

295 Grundlegend, u.a mit Ausführungen zur Reichweite der Eigentumsgarantie Art. 14<br />

GG: BVerfGE 58, 300, 347- Naßauskieselung,<br />

296 BVerfGE 80, 137, 161 ff.<br />

86


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

ressen eine sachgerechte Konfliktbewältigung durch die gesetzliche Regelung<br />

schlicht unmöglich sei. Ein Verzicht auf die Durchsetzung verfassungsrechtlich<br />

legitimer Ziele dürfe mit den o.g. Prinzipien nicht verbunden sein.<br />

Dennoch müsse dabei berücksichtigt werden, dass ein Ermessen der Verwaltung<br />

nicht so unbestimmt sein darf, dass die Entscheidung für Gerichte gar<br />

nicht mehr überprüfbar wäre.<br />

An der geschilderten Rechtsprechung des BVerfG gab es zunächst auch Kritik.<br />

Ermessen und Beurteilungsspielraum wurden als Trojanisches Pferd des<br />

rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts bezeichnet 297 Eine angemessene Verwirklichung<br />

der gesetzgeberischen Ziele bzw. Zwecksetzung der Norm sei<br />

so unmöglich 298 . <strong>Die</strong> nicht zuletzt in den Nachkriegsjahren erfolgte Überdehnung<br />

des Gesetzesvorbehaltes durch das Streben nach perfektionierten<br />

Gesetzen hatte aber gezeigt, dass das Parlament andernfalls überfordert, die<br />

Verwaltung gelähmt und der Rechtsgehorsam des Bürgers erschwert<br />

scheint 299 . <strong>Die</strong> richterliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit und damit verbundener<br />

Grundrechtsschranken kann das Bestimmtheitsdefizit kompensieren<br />

helfen, so dass das gesetzgeberische Ziel oft erst durch Ermessen und<br />

Beurteilungsspielräume erreichbar erscheint. Hinzu kommen transparente<br />

Entscheidungsrichtlinien und Verfahren 300 .<br />

d) Ergebnis<br />

Nach diesen Erwägungen muss festgestellt werden, ob der Gesetzgeber dem<br />

Normadressaten im Bereich seiner Handlungs- und Wirtschaftsfreiheit einen<br />

Genehmigungsanspruch wirklich zubilligen wollte. Trotz einer gewissen<br />

Verwaltungsautonomie muss er die Grenzen der Ermächtigung hinreichend<br />

deutlich machen. Soweit er der Exekutive tatsächlich Entscheidungsspielräume<br />

gewährt, müssen durch die Verfahrensausgestaltung, also das Genehmigungsverfahren,<br />

und den Umfang richterlicher Kontrolle einer damit<br />

verbundenen Gefahr unangemessener Rechtseingriffe begegnet werden. <strong>Die</strong><br />

Rechtsprechung bleibt im Rahmen ihres Verfassungsauftrages auf die<br />

Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Ermächtigung beschränkt. Im<br />

Ergebnis kann die Legislative der Verwaltung also auch unter verfassungsrechtlichen<br />

Gesichtspunkten einen gewissen Entscheidungsspielraum zubilligen,<br />

wenn dafür aufgrund der Materie eine sachliche Notwendigkeit be-<br />

297 Obermayer, in: Mang/Maunz, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 182 f. sowie<br />

Ossenbühl, DÖV, 1968, 621<br />

298 Vgl. Tettinger (FN 128) S. 89<br />

299 Bullinger, in: ders., Verwaltungsermessen im modernen Staat, S. 137, 144<br />

300 So Wahl, in: ders., Prävention und Vorsorge, S. 230<br />

87


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

steht und die Effizienz von Legislative sowie Exekutive das gebieten. Unangemessenen<br />

Rechtseingriffen muss durch hinreichende Bestimmung der<br />

Spielräume, insbesondere mittels Offenlegung der Entscheidungskriterien,<br />

begegnet werden.<br />

3. Überprüfungskompetenz der Gerichte<br />

Im Sinne der o.g. Anforderungen an die Verwaltungsautonomie haben<br />

Rechtsprechung und Wissenschaft für das nationale Recht die Lehren zum<br />

Beurteilungsspielraum sowie die Ermessensfehlerlehre entwickelt. Danach<br />

wird der Umfang dieser Entscheidungsspielräume im Lichte der o.g. verfassungsrechtlichen<br />

Prägung begrenzt, insbesondere aber die notwendige Balance<br />

zwischen Verwaltungseffizienz und dem Rechtsschutzinteresse des<br />

von der Entscheidung Betroffenen geschaffen 301 . Darauf wird bei der Prüfung<br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Entscheidungen, vor allem mit Blick auf<br />

Prognoseelemente der Entscheidung, noch einzugehen sein.<br />

a) <strong>Die</strong> Ermessensfehlerlehre<br />

aa) <strong>Die</strong> rechtliche Ausgestaltung von Ermessen<br />

Ermessen steht für die Möglichkeit der Verwaltung, bei Erfüllung eines gesetzlichen<br />

Tatbestandes, mehrere, in gleicher Weise rechtlich zulässige Entscheidungen<br />

zu treffen. Sie ist dabei nicht nur ermächtigt, sondern sogar<br />

verpflichtet, alle notwendigen Überlegungen über den Gebrauch ihrer damit<br />

verbundenen Gestaltungsfreiheit anzustellen 302 . Ermessen betrifft die<br />

Rechtsfolge einer Vorschrift, anders als der Beurteilungsspielraum auf Tatbestandsebene.<br />

Ermessen kann in Form des Entschließungsermessens, also<br />

ob eine Rechtsfolge gewollt ist, oder aber des Auswahlermessens, also einer<br />

bestimmten Art und Weise der Rechtsfolge vorliegen. Beide können auch in<br />

Kombination auftreten.<br />

<strong>Die</strong> Einräumung von Ermessen kennzeichnet der Gesetzgeber regelmäßig<br />

mit Formulierungen wie kann, darf oder befugt. In Abgrenzung zur gebundenen<br />

Entscheidung (muss, darf nicht versagt werden) hat die Verwaltung<br />

zum Wohle der Einzelfallgerechtigkeit eine Lenkungsbefugnis, die sich am<br />

zweckorientierten Handeln ausrichtet 303 . Ein Belieben bzw. Willkür der Behörde<br />

sind durch Ermessensbindungen ausgeschlossen, die sich an rechtli-<br />

301 Vgl. Teil 1 III.1.c)<br />

302 Wolff (FN 174), S. 98 Rn 46<br />

303 Wolff (FN 174), S. 99, Rn 154<br />

88


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

chen Bindungen oder dem Normzweck orientieren. § 40 VwVfG 304 normiert<br />

die Voraussetzungen einer Ermessensentscheidung. Hinzu kommen gesetzliche<br />

Grenzen im Ermessenstatbestand sowie der dort vorgesehenen Rechtsfolge<br />

und verfassungsimmanente rechtliche Bindungen 305 . Letztere kennzeichnen<br />

sich durch unmittelbare Grundrechtsgeltung. Sie unterliegen dem<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip. Eine starke Einengung des Verwaltungsspielraumes<br />

bewirkt der Gleichheitssatz gem. Art. 3 GG 306 , insbesondere durch<br />

die Selbstbindung der Verwaltung. <strong>Die</strong> einheitliche Handhabung des Ermessens<br />

soll durch Verwaltungsrichtlinien sichergestellt werden. Ihre Rechtsnatur<br />

ist zwar umstritten, es wird ihnen aber Rechtssatzcharakter zugewiesen,<br />

auf den sich Betroffene berufen können 307 .<br />

bb) Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung<br />

Wegen der bereits beschriebenen Lockerung des Gesetzvorbehalts ist die<br />

nach Art. 19 Abs. 4 GG vorgesehene Rechtsweggarantie beschränkt, vor allem<br />

die tatsächliche und rechtliche Überprüfung eines Sachverhalts durch<br />

die Gerichte. <strong>Die</strong>s zeigt die Vorschrift des § 114 VwGO, die sich an den Anforderungen<br />

von § 40 VwVfG orientiert, der die materielle Seite der Entscheidung<br />

betrifft 308 . Danach ist die Bewertung der Zweckmäßigkeit einer<br />

Entscheidung allein der Verwaltung vorbehalten. Für die Rechtmäßigkeitsprüfung<br />

und die richterliche Kontrolle des Verwaltungshandelns wurde die<br />

Ermessensfehlerlehre entwickelt. Hierzu gehören neben der Feststellung einer<br />

Ermessensermächtigung folgende Fragen 309 :<br />

(1) Ermessensfehlgebrauch (Ermessensdefizit und unzureichende<br />

Sachverhaltsermittlung)<br />

Hierbei erfolgt die Prüfung, ob sachfremde Erwägungen angestellt wurden,<br />

die sich nicht aus dem Normzweck ergeben. Dazu gehört z.B. das Motiv der<br />

Gefahrenabwehr im Sicherheitsrecht. Auch allgemein verbotene Zwecke<br />

dürfen nicht Entscheidungsgrundlage sein, ein Beispiel hierfür bieten mit<br />

304 Es gelten die jeweiligen Länderverwaltungsgesetze und das des Bundes<br />

305 Wolff (FN 174), S. 156, Schwertdfeger, Fallbearbeitung, § 5 Rn 4<br />

306 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 25<br />

307 Wolff (FN 174), S. 75<br />

308 Schwarze (FN 198), S. 261<br />

309 Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, § 114 Rn 16 ff. mit der<br />

Unterscheidung einer Kontrolle der Einhaltung der Ermessensermächtigung und der<br />

Anforderungen an die Ermessensausübung; zur Ermessensfehlerlehre; s.a.: Fehling/Kastner/Wahrendorf,<br />

Kommentar zu VwVfG und VwGO, § 114 VwGO Rn 42<br />

ff.<br />

89


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

der Entscheidung erfüllte Straftatbestände. Ermessensfehlgebrauch wird in<br />

diesem Falle als Ermessensmissbrauch bezeichnet. Ebenfalls erfasst ist eine<br />

unzureichende Abwägung maßgeblicher Gesichtspunkte. <strong>Die</strong>se auch als<br />

Ermessensdefizit beschriebene Konstellation wird regelmäßig als unzureichende<br />

Tatsachenermittlung bewertet. Sachfremde Erwägungen stehen einem<br />

falschen Sachverhalt gleich, den die Behörde ihrer Entscheidung zu<br />

Grunde legt. In diesen Bereich fallen auch in sich nicht schlüssige Begründungen<br />

nach § 39 VwVfG und die Verletzung von Verfahrensvorschriften.<br />

Das Begründungserfordernis hat eine zentrale Bedeutung für die Ermessensausübung.<br />

Ohne sie kann die gerichtliche Prüfung einer zweckorientierten<br />

und sachgerechten Entscheidung auf der Grundlage der Ermächtigungsnorm<br />

nicht stattfinden. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese materielle<br />

Wirkung dem § 39 VwVfG selbst inne wohnt oder aus Art. 19 Abs. 4 GG<br />

abgeleitet werden kann. Schließlich ist die Behörde für die Einhaltung der<br />

Ermessensgrenzen und -schranken beweispflichtig 310 .<br />

(2) Ermessensnichtgebrauch<br />

Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Verwaltung gar keine Abwägung<br />

getroffen, also die Ermessensnorm verkannt hat oder die möglichen<br />

Handlungsalternativen nicht geprüft hat. <strong>Die</strong>se Gruppe kann als Unterfall<br />

des Fehlgebrauchs in absolutester Form bewertet werden.<br />

(3) Ermessensüberschreitung<br />

Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Behörde zwar hinreichend<br />

den Sachverhalt ermittelt hat, aber eine in der Rechtsnorm nicht vorgesehene<br />

Rechtsfolge wählt oder andere Rechtsnormen dieser Folge entgegenstehen,<br />

dazu gehören Grundrechte sowie sonstige allgemeine Verfassungs-<br />

und Verwaltungsgrundsätze, aber auch im besonderen Verwaltungsrecht<br />

vorgesehene Richtlinien oder Kriterien. Ein Beispiel dafür ist der Verstoß<br />

gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 GG und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.<br />

Im Rahmen des Letzteren hat die Verwaltung zu prüfen,<br />

ob eine Maßnahme zur Erreichung des Gesetzeszweckes geeignet, erforderlich<br />

(mildestes Mittel) und angemessen ist. Nicht zweckorientiertes Handeln<br />

oder die Nichtbeachtung der gesetzlichen Ziele 311 würden diesen Vorgaben<br />

widersprechen. Zusammengefasst kann Ermessensüberschreitung mit<br />

Nichtbeachtung des allgemeinen Rechtsrahmens beschrieben werden.<br />

310 Ebenda, Rn 40, 43<br />

311 Zur grundsätzlichen Zweckrichtung von Gesetzen: Müller-Foell (FN 182), § 7<br />

90


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

(4) Ermessensreduzierung (auf Null)<br />

Im Einzelfall kann das Gestaltungsrecht der Verwaltung eingeschränkt sein,<br />

bis hin zur Möglichkeit einer einzigen rechtmäßigen Entscheidung 312 . So<br />

kann trotz verschiedener Handlungsalternativen eine Handlungsverpflichtung<br />

entstehen, z.B. aufgrund einer Gefährdung von Grundrechten Dritter<br />

oder wegen der Selbstbindung der Verwaltung, die entweder infolge der Antizipierung<br />

der Entscheidung i.Z.m. Art. 3 GG, durch eine abweichende Zusage<br />

oder sonstige Vertrauensschutz bildende Handlungen zu einer Ermessensreduzierung<br />

führen kann. Neben ständiger Verwaltungspraxis stehen<br />

systematische Ansätze wie Richtlinien. Wenn es um atypische Sonderfälle<br />

geht, bleibt Raum für gewisse Abweichungen von diesen Vorgaben 313 . Auch<br />

bei offensichtlich geringer Bedeutung von Eingriffsgründen (Bagatellfälle)<br />

kann im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Ermessensreduzierung vorliegen.<br />

cc) Subjektiver Anspruch des Betroffenen<br />

Grundpfeiler der Ermessensfehlerlehre ist der Anspruch des betroffenen Adressaten<br />

auf ermessensfehlerfreie Entscheidung 314 . Er kann den Verwaltungsrechtsweg<br />

nach der Schutznormtheorie nur insoweit beschreiten, als er<br />

in Verletzung eigener grundrechtlicher Positionen ein subjektiv öffentliches<br />

Abwehrrecht geltend machen kann 315 . <strong>Die</strong> gerichtliche Korrektur beschränkt<br />

sich auf oben bezeichnete Verfahrensfehler, die Verkennung anwendbaren<br />

Rechts, die Unrichtigkeit des zu Grunde gelegenen Sachverhalts, die Verletzung<br />

allgemein gültiger Bewertungsmaßstäbe und die Orientierung an sachfremden<br />

Erwägungen 316 . <strong>Die</strong> zweckorientierte Entscheidung ist allein der<br />

Verwaltung vorbehalten 317 . Eine Ausnahme bildet auch die Ermessensreduzierung,<br />

wenn nur eine ganz bestimmte Entscheidung ermessensfehlerfrei<br />

ist. In diesem Fall ergeht ein Verpflichtungsurteil nach § 113 Abs. 5 S. 1<br />

VwGO, nicht aber ein Bescheidungsurteil nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO 318 .<br />

312 Vgl. Wolff (FN 174), S. 103<br />

313 Zu Vertrauensschutz und Selbstbindung: Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), §<br />

114 VwGO Rn 25 f.<br />

314 Ebenda, Rn 19<br />

315 Wolff (FN 174), S. 104<br />

316 Wahl, NVwZ 1991, 414 ff.<br />

317 Kadelbach (FN 194), S. 444 (mit weiteren Nachweisen)<br />

318 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO Rn 53<br />

91


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

b) Beurteilungsspielraum der Verwaltung<br />

aa) Rechtsgrundlagen<br />

Vorgaben zum Umgang der Verwaltung mit unbestimmten Rechtsbegriffen<br />

liefert der bereits benannte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.<br />

Danach ist diese gem. Art. 20 Abs.3 GG grundsätzlich an Recht und Gesetz<br />

gebunden. Eine Ausnahme hierzu bilden die unbestimmten, seitens der Verwaltung<br />

näher auszufüllenden Rechtsbegriffe. Der Adressat muss zwar erkennen<br />

können, welche konkrete Einzelsituation ein Gesetz erfasst. Um die<br />

bezweckte Anwendung auf eine Vielzahl von Sachverhalten zu ermöglichen,<br />

ist dennoch ein gewisser Abstraktionsgrad der Normierung notwendig, also<br />

eine generalklauselartige Formulierung. Hinzukommen muss der Umstand,<br />

dass erst durch die Verwaltung eine Verdichtung der vorgegebenen (unbestimmten)<br />

Rechtsbegriffe möglich ist319 .<br />

Im Rahmen der Rechtsanwendung muss die Verwaltung im Zusammenhang<br />

mit dem Bestimmtheitsgebot die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />

durch Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschriften, z.B. Anwendungserlasse<br />

der Behörde, berücksichtigen. <strong>Die</strong> Zulässigkeit unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe entbindet den Gesetzgeber nicht von den schon erwähnten<br />

rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und vollständigen Justiziabilität,<br />

die sich aus der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Art. 20 Abs.<br />

3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie dem damit verbundenen Grundsatz<br />

rechtlichen Gehörs ergeben. Der Betroffene muss im Vertrauen in den<br />

Rechtsstaat die Voraussetzungen seines Handelns erkennen können. Das öffentliche<br />

Interesse an Rechtssicherheit und Zuverlässigkeit der Verwaltung<br />

steht dem Problem einer nur begrenzten Möglichkeit zur Erkenntnisgewinnung<br />

durch den Gesetzgeber, auch bezüglich des Grads der geforderten Erkenntnis,<br />

gegenüber. Hier muss eine Abwägung unterschiedlicher Gesichtspunkte<br />

erfolgen.<br />

In Abgrenzung zur Rechtsfolge geht es beim Beurteilungsspielraum ausschließlich<br />

um den Tatbestand, also Sachverhaltsfeststellungen und die Zuordnung<br />

eines Sachverhalts zum vorgegebenen Rechtsrahmen. Unbestimmte<br />

Rechtsbegriffe sind Formulierungen unterschiedlicher Präzision. Sie sind im<br />

divergierenden Abstraktionsgrad und in Skalen inhaltlicher Bestimmtheit<br />

vorzufinden. Dabei ist zwischen deskriptiven (Beschreibung von Gegenständen<br />

oder Ereignissen) und normativen (wertende Betrachtung) Begriffen<br />

319 So Tettinger, (FN 128), S 438, 442<br />

92


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

abzugrenzen, auch werden sachverhaltsbedingte und sprachlich unbestimmte<br />

Begriffe unterschieden320 .<br />

Nach welchen Regeln der Verwaltung ein Interpretationsspielraum bzw. eigene<br />

Wertungsmöglichkeit zugestanden wird und in welchem Umfang eine<br />

gerichtliche Überprüfungsbefugnis besteht, ergibt sich aus den Schlussfolgerungen<br />

der Lehre vom Beurteilungsspielraum, auf den § 114 VwGO zwar<br />

nicht analog, aber wegen der gleichen zu Gunde liegenden Verfassungsprinzipien<br />

entsprechend anwendbar sein soll321 . Hierbei werden verschiedene<br />

Typenbereiche im Zusammenhang mit z.B. Planungs- und Prognoseentscheidungen,<br />

aber auch auf besonderen persönlichen Wertungen beruhenden<br />

Prüfungsentscheidungen unterschieden322 . Bei der dogmatischen Begründung<br />

der dahingehend anerkannten Beurteilungsspielräume werden verschiedene<br />

Ansätze vertreten. Wenn die Ermächtigung zu einem autonomen<br />

Verwaltungshandeln vorliegt, sind eigenständige Wertungen der Gerichte<br />

nicht möglich. Nach der normativen Ermächtigungslehre kann diese auch<br />

stillschweigend, mittels Auslegung der Vorschrift erfolgen323 . Zur Reichweite<br />

des Beurteilungsspielraums sieht es die Vertretbarkeitslehre als rechtmäßig<br />

an, wenn die Lösungen im Rahmen des Vertretbaren liegen, also mehrere<br />

vertretbare und damit rechtmäßige Entscheidungsoptionen bestehen324 .<br />

Letztlich kommen alle Theorien zu ähnlichen Ergebnissen. Der Verwaltung<br />

wird ein gewisses Maß an Eigenverantwortung zugestanden325 . <strong>Die</strong> Grenzen<br />

der Verwaltungsautonomie finden sich in der Beachtung der Verfahrensvorschriften,<br />

zutreffenden Tatsachen, im Gleichheitsgrundsatz und in den allgemeinen<br />

Bewertungsrichtlinien, schließlich in der Einbeziehung sachfremder<br />

(willkürlicher) Erwägungen326 .<br />

Das BVerwG erachtet nur in Ausnahmefällen eine vollständige richterliche<br />

Überprüfung für verzichtbar. Das erfordert besondere Voraussetzungen327 ,<br />

die nur dann gegeben seien, wenn die gerichtliche Überprüfung an die Funktionsgrenzen<br />

der Rechtsprechung stößt. <strong>Die</strong>se richterliche Zurückhaltung<br />

320 Mit Beispielen: Wolff (FN 174), S. 94, Rn 33 ff.<br />

321 Dazu grundlegend: Bachof, JZ 1955, 97 ff., und 1972, 641 ff., s.a. Wolff/Decker (FN<br />

283) § 114 VwGO Rn 66<br />

322 Dazu grundlegend Larenz (FN 282), S.279 f.; s.a. Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN<br />

309), § 114 VwGO Rn 59 f.<br />

323 Dazu Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO Rn 57<br />

324 Ule, VerwArch 76 (1985), S. 1, 9 ff.; mit Verweis auf BVerfGE 2, 395; 4, 92; 15, 41<br />

325 Maurer (FN 171), § 7 Rn 32<br />

326 Stüwe, in: Wolffgang (FN 54), S. 434<br />

327 BVerwGE 75, 275, 279, BVerwG ,NVwZ 1991, 586 ff. BverwG NVwZ 1993, 794,<br />

796<br />

93


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

ergibt sich aus der konsequenten Verfolgung des Gewaltenteilungsgrundsatzes328<br />

. <strong>Die</strong> Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe wird als Teil der<br />

Erkenntnisgewinnung verstanden, welche der richterlichen Kontrolle unterliegt329<br />

. Bei der Eingriffsverwaltung bestünden hier erst recht enge Grenzen.<br />

<strong>Die</strong> richterliche Verantwortung sei in dem Fall höher zu bewerten als der<br />

Verwaltungsspielraum. Damit sei eine umfassende gerichtliche Prüfung<br />

möglich330 .<br />

Als Ausnahme von dieser Sichtweise werden allein Bewertungsspielräume<br />

bei berufsbezogenen Prüfungen, Beurteilungen und prüfungsähnlichen Entscheidungen<br />

gesehen331 . Zusätzlich sind Beurteilungsspielräume bei Prognoseentscheidungen<br />

und Risikobewertungen denkbar332 . Mit Blick auf die bei<br />

Prognosen notwendige Einbeziehung zukünftiger Entwicklungen wird oft<br />

auch vom Begriff der Einschätzungsprärogative gesprochen, die durch das<br />

Gericht zumindest aus der dafür notwendigen ex-ante Betrachtung weder<br />

nachvollziehbar noch überprüfbar sein kann333 . Mit dem Begriff wird verdeutlicht,<br />

dass das wertende Element der Entscheidung auch die Sachverhaltsfeststellung<br />

tangiert334 . Allerdings bedarf es i.V.m. dem Bestimmtheitsgebot<br />

einer Konkretisierung der Kriterien des § 7 AWG. <strong>Die</strong> Prärogative findet<br />

hier ihre Grenzen335 .<br />

<strong>Die</strong> administrative Gestaltungsfreiheit bei Prognoseentscheidungen soll nur<br />

dann möglich sein, wenn die Maßstäbe gerichtlicher Kontrolle und die<br />

Kompetenzabschichtung im Sinne der funktionsadäquaten Gewaltenteilung<br />

nach Maßgabe sorgfältigster Normanalyse sichergestellt sind336 . <strong>Die</strong>ser<br />

funktionsrechtliche Ansatz fokussiert auf die spezifische Leistungsfähigkeit<br />

der Verwaltung und Gerichte. Es geht um eine gewisse Funktionsoptimierung,<br />

was bei komplexen Risikolagen, wie im Umwelt- und Technikrecht,<br />

für eine administrative Befugnis zur Normkonkretisierung spricht. <strong>Die</strong>s ist<br />

328 Wolff (FN 174), S. 150<br />

329 Schwarze (FN 198), S. 256<br />

330 Dazu oben Teil 2 II.2.<br />

331 Zu den Fallgruppen: Wolff (FN 174), S. 95.<br />

332 Stüwe, in: Wolffgang (FN 54), S. 432; s.a. Wolff/Decker (FN 283) , § 114 VwGO Rn<br />

79 unter Hinweis auf politische Einschätzungsprärogative und BVerfGE 97, 203, 209<br />

– Luftverkehr, der Begriff selbst wurde von Wolff geprägt (vgl. FN 322)<br />

333 Als begriffsprägend gilt insoweit Wolff, in: Wolff/Bachof, (FN 280) § 31, S. 188 ff.<br />

334 So Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 80 und Hinweis auf<br />

BVerfGE v. 25.10.1991 (FN 115)<br />

335 So im Ergebnis Epping, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd.1, 20, Rn 27, s.a. Teil 1<br />

II.5.b)dd)<br />

336 Vgl. Hope, DVBl. 1975, 691<br />

94


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

aber nur ein Indiz und Auslegungshilfe für die bestehende Ermächtigung 337 .<br />

Schließlich kann die Leistungsfähigkeit der Gewalten nicht die Kompetenzverteilung<br />

bestimmen, sondern allenfalls die Qualität der Wahrnehmung der<br />

Gesetzgebungskompetenzen beeinflussen. Darüber muss allein der Gesetzgeber<br />

entscheiden und dies auch deutlich machen. Aber selbst bei einem<br />

weiten politisch-konzeptionellen Einschätzungsspielraum der Verwaltung<br />

bleibt die Herausbildung von einheitlichen Maßstäben zur Rechtsanwendung<br />

das Ziel des Gesetzgebers. Das gewährleistet auch einen dem Gleichheitssatz<br />

entsprechenden Gesetzesvollzug. <strong>Die</strong> Verwaltung muss die begriffsprägenden<br />

Elemente feststellen und den vorliegenden Einzelfall danach<br />

beurteilen 338 . Der Prüfungsumfang der Gerichte wird zwar beschränkt, beinhaltet<br />

aber auch die Einhaltung der Grenzen der normativen Ermächtigung<br />

i.V.m. der Rechtsanwendung.<br />

bb) Grad der Bestimmtheit der Norm<br />

Wenngleich der Verwaltung über Beurteilungsspielräume und Ermessensvorschriften<br />

ein gewisser Grad an Entscheidungsautonomie eingeräumt<br />

wird, dürfen die Befugnisse der Legislative nicht durch faktisch pauschale<br />

Eingriffsermächtigungen ausgehöhlt werden. Das Vertrauen des Gesetzgebers<br />

auf eine verfassungskonforme Rechtsanwendung bietet hierfür kein<br />

hinreichendes Korrektiv. Das Gebot der Rechtssicherheit gebietet Klarheit,<br />

Bestimmtheit, Widerspruchsfreiheit und Übersichtlichkeit des Rechts, so<br />

dass der Rechtsanwender die Rechtslage erkennen und sein Verhalten an einer<br />

Norm ausrichten kann. <strong>Die</strong> Reichweite des Gesetzesvorbehaltes sowie<br />

damit verbundene Eingriffsrechte werden vom BVerfG mit der Wesentlichkeitstheorie<br />

umschrieben339 . <strong>Die</strong> Normierungspflicht des Gesetzgebers hinsichtlich<br />

des ob und wie der gesetzlichen Handlungsanweisung bezieht sich<br />

auf alle Angelegenheiten, die eine Verwirklichung der Grundrechte berühren340<br />

. In Rechtsgebieten, deren Regelungsmaterie einer starken Dynamik<br />

unterliegt und besondere Fachexpertise erfordert, ist die Lehre vom Beurteilungsspielraum<br />

anerkanntes Instrumentarium des modernen Verwaltungsstaates.<br />

Der Bestimmtheitsgrundsatz wird deshalb allenfalls Prinzipienqualität<br />

mit einem gewissen Optimierungselement zugeschrieben341 . Generalklauselartig<br />

formulierte Gestaltungs- und Ermessensspielräume stehen den<br />

337 Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76 ff., 108<br />

338 Tettinger (FN 128), S. 107<br />

339 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 12, S. 104<br />

340 BVerfGE 40, 237, 248 ff.<br />

341 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75<br />

95


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

o.g. Prinzipien wegen dem Interesse an der Effizienz des Verwaltungsverfahrens<br />

in einem der Sache nach angemessenen Umfang nicht entgegen342 .<br />

Der Grad der geforderten Bestimmtheit orientiert sich an der Gewährleistung<br />

der Zweckerreichung des Regelungstatbestandes. Er setzt den administrativen<br />

Spielräumen Grenzen. Gerade bei gravierenden Eingriffen, wie sie<br />

mit an unsichere Sachverhalte oder ungewisse künftige Ereignisse anknüpfende<br />

Prognoseentscheidungen verbunden sind, muss eine möglichst weitgehende<br />

Konkretisierung des behördlichen Handlungsspielraumes erfolgen.<br />

<strong>Die</strong>s gilt insbesondere bei innerhalb des Beurteilungsspielraumes angelegten<br />

Werte- bzw. Grundrechtskonflikten. Sie bestimmen das Ausmaß des geforderten<br />

Bestimmtheitsgrades mit343 . Je größer die Eingriffsintensität und Wertigkeit<br />

der Grundrechte, umso höher die Anforderungen an die Bestimmtheit<br />

der Ermächtigung344 . Aus Sicht des BVerfG darf sich der Gesetzgeber der<br />

Bürde nicht entziehen, insoweit eine im politischen Prozess gefundene Entscheidung<br />

zu treffen und allgemeine Vorzugsregeln bzw. eine Gewichtung<br />

der jeweils betroffenen Positionen vorzunehmen345 . Zwar darf er in einem<br />

gewissen Rahmen auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen346 , der<br />

Tatbestand muss aber mit Hilfe allgemeiner Interpretationsregeln noch erkennbar<br />

sein347 . Es sind wenigstens richtungsweisende Gesichtspunkte des<br />

Gesetzgebers erforderlich. Inhalt, Zweck und Ausmaß des Eingriffs bzw. einer<br />

Eingriffsermächtigung müssen hinreichend bestimmt, messbar und vorhersehbar<br />

sein. Dazu können generalisierende, typisierende und pauschalierende<br />

Regelungen beitragen, die aus dem Gesamtbild der bisherigen Erfahrungen<br />

des Gesetzgebers resultieren. Zu vage Generalklauseln verstoßen gegen<br />

die Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips348 .<br />

Führt die verfassungskonforme Auslegung zur hinreichenden Bestimmung<br />

der Engriffsvoraussetzungen, muss dies auch beim Verwaltungsakt bzw.<br />

Eingriff selbst berücksichtigt werden. Insoweit kommen auch vom Gesetzgeber<br />

autorisierte oder seiner Zwecksetzung entsprechende Auslegungsgrundsätze<br />

in Form von normkonkretisierenden Vorschriften oder Regelwerken<br />

ins Spiel. Sie ermöglichen eine verfassungskonforme Anwendung<br />

342 Zippelius/Würtenberger (FN 339), S. 107<br />

343 BVerfGE 108, 235; 48, 210, 221 ff.<br />

344 Zippelius/Würtenberger (FN 339), S. 107<br />

345 Denninger, Recht in globaler Unordnung, S. 156, 159<br />

346 BVerfGE 13, 153, 161 ff. - Kapitalverkehrssteuer; 48, 210, 211 ff. und 78, 214, 226 -<br />

Einkommensteuer<br />

347 BVerfGE 87, 287, 317 f.; 98, 49, 60 - Berufsrecht<br />

348 BVerfGE 21, 73, 82 - Waldnutzung; 80, 103, 108 - Reiten im Walde und 8, 274, 325<br />

– Preisbindung; 78, 214, 226 - Einkommensteuer und Unterhalt<br />

96


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

zunächst zu unbestimmter Eingriffsermächtigungen. Dazu tragen auch die<br />

seitens der Verwaltung genutzten Anwendungsrichtlinien bei. <strong>Die</strong> Verwendung<br />

inhaltlich nicht abschließend vorbestimmter Normen beruht auf dem<br />

Erfordernis der Abwägung im Zeitpunkt der Rechtsanwendung. <strong>Die</strong> wertende<br />

Betrachtung gilt inzwischen nicht nur als anerkanntes, sondern also notwendiges<br />

Instrument der Lösung von Zielkonflikten, die der Gesetzgeber<br />

nicht leisten kann. Allerdings muss das Verwaltungsverfahren entsprechend<br />

so angelegt sein, dass die Sachverhaltsermittlung als Grundlage der Abwägung<br />

einer angemessenen Konfliktbewältigung dienen kann349 .<br />

<strong>Die</strong> Anwendungsrichtlinien der Verwaltung tragen hierzu Wesentliches bei.<br />

Aber keinesfalls soll der Norminterpret allein auf Kategorien wie Erfahrung<br />

oder Rechtsgefühl rekurrieren350 . Vielmehr ist die Transparenz des Bewertungsvorgangs<br />

mittels Aufstellung möglichst rationaler Kriterien geboten351 .<br />

<strong>Die</strong>se werden in Abgrenzung der ermessensleitenden Verwaltungsvorschriften<br />

als normkonkretisierende Anwendungsrichtlinien verstanden352 . Ähnliche<br />

Feststellungen wurden zur Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs<br />

sicherheits- und außenpolitischer Belange dargelegt353 . <strong>Die</strong> Bewertung<br />

und die methodische Absicherung der Handhabung von unbestimmten<br />

Rechtsbegriffen bei der Gesetzesanwendung bleiben der richterlichen Prüfung<br />

zugänglich. Für Zweifelsfragen sei damit eine einheitliche Anwendung<br />

sichergestellt354 . Bei atypischen oder überholten Fallgruppen kann die Bindungswirkung<br />

der normkonkretisierenden Vorschriften entfallen355 .<br />

cc) Grundsätze der gerichtlichen Prüfungstiefe<br />

Das Ausmaß der gerichtlichen Überprüfung ist in der Rechtswissenschaft<br />

noch immer umstritten, vor allem ob die bereits beschriebenen Ermessensgrundsätze<br />

des § 114 VwGO auf den Beurteilungsspielraum anwendbar<br />

sind356 . Für die Fehlerkontrolle lassen sich folgende systematische Ansätze<br />

festhalten357 :<br />

349 Dazu eingehend Pache (FN 337), S. 482 ff., 505<br />

350 Dazu ausführlich: Tettinger (FN 128),S. 25 ff.<br />

351 Larenz, Festschrift für E. Klingmüller, S. 248<br />

352 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), S. 23 f.<br />

353 Vgl. Teil 1 II.5.b)bb) und Teil 1 II.5.b)dd)<br />

354 Ossenbühl, in: Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, S.79<br />

355 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO, Rn 70<br />

356 Meyer/Borgs, VwVfG § 40, Rn 17 ff.<br />

357 Wolff (FN 174), S. 96<br />

97


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

(1) Verstoß gegen Verfahrens- und Formvorschriften (insbesondere Begründungserfordernis<br />

§ 39 VwVfG, d.h. Offenlegung der tragenden<br />

Gesichtspunkte des Sachverhaltes für die rechtliche Subsumtion),<br />

(2) Zugrundelegung unrichtiger Sachverhalte einschließlich Prüfung der<br />

Angemessenheit der Einschätzungsverfahren und Richtlinien,<br />

(3) Verkennung des unbestimmten Rechtsbegriffs oder des gesetzlichen<br />

Rahmens, Einstellung sachfremder Erwägungen (Willkürverbot),<br />

(4) Missachtung allgemein gültiger Prinzipien und Grundrechtsrelevanz<br />

der Maßnahme (Verfassungskonformität, Verhältnismäßigkeit, praktische<br />

Konkordanz).<br />

Sinn und Bedeutungsgehalt der Rechtsbegriffe können daher durch befasste<br />

Gerichte nach den anerkannten Grundsätzen ausgelegt und die Richtigkeit<br />

der Tatsachen überprüft werden. Es wird die Ansicht vertreten, dass mit den<br />

o.g. Kriterien eine zu weit gehende Verrechtlichung erfolgt sei und für die<br />

Verwaltung kaum noch ein eigener Spielraum verbleibe358 . Gerade im Rahmen<br />

des Grades der Erkenntnisgewinnung dürfte aber hier auch dem Gericht<br />

eine Grenze gesetzt sein. Es kommt auf die Tatsachen und die Begründung<br />

eines Eingriffs an. An dieser Stelle spielt die verfassungsrechtlich verbürgte<br />

Begründungspflicht von § 39 VwVfG eine tragende Rolle.<br />

Neben der konkretisierenden Bestimmtheitskomponente steht die Kompensation<br />

der mit unbestimmten Rechtsbegriffen einhergehenden Kontrolldefizite<br />

durch Verfahrenselemente, wie erhöhte Begründungs- und Mitwirkungspflichten359<br />

. <strong>Die</strong> Reduzierung der Kontrolldichte müsse durch das<br />

Verwaltungsverfahren erdient werden360 . <strong>Die</strong> Beweisaufnahme des Gerichts<br />

würde hierbei intensiviert361 . In dem Zusammenhang ist insbesondere die<br />

Begründungspflicht des § 39 VwVfG von Bedeutung, vor allem bei autonomen<br />

Wertungen der Behörde. Aus der Begründung lässt sich ableiten,<br />

dass es tatsächliche Anhaltspunkte für die Erfüllung des Tatbestandes gibt,<br />

insbesondere für kausale Zusammenhänge zur Erreichung des Normzwecks<br />

im Einzelfall, Darüber hinaus muss eine Interessenabwägung stattgefunden<br />

haben. Im Rahmen ihrer gerichtlichen Überprüfung müssen die Spielräume<br />

der Verwaltung dennoch respektiert werden, die ihrer Letztentscheidungsbe-<br />

358 Ebenda, S. 97<br />

359 Zu den Verfassungsvorgaben vgl. Teil 1 I 1.a) sowie zum Begriff außen- und sicherheitspolitischer<br />

Belange Teil 1 I.5.b)dd)<br />

360 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 15<br />

361 Vgl. VGH Kassel, NJW 1990, S. 2704, 2706<br />

98


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

fugnis vorbehalten sind 362 . Wirksamstes Korrektiv der damit verbundenen<br />

Kontrolldefizite ist die Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die durch eine gesteigerte<br />

Durchsetzungsfähigkeit der Verfahrensrechte und Transparenz der<br />

Entscheidungsbegründung gewährleistet werden kann 363 . <strong>Die</strong> Öffentlichkeit<br />

kann so einen wichtigen Beitrag zur Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze<br />

leisten 364 .<br />

c) Abgrenzungsfragen und rechtstechnische Konsequenzen<br />

Aus den vorgenannten Ausführungen geht hervor, dass Ermessen und unbestimmte<br />

Rechtsbegriffe nach wie vor strittige Bereiche sind, insbesondere<br />

bei der Qualifikation der Rechtsfiguren und ihrer Unterscheidung365 . <strong>Die</strong><br />

Abgrenzung der Entscheidungsspielräume ist nicht immer leicht, zumal diese<br />

kombiniert auftreten können. Es geht hierbei letztlich um rechtstheoretische<br />

Fragen zur Normenstruktur, insbesondere hinsichtlich objektiver Gesichtspunkte<br />

bei der Tatbestandsbewertung und um subjektive Entscheidungen<br />

bezüglich der angemessen erscheinenden Rechtsfolge. In Konstellationen,<br />

wo subjektive Wertentscheidungen erforderlich sind, kommt es in der<br />

Rechtsanwendungspraxis kaum zu Unterschieden366 .<br />

<strong>Die</strong>se Sichtweise wird bei Prognoseentscheidungen und den daran zu knüpfenden<br />

Anforderungen deutlich, die nicht ohne eine Wertung hypothetischer<br />

Kausalitäten möglich sind. <strong>Die</strong> Einschätzung, dass beide Institute kaum<br />

voneinander trennbar seien, wird durch die Anwendungspraxis beider<br />

Rechtsfiguren bestätigt, die sich sehr stark ähnelt: Beide Lehren müssen sich<br />

am Gesetzeszweck und an übergeordneten Prinzipien orientieren. <strong>Die</strong> Tendenz<br />

einer möglichst umfassenden richterlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit<br />

reduziert die praktische Bedeutung von Beurteilungsspielräumen. Auch<br />

hier geht es um Wertungen, die vom Ermessen kaum unterschieden werden<br />

können367 . Theoretisch wäre zwar die Erkenntnis bzw. Wissens- und Willensseite<br />

von Tatbestand und Rechtsfolge abgrenzbar, diese können aber<br />

einander beeinflussen. Je geringer das Wissen, umso höher das Risiko einer<br />

Fehlentscheidung. Es muss ein Ausgleich mit dem Willenselement, also der<br />

362 Zur Kontrolldichte s.a. Kadelbach, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle,<br />

S. 237 ff.<br />

363 Vgl. Kadelbach, ebenda, S. 243<br />

364 So Hoffmann-Riem, ebenda, S. 353<br />

365 Vgl. Maurer (FN 172), § 7 Rn 47<br />

366 Zu methodischen Fragen und der verfassungsrechtlichen Ermächtigung für Entscheidungsspielräume:<br />

Wolff (FN 174), S. 75 ff.<br />

367 Schwarze (FN 198), S. 259<br />

99


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

behördlichen Überzeugung von der Notwendigkeit der Rechtsfolge, stattfinden.<br />

Eine Typisierung von Sachverhalten durch Kriterienkataloge oder Richtlinien<br />

spielt für Ermessen sowie Beurteilungsspielräume eine Rolle. Der wesentliche<br />

Unterschied zum Ermessen besteht bei Prognoseentscheidungen<br />

darin, dass die der gerichtlichen Prüfung nur begrenzt zugängliche subjektive<br />

Wertungskomponente dogmatisch unterschiedlich eingeordnet wird. Vor<br />

dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 und der Gesetzmäßigkeit<br />

nach 20 Abs. 3 GG gilt grundsätzlich, dass die Rechtsprechung<br />

nicht nur die rechtliche Wertungen, sondern auch die zutreffende<br />

Sachverhaltsermittlung und Subsumtion dieser Sachverhalte, also die Konkretisierung<br />

unbestimmter Rechtsbegriffe überprüfen darf. Streng begrenzte<br />

Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn die Sachverhaltsermittlung auf<br />

unüberwindbare Grenzen stößt und es Anhaltspunkte für die sachliche Begründung<br />

der Entscheidung und die Erfüllung von Tatbestandsmerkmalen<br />

gibt. Das gilt im Falle der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> z.B. für die gerichtlich nur<br />

begrenzt überprüfbare Prognoseentscheidung i.V.m. dem Vorliegen einer<br />

Gefahrensituation.<br />

d) Ergebnis<br />

Im Ergebnis erfüllen Beurteilungsspielraum und Ermessen vergleichbare<br />

praktische Bedürfnisse. Sie sind mit entsprechend vergleichbaren Maßstäben<br />

und Grenzen zu handhaben. Im nationalen Recht liegt der Fokus hierbei<br />

auf der Ermessensfehlerlehre in direkter Anwendung von § 114 VwGO sowie<br />

im Falle unbestimmter Rechtsbegriffe bei einer Analogie. Letztlich greifen<br />

beide Rechtsfehlerlehren auf die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips<br />

bzw. der Vorgaben aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz zurück. Insoweit ist<br />

auch eine Analogie zu § 114 VwGO gerechtfertigt, was durch Vergleichbarkeit<br />

oben geschilderter Prüfungsmaßstäbe bestätigt wird368 . <strong>Die</strong> folgenden<br />

Prüfungsmerkmale ergeben sich aus beiden Lehren:<br />

(1) Verfahrensfehler, insbesondere hinreichende Sachverhaltsermittlung<br />

und Einhaltung des Begründungserfordernisses gem. § 39 VwVfG<br />

(Ermessensfehlgebrauch, sachfremde Erwägungen),<br />

(2) Wahrung übergeordneter Rechtsprinzipien, verfassungskonforme Auslegung<br />

unbestimmter Rechtsbegriffe (unter Wertung betroffener<br />

Rechtsgüter und der Eingriffsintensität), Typisierung von Beurteilungs-<br />

368 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO Rn 70<br />

100


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

spielräumen und Ermessen durch Richtlinien und ihre Anwendung<br />

(Ermessensfehlgebrauch, sachfremde Erwägungen),<br />

(3) Beachtung des Willkür- bzw. Diskriminierungsverbotes gem. Art. 3 GG<br />

(Ermessensüberschreitung und Ermessensreduzierung auf Null),<br />

(4) Einstellung zweckdienlicher Erwägungen und Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips,<br />

Abwägung und Wertungen i.V.m. verfassungskonformer<br />

Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (Ermessenüberschreitung<br />

und Disproportionalität).<br />

4. Gemeinschaftsrechtliche Betrachtung<br />

a) Entscheidungsspielraum im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

Entscheidungsspielräume von Verwaltungsbehörden sind in vielen sekundärrechtlichen<br />

Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vorgesehen.<br />

Gleichwohl gibt es keine Regelung zu Maßstab oder Kontrolle dieser Spielräume.<br />

<strong>Die</strong> europäische Gerichtsbarkeit schließt diese Lücke durch Auslegung<br />

übergeordneter Rechtsprinzipien. Beim indirekten Vollzug von Gemeinschaftsrecht<br />

durch die nationalen Verwaltungsbehörden sind deren Entscheidungen<br />

nicht unmittelbar vor dem EuGH angreifbar. Im Rahmen von<br />

durch die nationalen Gerichte eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren<br />

kann die Rechtsprechung des EuGH die Kontrolldichte aber auch bei nationalen<br />

Gerichtsverfahren beeinflussen369 . <strong>Die</strong> rechtliche Grundlage für eine<br />

Überprüfung bezieht der EuGH aus seiner vertraglichen Aufgabenzuweisung<br />

gem. Art. 5 i.V.m. Art. 7 Abs.1 S. 2 EG. Art. 220 EG regelt explizit seine<br />

Aufgabe zur Rechtswahrung i.V.m. der Auslegung und Anwendung des<br />

Gemeinschaftsrechts370 .<br />

Der EuGH erkennt einen umfassenden Entscheidungsspielraum der Verwaltung<br />

an, wenn diese bei Würdigung komplexer Sachverhalte die größere<br />

Sachkompetenz hat371 . <strong>Die</strong>se sei z.B. bei Entscheidungen mit prognostischer<br />

und politischer Natur gegeben. Dafür sind besondere Sachkompetenz und<br />

Verfahren erforderlich. Der EuGH folgt damit dem funktionsrechtlichen Ansatz,<br />

der auch i.V.m. der nationalen Ermächtigungslehre eine Rolle spielt372 .<br />

Inhaltlich decken sich die in beiden Rechtskreisen anerkannten Fallgruppen.<br />

369 Herdegen/Richter, in: Frowein, die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung<br />

von Handlungen der Verwaltung, S. 210<br />

370 Dazu auch Pache (FN 337), S. 374<br />

371 Vgl. beispielsweise Schwarze (FN 198), S. 283<br />

372 So Pache (FN 337), S. 396<br />

101


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

Allerdings finden sich die im deutschen Verwaltungsrecht entwickelten spezifischen<br />

Lehren zu Beurteilungsspielraum und Ermessen im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

nicht wieder. Zwischen dem Beurteilungsspielraum<br />

auf der Tatbestandsseite und einem Ermessen auf der Rechtsfolgeseite wird<br />

nicht unterschieden373 .<br />

In der Rheingoldentscheidung bezeichnet der EuGH die Unterscheidung von<br />

Beurteilungsspielraum und Ermessen im Sinne der deutschen Verwaltungsrechtstradition<br />

als für das Gemeinschaftsrecht lediglich terminologisch bedeutsam.<br />

Der Verwaltung wird ein genereller Gestaltungsspielraum zuerkannt,<br />

ein sog. erweiterter Ermessensspielraum. Der EuGH verwendet dabei<br />

die Begriffe Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff auch als Synonym<br />

für Entscheidungsfreiräume der Verwaltung374 . Hintergrund dessen ist auch<br />

die Formulierung der Verträge, z.B. Art. 173 EWGV und Art. 146 EAGV, in<br />

denen der Begriff Ermessen auch die Subsumtion unbestimmter Rechtsbegriffe<br />

erfassen soll375 .<br />

Gesetze und Verordnungsermächtigungen müssen, wie im nationalen Recht<br />

auch dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Der EuGH formuliert hierzu<br />

das Gebot der Normenklarheit und berücksichtigt das im Rahmen der Prüfung<br />

der Grenzen der Ermächtigungsnorm i.V.m. Verwaltungsermessen376 .<br />

Schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich zum Bestimmtheitsgebot<br />

ausdrücklich geäußert377 . <strong>Die</strong> Reichweite des Entscheidungsspielraums<br />

wird durch das Ziel der Ermächtigungsnorm begrenzt.<br />

Hierzu gehören auch die Pflicht zur gewissenhaften Sachverhaltsermittlung<br />

sowie Beachtung der Verfahrensvorschriften. Bei Entscheidungsspielräumen<br />

legt der EuGH besonderen Wert auf eine hinreichende Entscheidungsbegründung378<br />

. Der Verzicht auf eine Durchnormierung des Verwaltungsrechts<br />

darf nicht zur Willkür oder zu sachlich unbegründeten Entscheidungen führen.<br />

Deshalb kommt der Entscheidungsbegründung erhebliche Bedeutung<br />

zu. <strong>Die</strong> Behörde muss darlegen, warum sie eine Entscheidung so getroffen<br />

hat und nicht anders. <strong>Die</strong>s dient nicht nur der Selbstkontrolle der Verwaltung,<br />

sondern auch der Möglichkeit des Betroffenen, die Erfolgsaussichten<br />

373 EuGH, Slg. 1985, 3321, 3361 Rn 23 f. - Rheingold<br />

374 Vgl. Schwarze (FN 198), S. 458; s.a. Ehrlich (FN 62), S. 110<br />

375 So z.B. Herdegen/Richter, in: Frowein, <strong>Die</strong> Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung<br />

von Handlungen der Verwaltung, S. 211<br />

376 EuGH Rs 158/80 - Rewe, Slg. 1981 S. 1805 ff., Schwarze (FN 198), S. 389<br />

377 Zu Art. 8 Dual-use-VO unter Verweis auf EuGHMRE, EUGRZ 1988, 356: Karpenstein,<br />

in: Grabitz/Hilf (FN 4), E 16, Rn 7<br />

378 EuGH, Rs C 269-90 – TU München, Slg. 191 I 5469, 5499; bestätigt durch EuGHE<br />

Rs C 27-04 – Stabilitätspakt, EuZW 2004, S. 465<br />

102


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

eines Rechtsmittels beurteilen zu können. Ermessen und Begründung stehen<br />

in engem Zusammenhang, um die Willensbildung der Verwaltung für alle<br />

Beteiligten nachvollziehbar zu machen379 . <strong>Die</strong> Kontrollfunktion der Begründung<br />

führt dazu, dass je nach Art der Maßnahme die Anforderungen an sie<br />

steigen. So ist bei Einzelfallentscheidungen eine umfassendere Begründung<br />

erforderlich als bei einer bloßen Richtlinieanwendung: je weiter das Ermessen<br />

umso höher die Anforderungen an Begründungspflichten380 . <strong>Die</strong> Intensität<br />

der Verfahrenskontrolle soll umso stärker sein, je mehr Entscheidungsspielraum<br />

der Verwaltung zugebilligt wird381 . <strong>Die</strong> Bedeutung der Verfahrensgarantien<br />

bei Ermessensakten wird noch eingehender zu erörtern sein.<br />

Neben der ausreichenden Begründung ist also eine hinreichende, vollständige<br />

und richtige Tatsachenermittlung erforderlich. Das ist Ausfluss des<br />

Rechtsstaatsprinzips, ebenso wie die anderen Verfahrensrechte des Betroffenen.<br />

Sonst wäre eine sachgerechte Rechtsverfolgung durch den Betroffenen<br />

nicht möglich. <strong>Die</strong> Ermittlungspflicht wird auch vom EuGH wahrgenommen,<br />

der im Prozess selbst Beweis erheben kann382 . Zu den wesentlichen<br />

Verfahrensrechten zählt der EuGH auch das Recht auf rechtliches Gehör,<br />

Akteneinsicht und Auskunftspflichten der Behörde, die ebenfalls zur vollständigen<br />

Sachaufklärung beitragen und eine gewisse Selbstkontrolle der<br />

Verwaltung ermöglicht. Bei der Prüfung formeller Anforderungen an eine<br />

rechtmäßige Maßnahme kommen Zuständigkeitsfragen i.V.m. der Gemeinschafts-<br />

und Organkompetenz ebenso wie Formfragen hinzu383 . Werden Verfahrensregeln<br />

gezielt umgangen, kann es sich dabei um eine Form des Ermessensmissbrauchs<br />

handeln384 .<br />

<strong>Die</strong> Rechtskontrolle des EuGH erstreckt sich neben den genannten formellen<br />

Voraussetzungen des Verwaltungshandelns auf eine Inhaltskontrolle der<br />

Entscheidung. <strong>Die</strong> allgemeinen Rechtsgrundsätze müssen in gerichtlich kontrollierbarer<br />

Weise eingehalten werden385 . Der EuGH zieht dabei regelmäßig<br />

die allgemeinen Prinzipien des Vertrauensschutzes, der Verhältnismäßigkeit<br />

379 Vgl. Schwarze (FN 198), S. 285<br />

380 Zu Funktion und Umgang der Begründungspflicht eingehend: Calliess, Für Sicherheit,<br />

für Europa, in: Hendler/Ibler/Soria, Festschrift für Götz, S. 252 ff.<br />

381 EuGHE vom 13.07.2004, Rs C-27/04, EuZW 2004, S. 465, Rn 80 ff.<br />

382 Schwarze (FN 198), S. 1195<br />

383 Ebenda, Einf. S. LX, 291, zu den Verteidigungsrechten S. 1201 ff., s.a. Gornig/Trüe,<br />

JZ 1993, S. 884 ff., 886<br />

384 EuGHE Rs 2/57 – Compagnie de Hauts Foreaux Chasse, slg. 1958, S. 131 ff.<br />

385 EuGH (FN 378), mit weiteren Rspr.-Nachweisen: Schwarze (FN 198), S. 291 ff., 389<br />

ff.<br />

103


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

und das Diskriminierungsverbot heran386 . Für Entscheidungen der nationalen<br />

Behörden im unmittelbar indirekten Vollzug von Gemeinschaftsrecht,<br />

wie nach der Dual-use-VO, muss zusätzlich eine einheitliche Handhabung<br />

durch die Mitgliedstaaten sichergestellt sein. Judikative Leitlinien können<br />

den Spielraum der Verwaltung einschränken.<br />

Grundsätzlich beschränkt sich die gerichtliche Prüfung von Verwaltungsermessen<br />

auf die Einhaltung der Ermessensgrenzen. Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte<br />

bleiben außen vor387 . Der EuGH prüft hierbei allein die Einstellung<br />

vollständiger und richtiger Tatsachengrundlagen in die Entscheidung<br />

sowie die Reichweite des Entscheidungsspielraums. Hierzu sind inhaltliche<br />

Bindungen durch die Ermächtigung oder auch durch übergeordnete vertragliche<br />

Gemeinschaftsziele von Belang388 . Daneben berücksichtigt er die<br />

Selbstbindung der Verwaltung, z.B. durch Auswahlkriterien oder Ermessensrichtlinien389<br />

. Gerade der Gleichbehandlungsgrundsatz ist hierbei von<br />

Bedeutung. Nach Ansicht des EuGH sei eine Selbstbindung der Verwaltung<br />

möglich, die beispielsweise durch Ermessensrichtlinien begründet werden<br />

kann. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens könne die Einhaltung dieses Rahmens<br />

überprüft werden390 .<br />

Schließlich prüft der EuGH das Vorliegen von Ermessensmissbrauch, der<br />

sich nach dem französischen Ansatz des détournement de pouvoir durch gesetzeswidrige<br />

Zweckverfolgung kennzeichnet, den die zuständige Behörde<br />

begehe, wenn sie ihre Befugnisse zu anderen als den vom Normgeber vorgegebenen<br />

Zielen bzw. Zwecken gebraucht. Bei gerade im politischen Bereich<br />

wachsenden Ermessensspielräumen geht auch der EuGH von einer<br />

Kompensation durch gerichtliche Kontrollen aus. Das aber führt zu einem<br />

Spannungsverhältnis von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Der EuGH<br />

gewichtet seine Prüfung wegen der oft nicht erkennbaren Zielsetzung des<br />

Gemeinschaftsorgans nicht zwingend beim Ermessensmissbrauch, sondern<br />

zunehmend der Willkürkontrolle und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme.<br />

Dabei muss die Sachdienlichkeit einer Entscheidung einbezogen werden.<br />

<strong>Die</strong>s ähnelt der Rechtsgüterabwägung nach nationalem Recht, wie sie bei<br />

der Angemessenheitsprüfung bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne<br />

386 Herdegen/Richter, in: Frowein (FN 369), S. 215 f.<br />

387 Dazu eingehend unter Betrachtung verschiedener Rechtsbereiche: Schwarze (FN<br />

198), S. 287 ff.<br />

388 EuGHE Rs 8/57 - Groupement des Hauts Forneaux et Auieries Belges, Slg. 1958, S.<br />

231 ff.<br />

389 EuGHE Rs 25/83 Bueck, Slg. 1984, 1773, 1783 und Rs 280/80 – Bakke D’Aloya,<br />

Slg. 1981, 2887, 2900<br />

390 Vgl. Schwarze (FN 198), S. 297, 299<br />

104


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

stattfindet. <strong>Die</strong> Prüfung des EuGH fokussiert daher auf die Gleichbehandlung<br />

und allgemeine Interessenabwägung. Findet diese nicht statt, liegt<br />

ebenfalls ein Ermessensmissbrauch vor391 .<br />

Der EuGH beschränkt die Prüfung der Ermessensfehler allerdings auf eine<br />

offensichtliche Überschreitung der Ermessensgrenzen392 . Für einen solch<br />

evidenten Irrtum unter Verkennung des Normzwecks oder der für die Entscheidung<br />

notwendigen Tatsachen ist der Kläger beweispflichtig. Das gilt<br />

auch für ein Unterlassen der Berücksichtigung wesentlicher Gesichtspunkte<br />

oder die fehlerhafte Bewertung außerhalb der Reichweite des Entscheidungsspielraums.<br />

Dabei reichen Indizien aus, die einen solchen Einwand berechtigt<br />

erscheinen lassen393 . Grundlage dafür sind das gemeinschaftsrechtliche<br />

Effektivitätsprinzip sowie das Gebot des Individualrechtsschutzes394 . Sie<br />

sind mit der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes vergleichbar, dürfen<br />

nicht durch den Entscheidungsspielraum der Verwaltung konterkariert werden395<br />

. <strong>Die</strong> Überschreitung der Ermessengrenzen sowie die Einhaltung der<br />

gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze und der Grundrechte werden damit<br />

durch den EuGH überprüft. Dort geschützte Individualbelange schränken<br />

die Letztentscheidungsbefugnis der Verwaltung demnach ein.<br />

Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der EuGH auch bei unbestimmten<br />

Rechtsbegriffen nicht von einer vollständigen Überprüfbarkeit durch die Gerichte<br />

ausgeht396 . Er folgt damit der französischen Rechtstradition, wonach<br />

die Verwaltungsgerichte grundsätzlich auf die rechtliche Untersuchung der<br />

vom Kläger geltend gemachten Klagegründe beschränkt sind und unter<br />

Rücksichtnahme auf die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung von<br />

Amts wegen nur besonders schwerwiegende Rechtsfehler berücksichtigen397<br />

. Deshalb wird hierbei auch vom Evidenzkriterium gesprochen. <strong>Die</strong>se<br />

391 Zum Ermessensmissbrauch eingehend: Bleckmann, in: Grewe/Rupp/Schneider,<br />

Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit: Festschr. zum<br />

70. Geburtstag von Hans Kutscher., S. 25 ff., dort insbesondere S. 28, 35 und 38; s.a.<br />

Gornig/Trüe, JZ 1993, S. 890 mit Rspr-Hinweisen; aber auch Schwarze (FN 198), S.<br />

399; sowie beispielhaft EuGHE Rs 8/55 – Federation Charbonniere de Belgique ,<br />

Slg. 55/56 S. 317 ff.<br />

392 Grundlegend Rs 6/54 Regierung des Königreichs der Niederlande, Slg. 54/55, S. 213<br />

ff.; so auch zum Außenhandelsrecht Rs 191/81 Fediol, slg. 1983, 2913 ff. (anti-<br />

Dumping) , mit weiteren Nachweisen: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III,<br />

Art. 249 EGV, Rn 103<br />

393 Schwarze (FN 198), S. 321<br />

394 Tettinger (FN 128), 329, 331<br />

395 Kadelbach (FN 194), S. 449, 452<br />

396 Ehrlich (FN 62) , S 111<br />

397 Vgl. von Danwitz (FN 197), S. 84<br />

105


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

vom EuGH angewandten Grundsätze müssen wegen des Anwendungsvorrangs<br />

auch die nationalen Gerichte beachten 398 . Zweckmäßigkeits- und<br />

Prognoseerwägungen werden nach der EuGH-Rechtsprechung nur im Ausnahmefall<br />

beanstandet. Auf die Reichweite des mit einem wertenden Charakter<br />

verbundenen Evidenzkriteriums muss aber noch einmal näher eingegangen<br />

werden.<br />

b) Interpretation der EuGH-Rechtsprechung mittels Rechtsvergleich<br />

Hinweise darauf, wie die EuGH-Rechtsprechung zum Entscheidungsspielraum<br />

der Verwaltung rechtsdogmatisch begründet ist, auch zur Auslegung<br />

des Evidenzkriteriums, bietet ein Blick auf dessen Ursprünge im französischen<br />

Verwaltungsrecht und die hierzu ergangenen Ausführungen in der<br />

französischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. Ergänzend und beispielhaft<br />

für die anderen Mitgliedstaaten soll ein Blick auf die britische<br />

Rechtsordnung erfolgen. Schließlich geht es bei den Erscheinungsformen<br />

von Verwaltungsermessen nicht um eine gemeingültige Abstraktion, sondern<br />

allenfalls um vergleichbare Rechtsinstitute. Sie haben wegen ihrer verfassungsrechtlichen,<br />

historischen und politischen Verankerung unterschiedliche<br />

Grenzen des administrativen Entscheidungsspielraums entwickelt. An dieser<br />

Ausprägung der Gewaltenteilung in den Mitgliedstaaten muss sich der<br />

EuGH orientieren, um die im Binnenmarkt angestrebte Harmonisierungswirkung<br />

zu erzielen.<br />

Das Verwaltungsermessen französischer Prägung ist, ganz anders als in der<br />

deutschen Rechtsgeschichte, nicht Produkt des Gesetzes oder Richters, sondern<br />

einer historischen Verwaltungsautonomie399 . In der Gesetzgebung gibt<br />

es deshalb Zuständigkeiten der Verwaltung für Maßnahmen, die nicht oder<br />

nur sehr generalisierend an konkrete Voraussetzungen gebunden sind oder<br />

bei denen auch eine Umschreibung der Rechtsfolgenseite fehlt. <strong>Die</strong>ses erzeugt<br />

beachtliche administrative Handlungsspielräume und macht die Ermessensverwaltung<br />

zum Regelfall400 . Handlungsfreiheit wird mittels Unbestimmtheit<br />

der Rechtsnorm erzielt und mit pouvoir discrétionnaire bezeichnet.<br />

Ermessen liegt nach dem französischen Rechtsverständnis im Spannungsfeld<br />

mit dem principe légalité, einer richterrechtlichen Ausprägung des<br />

Rechtsstaatsprinzips und dem principe opportunité, dem der richterlichen<br />

398 Bestätigend Schwarze (FN 198), S. 458<br />

399 Vgl. Gaudemet, in: Bullinger (FN 299), Französischer Landesbericht, S. 113 ff.<br />

400 Schlette, <strong>Die</strong> verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich,<br />

S.96, 98<br />

106


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

Kontrolle nicht zugänglichen Prinzip der Zweckmäßigkeit einer Behördenentscheidung.<br />

<strong>Die</strong>se Prinzipien sind inzwischen stark durch die Rechtsprechung des obersten<br />

französischen Kontrollorgans der Verwaltung, des Conseil d’Etat (Staatsrates),<br />

relativiert worden. Neben einer zunehmend formalen Kontrolle von<br />

Ermessensentscheidungen (Zuständigkeit, Verfahren) erfolgt die Kontrolle<br />

der materiellen Rechtmäßigkeit. Bei ihr werden die Grenzen des Ermessens,<br />

so genannte Ermessensirrtümer, geprüft. <strong>Die</strong> Behörde muss einen rechtmäßigen<br />

Zweck verfolgen, den Sachverhalt zutreffend ermitteln und subsumieren<br />

sowie die Beachtung allgemeiner Rechtsprinzipien nachweisen. Dazu<br />

gehören u.a. der Gleichheitssatz, das Anhörungsrecht und die Verhältnismäßigkeit401<br />

. Besonderen Wert wird im Rahmen der Prüfung einer Rechtsverletzung<br />

auf die Begründung einer Ermessensentscheidung gelegt. Im Falle<br />

der Verwendung falscher oder unvollständiger Tatsachen gilt dies als fehlerhaft402<br />

, was zur Nichtigkeit der Entscheidung führt. Der ebenfalls der richterlichen<br />

Kontrolle zugängliche Vorwurf des Ermessensmissbrauchs, also<br />

eine bewusst zeckfremde Entscheidung, spielt für die Praxis eine geringe<br />

Rolle. Hintergrund ist die für den Kläger ungünstige Beweislast hierfür403 .<br />

Bei der Eingriffsverwaltung werden unbestimmte Rechtsbegriffe durch eine<br />

richterrechtliche condition légale daraufhin überprüft, ob eine zum Eingriff<br />

berechtigende Situation vorliegt404 . Hier stehen sich das öffentliche Interesse<br />

und die Freiheitsrechte des Bürgers in besonderem Maße gegenüber. Das<br />

Rechtsschutzinteresse des Einzelnen erhält besonderes Gewicht, so dass eine<br />

maximale gerichtliche Überprüfung polizeilichen Handelns gewährleistet<br />

sein soll405 . Es werden, wie im nationalen Recht, richterlich überprüfungsfähige<br />

Anwendungskriterien entwickelt, die den unbestimmten Rechtsbegriff<br />

näher bestimmen und ausfüllen sollen. Ein Beispiel dazu bildet das Polizeirecht,<br />

in dem Gründe der öffentlichen Sicherheit (ordre public) mittels des<br />

Erfordernisses einer menace (Bedrohung, Gefährdung) oder von troubles<br />

(Störung) spezifiziert werden 406 . Unter Berücksichtigung von Zeitpunkt und<br />

Umständen des Einzelfalls werden Erfordernis und Angemessenheit eines<br />

401 Schwarze (FN 198), S. 252<br />

402 Ebenda, S. 249<br />

403 Ebenda, S. 253<br />

404 Mit umfassenden Ausführungen zu Grundlagen des Ermessens und Kontrolldichte:<br />

Schlette (FN 400), S. 161,<br />

405 Schwarze (FN 187), S. 251<br />

406 Schlette (FN 400), 212, 220,<br />

107


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

Eingriffs geprüft407 . Es wird nicht nur die Gesetzmäßigkeit der Ziele des<br />

Eingriffs, sondern auch die Erforderlichkeit der eingesetzten Mittel hinterfragt.<br />

Schwere des Eingriffs und Maßnahme werden gegenübergestellt408 .<br />

Zur Schließung verbliebener Lücken der Verwaltungskontrolle hat sich in<br />

der jüngeren Rechtsprechung das Rechtsinstitut des „offensichtlichen Beurteilungsfehlers“<br />

(erreur manifeste) etabliert. <strong>Die</strong>ser erlaubt eine zunächst<br />

umfassende richterliche Kontrolle von Tatsacheneinschätzung, Entschließungs-<br />

und Auswahlermessen, in deren Rahmen ebenfalls eine Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

stattfindet. Das Kernstück des Rechtsinstitutes, das Evidenzkriterium,<br />

wird je nach Rechtsgebiet unterschiedlich weit ausgelegt, die<br />

Intensität der Entscheidungskontrolle ist dabei regelmäßig hoch, erst im Ergebnis<br />

wird dann über die Evidenz beschieden, was von der Schwere des<br />

Verstoßes und der Sensibilität des Rechtsgebietes abhängt. Im Sicherheitsrecht<br />

ist der Maßstab eher eng, im Wirtschaftsverwaltungsrecht weit gefasst.<br />

Für die Kontrollintensität gibt es letztlich keine generalisierende Regel wie<br />

im deutschen Verwaltungsrecht. Sie richtet sich nicht zuletzt auch nach den<br />

betroffenen schützenswerten berechtigten öffentlichen und privaten Interessen409<br />

. Eine flexiblere Handhabung lässt auch der EuGH erkennen. Für das<br />

Außenwirtschaftsrecht sei z.B. wegen der damit verbundenen politischen<br />

Dimension der Entscheidungsspielraum der Verwaltung höher zu bewerten<br />

als in der Binnenwirtschaft. Jedoch lässt sich nicht klar differenzieren, in<br />

welchen Fällen der Gerichtshof sich auf eine Evidenzkontrolle der Verwaltungsentscheidung<br />

beschränkt. Zum Beispiel würde bei Klagen im Zusammenhang<br />

mit komplexen Werturteilen nicht zwingend ein Beurteilungsspielraum<br />

festgestellt410 .<br />

Auch in Großbritannien hat die Ermessensfunktion mit Blick auf die Gewährleistung<br />

der Gewaltenteilung eine besondere Stellung bei der judical<br />

review von Verwaltungsentscheidungen. Sie hat besonderen Einfluss auf die<br />

Herausbildung eines organisatorischen sowie verfahrensrechtlichen Sicherungssystems,<br />

dass einen Ermessenmissbrauch der Behörde verhindern soll.<br />

Überprüft wird das Handeln der Verwaltung innerhalb bzw. außerhalb des<br />

Ermächtigungsrahmens (ultra vires). Dazu gehört das schon zum deutschen<br />

sowie französischen Recht erörterte Prinzip der Regelbildung. Allgemein<br />

richte sich die Intensität der gerichtlichen Kontrolle danach, ob eine Regel-<br />

407 Schmitz, Rechtsstaat und Grundrechtsschutz im französischen Polizeirecht, S. 240 ff.,<br />

264<br />

408 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 43<br />

409 Nolte, in: Frowein (FN 369), S. 281<br />

410 Herdegen/Richter, in: Frowein (FN 369), S. 244 f.<br />

108


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

bildung möglich ist bzw. Anwendungsrichtlinien existiert. <strong>Die</strong>ses hänge<br />

vom betroffenen Sachbereich der Verwaltung ab411 . Eine der deutschen und<br />

französischen Verfassung vergleichbare Rechtsschutzgarantie gibt es<br />

gleichwohl nicht. Der Prüfungsmaßstab nach den drei Stufen Illegality, Irrationality<br />

und Proportionality wird bei der Ermessensentscheidung nur im<br />

Ausnahmefall angewandt. Stufen eins und zwei sind wegen der negativen<br />

Formulierung eher als Missbrauchsverbot zu verstehen. <strong>Die</strong> dritte Stufe, das<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip, wird vor allem bei starken Beeinträchtigungen<br />

der Freiheitsrechte angewandt. Im Übrigen gibt es eine Tendenz der Rechtsprechung<br />

zur Verstärkung der Kontrolldichte412 .<br />

Insgesamt lässt sich festhalten, dass in Frankreich sowie in England beim<br />

Ermessen keine Unterscheidung von Rechtsfolgen- und Tatbestandsseite getroffen<br />

wird. Das deckt sich mit der EuGH-Rechtsprechung. In beiden<br />

Rechtsordnungen wurden wie in Deutschland, Grenzen der Ermessensausübung<br />

herausgearbeitet, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Insbesondere<br />

geht es um die Einhaltung der Grenzen übertragener Staatsgewalt,<br />

was in der englischen ultra-vires-Rechtsprechung oder im französischen<br />

pouvoir discrétionnaire, insbesondere aber durch die jeweils entwickelten<br />

Formeln und Standards für die inhaltliche Kontrolle des Ermessens zum<br />

Ausdruck kommt413 . Verschiedene Ermessensbereiche unterliegen auch der<br />

materiellen richterlichen Kontrolle des zweckmäßigen Handelns, je nach<br />

Eignung zur Rechtsfortbildung über die Entwicklung von Anwendungsregeln<br />

auf der Grundlage von Erfahrungssätzen.<br />

Bei dieser Regelbildung darf die Verwaltung allerdings nicht an einer im<br />

Einzelfall angemessenen Reaktion gehindert werden, insbesondere darf die<br />

Ermessensfunktion effektiven Handelns der Verwaltung nach dem Normzweck<br />

nicht außer Acht gelassen werden414 . Insbesondere sind normkonkretisierende<br />

Verwaltungsvorschriften nicht geeignet, eine richterliche Bindung<br />

zu erzeugen. Sie können das Fehlen eines Rechtssatzes, vor allem wegen<br />

oftmals fehlender Transparenz nicht ersetzen415 . Daraus lässt sich der<br />

Schluss ziehen, dass eine gerichtliche Prüfung zumindest dahingehend möglich<br />

ist, dass die Verwaltungsrichtlinien bzw. -vorschriften von der vorhan-<br />

411 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 49 und Graig, ebenda, S. 110<br />

412 Nolte, in: Frowein, (FN 369), S. 281<br />

413 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 28, 37<br />

414 Zum Konflikt von Rechtssicherheit auf der einen, und Berechenbarkeit und Effizienz<br />

des Verwaltungshandelns auf der anderen Seite: ebenda, S. 49, 149<br />

415 Kadelbach, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S.239 unter Verweis auf<br />

v. Danwitz (FN 197), S. 220 ff.<br />

109


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

denen Rechtsnorm gedeckt sind, also sich im Rahmen des Entscheidungsspielraumes<br />

bewegen. Im Vergleich mit den in Deutschland entwickelten<br />

Grundsätzen zu Ermessen und Beurteilungsspielraum lässt sich feststellen,<br />

dass die Kontrolldichte bei Ermessensfehlgebrauch und -ausfall in Frankreich<br />

durchaus vergleichbar ist. Grundrechte und Verfassungsprinzipien inklusive<br />

der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs werden, wenn auch nicht innerhalb<br />

des Ermessens, so doch in allen Rechtsordnungen gleichermaßen,<br />

berücksichtigt.<br />

Der Umgang mit dem Beurteilungsspielraum, insbesondere hinsichtlich der<br />

Überprüfung allgemein gültiger Bewertungsmaßstäbe ist ebenfalls vergleichbar416<br />

. Auch in der Kontrollpraxis des EuGH geht es nach den o.g.<br />

Erwägungen vor allem um die Berücksichtigung schwerer Rechtsfehler, die<br />

ohne weiteres erkennbar bzw. feststellbar sind. Es erfolgt, wie sie nach der<br />

nationalen Lehre, eine Wertung des Normzwecks und betroffener Belange417<br />

. Allerdings ist eine eher restriktive Tendenz des EuGH zu beobachten,<br />

evidente Fehler im Rahmen dieser Wertung anzuerkennen, insbesondere bei<br />

mit der Wertung verbundenen materiellen Rechtsfragen418 . Dem deutschen<br />

Ansatz einer materiell sehr weitgehenden gerichtlichen Prüfungskompetenz<br />

stehen dafür auf EG-Ebene stärker verfahrensorientierte Modelle gegenüber,<br />

wie dies auch in Frankreich und Großbritannien der Fall ist419 . <strong>Die</strong> vom<br />

EuGH übernommenen kompensatorischen Elemente von Anwendungsrichtlinien<br />

und Verfahrensrelevanz erinnern im Übrigen erheblich an Maßstäbe<br />

aus dem Risikoverwaltungsrecht, auf das noch später einzugehen sein<br />

wird420 . Letztlich geht es um das Prinzip einer funktionsgerechten Machtverteilung<br />

(Gewaltenteilung) zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichten,<br />

welches als Organisationsprinzipien auch auf EG-Ebene zu berücksichtigen<br />

ist421 . Das ergibt sich nicht zuletzt aus Art. 6 EMRK422 .<br />

416 Schlette (FN 400), zur Offensichtlichkeit eines Beurteilungsfehlers,:S. 273 ff.;<br />

Rechtsvergleich mit deutscher Ermessensfehlerlehre: S. 351<br />

417 Vgl. hierzu Pache (FN 337), S. 399<br />

418 So Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 50<br />

419 Pietzker, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 111 unter Verweis u.a.<br />

auf Kokott, DÖV 1998, 335, 336 f.<br />

420 Vgl. Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 418<br />

421 Schmidt-Aßmann. in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S.37<br />

422 Frowein, in: Frowein, (FN 369), S. 284<br />

110


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

5. <strong>Die</strong> rechtlichen Folgen fehlerhafter Ermessensausübung<br />

Ein Vergleich der gerichtlichen Prüfungstiefe im nationalen und Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

bedarf auch der Frage nach den Fehlerfolgen. Konkrete<br />

Regelungen zur gerichtlichen Kassation von Verwaltungsakten, wie sie<br />

die §§ 45 und 46 VwVfG vorsehen, gibt es im allgemeinen Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

ebenso wenig wie in der Dual-use-VO. Daher ist das nationale<br />

Recht anwendbar.<br />

Nach § 44 VwVfG kommt es ausnahmsweise zur Nichtigkeit von Rechtsakten,<br />

wenn dies offensichtliche, besonders schwere Fehler der Verwaltung betrifft.<br />

Bei Würdigung aller Tatsachen muss der Durchschnittsbürger erkennen<br />

können, dass die Maßnahme fehlerhaft war423 . § 44 Abs. 2 VwVfG<br />

zeigt, dass die Maßstäbe dafür gegenüber der Evidenzrechtsprechung des<br />

EuGH höher angesiedelt sind. Neben schwerwiegenden Verfahrensfehlern,<br />

zu denen gerade nicht die Begründungspflicht zählt, stehen ganz erhebliche<br />

materielle Fehler, die an Straftaten und einer Verletzung der guten Sitten fest<br />

machen. Es geht nicht um bereichsspezifische Wertungen und Abwägungen,<br />

wie sie der EuGH im Sinne einer Verhältnismäßigkeitskontrolle vornimmt.<br />

In Folge fehlerhafter Ermessensausübung kann das Gericht eine Entscheidung<br />

nach § 46 VwVfG aufheben oder gem. §§ 86, 113 Abs. 2 und 3 VwGO<br />

selbst entscheiden424 . <strong>Die</strong>s hängt davon ab, ob eine Entscheidung zwingend<br />

hätte anders getroffen werden müssen, also Auswirkungen des Fehlers auf<br />

die Entscheidung bestehen. Es geht um eine gerichtliche Wertung der zulässigen<br />

Fehlertoleranz, keinesfalls um eine Beweislast des Betroffenen für die<br />

Auswirkungen des Fehlers425 . <strong>Die</strong>ser Wertungsspielraum der Gerichte<br />

scheint dem Evidenzkriterium des EuGH zu ähneln, das sich allerdings auch<br />

auf materielle Rechtsfehler bezieht. Wenn eine anderweitige Sachentscheidung<br />

denkbar ist, führen Zuständigkeits- und Verfahrensmängel zur Aufhebung<br />

der Entscheidung nach § 46 VwVfG426 .<br />

Im nationalen Recht ordnet § 45 VwVfG eine nachträgliche Heilung oder<br />

Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern an. Dadurch könnte die Effizienz<br />

des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt werden. Eine sanktionslose Nachholung,<br />

z.B. der Mitwirkungsrechte des Antragstellers, könnte die Missachtung<br />

des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten begünstigen. Im Einzel-<br />

423 Bull/Mehde, Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre, S. 324 ff.<br />

424 Zum nationalen Recht: Alexy, JZ 1986, 707<br />

425 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO, Rn 54<br />

426 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 38<br />

111


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

fall muss diese Regelung daher wegen des gemeinschaftsrechtlichen Effizienzgebotes<br />

zurücktreten427 .<br />

Fehler ziehen im gemeinschaftsrechtlichen Verfahren häufig ernstere Konsequenzen<br />

nach sich als nach dem nationalen Recht. Verstöße sollen dort<br />

stets beachtlich sein, es sei denn, es können Auswirkungen des Fehlers auf<br />

die Entscheidung ausgeschlossen werden428 . Im Gemeinschaftsrecht führt<br />

jeder Verfahrensverstoß zur Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes. Es kann<br />

bei offensichtlichen Fehlern auch eine Nichtigkeit der Entscheidung angenommen<br />

werden. Nach der Theorie der Nichtexistenz entfaltet ein Rechtsakt<br />

keine Rechtswirkung, wenn er Fehler aufweist und diese besonders schwerwiegend<br />

und offenkundig sind. Er sei dann weder für diejenigen, für die er<br />

bestimmt sei, noch für die Stelle, die ihn erlassen habe, verbindlich, ohne<br />

dass eine vorherige richterliche Entscheidung erforderlich sei. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />

dass dieser Rechtsakt keine Wirkung entfalte, könne im Übrigen auch außerhalb<br />

der vorgesehenen Rechtsbehelfsfristen festgestellt werden429 . <strong>Die</strong><br />

Nichtigkeit macht den formalen Aufhebungsakt des Gerichtes verzichtbar.<br />

<strong>Die</strong>se Rechtsprechung folgt der dargelegten französischen Rechtstradition,<br />

wonach die Verwaltungsgerichte auf die Untersuchung der vom Kläger geltend<br />

gemachten Klagegründe beschränkt sind. Unter Rücksichtnahme auf<br />

die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung muss das Gericht nur schwerwiegende<br />

Rechtfehler berücksichtigen430 .<br />

Der in Einzelbereichen geringeren materiell-rechtlichen Kontrolle des<br />

EuGH steht in jedem Fall eine striktere Überprüfung verfahrensrechtlicher<br />

Garantien bei der Ausübung des Entscheidungsspielraums gegenüber431 . <strong>Die</strong><br />

Einhaltung der Verfahrens- und Formvorschriften bietet aus seiner Sicht sehr<br />

wichtige Anhaltspunkte für die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung432<br />

. Im Vergleich der Ermessensfehlerlehre und der Grenzen von Beurteilungsspielräumen<br />

mit dem Gemeinschaftsrecht ergeben sich folgende<br />

Konsequenzen:<br />

(1) Im Ergebnis würde eine Beschränkung von §§ 45, 46 VwVfG durch<br />

gemeinschaftsfreundliche Auslegung zu einer Aufhebung der Verwal-<br />

427 Mit Beispiel der Kooperationspflichten der Mitgliedstaaten und der Vorrangwirkung<br />

gegenüber § 45 VwVfG: Ehrlich (FN 62),S. 92/ 94<br />

428 Gornig/Trüe, JZ 2000, 395, 397<br />

429 EuGH, Rs C-137/92 - BASF u. a./Kommission, Slg. 1994 I, 2555; aus Sicht von<br />

Schwarze ist dies aber die Ausnahme, (FN 198), S. LX und 285<br />

430 von Danwitz (FN 197), S. 84<br />

431 EuGH, Slg. 1991, I-5469 Rn 13 f. und I-5502, Rn 27 ff. – TU München<br />

432 Schwarze (FN 198), S. 308<br />

112


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

tungsentscheidung führen. Eine <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> wäre so noch<br />

nicht erteilt. Sie müsste in einem neuen Verfahren beschieden werden.<br />

Dort könnte die verbesserte Begründung heilend nachgeschoben werden.<br />

Eine nach Gemeinschaftsrecht mögliche Nichtigkeit der Ablehnungsentscheidung<br />

würde damit zur selben Rechtsfolge wie die Aufhebung<br />

führen. Dem Begehren des Ausführers ist so nicht Genüge getan.<br />

(2) Soweit es in seinem Interesse liegt, hat er Anspruch auf eine Bescheidung<br />

des Antrages. Den Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung<br />

kann er gegenüber der zuständigen Behörde geltend machen. Im<br />

Ergebnis kommt es in beiden Rechtsbereichen faktisch zu vergleichbaren<br />

Fehlerfolgen.<br />

(3) Eine Genehmigungsentscheidung des Gerichts wäre ausnahmsweise<br />

bei Sachverhalten möglich, in denen die Entscheidungsprärogative der<br />

Behörde nicht beeinträchtigt wäre, weil die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> in jedem<br />

Fall hätte erteilt werden müssen. Eine solche Ermessensreduzierung<br />

auf Null 433 wäre z.B. denkbar, wenn bei identischen Sachverhalten<br />

und unveränderter Gefahrenlage eine anderweitige positive Entscheidung<br />

aus der Vergangenheit hätte berücksichtigt werden müssen. Eine<br />

Selbstbindung der Verwaltung liegt vor, wenn sachliche Gründe für eine<br />

abweichende Beurteilung fehlen. In der Praxis ist das kaum denkbar,<br />

da die absolute Vergleichbarkeit zweier Genehmigungsanträge<br />

kaum gegeben ist. Bei den technischen Eigenschaften des Ausfuhrgutes<br />

ebenso sowie den Prognosen zur Endverwendung und sicherheitspolitischen<br />

Konsequenzen differieren die Anträge regelmäßig.<br />

6. Gemeinsamkeiten der gerichtlichen Prüfungstiefe im nationalen<br />

Recht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

a) Vergleich der Fehlerlehren<br />

Der EuGH erkennt einen umfassenden Entscheidungsspielraum der Verwaltung<br />

an. Aus den Parallelen zum französischen Recht lässt sich schließen,<br />

dass dieser durchaus einer richterlichen Kontrolle zugänglich ist, wie sie im<br />

nationalen Recht erfolgt. Der EuGH beschränkt sich bei der Prüfung der<br />

Tatsachenwürdigung umso mehr, je weiter das der Entscheidung zu Grunde<br />

liegende Ermessen ist und je unsicherer sich die künftigen Auswirkungen<br />

der Entscheidung beurteilen lassen. Gegenüber normativen Akten kann auch<br />

433 Dazu Wolff (FN 174), S. 103 Rn 60<br />

113


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

ein Verstoß gegen den Ermächtigungszweck oder eine gezielte Umgehung<br />

vorgegebener Verfahren als Ermessensmissbrauch geltend gemacht werden.<br />

Bei behördlichen Einzelentscheidungen sind diese Missbräuche kaum praxisrelevant434<br />

. <strong>Die</strong> Kontrolle beschränkt sich auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit<br />

einer Maßnahme und die Frage, ob diese offensichtlich ungeeignet<br />

ist. <strong>Die</strong> Beurteilung künftiger Entwicklungen ist von Rechts wegen<br />

nur zu beanstanden, wenn die getroffene Maßnahme offensichtlich irrig erscheint<br />

435 . Gleichzeitig steigen mit dem Ermessen die Anforderungen an die<br />

Verfahrensvorgaben, insbesondere die Begründungspflicht der Behörde.<br />

<strong>Die</strong>s ist wichtig, weil Verfahrensfehler zur Nichtigkeit von Rechtsakten führen<br />

können.<br />

Ähnliche Prüfungsschritte gelten auch im Rahmen der nationalen Maßstäbe.<br />

<strong>Die</strong> verfassungsmäßige Kontrolle des konkreten Verwaltungshandelns bezieht<br />

sich auf die Sachverhaltsermittlung, Verfahrensgestaltung und die inhaltliche<br />

Kontrolle der Entscheidung selbst. Auch hierbei werden Ermessensfehler<br />

in Form von Überschreitungen und Missbräuchen, der im Rechtsstaatsprinzip<br />

verankerter Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Willkürverbot<br />

und die Freiheitsrechte einbezogen. Im Rahmen der Maßstäbe von §<br />

144 VwGO und § 40 VwVfG wird dies am Erfordernis einer pflichtgemäßen<br />

Ermessensausübung bzw. am Ermessensfehlgebrauch festgemacht.<br />

Auch evidente Tatsachenirrtümer, wie sie der EuGH missbilligt, sind von<br />

der nationalen Lehre erfasst. Eine möglicherweise anderweitige Sachentscheidung<br />

im Sinne des § 46 VwVfG erscheint dann kaum denkbar.<br />

Als wesentlicher Unterschied zwischen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen<br />

Prüfungsansätzen verbleibt die Steuerung der Kontrollintensität durch<br />

das Evidenzkriterium und die damit verbundenen Wertungen. In Verfahren,<br />

wo es trotz vorliegender Ermessensfehler zu einer Beibehaltung der Entscheidung<br />

kommt, wird die Rechtsverletzung des Klägers hingenommen.<br />

Das Evidenzkriterium sorgt dafür, dass die Verwaltungsautonomie bis zu einem<br />

bestimmten Grad Vorrang behält. Nach der nationalen Ermessensfehlerlehre<br />

könnte die Ermessenüberschreitung oder eine fehlerhafte Interessenabwägung<br />

im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei vergleichbaren Fällen<br />

scheinbar leichter gerügt werden. Da dies aber ebenfalls über Abwägungen<br />

und Wertungen geschieht, kommt es zu einem mit der Evidenzsteuerung<br />

vergleichbaren Effekt. Bereichspezifische Entscheidungsspielräume bleiben<br />

434 Dazu mit Beispielen: Schwarze (FN 198), 314, 318<br />

435 EuGH, Rs. 265/87 - Schräder, Slg. 1989, 2237, 2270; Rs. C-280/93 - Bananenmarktordnung,<br />

Slg. 1994, I-4973; zur offenischtlich irrigen Annahmen vgl. EuGH, Rs. C-<br />

295/94 - Hüpeden, Slg. 1996, I-3375<br />

114


II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />

durch die Gerichte graduell unangetastet. Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

und nationales Verwaltungsrecht führen danach regelmäßig zu vergleichbaren<br />

Ergebnissen. Verfahrensfehler, wie die mangelhafte Entscheidungsbegründung,<br />

führen im Gemeinschaftsrecht zu einer Nichtigkeit der Entscheidung,<br />

während es bei materiellen Ermessensdefiziten durch das Evidenzkriterium<br />

zu einer weniger strikten Bewertung der Rechtswidrigkeitsfrage<br />

kommen kann.<br />

Im Vergleich der praktischen Rechtsanwendung divergieren nationale und<br />

gemeinschaftsrechtliche Prinzipien vor allem deshalb, weil die EU eine<br />

dogmatische Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge nicht kennt, sondern<br />

beide in einer umfassenden Doktrin der Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit<br />

der Verwaltung aufgehen436 . Auch im Gemeinschaftsrecht geht es<br />

darum, administrative Gestaltungsfreiheit, bürgerschaftliche Rechtsschutzgewährung<br />

und parlamentarische Verantwortung angemessen zu verorten.<br />

Entscheidungsfreiheit in Folge rechtlicher Vorgaben ist immer gebunden<br />

und frei zugleich, da die Verwaltung immer zur Beachtung der Rechtsschranken<br />

verpflichtet ist437 . <strong>Die</strong> strukturellen Gemeinsamkeiten von Beurteilungsspielraum<br />

und Ermessen lassen beide Rechtsinstitute als Subkategorien<br />

administrativer Gestaltungsmacht erscheinen. Deren Kontrollmaßstäbe<br />

gleichen sich mit Rücksicht auf den Anspruch rechtlichen Gehörs stark438 .<br />

Schließlich zielt Ermessen auf eine einzelfallbezogene Tatbestandsergänzung<br />

der offenen Rechtsfolge. Vergleichbares geschieht beim Beurteilungsspielraum,<br />

der als Rechtsschöpfung zweiter Stufe durch Bildung konkretisierender<br />

Untersätze verwirklicht wird. <strong>Die</strong> strukturellen Trennlinien von<br />

Tatsachen- und Rechtsfragen lassen sich aber nicht immer erkennen439 . Es<br />

muss berücksichtigt werden, dass in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten<br />

Entscheidungsspielräume der Verwaltung und zu den deutschen Ansätzen<br />

Parallelen bestehen. Wegen der sehr starken Verknüpfung des Themas<br />

mit der machtpolitischen Verteilung und dem Staatsorganisationsgefüge als<br />

Ganzes ist eine Konvergenz der Mitgliedstaaten aber erheblich gehemmt.<br />

Der EuGH bezieht die Besonderheiten der Rechtsschutzsysteme bei seinen<br />

Erwägungen ein, auch bei der Bewertung der Reichweite von Verwaltungsautonomie440<br />

. Im Ergebnis sind die Erwägungen der nationalen Fehlerlehre<br />

im Lichte der weitgehend vergleichbaren EuGH-Rechtsprechung anwend-<br />

436 Mit diesem Fazit vgl. Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd.1, Art. 6 Dualuse-VO,<br />

Rn 15<br />

437 Rhinow, in: Bullinger (FN 299), S. 77<br />

438 von Danwitz (FN 197), S. 84<br />

439 Herdegen/Richter, in: Frowein (FN 369), S. 247<br />

440 Schwarze (FN 198), S. 297<br />

115


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

bar, so dass praktische Auswirkungen dogmatisch unterschiedlicher Ansätze<br />

weder bei Verfahrens- noch Rechtsfehlern gegeben sein dürften. Das gilt erst<br />

recht, wenn man weit reichende Entscheidungsspielräume der Verwaltung<br />

i.V.m. Prognoseentscheidungen anerkennt 441 .<br />

b) Einheitliches Prüfungsschema und Gewichtung der Evidenzlehre<br />

Im Ergebnis eröffnet das Gemeinschaftsrecht eine mit § 114 VwGO vergleichbare<br />

Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen. Verfahrensfehler werden<br />

genauso wie Richtlinienverstöße, Verstöße gegen den Gleichheitssatz<br />

und Verhältnismäßigkeitsprüfung einbezogen. <strong>Die</strong> Gewichtung des Rechtsfehlers<br />

erfolgt beim EuGH allein im Rahmen der Evidenzkontrolle, was<br />

dann zur Nichtigkeit der Entscheidung führt. <strong>Die</strong>s ist letztlich mit der Abwägung<br />

der betroffenen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vergleichbar,<br />

die auch im nationalen Recht vorgesehen ist. Hierbei können aufgrund<br />

der materiellen Wirkung des § 39 VwVfG auch Verfahrensfehler einbezogen<br />

werden. Bei Gemeinschaftsrechtsakten ist die Möglichkeit der Heilung<br />

von Verfahrensfehlern im Sinne des § 45 VwVfG durch den Anwendungsvorrang<br />

präkludiert. Der dort formulierte Sanktionsgedanke der Nichtigkeit<br />

bei Verfahrensfehlern muss auch von deutschen Gerichten berücksichtigt<br />

werden und zur Aufhebung der Entscheidung führen. Folgendes<br />

einheitliches Prüfungsschema lässt sich nach diesen Feststellungen aus beiden<br />

Lehren festhalten:<br />

116<br />

I. Formelle Rechtmäßigkeit<br />

1. Zuständigkeit<br />

2. Verfahren: zutreffende und vollständige Sachverhaltsermittlung<br />

(evidenter Tatsachenirrtum, Ermessensfehlgebrauch), Einhaltung<br />

weiterer Verfahrensvorgaben, z.B. Berücksichtigung der Verteidigungsrechte<br />

3. Form: Einhaltung des Begründungserfordernisses (Ermessensfehlgebrauch)<br />

II. Materielle Rechtmäßigkeit bzw. Inhaltskontrolle<br />

1. Feststellung des Ermessensrahmens: Berücksichtigung der Verfassungs-<br />

oder Gemeinschaftsziele, Normzweck und verfassungs-<br />

441 So auch Wolffgang, DVBL. 1996, 277, 284 unter Verweis auf Bleckmann, in: Grewe/Rupp/Schneider<br />

(FN 391), S.25 ff., Gornig/Trüe, JZ 1993, S. 890, aber auch<br />

Schwarze (FN 198), S. 454 ff. ; s.a. Wolffgang, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN<br />

128), S. 39 ff., 70


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

konforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, Berücksichtigung<br />

von Grundrechtseingriffen und Beweislastfragen (Ermessensmissbrauch<br />

oder -fehlgebrauch)<br />

2. Selbstbindung der Verwaltung: Konkretisierung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe/ Typisierung von Ermessenssachverhalten durch<br />

Richtlinien, Anwendung der vorhandenen Richtlinien und Beachtung<br />

des Willkür- bzw. Diskriminierungsverbotes (Ermessensfehlgebrauch,<br />

Ermessensüberschreitung)<br />

3. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs: Geeignetheit und Erforderlichkeit<br />

des Eingriffs, Interessenabwägung i.V.m. Normzweck (Ermessensüberschreitung,<br />

Disproportionalität)<br />

III. Evidenzlehre des EuGH<br />

Wertung der Intensität des Rechtsfehlers i.V.m. betroffenen Belangen<br />

und Normzweck (Ähnlichkeiten zur Angemessenheitsprüfung<br />

im Rahmen der Verhältnismäßigkeit); u.U. abweichende Gewichtung<br />

von Verfahrensfehlern im Vergleich zum nationalen Recht<br />

7. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Aus rechtssystematischen Gründen muss auch weiter unterschieden werden,<br />

welcher Kontrollmaßstab bzw. welche Ermessensfehlerlehre im konkreten<br />

Fall anzuwenden ist. Wegen der Zweigleisigkeit des Verfahrensrechts richtet<br />

sich diese nach der Herkunft der materiellen Norm, die einen Entscheidungsspielraum<br />

der Verwaltung vorsieht. <strong>Die</strong> Dogmatik des Gemeinschaftsverwaltungsrechts<br />

steht einer einheitlichen Anwendung der Ermessensfehlerlehren<br />

nicht entgegen. Sie unterscheiden sich dadurch, dass gemeinschaftsrechtliche,<br />

nur offensichtliche inhaltliche Ermessensfehler, gerügt<br />

werden können während im nationalen Recht Verfahrensfehler weniger erheblich<br />

sind. Im Vergleich zur deutschen Dogmatik kommt es zu einer verstärkten<br />

Bedeutung des Verfahrens. Darauf müssen die nationalen Behörden<br />

bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht achten.<br />

III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

Nach dieser allgemeinen Betrachtung der rechtsdogmatischen Ansätze des<br />

Entscheidungsspielraums wird die rechtliche Qualität einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />

geprüft. Dabei kommt es auf das Prognoseelement an,<br />

117


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

das der Gefahrenbewertung immanent ist. Hier ergibt sich ein bestimmter<br />

Prüfungsmaßstab für die Sachverhaltsermittlung und -bewertung durch die<br />

Behörde sowie auch für die gerichtliche Kontrolle der administrativen Entscheidung.<br />

1. <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung in der Exportkontrolle<br />

Sowohl nach AWG sowie auch der Dual-use-VO kommt es für die Erteilung<br />

der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> auf das Vorliegen einer Gefahr bzw. Gefährdung<br />

für die dort geschützten Rechtsgüter bzw. Interessen an. <strong>Die</strong> dafür notwendige<br />

Behördeneinschätzung hat Prognosecharakter, da sie sich auf eventuelle<br />

mögliche künftige Ereignisse im Zusammenhang mit der Verwendung der<br />

Lieferung bezieht. Es kommt auf die Frage nach den objektiven Anhaltspunkten<br />

für mögliche Rechtsgutgefährdungen ebenso an, wie auf die rechtlichen<br />

Maßstäbe zur Bewertung der tatbestandlich geforderten Gefahren-<br />

oder Störungssituation.<br />

a) Vorbemerkungen zum Vergleich der Regelungsbereiche in AWG<br />

und Dual-use-VO<br />

Beim Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit gibt es hinsichtlich der Normierung<br />

selbst keine Abweichungen. Beschränkungen sind die Ausnahme<br />

und müssen durch eine Ermächtigungsnorm gedeckt sein. <strong>Die</strong>s gilt auch bei<br />

Versagung einer Genehmigung. Sie muss sachlich gerechtfertigt und begründet<br />

sein. Mit Blick auf die Genehmigungskriterien stimmen Entscheidungen<br />

bei Genehmigungspflichten der Dual-use-VO nach Art. 9 Abs. 1<br />

Dual-use-VO und § 3 Abs. 1 AWG und § 7 AWG letztlich - wenn auch in<br />

etwas anderer Formulierung und Reihenfolge - inhaltlich überein442 . <strong>Die</strong>s<br />

wird der Sachlage und rationalen Vergleichbarkeit der jeweiligen Kontrollansätze<br />

gerecht. Im Ergebnis wird man selbst bei Annahme einer unterschiedlichen<br />

dogmatischen Verankerung der Genehmigungspflicht zu gleichen<br />

Entscheidungen kommen müssen.<br />

Was die verfassungsrechtliche Einstufung des Normcharakters und des damit<br />

verbundenen Entscheidungsspielraumes angeht, ist die im Gegensatz zu<br />

§ 3 AWG abweichende Formulierung der Dual-use-VO bedeutsam. Es gibt<br />

inzwischen eine Reihe von Stimmen, die davon ausgehen, dass Art. 8 i.V.m.<br />

442 Zur nationalen Regelung des § 1 AWG vgl. Teil 1 II.5.b) und zu Art 1 EG-VO Teil 1<br />

II.2.b), zum Vergleich der Genehmigungskriterien so im Ergebnis: Haddex (FN 4),<br />

Bd. 1, Teil 6 Rn 397 sowie eingehend dazu: Teil 1 I.5.d)<br />

118


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

Art. 9 Dual-use-VO als Ermessensnorm einzustufen ist443 . Zumindest die<br />

Formulierungen in den Vorschriften wie kann ablehnen oder die negative<br />

Formulierung im Zusammenhang mit Überlegungen sowie der offene Kriterienkatalog<br />

sprechen für diese Auslegung. In der Konsequenz wird geschlussfolgert,<br />

dass die europäischen Verfahrensgrundsätze für die Ausübung<br />

des Ermessens anzuwenden seien, sie wären insbesondere durch die<br />

Rechtsprechung des EuGH geprägt. Im Ergebnis könnte dann eine nur eingeschränkte<br />

gerichtliche Überprüfung des Entscheidungsspielraums erfolgen,<br />

was sich vor allem auf eine Beschränkung der Fehlerkontrolle auswirke.<br />

Ausgehend von dem bereits hinlänglich beschriebenen Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

gibt es dazu aber auch Gegenstimmen. Insbesondere gingen<br />

die zuständigen Behörden wegen der Notwendigkeit der Gefährdung der<br />

im Kriterienkatalog genannten Interessen von einem Anspruch des Antragstellers<br />

auf <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> aus, es sei denn, es liegen Anhaltspunkte<br />

für die gesetzliche Ausnahme vor444 . <strong>Die</strong> hinter den jeweiligen Auffassungen<br />

stehenden systematischen Argumente sollen deshalb noch einmal<br />

herausgestellt werden, vor allem mit der Fragestellung, ob es dabei wirklich<br />

zu abweichenden Prüfungsergebnissen kommt. Zuvor werden die sich in<br />

Verbindung mit der genehmigungsimmanenten Gefährdungs- bzw. Verwendungsprognose<br />

ergebenden Qualitätsmerkmale der Genehmigungspflicht<br />

näher untersucht.<br />

b) Verwendungsprognose und Sachverhaltsermittlung<br />

aa) Verwendungsprognose als Grundlage der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

Im Rahmen der bei jeder <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung zu treffenden<br />

Gefahrenprognose stellt sich bei Dual-use-Gütern implizit immer auch die<br />

Frage der Verwendungsprognose, das heißt, ob eine militärische Endverwendung<br />

des Gutes oder eine sonstige sensitive Endverwendung in Frage<br />

kommt. <strong>Die</strong> Gefahrenprognose bezieht sich also auf die Endverwendung<br />

und die daraus resultierende Rechtsgutgefährdung. Sie muss sich auf einen<br />

Sachverhalt stützen, der hinreichende Anhaltspunkte für die Endverwendung<br />

des Ausfuhrgutes bietet. Neben der technischen Qualität müssen Empfänger<br />

und Endverwender sowie deren potenzielle Verwendungsabsichten geklärt<br />

443 Ehrlich (FN 62), S. 106; Wolffgang, DVBl. 1996, 277, 284 VG Frankfurt a.M. (Urteil<br />

vom 08.05.2003 1E 3273/02(1), Besprechung von Ott, AW-Prax 2003, S. 353, 355,<br />

eingehend zu Hintergrund, Handhabung und gerichtlicher Prüfung der „Entscheidungsprärogative“<br />

Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S.77 ff.<br />

444 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 63 ff.<br />

119


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

werden445 . Aber weder der Antragsteller noch die Behörde können sicherstellen,<br />

dass die vorliegenden Angaben zur Endverwendung Realität werden<br />

und vor allem bleiben. Es schließt sich deshalb die Frage an, ob es dennoch<br />

ein Restrisiko gibt oder, tatbestandsmäßig gesprochen, wie hoch die Gefahr<br />

einer gesetzlich missbilligten Endverwendung ist446 . <strong>Die</strong> Bewertung die Erkenntnisse<br />

wird schließlich regelmäßig auch anhand bisher nicht absehbarer<br />

Ereignisse in der Zukunft erfolgen müssen, weist gewissermaßen immer einen<br />

Prognosecharakter auf.<br />

<strong>Die</strong> Erfüllung eines Genehmigungstatbestandes führt zunächst zu einer Genehmigungspflicht.<br />

<strong>Die</strong>s trifft aber keine Aussage über die Genehmigungsfähigkeit<br />

eines entsprechend gestellten Antrages des Ausführers. <strong>Die</strong>s gilt<br />

vor allem für gelistete Güter, deren Ausfuhr bei gesetzlich nicht missbilligter<br />

Endverwendung, also einer positiven Verwendungsprognose, grundsätzlich<br />

genehmigt wird. Bei den Verwendungstatbeständen bzw. ungelisteten Gütern<br />

ist eine solche Prognose der Behörde zusätzlich Voraussetzung dafür,<br />

dass überhaupt eine Genehmigungspflicht besteht. <strong>Die</strong> Endverwendungsprognose<br />

ist also nicht nur Instrument der Entscheidungsfindung sondern<br />

wirkt für die Genehmigungspflicht konstitutiv447 . Ohne eigene oder vom<br />

BAFA vermittelte Kenntnis des Ausführers von einer tatbestandlich relevanten<br />

Endverwendung seiner geplanten Ausfuhr gibt es keine rechtliche Handhabe,<br />

vor allem aber auch keine Sanktion bei fehlendem Genehmigungsantrag.<br />

Erst nach Feststellung eines für die Genehmigungspflicht einschlägigen<br />

Sachverhaltes kann die tatsächliche Gefahr für die schützenswerten Interessen<br />

und Rechtsgüter bewertet werden. Hinsichtlich der Sachverhaltsfeststellung<br />

müssen beide Schritte, also Verwendungsprognose auf der einen sowie<br />

Gefahrenprognose auf der anderen Seite rechtssystematisch unterschieden<br />

werden. Sie fallen jedoch zusammen, wenn es für die Genehmigungspflicht<br />

nicht auf die mögliche Verwendung ankommt.<br />

bb) Zutreffende Sachverhaltsermittlung<br />

<strong>Die</strong> Feststellung des zutreffenden Sachverhalts ist Ausgangspunkt jeder Behördenentscheidung,<br />

ganz unabhängig von der Frage eines Beurteilungsoder<br />

Ermessensspielraumes. Im nationalen Recht gilt hierbei der Amtsermittlungs-<br />

und Untersuchungsgrundsatz gem. § 24 VwVfG. <strong>Die</strong> Behörde<br />

muss den Sachverhalt ermitteln. Sie kann sich Beweismitteln, wie Auskünf-<br />

445 Zu den Antragserfordernissen: Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 334 ff.; nähere Angaben<br />

zu Ausfuhr, Ausfuhrgut, Empfänger und Endverwendung<br />

446 Zu den Anforderungen an die Abgrenzung der Gefährdung vom Restrisiko, v. Bogdandy<br />

(FN 4), S. 77<br />

447 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 5 Rn 332a<br />

120


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

ten und Anhörungen der Beteiligten, bedienen. Grundsätzlich ist den Beteiligten<br />

gem. § 29 VwVfG Akteneinsicht zu gewähren448 . <strong>Die</strong> Untersuchungsmaxime<br />

ist auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene anerkannt.<br />

Für alle Genehmigungstatbestände gilt zunächst, dass die im Antrag statuierte<br />

Endverwendung schlüssig sein muss. <strong>Die</strong> Darlegung des Sachverhalts<br />

muss unter Vorlage bestimmter Nachweise substantiiert erfolgen und einen<br />

logischen Zusammenhang aufweisen. Dazu gehört auch die technische Eignung<br />

des Ausfuhrgutes zum angegebenen Zweck. Darüber hinaus ist die<br />

Plausibilität, also Glaubhaftigkeit der Darstellung der zivilen Endverwendung<br />

einer Lieferung zu beurteilen. <strong>Die</strong>ser Grundsatz ist bei zivil verwendbaren<br />

Dual-use-Gütern noch bedeutsamer als bei Rüstungsgütern, deren<br />

Verwendung nach technischen Eigenschaften regelmäßig eindeutig ist449 .<br />

Bei gelisteten und ungelisteten Dual-use-Gütern konzentriert sich der Entscheidungsprozess<br />

auf die Frage der Genehmigungsfähigkeit, also einer Erteilung<br />

oder Ablehnung der Genehmigung. <strong>Die</strong> Bewertung eines Genehmigungsantrages<br />

ist bei Dual-use-Gütern deutlich komplexer als bei Rüstungsgütern.<br />

Hier steht die Frage der tatsächlichen Verwendung im Vordergrund.<br />

Bei Rüstungsgütern stellt sich allenfalls die Frage, in wessen Hände sie fallen.<br />

<strong>Die</strong> Gesamtheit der entscheidungsrelevanten Tatsachen liegt somit klar<br />

auf dem Tisch. <strong>Die</strong> Ermittlung des Sachverhaltes ist schwieriger und aufwendiger.<br />

<strong>Die</strong> behördliche Prüfung erfordert eine verlässliche Prognose der<br />

tatsächlichen Endverwendung einer Lieferung sowie der möglichen Verletzung<br />

entsprechender Rechtsgüter. Insoweit unterscheiden sich die Kontrollansätze<br />

von EU und nationalem Gesetzgeber nicht. Das Beispiel der schützenswerten<br />

Belange i. S. des § 7 AWG oder des Art. 8 Dual-use-VO zeigt,<br />

dass sich Sachverhalt und Wertung systematisch kaum trennen lassen450 .<br />

<strong>Die</strong> Verwendungsprognose und die Bewertung des Missbrauchspotenzials<br />

einer Lieferung müssen gemeinsam mit der politischen Bewertung des Empfängers<br />

als Grundlage für eine Entscheidung aufbereitet werden. Je nach<br />

Ziel einer Lieferung und Qualität des betroffenen Gutes erfolgt eine höchst<br />

differenzierte Betrachtung. Neben die rechtlichen Genehmigungskriterien<br />

treten die Instrumente einer Gefahrenprognose und die politischen Entscheidungsleitlinien.<br />

Sie differenzieren vor allem bei der Bestimmung einer Gefahr.<br />

So ist es bei Dual-use-Gütern ein großer Unterschied, ob sich die Verwendung<br />

auf konventionelle Rüstungsgüter bezieht oder aber ein Programm<br />

zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Für die Prüfungsschritte<br />

448 Zu den Verfahrenspflichten: Bull/Mehde (FN 423), Rn 619 ff.<br />

449 Dazu Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 70<br />

450 Vgl. Kadelbach (FN 194), S. 445<br />

121


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

der Behörde bleibt daher festzuhalten: In einem ersten Schritt wird bei gelisteten<br />

sowie ungelisteten Dual-use-Gütern die Plausibilität des dem Vorgang<br />

zu Grunde liegenden Sachverhaltes, also der tatsächlichen Endverwendung,<br />

festgestellt. In einem zweiten Schritt muss das Gefährdungspotenzial<br />

eines Gutes in der Hand des Endverwenders, bezogen auf die nach Dualuse-VO<br />

bzw. § 7 AWG geschützten Rechtsgüter, bewertet werden. Bei Dualuse-Gütern<br />

steht die tatsächliche Endverwendung im Vordergrund. Empfänger<br />

und/oder Endverwender spielen dafür eine gewichtige Rolle, allerdings<br />

in vielen Fällen weniger deren Geschäftszweck, als vielmehr deren subjektiven<br />

Absichten.<br />

c) Instrumente der Erkenntnisgewinnung<br />

<strong>Die</strong> der Gefahrenprognose implizite Verwendungsprognose erfordert möglichst<br />

konkrete Erkenntnisse über eine potenzielle militärische Verwendung<br />

des Ausfuhrgutes. Dazu gehören Empfänger und Endverwender des Gutes<br />

sowie dessen Verwendungsabsicht. Je nach Empfängerland oder Zielregion<br />

mag das Wissen um einen unmittelbaren oder auch mittelbaren militärischen<br />

Nutzen der Verwendung die Ablehnung des Antrages nahe legen. Bei der<br />

Verwendungsprognose ist der Exportkontrolleur zunächst auf die Angaben<br />

des Antragstellers angewiesen. Insbesondere dessen Aussagen zur Endverwendung<br />

des betroffenen Gutes werden auf ihre Schlüssigkeit und Plausibilität<br />

überprüft. Eine eindeutige Missbrauchsabsicht des Verwenders dürfte<br />

dem Antragsteller nur sehr selten bekannt sein. Dessen Kunde ist nicht in allen<br />

Fällen der Endverwender. Auch die Verwendungsangaben des Kunden<br />

gegenüber dem Antragsteller müssen nicht immer zutreffen, denn der bösgläubige<br />

Waffenproduzent wird sich kaum gegenüber seinem Lieferanten zu<br />

erkennen geben. Daher ist die umfassende technische und verwaltungsmäßige<br />

Plausibilitätskontrolle des Vorganges angezeigt. Bei der technischen Analyse<br />

wird die technische Eignung des betroffenen Gutes für den angegebenen<br />

Verwendungszweck bewertet. <strong>Die</strong> Überprüfung des Empfängers oder<br />

Endverwenders erfolgt an Hand von Behördenerkenntnissen, z.B. aus vorangegangenen<br />

Antragsverfahren, öffentlichen Quellen. Dazu gehören u.a.<br />

das Handelsregister oder Internetseiten, im Einzelfall auch aus nachrichtendienstlichen<br />

Quellen451 . Hier kann auch die Nennung bestimmter Empfänger<br />

in behördlichen Frühwarnschreiben eine Rolle spielen452 .<br />

Endverbleib und -verwendung können zusätzlich mittels einer Erklärung des<br />

Empfängers sichergestellt werden. <strong>Die</strong> Endverbleibserklärung muss je nach<br />

451 Zum Prüfungsvorgang: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 72 ff., S. 229<br />

452 Vgl. Teil 1 II.5.f)<br />

122


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

Fallgruppe unterschiedlich ausgestaltet sein, entweder als amtliche oder<br />

privatschriftliche Erklärung oder aber bei bestimmten Ländern auch als Erklärung<br />

im Rahmen von Importzertifikaten, teilweise werden in diesem Zusammenhang<br />

für eventuelle Reexporte Zustimmungsvorbehalte geltend gemacht<br />

453 . Ein weiterer Aspekt ist die Art der Ausfuhr, da die vorübergehende<br />

Ausfuhr tendenziell weniger sensitiv ist. Auch der Verarbeitungsgrad des<br />

Gutes, z.B. die Einstufung als Rohstoff, Vorprodukt, Endprodukt oder Technologie,<br />

ist von Bedeutung 454 . Daran schließt sich auch die Frage der Verfügbarkeit<br />

an, also ob das Gut im Umkreis des Empfängers bereits vorhanden,<br />

anderweitig verfügbar oder beschaffbar ist. So muss z.B. eine Abgrenzung<br />

der Lieferung von Ersatzteilen für bereits vorhandene Technik sowie<br />

eines Upgrades erfolgen. Vor Ort erhältliche Technologie oder Entwicklungsstandards<br />

oder Lieferungen von Wettbewerbern des deutschen Lieferanten<br />

und deren Genehmigungsaussichten sind weitere zu berücksichtigende<br />

Kriterien. Dabei müssen aus Gründen der Gleichbehandlung auch die<br />

Entscheidungen für vorangegangene vergleichbare Lieferungen (Präzedenzfälle)<br />

einbezogen werden 455 .<br />

d) Erkenntnisdefizite<br />

<strong>Die</strong> für <strong>exportkontrollrechtliche</strong> Sachverhalte maßgebliche Frage der Endverwendung<br />

beinhaltet die für jede Verwaltung schwer zu handhabende Zukunftskomponente.<br />

Selbst bei Ausschöpfung aller denkbaren Erkenntnismethoden<br />

bleibt immer ein Element des Unwissens. Absolute Gewissheit wird<br />

in der Regel nicht zu erzielen sein. Das liegt in der Natur von Prognosen.<br />

Deshalb kann nur mit Erfahrungswissen der Behörde und Indizien gearbeitet<br />

werden. Mit Prüfung der Plausibilität, Erfahrung und allgemein oder sonstigen<br />

zugänglichen Informationen über das Ziel der Ausfuhr, z.B. Person,<br />

Land und Region, können Wissenslücken geschlossen werden. Ein gewisses<br />

Prognose – bzw. Bewertungsrisiko muss gleichwohl in Kauf genommen<br />

werden. <strong>Die</strong> Komponente Unwissen soll durch verfahrenstechnische Instrumentarien<br />

möglichst weitgehend überwunden werden456 .<br />

<strong>Die</strong> Prognose der tatsächlichen Endverwendung eines Gutes - oder negativ<br />

ausgedrückt - der Missbrauchsgefahr sollte möglichst fundiert sein. In Abwägung<br />

der Interessen des freien Außenwirtschaftsverkehrs und der Verantwortung<br />

von Exportkontrollen soll das unvermeidbare Restrisiko auf ein<br />

453 Zu den Arten der Endverbleibsdokumente Haddex (FN 4),Bd. 1, Teil 6 Rn 365 ff.<br />

454 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 398<br />

455 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 74, S. 231<br />

456 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 97 ff.<br />

123


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

Minimum reduziert werden. Einzelne administrative Komponenten einer<br />

möglichst effizienten Risikoanalyse und -bewertung im Zusammenhang mit<br />

der Gefahrenprognose sind deshalb von Bedeutung. Bei der rechtlichen Vorgabe<br />

einer Gefährdung im Genehmigungstatbestand erfolgt eine doppelte<br />

Prognose, zunächst in Bezug auf die Bewertung der güterspezifischen Gefahr<br />

und dann bei Bewertung des Empfängers bzw. Endverwenders. <strong>Die</strong><br />

Prüfung einer bei Antragstellung behaupteten zivilen Endverwendung des<br />

Gutes muss möglichst sicherstellen, dass diese auch tatsächlich erfolgt. An<br />

der Stelle knüpft auch die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit<br />

und Kooperation in EU und Regimes, aber auch auf UN und OECD-Ebene,<br />

an. Wenn sich alle maßgeblichen Rüstungsproduzenten und Industriestaaten<br />

an Exportkontrollen beteiligen, wird auch die Gefahr von Umgehungsgeschäften<br />

und entsprechenden Restrisiken geringer sein. Auch der verfahrensspezifische<br />

Informationsaustausch zwischen den Behörden ist hier von Bedeutung.<br />

Er findet sowohl zwischen Mitgliedern der Exportkontrollregimes<br />

oder auch auf Basis der Dual-use-VO statt, z.B. durch Notifizierungen über<br />

bestimmte <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en und Ablehnungen und mittels fallspezifischer<br />

Konsultationen457 .<br />

<strong>Die</strong> Verantwortung der Unternehmen wurde in den letzten Jahren stark erweitert,<br />

denn die Ausfuhrkontrolle ist letztlich in hohem Maß auf die Mitwirkung<br />

der Antragsteller angewiesen. Gerade sie kennen das konkrete Ausfuhrgeschäft<br />

und die Umstände, unter denen die Verhandlungen geführt<br />

worden sind, dazu in der Regel auch Profil und Bonität des Kunden. Der<br />

Aufwand dafür wird für das Ausfuhrverfahren instrumentalisiert. Unter Einbindung<br />

des institutionalisierten Ausfuhrverantwortlichen, der als Person<br />

und in seinem Handeln zuverlässig sein muss. Beides ist Voraussetzung für<br />

die antragsrelevante Zuverlässigkeit des Antragstellers458 . Auf diese Weise<br />

wird eine optimale Gefahrenprävention sichergestellt. <strong>Die</strong> Zuverlässigkeit<br />

eines Unternehmens wird von der Behörde nach § 3 Abs. 2 AWG bzw. im<br />

Rahmen der sonstigen Überlegungen des Art. 8 Dual-use-VO berücksichtigt.<br />

<strong>Die</strong>ser Ansatz ist auch deshalb erfolgreich, weil das Unternehmen auch ein<br />

hohes Eigeninteresse daran hat, nicht in negative Schlagzeilen zu geraten.<br />

Zudem müsste das Unternehmen bei Unzuverlässigkeit das Risiko verwaltungsrechtlicher<br />

Sanktionen tragen. Es geht u.U. das Risiko ein, nicht mehr<br />

457 Vgl. Teil 1 II.3.c) und Teil 1 II.4.b)<br />

458 Vgl. Fassung vom 1.8.2001 , BAnz. 2001, S. 17281 , vgl. Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil<br />

6 Rn 344 ff.<br />

124


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

genehmigungsfähig zu sein, was zumindest exportabhängige Unternehmen<br />

in der Existenz gefährden könnte459 .<br />

Hier ist von Bedeutung, dass neben dem Genehmigungsverfahren selbst andere<br />

Anknüpfungspunkte für die Gefahrenprävention möglich sind. Sog. risikominimierende<br />

Maßnahmen können Missbrauchsgefahren vorbeugen<br />

oder diese aufdecken. Sie stehen selten in einem direkten Zusammenhang<br />

zum Verwaltungsverfahren und werden begleitend bzw. flankierend eingesetzt.<br />

Nur ganz ausnahmsweise können sie für die Gefahrenprognose im<br />

konkreten Antragsverfahren hilfreich sein. Dazu gehören z.B. präventive<br />

Abhörbefugnisse oder aber nachträgliche Überprüfungen, wie die Außenwirtschaftsprüfung460<br />

. Auch eine administrative Überprüfung des tatsächlichen<br />

Verbleibs der Ware ist denkbar. Solche Maßnahmen sind wegen der<br />

justiziellen Kompetenzen nur mit Einverständnis des Empfängerstaates<br />

möglich.<br />

e) Mitwirkungspflichten und Beweislast<br />

Wegen der an einem Sachverhalt verbleibenden Restzweifel stellt sich die<br />

Frage, ob diese zu Lasten des Antragstellers gehen sollten oder der Grundsatz<br />

"in dubio pro Ausführer“ gelten kann. Je nachdem, um welche Art des<br />

Gutes es sich handelt, können die Mitwirkungspflichten und damit letztlich<br />

auch die Darlegungs- bzw. Beweislast des Antragstellers für eine bestimmte<br />

(zivile) Endverwendung unterschiedlich ausgeprägt sein. Hier entscheidet<br />

sich, wer das Risiko einer Fehlprognose zu tragen hat. Auf den verfassungsrechtlichen<br />

Rahmen dafür wird noch zurückzukommen sein. Zunächst sollte<br />

lediglich festgehalten werden, dass die Graduierung der Anforderungen an<br />

den Antragsteller und sein Bemühen um das Ausräumen jedweder Zweifel<br />

hinsichtlich einer zivilen Verwendung der Lieferung aus Sicht der Exportkontrollliteratur<br />

in Abhängigkeit der Korrelation von Gefahr und Risiko<br />

steht. Der nahe liegende Zusammenhang zum polizeilichen Gefahrenbegriff,<br />

der im Recht der inneren Sicherheit verwendet wird, könnte demnach auch<br />

für die auf innere und äußere Sicherheit bezogenen Exportkontrollen zu<br />

Grunde gelegt werden461 . Danach darf die Annahme einer Gefahr, je nach<br />

Fallkonstellation und in Abhängigkeit zur Wertigkeit gefährdeten Rechtsguts<br />

459 Dazu ausführlich Simonsen, in: Wolffgang/Ehlers/Lechleitner (FN 128), S.98<br />

460 Von Portatius/ Berg, AW-Prax, 2004, 379, 381<br />

461 So Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), § 3 AWG Rn 13, vgl. auch Teil 1 I.5.e)<br />

125


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

unterschiedlich hohen Anforderungen genügen 462 . <strong>Die</strong>s hat unmittelbare<br />

Auswirkung auf die Beweislastverteilung.<br />

f) Ergebnis<br />

<strong>Die</strong> Prognose im Rahmen der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Entscheidung muss<br />

auf der Grundlage von Erkenntnisdefiziten erfolgen. Entsprechende kooperative<br />

Verfahrensinstrumente sollen die Sachverhaltsermittlung erleichtern<br />

sowie die aufgrund der Verwaltungsautonomie vorhandenen gerichtlichen<br />

Kontrolldefizite kompensieren helfen. Dabei spielen die Reichweite der<br />

Mitwirkungspflichten und Beweislastverteilung eine gewichtige Rolle, um<br />

die Interessen aller Beteiligten angemessen zu wahren.<br />

2. Qualität der Genehmigungsentscheidung<br />

Nachdem die allgemeine Struktur <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Prognoseentscheidungen<br />

im Kontext der Gefahrenbewertung geklärt ist, stellt sich die<br />

Frage nach der rechtlichen Qualität einschlägiger Genehmigungsvorschriften.<br />

a) Nationale Genehmigungstatbestände<br />

<strong>Die</strong> Konzeption der Beschränkungsermächtigung des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG<br />

beinhaltet einen kriterienbedingten Anspruch auf Genehmigungserteilung.<br />

Dafür spricht die nach dem Wortlaut positive Formulierung. Er sieht im<br />

Grundsatz die Genehmigung vor, wenn nicht ausnahmsweise eine wesentliche<br />

Gefährdung der in § 7 AWG genannten Rechtsgüter im Raume steht.<br />

Daher handelt es sich um eine gebundene Entscheidung. Auf ein Ermessen<br />

der Behörde gibt es keine Hinweise. Allerdings besteht, wie zuvor erwähnt,<br />

auch bei der Entscheidung nach §§ 3 i.V.m. 7 AWG ein gewisser Entscheidungsspielraum,<br />

da es maßgeblich auf die außen- und sicherheitspolitische<br />

Bewertung des Sachverhaltes ankommt. Das hat erhebliche Auswirkungen<br />

auf die Rechtswahrung des Ausführers, der bei Entscheidungsspielräumen in<br />

Folge der begrenzten richterlichen Kontrolle nur noch bedingt seine Rechte<br />

durchsetzen kann. Das ist wegen der Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4<br />

und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG auf Fälle<br />

begrenzt, in denen der Gesetzgeber dies beabsichtigt hat, weil allein der<br />

Verwaltung die adäquate Erkenntniserlangung und Einzelfallbewertung<br />

möglich ist. Für eine entsprechende Einschätzungsprärogative der Verwal-<br />

462 Dazu bestätigend Bieneck, in: AW-Prax 2003, S. 460, 463; Sicherheitsinteresse und<br />

freiheitliche Gesichtspunkte stehen hier in Korrelation: Calliess, DVBl. 2003, S.<br />

1096,1104.<br />

126


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

tung genügt aber auch bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en nicht allein der Umstand,<br />

dass es um Prognoseentscheidungen geht463 .<br />

Es geht bei den Exportkontrollen regelmäßig um sicherheitspolitische Erwägungen.<br />

Es besteht eine Konstellation, wo nur die Aktualität des Verwaltungswissens<br />

und ihre Fachexpertise eine angemessene Entscheidung ermöglichen.<br />

<strong>Die</strong> rechtliche Gestaltung der ständigen Veränderungen unterworfenen<br />

außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen erscheint nicht<br />

möglich. Hinzu kommt die alleinige politische Verantwortung der Bundesregierung.<br />

Gerade die außenpolitische Dimension, wie sie in § 7 Abs. 1<br />

AWG relevant ist, erfordert einen Wertungsspielraum der Exekutive. <strong>Die</strong><br />

prognoseorientierte Einschätzungsprärogative der Verwaltung ist deshalb für<br />

sämtliche sicherheitspolitisch motivierten Beschränkungen gem. § 7 Abs. 2<br />

AWG gegeben464 . Im militärischen Bereich und Außenhandelsrecht ist die<br />

ausschließliche Sachkompetenz der Verwaltung anerkannt465 . Der Zusammenhang<br />

zwischen der Wahrung auswärtiger Beziehungen und sicherheitspolitischen<br />

Erwägungen wurde bereits dargestellt466 . Einschätzungen in diesen<br />

Bereichen erscheinen wegen der Sachnähe der Verwaltung und besserem<br />

Informationszugang, beispielsweise bei geheimdienstlichen Erkenntnissen,<br />

auch verfahrenstechnisch begründet467 . Ein davon abweichender Bewertungsanspruch<br />

der Gerichte bei der Durchsetzung der Sicherheitskonzepte<br />

der Bundesregierung würde den Grundsatz der Gewaltenteilung missachten.<br />

Gefahren- bzw. Risikoabschätzung werden deshalb bei Exportkontrollen zu<br />

Recht als ausschließliche Aufgaben der Exekutive bezeichnet468 .<br />

Es kommt im Ergebnis nicht auf den Prognosecharakter der Entscheidung<br />

an, sondern auf die politischen Einschätzungen, die der Bundesregierung<br />

vorbehalten sind. Deshalb darf von einem bei den <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbeständen<br />

auf der Grundlage des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG von einem Entscheidungsspielraum<br />

der Genehmigungsbehörde ausgegangen werden. Hinzu<br />

kommt aus systematischer Sicht, dass diese Vorschrift nach einer positiven<br />

Feststellung des Nichtbestehens wesentlicher Gefährdungslagen verlangt,<br />

die regelmäßig gar nicht geleistet werden kann, weil die Sachverhaltserkenntnisse<br />

hierfür nicht ausreichen. Faktisch ist schon deshalb kein Geneh-<br />

463 Vgl. Teil 2 II.3.b)aa)<br />

464 So auch Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 14<br />

465 Dazu Hinweise von Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO, Rn 67<br />

466 Vgl. Teil 1 I.5.b)<br />

467 So im Ergebnis Beutel, in: Wolffgang//Simonsen (FN 7), § 7 AWG Rn 17<br />

468 So unter Verweis auf BVerwGE 72, 300, 316: v. Bogdandy (FN 4), S. 53 ff., 77<br />

127


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

migungsanspruch gegeben 469 . Bezogen auf die Rechtsfolge bleibt es rechtsdogmatisch<br />

bei einer gebundenen Entscheidung. Angesichts der im Tatbestand<br />

überaus weit gefassten Ablehnungsgründe des § 7 Abs. 1 AWG und<br />

der damit verbundenen Entscheidungsspielräume erscheint es ausgeschlossen,<br />

dass die Behörde im Einzelfall entgegen ihren außen- und sicherheitspolitischen<br />

Überzeugungen eine Genehmigung erteilen müsste 470 . Auf ein<br />

Entschließungsermessen der Behörde kommt es in der Sache nicht an. Der<br />

Entscheidungsspielraum beschränkt sich auf die Bewertung der Gefahrensituation.<br />

Ein besonderer Fall liegt beim kaum praxisrelevanten § 3 Abs. 1<br />

Satz 2 AWG vor. Hier eröffnet das überwiegende volkswirtschaftliche Interesse<br />

an einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ein zusätzliches Behördenermessen.<br />

Dabei handelt es sich um eine Koppelungsnorm, also einer Kombination aus<br />

Beurteilungsspielraum und Ermessen 471 .<br />

b) Gemeinschaftsrechtlicher Genehmigungstatbestand und die Entscheidungsprärogative<br />

aa) Wortlaut und Normzweck<br />

Für eine Ermessensqualität des Art. 8 i.V.m. 9 Abs. 1 Dual-use-VO sprechen<br />

die Formulierung des Tatbestandes (kann) und der vage Überlegungsbezug<br />

der Beschränkungsgründe. Ausgehend von dem Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

erscheint bei Art. 8 i.V.m. Art. 9 Dual-use-VO ein Ermessen<br />

der Behörde grundrechtlich nicht vertretbar. Es gibt andererseits keine teleologischen<br />

Gesichtspunkte, die gegen ein Behördenermessen sprechen. Insbesondere<br />

die einleitenden Erwägungen der Dual-use-VO geben dafür keinen<br />

Anlass. Sie verweisen unter Punkt (3) lediglich auf ein gemeinsames<br />

Kontrollsystem und harmonisierte Konzepte, nicht etwa auf abgestimmte<br />

Entscheidungen, die eine einheitliche Dogmatik der Beschränkungen erfordern.<br />

Man könnte zwar das Argument anführen, dass die dogmatische Einstufung<br />

der gebundenen nationalen Genehmigungstatbestände bei Rüstungsgütern<br />

im Erst-Recht-Schluss auf weniger sensitive Dual-use-Güter im<br />

Sinne der EG-Verordnung ausgedehnt werden müsste. Sonst erschiene die<br />

potenziell gefährlichere Lieferung von Rüstungsgütern (Anhang A der Ausfuhrliste)<br />

gegenüber den nach der Dual-use-VO kontrollierten Gütern faktisch<br />

privilegiert. <strong>Die</strong>se Auffassung würde nationales Recht über europäi-<br />

469 Vgl. Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), zu § 3 AWG Rn 11<br />

470 Monreal/Runte, GewArchiv, 2000, S. 142 ff., s.a. zur Sachnähe der Verwaltung bzw.<br />

Regierung: Ehrlich unter FN 134<br />

471 Ott, AW-Prax 2003, 353, 355<br />

128


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

sches Recht stellen, was dem Prinzip vom Anwendungsvorrang widerspricht.<br />

Zumindest die Materien von Rüstungs- und Dual-use-Güter-Kontrolle sind<br />

aus einer Reihe von Gründen nach Normzweck und Interessenlage nicht<br />

vergleichbar. Das mag zwar für die Genehmigungskriterien gelten, die weitgehend<br />

identisch sind, bei der technischen Eignung und potenziellen Gefährdungslage<br />

ergeben gleichwohl Unterschiede. Für Dual-use-Güter ist die<br />

subjektive Verwendungsabsicht oft schwer bestimmbar. Während bei Rüstungsgütern<br />

die Gefahr vor allem vom Empfänger und dessen verantwortungsvollem<br />

Umgang damit abhängig ist, steht bei Dual-use-Gütern die tatsächliche<br />

(zivile) Verwendung im Vordergrund. <strong>Die</strong> Prognoseanforderungen<br />

sind bei Rüstungsgütern eher geringer, zumindest aber weniger komplex.<br />

Der Bewertungsspielraum der Behörde bezieht sich daher auf ganz unterschiedliche<br />

Schwerpunkte.<br />

<strong>Die</strong> rein nationalen Dual-use-Regelungen können hier zunächst ausgeblendet<br />

werden. Sie haben wegen der expliziten Öffnungsklausel des Art. 5<br />

Dual-use-VO zwar einen gemeinschaftsrechtlichen Ausgangspunkt, weisen<br />

aber dennoch rein nationalen Charakter auf. <strong>Die</strong>ser ist nicht dem harmonisierten<br />

Bereich des EG-Rechts unterworfen, ein Gleichlauf der Dogmatik also<br />

nicht zwingend472 . <strong>Die</strong> Entscheidungsqualität des AWG präkludiert somit<br />

nicht den Systemansatz der Dual-use-VO.<br />

<strong>Die</strong>sem Ergebnis entspricht auch der systematische Ansatz von Art. 8 Dualuse-VO.<br />

Wie schon mehrfach erwähnt, sollen die für die Entscheidung maßgeblichen<br />

außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen gerade den Mitgliedstaaten<br />

vorbehalten bleiben. Eine systematische Verknüpfung von<br />

AWG und Dual-use-VO ist nur bedingt geboten. Der für diese Belange verwendete<br />

unbestimmte Begriff eröffnet nach der EuGH-Rechtsprechung Entscheidungsspielräume,<br />

die dem Verständnis des deutschen Ermessensbegriffs<br />

nahe kommen473 .<br />

bb) Ansatz der Einschätzungsprärogative und Rechtsprechung<br />

Aus den geschilderten Erwägungen sind Art. 8 und 9 der Dual-use-VO als<br />

Ermessensnorm zu charakterisieren474 . Es handelt sich um eine Prognoseent-<br />

472 Zur dogmatischen Verortung: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 126<br />

473 Vgl. Teil 2 II.6.a)<br />

474 Erstmals Wolffgang, DVBl. 1996, 277, 284, grundlegend dazu auch Ehrlich (FN 62),<br />

S. 106; a.A. Sauer, in: Hohmann/John, § 3 AWG, Rn 3; dagegen missverständlich<br />

Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich, (FN 21) spricht zu § 3 AWG Anm. 1 von einem<br />

129


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

scheidung der Behörde. Aufgrund des damit verbundenen Restrisikos beansprucht<br />

sie einen gewissen Entscheidungsspielraum 475 . <strong>Die</strong>se Wertung wurde<br />

durch das VG Frankfurt bestätigt 476 . In der Entscheidung vom<br />

08.05.2003, bei der es um eine Koordinatenschleifmaschine nach Indien<br />

ging, hat das Gericht ausgeführt, die Gefahrenprognoseentscheidung fiele in<br />

den Bereich des gerichtsfreien Bewertungsspielraumes der zuständigen Behörde.<br />

Damit hat das Gericht bestätigt, dass sich Sachverhaltsfeststellung<br />

und Subsumtion bei der Konkretisierung offener Tatbestände nicht trennen<br />

lassen. Es verwendet hierbei auch den Begriff der Einschätzungsprärogative<br />

477 . Das Gericht verweist auf die Systematik des Gemeinschaftsverwaltungsrechts,<br />

wonach die in Art. 1 der VO 2603/69 statuierte Ausfuhrfreiheit<br />

zwar grundsätzlich ein einklagbares Recht zur Ausfuhr von Dual-use-Gütern<br />

gewährt, dies aber durch Art. 3 Abs. 1 Dual-use-VO relativiert würde. In<br />

Anwendung von Art. 9 Abs. 2 Dual-use-VO kann die Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

verweigert werden, was im pflichtgemäßen Ermessen der<br />

nationalen Behörde stehe 478 . Eine Verpflichtung zur Berücksichtigung der in<br />

Art. 8 Dual-use-VO aufgeführten Gesichtspunkte und Ziele stünde dem<br />

nicht entgegen. Bei der Bewertung und Gewichtung der in Art. 8 Dual-use-<br />

VO nur beispielhaft genannten außen- und sicherheitspolitischen Überlegungen<br />

sei der zuständigen Behörde im Rahmen des Ermessens wiederum<br />

ein Spielraum einzuräumen. Für die Urteilsbegründung vermeidet das Gericht<br />

also die Dogmatik der Kombination von Beurteilungsspielraum auf<br />

Tatbestandsebene und eines Ermessens auf der Rechtsfolgeseite. Das VG<br />

Frankfurt verweist vielmehr auf einen allgemeinen Ermessensrahmen, wendet<br />

also faktisch die gemeinschaftsrechtliche Ermessenslehre an. Das ist<br />

Beurteilungsspielraum und entsprechender Anwendung in Art. 8 Dual-use-VO (dort<br />

zu Art. 8 Anm. 1 und Art. 9 Anm. 2)<br />

475 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 93 verweist auf das Verwaltungsgericht<br />

Köln, das den Begriff Einschätzungsprärogative zwar nicht nutze,<br />

aber in den Entscheidungen vom 13.06.96 und vom 11.11.1999 (Az.1 K 1102/93 und<br />

1 K 6937/96) ausgeführt hatte, dass der Verwaltung hinsichtlich der in Frage stehenden<br />

Rechtsbegriffe (Entscheidungskriterien in § 7 AWG) ein gerichtlich nur beschränkt<br />

überprüfbarer Entscheidungsspielraum zustünde, das Gericht daher auf eine<br />

Plausibilitätskontrolle beschränkt sei.<br />

476 VG Frankfurt a.M. (Urteil vom 08.05.2003 1 E 3273/02 (1), Besprechung von Ott,<br />

AW-Prax 2003, S. 353, 354<br />

477 So Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 93 unter Verweis auf<br />

Kadelbach (FN 193), S. 445; dagegen spricht Wolffgang, den das VG Frankfurt zitiert,<br />

eher von einem Verwaltungsermessen, vgl. DVBl. 1996, 277, 284<br />

478 Auch in früheren Urteilen wurde von einem Entscheidungsspielraum gesprochen:<br />

vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 05.12.1996, Az.: 1 E 3838/93 (nicht veröff.)<br />

130


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

wegen des EU-Bezugs der Entscheidung auf Grundlage der Dual-use-VO<br />

konsequent.<br />

<strong>Die</strong> nationale Dogmatik i.V.m. Beurteilungsspielräumen bzw. Einschätzungsprärogative<br />

findet auf EG-Ebene keine Entsprechung. Der EuGH<br />

spricht, wie zuvor erörtert, allgemein von Entscheidungsspielräumen. Um<br />

Irritationen einer Anwendbarkeit der nationalen Lehre von Beurteilungsspielraum<br />

zu vermeiden, sollte im Kontext der Dual-use-VO deshalb besser<br />

von einer Entscheidungsprärogative gesprochen werden. Nach der einschlägigen<br />

gemeinschaftsrechtlichen Ermessensfehlerlehre sind die schon beschriebenen<br />

Ermessensgrenzen und eventuelle Missbräuche zu berücksichtigen479<br />

.<br />

In concreto sind von diesen Erwägungen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en im Rahmen<br />

der Art. 3 sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 Dual-use-VO betroffen, die nach<br />

den Vorgaben der Art. 8 i.V.m. 9 Abs. 1 entschieden werden. Es greift das<br />

Prinzip vom Anwendungsvorrang. Danach ist bei der praktischen Rechtsanwendung<br />

das EG-Recht zunächst maßgeblich, soweit die Materie dort geregelt<br />

ist. <strong>Die</strong>s ist im Rahmen der o.g. gemeinschaftsrechtlichen Ermessenslehre<br />

der Fall. Eine Anwendung der nationalen Grundsätze des § 40 VwVfG<br />

ist ausgeschlossen. Teilweise wurde dem entgegnet, dass eine spezialgesetzliche<br />

Vorschrift in der Dual-use-VO fehle480 . Nicht zuletzt bei der Ermessensausübung<br />

im Rahmen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> nach der Dual-use-VO<br />

wird aber die Notwendigkeit einer gemeinschaftsweit einheitlichen Umsetzung<br />

deutlich. <strong>Die</strong>s ist der Hauptzweck der Verordnung und erscheint auch<br />

verfahrensrechtlich nur unter Anwendung der Gemeinschaftsrechtsprinzipien<br />

gewährleistet481 . Da die Ermessensvorschrift in Art. 9 Dual-use-VO ein<br />

Kernstück bei der Umsetzung dieser Verordnung sei, würden dem unterschiedliche<br />

Umsetzungspraktiken widersprechen. Gerade auf diesem Gebiet<br />

sei es die Intention der Kompetenzübertragung, eine einheitliche europäische<br />

Exportkontrolle zu verwirklichen und damit auch Umgehungsgeschäfte<br />

zu vermeiden482 . Damit findet eine Unterscheidung zwischen Ermessen und<br />

Beurteilungsspielraum im Rahmen der Dual-use-VO nicht statt. Vielmehr<br />

wird der Behörde eine sog. Entscheidungsprärogative zugestanden, ohne<br />

dass es auf deren Zuordnung zur Rechtsfolge oder zum Tatbestand ankommt.<br />

479 Vgl. Teil 2 II.3.b), so im Ergebnis auch Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 47<br />

480 VG Frankfurt, Urteil vom 5.12.1996 - 1 E 3838/93; Karpenstein, in: Hohmann/John<br />

(FN 28), Teil 2, EG-Dual-use-VO von 1994, Artikel 9 Rn. 20<br />

481 Vgl. Wolffgang, DVBl. 1996, 277, 284<br />

482 Karpenstein (FN 41), S. 102<br />

131


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

cc) Kompensation der Kontrolldefizite durch Verfahren<br />

<strong>Die</strong> Akzeptanz des bei der Dual-use-VO und auch im AWG bestehenden<br />

administrativen Entscheidungsspielraums führt zu einer beschränkten richterlichen<br />

Kontrolle und bedarf daher einer stärkeren rechtsstaatlichen Kontrolle<br />

im Verfahren483 . Der verfahrens- und mitwirkungsorientierte Kompensationsgedanke<br />

deckt sich mit den Ausführungen zur EuGH-<br />

Rechtsprechung. Der EuGH würde zwar nur evidente Ermessensmissbräuche<br />

kontrollieren, aber Rechtsfehler i.V.m. Verfahrensfragen und Anwendungsrichtlinien<br />

viel stärker berücksichtigen als dies traditionell im deutschen<br />

Verwaltungsrecht geschieht484 . <strong>Die</strong> Exportkontrollbehörde hat im<br />

Rahmen der Begründungspflicht des § 39 VwVfG eine Darlegungspflicht zu<br />

den konkreten Gesichtspunkten, die zur Ablehnung der Genehmigung führen,<br />

mithin zur Missbrauchsgefahr des Ausfuhrgutes sowie zu einer korrekten<br />

Offenlegung der Wertungsmaßstäbe vor dem Hintergrund des bestehenden<br />

Sachverhalts. Der Bewertungsspielraum bezieht sich nicht auf gerichtlich<br />

voll überprüfbare Tatsachenfragen, die unpolitisch sind. Dazu gehören<br />

technische Einstufungen, z.B. in die Ausfuhrliste485 .<br />

c) Ergebnis<br />

<strong>Die</strong> nationalen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände sind rechtsdogmatisch als<br />

Anspruchsnorm mit Beurteilungsspielraum bei der Gefahrenprognose zu<br />

verorten, während in der Dual-use-VO ein Ermessenstatbestand statuiert ist.<br />

Wegen des Anwendungsvorrangs von Gemeinschaftsrecht ist die Ermessensfehlerlehre<br />

des EuGH anzuwenden. Hierbei gibt es mit Blick auf die Evidenzlehre<br />

dogmatische Unterscheidungen beim Ansatzpunkt der Wertung<br />

rechtlicher Interessen. Das Auseinanderfallen des Verfahrensrechts dürfte<br />

aber im Ergebnis kaum zu unterschiedlichen Prüfungsanforderungen der<br />

Gerichte führen, nicht zuletzt wegen der bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> notwendigen<br />

Prognoseentscheidung, die der Verwaltung nach beiden Lehren<br />

einen weiten Entscheidungsspielraum eröffnet486 . Dabei geht es wegen der<br />

in der Dual-use-VO und AWG vergleichbaren Genehmigungskriterien vor<br />

483 Vgl. Teil 2 II.3.b)<br />

484 Vgl. Teil 2 II.5.<br />

485 So auch v. Bogdandy (FN 4) , S. 53 ff., 77 f., auch unter Verweis auf Wahl, NVwZ<br />

1991, 409, 415 ff<br />

486 Vgl. Teil 2 II.6.a), so im Ergebnis auch Wolffgang, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner<br />

(FN 128), S. 39 ff., 70<br />

132


III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

allem um die Bewertung der Gefahrensituation. In beiden Rechtskreisen<br />

kommt es hier auf die gleichen Interessen an 487 .<br />

3. Fehlerfolgen und Bestandskraft der Entscheidung<br />

<strong>Die</strong> Wirkung einer positiven Genehmigungsentscheidung bezieht sich neben<br />

der Feststellung zur gegenwärtigen Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen<br />

im Zeitpunkt der Entscheidung auf das Element der Rechtssicherheit,<br />

die sich auf die Ausfuhr zu einem späteren Zeitpunkt richtet. Grundsätzlich<br />

werden die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en auf zwei Jahre befristet488 , so<br />

dass die Bindungswirkung der Genehmigung, also die Bestandskraft des<br />

Verwaltungsaktes nach § 43 Abs. 2 VwVfG für diese Zeit vertrauensbildend<br />

wirken kann. Wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips ist dessen Verlässlichkeit,<br />

hier der Bestand von erworbenen Rechten. Das Vertrauensschutzgebot<br />

bezieht sich auf die Rückwirkung von belastenden Gesetzen ebenso<br />

wie auf die Aufhebung einzelner Verwaltungsakte489 .<br />

<strong>Die</strong> mit der Genehmigung einhergehenden politischen Bewertungen sind<br />

nicht statisch, die Rahmenbedingungen können sich täglich verändern. Fehleinschätzungen<br />

sind möglich. Sie lassen sich durch nachträgliche Tatsachenerkenntnisse<br />

korrigieren. Wegen der sicherheitsorientierten Funktion<br />

der Exportkontrollen kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen der<br />

staatlichen Sicherheitsaufgabe und dem grundsätzlich berechtigten Vertrauen<br />

auf den Fortbestand der Entscheidung kommen490 . Der verfassungsrechtlich<br />

geschützte Vertrauensschutz kann deshalb bei Verwaltungsentscheidungen<br />

nur ganz ausnahmsweise durch die in den §§ 48, 49 VwVfG vorgesehene<br />

Rücknahme- und Widerrufsmöglichkeiten aufgebrochen werden. Ausnahmen<br />

eröffnet die Nebenbestimmung eines Widerrufsvorbehalts. Bei der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ergibt sich eine Ermächtigung zu Rücknahme oder<br />

Widerruf der Genehmigung aus § 30 Abs. 2 AWG bzw. Art. 9 Abs. 2 S. 1<br />

Dual-use-VO. Zunächst erlangt der Ausführer nach einem abgeschlossenen<br />

Genehmigungsverfahren eine grundrechtlich geschützte Position, insbesondere<br />

sind dabei Art. 12 und Art. 14 GG einschlägig491 . <strong>Die</strong> Voraussetzungen<br />

des Grundrechtseingriffs bestimmen die §§ 48 ff. VwVfG. <strong>Die</strong> Aufhebung<br />

der Genehmigungsentscheidung ist nur unter stringenten Voraussetzungen<br />

und bei umfassender Begründung der Behörde möglich. Hierbei erfolgt eine<br />

487 Vgl. Teil 1 II.5.d)<br />

488 Vgl. Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 409<br />

489 So Badura (FN 171), S. 319 ff.<br />

490 V. Bogdandy (FN 4), S. 84<br />

491 Hohmann (FN 89), S. 442 ff.<br />

133


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Abwägung der betroffenen Interessen.<br />

Neben den o.g. Rechtspositionen muss das schutzwürdige Vertrauen mit<br />

dem öffentlichen Rücknahme- bzw. Widerrufsinteresse abgewogen werden.<br />

Wegen der gesteigerten Schutzwürdigkeit bei rechtmäßig zustande gekommenen<br />

Verwaltungsakten ist beim Widerruf nach § 48 Abs. 3 VwVfG sogar<br />

eine Entschädigung vorgesehen. <strong>Die</strong> Frage der Entschädigung ist je nach<br />

Fallgruppe, Vorhersehbarkeit der Entwicklungen und Mitverantwortung des<br />

Unternehmers unterschiedlich zu beantworten492 .<br />

Im Bereich der Dual-use-VO muss nicht auf die nationalen Regelungen zurückgegriffen<br />

werden, da der EuGH mit Blick auf Fristsetzung, Vertrauensschutz<br />

und Interessenabwägung eigene Grundsätze entwickelt hat493 . Der<br />

Vertrauensschutzgedanke ist bereits seit langem in der EuGH-<br />

Rechtsprechung anerkannt494 . Dabei werden dem Betroffenen trotz der<br />

durch das Effizienzgebot regelmäßig sehr starken gemeinschaftlichen Interessen<br />

grundrechtliche Minimalstandards eines Vertrauensschutzes zugestanden495<br />

. Im Übrigen ist im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Bereichs<br />

ein Rückgriff auf die Vorgaben des nationalen Rechts möglich, weil<br />

die Gemeinschaftsinteressen auch im Rahmen des Ermessens der Verwaltung<br />

berücksichtigt werden können496 . Wegen der auf evidente Fehler beschränkten<br />

Kontrolle gemeinschaftsrechtlicher Ermessensakte muss der Vertrauensschutz<br />

aber offenkundig überwiegen, um eine Rücknahme vor Gericht<br />

erfolgreich anfechten zu können497 . Beim Vorliegen evident rechtswidriger<br />

Verwaltungsakte erfolgt auch nach der nationalen Rechtsprechung eine<br />

Ermessensreduktion, so dass die Rücknahme des Verwaltungsaktes geboten<br />

ist. In diesen Fällen dürfte in der Sache eine zum EuGH vergleichbare Linie<br />

verfolgt werden498 .<br />

<strong>Die</strong> Gerichte können fehlerhafte Bescheide nach § 113 Abs. 5 VwGO aufheben,<br />

nach Gemeinschaftsrecht wäre i.V.m. evidenten Fehlern auch eine<br />

Nichtigkeit der Verwaltungsentscheidung denkbar. Das dürfte aber im Ergebnis<br />

kaum von Relevanz sein, da das eigentliche Interesse des Ausführers<br />

492 Dazu v. Bogdandy (FN 4), S. 90<br />

493 So im Ergebnis Ehrlich (Fn 62) S. 135 ff., zur Interessenabwägung EuGH Rs 14/81<br />

Alpha Steel, Slg. 1982, 749 f., 764<br />

493 Ebenda (FN 62), S. 138<br />

494 Rennert, DVBl. 2007, 400, 402 mit Hinweisen auf EuGHE 1983, 2633 Rn 27 f. -<br />

Milchkontor<br />

495 Zur Entwicklung: Blanke (FN 246), S. 488 ff., 509<br />

496 S.a. Ehrlich (FN 62), S. 138<br />

497 Vgl. Teil 2 II.4.b), bestätigend für Exportkontrollen: Hohmann (FN 89), S. 440<br />

498 So im Ergebnis Rennert, DVBl. 2007, 400, 408<br />

134


IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2<br />

an einer positiven Genehmigungsentscheidung damit nicht erreicht werden<br />

kann. Auf Fragen der Reichweite gerichtlicher Kompetenzen und Prüfungstiefe<br />

wird noch zurückzukommen sein.<br />

4. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Während prognoseorientierte <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en im nationalen Recht<br />

als Anspruchsnorm mit Beurteilungsspielraum einzustufen sind, muss diesen<br />

in der Dual-use-VO Ermessenscharakter zugebilligt werden, so dass der<br />

Verwaltung eine Entscheidungsprärogative zusteht, mit entsprechenden Folgen<br />

für die eingeschränkte richterliche Kontrolle. <strong>Die</strong> in den jeweiligen<br />

Rechtskreisen abweichenden Verfahrensprinzipien und Fehlerlehren sind zu<br />

berücksichtigen. Mit Blick auf die Fehlerfolgen bleibt festzuhalten, dass<br />

Verwaltungsakte und damit auch <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en nach beiden<br />

Rechtskreisen widerrufen und zurückgenommen werden können.<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2<br />

Ob Beurteilungsspielraum auf nationaler Ebene oder Ermessen auf EU-<br />

Ebene, der Entscheidungsspielraum der Expotkontrollbehörde bei der Genehmigungsfrage<br />

bezieht sich maßgeblich auf die Gefahrenprognose. <strong>Die</strong><br />

Kontrolldichte der Entscheidung ist sowohl nach nationalem als auch Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

begrenzt. Wenngleich die Evidenzkontrolle<br />

des EuGH in ihrer Systematik von der nationalen Ermessensfehlerlehre abweicht,<br />

kann konstatiert werden, dass zumindest eine offensichtliche<br />

Zweckverfehlung der Entscheidung und Verfahrensfehler justiziabel sind.<br />

Da die maßgeblichen politischen Bewertungen für ein Gericht ebenfalls nur<br />

begrenzt überprüfbar sind, haben die unterschiedlichen systematischen Herangehensweisen<br />

keine praktischen Auswirkungen. Bei der Rechtsanwendung<br />

ergeben sich, soweit alle Tatbestandselemente erfüllt sind, keine relevanten<br />

Unterschiede. Ein Anspruch auf bestimmte Prognosen besteht nicht.<br />

Allenfalls darf man von der Behörde erwarten, dass sie die Gründe für die<br />

Annahme einer Gefahr in Bezug auf die gesetzlich geschützten Interessen<br />

auch benennt. Anknüpfungspunkt der Entscheidung sind immer Tatsachen,<br />

also Erkenntnisse zum Tätigkeitsfeld des Empfängers oder der möglichen<br />

Verwendung des Dual-use-Gutes.<br />

Nach diesen Erwägungen stellt sich die Frage, welche Prüfungsschritte in<br />

den beiden Bereichen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> durch die Behörde vorzunehmen<br />

und ob sie im konkreten Fall der gerichtlichen Kontrolle zugänglich<br />

sind. <strong>Die</strong> Voraussetzungen für eine rechtmäßige Prognoseentscheidung müs-<br />

135


Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />

sen sich nach den allgemeinen Anforderungen an Gefahrenprognosen richten.<br />

Dabei ist vor allem die materielle Rechtmäßigkeit der konkreten Eingriffsnorm<br />

zu überprüfen, die durch den sicherheitsrechtlichen Kontext von<br />

Exportkontrollen bestimmt sind.<br />

136


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

I. Standortbestimmung<br />

I. Standortbestimmung<br />

Aufgrund der Feststellungen zu den nationalen und gemeinschaftsrechtlichen<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbeständen bestehen für die Rechtsanwendung<br />

Entscheidungsspielräume der Verwaltung, die zu einer nur begrenzten richterlichen<br />

Kontrolle führen. Dabei stellt sich die Frage, welche Mindestanforderungen<br />

an die im Tatbestand zentrale Feststellung einer Gefahr für dort<br />

genannte Rechtsgüter bzw. Interessen zu stellen sind.<br />

<strong>Die</strong> Gefährdung bzw. Bedrohung im Sinne der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände<br />

wird als unbestimmter Rechtsbegriff qualifiziert, der einer Konkretisierung<br />

bedarf499 . <strong>Die</strong> festzustellende Gefährdungslage muss auf Sicherheitsinteressen<br />

(AWG) bzw. Überlegungen der öffentlichen Sicherheit (Dual-use-VO)<br />

oder auf die erforderliche Berücksichtigung der auswärtigen Interessen<br />

bzw. Beziehungen bezogen sein. <strong>Die</strong> Prüfungsanforderungen an die<br />

Gefahrenprognose ergeben sich aus dem allgemeinen Sicherheitsrecht. Der<br />

Vergleich von Exportkontrollen zu anderen sicherheitsrechtlichen Gebieten<br />

des besonderen Verwaltungsrechts bietet sich daher an. <strong>Die</strong> Sicherheitserwartungen<br />

der Gesellschaft und die verfassungsrechtlichen Handlungsgebote<br />

an den Staat sind dabei von Bedeutung. Besonders die Begriffe der<br />

Schutzpflicht sowie der Risikogesellschaft sind Schlüsselbegriffe der betroffenen<br />

Verfassungsrechtsmaterie500 .<br />

Der Prüfungsrahmen der Gerichte bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />

bestimmt sich nach den Grundsätzen der Ermessensfehlerlehre. Darauf<br />

wird auch in Verbindung mit unbestimmten Rechtsbegriffen zurückgegriffen.<br />

<strong>Die</strong> unterschiedliche Gewichtung von Verfahren und materiellen Aspekten<br />

im europäischen sowie nationalen Regelungsbereich müssen berücksichtigt<br />

werden501 . In dem Gesamtkontext muss eine verfassungskonforme Auslegung<br />

des Gefahrenbegriffs erfolgen. Sie kann den Entscheidungsspielraum<br />

der Behörde begrenzen. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen gehören<br />

u.a. die Vorgaben des Gesetzesvorbehalts und Bestimmtheitsgebots502 sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

müssen alle relevanten Belange in die Abwägung eingestellt werden.<br />

499 Vgl. Teil 1 II.5.e)<br />

500 Dazu grundlegend Beck, <strong>Die</strong> Risikogesellschaft, S. 26, 29 ff.<br />

501 Vgl. Teil 2 II.6.<br />

502 Vgl. Teil 2 II.3.b)bb)<br />

137


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Der unbestimmte Rechtsbegriff der Gefahr im Sinne der Eingriffsermächtigung<br />

des § 7 AWG bzw. Art. 8 Dual-use-VO bedarf der Konkretisierung.<br />

Ausgangspunkt dafür ist der klassische Gefahrenbegriff im Polizeirecht und<br />

die Abgrenzung zum Risiko. Der Gefahrenbegriff beinhaltet eine Prognose<br />

und ist für die zuständigen Behörden und auch die betroffenen Ausführer regelmäßig<br />

mit einer Komponente der Ungewissheit verbunden, weshalb damit<br />

zusammenhängende Fragen oft unter dem Stichwort Risikomanagement<br />

thematisiert werden 503 . <strong>Die</strong>ser Terminus zeigt, dass sich auch die Exportkontrolle<br />

mit der aus anderen Rechtsgebieten bekannten Tendenz eines Überganges<br />

von der staatlichen Gefahrenabwehr zum staatlichen Risikomanagement<br />

befassen muss. Eine Diskussion über die Reichweite staatlicher Präventionsaufgaben<br />

wird schon seit längerem auf den Gebieten des Atomrechts,<br />

des Umweltrechts und der Gentechnik geführt. Inzwischen stellen<br />

sich diese Fragen aber nicht mehr nur im technischen Sicherheitsrecht, sondern<br />

ebenso im allgemein sicherheitsrechtlichen Kontext. <strong>Die</strong>s betrifft auch<br />

die klassische Gefahrenabwehr im Polizeirecht. Im Ergebnis dieser Betrachtung<br />

kann, unter Berücksichtigung der methodischen Ansätze von EU-Recht<br />

und nationalem Recht, durch eine vergleichende Betrachtung festgestellt<br />

werden, ob die jeweils einschlägigen Genehmigungskriterien und sonstige<br />

zu berücksichtigende Vorgaben und Prinzipien zu unterschiedlichen Ergebnissen<br />

bei den Genehmigungstatbeständen führen.<br />

II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

Im Sicherheitsrecht werden häufig Begriffe wie Gefahrenabwehr, Gefahrenvorsorge<br />

und Risikoprävention genannt. Auf die Frage, ob und in welcher<br />

Form vor allem der Terminus Risikomanagement bei Exportkontrollen tatsächlich<br />

angebracht ist bzw. ob der damit verbundene Kontrollansatz von<br />

der gesetzlichen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflicht auch aus verfassungsrechtlicher<br />

Sicht gedeckt ist, fehlt bisher eine Antwort. Auf den ersten Blick besteht<br />

zum dort verwendeten Gefahrenbegriff eher ein Widerspruch 504 . Der<br />

hinter dem Gefahren- und Risikobegriff stehende Schutzauftrag des Staates<br />

und die sich daraus abzuleitende Reichweite seiner Sicherheitsaufgaben sind<br />

von wesentlicher Bedeutung. Wie andere Bereiche des Sicherheitsrechts<br />

knüpfen auch die Exportkontrollen explizit an den Begriff Sicherheit an. Er<br />

setzt nicht nur den Zweck für die damit verbundenen Eingriffsermächtigun-<br />

503 Vgl. Teil 1 II.5.e)<br />

504 Deshalb wohl auch Simonsens Forderung nach einem Forschungsdissertat: Simonsen,<br />

in Ehlers/Woffgang/Lechleitner (FN 128), S. 100<br />

138


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

gen, sondern bildet auch den Maßstab für den konkreten Eingriff. Schließlich<br />

sind bestimmte Bedrohungslagen für die Sicherheit im Zusammenhang<br />

mit Genehmigungspflichten Voraussetzung der Genehmigungspflicht sowie<br />

auch der Genehmigungsfähigkeit bestimmter Ausfuhren. So werden in § 7<br />

AWG die Kriterien der Störung des Völkerfriedens oder der auswärtigen<br />

Beziehungen sowie der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland<br />

angeführt. <strong>Die</strong> Reichweite des staatlichen Sicherheitsauftrages muss<br />

mit Blick auf seine verfassungsrechtliche Verankerung näher bestimmt werden.<br />

1. Der Sicherheitsbegriff im Wandel<br />

Zum Sicherheitsbedürfnis einer Gesellschaft wurde schon im 19. Jahrhundert<br />

festgestellt, dass es dabei nicht um einen Naturzustand ginge, sondern<br />

vielmehr eine Übereinstimung der gesellschaftlichen Vorstellungen über ein<br />

gefahrloses, also friedvoll (geregeltes) Leben 505 . <strong>Die</strong>se Überlegungen wurden<br />

u.a. durch das BVerfG aufgegriffen, indem es die Ausübung grundrechtlich<br />

geschützter Freiheiten unter den Vorbehalt des Gewaltverzichts und die<br />

Staatsgewalt über jede Rechtskonfrontation stellt 506 . Der Staat muss die gesellschaftlichen<br />

Erwartungen erfüllen, die sein Gewaltmonopol rechtfertigen.<br />

Er muss auf den gesellschaftlichen Wandel und sich verändernde<br />

Empfindlichkeiten reagieren können. Das ist für die Reichweite des Sicherheitsbegriffs<br />

von großer Bedeutung. Der Sicherheitsbegriff darf daher nicht<br />

statisch verstanden werden.<br />

a) Innere und äußere sowie technische Sicherheit<br />

<strong>Die</strong> klassische Domäne des Staates ist die innere Sicherheit. Sie widmet sich<br />

dem unmittelbaren Schutz von Rechtspositionen der Bürger durch die polizeiliche<br />

und ordnungsbehördliche Gefahrenabwehr sowie die Nachsorge mit<br />

präventiver Wirkung gegenüber Dritten durch Strafverfolgung und -vollzug,<br />

was dem repressiven Tätigkeitsbereich der Verwaltung zugeordnet wird507 .<br />

Das Schutzgut, welches der Gefahrenabwehr zu Grunde liegt, ist die innere<br />

Sicherheit. Im Polizei- und Ordnungsrecht wird sie regelmäßig mit öffentlicher<br />

Sicherheit und Ordnung definiert. Mit der Unterscheidung werden die<br />

Zuständigkeitsbereiche der zur Exekutive gehörenden Polizei und der Ord-<br />

505 Calliess, DVBl. 2003, 1096, 1100 und in FN 288, S. 1 ff. u.a. mit näheren Ausführungen<br />

zur staatstheoretischen Entwicklung des Sicherheitsgedankens (unter Verweis<br />

auf Hobbes, Leviathan, Kap. 17, S. 134)<br />

506 BVerfGE 69, 315, 360, zur Versammlungsfreiheit<br />

507 Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, S. 15 f.<br />

139


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

nungsbehörden abgegrenzt. In der eng mit den Staatsaufgaben verbundenen<br />

geschichtlichen Entwicklung dieses Rechtsgebietes erfolgte eine starke Ausdifferenzierung<br />

präventiver Sachaufgaben508 . Während die sachliche Zuständigkeit<br />

der Polizei auf den unmittelbaren Ordnungsvollzug, insbesondere<br />

in Zusammenhang mit strafrechtlich relevantem Verhalten, auch unter<br />

Verwendung von Zwangsmitteln, gerichtet ist, nehmen die Ordnungsbehörden<br />

regelmäßig die ihnen zugewiesenen Sachaufgaben der inneren Verwaltung<br />

wahr. Das geschieht beispielsweise in Form von behördlichen Handlungsanweisungen,<br />

Verboten oder Genehmigungsverfahren509 . <strong>Die</strong> Abgrenzung<br />

findet sich auch in den föderalen Kompetenzen auf kommunaler, Landes-<br />

und Bundesebene510 .<br />

Bei der öffentlichen Sicherheit geht es um den gesetzlich geregelten Schutz<br />

von Rechtsgütern. Als vom Sicherheitsbegriff umfasste Schutzgüter werden<br />

der Staat und seine Einrichtungen, die Rechtsordnung als Ganzes sowie die<br />

nach dem Grundgesetz geschützten Individualrechtsgüter genannt, die sich<br />

aber in Teilen unterscheiden511 . Das mit der Rechtsordnung erwähnte geschriebene<br />

Recht, wie StGB und OWiG, aber auch Verordnungen und Satzungen,<br />

regelt letztlich das Verhältnis der Bürger untereinander und des<br />

Bürgers zum Staat bzw. der Gesellschaft. Dabei werden die verfassungsrechtlichen<br />

Schranken der Grundrechte konkretisiert, so z.B. die Reichweite<br />

der Eigentümerrechte oder der Vertragsfreiheit. Der Schutz des Staates und<br />

seiner Einrichtungen bezieht sich auf die Funktionsfähigkeit des Staates, also<br />

seine durch bestimmte Institutionen und Personen vermittelte hoheitliche<br />

Handlungsfähigkeit. Auch hierbei geht es um eine Verletzung der Rechtsordnung.<br />

Der rechtmäßige Freiheitsgebrauch muss dagegen hingenommen<br />

werden. Eine über diese Aspekte hinaus unbestimmbare Funktionsfähigkeit<br />

des Staates kann deshalb nicht zum Schutzgut Sicherheit erhoben werden512 .<br />

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass als Bezugspunkt der Gefahrenabwehr<br />

nicht Sicherheit als solches, z.B. als Sicherheitsgefühl, geschützt<br />

wird. Es handelt sich vielmehr um einen Verweisungsbegriff. Je nach<br />

Regelungsmaterie und Normzweck bezieht er sich auf die Schädigung bestimmter<br />

subjektiver Rechte oder Rechtsgüter einzelner Personen, die sich<br />

bei einer einfachgesetzlichen Rechtsverletzung realisieren kann. Dazu gehö-<br />

508 Kugelmann (FN 138), S. 22 Rn 90 ff.<br />

509 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 65<br />

510 Kugelmamnn (Fn 138),S. 61 Rn 52 ff.<br />

511 Dazu Pieroth /Schlink Kniesel (FN 104), § 8 Rn 3 ff., mit Kritik an der Einbeziehung<br />

von Kollektivrechtsgütern, wie Wasserversorgung und Volksgesundheit, s.a.<br />

Knemeyer (FN 509), Rn 100<br />

512 Dazu Pieroth/Schlink/Kniesel (FN 104), § 8 Rn 42<br />

140


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

ren normativ verbürgte Rechte wie z.B. Leib, Leben, Gesundheit oder Ehre.<br />

Im Einzelfall kann daneben die hoheitliche Handlungsfähigkeit stehen. Öffentlich<br />

ist die Sicherheit aber nur dann, wenn daran ein öffentliches Interesse<br />

besteht, also Rechtsgüter in der Schutzverantwortung des Staates betroffen<br />

sind513 .<br />

Hingegen bezieht sich die in dem Kontext oft benannte öffentliche Ordnung<br />

auf ungeschriebene Normen und das darauf beruhende geordnete Zusammenleben<br />

der Bürger514 . <strong>Die</strong>se können aber allenfalls dann betroffen sein,<br />

wenn es an einer strafrechtlichen Sanktionierung fehlt, so z.B. bei neuen Gefahrentypen515<br />

. Rechtseingriffe sollen aber wegen der verfassungsrechtlich<br />

umstrittenen Bestimmtheit dieses Begriffs nur bei gleichzeitig drohenden<br />

Rechtsgutsverletzungen möglich sein, da sich sonstige soziale Aufgaben<br />

nicht an die Polizei, sondern den Gesetzgeber richten516 .<br />

In Abgrenzung zum Bereich der inneren Sicherheit wird auch der Begriff<br />

der äußeren Sicherheit verwendet, der sich mit der Verteidigungsfähigkeit<br />

eines Staates als Ganzes bzw. dem Schutz vor Angriffen von außen widmet.<br />

Auf die entsprechenden Abgrenzungen bzw. Verschmelzungstendenzen in<br />

Folge der Internationalisierung von Gefahren und Risiken, auch zum Staatsziel<br />

Völkerfriede, wurde schon eingegangen517 . Neben dem damit zunächst<br />

verbundenen Gedanken der physischen Sicherheit, also dem Schutz der verfassungsrechtlich<br />

in Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten körperlichen Unversehrtheit<br />

und des Lebens der Bürger vor Gewalt, tritt auch der Gedanke technischer<br />

Sicherheit. Dabei wird das Polizei- und Ordnungsrecht ebenfalls bemüht,<br />

um unmittelbare Gefahren für andere Rechtsgüter, wie z.B. durch Abfall<br />

oder Bodenkontamination, zu verhindern oder zu beseitigen. Grundlage<br />

hierfür ist der Maßstab des bestimmungsgemäßen Gebrauchs technischer<br />

Anlagen oder sonstiger Objekte. Gewalt als physisch vermittelter Zwang zur<br />

Überwindung von Widerstand518 , also z.B. unmittelbar körperliche Gewalt,<br />

wird in diesem Bereich durch eine mittelbare, aber dem Verursacher zurechenbare<br />

Störung eines Rechtsgutinhabers ersetzt. Beide können strafrechtlich<br />

relevant sein519 .<br />

513 Gusy, Polizeirecht, Rn 81 ff.<br />

514 BVerfGE, 69, 315, 352; BVerwG, NJW, 1980, 1640, 1641<br />

515 Knemeyer (FN 509), Rn 104<br />

516 Dazu Erichsen, VVDStRL 35, 171, 194 ff.<br />

517 Vgl. Ausführungen zu den Definitionen in Teil 1 II.5.b)bb)<br />

518 Tröndle/Fischer, Kommentar zum StGB, § 240, Rn 5<br />

519 Zur Beeinträchtigung von Rechtsgütern durch Unterlassen (Garantenpflicht): ebenda,<br />

§ 13, Rn 5<br />

141


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

b) Sicherheit, Fortschritt und Vorsorge<br />

In den letzten Jahren hat die internationale Dimension von Sicherheit an Bedeutung<br />

gewonnen. <strong>Die</strong>s geht auf den Wegfall der Grenzkontrollen sowie<br />

die Freizügigkeit der Bürger und den freien Warenverkehr innerhalb der EU<br />

zurück. Darüber hinaus kommt es im Rahmen der Globalisierung zu einer<br />

immer stärkeren Verflechtung und Vernetzung der Staaten, vor allem finanziell<br />

und wirtschaftlich. <strong>Die</strong>s führt zu grenzüberschreitend agierenden<br />

Netzwerken, mit legalen sowie illegalen Anliegen. <strong>Die</strong> Zivilgesellschaft<br />

wird durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller, ethischer<br />

und religiöser Vorstellungen beeinflusst. Mit diesen Entwicklungen werden<br />

Gefahren und Risiken für die Sicherheit von Staat und Bürger internationalisiert.<br />

Im Bereich physischer Sicherheit bilden terroristische Handlungen dafür<br />

ein plakatives Beispiel. <strong>Die</strong> Fragen der äußeren oder inneren Sicherheit<br />

überlappen sich hierbei. <strong>Die</strong> Tatsache, dass die Sicherheit wegen der grenzüberschreitenden<br />

Vernetzung von Kommunikations- und Verkehrswegen<br />

nicht mehr allein durch die Nationalstaaten gewährleistet werden kann, ist<br />

kaum bestreitbar. Wie die Ursachen der neuen Bedrohungen, so muss auch<br />

Sicherheit internationalisiert werden. <strong>Die</strong> institutionelle Zusammenarbeit<br />

und die Rechtspflege müssen hierauf abgestimmt werden. Es kommt zu einer<br />

Überlappung von innerer und äußerer Sicherheit der Staaten. In den zuständigen<br />

internationalen Foren, wie der EU, NATO oder VN, werden die<br />

dafür notwendigen gemeinsamen Maßnahmen entwickelt bzw. beschlossen.<br />

Neben diesen verkehrstechnischen Fortschritt tritt der produkttechnische<br />

Fortschritt, der im Rahmen des schon angesprochenen technischen Sicherheitsbegriffs<br />

eine Rolle spielt. Entwicklungen in Wissenschaft und Technik<br />

bergen nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Sie sind oftmals weder<br />

räumlich noch zeitlich eingrenzbar, zum Teil drohen irreversible Schäden.<br />

Man könnte an dieser Stelle von der Komplexität der Risiken infolge Komplexität<br />

des Wissens sprechen. In beiden Bereichen werden neue Gefahrenund<br />

Risikopotentiale geschaffen bzw. ermöglicht. Das Bewusstsein darüber<br />

wird in der bestehenden Kommunikations- und Informationsgesellschaft geschärft.<br />

<strong>Die</strong> gesellschaftliche Erwartungshaltung an den staatlichen Schutz<br />

steigt mit jedem Fall der Realisierung solcher Gefahren. Empfindungen des<br />

Einzelnen, wie Unbehagen oder Verunsicherung, verdichten sich zu einem<br />

gesellschaftlichen Moment520 . <strong>Die</strong> Abgrenzung der physischen und psychischen<br />

Sicherheit mag hierbei nicht mehr in jedem Falle möglich sein. In<br />

dem Zusammenhang wird oft von einer Risikogesellschaft gesprochen. Unter<br />

Sicherheit werden heute aber auch Begriffe wie die ökologische oder so-<br />

520 Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, S. 14 ff.<br />

142


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

ziale Sicherheit gefasst521 . Aus den bekannten Formen der sozialen, inneren<br />

und äußeren Sicherheit hat sich der Begriff der Zukunftssicherheit entwickelt522<br />

.<br />

Im Sicherheitsrecht, mithin der Exportkontrolle, wird diese Tendenz einer<br />

umfassenderen Risikovorsorge ebenso deutlich, beispielsweise bei der Terrorismusbekämpfung.<br />

Sie spielt im Polizeirecht und bei Exportkontrollen im<br />

weiteren Sinne (Embargos, Personenlisten) inzwischen eine bedeutsame<br />

Rolle. Auch für die Frage der Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> sind terroristische<br />

Bedrohungen zu berücksichtigen. <strong>Die</strong> künftige Verwendung einer<br />

Lieferung von Waren oder Technologie ist aber unabhängig vom späteren<br />

Einsatz durch einzelne Personen, Gruppen oder auch Staaten oft kaum vorhersehbar,<br />

wenngleich die Eigenschaften des Liefergutes und der Empfänger<br />

der Lieferung zumeist bekannt sind. Es fehlen regelmäßig Informationen,<br />

die eine weitergehende Prognose zum Verbleib erlauben. Das Missbrauchspotenzial<br />

variiert je nach Zielregion. Hinzu kommen nicht absehbare politische<br />

Entwicklungen in bestimmten Ländern. Eine mittel- oder langfristige<br />

Prognose zur Verwendung des Liefergutes wird so erschwert. Es stellt sich<br />

also durchaus die Frage, ob diese Ungewissheit und damit verbundene Gefahren<br />

oder Risiken zur Bejahung einer Gefahr im Sinne der Genehmigungstatbestände<br />

führen kann bzw. soll. <strong>Die</strong> Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit<br />

eines Missbrauchs und in dessen Folge auch eines Schadens<br />

im Sinne der geschützten Rechtsgüter und Interessen sind hierbei maßgeblich.<br />

Sie müssen spezifiziert werden.<br />

c) Ergebnis<br />

Der Sicherheitsbegriff unterliegt einer erheblichen Dynamik. Seine Reichweite<br />

hängt von gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Erwartungen an<br />

die Schutzpflichten des Staates gegenüber der Gesellschaft ab.<br />

2. Sicherheit und Verfassung<br />

Ein expliziter Sicherheitsauftrag an den Staat lässt sich der Verfassung nicht<br />

entnehmen, schon gar nicht mit Verweis auf bestimmte gesellschaftliche<br />

Entwicklungen oder Erwartungshaltungen. <strong>Die</strong> Gewährleistung von physischer<br />

Sicherheit der Bevölkerung ist so selbstverständlich, dass sie als<br />

Staatsziel nicht vorzufinden ist. Das Grundgesetz geht von einer funktionierenden<br />

Staatsgewalt aus, wie es auch Staatsgebiet und Staatsvolk voraus-<br />

521 Isensee, JZ 1999, S. 265, 271 ff.<br />

522 Callies, DVBl. 2003, S. 1096, 1097<br />

143


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

setzt. Schließlich geht es dabei um die Grundlagen der Gesellschaft. Das<br />

historisch gegen die konkurrierende Gewaltausübung kleiner Herrschaftsverbände<br />

im Interesse des Staatszweckes Sicherheit durchgesetzte Gewaltmonopol<br />

gilt als konstituierende Entstehungsbedingung des modernen<br />

Staatswesens. Sicherheit gilt als wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Legitimation<br />

des Staates. Sein Volk hat ihm das uneingeschränkte Recht auf<br />

Gewaltausübung vollständig übertragen. Er bietet dem Einzelnen dafür die<br />

Sicherheit vor Übergriffen. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit ergibt sich vornehmlich<br />

aus dem staatlichen Gewaltmonopol. <strong>Die</strong> damit verbundene Friedenspflicht<br />

des Bürgers kann nur durch die Wahrnehmung der entsprechenden<br />

Schutzpflicht des Staates gerechtfertigt werden523 . Sicherheit ist so ein<br />

wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips524 . Davon erfasst sind<br />

Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. <strong>Die</strong>se setzen nicht nur effektiven<br />

Rechtsschutz, sondern eine effektive Gefahrenabwehr voraus. Schließlich ist<br />

vom materiellen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips die durch Grundrechte<br />

vermittelte Gewährleistung und Förderung der individuellen Freiheit erfasst525<br />

. Dem Rechtsstaat im materiellen Sinne wird regelmäßig Staatszielcharakter<br />

zugeschrieben. Der Schutz der Menschenwürde und der individuellen<br />

Freiheiten, wie z.B. der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit<br />

nach Art. 2 Abs. 2 GG, stehen im Zentrum dieses Zieles, ergänzt<br />

durch Willkürverbot, Eigentumsgarantie und justizielle Garantien526 . Es wird<br />

deutlich, dass das Gewaltmonopol des Staates und darauf beruhende Eingriffe<br />

für den Rechtsgüterschutz und die Freiheit eine Doppelfunktion haben527 .<br />

Der staatliche Sicherheitsauftrag ergibt sich auch aus den spezifisch in der<br />

Verfassung formulierten einzelnen Staatszwecken. Er ist unverzichtbarer<br />

Teil des Gemeinwohls. Dazu gehört neben dem auf inneren Frieden bzw. innere<br />

Sicherheit gerichteten Rechtsstaatsprinzip das Prinzip der Friedensstaatlichkeit.<br />

<strong>Die</strong>ses ist Kernelement der äußeren Sicherheit und wird in Art.<br />

26 GG explizit erwähnt. Neben dem Ziel der Verhinderung von Krieg werden<br />

bereits Störungen des friedlichen Zusammenlebens kriminalisiert. Daneben<br />

steht die Förderung von Systemen kollektiver Sicherheit über die<br />

Herstellung von Bündnissen und internationalen Organisationen sowie die<br />

Völkerrechtsfreundlichkeit und dessen besondere Ausprägung der Menschenrechtsfreundlichkeit,<br />

denen über die Staatszielbestimmung Vorrang vor<br />

523 Zu den Grundlagen der Sicherheitsgewährleistungen: Möstl (FN 106), S. 14 ff.<br />

524 Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge: Grundlagen, Rechts-<br />

und Vollzugsstrukturen, Fn 52 ff.<br />

525 Calliess (FN 288), S. 72 mit Verweis auf Sobota, Prinzip Rechtssaat, S. 478, 485 ff.<br />

526 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S 203, 211 ff.<br />

527 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 f.<br />

144


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

der nationalen Gesetzgebung eingeräumt wird. Im Zusammenhang mit auswärtigen<br />

Angelegenheiten entstehe an dieser Stelle eine Bindungswirkung in<br />

Form der Verpflichtung zum Abschluss gegenläufiger Völkerrechtsverträge<br />

bzw. in Form des Hinwirkens auf Verträge, die zur innerstaatlichen Zielverwirklichung<br />

beitragen528 . In Art. 24 Abs. 2 GG wird die Gewährleistung der<br />

inneren und äußeren Sicherheit im Rahmen der Wahrung einer friedlichen<br />

Ordnung im System kollektiver Sicherheit ebenfalls erwähnt. Auch hier<br />

handelt es sich um eine sicherheitsorientierte Staatszielbestimmung529 . Bereichsspezifische<br />

Sicherheit wird aber nicht nur im inneren und äußeren<br />

Friedenssinne, sondern auch durch die Staatszwecke Sozial- und Umweltstaatsprinzip<br />

vermittelt. Der Umweltschutz ist so Teil des Staatszweckes Sicherheit.<br />

Der Staatszweck Sicherheit wirkt auch in zeitlicher Hinsicht. Der<br />

Schutz künftiger Generationen und von deren geschützten Rechtsgütern vor<br />

einer Schädigung, unabhängig vom Zeitpunkt der Verursachung, ist umfasst530<br />

. <strong>Die</strong>ser Gedanke ist für Fragen der inneren und äußeren Sicherheit<br />

relevant.<br />

Auf EU-Ebene ist der Sicherheitsgedanke in den Art. 2 und 29 EUV sowie<br />

Art. 61 EG verbürgt. Dort wird das Unionsziel eines Raumes der Freiheit,<br />

der Sicherheit und des Rechts formuliert. Der EuGH hebt die grenzüberschreitende<br />

Wirkung des Aspektes Sicherheit und dessen Bedeutung für die<br />

Europäische Gemeinschaft hervor und verweist auf die Funktion der Mitgliedstaaten<br />

als Garanten für geeignete und ausreichende Maßnahmen zur<br />

Wahrung der innergemeinschaftlichen Freiheiten531 . Der Sicherheitsbegriff<br />

findet sich schließlich auch in internationalen Vereinbarungen, wie z.B. Art.<br />

5 EMRK, die Sicherheit (und Freiheit) des Menschen vor willkürlicher Verfolgung<br />

und Verhaftung zum Gegenstand hat532 . Auf die Kompetenz der<br />

Mitgliedstaaten zur Auslegung des Sicherheitsbegriffs wurde bereits eingegangen.<br />

<strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit leitet sich also aus einer Vielzahl verfassungsrechtlicher<br />

Gewährleistungen ab und ist auch auf EU-Ebene anerkannt.<br />

Es besteht keine zeitliche Eingrenzung, sondern eine ebenso kurzfristige<br />

sowie langfristige Orientierung. Sie besteht immer dann wenn die Schädigung<br />

verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen droht.<br />

528 Sommermann (FN 526), S. 239 ff.<br />

529 Dolzer/Vogel/Graßhof (FN 282), Art. 24 Rn 5, 137<br />

530 Calliess (FN 288), S. 98<br />

531 Am Beispiel der Handelsfreiheit, EuGH in EuGRz 1997, 620 ff, Rn 32 ff.; NJW<br />

1998, 1931<br />

532 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November<br />

1950, BGBl. 1952 II, S. 685, 953, in der Fassung des Protokolls Nr. 11, in Kraft<br />

getreten am 1. November 1998, BGBl. I 2000 S. 1253 (vgl. FN 202)<br />

145


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

3. Qualität des staatlichen Sicherheitsauftrages<br />

<strong>Die</strong> aus der Sicherheitsaufgabe des Staates verfassungsmäßig erwachsenden<br />

Schutzpflichten sind in der Rechtswissenschaft grundsätzlich unbestritten.<br />

Über die Qualität der Schutzpflichten und deren Verhältnis z.B. zu den Freiheitsgrundrechten<br />

wurde damit aber noch keine Aussage getroffen.<br />

a) Sicherheit als Gemeinwohlbelang<br />

Neben den verfassungsimmanenten Schranken sind nach der Rechtsprechung<br />

des BVerfG auch Gemeinwohlbelange Legitimationsgrund für die Erreichung<br />

gesetzgeberischer Ziele, damit auch für einen Grundrechtseingriff.<br />

<strong>Die</strong>s kam mit der im Apothekenurteil des BVerfG entwickelten Stufentheorie<br />

sehr deutlich zum Ausdruck533 . Dahinter steht letztlich die gewichtende<br />

Verknüpfung entgegenstehender Belange durch die Je-desto-Formel, auf die<br />

beim Gefahrenbegriff noch näher einzugehen sein wird. <strong>Die</strong> Rechtfertigung<br />

soll sich nach der Intensität des Eingriffs und Wertigkeit des betroffenen<br />

Rechtsguts richten, dem durch die Verfassung legitimierte Gemeinwohlbelange<br />

gegenüberstehen. Anerkannt sind regelmäßig kollektive Interessen, die<br />

sich aus einer Vielzahl gleichartiger Individualinteressen summieren, z.B.<br />

die Volksgesundheit. Dabei werden von dem ursprünglichen Personenbezug<br />

losgelöste, aber zusammenhängende Individualinteressen, z.B. die Daseinsvorsorge,<br />

und Kollektivinteressen unterschieden. Beide ergeben sich aus<br />

dem Selbstverständnis des Staatszweckes bzw. der Staatsziele534 . In diese<br />

erste Kategorie gehören die bereits beschriebenen Aspekte der Sicherheit<br />

des Staates535 .<br />

<strong>Die</strong> Legitimationsfunktion von Gemeinwohl ist in Fällen, in den die Verfassung<br />

selbst keinen Vorbehalt vorgesehen hat, nur dann gewährleistet, wenn<br />

er aus der Verfassung zumindest abgeleitet werden kann. Solche verfassungsimmanenten<br />

Schranken sieht das BVerfG dann, wenn die Grundrechtsausübung<br />

mit Grundrechten Dritter kollidiert oder andere Rechtswerte<br />

von Verfassungsrang betroffen sind536 . Gemeinwohlbelange lassen sich mit<br />

diesen Rechtswerten identifizieren. Im Rahmen der Grundrechtsschranken<br />

kommt es zur Gewichtung der Verfassungswerte und zu einer gegenseitigen<br />

Optimierung damit verbundener Prinzipien. Es muss an dieser Stelle zwischen<br />

vorbehaltlos gewährten Grundrechten, Gesetzesvorbehalt und Ge-<br />

533 BVerfGE 7, 377 f., S. 403<br />

534 Zum Gemeinwohl: Schuppert, in: Schuppert/Neidhardt, Gemeinwohl: auf der Suche<br />

nach Substanz , S. 30 , 36<br />

535 BVerfGE 20, S 162 (179ff.)<br />

536 BVerfGE 28, 243 (260) Kriegsdienstverweigerungsentscheidung<br />

146


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

meinwohlgründen differenziert werden. Bereits auf dieser Stufe ist eine gewisse<br />

Rangordnung von Verfassungswerten vorgesehen. <strong>Die</strong>se Wertungen<br />

sind im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln<br />

und bei der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen zu berücksichtigen<br />

537 .<br />

b) Grundrecht auf Sicherheit und staatliche Schutzpflichten<br />

<strong>Die</strong> Ausführungen zum staatlichen Sicherheitsauftrag haben nicht die Frage<br />

beantwortet, in welchem Umfang der einzelne Bürger daraus eigene subjektiv-öffentliche<br />

Ansprüche ableiten kann. Ob der Verfassung neben der geschilderten<br />

Rolle im Rahmen der Staatsziele ein Grundrecht auf Sicherheit<br />

zu entnehmen ist, wurde in der Vergangenheit intensiv diskutiert. Denn eine<br />

explizite allgemeine staatliche Schutzpflicht kann dem Grundgesetz nicht<br />

entnommen werden. Nach dem Wortlaut der einzelnen Grundrechte wird eine<br />

Schutzpflicht allein i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erwähnt. Danach soll die<br />

Menschenwürde nicht nur gewahrt, sondern auch geschützt werden. <strong>Die</strong> allgemeine<br />

Grundrechtsidee der Schutzpflicht wurde gleichwohl aufgegriffen<br />

und ist als solches inzwischen unstreitig. Allerdings sind die Auffassungen<br />

zur Herleitung unterschiedlich538 . Der Staat hat mit der Gewährleistung von<br />

Sicherheit zunächst eine objektive Staatsaufgabe. <strong>Die</strong> offene Flanke des damit<br />

verbundenen Grundrechtsschutzes müsse durch eine positive Schutzdimension<br />

der Grundrechte geschlossen werden, die Anspruchscharakter hat,<br />

sonst würde die Grundrechtsposition des Rechtsbrechers privilegiert539 . Allerdings<br />

richte sich der Anspruch nur im Ausnahmefall auf bestimmte Maßnahmen.<br />

Im Übrigen sei die Umsetzung der Schutzpflicht im pflichtgemäßen<br />

Ermessen der zuständigen Staatsorgane540 . Darauf wird noch näher einzugehen<br />

sein.<br />

Das BVerfG beschreibt die Sicherheit von Staat und Bürgern als unverzichtbaren<br />

Verfassungswert und folgert die Schutzpflichten aus den objektiven<br />

Wertentscheidungen, die den jeweils betroffenen Grundrechten innewohnen.<br />

Als dogmatische Grundlage dafür wird die staatliche Pflicht zum Schutz der<br />

537 Sommermann (FN 526), S. 425<br />

538 Überblick zum Meinungsstand vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik<br />

Deutschland, § 69 IV 5; Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd.<br />

II, § 44 Rn 8<br />

539 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd V, § 111, Rn 85, 184 ff. s.a. Isensee (FN<br />

527),S. 1 ff.<br />

540 Isensee, ebenda, Rn 162 ff.<br />

147


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Menschenwürde Art. 1 Abs.1 GG angeführt541 . Gegenstand und Maß der<br />

Schutzpflicht würden aber durch das jeweils einschlägige Grundrecht näher<br />

bestimmt. Im Wesentlichen ergeben sich danach Schutzpflichten aufgrund<br />

einer existenziellen Gefahr für Leib und Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1<br />

GG542 . Der objektive Verstoß gegen Schutzinteressen Einzelner wird bei Gefahren<br />

für solche besonders hochwertige Grundrechte543 oder bei aus der<br />

Gesellschaft stammenden Gefahren und einer Mitverantwortung des Staates<br />

dafür 544 einer subjektiven Grundrechtsverletzung gleichgesetzt. Das<br />

BVerfG geht aber nicht auf die Frage ein, ob diese über objektive Wertentscheidungen<br />

vermittelte Schutzdimension der Grundrechte ein subjektives<br />

Recht des Betroffenen auf staatliches Handeln statuiert. Gegen diese Rechtsprechung<br />

wird angeführt, dass die subjektive Abwehrdimension der Grundrechte<br />

zu Gunsten des Eingriffsadressaten stärker hervorgehoben werden<br />

müsse. Ein Eingriff könne nur ganz ausnahmsweise gerechtfertigt werden545 .<br />

Sonst bestehe die Gefahr einer zu starken Einschränkung der die Freiheit sichernden<br />

Grundrechtsfunktion, indem die Freiheiten Dritter nahezu unbegrenzt<br />

die Freiheit des Betroffenen beschränkend wirken können. Auch<br />

würde das Gewaltenteilungsprinzip in Frage gestellt, wenn das BVerfG dem<br />

Gesetzgeber über die Schutzpflicht Handlungspflichten auferlegt. <strong>Die</strong> Begründung<br />

staatlicher Schutzpflichten leitet sich deshalb allein aus den für<br />

die Sicherheitsaufgabe maßgeblichen Staatszielen und dem Gewaltmonopol<br />

ab, ohne dass diesen ein Grundrechtscharakter zukäme.<br />

Der Auffassung des BVerfG ist zuzustimmen. Der Normativgehalt der<br />

Grundrechte geht über die subjektive Abwehrfunktion gegenüber staatlichen<br />

Eingriffen hinaus. Grundrechte enthalten einen Freiheitsermöglichungsanspruch.<br />

Sie weisen einen Doppelcharakter auf. Je nach Bedrohungsgrad und<br />

Verantwortungszusammenhang muss sich eine staatliche Schutzpflicht hin<br />

zu einem Anspruch auf staatliches Einschreiten verdichten können546 . Ein<br />

541 Erstmals BVerfG v. 22.11.1958, BVerfGE 7, 198, 204 ff. –Lüth, danach BVerfGE<br />

35, 79, 114 - Hochschulurteil, so auch Dürig, in: Maunz/ders., Art. 1 Abs. 1 Rn 3, 45,<br />

80f.<br />

542 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538), Rn 5, mit zahlreichen Verweisen auf Entscheidungen<br />

des BVerfG; u.a. zum Schutz der Bürger vor Gefahren der friedlichen Kernenergienutzung:<br />

BVerfGE 49, 24, 56 f. (Kalkar); BVerfGE 53, 30, 57 (Mülheim-<br />

Kärlich)<br />

543 BVerfGE 39, 1, 42 –(Schwangerschaftsabbruch) BVerfGE 77, 170, 214 - C-Waffen<br />

und BVerfGE 77, 381, 402 f. - Gorleben ; BVerfGE 56, 54,73 - Fluglärm<br />

544 BVerfGE 46, 160, 164 - Schleyer<br />

545 Zur Kritik am BVerfG beispielhaft Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken<br />

der Technik, S. 62 ff.<br />

546 So Isensee (FN 527), S. 21, 36, 51 ff., bestätigend Calliess (FN 288), S. 606<br />

148


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

subjektives Recht auf staatliches Handeln besteht wegen der möglichen Überdehnung<br />

der Schutzpflicht nur im Ausnahmefall. Dafür muss dargelegt<br />

werden, dass gar keine oder lediglich offensichtlich ungeeignete Maßnahmen<br />

des Gesetzgebers zum gebotenen Rechtsgüterschutz getroffen wurden547<br />

. Das Schutzpflichtkonzept soll nur dann gelten, wenn dies für die Erfüllung<br />

der klassischen Grundrechtsfunktion einer Abwehr von Grundrechtsgefährdungen<br />

unabdingbar erscheint. So wären in Fällen irreparabler<br />

Verletzungen von Leib und Leben, nicht beherrschbarer Entwicklungen oder<br />

dann, wenn der Konflikt durch die Betroffenen nicht autonom gelöst werden<br />

kann, andere Instrumentarien nicht effektiv genug. <strong>Die</strong> Handlungsverpflichtung<br />

des Gesetzgebers wäre in diesem Ausnahmefall verfassungsrechtlich<br />

geboten. Mit Blick auf fördernde Sicherungsanliegen des Staates verliere<br />

das Schutzkonzept dagegen seine Konturen, da diese unbegrenzt ausdehnbar<br />

sind548 . <strong>Die</strong>ser einschränkenden Betrachtung kann sich angeschlossen werden.<br />

Zumindest wegen der ultima ratio des verfassungsrechtlich gebotenen<br />

Schutzes i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG muss der Staat eingreifen<br />

können, wenn andere Sicherungsmechanismen ineffizient erscheinen.<br />

Mit dem Schutzpflichtkonzept kommt es auch zu einer verbesserten Strukturierung<br />

multipolarer Relationen zwischen allen Betroffenen grundrechtsrelevanten<br />

Handelns, was der beschriebenen Dynamik des Sicherheitsbegriffs<br />

ebenso gerecht wird wie der zunehmenden Komplexität der Handlungsketten<br />

und der Veränderung der gesellschaftlichen Wissensbestände. <strong>Die</strong> damit<br />

verbundenen langfristigen Wirkungen menschlichen Handelns erfordern eine<br />

verbesserte Risikoverteilung. Eine undifferenzierte Gleichschaltung kollektiv<br />

geprägter subjektiv-öffentlicher Rechte und individueller Grundrechtspositionen<br />

des Einzelnen, gar die Aufgabe der liberalen Grundordnung<br />

muss aber vermieden werden. Der Grundrechtsschutz darf also nicht zu einem<br />

ausufernden Verständnis der objektiv-rechtlichen Dimension führen<br />

und ihn auf einen Schutz der Verhältnismäßigkeit staatlicher Intervention<br />

reduzieren549 . Eine Berufung auf die primär freiheitsichernde Funktion der<br />

Grundrechte erscheint demnach grundsätzlich berechtigt, so lange die ultima-ratio-Funktion<br />

der Schutzdimension hervorgehoben wird. Soweit also<br />

allein die Effektuierung der Abwehrfunktion der Grundrechte erfolgt, dürfte<br />

es nicht zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Überdehnung der<br />

Schutzpflichten kommen. Zumindest das Leben und die körperliche Unver-<br />

547 So im Ergebnis BVerfGE 77, 170 (214 ff.), C-Waffen-Entscheidung<br />

548 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 4 Rn 98<br />

549 So zu recht Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 43, 65<br />

sowie in DÖV 2007, S. 1 ff., 7<br />

149


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

sehrtheit unterliegen deshalb unter den genannten Voraussetzungen wie alle<br />

anderen Freiheitsgrundrechte einer staatlichen Schutzpflicht. <strong>Die</strong> so definierten<br />

Gewährleistungen durch den Staat ergeben sich also aus den grundrechtlichen<br />

Schutzpflichten, dem Gewaltmonopol sowie Rechtsstaatsprinzip.<br />

Sie werden mit dem schon beschriebenen Begriff der inneren Sicherheit zusammengefasst550<br />

. Der Verfassungsrang dieses Staatszieles und der dem entsprechende<br />

Schutzcharakter wird hierbei bestätigt.<br />

Um dem i.V.m. den sicherheitsorientierten Staatszielen damit weitgehend<br />

unstrittigen Doppelcharakter der Grundrechte551 und insbesondere deren<br />

Schutzdimension gerecht zu werden, muss bei der Lösung von Konfliktfällen<br />

eine angemessene Einbeziehung des auf diese Weise subjektivierten<br />

Gemeinwohlbelangs Sicherheit ermöglicht werden. Auf die entsprechende<br />

Frage der subjektiv-öffentlichen Anspruchsposition des Inhabers eines<br />

schützenswerten Interesses und die Gewichtung gegenüber dem Freiheitsrecht<br />

wird deshalb noch einzugehen sein.<br />

c) Sicherheitsbegriff und Schutzpflichtendogmatik auf EU-Ebene<br />

Für einen einheitlichen europarechtlichen Sicherheitsbegriff besteht bisher<br />

kein Bedarf. Bereits im Zusammenhang mit den Genehmigungskriterien<br />

nach der Dual-use-VO wurde erwähnt, dass aufgrund der nationalen Vorbehalte<br />

bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ausschließlich<br />

eine Koordinierung der Politiken in den Mitgliedstaaten erfolgt.<br />

Zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gehört die Rechtsordnung der<br />

Gemeinschaft. Der nationale Begriff ist bei Bedrohung gemeinschaftlich geschützter<br />

Rechtsgüter zu öffnen552 . Dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff<br />

der öffentlichen Sicherheit werden vornehmlich Gefahren für Leib und Leben<br />

zugeschrieben. Es geht um die Gewährleistung der inneren und äußeren<br />

Sicherheit553 . Im Hinblick auf die öffentliche Ordnung muss unterschieden<br />

werden, da ihr auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein anderes Verständnis<br />

anhaftet554 . Der EuGH beschreibt es durch hoheitlich festgelegte Grundregeln,<br />

die wesentliche Interessen des Staates berühren555 . Es erfolgt eine Bezugnahme<br />

auf den eher im Völkerrecht vorzufindenden ordre-public-<br />

550 Siehe auch Aulehner (FN 524), S. 436 f.<br />

551 <strong>Die</strong>s bestätigend Sommermann (FN 526), S. 416, 421 ff.<br />

552 Lindner, JuS 2005, S. 302, 305<br />

553 So EuGH, Rs C 129/95-Centro Com-Slg. 1997 I, 581 und Rs C 73/89 - Richardt, Slg.<br />

1991 I, 4621<br />

554 Zum ordre public und dem Sicherheitsbegriff im Rechtsvergleich: Leiblein, in: Grabitz/Hilf<br />

(FN 3), Bd. 1 Rn 12 ff.<br />

555 EuGH Rs 113/80 - Kommission/Irland, Slg 1981, 1625, Rn 7 f.<br />

150


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

Vorbehalt. <strong>Die</strong> Definition setzt geschriebenes Recht voraus, ist damit restriktiver<br />

als die auf ungeschriebene Normen bezogene nationale Definition. Sie<br />

enthält i.Z.m. dem Verweis auf die Rechtsordnung auch Elemente des nationalen<br />

Sicherheitsbegriffs556 . Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten sind<br />

die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten einzubeziehen557 .<br />

Im Zusammenhang mit der Vorrangwirkung des Gemeinschaftsrechts stellt<br />

sich die Frage, inwieweit die nach Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 8 EMRK<br />

zu beachtenden Grundrechte ebenfalls im Sinne einer Schutznorm interpretiert<br />

werden können. Wenngleich die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen<br />

zwischenzeitlich unumstritten sind558 , so scheint eine der deutschen<br />

Verfassungsdiskussion adäquate Herleitung der Schutzdimension von<br />

Grundrechten, basierend auf der Werteordnung und dem staatlichen Gewaltmonopol<br />

schon wegen der fehlenden Staatsqualität der EU, aber auch<br />

der fehlenden Verfassungsqualität der Verträge, nicht zuletzt vor dem Hintergrund<br />

des noch nicht abgeschlossenen Verfassungsprozesses, schwierig.<br />

Dennoch ist auch bei der EuGH-Rechtsprechung eine Tendenz festzustellen,<br />

wonach Ansätze für eine Einstandspflicht der Mitgliedstaaten für die Grundlagen<br />

eines menschenwürdigen Lebensumfeldes entwickelt werden sollen.<br />

Bezüglich der Grundfreiheiten bietet das EuGH-Urteil zur französischen<br />

Bauernblockade hierzu einen Anhaltspunkt. Der EuGH stellt fest, dass die<br />

Mitgliedstaaten unter dem Aspekt der Funktion des innergemeinschaftlichen<br />

Handels gem. Art. 28 EG nicht untätig bleiben dürfen. <strong>Die</strong>s wird ebenso aus<br />

dem Gebot der Gemeinschafstreue gem. Art. 10 EG abgeleitet. Ein Rückgriff<br />

auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit erfolgt über den Begriff<br />

der öffentlichen Sicherheit. Ein solches Recht wird mittelbar über das Diskriminierungsverbot<br />

anerkannt. Das führe zu Schutzpflichten der Mitgliedstaaten<br />

gegenüber allen EU-Mitbürgern, soweit diese auch gegenüber den<br />

nationalen Bürgern bestehen559 . Damit erkennt der EuGH über die Gemeinschaftsziele<br />

und Verkehrsfreiheiten staatliche Schutzpflichten an, die auch<br />

für die staatliche Sicherheitsgewährleistung eine Rolle spielen. Bei der Warenverkehrsfreiheit<br />

werden nationale Schutzpflichten der Mitgliedstaaten<br />

aufgrund des Gesundheitsschutzes als Rechtfertigungsgrund anerkannt.<br />

Wörtlich heißt es, dass Gesundheit und Leben von Menschen gegenüber den<br />

nach Art. 28 EG geschützten Gütern den ersten Rang einnehmen würden560 .<br />

556 Kugelmann (FN 138), S. 85 Rn 65<br />

557 Lindner (FN 552),S. 305<br />

558 Vgl. Teil 1 III.3.b)<br />

559 EuGH Rs 186/87, Slg. 89, 195, 219 ff. - Cowan<br />

560 EuGHE Rs 293/94 Brandsma, Slg. 1996 I, 3159, Rs 1047/75, de Peijper, Slg. 1976<br />

613, 635<br />

151


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Das wird aus der Beschränkungsausnahme zur öffentlichen Sicherheit und<br />

Ordnung nach Art. 30 EG deutlich. Insgesamt besteht ein dem Art. 2 Abs. 2<br />

GG entsprechender Schutzstandard, der die gewichtige Qualität dieser<br />

Rechtsgüter hervorhebt.<br />

Bei der Umsetzung der freiheitsbezogenen Schutzpflichten wird den Mitgliedstaaten<br />

ein Ermessen eingeräumt. So beschränkt sich der EuGH bei<br />

seiner Prüfung auf eine Evidenzkontrolle und belässt es im Benehmen der<br />

Mitgliedstaaten, welche Maßnahmen sie für den Schutz der Grundfreiheiten<br />

für geeignet erachten. Analog dazu werden offensichtliche Verletzungen der<br />

Schutzdimension von Grundrechten unterstellt, die auf der Grundlage der<br />

EMRK und gemeinsamen Verfassungswerten der Mitgliedstaaten ebenfalls<br />

anerkannt werden561 . Ausgehend von Art. 30 EG, müssen und dürfen die<br />

Mitgliedstaaten auch den sich aus der öffentlichen Sicherheit und Ordnung<br />

ergebenden Schutzauftrags und die damit verbundene nationale Werteordnung<br />

berücksichtigen. <strong>Die</strong> gemeinschaftsrechtlichen Grenzen des Ermessens<br />

ergeben sich aus der Abwägung der nationalen Interessen mit den Grundfreiheiten562<br />

.<br />

Es bleibt festzustellen, dass auf EU-Ebene eine der nationalen Lehre vergleichbare<br />

Schutzpflichtendiskussion noch nicht sehr weitgehend entwickelt<br />

ist. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass z.B. mit Blick auf die<br />

Sicherheitsverantwortung der Mitgliedstaaten gegenüber den EU-Bürgern<br />

ein dem Grundgesetz vergleichbares Schutzniveau gegeben ist und dieses<br />

zumindest in Form eines in allen Mitgliedstaaten anerkannten Verfassungsprinzips<br />

in die Abwägung staatlicher Eingriffsentscheidungen einzubeziehen<br />

ist.<br />

d) Ergebnis<br />

Eine grundrechtlich gebotene Schutzpflicht des Staates ist als ultima ratio<br />

anerkannt, besonders wenn es um gewichtige Rechtsgüter wie das Leben<br />

bzw. die körperliche Unversehrtheit geht. Auf gemeinschaftsrechtlicher<br />

Ebene können entsprechende Verpflichtungen aus den Grundfreiheiten abgeleitet<br />

werden, aber auch aus dem dort zur Gewährleistung der öffentlichen<br />

Sicherheit und Ordnung bestehenden Schutzauftrag der Mitgliedstaaten.<br />

<strong>Die</strong>ser ist in die Abwägung der bei staatlichen Eingriffen betroffenen Belange<br />

einzubeziehen.<br />

561 Calliess, ZUR 2000, 246, 252 f. unter Verweis auf, EuGH Rs C - 265/95 v.<br />

9.12.1997, EURZW 1998, 84<br />

562 Leiblein, in: Grabitz-Hilf (Fn 3), Bd. 1 Rn 16<br />

152


4. Reichweite des Sicherheitsbegriffs<br />

II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

Über die Reichweite des staatlichen Gewaltmonopols wurden bisher keine<br />

Aussagen getroffen. Soweit die Bejahung von Sicherheit die Abwesenheit<br />

von Gefahren bzw. Risiken widerspiegelt, hängt der Umfang des staatlichen<br />

Schutzes von der Definition der jeweils betroffenen einzelgesetzlichen Ermächtigungsnorm<br />

ab. <strong>Die</strong> dort verwendeten Begriffe der Gefahr und in Abgrenzung<br />

dazu des Risikos müssen näher untersucht werden. Dazu gehört<br />

die verfassungsrechtliche Legitimation staatlicher Eingriffe in sicherheitsrechtlichen<br />

Bereichen. <strong>Die</strong> Ergebnisse dieser Betrachtung erlauben auch<br />

Rückschlüsse auf die Auslegung und Anwendung des <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Gefahrenbegriffs.<br />

a) Gefahrenbegriff<br />

aa) Nationales Recht<br />

Der klassische Gefahrenbegriff wurde maßgeblich durch das Kreuzbergurteil<br />

des PrOVG geprägt, wonach aus einem gegenwärtigen Zustand oder<br />

Verhalten nach dem Gesetz der Kausalität gewisse Schaden bringende Zustände<br />

und Ereignisse erwachsen563 . <strong>Die</strong>se Definition gilt als zentrales Element<br />

für die Bestimmung der Reichweite polizeilicher Eingriffsermächtigungen<br />

im Rahmen des Gesetzesvorbehalts. Das Gericht wollte dem polizeilichen<br />

Ermessen auf diese Weise Schranken setzen, in diesem Falle aber<br />

auch baupolizeiliche Kompetenzen gegenüber anderen staatlichen Aufgaben<br />

und Behörden begrenzen564 . Ein weitergehender Schutz öffentlicher Interessen<br />

sei nur durch Spezialgesetzgebung, nicht aber durch die allgemeine Gefahrenabwehr<br />

möglich565 . In dieser Tradition stellt die Rechtsprechung auf<br />

die Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts für geschützte Rechtsgüter bei<br />

einem ungehinderten Fortgang des Geschehens ab566 . Es geht um eine Situa-<br />

563 Urteil des PrOVG vom 14.6.1882, PrOVGE 9, 353 ff., neu abgedruckt in DVBl.<br />

1985, 219 und VBlBW 1993, 271<br />

564 Zum Zusammenhang des Entwicklungsprozesses einer Aufgabendifferenzierung bei<br />

Polizei- und Ordnungsbehörden: Kugelmann (FN 138), Rn 99 f., S. 24<br />

565 PrOGVE 9, 353 ff., (FN 563)<br />

566 Ständige Rechtsprechung, etwa: BVerwG, Urt. v. 13.12.1967 – IV C 146/65, BVerw-<br />

GE 28, 310/315 f.; Urt. v. 26.6. 1970 – IV C 99/67, DÖV 1970, 713/714; Urt. v.<br />

26.2.1974 – I C 31.72, BVerwGE 45, 51/57. Entsprechend definieren auch die Polizeigesetze<br />

von z.B. Bremen (§ 2 Nr. 3 Lit. a BremPolG), Niedersachsen (§ 2 Nr. 1<br />

Lit. a NPolG) und Sachsen-Anhalt (§ 3 Nr. 3 Lit. a SOG LSA) den Gefahrenbegriff.<br />

153


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

tion, in der mit genügender Sicherheit ein Kausalzusammenhang zwischen<br />

Ursache und erwartetem Schaden nachgewiesen werden kann567 .<br />

<strong>Die</strong> Aufgabe der Gefahrenabwehr wird mit der Abwesenheit von Gefahr<br />

umschrieben. Sie betrifft die Herstellung oder Sicherstellung eines schadens-<br />

bzw. störungsfreien Zustandes. Der ebenfalls oft verwendete Begriff<br />

der Störung bezieht sich auf die Schädigung rechtlich geschützter Güter. Es<br />

stellt sich die Frage, wann in diesem Kontext ein Schaden angenommen<br />

werden kann. Manche Einwirkungen können schädlich sein, ohne das Maß<br />

einer hinnehmbaren Belästigung zu überschreiten. An dieser Stelle wird<br />

auch von sozialadäquaten Beeinträchtigungen gesprochen. Eine solche Toleranzpflicht<br />

wird bei rechtlich zulässigem Handeln gesehen. Dabei werden<br />

die Legalisierungswirkung von Genehmigungen, die Zulässigkeit der Beeinträchtigung<br />

aufgrund untergesetzlicher Vorschriften, z.B. technische Normen,<br />

oder außerrechtliche soziale Regeln, wie das Kriterium der Ortsüblichkeit,<br />

anerkannt568 .<br />

Als bloße Belästigung gilt die Beeinträchtigung des physischen oder psychischen<br />

Wohlbefindens, wenn nicht bereits die Gesundheit beeinträchtigt<br />

ist569 . Gewicht bzw. Intensität der Rechtsgutsverletzung müssen berücksichtigt<br />

werden. Anstatt von Schäden wird oft auch von Nachteilen gesprochen,<br />

die sich auf eine quantitative Herabsetzung oder Minderung bestimmter<br />

Rechtsgüter, z.B. auf Vermögenseinbußen, beziehen570 .<br />

Das gesetzlich beabsichtigte Schutzniveau richtet sich nach dem Sollzustand<br />

des geschützten Belanges. Das in manchen Regelungen statuierte Erfordernis<br />

eines erheblichen Schadens dient regelmäßig als Korrektiv für sehr weit<br />

gefasste Schutzgüter. Zu solchen zählen z.B. Belange des Gemeinwohls<br />

oder Interessen der Allgemeinheit571 . Es geht dann um die Zumutbarkeit einer<br />

Beeinträchtigung, was ebenfalls im Rahmen einer Interessenabwägung<br />

beurteilt werden muss572 . Ein solches Korrektiv ist auch in dem für die nationale<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> maßgeblichen Tatbestand des § 3 Absatz 1<br />

AWG zu finden, der von einer erheblichen Gefährdung der in § 7 Absatz 1<br />

AWG benannten Schutzgüter spricht.<br />

567 Reich, Gefahr-Risiko-Restrisiko, S. 32; mit Verweis auf die Beweislastproblematik:<br />

Murswiek, NVWz 1986, S. 614<br />

568 Gusy (FN 513), Rn 103 ff.<br />

569 Germann, Das Vorsorgeprinzip als vorverlagerte Gefahrenabwehr, S. 30<br />

570 Zum Schadensbegriff Reich (FN 567), S. 33 ff.<br />

571 Reich (FN 567), S. 47<br />

572 Germann (Fn 569), S. 31<br />

154


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

Weil die Gefahrenabwehr auf Schäden in der mehr oder weniger nahen Zukunft<br />

bezogen ist, müssen diese prognostiziert werden. Solche Prognosen<br />

beinhalten regelmäßig erfahrungsbezogene Entwicklungen und Tatsachen<br />

aus der Vergangenheit und Gegenwart573 . Für die Wahrscheinlichkeitsprognose<br />

ist deshalb die Lebenserfahrung maßgeblich574 . <strong>Die</strong>ser objektive Wertungsmaßstab<br />

wird normativ-subjektiv relativiert, indem man dafür nicht nur<br />

Tatsachen heranzieht, die dem präventiv Handelnden bekannt sind, sondern<br />

auch diejenigen, die ihm bekannt sein konnten. Es geht also um die Sichtweise<br />

des durchschnittlichen, objektiven Richters. Dazu gehören z.B. wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse. <strong>Die</strong>se müssen von wertungsbezogenen Handlungen<br />

abgegrenzt werden. <strong>Die</strong> Wissenschaft spielt auch im Rahmen des Risikobegriffs<br />

eine Rolle. Sie bietet objektive Ansätze zur Schadenswahrscheinlichkeit575<br />

. Eine subjektive Bewertung des Sachverhalts im Einzelfall<br />

wird damit jedoch nicht ersetzt. Hierbei sind für und gegen eine Gefahr<br />

sprechende Indizien, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips,<br />

gegeneinander abzuwägen576 . Darauf wird später mit Blick auf die verfassungsrechtlichen<br />

Aspekte noch näher einzugehen sein.<br />

Der mit dem (unbestimmten) Gefahrenbegriff eröffnete und mit der Abwägung<br />

wahrgenommene Entscheidungsspielraum der Behörde wird demnach<br />

durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt577 . An dieser Stelle<br />

kommt das Rangverhältnis von Gefahrenabwehr auf der einen und Freiheit<br />

des von der Abwehr Betroffenen auf der anderen Seite zum Tragen. Der für<br />

die Gefahr notwendige Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts<br />

soll von der Wertigkeit des zu schützenden Rechtsgutes abhängen. Je größer<br />

und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, umso geringer<br />

sind die Anforderungen, die an die Wahrscheinlichkeit gestellt werden<br />

können. Für den Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter soll deshalb<br />

schon die entfernte Möglichkeit eines Schadens zur Bejahung einer Gefahr<br />

führen dürfen578 . An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts können<br />

dann lediglich geringe Anforderungen gestellt werden. Es kommt also zu einer<br />

umgekehrten Proportionalität von Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit.<br />

Obwohl beispielsweise die mit anonymen Bombendrohungen<br />

verbundene Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nach aller Erfahrung<br />

äußerst gering ist und in der Regel allenfalls die nur entfernte Möglichkeit<br />

573 Gusy (FN 513), Rn 111<br />

574 Breuer, DVBl. 1978, S. 829, 833<br />

575 Reich (FN 567), S. 77<br />

576 Gusy (FN 513), Rn 116<br />

577 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 34<br />

578 So statt aller Drews/Wacke/Vogel/Martens (FN 146), S. 224<br />

155


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

eines Schadenseintritts besteht, muss die zuständige Behörde dem nachgehen,<br />

schon wegen des damit verbundenen, wenn auch entfernten, existenziellen<br />

Risikos für das Leben Einzelner. Wenn sich die Gefahr verwirklichen<br />

sollte, wäre der eintretende Schaden so groß, dass ein Eingreifen nicht nur<br />

gerechtfertigt, sondern sogar geboten erscheint. Daraus wird geschlussfolgert,<br />

dass bei der Gefahr besonders großer Schäden zur hinreichenden<br />

Wahrscheinlichkeit in der erwähnten Faustformel auch die entfernte Möglichkeit<br />

eines Schadenseintritts gehört579 .<br />

Allerdings würde das Proportionalitätskriterium dann entwertet, wenn dem<br />

schützenswerten Rechtsgut ein zu breiter Anwendungsbereich zugewiesen<br />

wird, so dass jeder Rechtsverstoß in die Gefährdung der Rechtsordnung insgesamt<br />

münden kann. So würde praktisch jeder staatliche Eingriff gerechtfertigt.<br />

Dem ist durch die Anforderung an ein hinreichend konkret bestimmtes<br />

Rechtsgut zu begegnen, welches gefährdet erscheint580 . <strong>Die</strong>ser Gedanke<br />

ist auch für die Ratio von Exportkontrollen, die letztlich dem Schutz vieler<br />

Menschenleben dienen, von Bedeutung.<br />

bb) Gemeinschaftsrecht<br />

Auch auf EU-Ebene werden diese Abgrenzungskriterien verwendet. Im<br />

Hinblick auf Gefahrensituationen sieht z.B. die Umwelthaftungsrichtlinie<br />

(UH-RL) 581 den Begriff unmittelbare Gefahr eines Schadens vor. Er wird in<br />

Art. 2 Nr. 9 UH-RL als die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass ein Umweltschaden<br />

in naher Zukunft eintreten wird, definiert. Damit bezeichnet<br />

unmittelbare Gefahr im Sinne der Richtlinie eine Sachlage, die in naher Zukunft<br />

mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Umweltschaden führen<br />

wird. <strong>Die</strong>s entspricht der Gefahr im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts.<br />

Den Begriff Schaden definiert der Richtliniengeber in Art. 2 Nr. 2<br />

UH-RL als eine direkt oder indirekt eintretende feststellbare nachteilige Veränderung<br />

einer natürlichen Ressource oder Beeinträchtigung der Funktion<br />

einer natürlichen Ressource, was sich ebenfalls mit dem Schadensbegriff im<br />

deutschen Recht deckt. Insgesamt gibt es daher keine wesentlichen Abweichungen<br />

der gemeinschaftsrechtlichen Betrachtung.<br />

579 BVerwG, Urteil vom 26.06.1970, NJW 1970, S. 1890, 1892<br />

580 Gusy (FN 513), Rn 117<br />

581 EG-Richtlinie 2004/35/EG „Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von<br />

Umweltschäden“, (In Kraft getreten am 21. April 2004), ABl. EG Nr. L 143 vom<br />

30.4.2004 S.56<br />

156


cc) Abgrenzung der Gefahrenschwelle<br />

II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil<br />

nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge<br />

weder bejaht noch verneint werden können, begründen hingegen keine Gefahr.<br />

Es besteht allenfalls ein Gefahrenverdacht oder Besorgnispotenzial. Da<br />

es an einer Prognosegrundlage für die Schadenswahrscheinlichkeit fehlt,<br />

bietet das auf Bestandsschutz konkreter Rechtsgüter gerichtete allgemeine<br />

Gefahrenabwehrrecht keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten<br />

zu begegnen 582 . Eine andere Einschätzung ergibt sich bei Annahme des<br />

Vorsorgecharakters einer Norm. Auch im Bereich ungesicherter Erfahrungssätze<br />

steht die Gefahrenabwehr im Spannungsfeld von Interessen des Eingriffsgutes<br />

und des Schutzgutes. Je nach Gewicht der Anhaltspunkte für eine<br />

mögliche Schädigung gibt es unterschiedliche Intensitätsgrade. Sie können<br />

eine Abwehrmaßnahme aber unterhalb der Schwelle zur Feststellung der<br />

Schädigungseignung eines Zustandes oder Verhaltens nicht rechtfertigen.<br />

Für ein Überschreiten dieser Schwelle müssten lückenhafte Kausalitätsfragen<br />

sowie ungesicherte Erfahrungssätze durch eine hinreichende Begründung<br />

der Schadenswahrscheinlichkeit kompensiert werden. Bloß theoretische<br />

Möglichkeiten reichen hierfür nicht aus 583 .<br />

b) Konkrete, abstrakte und latente Gefahr<br />

Eine im konkreten Einzelfall relevante Gefahr muss keineswegs unmittelbar<br />

bevorstehen. <strong>Die</strong> Abgrenzung konkreter und abstrakter Gefahren beinhaltet<br />

keine zeitliche Komponente. Ihre Verwirklichung, also der Eintritt des<br />

Schadens, kann vielmehr möglicherweise noch Jahre auf sich warten lassen.<br />

Gleichwohl kann die Gefahr konkret sein. Das Erfordernis einer hinreichenden<br />

Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens gehört zur abstrakten<br />

genauso, wie zur konkreten Gefahr. Beide Gefahrenbegriffe stellen insoweit<br />

die gleichen Anforderungen. Der Unterschied liegt nur in der Betrachtungsweise.<br />

Bei Annahme einer abstrakten Gefahr steht für bestimmte Arten von<br />

Verhaltensweisen oder Zuständen, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit<br />

ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintreten wird584 . Es wird<br />

also eine auf den typischen Fall oder Geschehensablauf, aber gerade nicht<br />

eine auf den Einzelfall bezogene konkrete Gefahr angenommen585 . Solche<br />

abstrakten Gefahren sind regelmäßig Voraussetzung für ein Regelungserfor-<br />

582 BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1985, BVerwGE 72, 300, 315<br />

583 Dix, <strong>Die</strong> Gefahr im Polizeirecht, S. 76, 150<br />

584 BVerwG, Urteil vom 03.07.2002, BVerwGE 116, 347, veröff. in DVBl. 2002, 1564<br />

585 BVerwG, Urteil vom 26.06.1970, NJW 1970, S. 1890, 1892<br />

157


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

dernis mittels Rechtsverordnung. Auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts<br />

im Einzelfall kann in diesem Fall verzichtet werden.<br />

Im Bayerischen Polizeirecht findet sich auch der Begriff der allgemeinen<br />

Gefahr. Eine solche soll vorliegen, wenn bei bestimmten Lebenssachverhalten<br />

konkrete Gefahren zu erwarten sind und diese zeitlich vorgelagert, also<br />

vorbeugend abgewehrt werden sollen. In diesem Kontext werden auch Gefahrenerforschungseingriffe<br />

diskutiert, die der Aufklärung bei Gefahrenverdacht<br />

dienen586 . Um polizeiliches Tätigwerden trotz der Vorverlagerung zu<br />

rechtfertigen, sei eine explizite gesetzliche Anordnung erforderlich587 . Hierbei<br />

soll es sich trotz des unklaren Wortlautes um eine Variante des abstrakten<br />

Gefahrenbegriffs handeln588 . Grundlage der Anordnung sei eine informationelle<br />

Vorfeldbefugnis, die auf den Gefahrenverdacht und konkrete Anhaltspunkte<br />

für eine Gefahr gestützt werden muss. <strong>Die</strong> Grenzen von der<br />

prognosespezifischen (Un-)Wahrscheinlichkeit zur generellen Ungewissheit<br />

sind fließend589 . Unter dem durch die Rechtsprechung entwickelten Begriff<br />

der latenten Gefahr versteht man dagegen eine Gefahr, welche zwar bereits<br />

vorhanden und auch auf den konkreten Einzelfall bezogen ist, aber erst<br />

durch das Hinzutreten weiterer Umstände tatsächlich bemerkbar wird590 .<br />

Neben diesen Gefahrenbegriffen sind die vermeintlichen Gefahrensituationen<br />

von Bedeutung. Dabei sind Anscheinsgefahr in Form unverschuldeter<br />

Fehleinschätzungen, der Gefahrenverdacht in Folge unsicherer Anhaltspunkte<br />

und die Putativgefahr, welche bei unzureichender Sachverhaltswürdigung<br />

oder verschuldeter Fehleinschätzung besteht, zu unterscheiden591 . Hierbei ist<br />

auch vom subjektiven Gefahrenbegriff die Rede. <strong>Die</strong>ser ermöglicht ein flexibleres<br />

Handeln der Polizei und einen weitergehenden Abwägungsspielraum.<br />

Dem Erkenntnisstand des konkret handelnden Polizeibeamten wird<br />

dabei mehr Gewicht beigemessen, als dem durchschnittlichen bzw. typischen<br />

Beamten. Der Unterschied zum oben aufgezeigten objektiven Gefahrenbegriff<br />

liegt in der Frage nach der Verantwortungszuweisung für das<br />

Auseinanderfallen von Schein und Wirklichkeit. <strong>Die</strong> Vertreter des objektiven<br />

Gefahrenbegriffs sehen diese im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung<br />

durch die Gerichte. <strong>Die</strong> handelnde Behörde bzw. der Beamte tragen dafür<br />

die Verantwortung. <strong>Die</strong> andere Auffassung knüpft an die Frage einer vor-<br />

586 Hierzu Weiß, NvWZ 1997, S. 737 ff.<br />

587 Knemeyer (FN 509), Rn 89<br />

588 Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 150, BayVerfGH, DVBl.1995, S 347, 348<br />

589 Möstl (FN 106), S. 180, 186 ff.<br />

590 OVG Münster, Beschluss vom 16.10.1956; OVGE 11, 250<br />

591 Knemeyer (FN 509), Rn 95 ff.<br />

158


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

werfbaren Verursachung des Anscheins durch den Eingriffsadressaten an,<br />

was wiederum sehr subjektive Erwägungen erfordert 592 . Es drängt sich die<br />

Frage auf, ob der verfassungsmäßig geforderte Gesetzesvorbehalt insoweit<br />

noch eingehalten wird. <strong>Die</strong> Erkennbarkeit der Eingriffsschwelle für den<br />

Bürger scheint zumindest nicht gewährleistet. <strong>Die</strong> objektive Zurechnung eines<br />

rechtswidrigen Eingriffs in die Rechtsposition Dritter muss deshalb allein<br />

auf die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens abstellen.<br />

c) Risiko und Restrisiko<br />

Der Begriff Risiko gilt zwischenzeitlich als anerkannter Rechtsbegriff und<br />

bezeichnet die Möglichkeit des Eintritts nicht nur geringfügig nachteiliger<br />

Wirkungen auf ein geschütztes Rechtsgut, soweit diese nicht praktisch ausgeschlossen<br />

erscheinen593 . Ein Risiko wird, genauso wie die Gefahr, aus den<br />

Komponenten eines bestimmten Schadensmaßes und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

abgeleitet. Im Vergleich zur Gefahr besteht der Unterschied<br />

im Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts594 . <strong>Die</strong>ser ist entweder<br />

sehr klein oder nicht ausreichend bestimmbar. Das gilt insbesondere dann,<br />

wenn es an Erkenntnissen über den denkbaren Verlauf einer Rechtsgutgefährdung<br />

geht595 . Eine solche Entscheidungssituation kann zunächst auf empirisch<br />

ungewisse Bedingungen, d.h. auf Grund z.B. fehlender Datenerhebungen<br />

oder Erfahrungen, zurückzuführen sein. Erkenntnisdefizite können<br />

auch der Komplexität von Ursachenzusammenhängen, der notwendigen<br />

Kumulation von risikorelevanten Handlungen oder Ereignissen oder zeitlichem<br />

Entscheidungsdruck geschuldet sein, z.B. wegen der Wettbewerbssituation,<br />

des Innovationsdrucks oder sonstiger notwendiger Verfahrensbeschleunigung<br />

kommen596 . Neben der Graduierung unterscheiden sich Möglichkeit<br />

und Wahrscheinlichkeit auch mit Blick auf die Einbeziehung prognoserelevanter<br />

Umstände und der Festlegung eines Prognosezeitpunktes. Im<br />

Wahrscheinlichkeitsbereich sind alle ersichtlichen Umstände in die Abwägung<br />

einzubeziehen. Zudem muss sich der Prognosezeitpunkt möglichst nah<br />

am Schadenseintritt orientieren. Für Möglichkeit und Risiko reicht es dage-<br />

592 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 4, Rn 47 ff. und 67 ff.<br />

593 Kahl, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, S. 1105, 1107<br />

594 Hansmersman, Risikovorsorge im Spannungsfeld von Gesundheitsschutz und freiem<br />

Warenverkehr, S. 9; Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NVwZ 1986, 161, 163<br />

595 Reich (FN 567),S.2<br />

596 Kahl (FN 593), S. 1108<br />

159


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

gen aus, dass zu irgendeinem Zeitpunkt ein Umstand erkennbar ist, der einen<br />

Schaden verursachen kann597 .<br />

Für den Risikobegriff ganz zentral ist die nur eingeschränkte Erkennbarkeit<br />

eines möglichen Schadenseintritts als Basis der Zukunftsprognose. Es kann<br />

nicht hinreichend sicher vorhergesagt werden, ob und mit welchem Verlauf<br />

ein Schaden eintreten könnte. Es wird sogar vertreten, dass ein Schadenseintritt<br />

beim Risiko absolut ungewiss ist, dieses deshalb ein völliges aliud zur<br />

Gefahr darstellt598 . An diesem Punkt scheitert auch der Gefahrenbegriff, der<br />

mit je nach Schadenshöhe entfernten Wahrscheinlichkeiten operiert. Trotz<br />

dieser Ungewissheit muss die Entscheidung über ein Eingreifen getroffen<br />

werden599 . <strong>Die</strong> zentralen Begriffe der Ungewissheit oder Unsicherheit sind<br />

zwar auch im traditionellen Sicherheitsrecht nicht fremd, sind sie doch Element<br />

jeder Prognose. Für das Risikoverwaltungsrecht kennzeichnend ist die<br />

Fokussierung auf immer komplexere und längere Kausalketten unter Vervielfachung<br />

der wahrgenommenen Dimensionen menschlichen Handelns.<br />

<strong>Die</strong> Abgrenzung von Gefahren- und Risikoprognose muss sich danach richten,<br />

ob aufgrund der Eigenart des Sachbereichs eine situative Ungewissheit<br />

besteht, die mit Lebenserfahrung kompensiert werden kann, oder aber, ob<br />

die Gefahrenabwehr wegen der vorhandenen strukturellen Ungewissheit als<br />

unzureichendes Schutzinstrument gelten muss600 . Das veränderte gesellschaftliche<br />

Bewusstsein stellt die Ungewissheit beim Risikobegriff dogmatisch<br />

in den Mittelpunkt601 . Das Risikopotenzial eines Sachverhalts wird z.B.<br />

mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse in Form bestimmter Kriterien beurteilt.<br />

Oft findet sich die Bezugnahme einer Norm mit Risiko abwehrendem<br />

Charakter zum Stand der Wissenschaft und Technik602 . In Abgrenzung zum<br />

subjektiven Gefahrenbegriff geht es gerade nicht um subjektiv falsche Erkenntnisse,<br />

sondern objektiv unsichere Erkenntnisse.<br />

Schließlich wird der Begriff des Restrisikos verwendet. Dabei können drei<br />

Konstellationen unterschieden werden: Risiken jenseits menschlicher Wahrnehmbarkeit,<br />

Schadensmöglichkeiten mit geringer Relevanz und weitgehende<br />

Ungewissheit über drohende Schäden oder deren Verwirklichungswahrscheinlichkeit.<br />

Letztlich geht es in diesen Fällen um sozialadäquate und da-<br />

597 Albers, <strong>Die</strong> Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Strafverhütung<br />

und der Verfolgungsvorsorge, S. 36<br />

598 Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem, VerwArch 84 (1993), 484, 498<br />

599 Di Fabio, Natur und Recht, 1991, 353, 354<br />

600 Möstl (FN 106), S. 265<br />

601 Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf<br />

Jahrzehnte, S. 71<br />

602 Dazu Reich (FN 567), 76 ff.<br />

160


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

her in Kauf zu nehmende Risiken 603 . Das BVerfG hat vergleichbare Feststellungen<br />

getroffen, wonach dem Risiko Gefahrenpotenziale jenseits der Grenze<br />

zur praktischen Vernunft zugeordnet werden können. Sie sind sozialadäquat<br />

und deshalb als allgemeines Lebensrisiko hinnehmbar 604 . Hierunter fallen<br />

statistisch unwahrscheinliche Ereignisse und nach dem aktuellen Erkenntnisstand<br />

unbekannte Schadenspotenziale 605 . Das beinhaltet politische<br />

Wertungen, oft ohne brauchbare Kriterien. So spielen gesellschaftliche Werte,<br />

Risikophilosophien und auf Grund medialer Berichterstattung vermittelte<br />

sozialpsychologische Befindlichkeiten eine große Rolle 606 .<br />

d) Ergebnis<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gefahren i.V.m. an Sozialadäquanz<br />

orientierten oder erkenntnisbezogene Kriterien von Risiken unterhalb<br />

der Gefahrenschwelle abgegrenzt werden. <strong>Die</strong>s gilt bis hin zur völligen Ungewissheit<br />

über das Schadenspotenzial einer Handlung.<br />

5. Das Vorsorgeprinzip<br />

a) Zusammenhang von Wissen und Sicherheit<br />

Der klassischen Gefahrenabwehr liegt der Gedanke zu Grunde, dass bestimmte<br />

Vorgänge und Zusammenhänge bei schädigenden Ereignissen eindeutig<br />

erkennbar und vorhersehbar sind. Dem Sicherheitsbedarf der Gesellschaft<br />

steht dagegen ein Mangel an Erfahrung und Kenntnis möglicher<br />

Schadensquellen gegenüber. Der Faktor Unwissen bei der Beurteilung bestimmter<br />

Kausalabläufe nimmt zu. <strong>Die</strong>s zeigt die beschriebene Dynamik des<br />

gesellschaftlichen Wandels und dessen Auswirkung auf den Sicherheitsbegriff,<br />

was u.a. auf die Beschleunigung moderner und komplexer technischer<br />

Entwicklungen zurückzuführen ist. Vor allem nach Ende des Kalten Krieges<br />

und der damit verbundenen Öffnung vieler Staaten kommt es in viel stärkerem<br />

Ausmaß zur internationalen Mobilität und Vernetzung von Unternehmen<br />

und Personen und damit zu immer vielfältigeren Folgen menschlichen<br />

Verhaltens. Komplexe Ursachenzusammenhänge werden durch die rasante<br />

Entwicklung moderner Kommunikationsmittel noch befördert. <strong>Die</strong> damit<br />

einhergehende internationale Dimension des Sicherheitsbegriffs kann nicht<br />

603 So Wahl, in: ders. (FN 300), S. 89 f.<br />

604 Vgl. BVerfGE 49, 89, 141 ff.<br />

605 S.a. Scherzberg (FN 598) S. 484, 498<br />

606 Kahl (FN 593), S. 1109<br />

161


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

ignoriert werden607 . Das Versagen der nationalen Schutzmechanismen infolge<br />

der gleichzeitigen Internationalisierung von Gefahren ist eine logische<br />

Konsequenz fehlender Kompetenzen oder Eingriffsbefugnisse im grenzüberschreitenden<br />

Verkehr, also eine direkte Folge der Globalisierung. Darauf<br />

können die betroffenen Staaten nur gemeinsam reagieren. Es kommt<br />

sonst zu einer gesellschaftlich inakzeptablen Erhöhung der Risiken infolge<br />

Nichterkennung oder verspäteter Gefahrerkennung. <strong>Die</strong> nationalen Mechanismen<br />

der Gefahrenabwehr scheitern also an den geographischen Grenzen<br />

der Nationalstaaten.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklungen werden beim Aspekt der äußeren Sicherheit deutlich.<br />

Während man früher von Bedrohungen durch fremde Staaten ausgehen<br />

konnte, ist die Sachlage bei einer Vielzahl der heute bestehenden Konflikte<br />

differenzierter. Auf die Einwirkung auf die innere Sicherheit von außen und<br />

den möglichen Reflex auf die äußere Sicherheit wurde eingegangen. Ethnische<br />

Konflikte oder terroristische Aktivitäten machen vor staatlichen Grenzen<br />

nicht Halt. Nichtstaatliche Akteure sind von besonderer Relevanz. Sie<br />

zielen nicht auf den Staat als politisches Gebilde, sondern auf seine Bevölkerung.<br />

<strong>Die</strong>ses Dilemma wird mit dem Begriff der asymmetrischen Bedrohung<br />

umschrieben608 . Eine erfahrungsbasierte Erkenntnis von Krisenquellen<br />

und möglichen Schäden gerät dabei an ihre Grenzen. Gerade Exportkontrollen<br />

sind hier betroffen.<br />

Aber nicht nur mit veränderten Verflechtungen innerhalb und zwischen den<br />

Gesellschaften verbundene neue Bedrohungsmuster erschweren die Ermittlung<br />

von Schadensursachen. Neben immer komplexeren Geschehensabläufen,<br />

in denen eindeutige Verursacher oft fehlen, nimmt auch die Reichweite<br />

und Größe potentieller Schäden in vielen Lebensbereichen zu. Mehr Wissen<br />

erzeugt damit mehr Unsicherheit, insbesondere gilt das für ein Wissen um<br />

das Nichtwissen. Kausalitätserwartungen müssen zwangsläufig immer häufiger<br />

enttäuscht werden. Denn bei den traditionellen Haftungsrisiken waren<br />

die Gruppe der Betroffenen, Art und Umfang der Schäden, aber auch der<br />

Zeitraum der Gefahrrealisierung besser vorhersehbar als heute. Neben diesen<br />

unbestimmten kollektiven Effekten mancher Risiken kommt es zu einer<br />

stärkeren Anonymität der Verursachung. Zwar sind die Risiken regelmäßig<br />

auf menschliches Handeln zurückzuführen, aber komplexe Abläufe behindern<br />

die rechtlichen Zurechnungsmöglichkeiten. Eine Vielzahl für sich<br />

harmloser Kleinstbeiträge kann zu Katastrophen führen. Spätestens dann ist<br />

607 Vgl. nur Calliess: <strong>Die</strong> Europäisierung der Staatsaufgabe Sicherheit, in: Müller/Schneider,<br />

<strong>Die</strong> Europäische Union im Kampf gegen den Terrorismus, S. 83, 85<br />

608 Calliess, in: Äußere Sicherheit im Wandel (FN 105), S. 24<br />

162


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

die Zuordnung von Verantwortung kaum noch möglich. Risikoverursachung<br />

und Betroffenheit können in funktional völlig unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen<br />

auftreten609 .<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklungen stehen im Spannungsverhältnis zu den steigenden gesellschaftlichen<br />

Erwartungen an Sicherheit. <strong>Die</strong>s wird bei der geschilderten<br />

Dynamik des modernen Sicherheitsbegriffs und besonders mit dem korrespondierenden<br />

Begriff Risikogesellschaft deutlich610 . <strong>Die</strong> Grenzen zwischen<br />

Gefahr, Risiko und Restrisiko sind fließend, je nach Grad des vorhandenen<br />

Wissens und der Lebenserfahrung. Bei Vorliegen von Erkenntnisdefiziten<br />

zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und damit<br />

auch einer daraus resultierenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann eine Gefahr<br />

nicht mehr angenommen werden. Eine konkrete Gefahrenprognose ist<br />

letztlich seltener möglich. <strong>Die</strong> auf Bewahrung oder Wiederherstellung eines<br />

störungsfreien Zustands gerichtete traditionelle Gefahrenabwehr stößt deshalb<br />

an ihre Grenzen. <strong>Die</strong> bewährten Schutzinstrumente, wie Auflagen,<br />

Sanktionen oder Versicherungen, sind für die Schadenprävention oft ungeeignet.<br />

<strong>Die</strong> lange Historie der Gefahrenprävention ist vor allem durch strafrechtliche<br />

Nachsorge unter dem Stichwort Prävention durch Repression gekennzeichnet.<br />

Sie bezieht sich auf Schäden in Form realisierter Gefahren<br />

und zeigt sehr deutlich, dass die allgemeine Gefahrenabwehr für einen effektiven<br />

staatlichen Schutz und die Gewährleistung von Sicherheit zu keiner<br />

Zeit als ausreichend betrachtet wurde611 . Wo potentielle Verursacher und<br />

Kausalverläufe unsicher sind, scheitert schließlich auch das Konzept des<br />

Schadenersatzes. <strong>Die</strong>s gilt umso mehr, als für drohende Rechtsgutverletzungen<br />

finanzieller Ersatz oder gar eine Wiederherstellung der Rechtsposition<br />

nicht denkbar sind. <strong>Die</strong>s ist z.B. bei Beeinträchtigungen von Gesundheit und<br />

Leben der Fall. Es besteht also ein immenses politisches Handlungsbedürfnis,<br />

den Sorgen der Gesellschaft Rechnung zu tragen. <strong>Die</strong> Sicherheitskompetenz<br />

des Staates wird nicht mehr nur daran gemessen, ob es ihm gelingt,<br />

Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen, nachdem<br />

sie eingetreten sind, sondern auch an seiner Fähigkeit, präventiv für Sicherheit<br />

zu sorgen612 .<br />

609 Grimm, Zukunft der Verfassung, S 197 ff.<br />

610 Dazu grundlegend: Beck (FN 500), S. 26, 29 ff.<br />

611 Stoll (FN 507), S. 26<br />

612 Glaeßner, APuZ B 10-11/2002, S. 3, 10<br />

163


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

b) Der Vorsorgestaat<br />

Der Gesetzgeber erkennt das Bedürfnis, den denkbaren Schäden trotz der<br />

geschilderten Entwicklungen möglichst früh- bzw. rechtzeitig und damit<br />

wirkungsvoll zu begegnen. Erkenntnisdefizite dürfen regelmäßig nicht zu<br />

einer Handlungsunfähigkeit des Staates führen. <strong>Die</strong> Regelungen zur Gefahrenabwehr<br />

werden daher immer mehr durch Instrumente der Risikovorsorge<br />

ergänzt 613 . <strong>Die</strong> Gefahr selbst wird zum Objekt der Vorsorge. Es ist auch vom<br />

Vorsorgestaat oder präzeptoralen Staat614 die Rede. <strong>Die</strong> verwaltungsrechtliche<br />

Kontrolle mit kollektiver Wirkung tritt hier an die Stelle von Abwehransprüchen<br />

Dritter. <strong>Die</strong> am Gemeinwohl orientierten Eingriffsbefugnisse aus<br />

dem Polizei- und Ordnungsrecht werden in anderen Sicherheitsfeldern auf<br />

das Bestehen einer Risikosituation vorverlagert.<br />

Der gesellschaftlich vorausschauende Vorsorgebedarf steht im Konflikt zur<br />

erfahrungsbasierter Rechtsetzung und wissenschaftlicher Expertise. <strong>Die</strong> Ungewissheit<br />

ist nicht nur zeit- oder zukunftsbezogen, sondern auch von der<br />

verfügbaren Methodik der wissenschaftlichen Risikoanalyse abhängig615 . An<br />

die Stelle des konkreten Schutzobjektes tritt eine quellen- bzw. objektbezogene<br />

Schadensprognose, die an die Einhaltung von technisch und wissenschaftlich<br />

begründeten Parametern anknüpft616 . Insgesamt ist eine zunehmende<br />

Tendenz hin zu abstrakt-generellen Regelungsformen zu verzeichnen617<br />

. Der Begriff der Vorsorge wird in zahlreichen Sinnzusammenhängen<br />

verwendet, z.B. als Gesundheitsvorsorge und Daseinsvorsorge. Es geht regelmäßig<br />

um die frühzeitige Erkennung von Risiken, oder - positiv formuliert<br />

- um ein Sorgetragen für bestimmte existenzsichernde Umstände. Anders<br />

als bei der Vorbeugung sind potenzielle Schäden oder Nachteile nicht<br />

immer konkret bekannt. 618 . <strong>Die</strong> Vorsorge betrifft Maßnahmen, die noch vor<br />

Eintritt von Gefahrensituationen greifen. Sie ist für die Risikoprävention das<br />

Abwehrpendant zur Gefahrenprävention. Beide beinhalten eine Zukunftsprognose.<br />

<strong>Die</strong> Risikovorsorge dient der Erlangung zusätzlicher Sicherheit<br />

unterhalb der Gefahrenschwelle in Reaktion auf einen Gefahrenverdacht619 .<br />

613 Di Fabio (FN 577) S. 27 ff.<br />

614 Schmidt, DÖV, 1994, S. 749 ff.<br />

615 Zum Vorsorgeprinzip (precautionary principle) und zu im internationalen Kontext<br />

strittigen regulatorischen Ansätzen: Button, The power to protect: Trade, Health and<br />

Uncertainty in the WTO, S. 119, 131<br />

616 Reich (FN 567), S. 59<br />

617 Di Fabio (FN 577), S. 299<br />

618 Reich (FN 567), S. 9<br />

619 Papier, mit Anm. zu einem Urteil des OVG Berlin v. 17.07.1978, DVBl. 1979, 162<br />

164


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

Allerdings sei darauf verwiesen, dass ein lediglich theoretisch denkbarer<br />

Schaden für die Annahme einer Risikosituation nicht ausreicht. Eine rechtliche<br />

Risikobewertung darf nicht durch statistisch-mathematische Formeln ersetzt<br />

werden620 . <strong>Die</strong> Eintrittshäufigkeit mag Indiz für die Schadenwahrscheinlichkeit<br />

sein. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer normativen Abwägung.<br />

<strong>Die</strong>s geschieht z.B. durch eine Gewichtung des Schadens und damit<br />

verbundene Interessen621 . Von gesellschaftspolitischer Bedeutung ist<br />

aber nicht nur die Risikoverantwortung des Staates. Auch für positive gesellschaftliche<br />

Wirkungen durch Innovation, Fortschritt und wirtschaftliche<br />

Betätigung der Betroffenen trägt der Staat Verantwortung622 . Hierbei sind<br />

die Interessen regelmäßig gegenläufig. Ein modernes Verwaltungsrecht darf<br />

nicht nur risikoorientiert, sondern muss zugleich auf Interessenausgleich gerichtet<br />

sein. Hierbei wird vom Abwägungsstaat oder von einem Gebot multipolarer<br />

Balance gesprochen. Am Ende steht die Auflösung der Chance-<br />

Risiko-Kollision623 .<br />

<strong>Die</strong> wichtigste Staatsfunktion bleibt auch bei einer vorsorgenden Gewährleistung<br />

von Sicherheit zugunsten von Individualinteressen das Aufstellen<br />

verbindlicher Regeln, die der gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind624 .<br />

Schließlich ist auch das Vorsorgeprinzip ein Rechtsprinzip. Es ist auf Beachtung<br />

des Rechts im Ganzen angelegt. Prinzip und betroffene Konkretisierungsnorm<br />

treten in ein Gegenseitigkeitsverhältnis. Beide müssen im Rahmen<br />

der rechtstaatlichen Strukturen angewendet werden, also unter Berücksichtigung<br />

des Schutzzwecks der Norm, der als immanente Grenze fungiert.<br />

Vorrangige Rechtssätze, konkurrierende Rechtsgüter und -prinzipien bilden<br />

dagegen die äußeren Grenzen der Präventionsbefugnisse. Bei der Gesetzgebung<br />

kommt es darauf an, dass das vorgesehene Verwaltungshandeln den<br />

eingriffsrelevanten Fragen des Bestimmtheitsgrundsatzes, Vertrauens- und<br />

Bestandsschutzes, Gleichheitssatzes sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

genügt. Handlungsspielräume der Exekutive müssen dabei in Gestalt von<br />

Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften oder privaten Normen so näher<br />

bestimmt werden, dass risikorelevante Erkenntnisse berücksichtigt werden<br />

können. Dazu gehört die Einbeziehung politischer Leitbilder und Programme<br />

oder technischer Regelwerke625 . Das Rechtsstaats- und Demokra-<br />

620 Dazu Dix (FN 582), S. 150, 159 mit kritischem Verweis auf OVG Lüneburg, DÖV<br />

1978, 289, 292<br />

621 Di Fabio, Jura 1996, S. 566, 568<br />

622 Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz, 2001, S. 130<br />

623 Kahl (FN 593), S. 1109 mit Verweis auf Schmidt-Preuß, DVBl. 2000, 767, 768 f.<br />

624 Stoll (FN 507), S. 270<br />

625 Kahl (FN 593), S.1112<br />

165


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

tieprinzip setzt dieser Konkretisierung auf untergesetzlicher Ebene Grenzen.<br />

Insoweit bedarf es eines Prüfungsschemas für die Anwendung des Vorsorgeprinzips,<br />

in dem bereichsspezifisch die Grenzen der Vorsorge und die tatbestandlichen<br />

Voraussetzungen konkretisiert werden 626 .<br />

c) Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht<br />

<strong>Die</strong> Ursprünge der Risikovorsorge als Handlungsgrundsatz sind vornehmlich<br />

den Entwicklungen im Umweltrecht zu verdanken. In diesem Gebiet<br />

wurde der Gesetzgeber schon frühzeitig auf das Bedürfnis der Schadensprävention<br />

aufmerksam. Gerade hier werden Probleme durch Erkenntnisdefizite<br />

und die damit verbundenen Grenzen der Gefahrenabwehr besonders deutlich.<br />

Trotz komplexer Umwelteinflüsse und menschlicher Wissenslücken<br />

über deren Wirkungen, nicht zuletzt bei der Bewertung von neuen Technologien,<br />

muss der Staat seiner Schutzfunktion gerecht werden, aber auch den<br />

technischen Fortschritt ermöglichen627 .<br />

aa) Entwicklung des Vorsorgeprinzips im internationalen Kontext<br />

Das Vorsorgeprinzip wurde Mitte der 70’er Jahre im deutschen Umweltrecht<br />

eingeführt, in der Folge dann auch in Verträge auf europäischer Ebene übernommen.<br />

Schließlich wurde seine Bedeutung mit der expliziten Regelung<br />

des Umweltschutzzieles in Art. 174 EG (Art. 130 EGV) hervorgehoben und<br />

rechtlich unterlegt. Zwischenzeitlich soll es in über 20 internationalen Verträgen<br />

zu finden sein, einschließlich der Rio-Erklärung für Umwelt und<br />

Entwicklung von 1992628 . Dabei wurde anlässlich der Beschlüsse zur nachhaltigen<br />

Entwicklung (sustainable development) bei der Konferenz der Vereinten<br />

Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) folgende Vorsorge-Definition<br />

aufgestellt: “Where there are threats of serious and irreversible<br />

damage, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for<br />

postponing cost-effective measures to prevent environmental degradation”<br />

629 . So wird trotz bestehender Erkenntnisdefizite auf eine staatliche<br />

Handlungspflicht abgestellt, wenn ernsthafte und irreversible Schäden drohen.<br />

Wenngleich die im internationalen Völkerrecht zum Vorsorgeprinzip<br />

aufgestellten Kriterien nicht in jedem Falle einheitlich ausgelegt werden, ist<br />

626 So die Forderung von Callies, in: Hendler, Jahrbuch Umwelt- und Technikrecht<br />

2006, S 89 ff., 102<br />

627 Germann (FN 569), S. 2<br />

628 Vgl. Gary E. Marchant/ Kenneth L. Mossman, Arbitrary and Capricious ,The Precautionary<br />

Principle in the European Union Courts, American Enterprise Institute Press,<br />

2004, S. 5<br />

629 Tomuschat, Völkerrecht (Textsammlung), 2001, Nr. 26<br />

166


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

z.B. das Vorliegen eines qualifizierten, über der Erheblichkeitsschwelle liegenden,<br />

Schadens umfassend anerkannt630 .<br />

Das Vorsorgeprinzip ermächtigt die Verwaltung demnach zu Rechtseingriffen,<br />

obwohl der Nutzen für das geschützte Rechtsgut (noch) nicht sicher ist.<br />

<strong>Die</strong> Verwaltungsentscheidung basiert demnach auf einer unvollständigen<br />

Daten- und Wissensbasis. Im Reflex erfolgt eine zeitliche Vorverlagerung<br />

des behördlichen Handelns, die durch das Nichtabwartenmüssen gesicherter<br />

Erkenntnisse bedingt ist631 . Eine allgemein verbindliche Definition des Vorsorgeprinzips<br />

gibt es zwar nicht, es geht bei allen Formulierungen des Prinzips<br />

darum, dass wissenschaftliche Sicherheit keine Voraussetzung für präventives<br />

Tätigwerden sein darf. In den meisten Bereichen wird dem Handelnden<br />

die Last auferlegt, die Sicherheit seines Produkts oder Handelns<br />

(Inverkehrbringen) darzulegen. Große Unterschiede gibt es bei den Anforderungen<br />

an die vorsorgeauslösende Bedrohung. <strong>Die</strong> Bandbreite reicht von<br />

threats of serious or irreversible damage bis hin zu possible risks632 . Allein<br />

diese hier beispielhaft genannten Umschreibungen für die Annahme einer<br />

ernsthaften Bedrohung und des möglichen Schadens zeigen, wie unterschiedlich<br />

die Maßstäbe dieser Vorgaben erscheinen.<br />

Das Vorsorgeprinzip gilt spätestens seit der Bezugnahme auf den mit dem<br />

Maastrichtvertrag eingeführten Umweltaspekt in Art. 130 Abs. 2 EGV und<br />

dem dort statuierten Prinzip der Verursachung und Vorbeugung auch auf der<br />

EU-Ebene als etabliert. Das EuG 1. Instanz führt zur Definition des Vorsorgeprinzips<br />

aus, dass es dann wirksam wird, wenn Unsicherheit über das Bestehen<br />

oder die Reichweite von Risiken für die menschliche Gesundheit<br />

vorhanden ist. In diesen Fällen seien staatliche Institutionen berechtigt,<br />

Maßnahmen zu ergreifen, ohne das die Verwirklichung oder Ernsthaftigkeit<br />

der Risiken schon vollständig sichtbar sein muss633 . <strong>Die</strong>se noch immer unbestimmte<br />

Definition fordert erhebliche Kritik heraus, da es an Kriterien für<br />

das Vorsorgeprinzip fehle, die über den Einzelfall hinaus Geltung beanspruchen.<br />

Eine vorhersehbare Rechtsanwendung wäre nicht möglich. Ohne eine<br />

Definition oder zumindest solche Kriterien gäbe es einen Freibrief für die<br />

Willkür, Gerichtsentscheidungen würden Verhandlungssache der Parteien634 .<br />

630 Erben, Das Vorsorgegebot im Völkerrecht, 2005, S. 43<br />

631 Prügel, Das Vorsorgeprinzip im europäischen Umweltrecht, S. 65<br />

632 Vgl. Gary E. Marchant/Kenneth L. Mossman (FN 628), S. 34<br />

633 EuG 1. Instanz, verb. RS T-74/00 u.a., Artegodan GmbH v. Commission, Slg. 2002<br />

II, 4945<br />

634 So die Darstellung von Gary E. Marchant/Kenneth L. Mossman, (FN 628), S.71<br />

167


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Mit Blick auf die bestehenden Zweifel im Umgang mit den entsprechenden<br />

Erkenntnisdefiziten und wissenschaftlichen Zusammenhänge gibt zwischenzeitlich<br />

die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Anwendbarkeit<br />

des Vorsorgeprinzips635 sowohl für die europäische Gemeinschaftspolitik als<br />

auch die auf ihr beruhenden Politiken der Mitgliedstaaten einen gemeinsamen<br />

Rahmen vor, der mit den politischen Diskussionen auf internationaler<br />

Ebene in Übereinstimmung steht. Danach sollen bei der Anwendung des<br />

Vorsorgeprinzips folgende drei Grundsätze berücksichtigt werden:<br />

(1) Zunächst soll die Verwaltungsentscheidung auf einer möglichst umfassenden<br />

wissenschaftlichen Bewertung beruhen, in der auch das Ausmaß<br />

der wissenschaftlichen Unsicherheit ermittelt wird.<br />

(2) Vor jeder Entscheidung für oder gegen eine Tätigkeit sollten die Risiken<br />

und die möglichen Folgen einer Untätigkeit bewertet werden.<br />

(3) Wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Bewertung und/oder der<br />

Risikobewertung vorliegen, sollen alle Betroffenen in die Untersuchung<br />

der Risikomanagement-Optionen einbezogen werden.<br />

Auch dieser Prüfungsrahmen zeigt eine gewisse Praxisferne, da Risiken<br />

fortschrittsimmanent sind. Andererseits geht es nicht um einen Statuserhalt,<br />

sondern um Risikoverantwortung. Schließlich werden aus den Vorgaben der<br />

Kommissionsmitteilung Eingriffsermächtigungen für Sachverhalte unterhalb<br />

der Gefahrenquelle abgeleitet. Nach den Kommissionsvorgaben erfordert<br />

dies ein Mindestmaß an Erkennbarkeit bestehender Risiken, was als widerlegbare<br />

Gefährlichkeitsvermutung interpretiert wird. Ein Handeln ins Blaue<br />

hinein darf damit zumindest nicht gerechtfertigt werden. Dabei wird die Bedeutung<br />

der Verhinderung von Erkenntnisdefiziten durch optimierte Verfahren<br />

hervorgehoben636 . Eine Abwägung negativer und positiver Folgen des<br />

Vorsorgeereignisses soll sicherstellen, dass z.B. auch die potenziellen Wohltaten<br />

einer neuen Technologie berücksichtigt werden können.<br />

bb) Das Vorsorgeprinzip in der Rechtspraxis<br />

Der umweltpolitische Aspekt des Vorsorgeprinzips findet sich im nationalen<br />

Umweltrecht wieder. Der Vorsorgegedanke ergibt sich zunächst aus der Verfassung,<br />

Art. 20a GG. <strong>Die</strong> dort normierte Staatszielbestimmung spricht die<br />

Verantwortung für kommende Generationen an. Einfachgesetzlich wurde<br />

635 Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission ”<strong>Die</strong><br />

Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips“ (KOM 2000-1, veröff. in Abl. EG Nr. C5-<br />

0143/2000)<br />

636 Mit eingehender Kommentierung der Kommissionsmitteilung: Prügel (FN 631)<br />

168


II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />

der Vorsorgebegriff in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG und §<br />

17 ChemG benutzt. Über den Wortlaut hinaus ist aber auch der Schutzzweck<br />

einer Norm maßgeblich. So kann und muss sich der Vorsorgegedanke aus<br />

der Zweckbestimmung im Gesetz selbst oder aber einer Verordnungsermächtigung<br />

ergeben. So reiche eine solche Zweckbestimmung in § 1<br />

BImSchG, wonach neben dem Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen<br />

dem Entstehen solcher Wirkungen auch vorzubeugen ist, für den Nachweis<br />

des Vorsorgeprinzips aus637 . Auf die Formulierung der zahlreichen Einzelvorschriften<br />

kommt es dann nicht mehr an638 . Zwischenzeitlich ist der Vorsorgegrundsatz<br />

auch auf den Gesundheits- und Verbraucherschutz übertragen<br />

worden. Dazu gehören die von der EU-Kommission im Rahmen der o.g.<br />

Mitteilung explizit erwähnten Bereiche biologischer Sicherheit und Lebensmittelsicherheit<br />

ebenso wie die bereits völkerrechtlich etablierten Standards<br />

zu sanitären Maßnahmen, die das Vorsorgeprinzip in Verbindung mit<br />

einer Risikobewertung auf der Grundlage vorhandener wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse explizit hervorheben639 .<br />

Alle bisher angesprochenen Regelungsmaterien kennzeichnen sich durch<br />

nicht vorhandene oder lückenhafte technische Daten und Erkenntnisse über<br />

Wirkungszusammenhänge bzw. Geschehensabläufe. Hinzu kommt die zeitliche<br />

Wirkung der Vorsorge, die eine Wahrscheinlichkeitsprognose wegen<br />

des Bezuges in die mitunter ferne Zukunft erschwert. <strong>Die</strong> Lebenserfahrung<br />

kann hierbei in aller Regel nicht behilflich sein. Insoweit bleiben sowohl die<br />

Gruppe der Betroffenen, Art und Umfang des Schadens, aber auch Ursachenzusammenhänge<br />

häufig undefiniert640 . So hat das Gefahrenabwehrkonzept<br />

in § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImschG den Schutz bestimmter Objekte im Blick,<br />

während im Vorsorgebereich des § 5 Abs. 1 Nr. 2 davon unabhängig auf die<br />

Verhinderung schädlicher Umweltwirkungen gerichtet ist. <strong>Die</strong>se Vorschrift<br />

stellt also auf einen allgemeinen, weniger schadensspezifischen Ansatz ab.<br />

An dieser Stelle muss auch auf die Rolle des Kausalitätsbegriffs hingewiesen<br />

werden. <strong>Die</strong> klassische juristische Methodik des Verursachungszusammenhangs<br />

muss beim Vorsorgeprinzip versagen. <strong>Die</strong> Kausalität beschreibt<br />

nicht naturwissenschaftlich bewiesene Ereignisketten, sondern trifft eine<br />

normative Bewertung des schadensrelevanten Ereignisses. Deshalb kommt<br />

637 Der Vorsorgegedanke geht hier sogar soweit, dass nicht nur schädlichen Wirkungen<br />

vorgebeugt, sondern die Umwelt sogar verbessert werden soll: Germann (FN 569), S.<br />

19,<br />

638 Reich (FN 567), S. 11, 13<br />

639 Erben (FN 630) ,S. 165<br />

640 Calliess (FN 288), S. 158, 161<br />

169


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

es bei jeder Zurechnung bestimmter Ereignisse auf ein Verhalten bestimmter<br />

Personen und dabei vor allem auf die Frage nach der Unterbrechung oder<br />

Veränderung des an sich üblichen Kausalverlaufs an. Dafür wird schließlich<br />

die Lebenserfahrung bemüht. Eine Vielzahl von kumulierten Handlungen<br />

kann aber regelmäßig so diffuse Effekte erzeugen, dass die Lebenserfahrung<br />

nicht zu Ergebnissen führt. Dennoch, auch bei der Begrenzung des Vorsorgebegriffs<br />

geht es um die Frage der Überschreitung eines Grenzwertes und<br />

die damit verbundene Ungewissheit 641 . <strong>Die</strong>se bezieht sich nicht nur auf eine<br />

unsichere Schadensquelle, sondern auch auf ein noch unbestimmtes, möglicherweise<br />

beeinträchtigtes Rechtsgut. <strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung<br />

kann deshalb kaum noch beurteilt werden. Dennoch wird die<br />

Lebenserfahrung zur Eingrenzung des Risikopotenzials einer Handlung bemüht.<br />

6. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

<strong>Die</strong> staatlichen Schutzpflichten müssen bei der Gefahrenabwehr bzw. Risikovorsorge<br />

berücksichtigt werden. Der verfassungsrechtliche Sicherheitsauftrag<br />

ist Grundlage für das Vorsorgeprinzip. <strong>Die</strong>ses Prinzip ist der dogmatische<br />

Ausgangspunkt für Risikoparameter unterhalb der Gefahrenschwelle.<br />

Eine nach dem Normzweck auf Risiken vorverlagerte Eingriffsschwelle<br />

muss die übergeordneten Rechtsprinzipien und Verfassungsfragen ebenso<br />

berücksichtigen wie die Gefahrenprävention. Bestehende Entscheidungsspielräume<br />

der Verwaltung müssen durch normkonkretisierende Anwendungsrichtlinien<br />

ausgefüllt werden.<br />

III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

<strong>Die</strong> existierenden Vorsorgetatbestände orientieren sich strukturell am Gefahrenabwehrkonzept<br />

der hoheitlichen Eingriffsverwaltung, mithin am Polizeirecht.<br />

<strong>Die</strong>s spiegelt sich insbesondere in dem regelmäßig auch für Vorsorgetatbestände<br />

vorgesehenen Instrument Verbot mit Erlaubnisvorbehalt<br />

wider. Ebenfalls aus der Gefahrenprävention übernommen wurde der Zurechnungstrias<br />

Gefahr bzw. Risiko - Verursachungszusammenhang - Störerprinzip<br />

642 . Im Unterschied zur Gefahrenabwehr fehlen aber die Erfahrungs-<br />

und Kausalitätsnachweise für den Schadenseintritt.<br />

641 Ladeur, Umweltrecht der Wissensgesellschaft, zum Kausalitätsbegriff, S. 15 und zur<br />

Begrenzung des Vorsorgebegriffs, S. 102<br />

642 So Calliess (FN 288),S. 154<br />

170


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

1. Reichweite des Vorsorgetatbestandes und Verhaltenssteuerung<br />

Bei der Vorsorge werden die innere Grenze des Tatbestandes sowie die verfassungsrechtlichen<br />

Schranken des Eingriffs als äußere Grenze unterschieden<br />

643 . Sie bestimmen die Reichweite der Eingriffsbefugnis. <strong>Die</strong> innere<br />

Grenze folgt aus der konkreten Eingriffsnorm und deren Schutzzweck. <strong>Die</strong><br />

Frage der verfassungsrechtlich gebotenen Konkretisierung abstrakt formulierter<br />

Eingriffsnormen ist zu berücksichtigen, denn auch vorsorgebedingte<br />

Eingriffe müssen für die betroffenen Adressaten kalkulierbar sein. Für den<br />

Umgang mit verbleibenden Unsicherheiten spielt die Verfahrenskomponente<br />

eine gewichtige Rolle.<br />

a) Kompetenzabgrenzung, Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz<br />

Das Prinzip der Gewaltenteilung, Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz<br />

erfordern, dass die maßgeblichen Voraussetzungen der Engriffsermächtigung<br />

für die Verwaltung durch den Gesetzgeber im Wesentlichen<br />

selbst bestimmt werden. Auch aus Sicht des Bürgers, also des Handlungsverpflichteten,<br />

erscheint das Merkmal der Vorsorge in der Tendenz zu unbestimmt<br />

und damit verfassungsmäßig bedenklich. Eine aus der Verfassung<br />

legitimierte Eingriffsermächtigung kann aber nur dann abgeleitet werden,<br />

wenn die für eine Gesetzesanwendung verfügbaren Risikoparameter für den<br />

Normadressaten erkennbar sind644 . Beim Vorsorgeprinzip scheint dies<br />

grundsätzlich nicht der Fall zu sein.<br />

Schon bei der Gefahrenabwehr bestehen die beschriebenen verfassungsrechtlichen<br />

Bedenken eines zu unbestimmten Gefahrenbegriffs, der im jeweiligen<br />

Rechtsgebiet einer Konkretisierung bedarf645 . Das muss erst recht<br />

für den Risikobegriff gelten. Mit der im Gefahrenbegriff kontradiktorisch<br />

vorgenommenen Kombination der Freiheitsrechte und drohender Schäden<br />

zu einer den Eingriff begrenzenden Wahrscheinlichkeitsformel ergibt sich<br />

zunächst ein vergleichsweise hohes Maß an Orientierung, trotz des vorhandenen<br />

Wertungsspielraums. Auf Basis individueller Verantwortungszurechnung<br />

wird ein Rechtsgüterausgleich ermöglicht. Dem gegenüber erfolgt bei<br />

Anwendung des Risikobegriffs ein Ausgleich zwischen gesellschaftlichem<br />

Nutzen riskanten Verhaltens, ökonomischen Kosten und schwer abschätzba-<br />

643 Vgl. ebenda, S. 242, 253<br />

644 Dazu ausführlich Teil 2 II.2.c)<br />

645 Teil 3 II.2.d)aa)<br />

171


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

ren Schadenspotenzialen. <strong>Die</strong> mit einem Eingriff einhergehende Risikoverteilung<br />

und die oftmals schwierige Verantwortungszurechnung führen dabei<br />

zu viel komplexeren Entscheidungslagen. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Akzeptanz<br />

und das Vertrauen in staatliche Risikoentscheidungen gelten insoweit durchaus<br />

als gefährdet 646 . Anders als bei der regelmäßig subjektbezogenen Gefahrenlage<br />

reicht eine abstrahierte Bedrohung der Gesellschaft für eine Risikobejahung<br />

aus. Bezüglich der Wahrung des Rechtstaatsprinzips und Bestimmtheitsgebotes<br />

ergeben sich damit erhebliche Bedenken, die schon bei<br />

der verfassungsrechtlichen Würdigung des Vorsorgeprinzips eine Rolle gespielt<br />

haben. Vor einem solchen Hintergrund muss die Bestimmbarkeit einer<br />

Eingriffssituation anderweitig sichergestellt werden. Es bedarf deshalb einer<br />

hinreichenden Konkretisierung der Eingriffsnormen, die das staatliche Handeln<br />

für alle Betroffenen vorhersehbar machen.<br />

b) Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften<br />

Entsprechende verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich z.B. unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe und damit verbundener Verwaltungsautonomie<br />

können durch eine hinreichende Konkretisierung der Ermächtigungsvoraussetzungen<br />

ausgeglichen werden. <strong>Die</strong> erforderlichen Kontrollmaßstäbe müssen<br />

letztlich in Abhängigkeit vom gesetzgeberischen Sicherungskonzept<br />

festgelegt werden647 . <strong>Die</strong> Reichweite des Risikobegriffs kann anhand des betroffenen<br />

Regelungsbereiches per Definition oder anhand von Kriterienkatalogen,<br />

zum Teil auch durch technische Parameter näher bestimmt werden.<br />

Grenzwerte und Typisierungen gewährleisten die Vorhersehbarkeit rechtmäßigen<br />

Handelns, so dass die Grundrechte des Betroffenen nicht zur Disposition<br />

von Behörden und Gerichten stehen648 . Eine angemessene Risikoverteilung<br />

wird auf diese Weise möglich. Typisierungen sind aber nicht zwingend.<br />

Wenngleich der Prognosecharakter der Tatbestandsbewertung bzw.<br />

Entscheidung damit nicht beseitigt wird, kann auch eine gewisse Kategorisierung<br />

von Sachverhalten zur Konkretisierung von Risiken genügen. Dabei<br />

müssen aber auch Nachbesserungspflichten im Zusammenhang mit späteren<br />

veränderten Erkenntnissen berücksichtigt werden, die dem auf dynamischen<br />

Schutz angelegten Vorsorgeprinzip gerecht werden649 .<br />

646 Di Fabio (FN 577), S. 94 und 64<br />

647 So Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 27<br />

648 Dazu auch Wahl, in ders. (FN 300), S. 130 f.<br />

649 Unter Hinweis auf organisatorische und verfahrenstechnische Mechanismen, die das<br />

BVerfG in mehreren Entscheidungen fordert: Trute, Vorsorgestrukturen, S. 105; Roßnagel,<br />

JZ 1985, 714 ff.<br />

172


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

Neben den klassischen Organisationsnormen und Interpretationsvorschriften<br />

entwickeln sich deshalb Verwaltungsvorschriften neuen Typs, die unmittelbare<br />

Auswirkungen auf die Gesetzesanwendung haben. Sie konkretisieren<br />

offene Rechtsnormen, machen diese erst vollzugsfähig. So schlussfolgert<br />

das Bundesverwaltungsgericht für in Richtlinienform erlassene allgemeine<br />

Berechnungen und technische Datensätze, dass diese wie Rechtsverordnungen<br />

eine normkonkretisierende Funktion haben und damit für die Gerichte<br />

im Gegensatz zu norminterpretierenden Vorschriften als verbindlich gelten650<br />

. Soweit also eine konzeptionelle Standardisierung von Risikokonzepten<br />

vorliegt, wäre dem Bestimmtheitsgebot und Rechtsstaatsprinzip Genüge<br />

getan651 . <strong>Die</strong>s gilt zumindest bei komplexen Materien, bei denen eine formale<br />

Normklarheit objektiv nicht mehr umsetzbar ist.<br />

Am Konzept der normkonkretisierenden Vorschriften wird allerdings auch<br />

Kritik geübt, da der vom Wesentlichkeitsgedanken geprägte Grundsatz vom<br />

Gesetzesvorbehalt eben nur dann gewahrt sei, wenn die entscheidungsrelevante<br />

Eingriffsschwelle durch das Parlament vorgegeben ist. Dem ist aber<br />

zu entgegnen, dass bei einer solchen engen Verfassungsinterpretation die<br />

Arbeit des Parlaments praktisch zum Erliegen kommen würde, da es bei<br />

komplexen Materien solche Konkretisierungen nicht mehr mit angemessenem<br />

Aufwand leisten könnte652 . Dem Gesetzesvorbehalt sowie Bestimmtheitsgrundsatz<br />

kann deshalb mit Entscheidungsleitlinien durchaus genügt<br />

werden, wenn sie die Reichweite der behördlichen Handlungsermächtigung<br />

erkennbar machen.<br />

<strong>Die</strong>se Richt- bzw. Leitlinien spielen auch für die gemeinschaftsrechtlich sowie<br />

national geltenden Prinzipen der Prüfung eines offensichtlichen Überschreitens<br />

der Entscheidungsspielräume eine Rolle. <strong>Die</strong> Verwaltung muss<br />

sich an der damit erfolgten näheren Bestimmung ihres Handlungsrahmens<br />

messen lassen. Dabei bildet die bei der Rechtsanwendung entstehende<br />

Selbstbindung ein gewichtiges Korrektiv für die Bestimmtheitsdefizite bei<br />

unbestimmten Rechtsbegriffen. Innerhalb der auf den wissenschaftlichkognitiven<br />

Bereich bezogenen Konkretisierungen steht der Exekutive ein<br />

Abwägungsvorrang zu. Dabei kommt es zu einer Synchronisierung mit den<br />

Grenzen der gerichtlichen Überprüfung bei Ermessen und Beurteilungsspielraum.<br />

Dogmatisch kann in diesen Fällen zwischen beiden nicht mehr unterschieden<br />

werden.<br />

650 BVerwG v. 19. Dezember 1985, BVerwG 7 C 65/82, in BVerwGE 72 (1986), S. 300<br />

(320) - Wyhl<br />

651 Di Fabio (FN 577S. 358<br />

652 Ebenda, S. 364<br />

173


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Mit Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse muss eine Anpassung<br />

des Risikorahmens, mithin der Eingriffsschwelle, erfolgen. <strong>Die</strong>s entspricht<br />

laut BVerfG dem Grundsatz einer bestmöglichen Risikovorsorge 653 .<br />

Im Gegensatz zum Gefahrenkonzept ist das Risikokonzept also nicht durch<br />

dauerhafte Unterscheidungen gekennzeichnet. Es beruht nicht auf Beobachtung<br />

und Beschreibung einzelner Ereignisse in Form von Regelwissen oder<br />

Erfahrung, sondern einer Gesamtbewertung von Variablen, die eine Zurechnung<br />

von Risiken und Verantwortung ermöglichen sollen 654 . <strong>Die</strong> Entscheidungsfindung<br />

wird durch evaluative Elemente unterstützt. So wird ein normativer<br />

Rahmen für die Abwägung zwischen verfassungsrechtlich geschützten<br />

Rechtsgütern gesetzt. Der Einschätzungsspielraum für die Risikobewertung<br />

wird insoweit vom Gesetzgeber vorbestimmt 655 . <strong>Die</strong>ser Ansatz wird der<br />

Erforderlichkeitskomponente des verfassungsmäßig verbürgten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />

gerecht.<br />

c) Instrumente der Verhaltenssteuerung<br />

Fehlende Kausalitätserkenntnisse werden durch rechtsstaatlich vertretbare<br />

Maßstäbe für eingriffsrelevante Gefährdungsschwellen ersetzt. Vor- und<br />

Nachteile staatlichen Tätigwerdens bzw. Nichttätigwerdens für bestimmte<br />

Gefahrensituationen müssen antizipiert werden. <strong>Die</strong> Defizite bei der Normenklarheit,<br />

die Notwendigkeit einer Abstraktion der Vorsorgeermächtigung<br />

und deren gezielt dynamische Komponente zeigen dabei aber auch die<br />

Grenzen der Vorsorge auf. Es bedarf nicht nur eines Ausgleichs durch flexible<br />

und mehrschichtige materiellrechtliche Instrumente, sondern auch verfahrensrechtlicher<br />

Ansätze656 . Moderne Verwaltungsinstrumente i.V.m. staatlicher<br />

Verhaltenssteuerung. können zu einer adäquaten Risikoverteilung beitragen.<br />

Gerade dem modernen Wissens- und Informationsmanagement unter<br />

Beteiligung von Behörden und Betroffenen, wie z.B. bei Frühwarnsystemen,<br />

kommt bei risikorelevanten Erkenntnisdefiziten eine wichtige Rolle zu. <strong>Die</strong><br />

EU-Kommission hat deshalb in ihrer o.g. Mitteilung auf eine Anwendung<br />

des Vorsorgeprinzips auf die Kompensation von Erkenntnisdefiziten durch<br />

geeignete Verfahrenskomponenten hingewiesen.<br />

Insbesondere die politische Entscheidungsverantwortung bei der Risikoprävention<br />

muss durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen in Form von Beteiligung<br />

der dafür zuständigen Institutionen bzw. Personen sichergestellt sein.<br />

653 Vgl. BVerfGE 49, 89, 139 - Kalkar<br />

654 Ladeur (FN 641), S. 117<br />

655 Hansmersmann (594), S. 25<br />

656 Murswiek, VVDStRL 48 (1990), 207, 211 ff.<br />

174


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

Bei der Risikoabwehr greifen die im Gefahrenabwehrrecht entwickelten<br />

rechtsstaatlichen Grenzen der Inanspruchnahme Privater, die mit dem klassischen<br />

Störerbegriff einhergehen, nicht mehr. Der grundsätzlich richtige<br />

Gedanke der Gefahrenzurechnung durch eine Pflichtenlage, wie sie im Polizeirecht<br />

erfolgt, muss fortentwickelt werden. Das Institut der Anscheinsgefahr<br />

scheint hierbei kaum ausreichend, da eine materielle Polizeipflichtigkeit<br />

des Betroffenen nicht bejaht werden kann. Als Störer kann nur in Anspruch<br />

genommen werden, wer tatsächlich einen Verursachungsbeitrag leistet.<br />

Sonst hat der Betroffene einen Entschädigungsanspruch. Das gilt erst recht<br />

vor dem Hintergrund der zunehmenden Tendenz, dass der Verdachtsbegriff<br />

bei unklaren Sachverhalten hinsichtlich des Vorliegens einer Gefahrensituation<br />

auch auf Situationen übertragen werden kann, bei denen der Störer völlig<br />

unklar ist657 . Letztlich bedarf es einer Erweiterung auf hypothetische<br />

kausale Beiträge bestimmter Personen, die der Vernetzung des Handelns<br />

mehrerer Akteure Rechnung tragen und im Sinne der Risikobewältigung eine<br />

Ausgleichsgemeinschaft bilden. <strong>Die</strong> Effizienz der Maßnahme ist bei solchen<br />

multipolaren Interessenlagen dennoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />

zu prüfen658 .<br />

Moderne Verwaltungsverfahren verlagern die bei der Sachverhaltsermittlung<br />

notwendige Verantwortung auf die potenziellen Risikoquellen. <strong>Die</strong>s geschieht<br />

z.B. durch Mitwirkungspflichten und andere kooperative Ansätze.<br />

Das moderne Verwaltungsrecht ist bei der Wissens- und Erkenntnisgewinnung<br />

immer stärker auf private Akteure angewiesen. Das klassische Überund<br />

Unterordnungsverhältnis wird auf diese Weise zu einer Partnerschaft<br />

transformiert. Im Bereich der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe wird<br />

vor allem im Technikrecht eine entsprechende Kopplung des Rechtssystems<br />

mit dem Wirtschaftsystem durch eine organisatorische Kooperation des<br />

Staates mit der privatwirtschaftlichen Fachexpertise vorgenommen659 . <strong>Die</strong><br />

Behörden können sich auf die Unterlagenprüfung und Plausibilitätskontrollen<br />

beschränken, die wiederum durch Amtsermittlung ergänzt werden können660<br />

.<br />

In dem Rahmen werden die Instrumente der direkten Verhaltenssteuerung,<br />

zu denen auch Genehmigungsverfahren gehören, praktikabel ausgestaltet.<br />

Im Umweltrecht stehen z.B. das Planungsrecht und damit verbundene verfahrensrechtliche<br />

Ansätze für die frühzeitige Prüfung eines Vorhabens zur<br />

657 Dazu Martensen DVBl 1996, 286, 288, 292<br />

658 Hoffmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 169 f.<br />

659 Bitter, DVBl. 2007, 514<br />

660 Kahl (FN 563), S. 1117<br />

175


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Verfügung. Zu den administrativen Kontrollinstrumenten gehören ebenfalls<br />

Genehmigungsverfahren und verschiedene Anzeige- und Meldepflichten,<br />

Überwachungs- und Untersagungsermächtigungen. Daneben stehen unmittelbare<br />

Handlungsanweisungen in Form von Geboten und Verboten661 . Darauf<br />

beruhende Befugnisse können erweitert, mit Bedingungen versehen, befristet<br />

und widerrufen werden. Sie ermöglichen eine kritische Einzelfallprüfung.<br />

Mittels spezifischer Vorgaben, sei es durch Auflagen oder Nebenbestimmungen,<br />

können bestimmte Verhaltensweisen des potenziellen Risikoträgers<br />

im Sinne einer adäquaten Risikoverteilung beeinflusst werden.<br />

<strong>Die</strong>se klassischen Verwaltungsinstrumente werden durch die indirekte Verhaltenssteuerung<br />

ergänzt. Dazu zählen Instrumente, die auf Kooperation setzen,<br />

z.B. durch Ausgleich, Kompensation, Zertifikate, Abgaben oder eine<br />

Haftpflicht. Aber auch die Förderung durch Vergabe oder Zuschüsse, Transparenz<br />

und Informationsrechte können auf die vorsorgende Prävention gerichtet<br />

sein. Im Rahmen der Vorsorge werden neben den staatlichen Prüfungsinstrumenten,<br />

wie z.B. der Umweltverträglichkeitsprüfung, vor allem<br />

Instrumente der Selbstregulierung genutzt. So ergänzen sich Überprüfungsmechanismen,<br />

wie Auditing durch externe Beauftragte, die Eigenüberwachung<br />

durch spezielle Beauftragte, standardisierte Qualitätssicherungsverfahren<br />

und betriebliches Risikomanagement unter Berücksichtigung der inneren<br />

Hierarchien662 . Zu diesen modernen Verwaltungsansätzen kommen<br />

allgemeine vertrauensbildende Maßnahmen durch Informations- und Kommunikationsinstrumente.<br />

Der Verwaltungskommunikation durch Information<br />

und Transparenz kommt wegen des Eingriffscharakters der Risikoprävention<br />

eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung zu, da die Information<br />

über Beobachtung, Vorsorge und Lenkung einzelner gesellschaftlicher<br />

Bereiche diese Tätigkeiten rechtfertigt und wegen der beschriebenen Entscheidungsspielräume<br />

nur auf diese Weise einer Kontrolle staatlichen Handelns<br />

ermöglicht wird. <strong>Die</strong> Transparenz des Verwaltungshandelns ist demnach<br />

nicht nur von der Verfassung gedeckt, sondern geboten663 . Auf die Einzelheiten<br />

der Normkonkretisierung sowie auch der Verfahrensansätze wird<br />

noch im Rahmen der Vorsorgestruktur zurückzukommen sein.<br />

d) Ergebnis<br />

Im modernen Verwaltungsrecht kommt es zunehmend zu einer Kooperation<br />

staatlicher und privater Akteure. Gerade bei der Risikovorsorge ist die effek-<br />

661 Kloepfer, Umweltrecht, § 5<br />

662 Stober, Wichtige Umweltgesetze für die Wirtschaft, Einführung, S. 17 ff.<br />

663 Pitschas, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 301<br />

176


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

tive Rechtsanwendung auf die Fachexpertise der Verwaltung und sachverständiger<br />

Dritter angewiesen. <strong>Die</strong>s kann nur durch Verwendung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe sichergestellt werden, die - den Verfassungsprinzipien des<br />

Bestimmtheitsgebotes folgend - durch materielle Konkretisierungsnormen<br />

ausgefüllt werden. In diesem Rahmen kommt der Exekutive ein Abwägungs-<br />

und Entscheidungsspielraum zu. Verbleibende Kontrolldefizite sollen<br />

durch eine angemessene formelle Verfahrensausgestaltung der direkten und<br />

indirekten Verhaltenssteuerung kompensiert werden, für die Kooperation<br />

sowie Informations- und Kommunikationsinstrumente wesentlich sind 664 .<br />

Hierbei sei auch an die Parallelen der EuGH-Rechtsprechungsansätze im<br />

Umgang mit Entscheidungsspielräumen der Verwaltung erinnert. Letztlich<br />

decken sich die zu Entscheidungsspielräumen gefundenen Ansätze mit der<br />

im Vorsorgeprinzip angelegten Verpflichtung des Gesetzgebers, über normkonkretisierende<br />

Vorschriften sowie kooperative Ansätze und Verfahrensbestimmungen<br />

eine hinreichende Berücksichtigung der Rechte des Eingriffsadressaten<br />

zu gewährleisten.<br />

2. Struktur des Vorsorgeprinzips<br />

An den soeben erörterten Vorgaben orientieren sich die strukturellen Ansätze<br />

des Vorsorgeprinzips. Zunächst müssen die im Tatbestand vorgegebenen<br />

Voraussetzungen des rechtmäßigen Verwaltungshandelns festgestellt werden.<br />

Ein der gerichtlichen Überprüfung zugänglicher Vorsorgetatbestand erfordert<br />

das Vorliegen bestimmter Sachlagen, die Vorsorgemaßnahmen denkbar<br />

erscheinen lassen. Damit gemeint ist eine Risikosituation mit potenzieller<br />

Schadenseignung, vergleichbar mit einer potenziellen Gefahrensituation,<br />

die zum Vorsorgeobjekt wird. Eine solche besorgniserregende Sachlage wird<br />

auch als Vorsorgeanlass bezeichnet. Hierbei wird zunächst die Notwendigkeit<br />

eines staatlichen Einschreitens beurteilt. Der Sachverhalt muss durch<br />

Heranziehung aller verfügbaren Informationsquellen näher ermittelt und<br />

bewertet werden, um die geeignete Rechtsfolge zu bestimmen. Das zunächst<br />

abstrakte Besorgnispotenzial erfährt damit auch eine normative Gewichtung.<br />

Dazu gehören auch technische Instrumentarien und spezifische Verfahrensansätze,<br />

um Erkenntnisdefizite und damit auch Risiken möglichst weitgehend<br />

zu minimieren. Oft ist deshalb vom sog. Risikomanagement die Rede.<br />

Erst nach Feststellung des Vorsorgeanlasses erfolgt die Interessenabwägung<br />

und die Einbeziehung der Verfassungsprinzipien, wie z.B. des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />

665 . Entsprechend wird die Frage nach den Eingriffsal-<br />

664 So im Ergebnis auch Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 418<br />

665 Calliess (FN 288), S.211 ff.<br />

177


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

ternativen zu beurteilen sein. Schließlich ist dabei auch der Vorsorgeadressat<br />

zu bestimmen.<br />

a) Feststellung eines Vorsorgeanlasses<br />

Strittig ist, ob konkrete Anhaltspunkte für einen begründeten Gefahrenverdacht<br />

bestehen müssen666 . Das auf Vorhersehbarkeit basierende Kriterium<br />

der Wahrscheinlichkeit eines Eingriffs muss aber bei vorsorgeimmanenten<br />

Erkenntnisdefiziten versagen. Insoweit scheitert auch das Instrument des<br />

Gefahrenverdachts, wonach in Abhängigkeit von der Intensität eines möglichen<br />

Schadens ein Gefahrenerforschungseingriff möglich sein soll. Bei Ungewissheit<br />

können solche Intensitäten aber nicht bestimmt werden. Für die<br />

Vorsorgeermächtigung sind deshalb andere Kriterien notwendig. An die<br />

Stelle der Kausalitätsvermutungen treten hypothetische und theoretische Erklärungsmodelle667<br />

.<br />

Teilweise wird auch ein gewisses Besorgnispotenzial für ausreichend erachtet,<br />

wonach sich Schadensmöglichkeiten auf Grund des aktuellen Erkenntnisstandes,<br />

demzufolge bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht<br />

noch verneint werden können, nicht ausschließen lassen. <strong>Die</strong> Erwägungen<br />

dazu sollen aber zumindest (wissenschaftlich) plausibel sein. Hier müssen<br />

hinreichende, wenn auch nicht zwingend gesicherte, Anhaltpunkte für eine<br />

mögliche Schädlichkeit des Handelns unterhalb der Gefahrenschwelle vorliegen668<br />

. Theoretische Erwägungen würden damit genügen, soweit sie plausibel<br />

begründet werden und durch eine Fachexpertise gestützt sind. Auch sei<br />

ein realer Schadensbezug, also das Vorhandensein tatsächlicher Anhaltspunkte<br />

für den denkbaren Schaden erforderlich. Vorsorge darf sich nicht allein<br />

auf Spekulationen stützen669 . Es muss allerdings auf die divergierenden<br />

Ansätze zur Beschreibung und Reichweite des Vorsorgeprinzips verwiesen<br />

werden. Als Mittel zur Risikobewältigung kann es letztlich nicht auf die Erkenntnisqualität<br />

zur bestehenden Sachlage ankommen. Vielmehr müssen abstrakte<br />

Erwägungen genügen, solange sich diese von der Vorsorge „ins<br />

Blaue hinein“ abgrenzen lassen. Eine plausible wissenschaftliche Begründung<br />

reicht aus, um die generelle Schadenseignung der Sachlage darzulegen.<br />

<strong>Die</strong>s gilt inzwischen als anerkannt670 . An der Stelle spielt auch die von<br />

666 BVerwGE 69, S. 37, 43 ff. - Mannheimer Heizkraftwerk<br />

667 Wahl, in: in ders. (FN 300), S. 92 f.<br />

668 BVerwGE 72, S.300 (315 ) - Wyhl-Entscheidung; BVerwGE 92, S.185 (196)<br />

669 Trute (FN 549), S. 58 ff; Ossenbühl, NvWz 1986, 161, 164, 166<br />

670 Callies, in: Hendler, Jahrbuch Umwelt- und Technikrecht 2006, S. 89 ff., S. 105 unter<br />

Verweis auf Wahl, in: ders. (FN 300), S. 126 ff. und Scherzberg (Fn 598), S. 490<br />

ff., 485 ff. sowie Ladeur (FN 641), S. 99 ff.<br />

178


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

gesellschaftlichen Entwicklungen abhängige Reichweite des Sicherheitsbegriffs<br />

eine Rolle. <strong>Die</strong> Definition des Besorgnispotenziales muss dem Vorsorgezweck<br />

der Risikobewältigung gerecht werden können. Sie hängt also vom<br />

Schutzzweck der Norm ab. Es geht nicht um feststehende Größen, sondern<br />

die Optimierung staatlichen Handelns. Der Eingriff selbst ist damit noch<br />

nicht begründet. Nach Feststellung des Vorsorgeanlasses muss der konkrete<br />

Sachverhalt ermittelt und bewertet werden.<br />

b) Sachverhaltsermittlung und Bewertung<br />

Wie schon festgestellt, führt die zunehmende Komplexität und Vernetzung<br />

von Wissen zu höheren Risiken, dem auch das Sicherheitsrecht nur begrenzt<br />

begegnen kann. Sicherheit kann deshalb lediglich als das Bereitstellen zuverlässigen<br />

bzw. angemessenen Schutzes der Unversehrtheit von Rechten<br />

verstanden werden. Absolute Sicherheit gibt es nicht. <strong>Die</strong> Entscheidung<br />

neuer, weder eingrenzbarer noch zurechenbarer Risiken wurde bereits mit<br />

dem Begriff der Risikogesellschaft thematisiert671 . In der Folge ist aber auch<br />

eine statische Definition der Gefahrenvorsorgeschwelle oder eines Risikos<br />

nicht darstellbar. Wissensbedingter Fortschritt und damit verbundene neue<br />

Unsicherheiten geraten in Konflikt mit der juristischen Subsumtionsmethodik<br />

bestimmter Rechtsfolgen für konkrete Sachverhalte. <strong>Die</strong> verfassungsrechtlich<br />

vorgesehene Bestimmtheit gesetzlicher Eingriffsermächtigungen<br />

gerät dabei an ihre Grenzen. Insbesondere erscheint ein Festhalten an den<br />

klassischen Parametern der Gefahrenabwehr nur noch bedingt möglich.<br />

aa) Bestimmung des Schadenpotenzials - Prognose<br />

Eine Bewertung der Gefahren- bzw. Risikosituation impliziert die nähere<br />

Bestimmung des potenziellen Schadens, des potenziell Geschädigten und<br />

des Schadenverursachers. Im Gefahrenkontext wird hierbei der Störerbegriff<br />

verwendet. <strong>Die</strong> ermittelten Vorsorgetatsachen werden unter Berücksichtigung<br />

der verbleibenden Erkenntnislücken unter Gewichtung der bekannten<br />

Tatsachen und Risikoparameter sowie der Belange der Betroffenen subjektiv<br />

miteinander abgewogen und bewertet.<br />

Dabei ist eine Trennung von der Rechtsfolgenseite des Tatbestandes, also<br />

der Entscheidung über die konkret veranlasste Maßnahme, schwierig. Risikobewertung<br />

und Risikomanagement gehen ineinander über. Hier muss eine<br />

rechtsstaatlich gesicherte Antwort auf die Frage nach generell angemessenen<br />

Grenzwerten bzw. Kriterien für die staatliche Ermächtigung zu risikoorientierten<br />

Eingriffen erfolgen. Der beim Vorsorgeanlass bemühte wissenschaft-<br />

671 Aulehner (FN 524), S 294 ff., 308<br />

179


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

liche Sachverstand wird nunmehr aufgegriffen. <strong>Die</strong> politische Meinungsbildung<br />

kommt zum Tragen. Bedeutung und Stellenwert des Besorgnispotenzials<br />

müssen rational verarbeitet werden. Dabei findet regelmäßig ein wertender<br />

Vergleich der tatsächlichen Risikosituation mit der Zielvorgabe im einschlägigen<br />

Sachgebiet statt.<br />

Vom Besorgnisanlass muss die Frage nach dem zulässigen Eingriffsadressaten<br />

unterschieden werden. Wie auch bei der Gefahrensituation muss geprüft<br />

werden, wem das Risiko zuzurechnen ist. Das geschieht aber im Rahmen<br />

der Rechtsfolgenabwägung. <strong>Die</strong> generelle Schadenseignung einer Handlung<br />

spielt aber auch für den Vorsorgeanlass eine Rolle. Es müssen zudem alle<br />

existierenden Einwirkungsbereiche berücksichtigt werden, so dass für den<br />

Eingriff eine normative Gewichtung möglicherweise unterschiedlicher<br />

Schadensquellen vorgenommen werden kann672 .<br />

bb) Standardisierte Risikoschwellen<br />

<strong>Die</strong> staatliche Verpflichtung, eine rechtlich gesicherte Realisierung risikorelevanter<br />

Vorhaben unter Berücksichtigung der Interessen des Handelnden zu<br />

ermöglichen, ergibt sich aus o.g. Gründen auf Grund der bereits geschilderten<br />

Doppelfunktion der Grundrechtsgewährleistungen und der daraus abgeleiteten<br />

Schutzpflicht. Dazu zählt die Feststellung zumutbarer Gefahren und<br />

Risiken. Als Grundlage für diesen Interessenausgleich dient ein staatlich beherrschtes<br />

und möglichst weitgehend standardisiertes Kontrollsystem, was<br />

auch für das Erfordernis einer Konkretisierung der Eingriffsschwellen bedeutend<br />

ist. Der Vorsorgeanlass kann umso eher begründet und gerechtfertigt<br />

werden, je klarer das Vorsorgeziel definiert ist. Das geschieht insbesondere<br />

durch Grenzwerte und Typisierungen673 . Für die Darlegung eines überprüfbaren<br />

Bewertungsmaßstabes, sei es bezogen auf die Bejahung eines<br />

Schadens oder auf die potentielle Kausalität eines Zustandes oder einer<br />

Handlung für diesen Schaden, werden bei den etablierten Vorsorgerechtsgebieten<br />

des Umwelt- und Gesundheitsrechts regelmäßig technische Daten<br />

und Parameter bemüht. <strong>Die</strong>se sind gerade bei stoff- oder produktbezogener<br />

Risikoermittlung oft zielführend, nicht dagegen bei risikorelevanten<br />

menschlichen Verhaltensweisen. Solche können allenfalls über die aktuelle<br />

Erkenntnislage zu den betroffenen Personen sowie Erfahrungen aus der Vergangenheit<br />

reflektiert werden. Dabei wird oft der Begriff allgemeiner Lebenserfahrung<br />

bemüht. Hinzu kommt die Einbeziehung der verfassungsrechtlichen<br />

Wertschätzung des potenziellen Nutzens eines risikorelevanten<br />

672 Wahl, in: ders. (FN 300), S 133<br />

673 Vgl. Teil 3 III.1.b)<br />

180


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

Vorhabens 674 . Dazu zählen z.B. eine Gewinnerwartung des Unternehmers<br />

oder auch ein Nutzen für das Gemeinwohl. <strong>Die</strong> genannten Maßstäbe können<br />

bereits gesetzlich oder durch administrative Verwaltungsanweisungen näher<br />

bestimmt werden. Aus diesen Kategorisierungen und Typisierungen ergibt<br />

sich ein Entscheidungsprogramm, das dem verfassungsrechtlichen Gebot<br />

der Sachlichkeit und Begründung Rechnung trägt. Regelmäßigkeiten bestimmter<br />

Fallgestaltungen können berücksichtigt werden. An dieser Stelle<br />

ergibt sich auch der Zusammenhang mit der verfassungsrechtlich gebotenen<br />

Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Richtlinien für die Ausfüllung<br />

von Entscheidungsspielräumen, mithin ein Rückschluss auf die Prüfungstiefe<br />

bei der gerichtlichen Kontrolle solcher Verwaltungsentscheidungen.<br />

cc) Verfahrensansätze zur Kompensation von Erkenntnisdefiziten<br />

Beim Umgang mit wenig gesicherten Erkenntnissen und Anhaltspunkten für<br />

die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts muss neben der sachlichen<br />

Abwägung zwischen den geschützten und den zu kontrollierenden Interessen<br />

eine prozedural abgesicherte Begründung der zu treffenden Entscheidung<br />

erfolgen. Hierbei wird auch oft der Begriff der Rationalität der Entscheidungsfindung<br />

verwendet675 . Dafür zu entwickelnde Verfahren können<br />

wegen der risikoimmanenten Informationsdefizite zwar nie umfassend befriedigen.<br />

Dennoch können Art und Umfang der Risikoerkenntnis strukturell<br />

so erfasst werden, dass eine Systemtisierung von Entscheidungsoptionen<br />

ermöglicht wird.<br />

Wie soeben angedeutet, können auch verfahrensrechtliche Instrumentarien<br />

zur Ermittlung und Fortschreibung des notwendigen Risikowissens dazu<br />

beitragen, eine angemessene Bewertung des Vorsorgeanlasses durch die Behörde<br />

sicherzustellen. Das Vorsorgeprinzip beruht auf der Notwendigkeit einer<br />

Dynamisierung des Rechts. Eine gewisse Anpassungsfähigkeit und Flexibilität<br />

der Eingriffsschwelle ist die Grundlage seiner Anerkennung. Gerade<br />

bei politischen Entscheidungen kommt es auf Aktualität an, Erkenntnisse<br />

und Einschätzungslage können sich täglich ändern, auch durch externe Ereignisse.<br />

Eine Begrenzung des Prinzips erfolgt zunächst allein durch die<br />

Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Umso wichtiger erscheint die verfahrensorientierte<br />

Kompensation der Verwaltungsspielräume durch Mitwirkungsrechte<br />

und Kooperation der Beteiligten, die einen Ausgleich von Risikopräventions-<br />

und Freiheitsinteressen ermöglichen. Soziale Verantwortung,<br />

674 Stoll (FN 507), S. 329 ff<br />

675 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (Fn 128), S. 98<br />

181


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Unternehmensimage und öffentliches Interesse bieten Vorsorgeanreize, die<br />

eine gesellschaftliche Wahrnehmung der Risikoverantwortung ermöglichen,<br />

die der Staat wegen der vorhandenen Ungewissheiten nicht mehr allein<br />

wahrnehmen kann676 .<br />

Um ein Tätigwerden der Behörde bei einem gegebenen Vorsorgeanlass zu<br />

ermöglichen, muss die Verwaltung vom Vorliegen der Voraussetzungen der<br />

einschlägigen Vorsorgeregelungen Kenntnis erlangen, also auch organisatorisch<br />

auf die Risikoprävention vorbereitet sein. Sie muss alle notwendigen<br />

Maßnahmen ergreifen, um in der Zukunft denkbare Rechtsgutgefahren feststellen<br />

zu können. <strong>Die</strong> im Rahmen des Vorsorgeanlasses erfolgende Sachverhaltsermittlung<br />

muss daher durch eine umfassende, möglichst erschöpfende<br />

Informationsbeschaffung erfolgen. Dazu gehört die objektive Darlegung<br />

von vorhandenem Risikopotenzial und dessen Umfang. Risikoorientiertes<br />

Handeln entbindet nicht von der Pflicht zur Erhebung aller relevanten<br />

Informationen und Faktoren. Wegen der mit unterschiedlichen Methoden<br />

und Arbeitsweisen der Risikoerforschung verbundenen Unsicherheiten ist<br />

auf eine ausgewogene Berücksichtigung der Erkenntnisquellen und des<br />

Sachverstandes zu achten, z.B. von Verantwortlichen in anderen Behörden<br />

oder wissenschaftlichen Gutachtern, die eine potenzielle Risikoquelle feststellen<br />

können. Zu diesem Kreis müssen auch die Unternehmensvertreter<br />

gezählt werden. Sie stehen den Risikoquellen in aller Regel am nächsten.<br />

Gerade der Wissensvorsprung der Betroffenen muss genutzt werden. Hierzu<br />

fallen oft die Stichworte Eigenverantwortung, Aufzeichnungs- und Informationspflichten,<br />

Selbstkontrolle. Dazu gehören auch Aufzeichnungs- und Informationspflichten<br />

der Eingriffsadressaten677 . Dabei kann die Behörde auch<br />

von privaten Vorbeugemaßnahmen oder Standardsetzungen, z.B. Haftpflichtversicherungen<br />

und Zertifizierungssystemen, Gebrauch machen678 .<br />

Das zunehmende Gewicht kooperativer Ansätze und privater Verantwortungsübernahme<br />

wird im Übrigen auch in anderen Verwaltungsbereichen<br />

deutlich. Als Stichworte seien nur Eigenverantwortung, Audit und Verbraucherinformation<br />

genannt, die Bespiele für eine Neugewichtung der Rollenverteilung<br />

privater und staatlicher Akteure im Gewährleistungsstaat sind679 .<br />

Das Problem divergierender Anforderungen und unsicherer Beschreibung<br />

von Möglichkeiten und Zukunftserwartungen kann also auch durch die<br />

Trennung der Programm- und der Handlungsverantwortung gelöst werden.<br />

676 Schmidt-Aßmann in: ders. /Hoffmann-Riem (FN 362), S. 29 ff.<br />

677 Wahl, in: ders. (FN 300), S. 110<br />

678 Stoll (FN 507), S. 262<br />

679 Vgl. Schuppert, in: ders., Der Gewährleistungsstaat, S. 1 ff., S. 27<br />

182


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

Der vom BVerfG geforderte dynamische Schutz wäre so möglich. Einer organisatorischen<br />

individuellen Selbstkontrolle mit Stopp-Regeln und Anschlusszwang<br />

der Risikoträger stünde eine kaum praktikable Bürokratie mit<br />

umfassendem Informationsaustausch der Behörden und institutionell kontrollierten<br />

Grenzüberschreitungen gegenüber680 . <strong>Die</strong> Risikobewertung muss<br />

deshalb durch verfahrensgesteuerte Vertrauensbildung ergänzt werden und<br />

so weit wie möglich den Wissensträgern und ihren Organisationen überlassen<br />

werden. <strong>Die</strong> dabei verfolgten Risikomanagementstrategien ersetzen informationsintensive<br />

Einzelfallprüfungen durch die Formulierung von<br />

Grenzwerten und regulativen Modellen für interne Bewertungsverfahren<br />

beim Risikoträger. <strong>Die</strong>se wiederum können seitens der Behörde in Form von<br />

sog. Monitoring-Maßnahmen systematisch beobachtet werden681 .<br />

Vor dem Hintergrund der Ungewissheit und Komplexität von Risikopotenzialen<br />

werden notwendigerweise bestehende materiell-rechtliche Defizite bei<br />

abstrakten gesetzlichen Vorgaben auch durch eine umfassende öffentliche<br />

Beteiligung gesellschaftlicher Gruppierungen (Information, Anhörung) und<br />

eine hohe Verfahrenstransparenz bei der Risikobewertung ausgeglichen682 .<br />

Insoweit wird die behördliche Kontrolle gewissermaßen durch eine kollektive<br />

Selbstkontrolle unterstützt. Insgesamt führen die angesprochenen Beteiligungsinstrumente<br />

zu einem Paradigmenwechsel im behördlichen Umgang<br />

mit Prognoserisiken. Eine stärkere Einbindung der Kommunikation mit potenziellen<br />

Eingriffsadressaten und Betroffenen führt zu bestimmten (negativen)<br />

Erwartungen und damit zu einer verbesserten präventiven Selbststeuerung<br />

und Kontrolle der Kommunikationsteilnehmer. Solche mittels rechtlicher<br />

Regelungen gesteuerten Erwartungen und damit verbundene präventive<br />

Wirkungen prägen das allgemeine juristische Vorsorgeprinzip683 . Der Staat<br />

befindet sich einerseits in der Schutzpflicht, muss sich aber andererseits<br />

Dritter zur Erfüllung dieser Pflicht bedienen. Andernfalls wäre er überfordert.<br />

Hierbei helfen Information, Aufklärung, Kooperationsanreize sowie<br />

Erleichterungen bei der Durchführung behördlicher Verfahren684 .<br />

Der Selbstkontrolle von Risikoadressaten durch Kommunikation steht das<br />

Informationsmanagement der Verwaltung gegenüber. Der Begriff bezieht<br />

sich auf die zur Entscheidungsfindung für die Verwaltung verfügbaren vielfältigen<br />

Instrumente zur Informationsbeschaffung. Dabei geht es vor allem<br />

680 Ladeur (FN 641), S.85, 124, 126<br />

681 Ebenda, S.135, 229, 264f.<br />

682 Trute (FN 549), S. 86 ff.<br />

683 Luhmann, Soziale Systeme, S. 411 ff<br />

684 Zu diesem rechtsstaatlichen Dilemma, Calliess (FN 288), S.67<br />

183


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

um die Erweiterung verfügbarer Daten, mithin von Wissen 685 . Zwischen<br />

technischem Fortschritt und Wissen besteht ein Zusammenhang. Beide<br />

Komponenten wirken sich auf menschliches Handeln, aber auch das Bestehen<br />

von Gefahren und Risiken aus. An dieser Stelle wird auch die Dynamik<br />

des Vorsorgeprinzips deutlich. <strong>Die</strong> Abwesenheit von Risiko und Gefahr bedeutet<br />

nicht Sicherheit. Unter Einbeziehung von Restrisiken wäre eine Abwesenheit<br />

von Risiko kaum denkbar 686 . Risiko knüpft nicht wie die Gefahr<br />

an objektive Gesichtspunkte an, sondern an den Grad der Ungewissheit.<br />

<strong>Die</strong>s spiegelt sich in der Bewertung des Vorsorgeanlasses wider. In Abgrenzung<br />

beider Komponenten spielt also nicht nur der Zeitraum für die Prognose,<br />

sondern auch der erzielte Wissensgrad, mithin die vorrangegangene Information<br />

und Kommunikation eine gewichtige Rolle. <strong>Die</strong> Verfahren zur Risikoermittlung<br />

müssen dem wissenschaftlichen Fortschritt, aber auch der<br />

modernen Datenverarbeitung und -vernetzung der Anwender entsprechend<br />

fortgeschrieben und verbessert werden. Der Umgang mit der Wahrscheinlichkeit<br />

eines Schadenseintritts bei bestehender prognoserelevanter Ungewissheit<br />

ist näher zu bestimmen. Auch hierbei sollen operationale Ansätze in<br />

Form kognitiver, normativer und handlungsbezogener und dabei vertrauensbildender<br />

Komponenten helfen 687 . <strong>Die</strong> Risikoverantwortung von Gesetzgeber<br />

und Behörde endet also nicht beim konkreten Vorsorgeanlass. Das<br />

BVerfG bestätigt nicht nur deren Beobachtungspflicht zur frühzeitigen Gefahrerkennung,<br />

die eine spätere Einschätzungsprärogative ohne Inhaltskontrolle<br />

der Gerichte erst vertretbar erscheinen lässt. Neben der aus der Gefahrerkennung<br />

folgenden Handlungspflicht zu angemessenen Vorsorgeeingriffen<br />

tritt auch eine Nachbesserungspflicht unter Überprüfung der eventuell<br />

geänderten Sachlage zu einem späteren Zeitpunkt, mit entsprechend<br />

möglichen neuen Handlungsverpflichtungen 688 .<br />

c) Vorsorgeprinzip und Beweislast<br />

Eine trotz Anwendung aller verfügbaren Untersuchungsmethoden und Ermittlungsversuchen<br />

lückenhafte Erkenntnislage kann häufig zu einem<br />

Gleichgewicht der Argumente für und gegen einen Eingriff der Verwaltung<br />

führen. Dennoch muss eine endgültige Verantwortungszuweisung für festgestellte<br />

Risikopotenziale, mithin eine Entscheidung, erfolgen. Recht bekommen<br />

kann in diesem Fall davon abhängen, wie aus behördlicher oder richterlicher<br />

Sicht die Darlegungs- und Beweislastverteilung zwischen den Betrof-<br />

685 Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, S. 236<br />

686 Vgl. Teil 3 I.4.c) und Verweis auf BVerfGE 49, 89, 141 ff.<br />

687 Ladeur (FN 641), S. 115 ff.<br />

688 Calliess, in: Hendler (FN 526), S. 89 ff., S. 112 f.<br />

184


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

fenen ausgestaltet ist. <strong>Die</strong> Frage der objektiven Beweislast bestimmt, wer<br />

für welche für den Normtatbestand maßgeblichen Tatsachen nachweispflichtig<br />

ist, also zu wessen Nachteil fehlende Erkenntnisse gehen. Hierbei muss<br />

zwischen dem Verwaltungsverfahren und dem Verwaltungsprozess unterschieden<br />

werden. I.V.m. der subjektiven Beweislast geht es dagegen um die<br />

Beweisführung im Prozess 689 .<br />

aa) Allgemeine Beweislastgrundsätze<br />

Zur Frage der Schadenseignung einer Sachlage gilt im Verwaltungsverfahren<br />

nach § 24 VwVfG grundsätzlich der Amtsermittlungsgrundsatz. Gleiches<br />

gilt für das verwaltungsgerichtliche Verfahren mit der Untersuchungsmaxime<br />

gem. §§ 86 und 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. <strong>Die</strong> Gerichte müssen die<br />

Schadenseignung aufklären, dazu Beweise erheben und die gefundenen Ergebnisse<br />

nach dem Maß der eigenen Überzeugung objektiv würdigen. Im<br />

Falle nichtaufklärbarer Tatsachen kommt es zu einer non-liquet-Situation.<br />

<strong>Die</strong> objektive Beweislastverteilung wird dann entscheidungserheblich. Bei<br />

der Beweislast werden tatsachenbezogene Behauptungs- bzw. Darlegungssowie<br />

verfahrensbezogene Mitwirkungslasten unterschieden. <strong>Die</strong> Beweiserhebung<br />

hängt maßgeblich von der Mitwirkung der Verfahrensbeteiligten ab,<br />

auch schon im Zuge der Behördenentscheidung. <strong>Die</strong> Reichweite der Mitwirkungspflichten<br />

relativiert o.g. Ermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsätze.<br />

Hierbei werden Auskünfte, allgemeine Nachweispflichten, besondere<br />

Nachweispflichten mit gesetzlich vorbestimmten Beweismitteln sowie Duldungs-<br />

und Ermittlungspflichten unterschieden690 . Mit Blick auf die Mitwirkungspflichten,<br />

besonders bei den Nachweispflichten, wird auch von subjektiver<br />

Beweislast oder Beweisführungslast gesprochen. <strong>Die</strong> Verteilung der<br />

Beweislast ist dem Gesetzgeber vorbehalten691 . Sie müssen ebenso wie die<br />

gesamte Rechtsnorm den Verfassungsvorgaben, insbesondere dem Grundsatz<br />

der Verhältnismäßigkeit, genügen.<br />

<strong>Die</strong> Mitwirkungspflichten werden explizit in den einschlägigen Regelungen<br />

zum Verwaltungsverfahren benannt. Mitwirkungsdefizite haben, auch im<br />

Prozess, keine zwingende negative Folge, wenn die behördliche oder richterliche<br />

Aufklärung auch durch andere Beweismittel noch möglich ist. Richterliche<br />

Ermittlung und Mitwirkungspflichten ergänzen sich letztlich, ohne<br />

dass die richterliche Aufklärungspflicht dadurch eingeschränkt wird. Eine<br />

Ausnahme bilden gesetzlich vorgesehene Nachweispflichten. Allerdings<br />

689 Vgl. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 246<br />

690 J. Martens, JuS 1978, S. 101 ff.<br />

691 Nierhaus (FN 689), S. 201 ff., zum „Begriffschaos“: S. 246<br />

185


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

kann im Falle erheblicher Aufklärungsbehinderung oder Nichtaufklärung bei<br />

deckungsgleicher objektiver Beweislast des Betroffenen die Entscheidung<br />

dann zu seinen Lasten gehen692 . Auf die Frage der objektiven Beweislast bei<br />

Erkenntnisdefiziten, insbesondere der normativen Beweislastverteilung bis<br />

hin zu einer Beweislastumkehr durch gesetzliche Vermutungen, wird aber<br />

noch einzugehen sein. Bei der Beweislast wird nicht nur qualitativ, sondern<br />

auch quantitativ unterschieden. Das im Prozess geforderte Beweismaß richtet<br />

sich also nach dem notwendigen Grad richterlicher Überzeugung. Basis<br />

dafür ist im Rahmen der Gefahrenabwehr die Wahrscheinlichkeit eines<br />

Schadenseintritts. <strong>Die</strong> Gefahrenprognose beinhaltet immer das Fehlen absoluter<br />

Gewissheit. <strong>Die</strong>se graduelle Ungewissheit ist prognoseimmanent und<br />

wird - wie bereits bei der Abgrenzung von Gefahr und Risiko erörtert - nach<br />

ständiger Rechtsprechung je nach drohender Schadenshöhe herabgestuften<br />

Wahrscheinlichkeitsanforderungen gelöst („Je-desto-Formel“). <strong>Die</strong> richterliche<br />

Überzeugung ist deshalb allein für die Frage nach dem notwendigen<br />

Wahrscheinlichkeitsgrad eines Schadenseintritts notwendig. Nur dieser ist<br />

Beweisgegenstand, so dass es bei einer Willkürkontrolle bleibt693 . <strong>Die</strong> o.g.<br />

„Je-desto-Formel“ trifft aber keine Entscheidung über die Beweislastverteilung.<br />

Sie bestimmt nur die Höhe des Beweismaßes. Wenn es aber beim geforderten<br />

Beweismaß bzw. Wahrscheinlichkeitsgrad um die Bewertung des<br />

drohenden Schadens geht, besteht eine untrennbare Verknüpfung zum materiellen<br />

Gehalt der vom Eingriff betroffenen Rechtspositionen, mithin der<br />

verfassungsmäßig verbürgten Rechte. Deren Beachtung bzw. die Rechtfertigung<br />

der Beschränkung dieser Positionen durch die Verwaltung ist vollumfänglich<br />

der richterlichen Prüfung zugänglich694 .<br />

Allerdings gibt es auf Grund der eingeschränkten richterlichen Kontrolle bei<br />

Verwaltungsermessen oder Prognoseentscheidungen mit Beurteilungsspielraum<br />

der Verwaltung Einschränkungen. <strong>Die</strong> Beweislastfrage wird hier auf<br />

den materiell-rechtlich notwendigen Behördenhorizont eingeengt. Nach der<br />

Rechtsprechung des BVerfG am Beispiel des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt<br />

gem. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG spricht der bei den betroffenen Freiheitsrechten<br />

der Art. 12 und 14 GG einschlägige Gesetzesvorbehalt nicht gegen<br />

ein Ermessen der Verwaltung. Vielmehr könne ein solches aufgrund der<br />

notwendigen Sachkunde der Verwaltung durch die gesetzliche Beschränkungsregelung<br />

eingeräumt werden695 . <strong>Die</strong>s gilt besonders bei irreversiblen<br />

692 Ebenda, S. 280, 344 ff.<br />

693 Berg, <strong>Die</strong> verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 278<br />

ff.<br />

694 Vgl. oben Teil 2 II.6.b) zu Ermessensfehlerlehre und Verfassungsschranken<br />

695 BVerfGE 49, 89, 144 f. - Kalkar<br />

186


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

Folgen der Entscheidung, wie sie bei Art. 2 Abs. 2 GG in Rede stehen. Sie<br />

können durch eine spätere Meinungsbildung des Parlaments hinsichtlich einer<br />

Anpassung der Gesetzgebung nicht mehr geheilt werden. Es gelten hierbei<br />

die gleichen Argumente, wie sie bereits zur Anwendung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe erörtert worden sind, wonach der Verwaltung ebenfalls ein<br />

Entscheidungsspielraum eröffnet wird 696 . Das BVerfG stellt aber auch fest,<br />

dass die mit dem Spielraum verbundenen Regelungsdefizite auf normativer<br />

Ebene durch Verwaltung und Gerichte auszugleichen sind, also durchaus eine<br />

angemessene richterliche Kontrolldichte bestehen müsse 697 . Das Bundesverwaltungsgericht<br />

unterscheidet wohl aus diesem Grund zwischen den der<br />

vollständigen Beweiserhebung zugänglichen Basistatsachen, die sich auf<br />

Erkenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart beziehen sowie den zukunftsbezogenen<br />

Wertungen 698 . Nur Letztere prägen das Prognoseelement,<br />

welches als Rechtfertigung für das Bestehen eines Beurteilungsspielraumes<br />

herangezogen wird 699 . Hierbei ist auch von der Prognose im engeren Sinne<br />

die Rede. Insofern ist die richterliche Überzeugung von den vorgelegten Tatsachen<br />

zwar ebenfalls erforderlich, diese muss sich jedoch im Sinne der Ermessensfehlerlehre<br />

auf eine Willkür- bzw. im EU-Kontext auf eine offensichtliche<br />

Irrtumskontrolle beschränken.<br />

bb) Beweiserhebung bei Erkenntnisdefiziten und Modifikation der<br />

Beweislast<br />

<strong>Die</strong> Suche nach absoluter Gewissheit kann in Rechtsgebieten mit Risikobezug<br />

nicht erfolgreich sein700 . Hinsichtlich der zu erwartenden Fakten bleibt<br />

der hypothetische Kausalverlauf oft im Unklaren701 . Eine Wahrscheinlichkeitsprognose<br />

ist dann nicht möglich. Infolge der Erkenntnisdefizite kann es<br />

also bei Prognoseentscheidungen zu einer non-liquet-Situation kommen, so<br />

dass die Beweislastverteilung maßgeblich die Entscheidung mitbestimmt.<br />

<strong>Die</strong> Verteilung der Risikoverantwortlichkeit, wer also die Last des Ungewissen<br />

tragen soll, beinhaltet eine Wertung, die über die Zuweisung der Beweislasten<br />

für bestimmte Sachverhaltsfragen zur Entscheidung über die<br />

Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses erhoben wird.<br />

696 Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme<br />

von Grund- und Menschenrechten, 154, 158; s.a. Teil 2 I.2.b)<br />

697 BVerfGE 49, 89, 135<br />

698 BVerwGE 61, 176<br />

699 Vgl. Teil 2 II.3.b)<br />

700 Vgl. Ladeur (FN 641), S. 88<br />

701 Kokott (FN 696), S. 29, 34<br />

187


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Nach Auffassung des BVerfG folgt aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit,<br />

dass der allgemeine Freiheitsanspruch durch die öffentliche Gewalt nur soweit<br />

beschränkt werden darf, wie es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich<br />

ist. <strong>Die</strong>se Unerlässlichkeit des Eingriffs sorgt für eine grundsätzliche<br />

Beweislast des Staates, der nachweisen muss, warum die Erreichung<br />

seiner Absichten und der dabei verfolgten Zwecke auf andere Weise nicht<br />

möglich ist. Der schlichte Hinweis auf Gemeinwohlzwecke im Sinne der<br />

Grundrechtsschranken genügt deshalb nicht für eine Rechtfertigung des<br />

Eingriffs702 . Der damit verbundene Regelbeweis ist bei Erkenntnisdefiziten<br />

allerdings nicht praktikabel. Er würde zum Grundsatz „Im Zweifel für die<br />

Freiheit“ führen, also das Ziel der Risikoprävention ad absurdum führen.<br />

Wenn es um die Bewältigung von Erkenntnisdefiziten und daraus resultierenden<br />

Risikosituationen geht, spricht der Sinn und Zweck des Vorsorgeprinzips<br />

deshalb für eine Beweislastumkehr703 . <strong>Die</strong> potenzielle Risikoquelle<br />

müsste bei Beweislastumkehr das Nichtbestehen des Risikos darlegen. In<br />

der Konsequenz führte diese Annahme zum Grundsatz: „Im Zweifel für die<br />

Sicherheit“ (und gegen die Freiheit). Eine solche pauschale Lösung würde<br />

aber immer zu einem Eingriff führen und jede rechtsstaatliche Abwägung<br />

erübrigen. Der Nachweis des Nichtbestehens eines Risikos ist bei Erkenntnisdefiziten<br />

logisch ausgeschlossen. Aus diesem Grunde wird die Annahme<br />

einer vorsorgeimmanenten generellen Beweislastumkehr angezweifelt.<br />

Vielmehr werde nur der Umfang des Beweismaßes zugunsten der schützenswerten<br />

Belange tangiert. Allerdings kann das anerkannte Instrument der<br />

Beweislastumkehr in einzelnen Vorsorgebereichen durchaus explizit geregelt<br />

werden. In allen übrigen Fällen ist der Unschädlichkeitsbeweis des Risikoverantwortlichen<br />

zwar hilfreich, aber nicht allentscheidend704 .<br />

<strong>Die</strong> Normtheorie sieht die Beweislast bei demjenigen, der sich auf eine begünstigende<br />

Norm beruft705 . <strong>Die</strong>ser Ansatz verkennt aber das öffentliche Interesse<br />

an der Durchsetzung dieses dann immer benachteiligten Individualinteresses,<br />

wie es beispielsweise bei Ermöglichung des technischen Fortschritts<br />

i.Z.m. Anlagengenehmigungen der Fall sein kann. Im Übrigen stößt<br />

die Normtheorie auf ganz grundsätzliche Kritik, da sie letztlich allein auf die<br />

Erfüllbarkeit des Normzwecks abstellt und die verfassungsrechtlichen Positionen<br />

der Betroffenen gänzlich außer Acht lässt706 . <strong>Die</strong> gleiche Kritik ist am<br />

702 Vgl. BVerfGE 65, 1, 64, 19, 342, 249, 17, 306, 314<br />

703 Calliess, DVBl. 2001, S. 1725, 1732<br />

704 So im Ergebnis auch Erben (FN 530), S. 263, 265<br />

705 So in Teilen BVerwG, BVerwGE 47, 331 (339); 61, 176 (189)<br />

706 So z.B. Nierhaus (FN 689), S. 246<br />

188


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

BVerwG-Ansatz zu üben, der auf die Stellung im Prozess abstellt707 . <strong>Die</strong><br />

Beweislast würde danach von Zufälligkeiten abhängen, mithin der Frage,<br />

wer sich von einer Behördenentscheidung belastet fühlt und als Kläger auftritt708<br />

. Da die genannten Ansätze kaum befriedigen können, wird, soweit es<br />

dabei um die Risiken neuer Technologien geht, häufig der Versuch einer Bezugnahme<br />

auf die wissenschaftlichen Grenzwerte unternommen, auch unter<br />

Hinzuziehung von Risikozuschlägen oder -abschlägen. Ein einheitliches<br />

Konzept lässt sich daraus aber nicht ableiten709 .<br />

Vertreter der Sphärentheorie orientieren sich dagegen an der Beweisnähe,<br />

Verantwortungsbereichen und Einflusssphären der Betroffenen710 . <strong>Die</strong>s ermöglicht<br />

eine abgestufte bzw. differenzierte Lösung, die den unterschiedlichen<br />

Interessen bei wissenschaftlich-technisch darstellbaren Prognosen zur<br />

Schädlichkeit einer Handlung angemessen scheint. Wenn der Risikoverursacher<br />

nicht mit einem hinreichenden Wahrscheinlichkeitsgrad das Nichteintreten<br />

eines Schadens begründen kann, muss er den Vorsorgeeingriff dulden.<br />

Es wird dabei aber auch an die o.g. Ausführungen zum Beweismaß bei<br />

Prognoseentscheidungen angeknüpft. Aufgrund der notwendigen Entgegnung<br />

auf herabgesetzte Beweisanforderungen besteht damit zumindest faktisch<br />

eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung. Dabei wird auch ein Anreiz<br />

gesetzt, dass der Risikoverantwortliche die Folgen seines Tuns überprüft<br />

und dokumentiert711 .<br />

<strong>Die</strong> Berücksichtigung des Sphären- bzw. Verantwortlichkeitsgedankens ergibt<br />

sich auch aus verfassungsrechtlichen Geboten des effektiven Rechtsschutzes<br />

und des fairen Verfahrens bzw. des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz<br />

abgeleiteten Gebotes der Waffengleichheit. <strong>Die</strong>se Lösung wird<br />

auch in der schon zuvor erwähnten Kommissionsmitteilung angeregt, wonach<br />

die Last der weiteren Gefahrenerforschung dem wirtschaftlichen Nutznießer<br />

des Handelns aufzuerlegen sei, wenn dies im Einzelfall zumutbar erscheint.<br />

Der Ansatz schafft für den Vorsorgeadressaten zudem Anreize, die<br />

Folgen seines Handelns zu hinterfragen und mit ihm verfügbaren Mitteln zu<br />

erforschen. Hierbei erfolgt eine verfahrensmäßige Rationalisierung der Erkenntnisdefizite<br />

hin zum Begriff des Risikomanagements, der sich in der<br />

materiellen Entscheidung niederschlägt. Wie beim Gefahrenbegriff wird<br />

damit im Risikobereich an (Un-) Wahrscheinlichkeiten angeknüpft, die die<br />

707 Dazu beispielhaft Urteil v. 18.04.1956, BVerwGE 3, 245 ff.<br />

708 So Dahlinger, NJW 1956, S. 2957<br />

709 Eingehend dazu Nierhaus (FN 689), S. 414 ff.<br />

710 Dazu ebenda, S. 430 ff.<br />

711 Vgl. Calliess, DVBl. 2001, 1725, 1733, das bestätigend Erben, a.a.O., S. 265<br />

189


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Grundrechte der Beteiligten im Kern schützen und einer weitergehenden<br />

Verantwortungszuweisung Grenzen setzen soll. <strong>Die</strong>s mag zwar vor dem<br />

Hintergrund von Erkenntnisdefiziten nicht befriedigen, ermöglicht aber auch<br />

bei der Beweislastfrage die notwendige Abwägung bzw. den Ausgleich aller<br />

Interessen. Letztlich kommt es zu einer Wechselwirkung von materiellem<br />

Recht für die prozessuale Beweislastfrage und insoweit wiederum zum Einfluss<br />

auf die Durchsetzbarkeit des materiellen Rechts712 . Rechtsgütergewichtung,<br />

Rechtsfolgenabwägung und Beweislast gehen daher ineinander über.<br />

Letztlich wird bei der risikoorientierten Vorsorge im Vergleich zur Gefahrenabwehr<br />

das behördliche Einschreiten unterhalb der dort etablierten<br />

Schwelle ermöglicht. Der drohende Schaden für besonders hochwertige<br />

Rechtsgüter bzw. Gemeinwohlbelange rechtfertigt im Sinne der Je-desto-<br />

Formel eine noch geringere Anforderung an die Prognose713 . Wenngleich ein<br />

Wahrscheinlichkeitsurteil aufgrund von Erkenntnisdefiziten nicht darstellbar<br />

ist, sollen ein plausibel dargelegter Verdacht bzw. die Möglichkeit eines<br />

Schadens genügen. Soweit der Behörde ein Entscheidungsspielraum zugebilligt<br />

wird, verschiebt sich die Qualität der Beweispflicht weg von einer<br />

Nachweispflicht hin zu einer Plausibilitätskontrolle der behördlichen Erwägungen,<br />

entsprechendes gilt für die Begründungsanforderungen.<br />

<strong>Die</strong>se Darlegungen sind allerdings durch den betroffenen Risikoverantwortlichen<br />

widerlegbar. Im technischen Sicherheitsrecht wird auf der Grundlage<br />

standardisierter Eingriffsschwellen regelmäßig eine gesetzliche Vermutung<br />

für das Bestehen einer Risikolage aufgestellt. Mit Hilfe von Grenzwerten<br />

oder technisch-wissenschaftlichen Regelwerken wird dadurch eine eingeschränkte<br />

Beweislastumkehr zu Lasten des Eingriffsadressaten statuiert.<br />

Hierbei handelt es sich um widerlegbare Vermutungen714 . <strong>Die</strong>s entspricht in<br />

aller Regel auch dem Sphärengedanken. <strong>Die</strong> bereits erwähnten normkonkretisierenden<br />

Vorschriften dienen also nicht nur der verfassungskonformen<br />

Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, sondern nehmen auch eine entsprechende<br />

Beweislastverteilung vorweg. Auch an dieser Stelle hat die bereits<br />

erörterte Wyhl-Entscheidung des BVerfG erhebliche Bedeutung erlangt.<br />

Nach den dort getroffenen Ausführungen trägt die Exekutive nach der<br />

Normstruktur des einschlägigen Tatbestandes Verantwortung für die Risikoermittlung<br />

und -Bewertung. Sie muss sich dabei aber an die vorgegebenen<br />

Maßstäbe halten715 . Im Falle der Erkenntnisdefizite dürfte es z.B. den betroffenen<br />

Anlagenbetreiber regelmäßig schwer fallen, den Beweis des Nichtvor-<br />

712 Bestätigend Kokott (Fn 596), S. 484<br />

713 Di Fabio (FN 577), S 208 f.<br />

714 Nierhaus (FN 689), S. 390<br />

715 BVerfGE 72, 300, 316, 321<br />

190


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

handenseins eines Risikos zu erbringen. Dennoch ist dies im Sinne der o.g.<br />

Sphärentheorie möglich, wenn eine fehlerhafte Bewertung der Verwaltung<br />

nachgewiesen würde.<br />

cc) Beweislast und Verfassung<br />

Nachdem der Zusammenhang von materieller Rechtsposition und Beweislast<br />

deutlich wurde, soll noch einmal der Frage nachgegangen werden, welchen<br />

konkreten Einfluss die Verfassungsprinzipien und die jeweils betroffene<br />

Grundrechtsposition auf die Beweislast haben. Bereits bei den gesetzlichen<br />

Mitwirkungs- bzw. Nachweispflichten wurde angedeutet, dass diese,<br />

wie die gesamte Eingriffsnorm, verfassungskonform ausgestaltet werden<br />

müssen. <strong>Die</strong> Notwendigkeit der Wertung betroffener Rechtspositionen ergibt<br />

sich aufgrund der materiellen Wirkung für die objektive Beweislastverteilung<br />

als Ganzes. Wegen des Zusammenhangs des materiellen Grundrechtsschutzes<br />

und der Beweislastverteilung ist eine Wertung erforderlich, welche<br />

die Fragen des Gesetzvorbehaltes und des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs.<br />

3 und 19 Abs. 4 GG) bzw. der Verhältnismäßigkeit hinreichend berücksichtigt716<br />

. Deshalb muss auch die Beweislastfrage in die Abwägung der verfassungsmäßigen<br />

Rechtspositionen einbezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht<br />

spricht insoweit vom Grundsatz der Waffengleichheit im Prozess<br />

und der gleichmäßigen Verteilung des Verfahrensrisikos717 . Der Handlungsspielraum<br />

der Verwaltung wird somit prozedural begrenzt.<br />

<strong>Die</strong> vergleichbare Wirkung fehlerhafter Tatsachenaufklärung und lückenhafter<br />

Sachverhaltsermittlung spricht für jeweils einschlägige Grundrechtsverletzungen.<br />

Insoweit muss der verfassungsrechtlichen Determinierung von<br />

Beweislastnormen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden718 . Hierbei<br />

muss die Reichweite und damit auch die Wertigkeit der in Rede stehenden<br />

Rechtsgüter berücksichtigt werden. Der bei Eingriffen vorhandene Konflikt<br />

zwischen Allgemeinwohl und Individualinteresse muss nach den Vorgaben<br />

des konkret anzuwendenden Normtatbestandes gelöst werden. Es wird aber<br />

auch vertreten, dass sich aus den Freiheitsgarantien der Verfassung selbst<br />

Beweislastregeln ableiten ließen. <strong>Die</strong> Reichweite der materiellen Grundrechtsgeltung<br />

werde durch das geforderte Beweismaß bezüglich der Gefahr<br />

bestimmt. <strong>Die</strong> Abwägung, welches der betroffenen Rechte zurücktreten<br />

muss, sei deshalb für jedes Grundrecht einzeln festzustellen und müsse verfassungsmäßig<br />

interpretiert werden. Dabei käme bei Prognoseentscheidun-<br />

716 Rengeling, DVBl. 2000, 1473, 1479 mit Verweis auf Di Fabio (FN 577), S. 203 ff.<br />

717 BVerfGE 52, 131 (144 ff.)<br />

718 Nierhaus (FN 689), S. 21<br />

191


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

gen die Parallelität von Beweis- und Prognoselast zum Tragen. <strong>Die</strong> einheitliche<br />

Grundrechtsgewährleistung erfordere dabei, bei Erkenntnisdefiziten<br />

bezüglich zurückliegender Tatsachen genau die gleichen Maßstäbe anzuwenden<br />

wie bei durch zusätzliche Kausalitätsunsicherheiten geprägten Zukunftsprognosen719<br />

.<br />

<strong>Die</strong>ser Ansatz könnte im Zusammenhang mit der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

durchaus weiterführend sein. Hierbei wird, wie schon erwähnt, auf Berufsausübungsfreiheit,<br />

Eigentumsgarantie und allgemeine Handlungsfreiheit<br />

Bezug genommen. <strong>Die</strong> dabei möglicherweise vertretbaren Grundsätze zu<br />

Beweislast- und -maß können anhand der Rechtsprechung aus anderen Regelungsbereichen<br />

verdeutlicht werden. Beim Umweltrecht, respektive Atomrecht,<br />

ist wie bei der Exportkontrolle die aus den Rechtspositionen der<br />

Art. 12 und 14 GG abgeleitete Wirtschaftsfreiheit berührt. Im technischen<br />

Sicherheitsrecht sowie auch bei Exportkontrollen bezieht sich die Eingriffsermächtigung<br />

des Staates auf den Schutz des Rechts auf Leben nach Art. 2<br />

Abs. 2 GG. <strong>Die</strong> genannten Freiheiten werden dabei aufgrund von Gemeinwohlinteressen<br />

durch Gesetz beschränkt. <strong>Die</strong> Vermutung einer Risikosituation<br />

nach § 7b Abs. 2 Satz 3 AtomG und der Eingriff in die Position des Anlagenbetreibers<br />

geht aber sehr weit. <strong>Die</strong>s erscheint wegen des Schutzes des<br />

hochwertigen Rechtsgutes in Art. 2 Abs. 2 GG gerechtfertigt, auch weil es<br />

im Atomrecht eine konkrete Risikolage für das Umfeld der Anlage und die<br />

dortige Nachbarschaft gibt. Der Eingriff ist daher durchaus geeignet, erforderlich<br />

und angemessen. Gleichwohl hängt die Beweislast auch von der<br />

Klageart ab, also demjenigen der sich auf das Rechtsgut des Art 2 Abs. 2 beruft.<br />

So wurde im Fall der hier regelmäßig einschlägigen Anfechtungsklage<br />

gegen die erteilte Genehmigung bereits geprüft, ob eine Risikosituation vorliegt.<br />

Mit Genehmigungserteilung wird dies verneint. Hier muss der Anfechtungskläger<br />

diese Feststellungen entkräften720 . An dem Beispiel wird deutlich,<br />

dass die prozessuale Lage sehr wohl Einfluss auf die Beweislast hat.<br />

<strong>Die</strong>ses Ergebnis ist aber nicht Ausfluss des Grundrechtes selbst, sondern der<br />

Normstruktur und Prozesssituation. Hier geht es um die Widerlegung bereits<br />

dargelegter Tatsachen und Wertungen durch den Anlieger. <strong>Die</strong>s entspricht<br />

den Ergebnissen der Beweislastverteilung durch die Sphärentheorie und gesetzliche<br />

Vermutungen.<br />

Wenngleich Wortlaut und Struktur der grundrechtlichen Freiheitsgarantien<br />

demnach nicht generell eine Beweislastregel entnommen werden kann, bie-<br />

719 Kokott (Fn 596), S. 107, 113<br />

720 Mit dem Versuch, eine funktionale und differenzierte Durchsetzungskraft der Grundrechtsposition<br />

zu begründen: Kokott (Fn 596), S. 157<br />

192


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

ten die folgenden Beispiele aus dem Gewerbe- und Asylrecht durchaus Anhaltspunkte<br />

für die Ausstrahlungswirkung betroffener Rechtspositionen und<br />

den Zusammenhang mit der Normstruktur. Beim Genehmigungserfordernis<br />

nach § 35 GewO spielt die Berufsausübungsfreiheit in Ausgestaltung der<br />

Gewerbefreiheit eine wesentliche Rolle. Zweckmäßigkeitserwägungen, mithin<br />

vernünftige Gemeinwohlgründe, rechtfertigen nach der im Apothekenurteil<br />

begründeten Stufentheorie des BVerfG solche Berufsausübungsregelungen,<br />

wie sie sowohl bei der Gewerbegenehmigungspflicht als auch bei genehmigungspflichtigen<br />

bzw. unterbundenen Ausfuhren vorliegen721 . Anders<br />

als im Atomrecht, wird aber nach § 35 GewO über die Verwendung des unbestimmten<br />

Rechtsbegriffs der Zuverlässigkeit des Rechtsinhabers eine Inanspruchnahme<br />

der Gewerbefreiheit unter Berücksichtigung der Gemeinwohlbelange<br />

grundsätzlich ermöglicht. <strong>Die</strong> Beweislast hinsichtlich der Unzuverlässigkeit<br />

liegt regelmäßig bei der Behörde, kann aber je nach Maß der<br />

drohenden Schäden auf den Antragsteller übergehen. Um dieser Beweislastregelung<br />

auch zur Geltung zu verhelfen, müssen die Anforderungen an die<br />

behördlichen Voraussetzungen zum unbestimmten Rechtsbegriff verhältnismäßig<br />

sein722 . Für die fehlende Zuverlässigkeit benötigte gegenwartsbezogene<br />

Tatsachen ermöglichen eine pauschalierte Prognose in Form einer Gefährlichkeitsvermutung.<br />

Bezüglich einer trotz Zuverlässigkeit bestehenden<br />

Gefährdung des Gemeinwohls trifft dann die Verwaltung erst recht die Beweislast.<br />

<strong>Die</strong> Voraussetzungen des Eingriffstatbestands sind damit grundsätzlich<br />

durch die Verwaltung nachzuweisen, damit auch die betroffenen<br />

Gemeinwohlinteressen.<br />

Im menschenrechtsrelevanten Asylrecht nach Art. 16 GG geht es wie bei<br />

Exportkontrollen um die Prognose für eine Gefährdungslage außerhalb des<br />

Hoheitsbereiches der Bundesrepublik Deutschland, hier für den Asylanten<br />

im Heimatstaat. <strong>Die</strong> Besonderheit, dass die Kontrolle relevanter Tatsachen<br />

der deutschen Hoheitsgewalt entzogen sind, führt bezüglich der so genannten<br />

Auslandstatsachen zu einem abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab,<br />

so dass plausible Behauptungen für drohende Menschenrechtsverletzungen<br />

als Nachweis für ausreichend erachtet werden723 . Zwar unterscheiden sich<br />

negative Bedrohungsnachweise von den auf positive Tatsachen gerichteten<br />

Interessen des Antragstellers in der Exportkontrolle. Für die prognostizierte<br />

Verwendung von Ausfuhrlieferungen, insbesondere die dafür maßgeblichen<br />

721 BVerfGE 7, 377 ff., 403 - Apothekenurteil<br />

722 Kokott (Fn 596), S. 316<br />

723 Zusammenfassung der Rechtsprechung des BVerwG, insbesondere mit Blick auf die<br />

Notwendigkeit herabgesetzter richterlicher Überzeugungen bei einem Beweisnotstand:<br />

Bertram, DVBl. 1987, 1181 ff., 1186<br />

193


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Empfängerinformationen lässt sich aber der Rückschluss ziehen, dass zumindest<br />

außerhalb bilateraler zwischenstaatlicher Vereinbarungen die Vorlage<br />

ausländischer Nachweisdokumente, wie z.B. von Urkunden, Bildern,<br />

Zeichnungen oder auch Behördenbestätigungen, nicht verlangt werden kann.<br />

Im Ergebnis sind die grundrechtsrelevanten Züge der Beweislastverteilung<br />

unverkennbar. <strong>Die</strong> Ausgestaltung der einschlägigen Regelungen ist aber regelmäßig<br />

Ausfluss der jeweiligen Grundrechtsschranken und Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung,<br />

so auch des Über- und/oder Untermaßverbotes724 ,<br />

worauf in der Folge noch näher eingegangen wird. Systematisch stehen<br />

Grundrechtsgeltung, Gesetzesvorbehalt und Tatbestandsmäßigkeit des Verwaltungshandelns<br />

wegen der materiellen Wirkung der Beweislastfrage in einem<br />

untrennbaren Zusammenhang725 . <strong>Die</strong> bei der Prüfung des Vorsorgeanlasses<br />

verortete Beweislastfrage ist deshalb bei Risikotatbeständen und damit<br />

verbundenen Erkenntnisdefiziten von erheblicher Bedeutung. Eine abschließende<br />

Wertung der Sachverhaltsfeststellungen erfolgt aber erst bei der<br />

Rechtsfolgenabwägung.<br />

d) Ergebnis<br />

Bei Erkenntnisdefiziten ist die Beweislast für die Verwaltungsentscheidung<br />

bedeutend. Pauschale Lösungen verbieten sich, da die Interessen aller Beteiligten<br />

dann nicht berücksichtigt werden könnten. <strong>Die</strong> Beweislast wird von<br />

der Gewichtung der einschlägigen Grundrechte abhängig gemacht. <strong>Die</strong> deshalb<br />

anzuwendende Sphärentheorie geht von verschiedenen Bereichen der<br />

Risikoverantwortung aus. <strong>Die</strong> Zuweisung dieser Verantwortungsbereiche<br />

beinhaltet eine normative Abwägungskomponente.<br />

3. Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses<br />

Nachdem der grundsätzliche Handlungsbedarf des Gesetzgebers oder der<br />

Verwaltung festgestellt wurde, muss über die Ausgestaltung der Vorsorge<br />

befunden werden. Der Vorsorgeanlass bezieht sich auf das „ob“ eines Vorsorgebedarfs,<br />

nicht aber die Frage der Ausgestaltung dieser Vorsorge. <strong>Die</strong><br />

entsprechende Rechtsfolgefrage befasst sich mit den äußeren Grenzen der<br />

Risikoprävention und ergibt sich aus verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das<br />

Vorsorgeprinzip beinhaltet aber kein Verfassungsprinzip in Form einer generellen<br />

Eingriffsermächtigung, seine Anwendung unterliegt vielmehr den<br />

724 Calliess, DVBl. 2001, 1725, 1733,<br />

725 Kokott (Fn 596), S. 143, dazu auch Calliess (FN 288), S. 234 f. und Berg (FN 693),<br />

S. 100 ff.<br />

194


III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />

gleichen Anforderungen und Kontrollmaßstäben wie alle anderen staatlichen<br />

Eingriffe. Dazu gehören der Aspekt des konkreten Vorsorgeziels und daraus<br />

entwickelte Konzepte. <strong>Die</strong> auf Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgebot<br />

zurückgehende Notwendigkeit einer entsprechend hinreichenden Tatbestandskonkretisierung<br />

und die damit verbundenen Entscheidungskriterien<br />

und Leitlinien wurden bereits im Rahmen der Bewertung im Vorsorgeanlass<br />

bzw. des entsprechenden Risikomanagements erörtert. Hierbei geht es um<br />

ein Schutzkonzept und Kriterien und Richtlinien für die Risikoschwelle.<br />

Daraus resultiert eine Selbstbindung der Verwaltung, welche eine längerfristige<br />

Geltung und effiziente Umsetzung des Vorsorgeziels sicherstellt. So<br />

wird die Verwaltungsentscheidung nicht vom Einzelfall abhängig gemacht726<br />

.<br />

Neben diesem Bestimmtheitsaspekt müssen die Grundrechte der Beteiligten,<br />

insbesondere die Eingriffsschranken, beachtet werden. Insoweit gelten für<br />

Vorsorgemaßnahmen die gleichen Maßstäbe wie für alle sonstigen staatlichen<br />

Rechtseingriffe, z.B. der Gleichbehandlungsgrundsatz. <strong>Die</strong> Frage der<br />

Verhältnismäßigkeit der Vorsorgemaßnahmen, insbesondere der möglichen<br />

Eingriffsalternativen, hat an der Stelle besondere Bedeutung. Anhand des<br />

Vorsorgeziels muss, neben den Aspekten des Einzelfalls, auch die Wechselwirkung<br />

mit dem Schutzkonzept der Vorsorge als Ganzes betrachtet werden.<br />

Im Genehmigungsverfahren muss festgestellt werden, welcher Eingriff gegenüber<br />

dem Antragsteller verhältnismäßig erscheint. Mit Blick auf die vorhandenen<br />

Instrumente zur Verhaltenssteuerung muss dies nicht zwingend<br />

eine Ablehnung der Genehmigung sein, sondern kann beispielsweise i.V.m.<br />

Auflagen, Bedingungen und nachträglichen Behördenkontrollen durchaus<br />

auch mit der Genehmigungserteilung einhergehen.<br />

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung muss auch der Adressat der<br />

Vorsorgemaßnahme festgestellt werden. Wie beim Gefahrenabwehrrecht<br />

auch, bedarf es bei der Risikoprävention eines Störers, dem das Risiko zuzurechnen<br />

ist. <strong>Die</strong> Zurechnung des Risikos zu bestimmten Rechtsträgern wirft<br />

um so eher Schwierigkeiten auf, je mittelbarer der drohende Schaden ist.<br />

Hinzu kommen die risikoimmanenten Erkenntnisdefizite, die auch auf die<br />

Risikoverantwortung, also den Schaden, gerichtet sein können. Vorsorgeziel<br />

und Risikobewertung müssen deshalb verknüpft werden. <strong>Die</strong> Adressatenauswahl<br />

erfolgt mittels einer wertenden Betrachtung, welcher Verursachungsbeitrag<br />

dem Schadenpotenzial am nächsten steht727 . Im Genehmigungsverfahren<br />

geht es dabei konsequenterweise um eine Wertung, ob der<br />

726 Calliess (FN 288), S. 237<br />

727 Wahl, in: ders. (FN 300), S. 134 f.<br />

195


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Risikobeitrag des Antragstellers zu missbilligen ist oder nicht. Im Rahmen<br />

der Rechtsfolgenabwägung muss aber neben der am besten geeigneten<br />

Maßnahme auch sichergestellt werden, dass es keine Alternative zum Eingriff<br />

gegenüber dem Antragsteller gibt.<br />

Welche Instrumentarien dem Ausgleich der Interessen aller Beteiligten am<br />

besten dienen können, bedarf einer weiteren Untersuchung. <strong>Die</strong>s muss insbesondere<br />

vor dem Hintergrund der über das Gemeinwohl definierten staatlichen<br />

Sicherheitsaufgabe und darauf begründeten Schutzpflichten für Dritte<br />

geschehen.<br />

4. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

<strong>Die</strong> strukturelle Prüfung von Eingriffen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips<br />

lässt sich wie folgt zusammenfassen. Um eine effektive Risikoprävention<br />

bzw. Vorsorge sicherzustellen, müssen die Eingriffsparameter für alle<br />

Beteiligten hinreichend deutlich sein. Unter Nutzung von Standardisierungsinstrumenten<br />

und allen verfügbaren Verfahrensoptionen zur direkten<br />

und indirekten Verhaltenssteuerung der Beteiligten erfolgt die möglichst<br />

weitgehende Sachverhaltsermittlung und Bewertung. Nach Feststellung des<br />

Vorsorgeanlasses und damit einhergehender Beweislastfragen kommt es zur<br />

Rechtsfolgenabwägung unter Gewichtung der einschlägigen Verfassungsgüter.<br />

Dabei besteht regelmäßig eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung<br />

zu Lasten des Betroffenen. <strong>Die</strong> Reichweite seiner Risikoverantwortung ist<br />

ebenfalls von der Gewichtung der einschlägigen Rechtspositionen abhängig.<br />

<strong>Die</strong> Beweislastfrage hat also wertenden Charakter. Im Rahmen der Rechtsfolgenabwägung<br />

wird, neben den insoweit zu bestimmenden Schranken der<br />

Grundrechtspositionen der Beteiligten, die Einhaltung allgemeiner Verfassungsprinzipien<br />

geprüft.<br />

IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

Das Vorsorgeprinzip reflektiert auf Verwaltungsrechtsebene die Dynamik<br />

des beim Sicherheitsbegriff beschriebenen gesellschaftlichen Wandels. Vergleichbares<br />

leistet die Schutzpflicht rechtsdogmatisch auf Verfassungsebene.<br />

<strong>Die</strong> im liberalen Staatsmodell bestehende Erwartung, dass Rechtsgleichheit<br />

und Interessenausgleich durch eine umfassend gewährte Privatautonomie erfüllt<br />

werden können, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Für die Herstellung<br />

des gesellschaftlichen Kräftegleichgewichts erfolgte schon bei der industriellen<br />

Revolution ein verstärkter Ruf nach dem Staat. Freiheiten und<br />

Eigentum wurden in der Folge wieder eingeschränkt. <strong>Die</strong>ser bereits Anfang<br />

196


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

des 19. Jahrhunderts eintretende „Klimawandel des Geistes“ wird auf die<br />

Verwirrung der Gesellschaft durch revolutionäre Umstürze zurückgeführt.<br />

Sie waren Folge der Aufklärung und des Überflusses der individuellen Unabhängigkeit<br />

728 . <strong>Die</strong>se Tendenz macht sich gegenwärtig wieder verstärkt<br />

bemerkbar, die Funktionen des Staates wandeln sich. <strong>Die</strong> Prävention greift<br />

immer weiter in die Privatsphäre der Bürger ein. Repressive Bereiche erscheinen<br />

als Auffangbecken missglückter Prävention 729 . <strong>Die</strong> gesellschaftlichen<br />

Sicherheitserwartungen werden durch die Erweiterung des Grundrechtsverständnisses<br />

so bedient, dass sie in eine Bestandsgarantie für individuelle<br />

Rechtspositionen münden. Schließlich können repressive Maßnahmen<br />

eingetretene Schäden oft nicht wieder gut machen. Indem jede auf<br />

staatliches Handeln zurückzuführende Wirkung als Eingriff interpretiert<br />

werden kann, könnten andere Freiheitsrechte zurückgedrängt werden. Es<br />

stellt sich daher die Frage, inwieweit sich aus den staatlichen Schutzpflichten<br />

subjektiv-öffentliche Ansprüche ergeben, wie diese in Relation zu den<br />

Belangen des Freiheitsgebrauchs beim Begünstigten zu gewichten sind und<br />

nach welchem Mechanismus alle Beteiligteninteressen zum Ausgleich gebracht<br />

werden können.<br />

1. Subjektiv öffentlicher Anspruch auf Sicherheit<br />

<strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit wird mit den grundrechtlichen Schutzpflichten<br />

subjektiviert730 . Eine Symmetrie von grundrechtlichen Abwehrrechten und<br />

Schutzpflichten besteht danach noch nicht. <strong>Die</strong> Rechtmäßigkeit staatlichen<br />

Handelns wird zunächst über die Dogmatik des Eingriffsschemas festgestellt.<br />

<strong>Die</strong> Grundrechte fokussieren zunächst auf die status-quo-Erhaltung<br />

zugunsten des Eingriffsadressaten und unterliegen insoweit der gerichtlichen<br />

Kontrolle. Der Belang eines vom Freiheitsgebrauch betroffenen Dritten wird<br />

dabei nur mittelbar berücksichtigt. Er bleibt regelmäßig in der schwächeren<br />

Position. <strong>Die</strong>s ist in der faktischen Nachweispflicht begründet, warum ein<br />

bestimmtes staatliches Handeln für den eigenen Schutz erforderlich ist731 .<br />

Um dem festgestellten Doppelcharakter der Grundrechte gerecht zu werden,<br />

bedarf es der Einbeziehung ihrer Schutzdimension bei der Lösung von Konfliktfällen.<br />

Ob der festgestellten grundrechtlichen Schutzdimension die Qualität eines<br />

durchsetzbaren subjektiv-öffentlichen Rechts zugebilligt werden kann, wird<br />

728 Gerhardt, „Geist der Freiheit“, <strong>Die</strong> Welt v. 21. April 2007<br />

729 Grimm (FN 609), S. 198, 202<br />

730 Vgl. Teil 3 II.3.b)<br />

731 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538), Bd. II, § 44 Schutzpflichten, Rn 9 ff.<br />

197


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

unterschiedlich beurteilt732 . <strong>Die</strong> Abwehrfunktion der Grundrechte könne zugunsten<br />

des Betroffenen durch die Zurechnung privaten Verhaltens an den<br />

Staat aktiviert werden. Dem Staat sei aufgrund der ihnen immanenten objektiven<br />

Wertentscheidung eine Garantenstellung zugewiesen. Voraussetzung<br />

dafür wäre allerdings, dass er ein die Grundrechte Dritter beeinträchtigendes<br />

Gebrauchmachen von Freiheiten erlaubt733 . <strong>Die</strong>se Position kommt einer subjektiven<br />

Schutzfunktion sehr nahe. Das BVerfG scheint dies zu bestätigen,<br />

denn es sieht einen Grundrechtseingriff beim Betroffenen und daraus resultierende<br />

Schutzpflichten des Staates wegen der genehmigungsbedingten<br />

Mitverantwortung734 . Allerdings müsste an dieser Stelle auch eine Rolle<br />

spielen, wie unmittelbar die Genehmigung auf eine rechtsverletzende Handlung<br />

wirkt. So dürften Bauprojekte mit Nachbarschaftsrelevanz eine andere<br />

Qualität der Beeinträchtigung haben als Gewerbegenehmigungen, die erst<br />

mittelbar zu Schäden führen können, z.B. durch die spätere Lagerung gefährlicher<br />

Produkte.<br />

Das BVerfG nennt konsequenterweise Bedingungen, die für eine Schutzpflicht<br />

erfüllt sein müssen735 . Danach können die verfassungsrechtlichen<br />

Schutzpflichten eine rechtliche Ausgestaltung von Regelungen so gebieten,<br />

dass die Gefahr von Grundrechtsverletzung eingedämmt bleibt. Ob, wann<br />

und welchen Inhaltes der Gesetzgeber tätig werden soll und darf, hänge von<br />

der Art, Nähe und dem Ausmaß der möglichen Gefahren ab, aber auch vom<br />

Rang des geschützten Rechtsgutes und den bestehenden Regelungen. In seinem<br />

C-Waffen-Beschluss geht das BVerfG dagegen, unabhängig von der<br />

Mitverantwortungsfrage, von einem subjektiv-öffentlichen Recht auf staatliches<br />

Handeln aus und bejaht eine Klagebefugnis des betroffenen Dritten.<br />

Voraussetzung sei, dass Schutzmechanismen zugunsten seines Belangs offensichtlich<br />

fehlen oder unzureichend sind736 .<br />

<strong>Die</strong>ses Ergebnis deckt sich mit der ultima-ratio-Funktion der grundrechtsbezogenen<br />

Schutzpflicht. Wenn bereits die Ermöglichung von Rechtsverletzungen<br />

durch den Staat zur Grundlage für einen Schutzanspruch privater<br />

Dritter gemacht wird, zeigen sich allerdings dogmatische Schwächen dieses<br />

732 Zur Definition subjektiver Rechte und dem Drei-Stufen-Modell betreffend Rechtsgrund,<br />

Begründung der Rechtsposition und Durchsetzbarkeit des subjektivrechtlichen<br />

Anspruchs: Alexy (FN 341), S. 163<br />

733 Di Fabio (FN 577), S. 464<br />

734 BVerfGE 53, 30, 58 - Mülheim-Kärlich<br />

735 BVerfGE 49, 24, 56 f. - Kalkar<br />

736 BVerfGE 77, 170, 214 ff.<br />

198


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

Ansatzes, die sich gerade bei bloßer Untätigkeit des Staates aufdrängen737 .<br />

Der berechtigte Grund für die Skepsis gegenüber dem Garantenansatz wird<br />

beim Genehmigungsfall wie beim Förderungsfall deutlich, also bei Veranlassung<br />

privaten Handelns durch den Staat. Hierzu soll auch der Duldungsfall<br />

zählen, wonach der Staat eine Mitverantwortung für nicht verbotene<br />

Handlungen übernimmt. Es kommt so zur Überdehnung der Eingriffsdefinition,<br />

in dem faktisch jedes private Handeln einer staatlichen Grundrechtsbeeinträchtigung<br />

gleichgesetzt wird. Hiergegen bestehen erhebliche dogmatische<br />

Bedenken738 . Der Ansatz führt zu einer umfassenden Umkehrung der<br />

Rechtfertigungslast bei Grundrechtseingriffen. Jeder Freiheitsgebrauch<br />

stünde dann faktisch unter dem Vorbehalt der Zustimmung eventuell betroffener<br />

Dritter. Auch die Zurechnung privaten Verhaltens in Kombination mit<br />

einem Eingriff, z.B. in die Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, führte zu<br />

einem kaum abgrenzbaren Schutzbereich, so dass die Effektivität der Verwaltung<br />

und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ernsthaft in Frage gestellt<br />

würde739 . <strong>Die</strong> ausufernde Subjektivierung der staatlichen Sicherheitsaufgabe<br />

ermöglicht den Export der Grundrechte Dritter in das Gemeinwohl, der die<br />

Legitimation staatlicher Eingriffe in unangemessener Weise erleichtert. Der<br />

Staat könnte sich quasi nach Belieben auf private Einzelinteressen berufen,<br />

wenn er die Freiheiten seiner Bürger einschränkt. Das System der abgestuft<br />

unter Vorbehalt stehenden Grundrechte und ihrer Schranken wäre auf diese<br />

Weise sinnentleert. <strong>Die</strong> generelle Anerkennung einer drittschützend wirkenden<br />

Schutzpflicht über die Erweiterung des Eingriffsbegriffs ist daher ebenso<br />

wie das Mitverantwortungsprinzip abzulehnen.<br />

Eine Schutzpflicht kann daher nur bejaht werden, wenn eine nicht unerhebliche<br />

Einwirkung durch einen privaten Dritten auf das Schutzgut stattfindet,<br />

also ein gegenwärtiger, drohender oder potenziell möglicher Eingriff in Rede<br />

steht, der mit dem abstrakten Besorgnispotenzial einer Risikosituation<br />

korrespondiert740 . <strong>Die</strong> dogmatische Verankerung eines subjektiv-rechtlichen<br />

Anspruchs kann daher allein in der auf staatlichen Sicherheitsgewährleistungen<br />

beruhenden Schutzpflicht begründet werden und entspricht dem<br />

Grundverständnis der dem Staat vorbehaltenen Aufgabe der Gefahrenabwehr,<br />

insbesondere, wenn es um die körperliche Unversehrtheit des Art. 2<br />

Abs. 2. GG geht und ein anderweitiger Schutz nicht erreichbar scheint741 .<br />

737 So Di Fabio ( FN 577), S. 48, s.a. Lübbe-Wolf, Grundrechte als Eingriffsabwehrrecht,<br />

S. 178 ff.<br />

738 Dazu Calliess (FN 288), S. 427<br />

739 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538) Band II, § 44 Schutzpflichten, Rn 14<br />

740 Murswiek (FN 545), S. 80 ff. , 281<br />

741 Vgl. Teil 3 IV.2.c)bb), so im Ergebnis auch Di Fabio (FN 574), S. 49<br />

199


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Der staatliche Sicherheitsauftrag bezieht sich daher nicht nur auf die objektiven<br />

Grundrechtsgewährleistungen, sondern auch auf subjektive Ansprüche<br />

der Grundrechtsträger, die einen präventiven Schutz vor drohenden Gefahren<br />

beinhalten. Damit verbunden ist ein Optimierungsgebot der Ergreifung<br />

effektivere Maßnahmen zugunsten von Freiheit und Sicherheit742 . Im Rahmen<br />

der Wesentlichkeitstheorie wird anerkannt, dass sich der Gesetzesvorbehalt<br />

auch auf private Übergriffe gegen Dritte bezieht, also durch die<br />

Schutzpflicht motivierte Eingriffe einer rechtlichen Legitimation bedürfen743<br />

. Wer sich auf die Grundrechte beruft, muss deren Abwehrcharakter<br />

ansprechen. Voraussetzung für ein solches subjektiv-öffentliches Recht ist,<br />

dass anderweitige Schutzmechanismen nicht effizient sind, Störer und Opfer<br />

nicht mit dem Staat identisch sind sowie der Störer im Inland sitzt und so<br />

der deutschen Staatsgewalt unterliegt744 . Staatliche Verantwortung bleibt<br />

demnach die ultima-ratio. <strong>Die</strong>s stellt das BVerfG sicher, indem es eine unmittelbare<br />

Klagebefugnis nur bei offensichtlich unzureichendem Schutz<br />

sieht745 . Beim Umweltrecht beispielsweise ist dieses Risikopotenzial für den<br />

Einzelnen durchaus erkennbar. Rechtsfolge ist je nach Qualität des betroffenen<br />

Rechtsgutes eine Handlungspflicht des Staates, sei es im Rahmen eines<br />

Gesetzgebungsauftrages oder bei der Nachbesserung seiner Gesetze. Hierbei<br />

hat der Gesetzgeber aber einen gewissen Gestaltungsspielraum bzw. legislatives<br />

Ermessen746 .<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine drittschützende subjektivöffentliche<br />

Aktivierung der staatlichen Schutzpflichten nur beim Fehlen einfachgesetzlicher,<br />

den geschützten Belang angemessen berücksichtigende<br />

Normen sowie potenziell erheblichen Rechtsgutverletzungen angenommen<br />

werden kann. So führt z.B. der Freiheitsgebrauch bei einer Kollision mit<br />

gewichtigen Schutzpflichten, wie denen für Leib und Leben, zu einem verfassungsrechtlich<br />

verbürgten subjektiv-öffentlichen Schutzanspruch auf<br />

staatliches Handeln. Alles andere würde ihrer Funktion gegenüber der<br />

selbstverständlich anerkannten subjektiven Abwehrdimension widerspre-<br />

742 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 111 Rn 137 unter Verweis auf Alexy<br />

(FN 341), S. 71 ff.<br />

743 Ausführlich: Calliess (FN 288), S. 450 unter Verweis auf BVerfGE, insbes. BVerfGE<br />

49, 89,16 f. - Kalkar<br />

744 Isensse, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Rn 98, 117, 125, 185, Calliess (FN 288), S.<br />

462; s.a. Darstellung in Teil 3 I.1.c)<br />

745 BVerfGE 77, 170, 215 (vgl. FN 723)<br />

746 Vgl. Calliess (FN 288), S.317<br />

200


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

chen 747 . Wegen des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der<br />

Umsetzung staatlicher Schutzpflichten reichen diese nicht aus, sondern müssen<br />

durch entsprechend gestärkte Verfahrensrechte kompensiert werden. Informations-<br />

und Beteiligungsrechte sowie Rechtsschutzmöglichkeiten für<br />

durch den Freiheitsgebrauch Einzelner betroffene Dritte sind hier von Bedeutung748<br />

. <strong>Die</strong> Kenntnis einer bedrohlichen Handlung ist Voraussetzung dafür,<br />

den Schutz einer Rechtsposition überhaupt geltend machen zu können.<br />

<strong>Die</strong> Gewichtung der Verfahrenskomponente kompensiert Bestimmtheitsdefizite<br />

infolge unbestimmter Rechtsbegriffe und größerer Entscheidungsspielräume<br />

der Verwaltung749 . <strong>Die</strong>s ist zwar primär auf die Sicherung der Rechtsposition<br />

des Freiheitssuchenden gerichtet, beinhaltet aber auch Entscheidungstransparenz<br />

und Kontrolle der Öffentlichkeit, so dass die Interessen<br />

Dritter angemessen gewahrt werden können.<br />

Der verfassungsrechtliche Sicherheitsauftrag begründet demnach eine staatliche<br />

Schutzpflicht, auf die sich ein privater Dritter im Einzelfall berufen<br />

kann. Das Profil der grundrechtlichen Abwehrdimension bleibt wegen der<br />

Beschränkung auf die ultima-ratio-Funktion der staatlichen Schutzpflichten<br />

erhalten, unabhängig von der Qualität staatlicher Mitwirkung. Nach welchem<br />

Schema zwischen den Grundrechtspositionen und sonstigen Belangen<br />

ein Ausgleich geschaffen werden kann, bedarf einer weitergehenden Betrachtung.<br />

2. Auflösung der Interessenkollision durch Abwägung<br />

Das System der Gefahren- und Risikoabwehr beinhaltet typischerweise eine<br />

Umsetzung des Auftrages der erörterten verfassungsrechtlichen Schutzpflichten.<br />

<strong>Die</strong> damit oberhalb des Verwaltungsrechts angesiedelte Dogmatik<br />

muss administrativ umgesetzt werden. <strong>Die</strong>s ist für die Exportkontrollen von<br />

erheblicher Bedeutung, wo vor allem das Recht auf Leben und Gesundheit,<br />

aber auch der allgemeine Sicherheitsauftrag mit den Freiheitsrechten der<br />

Handelnden kollidiert. Auf die betroffenen Grundrechte wurde im Zusammenhang<br />

mit der Außenwirtschaftsfreiheit schon hingewiesen 750 . Eine Be-<br />

747 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538) Bd. II, § 44 Schutzpflichten, Rn 24, im Ergebnis<br />

ebenso Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 111 Rn 8; Alexy (FN<br />

341), S. 418 f. und Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts,<br />

S. 237 ff.<br />

748 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538), Bd.II, § 44 Schutzpflichten, Rn 27 ff. unter<br />

Hinweis auf BverfGE 53,30; 66,61; 82,115 sowie BVerwGE, NVwZ 1985, 745<br />

749 Vgl. Teil 2 III. 2.b)cc) und Teil 3 III.2.b)cc)<br />

750 Vgl. Teil 1 III.3.b)<br />

201


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

zugnahme auf den allgemeinen Begriff der Freiheitsbeschränkung sollte<br />

dem Untersuchungsziel im vorliegenden Abschnitt zunächst genügen.<br />

a) Verhältnismäßigkeit und Risikoverteilung<br />

Bereits anlässlich der Beweislastfrage wurde auf die notwendige Verteilung<br />

der Risikoverantwortung hingewiesen. Das bedarf einer Wertung und Interessenabwägung.<br />

Nach dem Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt entfaltet jeder<br />

Ermächtigungstatbestand eine gewisse Bindungswirkung. Dabei spielt<br />

die Anwendung untergesetzlicher Konkretisierungen eine Rolle751 . <strong>Die</strong> Darlegung<br />

einer relevanten Gefahr bzw. eines Risikos ist deshalb ebenso Voraussetzung<br />

für den rechtmäßigen Eingriff wie die Berücksichtigung der<br />

Schranken, die auf Grund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzuhalten<br />

sind, ganz unabhängig vom Grad der Konkretisierung. <strong>Die</strong> Gefahrenlage betrifft<br />

das Bestehen eines Schutzbedarfs, mithin einer staatlichen Handlungsverpflichtung.<br />

Auf die hierbei wegen des Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsatzes<br />

bestehenden Handlungsspielräume des Gesetzgebers wird<br />

noch näher einzugehen sein. Im Rahmen der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />

wird dann geprüft, ob es beim Eingriff aus Sicht aller Beteiligteninteressen<br />

zu angemessenen Rechtsfolgen kommt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips. Es statuiert eine<br />

Schranke für staatliche Eingriffe in Rechtspositionen des Bürgers752 . Der<br />

Grundsatz ist in allen Mitgliedstaaten der EU anerkannt und wird in den<br />

Entscheidungen des EuGH als Bestandteil des Gemeinschaftsverwaltungsrechts<br />

berücksichtigt753 .<br />

Bei staatlichen Schutzpflichten geht es dagegen um ein staatliches Unterlassen.<br />

Hier muss nicht nur ein Ausgleich der vom möglichen Eingriff betroffenen<br />

Freiheitsrechte und von Gemeinwohlbelangen erfolgen, sondern auch<br />

die Einbeziehung der Rechtspositionen Dritter754 . Es geht um die Frage einer<br />

möglichst ausgewogenen rechtsstaatlichen Verteilung individueller Schutzansprüche,<br />

ohne dabei die die Freiheit sichernde Funktion der Grundrechte<br />

zu unterwandern. Der Sicherheit wird über das Gemeinwohl Verfassungsrang<br />

eingeräumt. Soweit über die Aktivierung der Abwehrfunktion der<br />

751 Vgl. Teil 2 II.2.a)<br />

752 BVerfGE 19, 342, 248 ff.<br />

753 Zur Herleitung aus den nationalen Rechtsordnungen, den Verträgen und als allgemeines<br />

Rechtsprinzip: Schwarze (FN 198), S. 697 ff.; s.a. Teil 1 III.3.a) und Teil 2<br />

II.4.<br />

754 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 122 Rn 3 ff.; zur grundrechtsähnlichen<br />

Schutzwirkung des Verhältnismäßigkeitsprizips im Gemeinschaftsrecht vgl.<br />

Schwarze (FN 198), S. 701<br />

202


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

Grundrechte des Betroffenen eine mittelbar drittschützende Wirkung gegründet<br />

wird, stehen die einschlägigen Grundrechte den Freiheitsrechten des<br />

im Rahmen des Verfahrens Begünstigten gegenüber. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

wird schließlich eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen<br />

ermöglicht, die über den einschlägigen Gemeinwohlbelang regelmäßig<br />

auch den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen Rechnung trägt.<br />

Es bedarf weiterer systematischer Überlegungen, in welcher Form beide<br />

Grundrechtsdimensionen, also sowohl die subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion<br />

der Grundrechte als auch ihre ausnahmsweise bestehende Schutzfunktion<br />

zuzüglich der einschlägigen Gemeinwohlbelange eine angemessene Gewichtung<br />

erfahren können. Bei den Entwicklungen zur Sicherheitsaufgabe<br />

des Staates, der Ausweitung der Gefahrenabwehr auf die Risikovorsorge<br />

sowie der grundrechtlichen Schutzdimension werden die Parallelen und<br />

Abhängigkeiten auf verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Ebene deutlich.<br />

Alle drei Bereiche zielen auf ein „Zurückdrängen“ von Freiheitsrechten<br />

bei den Risikoverantwortlichen. Deren Belange müssen aber ebenso angemessen<br />

berücksichtigt werden können, wie die geschützten Belange Dritter.<br />

Deshalb wurden in den Bereichen des Risikoverwaltungsrechts spezifische<br />

Instrumente entwickelt, welche den Interessen aller Beteiligten möglichst<br />

optimal gerecht werden. <strong>Die</strong> aus dem erweiterten Sicherheitsbegriff erwachsenden<br />

Aufgaben kann der Staat mit den Strukturen des traditionellen auf<br />

Individualinteressen gerichteten Gefahrenabwehrrechts kaum noch erfüllen.<br />

<strong>Die</strong> im Polizeirecht erfolgte Bewertung von Wahrscheinlichkeiten kann vor<br />

dem Hintergrund unzureichender Erkenntnisse nicht mehr bewerkstelligt<br />

werden. Deshalb sind neue Lösungswege im Umgang mit pognostischen<br />

Unsicherheiten und Risiken erforderlich. Nur so können gegenläufige Interessen<br />

wie Innovation, Fortschritt und Freiheit sowie Sicherheit miteinander<br />

in Einklang gebracht werden755 .<br />

<strong>Die</strong> Verhältnismäßigkeitsprüfung verdient daher eine nähere Betrachtung.<br />

Durch die Einbeziehung kollektiver Belange in das Sicherheitsrecht wird der<br />

Vorrang von individuellen Freiheitsrechten erheblich relativiert. Mit der<br />

Vorverlagerung der Gefahrenprävention auf die Risikoebene wird nicht<br />

mehr das Rechtsgut des Einzelnen zum Maßstab für staatliches Eingreifen.<br />

Maßstab wird vielmehr die aufgrund von Erkenntnisdefiziten unsichere Gefährdung<br />

des Kollektivs bzw. Gemeinwohls. Damit aber droht die Gefahr<br />

einer dialogischen Grundrechtsabwägung. Dem Kollektivinteresse würde<br />

grundsätzlich der Vorrang eingeräumt, was zu einer faktischen Aufhebung<br />

755 Hoffmann-Riem (FN 622), S. 132<br />

203


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

der Freiheitsrechte führte756 . Es kommt zur Vorverlagerung der Gefahrenabwehr<br />

auf den Zeitpunkt der Gemeinwohlrelevanz, ohne dass es noch auf eine<br />

Gefahr ankommt.<br />

Unabhängig von der Reichweite des Sicherheitsbegriffs und der dahinter<br />

stehenden Belange müssen die Interessen aller Beteiligten ausgeglichen<br />

werden. Grundrechtliche Abwehransprüche des Betroffenen und Schutzansprüche<br />

des Begünstigten sind zu berücksichtigen. <strong>Die</strong>s gilt für die verfassungskonforme<br />

Ausgestaltung wie auch die administrative Umsetzung der<br />

Genehmigungspflichten, mithin das Abwägungsergebnis und dessen spätere<br />

Überprüfung durch die Gerichte. Das Spannungsverhältnis von Freiheitsgrundrechten<br />

und Sicherheitsinteressen muss mit einem geeigneten Rechtsinstrument<br />

aufgelöst werden. Bei einem solchen Interessenausgleich darf<br />

das Gemeinwohlbelang bzw. Kollektivinteresse Sicherheit nicht unangemessen<br />

überhöht werden.<br />

Freiheit und Sicherheit beinhalten – soweit man die Sicherheit auf das hinter<br />

der Schutzpflicht stehende Individualrechtsgut bezieht – im Sinne der Verfassung<br />

zunächst dogmatisch gleichwertige Rechtspositionen, die sich aus<br />

dem doppelt wirkenden staatlichen Gewaltmonopol ergeben. <strong>Die</strong> gegenläufigen,<br />

grundrechtlich geprägten Abwehrrechte und Schutzpflichten müssen<br />

miteinander in Einklang gebracht werden.<br />

b) <strong>Die</strong> klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

aa) Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit<br />

Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müssen staatliche Maßnahmen<br />

zunächst geeignet, also taugliches Mittel sein, den angestrebten Zweck bzw.<br />

Erfolg zu erreichen. Der Eingriff muss auch erforderlich sein. <strong>Die</strong> anzuordnende<br />

Maßnahme muss das mildeste Mittel zur wirksamen Erreichung des<br />

verfolgten Normzwecks darstellen. Dabei ist auch vom Übermaßverbot die<br />

Rede. Das beinhaltet eine bipolare Prüfung des Verhältnisses vom Staat zum<br />

Betroffenen. Das Gemeinwohl wirkt als Schranke. Schutzgüter Dritter können<br />

hierbei als verfassungsimmanente Schranke oder mittelbar über das<br />

Gemeinwohl berücksichtigt werden757 . <strong>Die</strong> nach dem Übermaßverbot zulässige<br />

geringste Beeinträchtigung des Rechtsgutes, von dem die Gefahr ausgeht,<br />

umfasst jeden Nachteil. <strong>Die</strong>ser darf nicht unverhältnismäßig zum Ein-<br />

756 Vgl. dazu Di Fabio (FN 577), S. 38, 46<br />

757 Statt aller Maurer (FN 2), § 8 Rn 55 ff.; zur Bezugsgröße, Herleitung und Relationierung<br />

der Rechtsgüter s.a. Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 23 ff., 58; Rechtsprechung:<br />

zur Erforderlichkeit vgl. BVerfGE 30, 292, 316; 53, 135, 145; 69, 209, 218 f.<br />

204


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

griffserfolg sein. <strong>Die</strong> Eingriffsschwelle beginnt deshalb oberhalb sozialadäquater<br />

Risiken. Eine Ablehnung der Erforderlichkeit kommt aber nur in Betracht,<br />

wenn es Alternativen gibt. <strong>Die</strong> einzig denkbare Maßnahme ist immer<br />

auch erforderlich.<br />

Im Rahmen der Angemessenheit, also der Verhältnismäßigkeit im engeren<br />

Sinne, geht es um ein vernünftiges Verhältnis von Erfolg und Eingriffswirkung<br />

gegenüber dem Betroffenen. Es erfolgt eine Abwägung der betroffenen<br />

Belange. Zweck und Mittel der Maßnahme werden wie die dahinter stehenden<br />

Rechtsgüter zu einander in Relation gesetzt. Schutz- und Eingriffswirkung<br />

sollen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Hierbei findet eine<br />

wertende Abwägung statt, die je nach ihrer Gewichtung alle verfassungsrechtlich<br />

verbürgten Vorgaben einbezieht758 . Das Gemeingut Sicherheit muss<br />

zugunsten des Schutzzweckes der Norm berücksichtigt werden. An der Stelle<br />

wirkt die prognosespezifische, umgekehrte Proportionalität von potenzieller<br />

Schadenhöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit. Auf der anderen Seite stehen<br />

die Interessen des Eingriffsadressaten. <strong>Die</strong> Gewichtung der Individualrechte<br />

kann dazu führen, dass der Nachteil für den Einzelnen unverhältnismäßig<br />

ist, zum Beispiel wenn dessen Existenz dadurch gefährdet ist. Auch<br />

bei Nachteilen für die Allgemeinheit kann auf die Gefahrenabwehr verzichtet<br />

werden. Hierzu gehört z.B. das Vorliegen von Bagatellfällen. In diesen<br />

Fällen könnten staatliche Eingriffe das Vertrauen in Sinn und Effizienz behördlichen<br />

Tätigwerdens erheblich in Frage stellen759 .<br />

bb) Verursachungszuweisung<br />

Neben der Verhältnismäßigkeit des Mittels muss auch die Maßnahmenrichtung,<br />

also die in Anspruch genommene Person, überprüft werden. An dieser<br />

Stelle erfolgt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Alternativenprüfung.<br />

Sie hinterfragt die Mittel und Adressaten des Eingriffs. Eine Ausnahme<br />

gilt bei spezialgesetzlichen Vorschriften, welche die Richtung der<br />

Maßnahme bereits festlegen760 . Eingriffe sind grundsätzlich nur gegenüber<br />

der Person rechtmäßig, von der die Gefahr bzw. das Risiko ausgeht. Dafür<br />

ist auch die Verantwortlichkeit des potenziellen „Störers“ zu prüfen, also<br />

desjenigen, dem die Gefahr zuzurechnen ist. Im Polizeirecht wird dieses<br />

Kriterium mit Polizeipflichtigkeit oder Verantwortlichkeit umschrieben761 .<br />

758 Vgl. Jakobs, ebenda, S. 23 ff.; Rechtsprechung: zur Angemessenheit vgl. BVerfGE<br />

30, 292, 316 f.; 46, 120, 148; 51, 193, 208<br />

759 Knemeyer (FN 509), Rn 305 und 306<br />

760 Ebenda, Rn 323 ff.<br />

761 Piertoh/Schlink/Kniesel (FN 511), § 9, S. 142 ff.<br />

205


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Sie betrifft die Zurechnung der Gefahrensituation an das Verhalten einer<br />

Person oder die von Sachen ausgehenden Wirkungen. Es erfolgt eine qualitative<br />

Wertung der Kausalität einer störenden Handlung oder entsprechender<br />

Zustände im Hinblick auf den Schaden762 . Im Polizeirecht kann nicht die aus<br />

dem Strafrecht relevante Bedingungstheorie (Haftungskette) verwendet<br />

werden, es fehlt am Verschuldenskorrektiv. Aus diesem Grunde ebenfalls<br />

unbrauchbar ist die zivilrechtliche, auf Lebenserfahrung beruhende, Adäquanztheorie.<br />

Deshalb kommt es auf die Zurechnung einer Gefahr bzw. des (später) eintretenden<br />

Schadens an. Nach dem Verursacherprinzip ist derjenige verantwortlich,<br />

der die Gefahr unmittelbar verursacht hat. Dabei werden vor allem<br />

rechtswidrige oder zumindest sozialinadäquate Verursachungsbeiträge einbezogen763<br />

. Der drohende Schaden ist demnach einer bestimmten Person zuzurechnen.<br />

<strong>Die</strong>s geschieht, wenn in dessen Einflussbereich die Gefahrengrenze<br />

überschritten wird. Der Betroffene gilt dann als für den Schaden verantwortlicher<br />

Störer, gegen den sich die Gefahrenabwehr richten muss. Sollten<br />

mehrere Störer festgestellt werden, muss unter Berücksichtigung der Effektivität<br />

des Handelns und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine<br />

Auswahl des von polizeilicher Gefahrenabwehr betroffenen Störers getroffen<br />

werden764 .<br />

Allerdings ergeben sich erhebliche rechtsstaatliche Zweifel an der Eingriffsermächtigung,<br />

wenn Erkenntnisdefizite die Ermittlung der Person des Störers<br />

erschweren. Anders als bei der Gefahrenabwehr, wo zumindest die potenzielle<br />

Gefahrenquelle in Form abstrakter Gefahren vorbestimmt ist, dürften<br />

bei der risikoorientierten Anwendung des Vorsorgeprinzips regelmäßig<br />

Zweifel an der Zurechenbarkeit von Störungen bleiben. Bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

gilt: Der Ausführer ist zwar zunächst schon normativ potenzieller<br />

„Störer“ bzw. Verantwortlicher. <strong>Die</strong> Gefahren- bzw. Risikoadäquanz<br />

der Ausfuhr muss dennoch eine Bewertung erfahren, auch bei möglichen<br />

Erkenntnisdefiziten. Umso wichtiger ist bei staatlichen Eingriffen die<br />

Gewährleistung der übrigen Verfassungsprinzipien. Mit dem Abstellen auf<br />

abstrakte Risiken kommt es zu einer Abkopplung vom gesetzlichen Unrecht765<br />

. Das führt faktisch zur generellen Beweislastumkehr, der Eingriffadressat<br />

muss die Nichtgefährlichkeit bzw. Nichtursächlichkeit seines Han-<br />

762 Zu Funktion und Subjekt der Zurechnung von Gefahrenverantwortung, Kugelmann<br />

(FN 138), S. 257 ff.<br />

763 Piertoh/Schlink/Kniesel (FN 511), § 9, S. 149 ff.<br />

764 Ebenda, § 9, S. 174 ff<br />

765 Calliess, DVBl 2003, S. 1096, 1100<br />

206


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

delns für Gefahren oder Risiken darlegen 766 . Ob eine so weit gehende Eingriffswirkung<br />

des gemeinwohlorientierten Handelns in die Grundrechte von<br />

der Verfassung wirklich gedeckt ist, erscheint fraglich, erst recht, weil bei<br />

Risiken Erkenntnisdefizite hinzutreten, die einseitig zu Lasten des Handelnden<br />

gingen. Im Zweifel wäre die Maßnahme damit nicht rechtmäßig. Wegen<br />

der bereits beschriebenen Doppelfunktion des Rechtsstaatsprinzips und Gewaltmonopols<br />

zugunsten des Ausgleichs aller beteiligten Interessen kommt<br />

es hier zu einem verstärkten Spannungsverhältnis, dem die Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

im Rahmen der Abwägung gerecht werden muss.<br />

cc) Interessen des Betroffenen und Gemeinwohl<br />

<strong>Die</strong> Grundrechte des risikorelevant Handelnden werden bei der Rechtfertigung<br />

eines Eingriffs nach dem klassischen Liberalitäts- bzw. Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

aus bipolarer Sicht des Staates geprüft. Dagegen werden die<br />

Interessen des potenziellen Opfers im Rahmen der Angemessenheitsprüfung<br />

lediglich mittelbar bei den Schranken des Grundrechts einbezogen. Der<br />

Gemeinwohlbelang Sicherheit und dahinter stehende Grundrechtspositionen<br />

kollidieren mit den Belangen des Eingriffsadressaten.<br />

<strong>Die</strong> Auflösung dieser Interessenkollision erfolgt über die Prüfung der wirksamen<br />

Eingriffsalternativen im Rahmen der Erforderlichkeit, vor allem aber<br />

bei der Abwägung. Bei ihr werden die gegenläufigen Interessen im Einzelfall<br />

möglichst umfassend optimiert. Das Optimierungsgebot wird durch die<br />

Vorrangregelung der bereits mehrfach erwähnten Je-desto–Formel konkretisiert.<br />

Damit erfolgt eine differenzierte Gewichtung der betroffenen Interessen767<br />

. <strong>Die</strong>se Erwägungen finden sich bereits in den Anforderungen des<br />

Preußischen OVG an die Wahrscheinlichkeitsprognose. <strong>Die</strong> Wertung, ob eine<br />

Gefahr besteht, bestimmt die Gesetzmäßigkeit einer Eingriffsermächtigung<br />

bei der Anwendung im Einzelfall768 . <strong>Die</strong> bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit<br />

von Eingriffen erforderliche Zweck-Mittel-Relation muss auch<br />

die Legitimationskraft des Staatszweckes der Gefahrenabwehr einbeziehen.<br />

Sie muss spiegelbildlich mit dem Begriff Sicherheitsgewähr verstanden<br />

werden. Sicherheit stellt also kein eigenständig abwägungsfähiges Rechtsgut<br />

dar. Sie wird negativ über die Gefahrenabwehr formuliert. Unter Bezugnahme<br />

auf die betroffenen Rechtsgüter bleibt der Gefahrenbegriff der zentrale<br />

Rechtfertigungsgrund für staatliche Eingriffe.<br />

766 Grimm (FN 609), S. 199<br />

767 Grundlegend zur Lösung von Kollisionsfällen und zum Abwägungsgesetz: Alexy (FN<br />

341), S. 85, 143 ff.<br />

768 Vgl. Teil 3 II.4.a)<br />

207


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Eine besondere Konstellation ergibt sich beim Spannungsverhältnis von<br />

Freiheit und Sicherheit. Beide sind neben der Menschenwürde die ranghöchsten<br />

Gemeinwohlbelange des modernen Verfassungsstaates. <strong>Die</strong>s bestätigt<br />

die Erwähnung in Art. 6 der Grundrechte-Charta der EU 769 . Wie schon<br />

bei dem Begriff Sicherheit erörtert, kam es spätestens infolge 9/11 zu einer<br />

Neujustierung beider Belange. <strong>Die</strong> Abwägung bzw. gegenseitige Optimierung<br />

der Belange wurde mit der Forderung und Umsetzung neuer staatlicher<br />

Eingriffsbefugnisse zugunsten von mehr Sicherheit verschoben. <strong>Die</strong> beschriebene<br />

Vorrangregel unterliegt also, wie der Sicherheitsbegriff selbst,<br />

einer gesellschaftlichen Dynamik. Umso vordringlicher stellt sich die Frage<br />

nach der Abwägungskompetenz sowie der organisatorischen und verfahrenstechnischen<br />

Sicherstellung rechtsstaatlicher Garantien 770 . Darauf gibt das auf<br />

bipolare Verhältnisse ausgelegte klassische Rechtfertigungsschema keine<br />

eindeutige Antwort. Bei Risikosituationen und hiermit verbundener Ungewissheit<br />

bestehen erhebliche Schwierigkeiten, die Eignung des Mittels zu<br />

bestimmen, um den Schutzzweck des Gemeinwohlbelanges zu erfüllen. Es<br />

fragt sich also, ob die adäquate Einbeziehung der Interessen aller Betroffenen<br />

deutlicher konturiert werden kann.<br />

dd) Mehrpolige Grundrechtsbeziehungen und wirksamer Grundrechtsschutz<br />

<strong>Die</strong> Verfassung gibt nicht konkret vor, wie der Staat seiner Schutzfunktion<br />

effektiv nachkommen soll. Anders als bei auf ein Unterlassen gerichteten<br />

Abwehrrechten, hat er bei Schutzpflichten regelmäßig mehrere Handlungsmöglichkeiten<br />

zur Wahl771 . Ein wirksamer Schutz des einen wird aber oft<br />

nur durch Eingriffe in die Abwehrposition des anderen möglich sein. <strong>Die</strong>s<br />

erfordert, dass Schutzrechte des durch den Freiheitsgebrauch Betroffenen<br />

über das geschilderte Dreiecksverhältnis Eingang in die multipolare Prüfung<br />

finden. Dafür wird, bezogen auf das Umweltrecht, z.B. folgende Begründung<br />

angeführt772 : <strong>Die</strong> Möglichkeit eines autonomen Selbstschutzes gegenüber<br />

dem Gefahren- oder Risikoverursacher, z.B. durch zivilrechtliche Unterlassungsansprüche,<br />

scheitert regelmäßig an den zu hohen Anspruchshürden.<br />

So scheitert ihre Durchsetzung oft an der Beweislast oder öffentlichrechtlichen<br />

Duldungspflichten .<br />

769 Abl. EG Nr. C 364/1 v. 18.12.2000<br />

770 Schuppert (FN 679), S. 46, 49 ff.<br />

771 Dazu auch Alexy (FN 341), S. 420 ff.<br />

772 Calliess (FN 288), 361 ff.<br />

208


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

Aus Sicht des Bedrohten verursacht die Komplexität der modernen öffentlich-rechtlichen<br />

Regelungen zudem Vollzugsdefizite, die eine praktische<br />

Umsetzung der normativen Schutzzwecke nur teilweise ermöglichen. <strong>Die</strong><br />

Schutznormtheorie des BVerfG, wonach nur subjektive Rechte vermittelnde<br />

Individualrechtsgüter, wie Gesundheit und Eigentum, eine Klagebefugnis<br />

eröffnen, verursacht bei einer Bedrohung von nicht im Privateigentum stehenden<br />

Kollektivgütern, wie Luft und Wasser, ein erhebliches Durchsetzungsdefizit<br />

zu Lasten der Bedrohten. <strong>Die</strong> Freiheit der Umweltnutzer gerät<br />

ins Hintertreffen. Mit Blick auf technische Sachverhalte wird dieses Defizit<br />

noch verstärkt, weil die Ursache-Wirkungs-Ketten komplex sind und eine<br />

Zurechnung schädigenden Verhaltens zum Schaden oft scheitern lassen. Das<br />

gilt in qualitativer wie vor allem auch in zeitlicher Hinsicht. Letztere Sichtweise<br />

rückt durch die perspektivisch häufig fehlende Kongruenz von demokratisch<br />

legitimierten Handlungen und der sich erst viel später in der Zukunft<br />

deutlichen Wirkung auch im Zusammenhang mit der Diskussion zur<br />

Risikogesellschaft, z.B. beim Thema Klimawandel, immer mehr in den Vordergrund.<br />

Zu diesen Aspekten kommt, dass der Staat bei der Risikoprävention<br />

mit den klassischen Machtinstrumentarien oft überfordert ist. Er kann in<br />

manchen Bereichen nicht als neutraler Interessenmakler fungieren. Sein<br />

Eingreifen hat oftmals wirtschaftliche, wachstums- und beschäftigungsfeindliche<br />

Auswirkungen. Hinzu kommen oftmals technisch bedingte Erkenntnisdefizite<br />

oder komplexe Informationsketten, deren Kontrolle häufig<br />

wegen der notwendigen Kooperation mit ausländischen Behörden schwierig<br />

ist. Das zeigt sich z.B. bei international agierenden Gruppen der organisierten<br />

Kriminalität.<br />

<strong>Die</strong> Grenzen staatlichen Handelns müssen auch in die Schutzkonzepte einbezogen<br />

werden. Wenn man auf der Grundlage der Qualität des Sicherheitsbegriffs<br />

ganz allgemein von einer Schutzpflicht des Staates für Grundfreiheiten<br />

des Bürgers ausgeht, so kann von einem Dreiecksverhältnis zwischen<br />

dem Staat, dem Vorsorge- und dem Eingriffsadressaten gesprochen<br />

werden773 . Dabei kann an die Garantiewirkung des Gewährleistungsgebotes<br />

von Art. 19 Abs. 2 GG rekurriert werden, dass sich auf die Schutzdimension<br />

der Grundrechte bezieht774 . Deshalb ist zu recht von einem doppelten Gewaltmonopol<br />

und in unmittelbarer Folge dessen von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen<br />

die Rede775 .<br />

773 Wahl/ Masing, JZ 1990, S. 553, 556; Isensee (FN 527), S. 34<br />

774 Vgl. Scherzberg, Grundrechtsschutz, und Eingriffsintensität, S. 209<br />

775 Calliess (FN 288), S. 307 ff.<br />

209


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

<strong>Die</strong> staatliche Schutzpflicht führt dazu, dass der Betroffene die Abwehr-<br />

funktion seines Rechtsgutes geltend machen kann 776 . Zwangsläufig muss der<br />

Staat die gegenläufigen Interessen ausgleichen. Ein effektiver staatlicher<br />

Schutz über das bipolare Schutzkonzept, dass sich auf nur zwei Akteure ausrichtet,<br />

erscheint wegen der regelmäßig diffusen Gemeinwohlbelange nicht<br />

ausreichend. <strong>Die</strong>s gilt zunächst, wenn es um einen bestimmten Kreis von in<br />

ihren grundrechtlichen Interessen sichtlich Betroffenen geht. Es sollte auf<br />

der Grundlage der Schutzdimension der Grundrechte ein direkter Interessenausgleich<br />

stattfinden. Anders wäre die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols<br />

nicht denkbar 777 . <strong>Die</strong>s mündet in eine Anerkennung eines<br />

mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses. <strong>Die</strong> Interessen von Freiheit,<br />

Sicherheit und Schutzpflicht werden unmittelbar in die Rechtmäßigkeitsprüfung<br />

einbezogen und zum Ausgleich gebracht.<br />

ee) Untermaßverbot und multipolare Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

Dem Gesetzgeber ist die Umsetzung und Ausgestaltung der verfassungsrechtliche<br />

Zielvorgabe vorbehalten. Nach den Vorgaben multipolarer Verfassungsrechtsverhältnisse<br />

muss er einen wirksamen Schutz des Bedrohten sicherstellen.<br />

Er hat für die Umsetzung seiner Verfassungskompetenzen und<br />

-pflichten einen breiten Gestaltungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht<br />

unterscheidet hierbei aber verschiedene Maßstäbe. Eine Rechtsverletzung<br />

wird zunächst nur festgestellt, wenn die staatliche Maßnahme offensichtlich<br />

ungeeignet ist, das Schutzziel zu ereichen778 . Beim Schutzpflichtkonzept<br />

wird dieser Evidenzmaßstab aber verengt. Staatliche Vorkehrungen<br />

müssen auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen<br />

beruhen779 . <strong>Die</strong> Reichweite einer solchen Vertretbarkeitslehre erscheint<br />

in der Rechtsprechung des BVerfG uneinheitlich. <strong>Die</strong> Kriterien des<br />

Gerichts für die Voraussetzungen bestimmter Kontrollmaßstäbe bleiben unklar.<br />

Das BVerfG hat in seinem 2. Urteil zu Schwangerschaftsabbrüchen geurteilt,<br />

dass infolge staatlicher Schutzpflichten zumindest im Schutzbereich<br />

von Art. 2 Abs. 2 GG ein Untermaßverbot gegenüber dem Rechtsgut berücksichtigt<br />

werden müsse, was von dem staatlichen Eingriff betroffenen<br />

776 Vgl. Teil 3 I.1.c)<br />

777 Calliess, JZ 2006, 321, 328<br />

778 Näheres dazu unter Teil 3 IV.3.a)<br />

779 BVerGE 88, 203, 254 - Schwangerschaftsabbruch II; auch BVerfGE v. 17.2.1997, 1<br />

BvR 1658/96 – Elektrosmog, JZ 1997, 897; BVerfGE - Luftverschmutzung, NJW<br />

1998, 3264 , 3265; s.a. Abschnitt 2.1.2.2. zu Zulässigkeit der Verwendung unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe<br />

210


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

ist780 . Ein solches Untermaßverbot wurde in Korrespondenz zum Übermaßverbot<br />

erstmals i.Z.m. dem Schutz privater Rechte angesprochen781 und infolge<br />

des BVerfG-Urteils als Grundlage für die Gewährleistung staatlicher<br />

Mindestschutzstandards aufgegriffen782 . So soll eine Untergrenze legislativen<br />

Gestaltungsspielraums definiert werden. Ob damit eine eigenständige<br />

Qualität gegenüber der Schrankenprüfung und Abwägung im Übermaßverbot<br />

erzielt wird, ist bis heute fraglich783 . <strong>Die</strong> Befürworter des Untermaßverbotes<br />

führen, anknüpfend an die genannten Aussagen des BVerfG, aus, dass<br />

mit dem klassischen Prüfungsansatz das Übermaßverbot nur unzureichend<br />

mit der staatlichen Schutzpflicht und der Frage nach der angemessenen<br />

Wirksamkeit der Maßnahme in Einklang gebracht werde, die sich auf der<br />

Grundlage des dargelegten mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen ergibt.<br />

<strong>Die</strong> hierbei entscheidende neue Akzentuierung bei der Rechtsvollziehung ist<br />

das Tätigwerden im Rahmen einer von Anfang an ausgleichenden Verteilungsfunktion<br />

des Staates. Aber nur im Rahmen der an die Anerkennung des<br />

Untermaßverbotes anknüpfenden mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

würden die miteinander konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen<br />

auf gleicher Ebene berücksichtigt784 .<br />

Alternativ dazu steht, die Erforderlichkeitsprüfung im bipolaren Schema,<br />

wonach der Staat das, was er zum Schutz des Gemeinwohls oder Dritter für<br />

erforderlich und vor allem wirksam hält, tun muss, nur eben nicht mehr als<br />

das tun darf785 . Das Wirksamkeitsgebot ähnelt damit stark dem Untermaßverbot.<br />

Beim Letzteren ändert sich aber der Blickwinkel des Schutzpflichti-<br />

780 BVerfGE v. 28.05.1993, 88, 203, 254 - Schwangerschaftsabbruch II; vgl. JZ-<br />

Sonderausgabe v.07.06.2003, BVerfGE 91, 1 29, a.A. Sondervotum BVerfGE 92, 27,<br />

358 ff.<br />

781 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP Bd. 184, (1984), 201, 228 sowie ders.,<br />

JUS 1989, 161, 163 f.; Jarass, AöR 110 (1985), S. 363, 382 ff.,<br />

782 So Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), § 111 Rn 165<br />

783 <strong>Die</strong> eigenständige Qualität herausstellend: Calliess (FN 288), S. 455 ff. unter Bezugnahme<br />

auf <strong>Die</strong>tlein, <strong>Die</strong> Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. III, (im<br />

Ergebnis ist dieser mit der Vermittlung exakter Kriterien für das Untermaßverbot aber<br />

unzufrieden) und ders., in ZG 1995, S. 131 ff.; so auch Ruffert (FN 747), S. 219;<br />

das Untermaßverbot und den zulässigen Entsheidungskorridor zum Übermaßverbot<br />

anerkennend: Cramer, Freiheitsgrundrechte - Funktionen und Strukturen, S. 310 ff.,<br />

314 ; dem Ganzen ebenfalls folgend Grimm (FN 609), S. 239, dagegen kritisch Hain,<br />

DVBl. 1993, S. 982, 983,<br />

784 Dazu mit ausführlicher Stellungnahme Calliess (FN 288), S. 460; dazu auch Maurer<br />

(FN 2), § 8 Rn 58<br />

785 Vgl. Hain (FN. 783), S. 983, zum Verständnis der Erforderlichkeitsprüfung s.a. Jakobs<br />

(FN 757), S. 66 f.<br />

211


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

gen. Während er im Rahmen der Prüfung eines milderen Mittels sich einmal<br />

für das Mittel entscheidet, das gerade noch wirksam ist, entscheidet er sich<br />

beim Untermaßverbot ganz bewusst für das aus Sicht des zu schützenden<br />

wirksamere Mittel. Im Rahmen der Gesamtabwägung können verschiedene<br />

Interessenlagen kumuliert und so eine zumutbare, angemessene Verantwortungs-<br />

bzw. Risikoverteilung vorgenommen werden. Damit ändert sich nicht<br />

das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit selbst, sondern nur sein<br />

Leitmotiv. Danach wird nicht die Optimierung der Freiheit in den Vordergrund<br />

gestellt, sondern ein Mindestschutz der gleichzeitig aktivierten Abwehrfunktion<br />

des Betroffenen. <strong>Die</strong>s ist wegen des ohnehin bestehenden Vorrangs<br />

gesellschaftlicher Selbstregulierung und der Freiräume des Gesetzgebers<br />

infolge einer strukturell schwächeren Schutzpflicht gerechtfertigt786 .<br />

<strong>Die</strong> Schwäche der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung zeigt sich besonders<br />

deutlich, wenn es um risikoorientierte Eingriffe geht. Dort fehlen<br />

regelmäßig die Erkenntnisse, die eine Darlegung des Betroffenseins der<br />

grundrechtsbeschränkenden Belange erfordern, ganz im Sinne der Schrankensystematik<br />

der auf das Über-/ Unterordnungsverhältnis von Staat und<br />

Bürger zugeschnittenen klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung. <strong>Die</strong> mögliche<br />

Ineffizienz gesellschaftlicher Selbstregulierung im Sinne des ultimaratio-Prinzips<br />

wird nicht geprüft. Hierbei spielt die schon angesprochene<br />

Beweislastproblematik eine Rolle. <strong>Die</strong> Instrumente des regulativen Rechts<br />

stoßen bei den für die „Risikogesellschaft“ bestehenden staatlichen Verantwortungsbereichen<br />

an ihre Grenzen. Zum Vorsorgeprinzip wurde festgestellt,<br />

dass es um eine ausgewogene Risikoverteilung zwischen allen Beteiligten<br />

geht. Ohne umfassende Wertung und Gewichtung aller betroffenen Interessen<br />

ist diese Risikoverteilung allerdings nicht möglich787 . Bei der klassischen<br />

Schrankenprüfung werden die gegenläufigen Interessen im Rahmen<br />

der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form des eingriffsrelevanten Übermaßverbotes<br />

nur gegenüber dem Handelnden berücksichtigt. Grundrechtsrelevante<br />

Eingriffe werden dagegen erst in der 2. Prüfungsstufe einbezogen. <strong>Die</strong><br />

Interessenbewertung droht also qualitativ einseitig zu sein. Der in der Verfassungssystematik<br />

angelegte, „gerecht“ verteilte Freiheitsgebrauch und der<br />

regelmäßig wertende Interessenausgleichsgedanke werden besser umgesetzt,<br />

wenn die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus Sicht aller betroffenen subjektiven<br />

Grundrechtsbelange stattfindet. Dafür bedarf es des Untermaßverbotes.<br />

Nur soweit die o.g. Unter- und Übermaßverbote eingehalten sind, besteht in<br />

aller Regel ein gerichtlich nicht kontrollierbarer, legislativer oder exekutiver<br />

786 Vgl. Ruffert (FN 747), S. 219<br />

787 Dazu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 114<br />

212


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

Einschätzungsspielraum788 . Auch die anlässlich staatlicher Schutzpflichten<br />

geäußerte Kritik i.V.m. der Beachtung der Gewaltenteilung erscheint auch<br />

aus diesem Grunde unberechtigt.<br />

<strong>Die</strong> Auffassung, dass mit dem Vorliegen von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen<br />

noch keine Aussage darüber getroffen sei, dass Eingriffs-<br />

und Eingriffsabwehrbelang dogmatisch die gleiche Gewichtung erfahren<br />

müssen, also eine Gleichordnung objektiv-rechtlicher Grundrechtsdimensionen<br />

und subjektiver Abwehrdimension der Grundrechte erfolgen<br />

muss789 , wird mit den Ausführungen zur notwendigen Kompensation der<br />

Defizite einer gemeinwohl- und schrankenorientierten Betrachtung deutlich<br />

widerlegt. <strong>Die</strong> angeführte Begründung entspricht im Ergebnis aus den Ausführungen<br />

der Befürworter einer Aktivierung der subjektiv-öffentlichen Anspruchsfunktion<br />

im Rahmen grundrechtlicher Schutzpflichten. Im Übrigen<br />

zeigen diese Erwägungen zum legislativen Ermessen deutliche Parallelen<br />

zur Ermessensfehlerlehre. Auch dort geht es um die Grenzen der Ermächtigung<br />

und verfassungsrechtliche Wertungen. Das Verhältnismäßigkeitprinzip<br />

ist zentraler Maßstab für die Ermessensüberschreitung. Das damit festgesetzte<br />

Rangverhältnis betroffener Belange, die entsprechende Abwägung<br />

und Verteilung der Risikoverantwortung bestimmen den Entscheidungsspielraum<br />

der Behörde790 .<br />

c) <strong>Die</strong> Freiheitsverträglichkeitsprüfung im multipolaren Verfassungsrechtsverhältnis<br />

aa) Staatliche Handlungsverpflichtung<br />

Ob der Staat seiner Schutzpflicht genügt, muss in Abhängigkeit von der<br />

Qualität des geschützten Rechtsgutes festgestellt werden. <strong>Die</strong> bei Exportkontrollen<br />

regelmäßig im Hintergrund stehenden Rechtsgüter Leib und Leben<br />

Art. 2 Abs. 2 GG sind z.B. so elementar, dass jeder Eingriff ausreicht,<br />

um eine staatliche Handlungspflicht zu begründen. Dafür müsste allerdings<br />

eine Rechtsverletzung oder entsprechende, wenn auch nur geringfügige, Bedrohungslage<br />

festgestellt werden können. Wegen des präventiven Charakters<br />

der staatlichen Schutzpflicht, kann diese nicht von vorn herein auf Maßnahmen<br />

zur Gefahrenabwehr reduziert werden. Gefahrenabwehr und Vorsorge<br />

kommen zunächst gleichermaßen in Betracht. In Abgrenzung zu Be-<br />

788 So Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit, VVDSTRL 63101,132 unter<br />

Hinweis auf zahlreiche Urteile des BVerfG<br />

789 Wahl/Masing (FN 773), S. 558<br />

790 So auch Scherzberg (FN 676), S. 165, unter Verweis auf Schenk, Verfassungsgerichtsbarkeit,<br />

S. 46 ff.<br />

213


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

lästigungssituationen soll allerdings eine gewisse Erheblichkeit der Bedrohung<br />

vorliegen791 .<br />

Das Verfassungsziel Sicherheit steht mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

respektive der Zumutbarkeit eines Eingriffs im Widerstreit. Absolute und totalitäre<br />

Eingriffe sind weder vom Rechtsstaat gewollt noch praktikabel. Ein<br />

unvermeidliches Restrisiko muss daher hingenommen werden792 . <strong>Die</strong> Notwendigkeit<br />

einer gewissen Bedrohungsschwelle deckt sich mit den Ausführungen<br />

zur für die Aktivierung einer staatlichen Schutzpflicht bestehenden<br />

Voraussetzung einer Risikosituation793 .<br />

Falls eine Bedrohung des grundrechtlich relevanten Schutzgutes festgestellt<br />

wird, trifft den Staat zunächst eine Handlungspflicht. Er hat dann einen Auftrag,<br />

dem Schutzbedarf genügende Gesetze und Regelungen zu erlassen,<br />

auch mit Blick auf die möglicherweise geänderten Verhältnisse und Bedrohungslagen.<br />

Der Gesetzgeber hat in der Regel ein sehr weit gehendes legislatives<br />

Ermessen, wie er seiner Schutzpflicht konkret nachkommt. Auf die<br />

Reichweite der gerichtlichen Kontrolle dieses Ermessens wird noch einzugehen<br />

sein. Eine Ausnahme zu gesetzgeberischen Handlungsverpflichtungen<br />

besteht dann, wenn die betroffenen Schutzgüter bereits durch vorhandenes<br />

einfaches Recht geschützt werden. <strong>Die</strong> einfachgesetzlichen Schutznormen<br />

sind dann unter Beachtung der betroffenen Schutzgüter zu vollziehen bzw.<br />

anzuwenden. Sie müssen daher nicht nur im Rahmen der Notwendigkeit eines<br />

Eingriffes durch gesetzliche Vorgaben, sondern auch bei der auf diesen<br />

Vorgaben beruhenden Verwaltungsentscheidung Beachtung finden, zum<br />

Beispiel im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder der Ermessensausübung.<br />

<strong>Die</strong> Implementierung des Untermaßverbotes im Rahmen der<br />

Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt daher auf zwei Ebenen, einmal im<br />

Rahmen der Prüfung legislativen Tätigwerdens, z.B. bei der Ausgestaltung<br />

staatlicher Beschränkungen wie Genehmigungspflichten, aber auch bei der<br />

administrativen Anwendung der Gesetze794 . <strong>Die</strong> Durchsetzung schutzgewährender<br />

Grundrechte bei der Normsetzung und Normanwendung muss daher<br />

bei der jeweiligen Rechtmäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden. Beim<br />

administrativen Handeln ist die entsprechende verfassungskonforme Normauslegung<br />

zur Reichweite der Schutzdimension zu beachten, insoweit werden<br />

die Entscheidungsspielräume der Verwaltung begrenzt795 . Schließlich<br />

791 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 111 Rn 106 ff.<br />

792 Isensee (FN 527), S. 41<br />

793 Murswiek (FN 545), S. 62 ff.; vgl. Abschnitt 4.1.3.2.<br />

794 Im Einzelnen Calliess (FN 288), S. 600 f.<br />

795 Zur Durchsetzung der Schutzpflichten auch <strong>Die</strong>tlein (FN 783), S. 181 ff.<br />

214


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

muss auch die Rechtsprechung eine Auslegung der Schutznormen vornehmen<br />

796 .<br />

bb) Berücksichtigung staatlicher Schutzpflichten im Verfahren<br />

Den verschiedenen im multipolaren Verfassungsrechtsverhältnis bestehenden<br />

Rechtsbeziehungen muss bei der konkreten Rechtsanwendung im Genehmigungsverfahren<br />

hinreichend Rechnung getragen werden. Das betrifft<br />

die Relation im oben geschilderten Dreiecksverhältnis, also zwischen dem<br />

von der Handlung Begünstigten und dem Staat, dem Betroffenen und dem<br />

Staat sowie zwischen Begünstigten und Betroffenen untereinander.<br />

Im Verfahren muss zunächst das Verhältnis des vom Eingriff Betroffenen<br />

zum Staat und die Durchsetzbarkeit seiner grundrechtlich geschützten Belange<br />

berücksichtigt werden797 . Dabei sind Ermessens- oder Beurteilungsspielräume<br />

zu beachten. <strong>Die</strong> Ausübung der Eigentumsgarantie ebenso wie<br />

der Gebrauch der Gewerbe- und Berufsausübungsfreiheit wird regelmäßig<br />

durch öffentliche Belange oder, infolge Ausweitung der Grundrechtswirkung<br />

auf ihre Schutzdimension, durch Interessen Dritter überlagert. Das Übermaßverbot<br />

und eine Abwägung aller Belange bilden den Maßstab für die<br />

Grenzen des Eingriffs. In diesem Kontext können auch Gemeinwohlbelange<br />

zugunsten des Betroffenen eine Rolle spielen.<br />

Im Verhältnis des Begünstigten zum Staat wird bei bestehenden Durchsetzungsdefiziten<br />

zwischenzeitlich die Schutzdimension der Grundrechte anerkannt.<br />

Nur so kann eine durch das Gewaltmonopol begrenzte Verteidigungsmöglichkeit<br />

des Betroffenen kompensiert werden798 . Eine Interessenabwägung<br />

muss in diesem Lichte erfolgen. <strong>Die</strong> bestehende staatliche Handlungspflicht<br />

unterliegt dabei dem Untermaßverbot, das einen Mindeststandard<br />

des Schutzes wahren soll und ein effektives, praktisch wirksames<br />

Schutzkonzept einfordert. <strong>Die</strong> materielle Wirkung der grundrechtlichen<br />

Schutzdimension kommt so zur Geltung. Auch prozedurale Aspekte, wie eine<br />

hinreichende Information, Beteiligung und ausreichender Rechtsschutz<br />

für alle Betroffenen, sind hier zu beachten.<br />

Im Verhältnis des Gemeinwohlbelanges zum Begünstigten muss auch unter<br />

dem Aspekt des allgemeinen Sicherheitsinteresses geprüft werden, welcher<br />

Beitrag hierzu geleistet werden kann. Dazu gehören die Einbeziehung externen<br />

Sachverstandes durch die Behörden, eine Kooperation der Verwaltung<br />

796 Calliess (FN 288), S. 320<br />

797 Zur Relevanz der Verfahrensgestaltung BVerfGE 53, 30, 65 - Mülheim-Kärlich<br />

798 Vgl. Teil 3 IV.1.<br />

215


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

mit dem Begünstigten sowie organisatorische Vorkehrungen beim Begünstigten<br />

selbst (Compliance, Beauftragter), Solche Maßnahmen erleichtern den<br />

gebotenen Interessenausgleich erheblich. Das wirkt sich beim Genehmigungsverfahren<br />

auf die Entscheidung und damit verbundene Prognoserisiken<br />

aus.<br />

cc) Interessenabwägung durch die Freiheitsverträglichkeitsprüfung<br />

<strong>Die</strong> Vorgaben des Übermaßverbotes, das allein auf den Gesetzesvorbehalt<br />

und die Grundrechtsschranken des Gemeinwohls rekurriert sowie das multipolar<br />

zu prüfende Untermaßverbot haben unterschiedliche Bezugspunkte.<br />

Der Maximalstandard des Übermaßverbotes und der Minimalstandard des<br />

Untermaßverbotes müssen daher zunächst getrennt festgestellt werden. <strong>Die</strong><br />

jeweilige Reichweite von Abwehrrechten und Schutzpflichten werden in einer<br />

ersten Prüfungsstufe, bezogen auf die betroffene gesetzgeberische Eingriffsermächtigung<br />

der Verwaltung, im Rahmen einer mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

herausgearbeitet. <strong>Die</strong>s impliziert auch die Prüfung<br />

möglicher verfassungsrechtlicher Vorgaben zur Rechtmäßigkeit eines sehr<br />

weit gefassten Risiko- bzw. Gefahrenbegriffs. In einer zweiten Stufe erfolgt<br />

dann die Prüfung des konkreten Verwaltungsaktes anhand der gesetzlichen<br />

Eingriffsnorm und deren rechtmäßigen Anwendung. <strong>Die</strong> Schutzdimension<br />

der staatlichen Grundrechtsverantwortung und die Freiheiten des Bürgers<br />

sind bei der Prüfung der gesetzlichen Regelung abzuwägen.<br />

Dabei werden Unter- und Übermaßverbot, bezogen auf die jeweiligen<br />

Rechtsgüter, zunächst getrennt in ihrer Geeignetheit und Erforderlichkeit<br />

bewertet. Auf der einen Seite geht es um die Wirkung des staatlichen Handelns<br />

(Schutzfunktion), auf der anderen Seite um die Wirkung des Unterlassens<br />

staatlicher Eingriffe (Abwehrrecht). Beide ähneln sich in ihrer Struktur.<br />

Sie sind aber nicht zwingend deckungsgleich. Vielmehr kann ein Korridor<br />

rechtmäßigen Handelns entstehen, wonach mehrere Maßnahmen gleichsam<br />

verhältnismäßig gegenüber Freiheits- und Abwehrrecht erscheinen799 . Jede<br />

Maßnahme, so auch das staatliche Schutzkonzept muss zunächst mit Blick<br />

auf seine Eingriffs- und Schutzdimension geeignet und erforderlich sein.<br />

Dabei erfolgt eine Alternativenprüfung hinsichtlich des für Schutzkonzeption<br />

wie auch Eingriffswirkung möglichst effektiven, aber auch mildesten<br />

Mittels. Nicht nur der Gesetzgeber hat hier Spielräume. <strong>Die</strong> Behörde ist<br />

nicht auf eine dem Antrag entsprechende Genehmigung beschränkt, sondern<br />

kann andere Optionen prüfen. Hinzu kommen z.B. technische oder orts- und<br />

799 Zur sog. Freiheitsverträglichkeitsprüfung ausführlich: Calliess, DVBl. 2003, S.1102<br />

(im Überblick) und Calliess (FN 288), S. 460, 577 ff.<br />

216


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

zeitbedingte Modifikationen der beantragten Genehmigung. Dazu dienen<br />

Nebenbestimmungen und Auflagen. Hier deutet sich der Optimierungsgedanke<br />

und Mehrwert des Untermaßverbotes an. Im Übermaßverbot wird dagegen<br />

nur mittelbar auf die Schutzdimension des Eingriffs abgestellt. <strong>Die</strong><br />

Freiheit kann hier lediglich als verhältnismäßig beschränkungsfähig bewertet<br />

werden. Beim multipolaren Ansatz wird Gesetzgebung sowie Verwaltung<br />

dagegen im Rahmen von Über- und Untermaßverbot ein Handlungsspielraum<br />

zubilligt, wo die betroffenen Belange zum Ausgleich gebracht werden<br />

können.<br />

Bei der Alternativenprüfung kann es zu mehreren als erforderliches Mittel<br />

möglichen Handlungsoptionen kommen. In der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeit,<br />

der Angemessenheitsprüfung, erfolgt die Gesamtabwägung<br />

zur gegenseitigen Optimierung betroffener Belange 800 . Davon ausgehend,<br />

kommt es auf dieser Stufe des multipolaren Prüfungsansatzes zu einer gewichtenden<br />

Abwägung und gegebenenfalls auch weitergehenden wechselseitigen<br />

Optimierung der betroffenen Individualrechtsgüter und Gemeinwohlbelange.<br />

Auf diese Weise wird die Angemessenheit, respektive Zumutbarkeit,<br />

des bestehenden Schutzkonzeptes bestimmt. Das Spannungsverhältnis<br />

zwischen den Verfassungsgütern muss zunächst über einen Rangvergleich<br />

miteinander zum Ausgleich gebracht werden. <strong>Die</strong> im Rahmen der<br />

Angemessenheitsprüfung stattfindende Prüfung der Mittel-Zweck-Relation<br />

ist nur über eine Wertung der dahinter stehenden bzw. vom möglichen Eingriff<br />

potenziell tangierten Rechtsgüter möglich. <strong>Die</strong> Abwägung muss sich<br />

am verfassungsrechtlichen Gewicht der abzuwägenden Interessen orientieren.<br />

Das geringer gewichtete Interesse tritt dabei regelmäßig in den Hintergrund.<br />

Ein weitergehendes multipolares Abwägen der Belange findet nur<br />

statt, wenn die betroffenen Belange gleichwertig sind.<br />

Der Rangvergleich wird nicht nur durch die Wertigkeit der Rechtsgüter,<br />

sondern auch die Mittelbarkeit der Eingriffsintensität bestimmt801 . Auch die<br />

Intensität der potenziellen Rechtsbeeinträchtigung selbst muss berücksichtigt<br />

werden, sei es i.V.m. irreparablen Schäden, einer quantitativen Schadensgewichtung<br />

sowie die Möglichkeiten zur Selbsthilfe. Letztere kann<br />

nicht nur die Schutzpflicht als Ganzes in Frage, sondern im Einzelfall auch<br />

Reichweite und Grad bestimmen. Auch der Wesensgehalt der Grundrechte<br />

800 Calliess (FN 288), S. 592 ff.; zu den Bezugsgrößen der Abwägung und dahinter stehenden<br />

Rechtsgütern vgl. Jakobs (FN 757), S. 104 ff.<br />

801 Dazu Calliess, DVBl. 2003, S 1102, 1104, zur Güterabwägung, Rangvergleich und<br />

Saldierung der betroffenen Belange vgl. Jakobs (FN 757), S. 104 ff.<br />

217


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

gewinnt hier Bedeutung802 . <strong>Die</strong> Bedeutung bzw. Wertigkeit der abzuwägenden<br />

Belange und eine Gewichtung der Eingriffsqualität gegenüber dem geschützten<br />

Rechtsgut ist Grundlage für die Frage der Eingriffsoptimierung in<br />

Form der Interessenabwägung. <strong>Die</strong> physische Sicherheit des Bürgers ist Teil<br />

der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Sie entfaltet deshalb besonderen<br />

Schutzcharakter und unterliegt der größtmöglichen Rechtfertigung. Eine andere<br />

Gewichtung ergibt sich demgegenüber bei ökonomischen und sozialen<br />

Aspekten. Es ist auch zu prüfen, wie mittel- oder unmittelbar der Eingriff<br />

zugunsten der Schutzfunktion gegenüber dem Bürger dient. <strong>Die</strong> Anforderungen<br />

an die Rechtfertigung des Eingriffs sollen umso höher sein, je mittelbarer<br />

das Schutzgut betroffen ist803 . An dieser Stelle werden die Parallelen<br />

zur Rechtfertigung des gefahr- und risikoorientierten Handelns deutlich.<br />

Dort sollen die Anforderungen an die Schadenswahrscheinlichkeit von der<br />

potenziellen Schadenhöhe abhängig sein.<br />

Letztlich findet bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine Abwägung<br />

der betroffenen Grundrechts- und Gemeinwohlbelange statt, wie sie in<br />

der verfassungsmäßigen Schrankenprüfung vorgesehen ist. <strong>Die</strong> Grenzen des<br />

Freiheitsgebrauchs und der Schutzdimension der Grundrechte werden hierbei<br />

bestimmt. Am Ende steht das Ziel einer praktischen Konkordanz der<br />

Rechtsgüter im Sinne der Vorgaben des Art. 19 Abs. 2 GG. Freiheit und<br />

Schutzdimension der Grundrechte werden zum Auslegungsmaßstab einfacher<br />

Gesetze. Faktisch entspricht das der Wechselwirkungstheorie des<br />

BVerfG. <strong>Die</strong> mit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe eröffneten<br />

abwägenden Wertungen im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />

und die Abwägung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Schrankenprüfung<br />

sind somit inhaltlich vergleichbar804 . Gleichlaufende Belange verschieben<br />

die Gewichtung im Rahmen der Abwägung, was z.B. bei gleich gerichteten<br />

Zwecken der grundrechtlichen Schutzpflicht und des Gemeinwohls<br />

möglich ist. Hierbei können auch mehrere Gemeinwohlbelange betroffen<br />

sein. Gleich gerichtete Belange können summiert werden und so ein bestimmtes,<br />

mit der staatlichen Maßnahme verfolgtes Ziel samt den dahinter<br />

stehenden Schutzgütern in der Abwägung stärken. Bezüglich der staatlichen<br />

Interessen ist zu beachten, dass es bei der Abwägung nicht nur um den staatlichen<br />

Schutzauftrag geht, sondern auch um ein Ermöglichungsrecht zu-<br />

802 Calliess (FN 288), S. 574, 481<br />

803 So auch Pitschas, DÖV 2002, 221; Stober ZRP 2001, 260 ff.; Winter, Entscheidungsbildung<br />

und Alternativen, 1997, Canaris, Jus 89, 161,163 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof<br />

(FN 125), Bd. V, § 111 Rn 4, 165 ff., Hoffmann-Riem, DVBl 1994,1381<br />

804 So im Ergebnis auch Jakobs (FN 757), S. 111<br />

218


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

gunsten des fortschrittlichen Handelns. <strong>Die</strong> genehmigungsrechtlichen Strukturen<br />

sollen einen Ausgleich grundrechtlicher Positionen ermöglichen805 .<br />

Der Gesetzgeber hat die Interessen aller Betroffenen zu berücksichtigen. Mit<br />

dem Maßstab des Über- und Untermaßverbotes kann die Wirksamkeit der<br />

Maßnahme unter Berücksichtung der insoweit entgegenstehenden Interessen<br />

auch dogmatisch umgesetzt werden806 . Sowohl die Belange potenzieller Risikoverursacher<br />

und -opfer wie auch allgemeine gesellschaftliche Belange<br />

mit Gemeinwohlcharakter sind in die Gewichtung einzustellen. Hierbei geht<br />

es um eine bessere zeitliche, räumliche und soziale Verteilung den Risikofolgen<br />

und Risikovermeidungskosten. Instrumente wie unbestimmte<br />

Rechtsbegriffe und Ermessen befähigen die Verwaltung, als Treuhänderin<br />

der Interessenoptimierung zu wirken und eine für alle Beteiligten angemessene<br />

Eingriffsalternative zu wählen807 . An der Stelle wird der Mehrwert des<br />

multipolaren Ansatzes deutlich: Der Wert aller kollidierenden Belange gerät<br />

stärker ins Blickfeld. Bei der klassischen Prüfung stehen dagegen der Freiheitsgebrauch<br />

und das ausnahmsweise entgegenstehende Gemeinwohl im<br />

Mittelpunkt. <strong>Die</strong>se Perspektive wird in den multipolaren Erwägungen aufgegeben.<br />

<strong>Die</strong> Rangbewertung ermöglicht, anders als die klassische Schrankenprüfung,<br />

eine dogmatische Gleichberechtigung gegenläufiger Interessen<br />

und die gegenseitige Optimierung. Unter Hinzuziehung aller Handlungsalternativen<br />

muss es weder zu einem Totaleingriff noch zu einer Totalfreiheit<br />

kommen. Je nach Grad der Gewichtung des einen Gutes kann die Akzeptanz<br />

der Nichtberücksichtigung des anderen Gutes variieren.<br />

Der Verwaltung kommt somit eine planerische Funktion zu. Erst wenn es zu<br />

einer Gleichgewichtung von schützenswerten und vom Schutzkonzept betroffenen<br />

Belangen, also einem Abwägungspatt, kommt, hat der Staat einen<br />

gerichtlich nicht mehr überprüfbaren Handlungsspielraum. Dabei können alle<br />

nach dem beschriebenen Korridor zulässigen Handlungsalternativen miteinander<br />

verglichen und gegeneinander abgewogen werden. Aufgrund des<br />

verstärkten Blickes auf das schützenswerte Drittinteresse kann die für alle<br />

optimale Handlungsalternative gewählt werden. Das Ergebnis der Entscheidung<br />

kann daher von der klassischen Erforderlichkeitsprüfung abweichen.<br />

<strong>Die</strong> Alternativenprüfung wird durch geeignete Verfahren, wie eine frühzeitige<br />

Einbindung der Beteiligten in den Kommunikationsprozess, erleichtert.<br />

805 Vgl. zur Summierung von Belangen: Calliess, DVBl 2003, S. 1096, 1103, und Calliess<br />

(FN 288), S. 580; dies bestätigend: Wahl (FN 601), S. 76<br />

806 BVerfG, NJW 1996, 651 - Bodenozon, BVerfGE 88, 203, 254 - Schwangerschaftsabbruch<br />

II<br />

807 Calliess (FN 288), S. 161, 601<br />

219


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Bedenken gegen den multipolaren Ansatz wegen der Verkomplizierung der<br />

Güterabwägung erscheinen nachvollziehbar. Sie sind allerdings der verbesserten<br />

Konturierung der Belange geschuldet. <strong>Die</strong> Befürchtung, dass die Qualität<br />

einzelner Freiheitsrechte unterschiedslos zu einer allgemeinen Freiheitsberechtigung<br />

eingeebnet werden könnte, verkennt, dass vorhandene<br />

Unsicherheiten bei der Abwägungsfrage auf das Problem der Prognose zurückzuführen<br />

sind. <strong>Die</strong>se setzt eine gewisse Flexibilität des Handelnden<br />

voraus, um die geforderten staatliche Schutzfunktion überhaupt erfüllen zu<br />

können. <strong>Die</strong> Kritik knüpft damit faktisch an der Kompetenz des Handelnden<br />

und an den Unschärfen der Gewaltenteilung an. Der Gesetzgeber hat im<br />

Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit mehr Beurteilungsspielraum als die<br />

Verwaltung, die bei der Rechtsanwendung i.V.m. unbestimmten Rechtsbegriffen<br />

oder Ermessensspielräumen an konkretisierte Leitlinien und Schutzkonzepte<br />

gebunden ist 808 .<br />

d) Ergebnis<br />

Es bleibt festzuhalten, dass gerade für das technische Sicherheitsrecht in den<br />

letzten Jahren die Einsicht gereift ist, dass es bei den betroffenen Entscheidungen<br />

nicht nur um ein Begrenzungs- und Kontrollrecht entsprechend dem<br />

staatlichen Schutzauftrag geht, sondern auch ein Ermöglichungsrecht zugunsten<br />

des fortschrittlichen Handelns. <strong>Die</strong> Belange potenzieller Risikoverursacher<br />

und Risikoopfer müssen ebenso berücksichtigt werden wie allgemeine<br />

gesellschaftliche Belange mit Gemeinwohlcharakter. Alle beteiligten<br />

Interessen können über eine multipolare Gesamtabwägung in Einklang gebracht<br />

werden. Über Auflagen und Nebenbestimmungen können dabei auch<br />

sehr konkrete Belange Dritter berücksichtigt werden, die über diffusere<br />

Staatsziele und Gemeinwohlorientierung kaum Beachtung finden könnten.<br />

<strong>Die</strong> mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung ist danach wie folgt strukturiert809<br />

:<br />

(1) Abgrenzung der betroffenen Rechtspositionen (z.B. körperliche Unversehrtheit<br />

des potenziellen Opfers sowie Handlungsfreiheit des Eingriffsadressaten)<br />

und damit verbundenes staatliches Schutzkonzept;<br />

(2) Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme zum Schutz der<br />

Rechtsposition (Untermaßverbot);<br />

808 Zum Entscheidungsspielraum der Verwaltung im Lichte des Gesetzesvorbehaltes:<br />

Calliess (FN 288), S. 583, 586; s.a. Teil 2 II.3.<br />

809 Calliess, JZ 2006, S. 321, 329<br />

220


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

(3) Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs in eine Rechtsposition<br />

(Übermaßverbot);<br />

(4) Alternativprüfung der Maßnahmen zu 2. und 3 gegenüber der jeweils<br />

anderen Rechtsposition sowie Gesamtabwägung der kollidierenden Belange,<br />

Zumutbarkeitsprüfung (Angemessenheit).<br />

3. Gerichtliche Kontrolle der multipolaren Entscheidung<br />

Im Anschluss an das geschilderte Prüfungsschema fragt sich also, welcher<br />

Kontrollmaßstab bei der gerichtlichen Prüfung sowohl der legislativen als<br />

auch der verfahrensmäßigen Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht angewendet<br />

werden muss.<br />

a) Legislatives Tätigwerden<br />

Bezogen auf legislatives Tätigwerden wurde angesprochen, dass das BVerfG<br />

dem Gesetzgeber in dem Zusammenhang unter Einhaltung der Vorgaben der<br />

Wesentlichkeitstheorie grundsätzlich einen breiten Gestaltungsspielraum bei<br />

der Wahrung der betroffenen Belange zubilligt. Eine weitergehende Überprüfung<br />

scheitert nicht etwa an der Reichweite von Schutzpflichten oder<br />

dem Abwägungsvorgang selbst. Wie schon in 2. Kapitel dargelegt, ist die<br />

Begrenzung richterlicher Kontrollmaßstäbe ein genereller Ausdruck der<br />

Gewaltenteilung. Grundsätzlich besagen Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeitsprinzip<br />

und das Bestimmtheitsgebot, dass allein der Gesetzgeber zur<br />

Entscheidung von abwägenden, politischen Fragestellungen berechtigt sein<br />

soll, nur er trägt dem Wähler und damit der Gesellschaft gegenüber unmittelbar<br />

Verantwortung. Er ist dafür rechenschaftspflichtig810 . Es geht allein<br />

um die Frage, ob der Gesetzgeber effektiv tätig geworden ist. In welcher<br />

Form, ist wegen seines Gestaltungs- und Prognosespielraums ihm überlassen811<br />

. Zunächst ging das BVerfG von einer bloßen Evidenzkontrolle aus,<br />

wonach nur das Fehlen von Maßnahmen oder offensichtlich ungeeignete gesetzgeberische<br />

Maßnahmen zu einer Verletzung der Schutzpflicht führen812 .<br />

Einen differenzierteren Prüfungsmaßstab legt das BVerfG zu Grunde. Es unterscheidet<br />

bei der Kontrolle des Gesetzgebers zwischen Evidenz-, Vertret-<br />

810 Vgl. Teil 2 II.2.a)<br />

811 Vgl. Isensee (Fn 527), S. 53; so steht dem Gesetzgeber im allgemeinen im Rahmen<br />

von Berufsausübungsregeln ein erheblicher Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum<br />

zu: vgl. BVerfGE 39, 210 (225 f.); 77, 84 (106); 77, 308 (322) , s.a. Differenzierung<br />

in BVerfGE 7, 377, 417 – Apothekenurteil<br />

812 BVerfGE 79, 174, 254 - Straßenverkehrslärm; BVerfGE 56, 54, 89 - Fluglärm<br />

221


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

barkeits- und Inhaltskontrolle, je nach Gewichtung des betroffenen Rechtsgutes<br />

und der Komplexität der gesetzgeberischen Prognose zur gebotenen<br />

Reichweite des Eingriffs813 . Gerade infolge der Entwicklungen zur Schutzpflichtendiskussion<br />

und zur Begründung von subjektiv-öffentlichen Abwehransprüchen<br />

wurde mit der Vertretbarkeitslehre, also der Forderung vertretbarer<br />

Wertungen und Tatsachenermittlung, ein strengerer Prüfungsmaßstab<br />

entwickelt. Ist nur eine Entscheidung vertretbar, gleicht dies einer Inhaltskontrolle.<br />

Insoweit ist auch die Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens<br />

der richterlichen Überprüfung zugänglich. Aufgrund der zur Gleichgewichtung<br />

von Abwehrrecht und Schutzpflichten bereits getroffenen Aussagen<br />

muss aber auch bei der gerichtlichen Prüfung sichergestellt sein, dass<br />

der Evidenz- oder Vertretbarkeitsmaßstab für Über- und Untermaßverbot<br />

gleichermaßen, also kongruent angewendet wird814 . Eine Verdichtung der<br />

Evidenzkontrolle hin zu einer Vertretbarkeitskontrolle oder gar Inhaltskontrolle<br />

ist aber nur ganz ausnahmsweise möglich815 . Konkretisierende Anhaltspunkte<br />

zu diesen begrenzten Ausnahmen ergeben sich nach schon angeführten<br />

Entscheidungen des BVerfG aus dem jeweiligen Sachbereich selbst<br />

und der Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter816 .<br />

Eine wichtige Rolle für die Prüfungstiefe spielen auch die Schranken-<br />

Schranken der Verfassung. Der Gesetzgeber selbst unterliegt danach bei<br />

Grundrechtseingriffen Einschränkungen. Insbesondere die Wesensgehaltsgarantie<br />

der Grundrechte nach Art. 19 Abs. 2 GG bestimmt einen materiellen<br />

Mindestinhalt der Freiheitssicherung, wonach ein Kernbereich der jeweiligen<br />

Grundrechte unantastbar bleiben soll. <strong>Die</strong> Reichweite des Wesensgehaltes<br />

ist umstritten, letztlich geht es aber um die Wahrung der den Grundrechten<br />

zugewiesenen Kernfunktion817 . Neben diesen absoluten Wesensgehalt<br />

tritt der relative Wesensgehalt, der über die Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

zu sichern ist, hierbei müssen auch die grundrechtlichen<br />

Schutzpflichten beachtet werden818 . <strong>Die</strong> Kriterien des richterlichen<br />

Prüfungsmaßstabes können damit wie folgt zusammengefasst werden: <strong>Die</strong><br />

Größe der Kontrolldichte hängt vom personalen Bezug und der Wertigkeit<br />

813 Vgl. dazu schon Teil 3 IV.2.b)ee); zu den divergierenden Prüfungsmaßstäben vgl.<br />

BVerfGE 50, 290, 332 f. - Mitbestimmungsgesetz<br />

814 Zum Gebot der kongruenten Kontrolldichte von Abwehrrecht und Schutzpflicht,<br />

Calliess (FN 288), S. 463, S. 587<br />

815 So Möstl, DÖV 1998, S. 1029, 1038<br />

816 Beispielhaft BVerfGE 88, 203, 265 - Schwangerschaftsabbruch II (vgl. FN 782)<br />

817 Hinweis auf diverse BVerwGE und BVerfGE sowie Literaturauffassungen: Bleckmann,<br />

Staatsrecht II, <strong>Die</strong> Grundrechte, § 12 Rn 152<br />

818 Vgl. Zippelius/Würtenberger (FN 339), S. 191 ff.<br />

222


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

der betroffenen Rechtsgüter, der Eigenart der Materie sowie der Eingriffsintensität<br />

ab. Bei Prognose- und Abwägungsentscheidungen ist die Kontrolldichte<br />

reduziert. Hier scheidet eine Inhaltskontrolle aus 819 .<br />

b) Kontrolle der Genehmigungsentscheidung<br />

Verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe sind regelmäßig dem Eingriffsadressaten<br />

vorbehalten, im Falle des Genehmigungsverfahrens also dem Antragsteller.<br />

Zumeist fehlt es an einer drittschützenden Normqualität zugunsten eventuell<br />

betroffener Dritter. <strong>Die</strong> Voraussetzungen für entsprechende Ausnahmen<br />

wurden bereits erörtert. Der Ausweitung des Schutzgedankens wirkt im Falle<br />

der Kombination mit dem dynamischen Charakter des Vorsorgeprinzips in<br />

erheblicher Weise kompetenz- und eingriffserweiternd. <strong>Die</strong> entsprechenden<br />

Bedenken zum Präventionsstaat wurden bereits angesprochen820 . Das<br />

Rechtsstaatsprinzip und dessen gegenläufig wirkenden materiellen Grundrechtsgewährleistungen<br />

führen zwangsläufig zu einem erhöhten Spannungsverhältnis<br />

der Belange. Auch innerhalb des Rechtsstaatsprinzips kommt es<br />

zum Konflikt zwischen seinem einerseits wahrenden und andererseits dynamischen<br />

Charakter, der sich auf die Ermöglichung von gesellschaftlichen<br />

Fortschritt und Wandel bezieht. Hinzu kommt seine Auftrags- und Rechtfertigungsfunktion821<br />

. <strong>Die</strong>ser Konflikt ist bei der Kompetenzabgrenzung staatlicher<br />

Gewalten zu berücksichtigen.<br />

Grundsätzlich ist der Handlungsspielraum der Exekutive geringer als der des<br />

Gesetzgebers, da diese auch durch einfachgesetzliche Vorgaben gebunden<br />

ist. In diesem Bereich spielen auch die verfassungsrechtlich gebotenen Konkretisierungsnormen<br />

eine wichtige Rolle822 . <strong>Die</strong> hierdurch eingeschränkten<br />

strukturellen Spielräume der Verwaltung zeichnen sich durch die Abwesenheit<br />

von Ge- und Verboten aus. Dabei müssen Zwecksetzungs-, Mittelwahlund<br />

Abwägungsspielräume unterschieden werden. Daneben treten die auf<br />

unsicherer Erkenntnis basierenden Spielräume (epitemistische Spielräume),<br />

die entweder auf empirischen oder aber auch normativen Erkenntnisdefiziten<br />

beruhen können. Gerade diese Entscheidungsspielräume sind verfassungsrechtlich<br />

kontrovers. Sie werden mit dem Grundsatz der Je-desto-<br />

Formel eingeschränkt. <strong>Die</strong> zulässige Eingriffsintensität hängt danach von<br />

der Schadensgewichtung ab823 . Das Verwaltungsermessen wird durch die<br />

819 Siehe auch Schuppert, AÖR 120, 1995, S 32, 91 f.<br />

820 Vgl. Teil 3 II.<br />

821 Calliess (FN 288), S. 244, 250<br />

822 Vgl. Teil 2 III.2.b)bb)<br />

823 Alexy, VVDStRL 61/2001, S. 7, 15 ff., 28<br />

223


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflichten gesteuert824 . Hierbei werden<br />

auch die Parallelen zum Prüfungsmaßstab bei Gefahrensituationen deutlich,<br />

wonach die Rechtsgutqualität und Eingriffsintensität miteinander korrelieren.<br />

Der infolge der Gefahren- und Risikobewertung bestehende Entscheidungsspielraum<br />

bzw. Abwägungsspielraum ist grundsätzlich nicht der gerichtlichen<br />

Kontrolle zugänglich. Im Zusammenhang mit unbestimmten Rechtsbegriffen,<br />

wie z.B. Ermessen, räumt der Gesetzgeber der Exekutive das<br />

Recht ein, von ihm getroffene Abwägungen zu Ende zu führen, so auch im<br />

Bereich der Risikoermittlung und -bewertung. Eine über die Verpflichtung<br />

zur ermessensfehlerfreien Entscheidung hinausgehendes Bescheidungsurteil<br />

i.S.v. § 113 Abs. V VwGO scheitert wegen der regelmäßig fehlenden<br />

Spruchreife i.V.m. der gebotenen Ermittlung von Tatsachengrundlagen, für<br />

die gerade bei komplexen Sachfragen, Zweckmäßigkeitserwägungen und<br />

politischen Einschätzungsspielräumen regelmäßig die Behördenkompetenz<br />

bemüht werden muss825 . Wegen der Prognosequalität risikoorientierter Entscheidungen<br />

trägt die Exekutive hier aus Sicht des Gesetzgebers grundsätzlich<br />

die Letztverantwortung. <strong>Die</strong> richterliche Kontrolle ist schon deshalb begrenzt,<br />

weil die Grenzen des gesetzlich Normierbaren eine grundsätzliche<br />

Teilverantwortung der Exekutive für die Risikoermittlung und -bewertung<br />

implizieren. <strong>Die</strong> vorsorgeimmanente und infolge defizitärer wissenschaftlicher<br />

Erkenntnisse praktische Unmöglichkeit präziser gesetzlicher Vorgaben<br />

führt zu einem Fehlen richterlicher Überprüfungsmaßstäbe. <strong>Die</strong> reduzierte<br />

gerichtliche Kontrolle muss sich deshalb auf den Prozess der Risikoermittlung<br />

und Einbeziehung des vorhandenen Wissens sowie die Einhaltung des<br />

Verfahrens beschränken826 . Es kann auf die zu Beurteilungsspielräumen erörterten<br />

Grundsätze verwiesen werden, wonach eine nur begrenzte richterliche<br />

Kontrolle stattzufinden hat827 . Das Gericht beschränkt sich demnach auf<br />

eine dem § 114 VwGO entsprechende Kontrolle der allgemeinen Rechtsprinzipien,<br />

insbesondere eine Willkürkontrolle.<br />

Das BVerwG spricht in dem Kontext von einem Funktionsvorbehalt der Genehmigungsbehörde828<br />

. <strong>Die</strong> richterliche Überprüfung risikosteuernder Konkretisierungsvorschriften<br />

beschränkt sich auf die zutreffende und vollständi-<br />

824 Isensee (FN 527), S. 54<br />

825 So Wahl, NVwZ 1991, S 409, 411; vgl. dazu auch Kopp, Kommentar zur VwGO, §<br />

113 Rn 195, 199<br />

826 Wahl, in: ders. (FN 300), S. 144 f.<br />

827 Vgl. Teil 2 II.3.b)cc)<br />

828 BVerwGE 106, 155, 122<br />

224


IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />

ge Sachverhaltsermittlung sowie eine zutreffende Anwendung des gesetzlichen<br />

Rahmens der Beurteilungsermächtigung829 . Überdies dürfen keine<br />

zweckfremden Erwägungen in die Beurteilung eingestellt werden. <strong>Die</strong> Gerichte<br />

sind auf die Prüfung beschränkt, dass sie willkürfrei festgelegt wurden<br />

und die Verwaltungsbehörde von einer hinreichend konservativen Abschätzung<br />

der risikorelevanten Parameter ausgehen durfte830 . Nur evidente Verstöße<br />

gegen wissenschaftliche Erkenntnisse würden zur Rechtswidrigkeit<br />

der Entscheidung führen. <strong>Die</strong>s wäre beispielsweise der Fall, wenn die bei<br />

der Entscheidung zu Grunde gelegten Studien bereits nicht mehr aktuell waren.<br />

Insoweit ist auch die Beteiligung des externen Sachverstandes beim Zustandekommen<br />

der Vorschriften von Bedeutung.<br />

Über die Verhältnismäßigkeitskontrolle eröffnen sich gleichwohl gewisse<br />

Prüfungskompetenzen zur Frage der hinnehmbaren Risiken. <strong>Die</strong>s setzt dem<br />

Handlungsspielraum der Exekutive Grenzen. Mit Blick auf die verbleibende<br />

Unbestimmtheit der gesetzlichen Regelungen wirkt schließlich auch die Information<br />

und Beteiligung der Betroffenen im Verfahren kompensierend831 ,<br />

so dass eine geringere Kontrolldichte auch aus Sicht der potenziell schutzwürdigen<br />

Belange akzeptabel erscheint.<br />

c) Ergebnis<br />

Risikoorientierte Entscheidungen mit Prognosecharakter unterliegen einer<br />

eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Wie bei den Lehren zu Ermessensfehlern<br />

und Beurteilungsspielräumen festgestellt, beschränken sich die Kontrollen<br />

auf die Einhaltung des Verfahrens sowie die Beachtung übergeordneter<br />

Rechtsprinzipien. Hierzu gehören insbesondere Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

und Willkürverbot. <strong>Die</strong> im Verhältnismäßigkeitsprinzip angelegte<br />

Interessenabwägung eröffnet dennoch erhebliche gerichtliche Prüfungskompetenzen.<br />

Gerade die im Rahmen des multipolaren Prüfungsansatzes unter<br />

Beachtung von Über- und Untermaßverbot vorgesehene Effektuierung der<br />

geeigneten und erforderlichen Schutzkonzepte ermöglicht dem Gericht eine<br />

Vertretbarkeitskontrolle der Maßnahme. Sie beinhaltet nicht nur den Normzweck,<br />

sondern auch die Optimierung der Durchsetzbarkeit betroffener Belange.<br />

Dem Entscheidungsspielraum der Verwaltung setzt dies Grenzen.<br />

829 BVerwG, Krankenhausbedarfsplan-Entscheidung, in: BVerwGE 72 (1986), 38 (54)<br />

830 BVerwG, Wyhl-Entscheidung (FN 650), S. 300 (321)<br />

831 Calliess, JZ 2006, 321, 329, siehe dazu auch schon Teil 2 III.2.b)cc)<br />

225


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

4. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Es bleibt festzustellen, dass Risikovorsorge und Gefahrenabwehr zwei voneinander<br />

abgrenzbare Bereiche der Schadenprävention bilden. Aus dem Gefahrenabwehrstaat<br />

wird zunehmend ein Risikovorsorgestaat832 . <strong>Die</strong> mit der<br />

Vorverlagerung des staatlichen Schutzes verbundene Rechtfertigung wird<br />

mit einem verschärften sicherheitstechnischen Postulat begründet. Unzumutbare<br />

Schäden müssen trotz Ungewissheit verhindert werden. Der Grundsatz<br />

der Verhältnismäßigkeit weist die Vorsorgverpflichtung gleichzeitig in<br />

die Schranken. Hier gilt der Maßstab wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnisse<br />

und Erfahrungen833 . <strong>Die</strong> gänzliche Vermeidung von Schäden ist<br />

aber auch mit dem Vorsorgeprinzip nicht möglich.<br />

Bei der Risikovorsorge geht es nicht nur um ein Begrenzungs- und Kontrollrecht<br />

entsprechend dem staatlichen Schutzauftrag, sondern auch ein Ermöglichungsrecht<br />

zugunsten des fortschrittlichen Handelns. Es bedarf eines<br />

Ausgleichs der beteiligten grundrechtlichen Positionen. Mit dem Maßstab<br />

des Untermaßverbotes wird ein verfassungsrechtlich gebotener Mindeststandard<br />

für das schützenswerte Interesse etabliert, der mit dem Übermaßverbot<br />

auf Seiten des Begünstigten korrespondiert. Beide Interessen müssen<br />

in dem Rahmen gegeneinander abgewogen werden. <strong>Die</strong> gerichtliche Kontrolle<br />

der Erfüllung dieser Pflichten richtet sich, bezogen auf legislatives Tätigwerden<br />

nach dem Vertretbarkeitsmaßstab, hinsichtlich administrativer<br />

Entscheidungen nach den für die Ermessensfehlerlehren entwickelten<br />

Grundsätzen. <strong>Die</strong> multipolare Verhältnismäßigkeitsprüfung und übergeordnete<br />

Verfassungs- bzw. Gemeinschaftsrechtsprinzipien beschränken bestehende<br />

Entscheidungsspielräume.<br />

V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

In Teil 1 der Arbeit wurde festgestellt, dass die Eingriffsschwelle von Exportkontrollen<br />

noch näher bestimmt werden muss, insbesondere mit Blick<br />

auf die Formulierung „sachdienliche Erwägungen“ in Art. 8 Dual-use-VO<br />

und den Begriff der „Gefährdung“ in §§ 3, 7 AWG. Ob eine Zuordnung der<br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungserfordernisse zum Bereich der Gefahrenabwehr<br />

oder aber der Risikovorsorge zugeordnet werden kann, richtet<br />

sich nicht allein nach Wortlaut der Ermächtigungsnormen. <strong>Die</strong> Bestimmung<br />

der Eingriffsschwelle orientiert sich auch am Schutzzweck der Kontrollen.<br />

Der systematische Ansatz der Kontrollen bietet hierfür ebenfalls Hinweise.<br />

832 Calliess (FN 288), S. 97<br />

833 Germann (Fn 569), S. 38, 48<br />

226


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Nachdem bei der Umsetzung von <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten<br />

bisher auf den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff zurückgegriffen<br />

wird, verdienen zunächst die möglichen Parallelen zum Polizeirecht eine<br />

nähere Betrachtung. Dem gegenüber steht die ordnungsrechtliche Strukturierung<br />

der Genehmigungsverfahren, die eine Bezugnahme nicht nur auf<br />

Gefahren, sondern auch auf Risiken durchaus rechtfertigen könnten. Eine<br />

erweiterte Interpretation des Gefahrenbegriffs, d.h. eine Vorverlagerung von<br />

Abwehrmaßnahmen auf die Risikoebene könnte aufgrund der teilweise sehr<br />

offenen Formulierung der Tatbestände wie auch häufig bestehender Erkenntnisdefizite<br />

bzw. Ungewissheit möglich sein834 . <strong>Die</strong> Dynamik des Sicherheitsrechts<br />

wird nicht nur im technischen Sicherheitsrecht des Umwelt-,<br />

Gesundheits- und Verbraucherschutzes deutlich. Gerade in Bereichen des<br />

Ordnungsrechts, die in der Vergangenheit noch als spezielles Polizeirecht<br />

eingestuft wurden, gehen die gesetzlichen Normierungen inzwischen weit<br />

über die Gefahrenabwehr hinaus. Präventive Ansätze in Form von Genehmigungspflichten<br />

wurden auf die Risikovorsorge ausgeweitet. <strong>Die</strong>se Entwicklung<br />

soll den Anforderungen an die zunehmende Vernetzung, Komplexität<br />

und gegenseitige Abhängigkeit bestimmter Sachbereiche Rechnung<br />

tragen, auch im internationalen Kontext835 . <strong>Die</strong> zum Vorsorgeprinzip angestellten<br />

Überlegungen sind in diese Untersuchung einzubeziehen. Daher soll<br />

geprüft werden, welche Lehren bzw. Grundsätze für <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />

aus anderen sicherheitsrechtlichen Bereichen auf die Exportkontrollen übertragbar<br />

erscheinen.<br />

Nach einer Konkretisierung der Eingriffsschwelle sollen die verfassungsrechtlichen<br />

Grenzen des Eingriffs und die damit einhergehenden Anforderungen<br />

an die Verwaltung näher bestimmt werden.<br />

1. Risiko und Vorsorgeprinzip im Polizeirecht<br />

Mit komplexeren Waffensystemen und asymmetrischen Bedrohungen, wie<br />

dem grenzüberschreitenden Terrorismus. bestehen bei Exportkontrollen Verknüpfungen<br />

zu Fragen der äußeren und inneren Sicherheit. Das Vorsorgeprinzip<br />

und dessen Bedeutung für die vorgelagerte Gefahrenabwehr könnten<br />

also auch in diesem Bereich eine wichtige Rolle für die Umsetzung staatlicher<br />

Sicherheitsgewährleistungen spielen. <strong>Die</strong>s aber würde eine Abkehr vom<br />

Konzept der Eingriffsermächtigung aufgrund konkreter Gefahren erfordern,<br />

wie es im Polizeirecht für die Wahrung der inneren Sicherheit entwickelt<br />

834 Vgl. Teil 1 II.5.e)<br />

835 So auch Kugelmann (FN 138), S. 30 Rn 125 f.<br />

227


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

wurde. An dessen Stelle würde die umfassende Risikovorsorge treten. Zunächst<br />

muss daher untersucht werden, ob im Polizeirecht selbst eine Entwicklung<br />

hin zu einer erweiterten Auslegung des Gefahrenbegriffs festgestellt<br />

werden kann.<br />

a) Subjektivierung der Gefahr und vorbeugende Prävention im Polizeirecht<br />

Sicherheit wurde im Polizeirecht bisher in Form der Abwesenheit von Gefahren<br />

definiert. Auf den durch das Kreuzbergurteil des PrOVG geprägten<br />

klassischen Gefahrenbegriff sowie dessen Bezugspunkt, die öffentliche Sicherheit<br />

und Ordnung sowie die dahinter stehenden Individualbelange und<br />

staatlichen Institutionen, wurde bereits eingegangen. Bei der Feststellung<br />

einer Gefahrensituation kommt es insbesondere auf das Wahrscheinlichkeitskriterium<br />

an. Das erfordert einen Kausalzusammenhang zwischen<br />

Schaden und Ursache. <strong>Die</strong>ser objektive Befund wird durch einen Trend der<br />

Versubjektivierung relativiert. Ziel der Befürworter dieser Entwicklung ist<br />

es, mehr Abwägungsspielraum und flexibleres Handeln der Polizei zu ermöglichen.<br />

Hierbei wird bereits tatbestandsmäßig die Verantwortung für das<br />

Entstehen vermeintlicher Gefahren auf den Eingriffsadressaten abgewälzt836 .<br />

Ein weiterer Wandel hat sich mit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

vollzogen837 . Es bejaht eine Eingriffsbefugnis in das Recht<br />

auf informationelle Selbstbestimmung. <strong>Die</strong>ses Recht wurde zwar unter Gesetzesvorbehalt<br />

gestellt. <strong>Die</strong> Rechtfertigung eines Eingriffs in das Schutzgut<br />

ist also bei Vorliegen überwiegender Allgemeininteressen möglich. Mit Einführung<br />

informationsrechtlicher Befugnisse im Rahmen „vorbeugender<br />

Straftatenbekämpfung“ erfolgte eine Abkehr vom klassischen Gefahrenbegriff.<br />

Der Begriff der Straftatenverhütung wurde etabliert. <strong>Die</strong> Einstellung<br />

kollektiver Interessen in die Abwägung ist zwar nicht neu838 , mit dem Volkszählungsurteil<br />

aber wurde die Gemeinschaftsbezogenheit der Grundrechtsgewährleistungen<br />

erstmals einem eigenständigen Rechtsgut gleichgestellt.<br />

<strong>Die</strong> Eingriffsbefugnis wird schließlich über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />

und dem daraus abzuleitenden Erfordernis hinreichender organisatorischer<br />

wie verfahrenstechnischer Vorkehrungen beschränkt839 .<br />

836 So Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 1 Rn 30, zu den Abgrenzungen des Gefahrenbegriffs<br />

vgl. Teil 3 II.4.a)<br />

837 Volkszählungsurteil, BVerfGE, 65, 1 ff.<br />

838 BVerfGE 4, 7 (15); 8, 274 (329); 27, 344 (351 f.); 50, 290 (353), 56, 37 (49)<br />

839 Volkszählungsurteil, BVerfGE, 65, 1 (44)<br />

228


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Dennoch, infolge dieser Rechtsprechung wurde auch im Polizeirecht eine<br />

Tendenz bestätigt, die Aufgaben der Gefahrenabwehr auf das Vorfeld einer<br />

Straftat auszuweiten. Nunmehr war dokumentiert, dass eine Rechtfertigung<br />

von grundrechtsrelevanten Eingriffen auch in diesem frühen Präventionsstadium<br />

möglich ist. In Verbindung mit der Zunahme organisierter Verbrechensbekämpfung<br />

entwickelten sich auch die praktischen Bedürfnisse, den<br />

Sicherheitserwartungen der Allgemeinheit zu entsprechen840 . <strong>Die</strong> Vorsorgediskussion<br />

hat zwischenzeitlich das gesamte Sicherheitsrecht erfasst. Gerade<br />

bei der Kriminalprävention sorgen organisierte und zunehmend komplexere,<br />

schwer zu identifizierende Kriminalität, grenzüberschreitende Netzwerke,<br />

die Nutzung von anonymen Kommunikationsmitteln wie Internet und Mobilfunk,<br />

aber auch die Terrorismusprävention für den Ruf nach einem „stärkeren“<br />

Staat.<br />

Dazu trägt auch die Medientransparenz bei, die zu einer stärkeren Verunsicherung<br />

der Bevölkerung führt. Aktuelles Beispiel hierfür sind die Äußerungen<br />

des Bundesinnenministers, der den Blick in die Köpfe künftiger Täter<br />

werfen und solche „Gefährder“ auf der Grundlage des Begriffs der „Gefahrengefahr“<br />

frühzeitig, auch ohne konkrete Verdachtsmomente, stoppen<br />

will. Dabei soll eine zentrale Anti-Terrror-Datei mit Daten aus den Einwohnermelderegistern<br />

oder von den Mautbrücken der Autobahnen gespeist werden841<br />

. Von dieser aus verfassungsrechtlicher Sicht höchst sensiblen Diskussion<br />

werden auch viele andere Bereiche der Kriminalität erfasst. <strong>Die</strong>se Tendenz<br />

erscheint aber wegen der soeben genannten Hürden für den Rechtsstaat<br />

gefährlich, da viele, an sich nicht risikorelevante Gruppen, durch vorgelagerte<br />

Eingriffe betroffen sind und deren Rechte zum Teil erheblich beeinträchtigt<br />

werden.<br />

<strong>Die</strong> Polizeigesetze der Länder sehen heute neben der klassischen Gefahrenabwehr<br />

auch Eingriffsbefugnisse zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten<br />

oder zur Vorbereitung künftiger Gefahrenabwehrmaßnahmen vor. Soweit<br />

hinreichende Anhaltspunkte für künftige Rechtsgutsverletzungen<br />

(durch Kriminelle) gegeben sind, wird damit beispielsweise eine verstärkte<br />

Polizeipräsenz gerechtfertigt. Hierunter fallen auch erkennungsdienstliche<br />

Maßnahmen oder das Vorhalten von Daten842 . Gerade in Bereichen der Datenerhebung<br />

und Identitätsfeststellung kommt es zu einer immer stärkeren<br />

Überschneidung von Aufgaben der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr.<br />

840 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 1 Rn 32 ff.<br />

841 Spiegel Nr. 16/ 2007, S. 25; sowie Artikel „Empörung über Schäubles Abkehr von<br />

der Unschuldsvermutung“, Spiegel-Online v. 18.04.2007<br />

842 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 5 Rn 4 ff.<br />

229


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

<strong>Die</strong>se zur polizeilichen Ermittlungstätigkeit zählenden operativen Handlungen<br />

erfolgen im Vorfeld einer konkreten Gefahr oder angesichts des Verdachts<br />

einer Straftat843 . <strong>Die</strong> soeben geschilderten Pläne zur Terrorismusbekämpfung<br />

stellen diese Voraussetzungen in Frage.<br />

Vergleichbare Diskussionen gibt es in einer Reihe von Bereichen, wie den<br />

Grenzen der telefonischen Überwachung, zu den Voraussetzungen von Versammlungsverboten<br />

oder beim generellen Datenabgleich verschiedener Sicherheitsbehörden.<br />

An der Stelle kommt es bei der traditionellen rechtsdogmatischen<br />

Begründung der Gefahrenabwehr zu einem Systembruch. Erweiterte<br />

Interpretationen der Aufgabenzuweisung, wie auch bei Befugnissen,<br />

führen zu bereichsspezifischen Ausdifferenzierungen, die von den Strukturmerkmalen<br />

des Gefahrenbegriffs abweichen844 . So wird auch von der Sicherheitsvorsorge<br />

als dritter Säule der Kriminalprävention gesprochen. Sie<br />

trete neben Gefahrenabwehr und Strafverfolgung und ist in Abgrenzung zu<br />

soziologischen und gesellschaftspolitischen Präventionstätigkeiten oder der<br />

täterbezogenen Gefahrenabwehr lediglich situationsbezogen. <strong>Die</strong> Sicherheitsvorsorge<br />

werde zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Das Quasimonopol<br />

der Polizei würde aufgebrochen. <strong>Die</strong> durch das BVerfG im Brokdorf<br />

Urteil845 beschriebene Funktion der Polizei als Mediator würde damit<br />

auch konzeptionell aufgegriffen und durch kooperative Ansätze ergänzt, z.B.<br />

mit Kommunen, zivilen Institutionen und der Wirtschaft erfüllt. Polizeiliches<br />

Handeln und innere Sicherheit würden aufgrund der empirischanalytischen<br />

Betrachtung, wie das soziale und technische Sicherheitsrecht,<br />

zum Risikoverwaltungsrecht846 . <strong>Die</strong>s sei über die Ermächtigung des Rates<br />

zu Maßnahmen der Kriminalitätsverhütung gem. Art. 61a EG auch auf EU-<br />

Ebene vorgesehen und wird dort in vielen Gremien, wie dem Ausschuss der<br />

Regionen und beim Europarat, thematisiert847 .<br />

Im Übrigen muss aber festgestellt werden, dass die gemeinschaftsrechtliche<br />

Dimension des Polizeirechts sich bisher auf eine mittelbare Einflussnahme<br />

aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Konformitätsvorbehalts bzw. Effektivitätsgebotes<br />

beschränkt. <strong>Die</strong> Gemeinschaftsrechtsprinzipien führen zu einer<br />

modifizierten Interpretation der Begriffe öffentliche Sicherheit und Ordnung.<br />

Gemeinschaftsrechtlich geschützte Rechtsgüter werden erfasst und<br />

843 Albers (FN 597), S. 93, 111<br />

844 Ebenda, S. 68<br />

845 BVerfGE 69, 315, 355<br />

846 Pitschas, Öffentliche Sicherheit durch Kriminalprävention und Polizeirecht im kooperativen<br />

Staat, in ders., Kriminalprävention und Neues Polizeirecht, 14, 241 ff.<br />

847 Ebenda, S.17<br />

230


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

sind im Lichte der Gemeinschaftsprinzipien zu interpretieren, z. B. mit Blick<br />

auf das Diskriminierungsverbot oder die schutzrechtliche Dimension der<br />

Grundfreiheiten. Der EuGH nimmt hier eine Interessenabwägung vor848 .<br />

<strong>Die</strong> Tendenz vorsorgender Verbote bestätigt das BVerfG in einem jüngeren<br />

Beschluss, in dem es insgesamt drei Anträge von Globalisierungskritikern<br />

gegen die Versammlungsbeschränkungen der Polizei im Rahmen einer<br />

Sperrzone beim Heiligendamm-Gipfel und deren Bestätigung durch das<br />

OVG Greifswald nicht aufgehoben hat. Zwar hat es das Vorgehen der Polizei<br />

kritisiert, aber aufgrund der nachträglich eingetretenen Entwicklungen,<br />

insbesondere der gewalttätigen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Gipfels,<br />

mit der Absage der Versammlung keinen schweren Nachteil für die Antragsteller<br />

feststellen können849 . Allerdings stellt sich die Frage nach der<br />

Legitimität vorsorgender Polizeitätigkeit. Nur mit Mühe können die o.g.<br />

Eingriffsermächtigungen noch unter den „abstrakten“ Gefahrenbegriff gefasst<br />

werden. Sie müssen sich auf eine zumindest konkretisierbare Gruppe<br />

bestimmter Personen beziehen und eine Wahrscheinlichkeitsprognose noch<br />

möglich erscheinen lassen.<br />

<strong>Die</strong> klassischen, vom preußischen OVG geprägten Merkmale der Gefahrenabwehr<br />

sind infolge dieser Entwicklungen nicht mehr bei allen polizeilichen<br />

Eingriffsermächtigungen erkennbar. Im Rahmen moderner Verbrechensbekämpfung<br />

und neuer polizeilicher Präventivstrategien erfolgt schließlich mit<br />

der zunehmenden Gefahren- und Informationsvorsorge eine eingriffserweiternde<br />

Ausdehnung der Ermächtigungsnormen. <strong>Die</strong> dabei verwendeten Begriffe<br />

sind aus sich selbst heraus wenig verständlich, so dass eine Eingrenzung<br />

für erforderlich erachtet wird. Neben der begrifflichen Präzisierung<br />

über den „vorbeugenden“ Charakter einer Maßnahme werden funktionsund<br />

bereichsspezifische Abgrenzungsversuche unternommen. Allgemeine<br />

Umschreibungsversuche erzeugen aber neue Unschärfen. Unklar bleiben die<br />

Kriterien für die gegenüber der konkreten Gefahr erfolgende Vorverlagerung<br />

der Eingriffsschwelle. In jüngerer Zeit wurde deshalb ebenfalls diskutiert,<br />

ob nicht auch die Abwesenheit von Risiken in den modernen Sicherheitsbegriff<br />

und damit auch in das Polizeirecht zu integrieren sein sollte850 . Das<br />

BVerfG hatte im Volkszählungsurteil zunächst ohne Bezugnahme auf das<br />

Vorsorgeprinzip über konkrete organisatorische und verfahrenstechnische<br />

848 Lindner, JUS 2005, 305, 306, s.a. zu den Begriffen der öffentlichen Sicherheit und<br />

Ordnung Teil 4 II.a)aa) sowie zu den Schutzpflichten Teil 3 II.c)cc)<br />

849 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 64/2007 vom 6. Juni 2007 zum Beschluss vom 6. Juni<br />

2007 – 1 BvR 1423/07 –<br />

850 Albers (FN 597), S.182<br />

231


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Vorgaben für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes versucht, dem Rechtsstaatsprinzip<br />

trotz Vorverlagerung der Gefahrenabwehr zum Erfolg zu verhelfen.<br />

Bei der Vorsorgediskussion geht es weniger um die Frage des Eingriffszeitpunktes<br />

als um die Frage einer Anerkennung bestehender Erkenntnisdefizite.<br />

Allein diese werden für die Rechtfertigung des Vorsorgebedarfs angeführt.<br />

Um dem modernen Profil der polizeilichen „Vorfeldtätigkeiten“ sowie den<br />

notwendigen konzeptionellen und kooperativen Ansätzen gerecht zu werden,<br />

müsse das Polizeirecht angepasst werden. Es wird durchaus hingenommen,<br />

dass sich die kriminalpräventive Risikovorsorge in einem Steuerungsdilemma<br />

befindet und trotz kompensatorischer Ansätze zum Risikomanagement<br />

eine rechtliche Struktur der Risikosteuerung nur bedingt möglich<br />

ist851 . Letztlich werden die am Freiheitsbegriff orientierten verfassungsrechtlichen<br />

Schwächen dieser Ansätze deutlich, so dass die überwiegende<br />

Rechtsauffassung polizeiliche Eingriffsermächtigungen zu Recht an das Vorliegen<br />

einer zumindest abstrakten Gefahr knüpft, wenngleich diese nicht auf<br />

ein bestimmtes Rechtsgut fokussiert ist. <strong>Die</strong>se ist gegeben, wenn fachkundige<br />

Stellen nach allgemeiner Lebenserfahrung eine Sachlage für möglich halten,<br />

die im Falle des Eintritts einer konkreten Gefahr gleicht. <strong>Die</strong> Möglichkeit<br />

bezieht sich auf einen vorhersehbaren Kausalablauf852 . Maßnahmen, die<br />

trotz über diese Möglichkeitsprognose hinausgehende Erkenntnisdefizite<br />

stattfinden, sind dem Risikobereich zuzuordnen.<br />

<strong>Die</strong> außenpolitischen und völkerrechtlichen Aspekte der „Gefahrenabwehr“<br />

sind für die Interpretation des modernen Polizeirechts ebenfalls von Bedeutung.<br />

<strong>Die</strong> Funktionalität des Präventionsstaates hängt nicht mehr allein von<br />

der Effizienz der polizeilichen und nachrichtendienstlichen Institutionen ab,<br />

sondern vor allem auch dem Funktionieren der internationalen Beziehungen853<br />

. Mit der Philosophie des „preemptive strikes“ sowie der infolge von<br />

9/11 ausgebauten Institutionen und Instrumente zur Terrorismusprävention<br />

verfolgen zumindest die USA das Ideal absoluter Sicherheit. Das wirkt sich<br />

auf die Entwicklungen in Europa aus. <strong>Die</strong>se Übersteigerung des Sicherheitsdogmas<br />

wurde in Teilen auch durch die terroristischen Anschläge in Europa<br />

befördert. Ergebnis ist ein erheblicher Druck auf die internationalen Institutionen,<br />

entsprechende Verfahren in den dort eingebundenen Nationalstaaten<br />

zu etablieren. <strong>Die</strong>s gilt sowohl für den Informationsaustausch wie<br />

auch eine entsprechende Handlungsfähigkeit bei im präventiven Sinne si-<br />

851 Pitschas (FN 846), S. 265<br />

852 So die von Götz geprägte Auffassung: Götz (FN 588), S. 58<br />

853 Denninger, (FN 345), S. 230<br />

232


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

cherheitsrelevanten Hinweisen. Der umfassenden staatlichen Informationsvorsorge<br />

folgt der Anspruch umfassender „Gefahrenvorsorge“, die faktisch<br />

einer polizeilichen Risikosteuerung nahe kommt 854 . <strong>Die</strong>se Tendenzen drohen<br />

die jahrelangen Bemühungen zum Schutz personenbezogener Daten, die<br />

z.B. über die Auslegung von Art. 8 EMRK oder durch den Art. 8 der EU-<br />

Grundrechte-Charta unternommen wurden, zu unterlaufen. Andererseits<br />

wird am Beispiel der Nutzung „schmutziger Bomben“ die Gefahr gesehen,<br />

dass bei der missbräuchlichen Nutzung technischer Risiken aus der Risikogesellschaft<br />

schnell eine Katastrophengesellschaft würde 855 .<br />

b) Vorsorge als bereichsübergreifendes allgemeines Rechtsprinzip<br />

Im Ergebnis der o.g. Ausführungen zum Vorsorgeprinzip lässt sich feststellen,<br />

dass die Gefahrenabwehr letztlich wie der Sicherheitsbegriff mit seinem<br />

Schutzweck der Abwesenheit von Schäden an Rechtsgütern Dritter dient.<br />

Sicherheit und Gefahr sind also zwei Seiten einer Medaille. Das Vorliegen<br />

einer Gefahr orientiert sich an der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens.<br />

Je größer der drohende Schaden, desto geringer sind die Anforderungen<br />

an die Prognose der Eintrittswahrscheinlichkeit. <strong>Die</strong>s ist aber mittels<br />

höherer Anforderungen an die Konkretisierung des gefährdeten Rechtsgutes<br />

zu kompensieren.<br />

Mit der Entwicklung des Vorsorgeprinzips und damit verbunden einer Vorverlagerung<br />

staatlicher Eingriffsermächtigungen auf Risikosituationen hat<br />

ein Aufweichen der Anforderungen an das Vorliegen einer Gefahr stattgefunden.<br />

Das Risiko wird damit neben der Gefahr zum Gegenpol der Sicherheit.<br />

<strong>Die</strong>s wird mit den erheblichen Schadensrisiken infolge moderner Entwicklungen<br />

gerechtfertigt, die nicht nur einzelne Bürger, sondern ganze Gesellschaftsgruppen<br />

oder größere geographische Räume und die dort lebenden<br />

Bürger betreffen können. Es geht dabei um ernsthafte und irreversible<br />

Schäden, die sich insbesondere auf die hochwertigen Rechtsgüter Leben und<br />

Gesundheit beziehen. <strong>Die</strong>se Situation ist in vielen Fällen auch beim polizeilichen<br />

Eingriff gegeben.<br />

<strong>Die</strong> soeben zum Polizeirecht beschriebenen Lücken bei der verwendeten<br />

sehr allgemeinen Begriffsdefinition werden bei bereichsspezifischen Regelungen,<br />

wie im Umwelt- oder Gesundheitsrecht, vermieden. <strong>Die</strong> Herausbildung<br />

eines allgemeinen Rechtsprinzips der Gefahrenvorsorge wird durch die<br />

fehlende Vergleichbarkeit dieser Rechtsgebiete erschwert856 . So wird der<br />

854 Dazu Aulehner (FN 524), S. 565 ff.<br />

855 Denninger (FN 345), S. 232, 216<br />

856 Aulehner (524), S. 48 ff., 95<br />

233


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Vorsorgebedarf im Atomrecht mit spezifischen Risiken der Kernenergie begründet.<br />

Während das Polizeirecht auf Erhalt des Bestehenden gerichtet sei,<br />

müsse bei auf Veränderung und Modernisierung angelegter Technik eine dynamische<br />

Optimierung der Schadensverhinderung ermöglicht werden. <strong>Die</strong>s<br />

beinhalte mehr als die Bewahrung des status quo857 . Eine Rechtfertigung des<br />

damit verbundenen, sehr weit gehenden Rechtsgüterschutzes ist aufgrund<br />

der im technischen Sicherheitsrecht möglichen Konkretisierung bzw. Abgrenzung<br />

des „Erlaubten“ denkbar. Über klar abgrenzbare und auch behördlich<br />

überprüfbare technische Parameter und Regelwerke kann der Rechtsanwender<br />

schon im Vorfeld seines Handelns erkennen, ob diese aus wissenschaftlicher<br />

Sicht als unbedenklich gelten kann858 . Es kommt nicht allein auf<br />

den Prognosemaßstab der allgemeinen Lebenserfahrung an, die bei moderner<br />

Technik regelmäßig nicht vorhanden ist. <strong>Die</strong> Abgrenzung von Gefahrenabwehr<br />

und Gefahren- bzw. Risikovorsorge bereitet durchaus Probleme.<br />

Wenngleich eine Abstrahierung von Einzelfällen zugunsten wissenschaftlicher<br />

Maßstäbe stattfindet, bleibt es beim Prognosecharakter der Entscheidung.<br />

Sie kann dem technischen Wandel und Fortschritt oft nur begrenzt gerecht<br />

werden. <strong>Die</strong> Reichweite des Vorsorgetatbestandes bleibt trotz der vorgenommenen<br />

Konkretisierungen unklar. Ähnlich stellt sich die Sachlage<br />

beim Immissionsschutzrecht dar. Dort sind die zulässigen Emissionen anlagebezogen.<br />

Zwar gelten sie aufgrund der Einbeziehung technischer Regelwerke<br />

(TA Luft) als hinreichend bestimmt. Dennoch, technische Fragen unterliegen<br />

dem Wandel, was die Behördenentscheidung im Einzelfall schwierig<br />

gestalten kann.<br />

Allen Bereichen des technischen Sicherheitsrechts gemein ist die Abkehr<br />

von einer erfahrungs- und vergangenheitsbezogenen Betrachtung möglicher<br />

Entwicklungen, wie sie bei der Gefahrenabwehr erfolgt. Im Rahmen der Gefahrenvorsorge<br />

wird bei der Prognose auf zeitlich in die Zukunft vorverlagerte<br />

Hypothesen abgestellt. Damit erhöht sich das Prognoserisiko erheblich859<br />

. <strong>Die</strong> systematische Unterscheidung der Vorsorge zur Gefahrenabwehr<br />

ist wegen ihrer unterschiedlichen Wirkung wichtig. Im Gegensatz zur<br />

Gefahrenabwehr entfaltet die Vorsorge grundsätzlich keinen drittschützenden<br />

Charakter. Der gesetzgeberische Schutzzweck muss norm- und bereichsspezifisch<br />

bestimmt werden. Auch bei der Absolutheit des Eingriffs<br />

werden unterschiedliche Anforderungen gestellt. <strong>Die</strong> Gefahrenabwehr ist<br />

kategorisch geboten. Gefahrenvorsorge steht dagegen unter dem Vorbehalt<br />

857 Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, S. 64 f.<br />

858 Hierzu Aulehner (FN 524), S. 111<br />

859 Ebenda, S. 119, 127<br />

234


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

der technischen Machbarkeit und wirtschaftlichen Zumutbarkeit bzw. Verhältnismäßigkeit<br />

von Aufwand und Nutzen. Ihr Ziel ist es, Schutzbarrieren<br />

möglichst niedrig aufzubauen 860 . Es gibt insoweit also eine erhöhte Zumutbarkeitsschwelle<br />

gegenüber dem Adressaten. Unsicherheiten bei der Bestimmung<br />

der Eingriffsschwelle können mit Typisierungen und Schätzungen<br />

ebenso kompensiert werden, wie durch verfahrenstechnische Vorkehrungen<br />

und Mitwirkungsrechte des Adressaten. <strong>Die</strong> Bezugspunkte der Abwägung<br />

von Gefahrenabwehr und Vorsorgedimension sind also unterschiedlich. Ein<br />

kooperatives Polizeirecht müsste die aus dem staatlichen Gewaltmonopol<br />

folgenden Verantwortungszuweisungen ignorieren. <strong>Die</strong>se Erwägungen sprechen<br />

gegen ein allgemein gültiges Vorsorgeprinzip, dass auf das Polizeirecht<br />

übertragbar wäre.<br />

c) Spezifisch im Polizeirecht angelegtes Vorsorgeprinzip<br />

aa) Eingriffsadressat und Störerprinzip<br />

Bei der Betrachtung eines risikospezifischen Vorsorgebedarfs muss berücksichtigt<br />

werden, dass jede menschliche Handlung die natürlichen Lebensgrundlagen<br />

verändert. Sie leistet damit potenziell einen Beitrag für die Gefährdung<br />

der Sicherheit. So ist z.B. die Belastung der Umwelt Nebenfolge<br />

wirtschaftlichen Handelns. Allerdings zeichnet sich das technische Sicherheitsrecht<br />

dadurch aus, dass der Anlagenhersteller oder Genforscher selbst<br />

wesentlich zur Umwelt- oder Gesundheitsgefährdung beiträgt. Insoweit<br />

wird eine wesentliche Schadensursache vom Adressaten selbst gesetzt, was<br />

einen mit dem Genehmigungserfordernis verbundenen Eingriff rechtfertigen<br />

kann. <strong>Die</strong>se Aspekte spielen im Polizeirecht kaum eine Rolle, da dort weniger<br />

die z.B. bei Genehmigungen immanente gestaltende Wirkung des Staates,<br />

als die absolute Unterbindung von Rechtsgutsverletzungen durch Verhinderung<br />

oder Verbot bestimmter Handlungen im Vordergrund steht. <strong>Die</strong>s<br />

bestätigt die Kritik zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips im Polizeirecht.<br />

<strong>Die</strong> Schutzpflichtendiskussion unterscheidet sich diametral vom Störerprinzip<br />

der klassischen polizeilichen Gefahrenabwehr. Hier schreitet der Staat<br />

aus Gründen des Gemeinwohls gegen den Störer ein, ohne dass er selbst zuvor<br />

eine Ursache für die Störung gesetzt haben muss. Im Polizeirecht richten<br />

sich die Eingriffsbefugnisse grundsätzlich gegen „jedermann“. Ziel polizeilicher<br />

Maßnahmen ist vor allem die allgemeine Gefahrenabwehr. Sie erfolgt<br />

direkt im Vollzugsdienst vor Ort, anders als bei spezifisch bekannten Gefahrenquellen,<br />

wo ordnungs- und polizeibehördliche Kontrollen „vom Schreib-<br />

860 Marburger, (FN 857), S. 75<br />

235


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

tisch aus“ erfolgen können. Es geht um den unmittelbaren Schutz des Bürgers<br />

vor der Begehung von Straftaten, ganz unabhängig von der Person des<br />

möglichen Täters. Gefahrenabwehr und Strafverfolgung können allerdings<br />

in Teilen auch ineinander übergehen 861 . Anders als der auf eine Genehmigung<br />

angewiesene Unternehmer, gibt sich der polizeipflichtige Störer nicht<br />

freiwillig in polizeiliche „Obhut“. Adressatenkreis ist die Gesamtbevölkerung,<br />

da letztlich jeder zum Gefährder werden kann. Da aber mit der vorsorgeimmanenten<br />

Beweislastumkehr das „nichtgefährliche Tun“ zur Ausnahme<br />

wird, ist die Angemessenheit eines Grundrechtseingriffes kaum widerlegbar.<br />

Ohne gesetzliche Konkretisierung des potenziellen Störers würden die Freiheitsrechte<br />

dem willkürlichen Zugriff der Exekutive anheim gestellt. Schon<br />

die für eine Gefahrenermittlung notwendigen Vorfeldaktivitäten, wie die Telefon-<br />

und Videoüberwachung, verwischen die Grenzen von Gefahrenabwehr<br />

und Strafverfolgung 862 . Sie sind nur wegen äußerst restriktiven Vorgaben<br />

verfassungsgemäß. Wenngleich gerade bei polizeilichen Vorfeldmaßnahmen<br />

zur Vorbereitung der künftigen Strafverfolgung die Grenzen zwischen<br />

abstrakter Gefahr und Risiko zu verwischen scheinen 863 . Eine gezielte<br />

Anwendung des Vorsorgeprinzips im Polizeirecht über die „abstrakte Gefahrenabwehr“<br />

hinaus würde die rechtsstaatlichen Probleme erheblich verschärfen.<br />

<strong>Die</strong> Bürger könnten in letzter Konsequenz nicht mehr ihre Interessen<br />

wahrnehmen, ihr Grundrechtsschutz wäre faktisch aufgehoben.<br />

bb) Aufgabenabgrenzung der Polizei zu anderen Behörden<br />

<strong>Die</strong> föderal bedingte terminologische Vielfalt der Aufgabenbeschreibung<br />

macht eine Zuständigkeitsabgrenzung der Ordnungs- und Polizeibehörden<br />

nicht leicht. <strong>Die</strong> aus dem Gewerbe- und Baupolizeirecht herausgebildeten<br />

ordnungsrechtlichen Präventionsaufgaben zeigen, dass es hierbei eher um<br />

projekt- und ortsbezogene, regelmäßig auftretende Fallgruppen gefahrengeneigten<br />

Handelns geht, denen im Verordnungswege, z.B. mit Genehmigungsverfahren,<br />

begegnet werden kann864 . <strong>Die</strong> verwaltungsmäßige Sicherheitsgewährleistung<br />

beim allgemeinen und besonderen Ordnungsrecht<br />

kennzeichnet sich durch eine reguläre Funktionswahrnehmung und gestalte-<br />

861 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), S. 24 ff., 31<br />

862 Dazu kritisch: Calliess, DVBl. 2003, 1096, 1100,<br />

863 <strong>Die</strong>sen Eindruck vermittelt Terminologie von Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), §<br />

1, S. 15 unter Verweis auf §§ 4 Rn 13 und 5 Rn 1 ff: zur Begriffsabgrenzung vgl. Teil<br />

4 I.4.b)<br />

864 So Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 2, S. 35 ; zum geschichtlichen Hintergrund<br />

der Trennung von Aufgaben der aktiven polizeilichen Gefahrenabwehr und des eher<br />

disziplinierenden Handelns der Ordnungsbehörden: ebenda, § 1 S. 5<br />

236


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

rische Elemente. Sie konzentriert sich auf eine allgemeine Überwachung der<br />

Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften. Hierbei kommt auch dem<br />

Vorsorgegedanken eine Funktion zu, der über den Kern der Gefahrenabwehr<br />

hinausgeht865 . Das Argument der Notwendigkeit „moderner“ sicherheitsrechtlicher<br />

Ansätze bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität wirft<br />

auch die Frage auf, ob hierfür nicht andere staatliche Institutionen zuständig<br />

bzw. befähigt sind. <strong>Die</strong> Justiz ist für die Strafverfolgung zuständig. <strong>Die</strong> Polizei<br />

wird hier im Rahmen der Strafprozessordnung hilfsweise ermittelnd tätig.<br />

Bei der Gefahrenabwehr beschränkt sich ihre Aufgabe auf die Abwehr<br />

bestimmten Störungs- und Schadenspotenzials in konkreten Situationen oder<br />

abstrahierten Situationen bestimmten Typs. <strong>Die</strong> dazu im Vorfeld bestehende<br />

Aufgabe, systematisch alle sicherheitsrelevanten Beobachtungen durchzuführen,<br />

obliegt dagegen den Nachrichtendiensten866 . Neben dem Bundesamt<br />

für Verfassungsschutz (BfV) und den entsprechenden Landesämtern ist mit<br />

Blick auf die Informationsbeschaffung mit Auslandsbezug der Bundesnachrichtendienst<br />

zuständig. <strong>Die</strong>se Institutionen sollen regelmäßig im Vorfeld<br />

von Gefahrenlagen tätig werden. Sie müssen sich dabei an die im<br />

BVerfSchG und BNDG beschriebenen Voraussetzungen halten. Während die<br />

Verfassungsschutzbehörden nach § 3 BVerfSchG zur Sammlung und Auswertung<br />

von inlandsbezogenen Informationen befugt sind, sammelt der<br />

BND nach § 1 Abs. 2 BNDG Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer<br />

Bedeutung im Ausland und wertet sie aus. <strong>Die</strong> Befugnisse werden in<br />

einem Auftrags- und Interessenkatalog der Bundesregierung konkretisiert867 .<br />

Er umfasst u.a. transnationale Bedrohungen wie Terrorismus, organisierte<br />

Kriminalität oder die Proliferationsbekämpfung868 .<br />

Bei auf Informationsbeschaffung beruhenden polizeilichen Präventionsstrategien<br />

scheint die Gefahr von Kompetenzüberschneidungen bzw. -<br />

überschreitungen durchaus zu bestehen. So wird z.B. die Ansicht vertreten,<br />

dass die Ausdehnung der polizeilichen Vorfeldkompetenzen bis hin zum<br />

Einsatz verdeckter Ermittler das Trennungsgebot zu den Kompetenzen der<br />

Nachrichtendienste in Frage stellt. <strong>Die</strong> Debatte um die Notwendigkeit der<br />

Neujustierung rechtsstaatlicher Instrumente und der Gewaltenteilung flammt<br />

im Zuge der Terrorismusbekämpfung immer verstärkter auf869 . Rechtsstaatliche<br />

Bedingungen und Kontrollinstrumentarien erscheinen bei diesen Ent-<br />

865 Möstl (FN 106), S. 401 f.<br />

866 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 2 S. 28 f.<br />

867 Rose-Stahl, Recht der Nachrichtendienste, S. 115<br />

868 Der Bundesnachrichtendienst, Hrsg. BND, 2002, S. 39, 48<br />

869 Müller, Im Niemandsland? Verwaltungsrichter diskutieren über Terrorismusbekämpfung,<br />

FAZ vom 12. Mai 2007<br />

237


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

wicklungen durchaus gefährdet870 . Ihre Relevanz für bisherige Rechtsstrukturen<br />

und das möglicherweise bestehende Erfordernis dogmatischer Weiterentwicklungen<br />

sei am Beispiel des Verfassungsschutzes verdeutlicht. So darf<br />

der Verfassungsschutz nach § 4 Abs. 1b) BVerfSchG nur bei politisch motiviertem<br />

Verhalten bestimmter Gruppen tätig werden, die öffentliche Gebietskörperschaften<br />

und Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich<br />

beeinträchtigen. Es muss also eine Gefahr für den Bestand der demokratischen<br />

Grundordnung und die Sicherheit des Landes im Sinne der Kompetenznorm<br />

des Art. 73 Nr. 10b) GG gegeben sein. Hierunter fallen gegen den<br />

Staat gerichtete terroristische Aktivitäten und organisierte Kriminalität. <strong>Die</strong>se<br />

sind nicht auf politische Ziele gerichtet, sondern primär durch ökonomische<br />

Interessen motiviert. Bei mafiösen Handlungsfeldern, wie Waffen- und<br />

Drogenhandel, PKW-<strong>Die</strong>bstahl oder Prostitution und Menschenhandel, aber<br />

auch bei lebensbedrohlichen Einzelverbrechen, wie Raub, Mord und Entführung<br />

besteht nicht unbedingt ein staatstragendes Ausmaß der drohenden<br />

Gewalt. Ein solches aber ist für den Tätigkeitsbereich des Verfassungsschutzes<br />

vorgesehen.<br />

<strong>Die</strong> Datenerhebung und -sammlung ist nur in einem begrenzten Rahmen<br />

möglich. Es wird an der Stelle deutlich, dass die Verfassung im Zusammenhang<br />

mit der Informationserhebung der „vorgelagerten Gefahrenabwehr“<br />

sehr enge Grenzen setzt. Sie müssen wegen der Kollision mit dem Recht auf<br />

informationelle Selbstbestimmung gerechtfertigt sein. <strong>Die</strong>s wird auf der<br />

Grundlage von Art. 2 Abs. 1 GG im Bundesdatenschutzgesetz geregelt. Der<br />

Verfassungsschutz darf in den Fall ausnahmsweise, und anders als die Polizei,<br />

im „Geheimen“ operieren. <strong>Die</strong> Abgrenzung der Zuständigkeiten ist deshalb<br />

wichtig.<br />

<strong>Die</strong> wesentlichen Unterschiede zwischen Polizei und Verfassungsschutzaufgaben<br />

liegen zunächst bei den Gesetzgebungskompetenzen. Der Bund hat<br />

nur ausnahmsweise nach Art. 73 Nr. 10 GG polizeirechtliche Zuständigkeiten<br />

bei der Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bereich der Kriminalpolizei<br />

sowie der internationalen Verbrechensbekämpfung. Für die Strafverfolgung<br />

ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 der Bund zuständig. <strong>Die</strong> Nachrichtendienste<br />

unterfallen nach Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG ebenfalls der Bundeskompetenz.<br />

Dogmatisch werden die Kompetenzen und Aufgaben beider Institutionen<br />

ebenfalls klar abgegrenzt. <strong>Die</strong> Polizei soll Gefahren abwehren<br />

oder wird im repressiven Bereich der Straftatenerforschung auf einen konkreten<br />

Verdacht hin tätig (§§ 160, 161, 163 StPO). Beide müssen miteinander<br />

im Zusammenhang stehen. Es wird eine gewisse Gefahrennähe bzw.<br />

870 Albers (FN 597), S. 211<br />

238


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Verdichtung des Gefahrenverdachts gefordert. So sind präventive Personenkontrollen<br />

und Identitätsfeststellungen regelmäßig ereignisabhängig und<br />

damit als Ergänzung zu repressiven Kontrollen zu verstehen, wie sie z.B.<br />

über § 111 StPO möglich sind. Hingegen ist der Verfassungsschutz nicht an<br />

konkrete Verdachtsmomente gebunden und darf Strategien zur Verdachtsgewinnung<br />

entwickeln. Zudem bezieht sich die polizeiliche Eingriffsbefugnis<br />

auf Störer bzw. Individuen, während der Verfassungsschutz auch Personenzusammenschlüsse,<br />

Organisationen und Strukturen zum Untersuchungsgegenstand<br />

hat. <strong>Die</strong> Eingriffe selbst unterfallen bei der Polizei dem Legalitätsprinzip.<br />

Der Eingriff ist bei gegebenen Voraussetzungen also verpflichtend:<br />

Dem entgegen kann der Verfassungsschutz nach dem Opportunitätsprinzip<br />

selbst über sein Eingreifen entscheiden.<br />

All diese Unterschiede werden mit dem Trennungsprinzip, also einem Verbot<br />

verfassungsschützender Tätigkeit im polizeilichen Aufgabenbereich<br />

nach § 8 Abs. 3 BVerfSchG herausgehoben871 . Das wird vor allem mit der<br />

Gewährleistung des Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG begründet872 .<br />

<strong>Die</strong>ser wäre beim Tätigwerden im „Geheimen“ faktisch unterbunden, was<br />

für das so genannte polizeiliche Transparenzgebot spricht. Beim Trennungsgebot<br />

geht es also maßgeblich um die Wahrung von Fragen der informationellen<br />

Selbstbestimmung und Datenschutzrechten, deren Restriktion besonderen<br />

Voraussetzungen unterliegt, die im allgemeinen polizeilichen Aufgabenbereich<br />

nicht erfüllt sind873 . Für die Frage der Kompetenzverteilung sind<br />

nicht nur institutionelle und sachliche Unterscheidungen der Rechtsgrundlagen<br />

von Bedeutung. Das Trennungsprinzip beruht auf der verfassungsrechtlich<br />

unterschiedlichen Zwecksetzung der Aufgabentrennung von Polizei und<br />

Nachrichtendiensten. <strong>Die</strong> Polizei soll nur ausnahmsweise im „Geheimen“<br />

handeln dürfen. Das hat seinen Ursprung in der Historie der Geheimen<br />

Staatspolizei (Gestapo) des Dritten Reiches874 . Es wird ausdrücklich im<br />

BVerfSchG erwähnt, in dem es nach § 2 Abs. 1 eine organisatorische Verknüpfung<br />

verbietet und dem BfV nach § 8 Abs. 3 versagt, polizeiliche Befugnisse<br />

auszuüben. Wenngleich umgekehrt die Informationserhebung durch<br />

die Polizei nicht gänzlich ausgeschlossen wird875 . Auf die Frage der polizei-<br />

871 Zu Historie und verfassungsrechtlichen Grundlagen: Baumann, Vernetzte Terrorismusbekämpfung<br />

oder Trennungsgebot?, DVBl. 2005, 798<br />

872 Zur Abgrenzung ausführlich: Denninger (FN 345), S. 144 ff.<br />

873 Zu den Grenzen der Zusammenarbeit von BVerfSch und Polizei: Baumann (FN 871),<br />

DVBl. 2005, 798, 804<br />

874 Zur historischen Begründung im Polizeibrief der alliierten Militärgouverneure vom<br />

8. und 14. April 1998: Gusy, Gebot der Trennung, S 46<br />

875 Vgl. BVerfGE 65, 1, 44 - Volkszählungsurteil<br />

239


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

lichen Zuständigkeit der Gefahrenerforschung wurde schon eingegangen.<br />

Auch hier spielt die Abgrenzung von Gefahr und Gefahrenverdacht eine<br />

Rolle876 . Der planmäßige Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel ist ihr<br />

grundsätzlich versagt und nur unter besonderen Vorraussetzungen möglich877<br />

. <strong>Die</strong> Aufgabe der Gefahrenvorsorge ist damit nur sehr begrenzt wahrnehmbar.<br />

Das Polizeirechtsprinzip eines offenen bzw. transparenten Handelns spricht<br />

im Ergebnis gegen eine Ausweitung der Aufgaben auf vorsorgende Informationserhebung<br />

oder gar freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Am Begriff der<br />

(abstrakten) Gefahr sollte festgehalten werden. <strong>Die</strong> Aufgabenzuweisung für<br />

den Verfassungsschutz kann gleichwohl modernen Bedrohungslagen angepasst<br />

und explizit auf organisierte Kriminalität erweitert werden878 . Im Zusammenhang<br />

mit der Terrorismusprävention wurde insoweit reagiert und mit<br />

§ 8 Abs. 5 ff. BVerfSchG, eine verbesserte Koordination der Nachrichtendienste<br />

mit der Polizei bei der Fahndung ermöglicht. Damit erfolgt eine<br />

Gewichtsverschiebung zugunsten der Prävention.<br />

Vom Trennungsprinzip abweichend, kommt es auch beim Bundeskriminalamt<br />

zu einer zunehmenden Aufgabenausweitung. Sie umfasst präventive<br />

Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Seine Aufgabe ist dann die zentrale Verbrechensbekämpfung<br />

und Koordinierung kriminalpolizeilicher Analysen<br />

(Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG sowie §§ 1 und 2 BKAG). Ausnahmsweise nach § 9<br />

BKAG bestehende präventive Zuständigkeiten im Zusammenhang mit Personenschutzprogrammen<br />

wurden zuletzt mit dem neuen Art. 73 Abs. 1 Nr.<br />

9a GG ergänzt. Er regelt die Kompetenzen für die Abwehr terroristischer<br />

Gefahren. <strong>Die</strong> traditionelle Trennung von repressiven und präventiven Aufgaben<br />

wird weiter aufgeweicht879 . Dennoch bleibt es beim Trennungsprinzip,<br />

eine generelle Aufgabenerweiterung auf den risikopräventiven Bereich<br />

würde dem widersprechen.<br />

cc) Vorliegen von Erkenntnisdefiziten und Bestimmung der Eingriffsschwelle<br />

Im technischen Sicherheitsrecht ist regelmäßig von ungesicherten Erkenntnissen<br />

auszugehen, bezogen auf die Schadensopfer bzw. den Kreis betroffener<br />

Rechtsgutinhaber. Bei Immissionen und sonstigen gesundheitsschädlichen<br />

Wirkungen sind die möglichen Opfer regional begrenzt. Grundlage<br />

876 Vgl. Teil3 I.4.b)<br />

877 Rose-Stahl (FN 867), S. 87<br />

878 So Denninger (FN 345), S. 149<br />

879 Tams, DÖV 2007, S. 367 ff.<br />

240


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

hierfür ist der Nachbarschaftsbegriff. Im Polizeirecht erscheint die Schadensrichtung<br />

besser ermittelbar. Selbst bei organisierter Kriminalität oder<br />

terroristischen Bedrohungen ist das spätere Opfer oder Eingriffsgut erkennbar.<br />

Es ist durch konkrete Absichten des „Störers“ vorbestimmt. <strong>Die</strong> Erkenntnisunsicherheit<br />

rechtfertigt dagegen die niedrigere Eingriffsschwelle.<br />

Dafür muss es zu einem den Adressateninteressen genügenden Korrektiv<br />

kommen. So können die Verfassung und das Rechtsstaatsprinzip hier noch<br />

ihre Wirkung entfalten880 . Für „vorsorgende“ gesetzliche Eingriffsbefugnisse<br />

bedarf es deshalb einer möglichst weitgehenden Konkretisierung des Vorsorgetatbestandes<br />

und der damit verbundenen Kriterien, also einer standardisierten<br />

Eingriffsschwelle.<br />

<strong>Die</strong> Möglichkeit der zukunftsbezogenen, abstrakten Betrachtung vorhandener<br />

Daten ist im Polizeirecht nicht ersichtlich. <strong>Die</strong>s würde bedeuten, dass<br />

man bestimmte Täterprofile erstellt und pauschal mit Verhaltensweisen von<br />

Personen in den oder mit Nähe zu einschlägigen Milieus abgleicht. Eine solche<br />

Standardisierung des „guten“ bzw. „schlechten Menschen“ würde die<br />

Psychoanalyse zum Maßstab des polizeilichen Eingriffs machen. Und im<br />

Zweifel würde gegen die Freiheit entschieden. <strong>Die</strong>s ginge in die Richtung<br />

der im Film Minority Report gezeigten Vision der Verbrechensbekämpfung<br />

durch hellseherische Fähigkeiten881 . Wissenschaftliche Maßstäbe und mittels<br />

Fachexpertise gesicherte Untersuchungen für die Prognose technischer Reaktionen<br />

liegen hier gerade nicht vor. Der Unterschied zum „freien menschlichen<br />

Willen“ als wesentlichen Bestandteil der Menschenwürde wäre aufgehoben.<br />

Das beschriebene Korrektiv für die Ausfüllung und Konkretisierung<br />

des Vorsorgetatbestandes ist also nicht ersichtlich. Eine mit dem Vorsorgeprinzip<br />

verbundene, zu umfangreiche Ausweitung der Eingriffsschwelle<br />

würde die Abwehrfunktion der Grundrechte außer Kraft setzen. <strong>Die</strong> Interpretation,<br />

dass im modernen Polizeirecht entgegen dem Normtext Elemente<br />

des Risikoverwaltungsrechts als eigenständige neue Aufgabe anzuerkennen<br />

sind882 , verkennen die rechtsstaatlichen Defizite der Risikovorsorge. <strong>Die</strong>se<br />

Marginalisierung der Freiheitsrechte würde durch Verfahren, Transparenz<br />

und Kontrolle nur unzureichend kompensiert.<br />

dd) Kooperative Ansätze und Rationalisierung des Verfahrens<br />

Auf die verfassungsrechtlich mit dem Gewaltmonopol verbundenen Beschränkungen<br />

kooperativer Ansätze im modernen Verwaltungsverfahren<br />

880 Calliess (FN 288, zum Dilemma des Rechtsstaates, S. 67<br />

881 Calliess, DVBl. 2001, S. 1100<br />

882 Albers (FN 597), S. 361 ff.<br />

241


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

wurde eingegangen. Das Gewaltmonopol ist allein dem Staat zugewiesen.<br />

Eine Mitverantwortung Dritter oder gar entsprechende Kooperationsansätze<br />

des Vorsorgedenkens würde dem widersprechen. Unter diesem Blickwinkel<br />

wird z.B. die rechtliche Zukunft von Sicherheitspartnerschaften, bei denen<br />

der Staat mit privaten Wachdiensten kooperiert, erheblich kritisiert. Es<br />

kommt zu einer aus rechtsstaatlicher Sicht höchst problematischen Entformalisierung<br />

polizeilichen Handelns. <strong>Die</strong> Grenzen des Gewaltmonopols würden<br />

hier nicht deutlich genug berücksichtigt, müssten zumindest stärkeren<br />

Eingang in die Kooperationsvereinbarungen finden883 . Ausgehend von den<br />

Schwierigkeiten bei der Prognose menschlichen Verhaltens erscheinen die<br />

im technischen Sicherheitsrecht entwickelten „prozeduralen“ Verfahrensansätze<br />

in vielen Fällen nicht hinreichend effizient. <strong>Die</strong> Einschaltung externen<br />

Sachverstandes (z.B. in Gremien) zur Beurteilung der geplanten „Handlungen“<br />

oder Instrumente der Selbstkontrolle, wie z.B. betriebsinternes Controlling<br />

und die Zuverlässigkeitszertifizierung, muss daher für die im klassischen<br />

Polizeirecht notwendigen Bekämpfung von Straftaten äußerst skeptisch<br />

gesehen werden.<br />

Klassische polizeiliche und sicherheitsrechtliche Verwaltungsstrukturen sind<br />

mit den moderneren präventiven Ansätzen überfordert. Es müssen andere<br />

Wege gefunden werden, den gesellschaftlichen Erwartungen an das Sicherheitsgefühl<br />

gerecht zu werden. <strong>Die</strong> innere Sicherheit muss daher noch stärker<br />

in den Fokus der öffentlichen Ordnung rücken. <strong>Die</strong> präventive Sicherheitsgewährleistung<br />

durch Ordnungsbehörden ist für die Kooperation mit<br />

Dritten besser geeignet als das Polizeirecht. Der Staat kann sich aus der umfassenden<br />

Sicherheitsgewährleistung vor Ort durchaus zurückziehen, nicht<br />

aber aus dem Bereich der konkreten Gefahrenabwehr und Sicherheitsgarantie884<br />

. Auf diese Weise kann die beschriebene Skepsis zu rechtsstaatlichen<br />

Defiziten bei der Risikovorsorge durch die Polizei dogmatisch aufgriffen<br />

werden. Es bleibt daher festzuhalten: <strong>Die</strong> kaum praktikable Konkretisierung<br />

der Eingriffsschwellen und die beschriebene Zurechnungsproblematik im<br />

weniger technisch als durch menschliches Handeln geprägten Polizeirecht,<br />

vor allem die damit verbundene Beeinträchtigung rechtstaatlicher Gewährleistungen,<br />

lassen eine Vorsorgebefugnis der Polizei schwerlich rechtfertigen.<br />

Darüber hinaus sind kooperative Verfahrensansätze im Vorsorgebereich<br />

nur begrenzt tauglich.<br />

883 Rixen, DVBl. 2007, S 221, 230<br />

884 Knemeyer, DVBl. 2007, S. 787<br />

242


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

d) Ergebnis<br />

In Anbetracht der heutigen gesellschaftlichen Erwartungen wird dem Vorsorgeprinzip<br />

im Polizeirecht zurecht wenig Platz eingeräumt. Eine Ausweitung<br />

des Präventionsgedankens ist weder allgemein noch in spezifischen polizeirechtlichen<br />

Aufgabenzuweisungen und Organisationsstrukturen angelegt.<br />

Im Vergleich zum technischen Sicherheitsrecht ist der polizeiliche<br />

Vollzugsdienst regelmäßig auf zuvor einen nicht spezifizierten Adressatenkreis<br />

gerichtet. Eine grundrechts- und interessengerechte Wahrnehmung der<br />

Verfahrensrechte ist bei polizeilichen Eingriffen nicht effektiv und damit<br />

auch nicht möglich. Es geht deshalb zu Recht um die Hürde des Vorliegens<br />

konkreter oder abstrakter Gefahren, wenngleich die Grenzen zwischen<br />

Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Informationsbeschaffung im Vorfeld<br />

zu verschwimmen scheinen. Das Trennungsgebot ist nach wie vor gültig und<br />

Grundlage einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen Polizei und<br />

Nachrichtendiensten. Eine Kooperation der Institutionen ist deshalb nicht<br />

ausgeschlossen. Um die Abwehrfunktion der Grundrechte zu erhalten, bleibt<br />

die Gefahr unabdingbare Voraussetzung polizeilicher Eingriffe, was nicht<br />

zuletzt durch die Skepsis des Einsatzes vorsorgeorientierter Kooperationsansätze<br />

und Informationsmanagements unter Einbeziehung privater Stellen<br />

deutlich wird. Das staatliche Gewaltmonopol setzt den Ansätzen der Risikovorsorge<br />

eindeutige Grenzen.<br />

2. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf Exportkontrollen<br />

<strong>Die</strong> nationalen <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbestände stellen<br />

auf eine „Gefährdung“ bestimmter Belange ab. So liegt es nahe, die Gefahr<br />

zum Maßstab für die Entscheidung der Behörde zu machen. <strong>Die</strong> Entwicklungen<br />

im technischen Sicherheitsrecht und im Polizeirecht zeigen aber,<br />

dass die staatlichen Schutzpflichten zunehmend durch eine erweiternde Interpretation<br />

der Gefahrenschwelle verwirklicht werden. Das gilt nicht zuletzt<br />

beim Vorliegen von Erkenntnisdefiziten. Technische Innovation bei der<br />

Kommunikation erschwert ebenso staatliche Kontrollen wie die stärkere<br />

geographische Vernetzung von Menschen und Unternehmen. Der Risikoprävention<br />

kommt daher gesteigerte Bedeutung zu. <strong>Die</strong> Anwendung des<br />

Vorsorgeprinzips auf <strong>exportkontrollrechtliche</strong> Regelungsbereiche erscheint<br />

daher nicht ausgeschlossen.<br />

Vor dem Hintergrund der Ziele, aber auch der verfügbaren Informationen im<br />

Zeitpunkt von Exportkontrollen müssen die zur Abgrenzung von Gefahren<br />

und Risiken entwickelten Rechtsprinzipien angewandt werden. <strong>Die</strong>s ermöglicht<br />

eine Wertung, welcher Eingriffschwelle es bedarf, um den Auftrag des<br />

243


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Gesetzgebers umzusetzen. <strong>Die</strong> Bedingungen des Vorsorgeprinzips müssen<br />

für die einschlägigen Genehmigungstatbestände geprüft werden. <strong>Die</strong>s betrifft<br />

auch die Frage nach dem geeigneten Instrumentarium, welches den mit<br />

dem Vorsorgeprinzip einhergehenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen<br />

für die betroffenen Schutzgüter zur Geltung verhilft.<br />

a) Wortlaut und Schutzzweck der Genehmigungstatbestände<br />

<strong>Die</strong> Verwendung des Begriffs der „nicht unwesentlichen Gefährdung“ in § 3<br />

AWG gilt als Beleg für das traditionelle Präventionsverständnis des Gesetzgebers<br />

bei Exportkontrollen. Art. 8 der Dual-use-VO bietet dagegen keine<br />

näheren Anhaltspunkte hierzu. Gleichwohl wird die Anknüpfung an die<br />

„klassische Gefahrenabwehr“ bisher in der Exportkontrollliteratur nahezu<br />

uneingeschränkt geteilt. Danach soll bei der Frage nach einer Gefahr für die<br />

mit den hier untersuchten Genehmigungspflichten geschützten Belange die<br />

im Polizeirecht mit Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung bemühte<br />

Wahrscheinlichkeitsprognose hinsichtlich eines bevorstehenden<br />

Schadens angewendet werden885 .<br />

aa) Allgemeine Abgrenzungsfragen<br />

Bei Fragen der Zurechnung einer Gefahr bzw. eines Risikos, mithin der Störerauswahl,<br />

bestehen bei Exportkontrollen Unterschiede zur allgemeinen<br />

Gefahrenabwehr, wie sie im klassischen Polizeirecht anzutreffen ist. Bei der<br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> handelt es sich um eine<br />

Spezialbefugnis der Exportkontrollbehörde zur Gefahrenabwehr, die sich<br />

nur gegen bestimmte Adressaten, die Exporteure, richtet. Damit ist nicht<br />

„jedermann“ betroffen, wie es im klassischen Polizeirecht der Fall ist. Im<br />

Zusammenhang mit der Aufgabenabgrenzung von Polizei- und Ordnungsbehörden<br />

wurde bereits darauf hingewiesen, dass Letztere regelmäßig bei<br />

typischen, für eine Vielzahl von Fällen einschlägigen Gefahrensituationen<br />

zuständig sind. <strong>Die</strong>sen Gefahren kann im Verordnungswege, z.B. durch<br />

Verwaltungsverfahren in Form von Meldepflichten oder Genehmigungsanordnungen<br />

begegnet werden. Zudem ergeben sich damit auch gestalterische<br />

Ansätze, die für den gebotenen Interessenausgleich sorgen können, z.B.<br />

durch Auflagen oder Bedingungen bei der Genehmigung bestimmter Handlungen.<br />

In der Literatur wird durchaus gesehen, dass die Gefahrenbegriffe<br />

im Polizei - und Exportkontrollrecht nicht zwingend identisch sind. <strong>Die</strong>se<br />

Tatsache und kompetenzrechtliche Abgrenzungsfragen sprechen gegen eine<br />

unmittelbare Übertragung auf die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung. <strong>Die</strong><br />

885 Vgl. Teil1 II.5.e)<br />

244


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Begriffsmerkmale in Zusammenhang mit dem hypothetischen Ereignisverlauf<br />

sind dagegen vergleichbar886 .<br />

Bei dem Versuch einer näheren Bestimmung der Gefahrenschwelle und des<br />

Bezugspunktes der Gefährdung fällt auf, dass die gesetzlichen Eingriffsermächtigungen,<br />

anders als auf individuelle Rechtsgüter bezogenes polizeiliches<br />

Handeln, den Kollektivbelang Sicherheit als Maßstab der drohenden<br />

Rechtsgutsverletzung vorsieht. <strong>Die</strong>ser Ansatz ist mit ordnungsrechtlichen<br />

Verfahren vergleichbar, bei denen sich das Behördenhandeln zwar ebenfalls<br />

auf den Schutz von Individualbelangen richtet, sich aber nicht zwingend gegen<br />

eine konkrete oder konkretisierbare Störung bestimmter Rechtsgüter im<br />

Sofortvollzug vor Ort wendet. Gleichwohl hat die Ordnungsbehörde regelmäßig<br />

eine bestimmte oder bestimmbare Gruppe Betroffener im Blick. Dazu<br />

gehören z.B. im Gewerberecht die Anwohner Umfeld und die Kunden eines<br />

Gewerbebetriebes, im Baurecht die Nachbarn. Der präventive Ansatz gegenüber<br />

typischen Gefahrensituationen und eine formalisierte Prüfung des<br />

Einzelfalls stellen aber im Ergebnis häufig auf den Gemeinwohlbelang der<br />

öffentlichen Sicherheit und Ordnung ab. Daher lässt sich zunächst konstatieren,<br />

dass die Gefahrenprävention im Ordnungsrecht traditionell den gleichen<br />

Maßstäben unterliegt. Ob die darüber hinaus für bestimmte Bereiche des<br />

technischen Sicherheitsrechts entwickelten Vorsorgeansätze auch für Exportkontrollen<br />

greifen, richtet sich nach dem Wortlaut, Normzweck und systematischen<br />

Ansatz der Exportkontrollen.<br />

bb) Struktureller Normansatz und Sicherheit als Bezugspunkt der<br />

Prognose<br />

Das mit der Ausfuhr potenziell gefährdete Rechtsgut muss konkret bestimmbar<br />

sein, um den wahrscheinlichen Kausalverlauf nach der Ausfuhr<br />

überhaupt bewerten zu können. Inwieweit der Vergleich mit der polizeirechtlichen<br />

Gefahrenprognose tatsächlich trägt, erfordert einen Blick auf die<br />

jeweils geschützten Rechtsgüter.<br />

Es wurde bereits dargelegt, dass die Gefahrenabwehr im Polizei- und Ordnungsrecht<br />

unter Bezugnahme auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung<br />

auf Individualinteressen gerichtet ist, wenngleich dabei auf die Wahrung der<br />

Rechtsordnung als Ganzes abgestellt wird. Dagegen wird bei den Exportkontrollen<br />

im nationalen Kontext in § 7 AWG der eher allgemeine Begriff<br />

der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland verwendet. <strong>Die</strong>ser<br />

erscheint schon nach dem Wortlaut wesentlich weiter, denn Interessen<br />

886 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 14<br />

245


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

können auch bei (noch) gegebener Sicherheit berührt bzw. beeinträchtigt<br />

sein. Wie schon festgestellt, hinter dem Begriff der Sicherheitsinteressen<br />

stehen die innere und äußere Sicherheit des Landes. Dazu kommt die militärische<br />

Versorgungssicherheit. <strong>Die</strong> Bezugnahme auf die Sicherheitsinteressen<br />

wurde erst mit dem 11. Änderungsgesetz des AWG eingeführt887 . <strong>Die</strong> Änderung<br />

des Wortlautes wurde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich mit<br />

dem Bedürfnis der Sicherheitsvorsorge beschrieben. So müssten die bisher<br />

im Tatbestand verwendeten Begriff innere Sicherheit, z.B. die Gefahr von<br />

Bürgerkrieg, und äußere Sicherheit, z.B. die Gefahr eines Kriegs, ergänzt<br />

werden. <strong>Die</strong> Erweiterung auf alle sicherheitspolitischen Interessen erfolgte<br />

in Anpassung an das Begriffsverständnis der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit<br />

nach den Art. 58 und 296 EG sowie Art. XXI GATT. Auch Art. 51<br />

VN-Charta umfasst die militärische Versorgungssicherheit, mithin eine Reihe<br />

von Vorsorgemaßnahmen. Sie setzen bereits bei der verteidigungspolitischen<br />

Kooperation im EG- und Nato-Kontext an888 .<br />

<strong>Die</strong> in der Aufzählung der Beschränkungsermächtigungen in § 7 Abs. 2<br />

AWG ergänzte Nr. 5 zur Kontrolle des Erwerbs von Rüstungsunternehmen<br />

wurde mit § 52 AWV in Form einer Meldeverpflichtung der Unternehmen<br />

und mit Untersagungsmöglichkeit der Bundesregierung umgesetzt. Es fällt<br />

auf, dass dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung getragen<br />

wurde, dass auf eine generelle Genehmigungspflicht verzichtet wurde.<br />

In Anbetracht des aus sicherheitspolitischer Sicht sehr weitgehenden und<br />

frühzeitigen Eingriffs in das Wirtschaftsgeschehen wird deutlich, dass sich<br />

der Gesetzgeber mit der Modifikation des Sicherheitsbegriffs hin zum Interessenbegriff<br />

von der klassischen individualrechtsgutsbezogenen Gefahrenabwehr<br />

entfernt hat. Man mag zu den aufgezeigten Erörterungen bei der<br />

Kontrolle der Veräußerung von sicherheitsrelevanten Unternehmen der Auffassung<br />

sein, dass dies keine Auswirkungen auf den Bereich der eigentlichen<br />

Exportkontrollen habe, also die Anwendung der Genehmigungstatbestände<br />

der §§ 5 AWG ff. und der Art. 3 und 4 Dual-use-VO. Dem ist aber zu entgegnen,<br />

dass sich die mit dem 11. AWG-Änderungsgesetz eingeführte Änderung<br />

des Sicherheitsbegriffs auf den gesamten Eingriffsermächtigungstatbestand<br />

bezieht und nicht etwa nur auf bestimmte Katalogbeispiele von Beschränkungen<br />

nach § 7 Abs. 2 AWG. Strukturell richten sich somit alle Ausfuhrbeschränkungen,<br />

die auf § 7 AWG gestützt werden, am Kriterium der<br />

Sicherheitsinteressen aus.<br />

887 11. Gesetz zur Änderung des AWG, BGBl. I 2004, S. 1859<br />

888 vgl. Teil 1 II.5.b)bb)<br />

246


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Überdies muss auch noch einmal auf die Formulierungen in § 7 Abs. 1 Nr. 2<br />

und 3 AWG verwiesen werden. Mit dem Begriff des Verhütens werden Parallelen<br />

zur Entwicklung des Vorsorgeprinzips zum Umweltrecht deutlich.<br />

Dort wird er für Risikovorsorgetatbestände verwendet. Der Wortlaut spricht<br />

ebenso wie das Gewährleisten in Abs. 1 Nr. 1 für die Risikoschwelle als Anknüpfungspunkt<br />

der Beschränkungen des § 7 AWG889 . Mit der genannten<br />

Rechtsänderung erfolgt demnach nicht einmal zwingend eine Neuausrichtung<br />

der Exportkontrolle, sondern nur eine Klarstellung für die sehr weitgehende<br />

Vorverlagerung der Risikoprävention auf den Zeitpunkt organisatorischer<br />

Maßnahmen zur mittel- und langfristigen Gestaltung der Verteidigungspolitik.<br />

Sie ist Bestandteil der (äußeren) Sicherheitspolitik.<br />

Der Wortlaut des § 7 AWG lässt nach den vorgenannten Erwägungen nicht<br />

unbedingt auf die Notwendigkeit der Anwendung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs<br />

schließen. Vielmehr steht die Formulierung der dort beschriebenen<br />

Eingriffszwecke ein Stück weit im Widerspruch zur in § 3 AWG vorgegebenen<br />

Gefährdung. <strong>Die</strong> Betrachtung des Normzweckes hat daher erhebliche<br />

Bedeutung. Insbesondere die hinter den Beschränkungstatbeständen<br />

stehenden internationalen Verpflichtungen sowie die Konkretisierungen der<br />

vom Gesetzgeber beabsichtigten Rechtsfolgen im Rahmen der exportkontrollpolitischen<br />

Grundsätze der Bundesregierung müssen hierbei beachtet<br />

werden. <strong>Die</strong> Frage der hinreichend inhaltlichen Bestimmtheit des § 7 AWG<br />

wurde schon bei der Untersuchung des Begriffs der auswärtigen Beziehungen<br />

angesprochen.<br />

Der in der Exportkontrollliteratur bisher angeführte Verweis auf den polizeilichen<br />

Gefahrenbegriff geht vor allem auf Armin von Bogdandy zurück890 .<br />

Der bestätigt, dass der außenwirtschaftlichen Genehmigungspflicht das<br />

Grundverständnis des BVerfG zu Grunde gelegt wurde, welches mit dem<br />

Kriterium einer abstrakten Gefährlichkeit argumentierte. <strong>Die</strong>ses aber würde<br />

durch die Konturen des zwischenzeitlich entwickelten Vorsorgeprinzips zunehmend<br />

aufgelöst891 . Wenn er im Zusammenhang mit außenpolitischen Aspekten,<br />

dem BVerwG892 folgend, von einer Risikobewertung spricht und<br />

sich mit der Forderung einer Kompensation fehlender gerichtlicher Kontrol-<br />

889 So i.E. letztlich auch Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 Rn 10 sowie § 7<br />

Rn 9 und 17<br />

890 Vgl. Teil 1 II.5.e) zum Begriff der Gefahr und Teil 2 III.2. zu Fragen der Reichweite<br />

des Beurteilungsspielraumes und der Kompensation von Kontrolldefiziten<br />

891 V. Bogdandy (FN 4), S. 67 mit Hinweis auf BVerfGE 20, 150, 154<br />

892 BVerwGE 72, 300, 316 Bezug nehmend auf BVerfGE 49, 89 ( in beiden Entscheidungen<br />

geht es um Genehmigungen nach dem AtomG und Strahlenschutzerwägungen)<br />

247


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

len bei administrativen Beurteilungsspielräumen auf die Grundsätze zur Risikobewertung<br />

aus dem Umweltrecht stützt893 , so erkennt inzwischen auch<br />

er die erweiterte Dimension des <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Gefahrenbegriffs<br />

an. Eine risikoorientierte Interpretation der Gefährdungsschwelle scheint<br />

ihm zufolge möglich.<br />

Auch in der Dual-use-VO ist - wie schon mehrfach angedeutet - der Gefahrenbegriff<br />

zur Definition der Eingriffsschwelle nicht zwingend angelegt. Er<br />

könnte zwar dort in Art. 8 unter den Begriff der sachdienlichen Erwägungen<br />

subsumiert werden. <strong>Die</strong>se beziehen sich auf die internationalen Verpflichtungen<br />

der Mitgliedstaaten und die nationale Außen- und Sicherheitspolitik.<br />

Sie sollen für die Entscheidung von Relevanz sein. Der mit den Formulierungen<br />

der Art. 8 und 9 Dual-use-VO konstatierte Entscheidungsspielraum<br />

der Behörde trifft allerdings keine Aussage darüber, dass es auf die Sicherheit<br />

der Erkenntnis oder bestimmte Überzeugung der Behörde vom Bestehen<br />

der Gefahr ankommt. Das Behördenermessen steht allenfalls unter dem<br />

Vorbehalt der allgemeinen Verfassungsprinzipien, insbesondere der Verhältnismäßigkeit.<br />

<strong>Die</strong>se fordert per se schon eine Eignung und Erforderlichkeit<br />

der Maßnahme zur Erfüllung von sicherheitsrelevanten Schutzpflichten. Ob<br />

es dafür überhaupt einer Gefahr bedarf, bestimmt sich daher allein nach dem<br />

Normzweck, der anhand der hinter den Regelungen stehenden internationalen<br />

Verpflichtungen näher bestimmt werden muss. Da sich die geschützten<br />

Belange der Dual-use-VO mit denen des § 7 AWG. decken, bedarf es hierzu<br />

keiner gesonderten Ausführungen894 .<br />

cc) Bezugnahme auf Sicherheit als Kollektivbelang<br />

Es lässt sich festhalten, dass mit Blick auf die geschützten Belange in § 7<br />

AWG wie auch in Art. 8 Dual-use-VO keine Bezugnahme auf konkrete<br />

Rechtsgutsverletzungen erfolgt. Es geht um bestimmte Ausprägungen des<br />

Staatsziels Sicherheit und damit zusammenhängende internationale Verpflichtungen.<br />

<strong>Die</strong>sem wird ein kollektiv wirkender Gemeinwohlcharakter<br />

zugeschrieben, nicht aber ein unmittelbar verfassungsrechtlich geschützter<br />

subjektiv-öffentlicher Rechtsanspruch. <strong>Die</strong> Schutzaufgabe Sicherheit wird<br />

dagegen über eventuell betroffene Grundrechte vermittelt.<br />

<strong>Die</strong> Reichweite der unbestimmten Rechtsbegriffe Sicherheitsinteressen bzw.<br />

sicherheitspolitische Überlegungen muss über den Schutzzweck der Genehmigungspflichten<br />

näher bestimmt werden. Nicht zuletzt, weil es mit der<br />

893 V. Bogdandy (FN 4), S. 77<br />

894 Vgl. Teil 2 II.4. zum Entscheidungsspielraum und Teil 1 II.5.d) zum Vergelich der<br />

Genehmigungskriterien bzw. geschützten Belange<br />

248


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

faktischen Bezugnahme des Eingriffstatbestandes auf das Sicherheitsempfinden<br />

der Gesellschaft nicht mehr um die Gefahr für individuell geschützte<br />

Rechtspositionen im klassischen Sinne geht, wird auch in der Exportkontrolle<br />

die hinreichende Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm des § 7 AWG<br />

und die Forderung nach besseren Normkonkretisierungen thematisiert895 .<br />

Mit dem Bezugspunkt der Prognose zum Kollektivgut der Sicherheitsinteressen<br />

macht der Gesetzgeber deutlich, dass die Verwaltung nicht erst bei<br />

konkreten Gefahren für Leib und Leben der Bürger, sei es in Deutschland<br />

oder anderswo, handeln soll. Es besteht vielmehr ein Indiz für die Vorverlagerung<br />

der Gefahrenabwehr hin zu einer Gefahrenvorsorge. Anders kann der<br />

Staat seinen Schutzpflichten kaum effektiv nachkommen. Beim Versuch einer<br />

näheren Bestimmung der Gefahrenschwelle und des Bezugspunktes der<br />

Gefährdung orientiert sich die gesetzliche Eingriffsermächtigung allein am<br />

Kollektivbelang Sicherheit, der als Maßstab der drohenden Rechtsgutsverletzung<br />

vorgesehen ist. In ordnungsrechtlichen Verfahren wendet sich das<br />

Behördenhandeln dagegen regelmäßig gegen bestimmbare Gruppen oder eine<br />

konkretisierbare Störung bestimmter Rechtsgüter.<br />

<strong>Die</strong> Quantifizierung der mit § 7 AWG und Art. 8 Dual-use-VO geschützten<br />

Adressatenkreise erscheint kaum möglich896 . <strong>Die</strong> internationalen Verpflichtungen<br />

der Bundesrepublik und die Zielrichtung der Exportkontrollen hinsichtlich<br />

weltweit stabiler Verhältnisse, also der Verhinderung von mit konventionellen<br />

Waffen ausgefochtenen Konflikten sowie die weltweite Verhinderung<br />

des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen dürfte die gesamte<br />

Weltbevölkerung einbeziehen. Das gilt erst recht für die Schutzzwecke Völkerfrieden<br />

und Menschenrechtserwägungen. <strong>Die</strong> effektive Gefahrenabwehr<br />

ist so im klassischen Sinne nicht möglich. <strong>Die</strong> Verwaltung muss bereits<br />

frühzeitig handeln können, wenn Gemeinwohlbelange tangiert sind. Von<br />

Bogdandy hat dazu angeführt, dass es bei der näheren Bestimmung der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Gefährdungsschwelle auf eine Abgrenzung zu Restrisiken<br />

ankommen muss und deshalb eine Wahrscheinlichkeitsprognose notwendig<br />

sei. Sie müsse sich auf die potenzielle Schädigung eines hochwertigen<br />

Rechtsguts beziehen. Er hat damit nicht auf die Sicherheit rekurriert,<br />

sondern die schon im Zusammenhang mit der Risikovorsorge und der<br />

Schutzpflichtendiskussion angeführten Urteile des BVerfG. Beide stellen auf<br />

die Individualrechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit ab, die nach<br />

Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem effektiven Schutzpflichtgebot als<br />

895 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 Rn 18; s.a. Ausführungen zum Grad<br />

der Normbestimmtheit Teil2 II.3.b)bb)<br />

896 Vgl. Teil2 II.5.b)ee)<br />

249


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung eines Eingriffs dienen müssten897 .<br />

<strong>Die</strong>se besonders gewichtigen Schutzgüter seien in der Exportkontrolle wie<br />

im allgemeinen Ordnungsrecht maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die<br />

Wahrscheinlichkeitsprognose898 .<br />

Dem ist zuzustimmen, allerdings muss bei der Frage der Wahrscheinlichkeitsbestimmung<br />

die Konsequenz bestehender Erkenntnisdefizite berücksichtigt<br />

werden. Eine potenzielle Gefährdung der Individualrechtsgüter ist<br />

für die Exportkontrollbehörde allenfalls mit großer Unsicherheit vorhersehbar,<br />

es kann diesbezüglich also kaum mit der für die Gefahrenprognose<br />

maßgeblichen Wahrscheinlichkeit operiert werden. Sinn und Zweck der Exportkontrollen<br />

ist es, schon ansatzweise zu lebensbedrohlichen Umständen<br />

führende Ereignisse zu verhindern. In zeitlicher Hinsicht wie auch mit Blick<br />

auf die Kausalitätsketten bis hin zu konkreten Rechtsgutsverletzungen<br />

scheint es nicht allein um die absehbare Entwicklung zu gehen. Vielmehr<br />

müssen grundsätzliche, systembedingte Ungewissheiten gemeistert werden.<br />

Dazu gehören z.B. Zerstörungspotenzial und Verwendung des Gutes, aber<br />

auch die politischen Folgen fehlerhafter Prognosen. In die Prognose sind<br />

daher alle durch eine Ausfuhr möglichen Risiken einzubeziehen. Nicht nur<br />

die Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch die Aussagesicherheit der<br />

prognoserelevanten hypothetischen Tatsachen muss in die Abwägung eingestellt<br />

werden. <strong>Die</strong>ser Befund spricht dafür, von Risikoentscheidungen der<br />

Exportkontrollbehörde zu sprechen899 .<br />

<strong>Die</strong> Abgrenzung von Gefahr und Risikosituationen und das dafür wesentliche<br />

Element des Unwissens wurden eingehend erörtert. <strong>Die</strong> Frage der Erkenntnisdefizite<br />

bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en muss noch näher untersucht<br />

werden. Im Ergebnis wird bei der Anwendung der §§ 3 und 7 AWG also in<br />

Wahrung der Schutzfunktion explizit der status positivus der Grundrechte<br />

angesprochen. Letztlich steht diese Interpretation zur allgemeinen Funktion<br />

von Exportkontrollen nicht im Widerspruch. Hierauf wird im Anschluss<br />

noch näher eingegangen. Trotz Verwendung der o.a. Begriffe scheint die<br />

Auslegung des Wortlautes der Norm in diesem Gesamtzusammenhang zum<br />

Risikobegriff zu führen.<br />

897 V. Bogdany (FN 4), S. 70, unter Bezugnahme auf BVerfGE 53, 30, 57 - Mühlheim-<br />

Kärlich und 56 , 54, 73 ff. - Luftverkehrslärm<br />

898 Pietsch, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7) § 1 AWG Rn 13<br />

899 So Karpenstein (FN 41), S. 232<br />

250


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

dd) Konkretisierung des Normzwecks<br />

<strong>Die</strong> Ziele von Exportkontrollen, ihr geschichtlicher Hintergrund sowie die<br />

Sicherheitsgewährleistungen des Staates wurden mehrfach angesprochen900 .<br />

Für den Schutzzweck einschlägiger Genehmigungsvorbehalte erscheint vor<br />

allem für den konventionellen Dual-use-Güter-Bereich ein Aspekt sehr<br />

wichtig. Der Zweck von Exportkontrollen hat sich nach Ende des kalten<br />

Krieges nachhaltig verändert, was auch bei der Bewertung von Einzelfällen<br />

zu berücksichtigen ist. <strong>Die</strong> Dimension des gerade seit Anfang der 90er Jahre<br />

beschleunigten gesellschaftspolitischen Wandels und die Auswirkungen auf<br />

die Sicherheitserwartungen an den Staat sind für die Entwicklung der Exportkontrollen<br />

von erheblicher Bedeutung. <strong>Die</strong> noch dem Cocom-Regime<br />

eigene West-Ost-Richtung und Front-Betrachtung mit Fokus auf die Wahrung<br />

von Technologievorsprüngen wurde im Wassenaar-Regime aufgegeben901<br />

.<br />

Auch die Strukturen und Verfahren der Exportkontrollen passen sich der zunehmenden<br />

globalen Vernetzung von Logistik und Wissen an. <strong>Die</strong> weltweite<br />

Proliferation und Waffenbeschaffung steht heute mehr denn je im Mittelpunkt,<br />

erst recht durch die von Staaten losgelöste asymmetrische Bedrohung<br />

durch terroristische Aktivitäten. Hinzu kommt der wissenschaftliche und<br />

wirtschaftliche Fortschritt, was auch das technische Waffenpotenzial und die<br />

Zugangsmöglichkeiten erheblich verbessert hat. Damit werden Erkenntnisdefizite<br />

und so die Risiken deutlich größer. <strong>Die</strong> Frage nach für Exportkontrollen<br />

kritischen Wahrscheinlichkeiten in Form von Standards für risikoorientierte<br />

„de minimis“ oder „unreasonable risk“-Abwägungen beinhaltet daher<br />

zurecht die These, dass sich Exportkontrollen am Risikobegriff orientieren<br />

müssen902 . Bei den Exportkontollregimes stehen heute Fragen in Zusammenhang<br />

mit möglichen Erkenntnis- und Kontrolldefiziten regelmäßig<br />

auf der Agenda. Sie beschäftigen sich nicht mehr nur mit Listenfragen, sondern<br />

auch mit der Kontrolleffizienz. Dazu gehören Themen wie die Kontrolle<br />

unverkörperter Technologietransfers oder die Endverbleibsicherung. Beim<br />

Waffenbrokering ergeben sich besondere extraterritoriale Herausforderungen<br />

durch grenzüberschreitend agierende Händlerringe. Noch komplexer<br />

werden die Anforderungen an die Kontrollen bei staatenunabhängigen Terrorismusgefahren903<br />

. <strong>Die</strong>se Erwägungen bestätigen, dass sich inzwischen<br />

900 Vgl. Teile 1. I. und 3 I.<br />

901 Vgl. Teil 1 II.3.d)dd)<br />

902 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 101<br />

903 Zu den künftigen internationalen Herausforderungen: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9),<br />

J. S. 258<br />

251


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

auch die Gremien auf völkerrechtlicher Ebene mit risikoorientierten Fragen<br />

befassen. <strong>Die</strong>ser Befund ist wesentlich für den Normzweck, der nicht zuletzt<br />

durch die internationalen und zumindest politisch verbindlichen Vorgaben<br />

bestimmt wird. <strong>Die</strong> Erwägungen zum Normzweck und die Tatsache regelmäßig<br />

bestehender Ungewissheiten im Zeitpunkt der Entscheidung über<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en bestätigen also die Risikoorientierung der Exportkontrollen.<br />

Im technischen Sicherheitsrecht erscheint die Sachlage ähnlich, wenngleich<br />

bei Exportkontrollen über die technischen Fragen hinaus die verhaltensrelevanten<br />

Prognoseelemente mehr im Vordergrund zu stehen scheinen. Auch<br />

wenn im technischen Sicherheitsrecht, vor allem im Umweltrecht häufig<br />

konkrete Dritte - z.B. der Nachbar – im Fokus der Sicherheit stehen. Dahinter<br />

stehen regelmäßig schützenswerte Gesellschaftsgruppen, die sich nicht<br />

auf eine konkrete Zahl von Individuen beschränken. Auch bei Exportkontrollen<br />

geht um den Schutz ganzer Gesellschaftsgruppen, also einen im Zeitpunkt<br />

der Genehmigungserteilung noch unbestimmten Adressatenkreis. Insoweit<br />

sind beide Bereiche vergleichbar, der Vorsorgeansatz also auch bei<br />

Exportkontrollen möglich.<br />

Es bleibt festzuhalten, dass der Schutzzweck der Genehmigungsvorbehalte<br />

eine Reihe von Anhaltspunkten dafür bietet, dass Exportkontrollen Risikovorsorgecharakter<br />

haben. Letztlich muss aber die Abgrenzung von Gefahr<br />

und Risiko anhand der Frage bestehender Ungewissheit entschieden werden.<br />

<strong>Die</strong> Prüfungskriterien bei Genehmigungsentscheidungen sollen deshalb<br />

noch einmal im Einzelnen auf ihren Prognosegehalt hin untersucht werden.<br />

ee) Abgrenzung von Gefahr und Risiko im Kontext von Ungewissheit<br />

Nicht nur von Bogdandy nimmt Bezug auf die Termini der Risikovorsorge<br />

und zieht so einen Vergleich zum Umweltrecht. Anhaltspunkte, dass es sich<br />

bei der Frage nach der Gefährdung im Sinne der §§ 3, 7 AWG und bei den<br />

Kriterien der Dual-use-VO um Festlegungen für eine Risikoschwelle handelt,<br />

sieht auch Karpenstein. Bei den Genehmigungstatbeständen und den<br />

damit verbundenen Verfahren und Kriterien spricht er von einer Ermittlung<br />

des Exportrisikos. Aufgrund des weit gezogenen Bereichs der Ungewissheit<br />

im Rahmen der politischen Prognose müsse von Risikoentscheidungen gesprochen<br />

werden. Objektiv zu bewerten sei das Zerstörungspotenzial der betroffenen<br />

Technologie, subjektiv das Nichtwissen um die Endverwendung<br />

im Einzelfall sowie ein möglicher Missbrauch904 . Wenn also in der Exportkontrollliteratur<br />

vom „Risikomanagement“ gesprochen wird und damit ver-<br />

904 Karpenstein (FN 41), S. 233, 243<br />

252


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

bundene Ungewissheiten sowie kompensatorische Verfahrenskomponenten<br />

thematisiert werden, wird zutreffend von einem Bedürfnis für die weitergehende<br />

inhaltliche Präzisierung der Wahrscheinlichkeitskriterien bei der<br />

Prognoseentscheidung und möglichst weitgehend strukturierten Eingriffsschwellen<br />

ausgegangen. Der mit der Ermessensfehlerlehre vorgegebene<br />

Entscheidungsrahmen löst keines der Probleme, die sich aufgrund der Ungewissheit<br />

bei den Prognoseelementen ergeben. Gleichzeitig dürfen sich an<br />

Erkenntnisdefiziten orientierende Rechtsinstitute, wie der Gefahrenverdacht,<br />

Besorgnisverdacht oder Risikoverdacht, nicht zu einer grenzenlosen Ausdehnung<br />

der Prävention führen905 .<br />

<strong>Die</strong>se Analyse wird durch die systematischen Ansätze zur Unterscheidung<br />

konkreter und abstrakter Gefahren sowie Risiken bestätigt. <strong>Die</strong> Kontrollermächtigung<br />

nimmt quantitativ wie qualitativ erhebliche Ungewissheiten von<br />

Ausfuhrfolgen in Kauf. Sie gehen über bei Gefahrenprognosen ohnehin vorhandene<br />

Unsicherheiten der Zukunftsentwicklung hinaus. <strong>Die</strong> Kausalitätsprognose<br />

zwischen Ausfuhrhandlung und potenziellem Schaden, also die<br />

Wahrscheinlichkeitsprognose, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Im Polizeirecht<br />

wird das unter dem Aspekt der Zurechnung eines Schadens und<br />

der Störereigenschaft behandelt. Grundsätzlich mag es zwar einleuchten,<br />

dass ein Missbrauch von Ausfuhrgütern in Form gewalttätiger Handlungen<br />

letztlich immer die körperliche Unversehrtheit oder das Leben eines Einzelnen<br />

oder einer Gruppe von Rechtsgutträgern gefährden kann. Eine entsprechende<br />

Ereigniskette von der Ausfuhr hin zum Schaden kann allerdings allenfalls<br />

abstrakt vorgezeichnet werden. Eine konkrete Gefahr für ein individualisiertes<br />

Schutzinteresse bestimmter Personen im Sinne der allgemeinen<br />

Eingriffsbefugnisse im Polizeirecht ist kaum darstellbar. Vertritt man die<br />

Ansicht, dass bei der Bestimmbarkeit des potenziellen Schadens auch bei<br />

kollektiven Interessen auf das Vorliegen von hinreichenden Erkenntnissen<br />

zum möglichen „Gewaltopfer“ abzustellen ist, fehlt es in aller Regel an einem<br />

Gefahrenbezug bzw. Schaden. <strong>Die</strong>se Komponente der Ungewissheit<br />

bestätigt die These, dass von einem Risikobezug von Exportkontrollen und<br />

damit auch der Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips ausgegangen werden<br />

kann.<br />

Zu einem anderen Ergebnis kommt man nur, wenn man auf die in den Genehmigungstatbeständen<br />

geschützten kollektiven Interessen, also Sicherheit,<br />

Völkerfriede und auswärtige Belange abstellt. <strong>Die</strong>se staatlichen Interessen<br />

dienen der Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten im Zusammenhang<br />

mit dem Gewaltmonopol. Wenn man sie als eigenständige, auf die Allge-<br />

905 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 101<br />

253


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

meinheit bezogene Rechtsgüter bzw. als Teil der verfassungsmäßig verbürgten<br />

Gemeinwohlbelange begreift, könnte ein konkret bestimmbarer Schaden<br />

angenommen werden, wenn Anhaltspunkte für eine bestimmte kausale Entwicklung<br />

vorliegen. Aber auch das scheint in der Praxis nicht immer möglich.<br />

Wie schon bei Auslegung des Sicherheitsbegriffs erörtert, steigen die<br />

Erwartungen an die Prävention. Gleichzeitg wird sie aufgrund der zunehmenden<br />

internationalen und völkerrechtlichen Dimension der Sicherheit und<br />

in der Folge durch die notwendige behörden- und länderübergreifender Kooperation<br />

immer schwieriger. Der Staat muss daher auch bei Erkenntisdefiziten<br />

handlungsfähig bleiben.<br />

<strong>Die</strong> These, dass die Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge verlagert wird, weil<br />

die Krisenprävention und damit die Staatsaufgabe Sicherheit im Lichte des<br />

völkerrechtlichen Gewaltmonopols internationalisiert wird906 , erscheint deshalb<br />

gerade für Exportkontrollen zutreffend. Wegen des regelmäßig erheblichen<br />

Zeitablaufs zwischen der Ausfuhr von Dual-use-Gütern und ihrer konkreten<br />

Verwendung sowie einem möglichen missbräuchlichen Einsatz der<br />

damit hergestellten Waffen sind konkrete Auswirkungen einer Ausfuhr und<br />

die außenpolitischen Folgen kaum vorhersehbar. Eine Vielzahl verschiedener<br />

Staaten, Regierungen oder Organisationen wie auch private Kreise müssen<br />

im Kontext des internationalen Sicherheitsgeflechts, auswärtiger Beziehungen<br />

oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker berücksichtigt<br />

werden. Für die Gefahrenabwehr bei Exportkontrollen bleibt da kaum<br />

Raum907 . <strong>Die</strong> im nationalen Recht vorgenommene Kombination des Begriffs<br />

Gefährdung mit dem Bezugspunkt Sicherheit bzw. Sicherheitsinteressen<br />

gem. §§ 3 und 7 AWG deutet nicht auf eine Absicht des Gesetzgebers hin,<br />

möglichst konkrete Szenarien zum Gegenstand <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Instrumentarien<br />

zu machen. <strong>Die</strong> Kombination des Gefahrenbegriffs mit den<br />

geschützten Kollektivinteressen lässt demnach Raum für die Annahme risikoimmanenter<br />

Erkenntnisdefizite in Zusammenhang mit der Bedrohung einzelner<br />

Belange. <strong>Die</strong> in der Dual-use-VO verwendete, vergleichsweise offene,<br />

Formulierung in Form von sachdienlichen Erwägungen und Überlegungen<br />

spricht erst recht eine solche Annahme.<br />

<strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeitsschwelle des traditionellen Gefahrenbegriffs wäre<br />

bei der Endverwendungsprognose von Dual-use-Gütern dann unterschritten,<br />

wenn Eingriffsbefugnisse der Verwaltung trotz möglicher Erkenntnisdefizite<br />

bestehen sollen. Sie würden auf diese Weise ausgeweitet. Man könnte dabei<br />

zwar auch vom Vorliegen abstrakter Gefahren ausgehen. <strong>Die</strong>se kennzeich-<br />

906 Calliess, Äußere Sicherheit im Wandel (FN 105), S. 24 und 27<br />

907 So auch schon Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 3 Rn 10<br />

254


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

nen sich durch eine fehlende Individualisierung der Gefahr, wie sie bei Exportkontrollen<br />

der Fall ist. Da bei einer Gefahr ein Schaden zumindest hinreichend<br />

wahrscheinlich sein muss, reichen die beschriebenen Ungewissheiten<br />

hierfür aber gerade nicht aus. Der Gefahrenverdacht und damit die schon<br />

erwähnten Denkansätze zum subjektiven Gefahrenbegriff liegen hier näher.<br />

<strong>Die</strong> Gründe für die Ablehnung dieser Rechtsfigur und die Abgrenzung zum<br />

Risiko wurden angesprochen. Im Ergebnis führen deshalb allein die Thesen<br />

zum Risikobegriff und Vorsorgeprinzip zu einer Ausweitung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten,<br />

frühzeitig und unterhalb der klassischen Gefahrenschwelle.<br />

ff) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von Rüstungsgütern<br />

<strong>Die</strong> mittels Wahrscheinlichkeitsgrad prognostizierte kausale Verknüpfung<br />

zwischen Ausfuhr und einem möglichen Schaden erscheint beim grundsätzlich<br />

bekannten Empfänger von Rüstungsgütern noch darstellbar. Klassische<br />

Instrumente der Gefahrenabwehr wären daher eher praktikabel. Bei der Lieferung<br />

von Rüstungsgütern ist die Absicht militärischer Verwendung produktspezifisch<br />

und damit eindeutig geklärt. <strong>Die</strong> konkrete Verwendungsprognose<br />

bezieht sich lediglich auf den Empfänger der Ware. Um die angegebene<br />

Endverwender sicherzustellen, werden regelmäßig staatliche Zertifikate<br />

und Empfangsbestätigungen gefordert. Eine Missbrauchsgefahr reduziert<br />

sich auf das Verhalten des bekannten Empfängers oder aber auf Umgehungslieferungen.<br />

Letztere geht vom Empfänger aus. Insoweit könnte man<br />

konstatieren, dass aus der Person des Empfängers ein hinreichend konkreter<br />

Geschehensablauf zum potenziellen Missbrauch einer Lieferung und damit<br />

verbundenen Schäden abgeleitet werden kann. Für Rüstungsgüter erscheint<br />

demnach eine Wahrscheinlichkeitsprognose im Sinne der klassischen Gefahrenabwehr<br />

möglich. Eine andere Beurteilung könnte sich bei einer denkbaren<br />

Fehleinschätzung des späteren Handelns des Empfängers ergeben, der<br />

die Ware entgegen seinen Angaben, vielleicht sogar seiner ursprünglichen<br />

Absichten, an einen gewaltbereiten potenziellen Aggressor weiterveräußert.<br />

Aber nicht nur die Schwäche von Verhaltenprognosen, auch die Vielfalt<br />

möglicher tatsächlicher und politischer Folgen bei Fehleinschätzungen,<br />

sprechen für die Möglichkeit, dass ein Schadens nicht immer mit der gebotenen<br />

Wahrscheinlichkeit eingeschätzt werden kann. Das Argument wird gestützt,<br />

wenn man die den Normzweck konkretisierenden Vorgaben der exportkontrollpolitischen<br />

Grundsätze einbezieht. Gerade gegenüber nicht im<br />

Verteidigungsbündnis kooperierenden Drittländern sind möglichst restriktive<br />

Genehmigungspolitiken vorgesehen, verbunden mit stringenten Vorgaben<br />

und einer Reihe von Sicherheitsvoraussetzungen im Drittland, wie z.B. effektive<br />

Exportkontrollen und Kriminalpräventionsmechanismen. Danach<br />

255


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

soll jede auch nur annähernde Gefährdung der Sicherheit ausgeschlossen<br />

sein. Auch Erkenntnisdefizite, also die Unmöglichkeit einer Wahrscheinlichkeitsbestimmung,<br />

könnten für eine negative Entscheidung sprechen. Es<br />

kommt dann auch bei Rüstungsexporten zu einer Risikoabwägung.<br />

gg) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von Dual-use-Gütern<br />

Noch eindeutiger erscheint die Sachlage bei Dual-use-Gütern. <strong>Die</strong> Darlegung<br />

konkreter oder auch abstrakter (auf bestimmte Gruppen bezogene) Gefahren<br />

müsste sowohl aus technischer Sicht, wie auch mit Blick auf den<br />

Empfänger und dessen Verhalten, möglich sein. <strong>Die</strong> Realitätsnähe der Optionen<br />

ziviler und waffenrelevanter Endverwendung muss in der Prognose<br />

herausgearbeitet werden. Unwissen kann sich dabei auf sehr verschiedene<br />

Prognoseelemente beziehen. Schließlich sind die Gefährdungskriterien bei<br />

der betreffenden Lieferung von vielen Faktoren abhängig908 . Zwar müsse<br />

sich die Endverwendungsprognose auf möglichst vollständig ermittelte Tatsachen<br />

berufen, ein gewisser Grad an Unwissen wird aber hinzunehmen sein<br />

und muss durch ergänzende verfahrenstechnische Instrumentarien überwunden<br />

werden909 .<br />

Zunächst muss festgestellt werden, in welchen Bereichen der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Sachverhaltsermittlung Erkenntnisdefizite schwerpunktmäßig<br />

eine Rolle spielen. <strong>Die</strong> Genehmigungskriterien und entsprechende politische<br />

Leitlinien können nur zu einer angemessenen Entscheidungsfindung führen,<br />

wenn der Sachverhalt hinreichende Anhaltspunkte für die Anwendung bestimmter<br />

Genehmigungstatbestände liefert. Auf die einzelnen Prüfungsschritte<br />

der Exportkontrollbehörde zur Sachverhaltsermittlung wurde bereits<br />

im Rahmen der Rechtsqualität einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />

eingegangen.<br />

Im ersten Schritt des Genehmigungsverfahrens wird die Qualifikation des<br />

Antragstellers geprüft. Nach AWG wie Dual-use-VO wird eine Genehmigung<br />

von seiner Zuverlässigkeit abhängig gemacht. Er muss aus bisherigen<br />

Verfahren als zuverlässig bekannt sein, in dem er die Einhaltung der Exportkontrollvorschriften<br />

in der Vergangenheit gewährleistet hat. Das Zuverlässigkeitszertifikat<br />

erwirbt er sich unter bestimmten Voraussetzungen, die u.a.<br />

auch firmeninterne Kontrollen sowie eine besondere persönliche Verantwortung<br />

und Letztentscheidungsbefugnis durch verlässliche Ausfuhrverantwortliche<br />

beinhalten. Im Falle der Unzuverlässigkeit oder eines Verdachts hierzu<br />

erfolgt nach den politischen Grundsätzen der Bundesregierung eine Ausset-<br />

908 So auch Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 398<br />

909 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 97 ff.<br />

256


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

zung des Verfahrens oder eine Ablehnung910 . Durch dieses Verfahren soll<br />

auch eine gewisse Kooperation mit der Behörde, hinreichende Information<br />

und Fortbildung sowie Sensitivität der Unternehmen für die sicherheitspolitische<br />

Relevanz der Kontrollen und damit die Wahrnehmung der Eigenverantwortung<br />

der Unternehmen mittels innerbetrieblicher Organisation gefördert<br />

werden911 . Bei zuverlässigen Unternehmen kann die Behörde davon<br />

ausgehen, dass die Antragsangaben gewissenhaft und nach bester Kenntnis<br />

gemacht werden. Somit bestehen zunächst Indizien, dass Missbräuche nicht<br />

nahe liegen. Erst durch bessere Behördenerkenntnisse würde dies relativiert.<br />

Faktisch kommt es zu einer Beweislastumkehr für die Frage der zivilen<br />

Endverwendung des Dual-use-Gutes. In diesem Prüfschritt sind Erkenntnisdefizite<br />

an sich nicht von Relevanz. <strong>Die</strong> Zuverlässigkeit hat keinen Prognosecharakter,<br />

sondern basiert auf der Bewertung zurückliegender Erfahrungen<br />

zum Antragsteller. Unwissen spielt dabei also keine unmittelbare Rolle.<br />

In der Folge wird die Glaubhaftigkeit der behaupteten zivilen oder sonstigen<br />

Endverwendung geprüft. Dabei werden technische Eignung, die Art der<br />

Ausfuhr und des Gutes, der konkret geplante Einsatzbereich und dessen Nähe<br />

bzw. Bezug zu missbilligten Verwendungen, der geplante Endverbleib<br />

sowie eine Überprüfung des Empfängers bzw. im Fall der Weitergabe an<br />

Dritte des tatsächlichen Endverwenders einbezogen. Im Grundsatz gilt, dass<br />

die zivile Endverwendung, sofern es auf sie ankommt, schlüssig und plausibel<br />

dargestellt sein muss912 . Dem entgegenstehende Anhaltspunkte, die eine<br />

Missbrauchsprognose der Behörde rechtfertigen könnten, ist bei den Verwendungstatbeständen<br />

im Gegensatz zu Genehmigungspflichten bei Gütern<br />

der Ausfuhrliste auch Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Genehmigungspflicht<br />

besteht913 . Aber alle mit dem Verwendungszweck einhergehenden<br />

Prognosemerkmale bergen die Gefahr von Erkenntnisdefiziten.<br />

Erstes Element der möglichen Ungewissheit kann die technische Eignung<br />

des Ausfuhrgutes sein. Hierzu müssen von Fachexperten in Zusammenarbeit<br />

mit den Antragstellern möglichst konkrete naturwissenschaftliche Aussagen<br />

erstellt werden. Dabei geht es um die Qualifikation der Ware für die Güterlisten.<br />

<strong>Die</strong> technische Analyse des betroffenen Gutes erfolgt aber auch mit<br />

der Frage nach der Eignung des Gutes für den angegebenen Verwendungs-<br />

910 Zum Ganzen: Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 344 f., 357 f., s.a. Bekanntmachung der<br />

Bundesregierung vom 25.07.2001 und des BAFA vom 01.08.2001 unter:<br />

www.bafa.de<br />

911 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 22<br />

912 Zu den einzelnen Kriterien: Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 398<br />

913 Zu den Grundlagen der Bewertung: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 74<br />

257


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

zweck. Rückschlüsse auf Verwendungsoptionen können aber im Einzelfall<br />

durchaus schwierig sein, so dass damit auch Unsicherheitsfaktoren verbunden<br />

sein können. Soweit es sich um gelistete Güter handelt, deuten die technischen<br />

Parameter auf eine implizite Risikoschwelle hin. <strong>Die</strong> Güter der<br />

meist aus den Exportkontrollregimes stammenden Listenpositionen gelten<br />

als militärisch oder im Bereich der Produktion von Massenvernichtungswaffen<br />

als besonders sensibel. Bei diesen Gütern kommt es deshalb besonders<br />

auf die tatsächliche Verwendung an. <strong>Die</strong> zivile Endverwendung muss sichergestellt<br />

sein. Faktisch erfolgt hierbei eine Beweislastverteilung zu Ungunsten<br />

des Antragstellers, da er die geplanten Einsatzzwecke der Lieferung<br />

plausibel darstellen muss914 . Das gilt erst recht, wenn der Empfänger einen<br />

missbrauchsrelevanten Hintergrund hat. Hierbei kommen auch die Angaben<br />

des Empfängers und dessen Glaubwürdigkeit ins Spiel.<br />

Bei nicht gelisteten Gütern, die wegen der möglichen Endverwendung antragspflichtig<br />

sind, besteht eine technisch bedingte Gefährdungsvermutung<br />

zunächst nicht. Es kommt allein auf die tatsächliche Endverwendung an.<br />

Nur wenn der Behörde entsprechende Kenntnisse einer militärischen Relevanz<br />

des beabsichtigten Einsatzes vorliegen, kann es zu einer Ablehnung<br />

kommen. <strong>Die</strong> soeben behauptete Beweislastumkehr für die zivile Endverwendung<br />

zu Lasten des Antragstellers dürfte wegen des Fehlens der mit der<br />

Listung verbundenen technischen Gefährdungsvermutung demnach zunächst<br />

nicht greifen. <strong>Die</strong>s geht auf die Korrelation des Gefährdungspotenzials<br />

der Lieferung zu den Anforderungen an einen Rechtseingriff zurück. Danach<br />

soll die Höhe des Gefährdungspotenzials in die Anforderung einer hinreichenden<br />

Spezifizierung der Wahrscheinlichkeitsprognose eingestellt werden915<br />

. <strong>Die</strong>ser Ansatz mag zwar die Komponente Unwissen und deren Auswirkung<br />

auf die Wahrscheinlichkeitsbetrachtung verkennen, entspricht aber<br />

strukturell durchaus der auch im Risikobereich gesehenen Verhältnismäßigkeitsbetrachtung<br />

in Abhängigkeit von der Risikonähe eines Verhaltens oder<br />

Zustandes916 . Mit Blick auf die technischen Eigenschaften der Dual-use-<br />

Güter könnten Erkenntnisdefizite verbleiben, wenn die vorhandene Fachexpertise<br />

nicht ausreicht. <strong>Die</strong>se könnte bei Neuentwicklungen durchaus der<br />

Fall sein, dürfte aufgrund der im BAFA vorhandenen Erfahrungen aber nur<br />

in Ausnahmefällen tatsächlich technisch begründet sein. Regelmäßig dürften<br />

sich die Unsicherheiten auf das tatsächliche Verhalten des späteren Nutzers<br />

beziehen.<br />

914 So auch Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 Rn 11<br />

915 Hinweise auf Exportkontrollliteratur dazu in Teil 1 II.5.e)<br />

916 hierzu Teil 3 III.2.<br />

258


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Zweites Element der Ungewissheit ist die Spezifikation des Empfängers und<br />

damit die Plausibilität der Endverwendungsangaben. Hierbei geht es nicht<br />

um technische Fragen, sondern um die konkreten Einsatzgebiete und Tätigkeitsfelder<br />

des Empfängers. <strong>Die</strong> Bewertung erfolgt mit Hilfe der vorhandenen<br />

Erkenntnisse des BAFA oder, je nach Empfängerland und Warenbezug,<br />

auch mit Hilfe nachrichtendienstlicher Recherchen. Dabei bezieht die Genehmigungsbehörde<br />

Informationen über die Gesellschafter des Unternehmens,<br />

seinen Kundenkreis und sonstige Geschäftsbeziehungen ein. So kann<br />

sie Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verwendungsabsichten ziehen. Auch<br />

die mögliche Weitergabe an Dritte und die Kontrolle der Güter im Empfängerstaat<br />

werden berücksichtigt.<br />

Gerade bei Auslandstatsachen ergeben sich regelmäßig große Unsicherheiten.<br />

<strong>Die</strong> Qualität der Erkenntnisdefizite geht schnell über die bestehende<br />

Lebens- bzw. Behördenerfahrung hinaus. <strong>Die</strong> Beziehungsgeflechte der Wirtschaft<br />

sind hierfür oftmals zu komplex. Besonders die spätere Verwendung<br />

bzw. ihr Ort sind bei bestimmten Empfängerregionen kaum vorhersehbar.<br />

<strong>Die</strong> im Zeitpunkt der Ausfuhr geplanten Zwecke können nicht dauerhaft sichergestellt<br />

werden. Bei Dual-use-Gütern sind diese im Nachgang oft kaum<br />

nachzuprüfen, der konkrete Einsatz kann sich auch nachträglich ergeben. Es<br />

handelt sich teilweise nur um Rohmaterial, Zwischenprodukte oder Komponenten<br />

von Gütern oder Anlagen. Wofür die daraus hergestellten Produkte<br />

verwendet werden, ist im Zeitpunkt der Ausfuhr nicht immer bekannt bzw.<br />

vorhersehbar. Kundenkreise unterliegen dem Geschäftsgeheimnis und können<br />

sich ändern. Anhaltspunkte für einen späteren Missbrauch der Ware bieten<br />

nur allgemeine Informationen über den Empfänger und natürlich dessen<br />

Ansässigkeit in bestimmten Staaten oder Regionen. Der Grad der Ungewissheit<br />

für die zivile Verwendung kann also erheblich variieren. Erkenntnisdefizite<br />

im Sinne der Gefahren-/Risikoabgrenzung treten daher nahezu<br />

zwingend auf. <strong>Die</strong> Sachverhaltsermittlung stößt an ihre Grenzen. Hinsichtlich<br />

des Warenempfängers bleiben manchmal ohnehin nur die geäußerten<br />

und gegebenenfalls auch plausiblen Absichten als Entscheidungsgrundlage.<br />

Hier knüpft die Notwendigkeit der Behördenkooperation an, um die Informationsbeschaffung<br />

möglichst effektiv zu gestalten.<br />

Drittes Element der Unsicherheit ist die Prognose zu den politischen Auswirkungen<br />

eines möglicherweise stattfindenden Missbrauchs. <strong>Die</strong>ser hängt<br />

von vielen Einzelfaktoren ab, wie z.B. Schadenshöhe, Schadensopfer, Höhe<br />

des Ursachenbeitrages oder Versagen nationaler Kontrollen. Dennoch muss<br />

die Kontrollbehörde unter Abwägung der eigenen Prognosen und der Inte-<br />

259


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

ressen des Ausführers eine Entscheidung treffen 917 . Oft ist im Zeitpunkt der<br />

Ausfuhr noch nicht klar, welche Folgen sich für die geschützten Belange,<br />

geschweige denn politischen Implikationen im Sinne des § 7 AWG bzw. Art<br />

8 Dual-use-VO daraus ergeben könnten. Schließlich führt bei Dual-use-<br />

Gütern erst die Produktion unter Nutzung der Komponenten oder Zuhilfenahme<br />

der Betriebsmittel oder Herstellungsausrüstung mit Dual-use-<br />

Charakter zu einer Waffe. Wer diese später in den Händen hält oder gar konkret<br />

einsetzt, ist zumeist ungewiss. An dieser Stelle geht es um mittelbare<br />

Wirkungen einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>. Es müssen Vermutungen angestellt<br />

werden, die nicht immer von spezifischen Hinweisen gedeckt sind. Bei der<br />

Zahl vorhandener Ungewissheiten kann nicht mehr vom Überschreiten einer<br />

Gefahrenschwelle die Rede sein. In der Gesamtabwägung gibt es dennoch<br />

regelmäßig Gründe, die ein Eingreifen der Behörde, also die Genehmigungsversagung,<br />

für notwendig erachten lassen. Exportkontrollen für Dualuse-Güter<br />

können deshalb als Vorsorgemaßnahme im Sinne der Risikoprävention<br />

eingestuft werden. Hinzu kommt, dass bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />

wegen der hohen denkbaren Schäden die Anwendung des Vorsorgeprinzips<br />

nach o.g. Grundsätzen gerechtfertigt erscheint, zumindest bei Anhaltspunkten<br />

für die Möglichkeit der Nutzung der kontrollierten Güter für einen kriegerischen<br />

Einsatz oder sonstige missbräuchliche Handlungen.<br />

hh) Zusammenfassende Wertung des Risikobezugs von Exportkontrollen<br />

Rüstungsgüter und Dual-use-Güter müssen bezüglich der Erkenntnislage im<br />

Ergebnis unterschiedlich beurteilt werden. Auf Dual-use-Güter bezogene<br />

Exportkontrollen weisen sehr starke Bezüge zum Bild der Risikogesellschaft<br />

auf. Wissenschaft und Technologie haben bisher nicht abschätzbare Risiken<br />

und ebenso wenige absehbare Schadenspotenziale für unsere Gesellschaft<br />

geschaffen. Hoch entwickelte Waffensysteme basieren letztlich auf einem<br />

allgemein hohen (auch zivilen) Forschungs- und Entwicklungsstandard. Ein<br />

prägnantes Beispiel hierfür ist die Atomtechnologie, die nicht nur für friedliche<br />

Zwecke, sondern durch entsprechende zusätzliche Prozesse und Entwicklungen<br />

(z.B. Urananreicherung, Raketentechnologie) bis hin zur Herstellung<br />

einer Atombombe genutzt werden kann. <strong>Die</strong> dafür erforderlichen<br />

Technologien sowie Materiale haben Dual-use-Charakter. Ähnliches gilt bei<br />

Anlagen und Technik für andere Massenvernichtungswaffen. Aber auch für<br />

konventionelle Rüstungsgüter geeignete Dual-use-Güter tragen wesentlich<br />

zur Waffenherstellung bei und haben insoweit mittelbar ein großes Destabi-<br />

917 Zu den drei Komponenten der Ungewissheit: Karpenstein (FN 41), S. 233<br />

260


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

lisierungs- und Vernichtungspotenzial, das über die quantitativ beschränkbaren<br />

Waffenlieferungen durchaus hinausgehen kann. Bei Dual-use-Gütern ist<br />

dennoch zu unterscheiden. Einerseits basieren Genehmigungspflichten für<br />

gelistete Güter auf technischen Parametern, die in gewissem Maße kategorisieren,<br />

was als militärisch relevant bzw. trotz Dual-use-Charakter als besonders<br />

sensibel gilt. <strong>Die</strong>s schlägt auch auf die im Vergleich höheren Anforderungen<br />

einer Genehmigungsfähigkeit von Lieferungen bzw. Beweislastfragen<br />

durch. Hinzu kommt aber immer die empfängerabhängige Verwendungsprognose,<br />

die allein von menschlichem Handeln abhängt. Daneben<br />

stehen schließlich Genehmigungspflichten für nicht gelistete Güter, bei denen<br />

es ausschließlich auf die Verwendung und damit menschliches Verhalten<br />

ankommt. Das ist gerade bei asymmetrischen Bedrohungen wichtig, wie sie<br />

z.B. durch den Terrorismus gegeben sind. <strong>Die</strong>ses Kriterium ist letztlich für<br />

die Genehmigungsfähigkeit aller Lieferungen gleichermaßen bedeutsam, sei<br />

es für Rüstungsgüter, gelistete oder ungelistete Dual-use-Güter. Hier sind<br />

Missbräuche soweit wie möglich zu unterbinden. Das Endverwendungskriterium<br />

ist schwerlich bestimmten Kategorien zugänglich.<br />

Für Rüstungsgüter spielen vor allem das zweite und noch viel stärker das<br />

dritte Element der Ungewissheit, das Empfängerverhalten und politische<br />

Szenarien des Missbrauchs eine Rolle. Insgesamt dürften schon aufgrund<br />

des Normzwecks bei geringsten Zweifeln der Sicherstellung der angegebenen<br />

Verwendungszwecke negative Entscheidungen gewollt sein. Unsicherheit<br />

wirkt also eher als Präventionskriterium, so dass man hier sogar erst<br />

recht von einem Risikovorsorgecharakter der Genehmigungspflichten ausgehen<br />

könnte.<br />

In allen Kontrollbereichen bestehen demnach regelmäßig Erkenntnisdefizite.<br />

<strong>Die</strong> damit festgestellten Ungewissheiten und die Vielfalt der möglichen Folgewirkungen<br />

sprechen auch bei der Ausfuhrentscheidung für Dual-use-<br />

Güter für die Qualität eines Risikotatbestandes. <strong>Die</strong>ser Befund gilt für nationale<br />

und gemeinschaftsrechtliche Tatbestände gleichermaßen. Im Ergebnis<br />

spricht daher vieles für den Risikovorsorgecharakter der Exportkontrollen.<br />

Auf die hinreichend Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsverletzung kann im<br />

Zeitpunkt einer Genehmigung aufgrund der regelmäßig bestehenden Ungewissheiten<br />

kaum abgestellt werden. Ihr Bezugspunkt und Zweck widersprechen<br />

dem Verständnis der Gefahrenprävention.<br />

b) Normkonkretisierung und standardisierte Eingriffsschwellen<br />

<strong>Die</strong> hinreichend inhaltliche Bestimmtheit der gesetzlichen Genehmigungsvorgaben<br />

muss mit den Kriterien von im Risikobereich erweiterten Eingriffsbefugnissen<br />

in Einklang gebracht werden. Es gelten die allgemeinen<br />

261


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

Erwägungen für die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Bei so umfassenden<br />

Entscheidungsspielräumen der Verwaltung, wie sie bei der Risikoprävention<br />

bestehen, werden erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung<br />

von Eingriffen gestellt. Der angemessene Umgang der Verwaltung mit<br />

ihren weit reichenden Befugnissen soll vor allem durch die Vorgabe verbindlicher<br />

Leitlinien zur Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe Gefahr<br />

bzw. Risiko sichergestellt werden. Nur so ist eine hinreichende richterliche<br />

Kontrolle gewährleistet.<br />

Infolge der Ausweitung staatlicher Eingriffsbefugnisse ergeben sich große<br />

Schwierigkeiten bei der Grenzziehung zwischen Handeln im Sinne der Ermächtigungsnorm<br />

und Willkür. Erkenntnisunsicherheiten sind risikoimmanent.<br />

Aus diesem Grunde erfolgt regelmäßig eine Anknüpfung der Eingriffstatbestände<br />

an Erfahrungssätze und Leitlinien, die insbesondere wissenschaftlich-technische<br />

Parameter aufgreifen. <strong>Die</strong>se Standardisierung der Eingriffsschwelle<br />

berücksichtigt das Bestimmtheitsgebot. <strong>Die</strong> Zumutbarkeitsschwelle<br />

für den Eingriffsadressaten <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Maßnahmen<br />

muss daher näher definiert werden. Neben der Konkretisierung der Risikoparameter<br />

bedarf es eines Mindeststandards der gerichtlichen Überprüfung<br />

des Verwaltungshandelns. Er enthält vor allem die Willkürkontrolle und das<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip.<br />

Im Zusammenhang mit dem Begriff der auswärtigen Beziehungen wurde<br />

erörtert, dass aufgrund des Schutzzweckes eine Bezugnahme zu den sicherheitsorientierten<br />

Beschränkungsvarianten des § 7 Abs. 2 AWG keine Verletzung<br />

des Bestimmtheitsgebotes Art. 80 Abs.1 S. 2 AWG vorliegt. Im Übrigen<br />

wurde festgestellt, dass die Genehmigungsleitlinien aus den internationalen<br />

Kontrollregimes oder sonstige internationale Vereinbarungen, auf die<br />

auch ein Genehmigungskriterium des Art. 8 Dual-use-VO explizit verweist,<br />

in Form der exportkontrollpolitischen Grundsätze der Bundesregierung und<br />

des VK-EU umgesetzt wurden. <strong>Die</strong>se Grundsätze dienen als normkonkretisierende<br />

Vorgaben und führen zu einer Selbstbindung der Verwaltung.<br />

Wenngleich ihre Ausgestaltung in der Literatur nach wie vor als zu unbestimmt<br />

kritisiert wird918 , erfolgt eine gewisse Kompensation mangelnder Bestimmtheit.<br />

Das BVerfG sieht dies nicht anders. Es hält die Vorschrift von §<br />

7 Abs.1 AWG auch mit Blick auf die auswärtigen Belange nach Nr. 3 für<br />

918 Im Rahmen der rechtlichen Analyse von „dubiosen“ Rechtsinstrumenten werden die<br />

politischen Grundsätze als zu vage angesprochen: Hohmann (FN 89), S. 338 ff., 349,<br />

s.a. zum Transparenzproblem interner Erlasse Karpenstein (FN 41), S. 243<br />

262


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

hinreichend bestimmt und von Verfassung wegen nicht zu beanstanden919 .<br />

Es wurde schon darauf hingewiesen, dass diese Auslegung dem Schutzzweck<br />

des AWG geschuldet ist. Sie erfolgt anhand der Inhaltsbestimmung<br />

von § 2 Abs.1 i.V.m. dem Katalog der Sicherheitszwecke des § 7 Abs. 2<br />

AWG. Zweck und Ausmaß der Norm sind den § 2 Abs. 1 und 2 sowie § 3<br />

AWG zu entnehmen. Letzter stellt auf eine nicht nur unwesentliche Gefährdung<br />

der Schutzzwecke des § 7 Abs. 1 AWG ab.<br />

<strong>Die</strong> Exportkontrollregimes sehen Genehmigungsleitlinien vor, wonach z.B.<br />

im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologie<br />

keine Ausfuhren erfolgen sollen, wenn das Zielland im Verdacht steht, entsprechende<br />

Waffenprogramme zu haben oder das Empfängerland selbst keine<br />

angemessenen Exortkontrollstandards hat. Beim Wassenaar-Regime geht<br />

es um die konventionelle Aufrüstung, die vornehmlich im Zusammenhang<br />

mit destabilisierenden Zuständen in Empfängerland oder -region verhindert<br />

werden soll. In allen Regimes, vor allem im Rüstungsgüter- und Waffenbereich<br />

des Wassenaar-Regimes, aber auch bei biologischen Waffen und Chemiewaffen<br />

spielen auch Menschenrechtskriterien eine Rolle, also mögliche<br />

Hinweise auf eine missbräuchliche Verwendung von Lieferungen zu repressiven<br />

Zwecken920 .<br />

In den VK-EU sowie den Grundsätzen der Bundesregierung werden diese<br />

Leitlinien sowie andere internationale Verpflichtungen, z.B. die Kleinwaffenkonvention<br />

der OECD, bestätigt. Dort wird z.B. differenziert, ob Lieferungen<br />

in Länder, die dem Verteidigungsbündnis der Nato angehören, erfolgen,<br />

oder aber in instabile Regionen. Im Dual-use-Bereich haben diese<br />

Grundsätze Reflexwirkung. <strong>Die</strong> politischen Grundsätze begrenzen also den<br />

Entscheidungsspielraum. Auf ihre Rechtsnatur wurde bereits eingegangen,<br />

ein normkonkretisierender Charakter wird ihnen wegen der Einflussnahme<br />

durch das Parlament durchaus zugestanden921 . Hinzu kommt die Selbstbindungswirkung<br />

durch die allgemeine Anerkennung der Grundsätze infolge<br />

ihrer Veröffentlichung922 .<br />

Zusätzliche Anhaltspunkte für die nationale Genehmigungspolitik ergeben<br />

sich bei den nationalen Genehmigungspflichten für Lieferungen gem. § 5c<br />

AWV in Regionen der Länderliste K oder bei nuklearrelevanten Lieferungen<br />

gem. § 5d AWV, der bestimmte Länder aufzählt. Für sie gelten besonders re-<br />

919 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 Rn 30, unter Verweis auf BVerfGE (FN 115),<br />

NJW 1992 S. 2624 und BVerfGE 1991, 148, 163 – Samarra, vgl. Teil 1 II.5.b)dd)<br />

920 Vgl. Teil 2 II.3.c)<br />

921 Vgl. Teil 2 II.5.f)aa)<br />

922 So Karpenstein (FN 41), S. 208<br />

263


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

striktive Maßstäbe, die letztlich auch und erst recht für die Lieferung von<br />

gelisteten Gütern gelten923 . Schließlich ergeben sich auch über die in den<br />

Rüstungsexportberichten der Bundesregierung veröffentlichten genehmigten<br />

Lieferungen Anhaltspunkte, welche aktuellen Politiken die Bundesrepublik<br />

gegenüber bestimmten Ländern verfolgt. <strong>Die</strong>s erlaubt im erst-recht-Schluss<br />

ebenfalls Rückschlüsse auf die Belieferungsfähigkeit einzelner Staaten mit<br />

Dual-use-Gütern924 .<br />

<strong>Die</strong> Eingriffsschwelle der unwesentlichen Gefährdung gem. § 3 AWG oder<br />

hinreichender Überlegungen nach Art. 8 Dual-use-VO wird über die Anwendungserlasse<br />

des BAFA konkretisiert. Sie beziehen sich auf die Spezifizierung<br />

der nach § 17 AWV verlangten Endverbleibsdokumente oder der<br />

Tatbestandsmerkmale verwendungsbezogener Genehmigungspflichten. Der<br />

Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist auf bestimmte Bezüge der Verwendung<br />

im Zusammenhang mit der Waffenproduktion oder zivilen nuklearen<br />

Programmen beschränkt, z.B. auf Herstellungsausrüstung oder Betriebsmittel925<br />

. <strong>Die</strong> für eine hinreichende Bestimmung von Risikoschwellen<br />

gestellten Anforderungen an normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften<br />

werden hiermit zumindest aus technischer Sicht erfüllt.<br />

<strong>Die</strong> Behördenerlasse sowie die politischen, auf die Genehmigungskriterien<br />

gerichteten Entscheidungsleitlinien sind für Exportkontrollen prägend und<br />

bieten einen Anhaltspunkt dafür, dass es sich hierbei ebenso um Spezifizierungen<br />

der Risikoschwelle handelt. Ob diese für die nähere Bestimmung der<br />

Beschränkungstatbestände ausreichen, wird manchmal bezweifelt. <strong>Die</strong>s beruht<br />

u.a. auf einer fehlenden parlamentarischen Kontrolle wie das bei<br />

Rechtsverordnungen nach §§ 26, 27 AWG der Fall ist926 . Insgesamt wird<br />

deutlich, dass neben den Genehmigungskriterien auch die Genehmigungsleitlinien<br />

relativ vage bleiben und nicht etwa auf bestimmte konkrete Liefernetzwerke<br />

oder im Missbrauchsverdacht stehende wirtschaftliche Beziehungen<br />

abstellen, sondern wie die Leitlinien der Exportkontrollregime auch,<br />

allgemein auf Spannungs- oder Konfliktpotenziale verweisen. Das gilt zumindest,<br />

wenn es um Lieferungen an Empfänger in Staaten geht, die nicht<br />

Mitglieder des Verteidigungsbündnisses NATO sind oder vergleichbare Kooperationen<br />

mit der Bundesrepublik verfolgen. An der Unbestimmtheit der<br />

923 Vgl. Teil 2 II.5.f)<br />

924 Hierzu Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 46 ff.<br />

925 Vgl. BAFA-Erlasse, in: Haddex, Bd IV, 702, 720, 721<br />

926 Siehe dazu Teil 2 II.3.b)bb); siehe dazu auch FN 918, insbesondere mit der Forderung<br />

einer Höherzonung, also Normierung der Erlasse zur Zuverlässigkeit und Verwaltungssanktionen<br />

sowie der Allgemeingenehmigungen: Hohmann (FN 89), S. 530<br />

264


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Grundsätze gibt es daher Kritik. Der Vertrauensschutzgedanke und das Erfordernis<br />

angemessener Risikoverteilung gebieten die Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen<br />

Kontrolle. Bei solchen unbestimmten, einseitig zu<br />

Lasten der Wirtschaft gehenden Wertungsmaßstäben, erscheine diese nicht<br />

möglich 927 . Für die Wahrscheinlichkeitsprognose zur Gefährdung bestimmter<br />

Rechtsgüter fehlen Hinweise, die auf vom Gesetzgeber missbilligte, bestimmte<br />

Kausalketten und Bedrohungsszenarien abstellen. <strong>Die</strong>ser scheint<br />

darauf Wert zu legen, Bedrohungslagen schon generell im Ansatz unterbinden<br />

zu wollen. <strong>Die</strong>s entspricht aber letztlich auch dem Schutzzweck von<br />

Exportkontrollen. Es kann nicht auf konkret vorhersehbare Vorgänge ankommen.<br />

Dafür sind die Beziehungsgeflechte der Wirtschaftswelt zu komplex,<br />

zumal sich auch die Verhaltensweisen einzelner Staaten oder Empfänger<br />

nur an Erfahrungen messen lassen und konkrete Entwicklungen oder Politiken<br />

mit gewissem Unsicherheitsgrad in die Prognose eingestellt werden<br />

müssen. <strong>Die</strong> weitgehenden Spielräume der Verwaltung zeigen sich auch in<br />

der Ermächtigung für Verfahrenserleichterungen nach Art. 6 Dual-use-VO<br />

und § 1 Abs. 2 AWV. <strong>Die</strong> o.g. formale Kritik ist demnach unberechtigt.<br />

Nach dem Normzweck genügen die vorliegenden Richtlinien und die dadurch<br />

vermittelten Genehmigungskriterien für eine dem Vorsorgeprinzip<br />

entsprechende Standardisierung der Risikoschwelle. Auch die verfassungsrechtlichen<br />

Anforderungen an die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />

sind damit erfüllt. Eine Verbesserung der Normbestimmtheit durch möglichst<br />

klare Entscheidungsgrundlagen im Sinne möglichst effektiver kooperativer<br />

Ansätze der Exportkontrollen ist gleichwohl wünschenswert 928 .<br />

c) Sicherstellung der beabsichtigten Endverwendung im Verfahren<br />

aa) Aufklärung zur Minimierung von Erkenntnisdefiziten und<br />

Transparenzgebot<br />

Bei der Aufklärung der möglicherweise bestehenden, von den Antragsangaben<br />

abweichenden, Verwendungsabsichten des Empfängers der Ausfuhrgüter<br />

wird regelmäßig nicht nur auf die behördeninternen Erkenntnisse aus zurückliegenden<br />

Antragsverfahren zurückgegriffen. Es wird auch mit Drittbehörden<br />

kooperiert. Hierbei sind, soweit es um den Verdacht strafbarer illegaler<br />

Lieferungen geht, der Zoll und das Zollkriminalamt von Bedeutung. In<br />

dem Kontext werden an Vorfeldermittlungen bei der Planung von Straftaten<br />

im Außenwirtschaftverkehr, wie telefonische Überwachungsmaßnahmen,<br />

927 Zur Kritik an den AWG-Kriterien, insbesondere § 7 Abs.1 Nr. 3, und der Normkonkretisierung<br />

durch die politischen Grundsätze: Hohmann, (FN 89), S. 348 f.<br />

928 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 236<br />

265


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

erhebliche Zulässigkeitsanforderungen gestellt, insbesondere an die Bestimmtheit<br />

der Norm und ihren konkreten Bezug zu Straftaten929 .<br />

In aller Regel besteht bei Genehmigungsverfahren aber kein Straftatverdacht.<br />

Soweit im Einzelfall erforderlich, werden Erkenntnisse aus der Aufklärung<br />

durch den Bundesnachrichtendienst (BND) herangezogen. Der<br />

BND erhebt sachverhaltsrelevante Informationen im Ausland und kann z.B.<br />

Auskünfte über die aktuelle sicherheitspolitische Lage in den von der Ausfuhr<br />

betroffenen Regionen oder Ländern machen, vor allem aber auch seine<br />

Erkenntnisse zum Empfänger selbst beitragen. <strong>Die</strong> spezifische Erfahrung bei<br />

der Bewertung von Auslandstatsachen und entsprechende Empfängerbeurteilungen<br />

sind für die Plausibilität der schon vorliegenden Behördenerkenntnisse<br />

von großem Gewicht. Zu dem der Auslandsaufklärung zu Grunde<br />

liegenden BND-Gesetz und der Abgrenzung der informationellen Tätigkeit<br />

der Nachrichtendienste, die regelmäßig weit im Vorfeld von Gefahren stattfindet,<br />

auch zur Abgrenzung der polizeilichen Gefahrenabwehr, wurde bereits<br />

Stellung genommen. Bei der Exportkontrolle geht es ganz wesentlich<br />

um Informationsbeschaffung für die Endverwendungsprognose. Nachrichtendienstliche<br />

Erkenntnisse werden mit Bezug auf außen und sicherheitspolitische<br />

Bedrohungen verwertet. <strong>Die</strong> Aufgaben des BND und der Exportkontrolle<br />

ergänzen sich. Das Trennungsgebot ist daher nicht unmittelbar von<br />

Relevanz. Es geht nicht um geheime Ermittlungen des BAFA, sondern um<br />

Behördenkooperation anlässlich von Genehmigungsverfahren. Nur im Einzelfall<br />

wird auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurückgegriffen. <strong>Die</strong><br />

Informationserhebung erfolgt anlassbezogen. Ein Eingriff gegenüber jedermann<br />

erfolgt gerade nicht, ebenso wenig eine generalpräventive Beobachtung<br />

aller denkbaren Wirtschaftsteilnehmer im Ausland. Für beide Bereiche,<br />

BND und Exportkontrollfragen, ist der Bund zuständig, so dass sich auch<br />

aus föderalen Gesichtspunkten keine Kompetenzprobleme ergeben.<br />

Demnach erscheint ein Blick auf das für das Trennungsgebot im Sinne des<br />

Polizeirechts maßgebliche Transparenzgebot und daraus resultierende Bedenken<br />

für geheime präventive Ermittlungstätigkeit geboten. Grundsätzlich<br />

gilt das Transparenzgebot auch für Ordnungsbehörden, wie die Exportkontrollbehörden.<br />

<strong>Die</strong> hierbei wesentlichen Erwägungen zur Begründung von<br />

Grundrechtseingriffen sprechen grundsätzlich für eine Notwendigkeit der<br />

Offenlegung von eingriffsrelevanten Informationen sowie getroffenen Ab-<br />

929 Der bloße Verweis auf auswärtige Belange sei unbestimmt, BVerfGE 110, 33, 67 sowie<br />

in der Folge eine Neuregelung zum Zollfahndungsdienstgesetz, Fassung vom<br />

16.8.2002, zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes<br />

und anderer Gesetze vom 12.6.2007, BGBl. 2007, 1037<br />

266


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

wägungen. Wie bei den Regelungen nach dem BVerfSchG und BNDG deutlich<br />

wird, darf nur in Einzelfällen davon abgewichen werden930 . <strong>Die</strong> geheime<br />

Aufklärung soll nur ausnahmsweise erfolgen.<br />

<strong>Die</strong> aufklärungsorientierte Zusammenarbeit mit Exportkontrollbehörden<br />

bewegt sich deshalb im Spannungsfeld von Transparenzgebot bei ablehnenden<br />

Genehmigungsentscheidungen und damit erfolgenden Grundrechtseingriffen<br />

sowie der Vertraulichkeit der behördeninternen Informationserhebung<br />

durch den BND. Es kommt zum Konflikt der Eingriffsqualität und<br />

richterlichen Kontrolldefiziten infolge weit reichender Verwaltungsautonomie,<br />

also zwischen dem Geheimhaltungsinteressen der <strong>Die</strong>nste und Transparenz<br />

der Entscheidungsgründe931 . Dem Transparenzgebot wird dann nicht<br />

genügt, wenn es auf der Grundlage geheimdienstlicher Informationen zu<br />

Ablehnungen kommt und die geheimen Entscheidungsgründe nicht benannt<br />

werden. Bestehende Unsicherheiten, ob und inwieweit in den Fällen zumindest<br />

im Prozess Akteneinsicht gewährt werden muss, sind aber nicht für die<br />

Frage exportkontrollspezifischer Präventionsansätze relevant. Sie sind nicht<br />

Gegenstand dieser Untersuchung.<br />

Das Tätigwerden des BND und die Vorfeldaufklärung der beteiligten Behörden<br />

führen nicht immer zum Erfolg. <strong>Die</strong> Qualität verbleibender Erkenntnisdefizite<br />

zum Empfänger und dessen tatsächlichen Absichten müssen deshalb<br />

ebenso in die Prognose eingestellt werden wie die prognoseimmanente<br />

Möglichkeit späterer Änderungen des vermuteten Kausalverlaufs, z.B. bei<br />

den Absichten des Endverwenders. Hierzu gehören z.B. Widerverkäufe an<br />

Kunden im Empfängerland oder gar in Drittländer. <strong>Die</strong> Kontrollsysteme im<br />

Empfängerstaat, insbesondere die dortigen Sicherheitsvorkehrungen, sind<br />

von erheblicher Bedeutung. Es muss regelmäßig davon ausgegangen werden,<br />

dass in Einzelfällen gerade wegen fehlender gesicherter ziviler Endverwendung<br />

ein Eingriff in die Ausfuhrfreiheit erfolgen soll. In der Gesamtbetrachtung<br />

erscheint bei Exportkontrollen auch mit Blick auf die nachrichtendienstliche<br />

Dimension der Informationsvorsorge ein Vorsorgecharakter<br />

gegeben.<br />

bb) Rationalisierung des Verfahrens und kooperative Ansätze<br />

<strong>Die</strong> Endverwendungsprognose ist durch wertende Elemente geprägt. <strong>Die</strong> organisatorische<br />

Mitverantwortung der ausführenden Unternehmen wird dabei<br />

930 Vgl. Teil 3 V.1.c)bb)<br />

931 Mit Kritik an der Intransparenz der Ablehnungsmotive sowie Normkonkretisierung,<br />

aber auch an der adäquaten Aufgabenverteilung der Gewalten: Hohmann (FN 89), S.<br />

338, 348 f.<br />

267


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

berücksichtigt. Das wird durch die erst Anfang der neunziger Jahre eingeführte<br />

Überprüfung der Zuverlässigkeit des Antragstellers gewährleistet.<br />

Auch andere, aus dem technischen Sicherheitsrecht bekannte Verfahrensansätze<br />

finden sich heute bei Exportkontrollen wieder. Dazu gehört die Kooperation<br />

bzw. Kommunikation zwischen Behörde und Unternehmen mittels<br />

Aufklärungsmaßnahmen, Schulungen und Kontrollen in den Unternehmen932<br />

. Das geht bis zur Überwachung des gesamten Exportvorgangs und<br />

nachträgliche Kontrollen. Dafür werden die klassischen Verwaltungsinstrumente,<br />

z.B. Nebenbestimmungen, genutzt. Sie können im Zeitpunkt der<br />

Ausfuhr bestehende Unsicherheitsfaktoren kompensieren, indem z.B. Widerrufsvorbehalte<br />

oder Auflagen zu Wareneingangsbescheinigungen, Meldepflichten,<br />

die Vorlage von Besuchsprotokollen und technischen Protokollen<br />

zur Inbetriebnahme in die Entscheidung einbezogen werden933 .<br />

Daneben steht die Kooperation zwischen Liefer- und Empfängerstaat, soweit<br />

dieser i.Z.m. Verpflichtungserklärungen wie End-User-Certificates oder<br />

Verifikationsmaßnahmen bereit ist 934 . Dokumentationspflichten werden mit<br />

Einverständnis des Empfängerstaates, z.B. auch ex-post-Kontrollen vor Ort,<br />

oft mit dem Begriff der „onside-inspections“ beschrieben, ergänzt935 . Sie<br />

können die Verwendung der Ausfuhrgüter zwar nicht mehr unmittelbar beeinflussen,<br />

aber politischen Druck erzeugen und künftige Lieferungen<br />

präkludieren. <strong>Die</strong>se mittelbar präventiv wirkenden Aufklärungs- und Transparenzwirkungen<br />

können auch durch die internationale Zusammenarbeit<br />

zwischen Behörden oder mit Nichtregierungsorganisationen erzielt werden.<br />

An der Stelle wird die Bedeutung von Offenlegungspflichten und Transparenzanforderungen<br />

für die Exportkontrollen deutlich. Erst die entsprechende<br />

Anpassung der organisatorischen Strukturen der Verwaltung rechtfertigt im<br />

Rahmen der Gewaltenteilung die Verwaltungsautonomie936 . Auf die Verfassungsrelevanz<br />

der Verwaltungstransparenz wurde bereits eingegangen. <strong>Die</strong><br />

Zusammenführung der risikoorientierten Folgenabschätzung unter Abwägung<br />

aller Interessen, die umfassende Informationsbeschaffung und Kommunikationen<br />

sowie flankierende Maßnahmen zur Risikominimierung werden<br />

auch als Risikomanagement bezeichnet.<br />

932 Zur Reduktion von Risiken durch Kommunikation: Karpenstein (FN 41), S. 247<br />

933 Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 418<br />

934 Zur Reduktion von Risiken durch Kooperation: Karpenstein (FN 41), S. 248<br />

935 Zum Ansatz von pos-shipment-Kontrollen Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 82<br />

936 Vgl. dazu schon Teil 3 III.2.b)cc) sowie zur Rechtfertigung Schmidt-Aßmann und Pitschas,<br />

in: Schmidt-Aßmann /Hoffmann-Riem (FN 362), S. 55 und 295 ff.<br />

268


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

d) Vergleich der Exportkontrollen zum technischen Sicherheitsrecht<br />

Der Bezugspunkt der möglichen Schadensverursachung ist bei Exportkontrollen<br />

sowohl mit dem Umwelt- und Gesundheitsrecht als auch dem Polizeirecht<br />

vergleichbar.<br />

Unter Einbeziehung der Erwägungen zum Kollektivgutschutz und Normzweck<br />

der Exportkontrollen, ebenso wie der Komponente Ungewissheit und<br />

den genannten Standardisierungs- und Rationalisierungsansätzen im Verfahren,<br />

besteht eine deutlich stärkere Nähe des Exportkontrollrechts zum technischen<br />

Sicherheitsrecht im Umwelt-, Verbraucher- bzw. Gesundheitsrecht,<br />

als zum Polizeirecht. <strong>Die</strong> Vergleichbarkeit des geschützten Adressatenkreises<br />

wurde bereits bei der Untersuchung des Normzwecks erwähnt. Es<br />

kommt zu einem ebenfalls vergleichbaren Konflikt zwischen technischem<br />

Fortschritt und dessen Risiken. Das wird vor allem bei gelisteten Gütern<br />

deutlich, noch deutlicher im Bereich der Atomtechnologie. Zivile und militärische<br />

Zwecke machen hier zunächst keinen Unterschied. Das Umweltund<br />

Gesundheitsrecht knüpfen beim Vorsorgegedanken an einen Ersatz von<br />

Erkenntnisdefiziten durch technisch-wissenschaftliche Parameter an. <strong>Die</strong> so<br />

entwickelten Standards gelten neben dem hohen Schadenspotenzial als<br />

maßgeblicher Rechtfertigungsgrund für die Zulässigkeit der Vorverlagerung<br />

staatlicher Eingriffe auf Risikosituationen. Zumindest im Dual-use-Güter-<br />

Bereich haben die technische Eignung und die konkrete technischen (zivile)<br />

Verwendung eine ebenso maßgebliche Bedeutung wie im technischen Sicherheitsrecht,<br />

wenngleich die geplante Verwendung von Produkten oder<br />

Anlagen selbst dort nicht unsicher ist.<br />

Bei Exportkontrollen sorgt aber nicht nur die technische Entwicklung, sondern<br />

auch der Forschritt gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Freiheiten<br />

für erhöhte Risiken. <strong>Die</strong> Gewährleistung freien Welthandels und die damit<br />

zunehmende Verflechtung sind Ausdruck z.B. der völkerrechtlichen WTO-<br />

Verpflichtungen der Bundesrepublik sowie die grundrechtlich abgesicherten<br />

Außenwirtschaftsfreiheit. <strong>Die</strong> in Art. XXI GATT vorgesehene Ausnahme nationaler<br />

Sicherheitsinteressen stellt lediglich sicher, dass diese mit dem Interesse<br />

am freien Welthandel abzuwägen sind. Der Welthandel ist letztlich<br />

fortwährenden Änderungen unterworfen, ebenso wie der technologische<br />

Fortschritt. Er unterliegt deshalb einem Abwägungs- und Optimierungsgebot,<br />

wie es vor allem mit dem Vorsorgeprinzip umgesetzt wird. Exportkontrollen<br />

haben insoweit planungsähnlichen Charakter und sind z.B. mit umweltrechtlichen<br />

Genehmigungsverfahren vergleichbar.<br />

An die Nutzung der Freiheiten anknüpfend wird das menschliche Verhalten<br />

relevant. Das Fehlen einer Option zur Standardisierung menschlichen Ver-<br />

269


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

haltens spricht zunächst gegen die Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf<br />

Exportkontrollen. Beim technischen Ansatz der Ausfuhrlisten lassen sich<br />

zwar teilweise Parallelen zu technischen Regelwerken im Umweltrecht ziehen.<br />

Mit den Listen wird aber noch keine Risikobewertung im Einzelfall getroffen.<br />

Wie im Polizeirecht geht es bei der Bewertung der Ausfuhr vor allem<br />

um (potenzielle) Bedrohungen durch menschliches Verhalten. Vor allem<br />

bei ungelisteten Gütern ist allein dieses Kriterium entscheidungserheblich.<br />

Andererseits zeigt sich beim Blick auf den Normzweck, dass genau die mit<br />

der Verhaltensdimension verbundenen Unsicherheiten in den politischen<br />

Leitgedanken und Entscheidungsrichtlinien aufgegriffen werden. Je größer<br />

die Unsicherheitsfaktoren und Missbrauchswahrscheinlichkeiten aus der politischen<br />

Einschätzung des Empfängerumfeldes heraus erscheinen, um so<br />

mehr spricht für Konfliktvermeidung und verfassungsmäßige Rechtfertigung<br />

abgesenkter Eingriffsschwellen. Anders als beim polizeilichen Vollzug<br />

und der Abwehr von Gefahrenverhalten vor Ort, geht es um langfristige<br />

Entwicklungen und Tendenzen bestimmter Verhaltensmuster, die politisch<br />

missbilligt werden. <strong>Die</strong>se sind auch typisier- bzw. kategorisierbar, sowohl<br />

durch Erfahrungen der Vergangenheit als auch aktuelle Erkenntnisse, z.B.<br />

zur Lage im von der Lieferung betroffenen Land. <strong>Die</strong> Ansätze der Exportkonterollen<br />

zu entscheidungsleitenden Vorgaben und Verwaltungsrichtlinien<br />

bestätigen dies937 . Darauf wird im Rahmen der verfassungsrechtlichen Betrachtung<br />

noch zurückzukommen sein. Insgesamt zeigt sich, dass den Exportkontrollen<br />

Erkenntnisdefizite zu künftigen Entwicklungen immanent<br />

sind und diese durch entsprechende Kontrollinstrumentarien kompenisert<br />

werden, das spricht für ihre Risikoorientierung.<br />

Bei den Instrumenten der Exportkontrolle fällt auf, dass es bei den Genehmigungsverfahren<br />

zu einer Einbindung der privaten Akteure kommt. Dem<br />

Ausführer wird erhebliche Mitverantwortung zugewiesen. Sein Handeln<br />

wird so maßgeblich beeinflusst. Im Umgang mit den zunächst unbestimmten,<br />

„dynamischen“ Eingriffsmaßstäben sind daher die bereits zum Umweltrecht<br />

geschilderten verfahrensorientierten Kompensationsmechanismen<br />

vorgesehen. Dazu gehören u.a. die kommunikativen bzw. kooperativen Ansätze.<br />

Instrumente wie die Zuverlässigkeit, die Benennung eines Ausfuhrverantwortlichen<br />

oder sonstige auf den Genehmigungsadressaten verlagerten<br />

organisatorischen Anforderungen, z.B. interne Controllingmaßnahmen,<br />

helfen letztlich, Risiken zu erkennen und auch zu vermeiden938 . <strong>Die</strong>se Verfahrensansätze<br />

bestätigen die Nähe der Exportkontrollen zum technischen<br />

937 Vgl. dazu Teil 1 II.5.f)<br />

938 Vgl. Ansätze der Exportkontrolle: BAFA, Praxis der Exportkontrolle, 2006<br />

270


V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />

Sicherheitsrecht. Sie helfen die Vorverlagerung der Prävention auf die Risikovorsorge<br />

kompensieren. Im Ergebnis gibt es hinreichend systematische<br />

Gründe für den risikopräventiven Charakter von Exportkontrollen.<br />

Im Umgang mit Ungewissheiten und bei der Vielfalt möglicher Folgewirkungen<br />

der Ausfuhrentscheidung lässt sich letztlich die These der Notwendigkeit<br />

einer konkreten Gefährdung im Sinne des klassischen Gefahrenbegriffs<br />

mit Bezug auf die in § 7 AWG oder Art. 8 Dual-use-VO benannten<br />

Rechtsgüter nicht mehr halten. Das gilt auch und gerade im Kontext der<br />

rechtlichen Fortentwicklung der Kontrollansätze und die zurückliegenden<br />

poltischen Entwicklungen. Allein der in § 3 AWG verwendete Gefährdungsbegriff<br />

suggeriert die Anwendbarkeit der klassischen Gefahrendefinition und<br />

eine damit verbundene Wahrscheinlichkeitsprognose bei Eingriffen in die<br />

Außenwirtschaftsfreiheit. <strong>Die</strong>se scheint unter Zugrundlegung der Beschränkungszwecke<br />

und der vorgenannten Erwägungen praktisch nur selten erfüllbar.<br />

Aus rechtspolitischer Sicht sollte § 3 AWG daher angepasst werden und<br />

für die Erteilung der Genehmigung darauf abstellen, dass kein oder ein nur<br />

unwesentlicher Schaden für die in § 7 AWG angeführten Belange droht. An<br />

der Normstruktur, insbesondere am Beurteilungsspielraum der Behörde zu<br />

Bewertung des Genehmigungsanspruchs, ändert sich damit nichts.<br />

3. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf die Europäische<br />

Regelungsebene<br />

<strong>Die</strong> für das Vorsorgeprinzip spezifischen Anwendungsprinzipien wurden<br />

schwerpunktmäßig für das nationale Recht erörtert. Das Prinzip selbst ist,<br />

wie zum Umweltrecht festgestellt, auch auf EU-Ebene anerkannt. Über das<br />

Umweltrecht hinaus hat der EuGH allerdings keine dem Bundesverfassungsrecht<br />

vergleichbaren Entscheidungen getroffen, die auf bestimmte<br />

Wirkungen des Gemeinschaftsrechts in diesem Bereich schließen lassen.<br />

Mit Blick auf das Fehlen spezifischer Vorgaben im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

ist das Prinzip des Anwendungsvorrangs nicht von unmittelbarer<br />

Bedeutung. Allerdings müssen mittelbar die übergeordneten Prinzipien berücksichtigt<br />

werden, wie sie der EuGH z.B. bei aus den Grundfreiheiten, bei<br />

aus Grundrechten resultierenden Schutzpflichten oder zum Behördenermessen<br />

herausgearbeitet hat 939 . <strong>Die</strong> für das nationale Sicherheitsrecht angesprochenen<br />

Systemfragen können auf die Anwendung der EU-Genehmigungstatbestände<br />

übertragen werden, auch wegen der Kompetenzen der Mitglied-<br />

939 Zum gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit vgl. Teil 3 II.1.<br />

und zur Ermessensfehlerlehre Teil 2.II.6.b)<br />

271


Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />

staaten im Bereich öffentliche Sicherheit und Ordnung. Wie erwähnt, bieten<br />

Formulierungen wie „Erwägungen“ und „Überlegungen“ in den Tatbeständen<br />

der Dual-use-VO hinreichend Spielraum für den Risikoansatz der Exportkontrollen.<br />

VI. Schlussfolgerungen aus Teil 3<br />

In der Gesamtschau sprechen Schutzzweck und System der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Genehmigungen für die Anwendung des Risikobegriffs. Bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Entscheidungen geht es ganz zentral um den Kollektivbelang<br />

Sicherheit. <strong>Die</strong> staatliche Eingriffsermächtigung bezieht sich auf<br />

einen Zeitpunkt vor dem Eintreten einer Gefahr für konkrete Individualrechtsgüter.<br />

<strong>Die</strong> Eingriffsvoraussetzung einer konkreten oder abstrakten Gefahr<br />

wäre lediglich über die Ausdehnung des Gefahrenbegriffs hin zu einem<br />

subjektiven Gefahrenverdacht haltbar. <strong>Die</strong>se Rechtsfigur wird aber mit guten<br />

Gründen abgelehnt 940 . Eine im Sinne der Risikovorsorge erweiterte Interpretation<br />

der Beschränkungen bei Dual-use-Gütern nach § 7 AWG sowie<br />

Art. 8 Dual-use-VO erscheint vor allem wegen der Dimension regelmäßig<br />

bestehender Ungewissheiten geboten. Bei der Prognose einer Gefährdung<br />

der Sicherheit bzw. sonstiger geschützter Kollektivgüter im Zeitpunkt der<br />

Ausfuhr betroffener Güter müssen Erkenntnisdefizite regelmäßig in Kauf<br />

genommen werden. Normzweck und Systematik sprechen dafür, dass die<br />

Schadenprävention in diesem Fall nicht nur möglich erscheint, sondern geboten<br />

ist. <strong>Die</strong> Risikodimension der Eingriffsermächtigung wird bei Exportkontrollen<br />

durch Ansätze zur Risikotypisierung und kooperativ ausgestaltete<br />

Verfahrensansätze bestätigt, die anderen Bereichen des Risikoverwaltungsrechts<br />

ähneln. Es kann letztlich festgehalten werden, dass den heutigen Exportkontrollen<br />

ein vom traditionellen Sicherheits- und Polizeirechtsverständnis<br />

abweichendes Vorsorgeelement innewohnt und deshalb auf die im<br />

Umwelt-, Atom und Verbraucherrecht entwickelten Instrumentarien zurückgegriffen<br />

werden kann. In der Konsequenz müssen die bereits geschilderten<br />

grundsätzlichen Anforderungen an den Vorsorgeanlass und seine Bewertung<br />

i.V.m. den Genehmigungspflichten und -entscheidungen für Ausfuhrbeschränkungen<br />

spezifiziert werden. Dazu gehören Fragen der Sachverhaltsfeststellung,<br />

Beweislast und Interessenabwägung. Im Rahmen der Rechtsfolge<br />

des Vorsorgeansatzes bedarf es eines Ausgleichs der betroffenen<br />

Schutzgüter und der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hierbei muss insbesondere<br />

die Reichweite der Schutzdimension von Individualrechtspositionen Dritter<br />

untersucht werden.<br />

940 Vgl. Teil 3 III.1.a)<br />

272


I. Standortbestimmung<br />

Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge<br />

bei Exportkontrollen<br />

I. Standortbestimmung<br />

Nach den bisher herausgearbeiteten Grundsätzen zur Reichweite der Verwaltungsautonomie<br />

im Zusammenhang mit Prognoseentscheidungen unterliegt<br />

die Verwaltung der begrenzten richterlichen Kontrolle. <strong>Die</strong> richtet sich nach<br />

den bereits festgestellten Kriterien, die sich vor allem auf die Einhaltung<br />

verfassungsrechtlicher Prinzipien und Grundrechte beziehen. <strong>Die</strong> Dynamik<br />

des Sicherheitsbegriffs erzeugt eine Dynamik staatlicher Schutzpflichten,<br />

die im Verfassungskontext die Frage nach dem Interessenausgleich betroffener<br />

Grundrechtspositionen und Gemeinwohlbelange aufwerfen. Es wurde<br />

festgestellt, dass bei Vorsorgetatbeständen im Rahmen des Vorsorgeanlasses<br />

eine hinreichende Sachverhaltsermittlung hinsichtlich der entscheidungsrelevanten<br />

Tatsachen zu erfolgen hat. Hierbei müssen Anhaltspunkte für eine<br />

mögliche Besorgnis der Schädigung bestimmter Rechtsgüter vorliegen. Im<br />

Zusammenhang mit der Rechtsfolge erfolgt dann eine Bewertung dieser Besorgnis,<br />

unter Abwägung aller beteiligten Interessen. Das letzte Kapitel der<br />

Arbeit widmet sich dieser Abwägung, so dass für die Rechtmäßigkeitskontrolle<br />

der Gerichte alle maßgeblichen Prüfungskriterien vollständig erörtert<br />

und in Form eines vorsorgeorientierten Prüfungsschemas zur Rechtmäßigkeit<br />

von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen zusammengefasst werden<br />

können.<br />

II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

Für die Prüfung der verfassungsrechtlichen Legitimation von Freiheitsbeschränkungen<br />

stellen sich nicht nur Fragen hinsichtlich der Beachtung von<br />

Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz 941 . <strong>Die</strong> systemprägende<br />

Kompensation der Verwaltungsautonomie erfolgt durch die Einhaltung der<br />

Grenzen der Verwaltungsautonomie, die im verwaltungsgerichtlichen<br />

Rechtsschutz geprüft werden. Berücksichtigt wird hierbei der grundrechtlich<br />

vermittelte Schutz der Interessen aller Betroffenen. Das erfordert zunächst<br />

eine Bestimmung der relevanten Schutzgüter bzw. der potenziellen Risiko-<br />

941 Kadelbach, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 233<br />

273


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

opfer sowie eine Schrankenprüfung und Abwägung. <strong>Die</strong>se erfolgt nach dem<br />

klassischen Ansatz über die im jeweiligen Grundrecht einschlägige Schranke<br />

in Form des Gemeinwohlinteresses. Alternativ wird im Rahmen des Vorsorgegedankens<br />

zwischenzeitlich die multipolare Prüfung unter Einbeziehung<br />

staatlich geschützter Individualrechtsgüter vorgenommen942 .<br />

<strong>Die</strong> Notwendigkeit einer verfassungsgemäßen Inhaltsbestimmung bei der<br />

Reichweite von Art. 14 GG wird auch in der Exportkontrollliteratur deutlich<br />

angemahnt. Statt einer einseitigen Risikoaufbürdung zu Lasten der Wirtschaft,<br />

müsse eine Risikosphärenabgrenzung erfolgen. Auch Vertrauensschutzgedanken,<br />

besonders bei langfristigen Projekten und Kundenbeziehungen<br />

der Betroffenen, müssten einbezogen werden943 . Ob der klassische<br />

Interessenausgleich durch die grundrechtliche Schranken- und Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

diesem Anliegen Rechnung trägt oder die multipolare<br />

Prüfung auch für Exportkontrollen herangezogen werden kann, soll im Folgenden<br />

herausgearbeitet werden.<br />

1. Bestehen eines Vorsorgeanlasses, Bestimmtheit der Norm<br />

und Beweislast<br />

Nach der Struktur des Vorsorgeprinzips sind risikoorientierte Eingriffe<br />

rechtmäßig, wenn ein Vorsorgeanlass besteht und dieser verhältnismäßig ist.<br />

Ersteres muss mit einer gewissen Besorgnis zur Schädigung bestimmter<br />

Rechtsgüter bejaht werden. Dabei müssen anlässlich der Sachverhaltsermittlung<br />

konkrete Anhaltspunkte festgestellt werden. Mit Blick auf Exportkontrollen<br />

bei Dual-use-Gütern dürfte wegen des zweifelsohne gewichtigen Bezugs<br />

entsprechender Warenlieferungen zur Herstellung von Waffen oder<br />

Waffenkomponenten eine Besorgnis hinsichtlich möglicher Rechtsgutsgefährdungen<br />

unstrittig sein. Der Vorsorgeanlass als solcher ist demnach, soweit<br />

es um die Einführung von Genehmigungspflichten geht, vorhanden.<br />

Für die Rechtmäßigkeitskontrolle kommt es auf die Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />

an, der neben der angemessenen Beweislastverteilung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

des Eingriffs erfordert. <strong>Die</strong>s ist nur möglich, wenn<br />

die Eingriffsermächtigung selbst den Verfassungsanforderungen der Bestimmtheit<br />

genügt, da sonst eine angemessene Rechtmäßigkeitskontrolle<br />

nicht möglich wäre.<br />

942 Vgl. Teil 3 IV.3.b)<br />

943 Mit Kritik am materiellen Rechtsschutz: Hohmann (FN 89), S. 468<br />

274


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

a) Bestimmtheitsgebot und Verfahrenskompensation<br />

Schon mehrfach angesprochene Fragen zur Reichweite der Verwaltungsautonomie<br />

und zur Abgrenzung legislativer, administrativer und judikativer<br />

Kompetenzen sowie deren Auswirkung auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen<br />

Vorgaben gelten auch im Kontext des Vorsorgeprinzips944 . Der<br />

Gesetzgeber muss insbesondere bei grundrechtlich relevanten Eingriffen<br />

selbst den Umfang und Inhalt des Eingriffs hinreichend deutlich regeln. Gesetze<br />

und Verordnungsermächtigungen müssen in Übereinstimmung mit Art.<br />

80 Abs. 1 S. 2 GG dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Das dabei im Sicherheitsrecht<br />

gerade mit Blick auf den Gefahrenbegriff geforderte Mindestmaß<br />

an Bestimmtheit ist für die Rechtmäßigkeit der Genehmigungspflichten<br />

erheblich945 . Für die verfassungsmäßige Prüfung von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />

steht insoweit die Verwendung des unbestimmten<br />

Rechtsbegriffes sicherheits- und außenpolitischer Belange im Mittelpunkt.<br />

<strong>Die</strong> normzweckorientierte Auslegung des Kataloges in § 7 Abs. 2<br />

AWG sowie normkonkretisierende Vorschriften oder Regelwerke ermöglichen<br />

die verfassungskonforme Anwendung der Eingriffsermächtigung946 .<br />

Sie wird zur Grundlage einer angemessenen Bewertung des Sachverhalts<br />

bzw. Vorsorgeanlasses. Der Umfang gerichtlicher Prüfung wird hierdurch<br />

mitbestimmt. Hinzu tritt die Kompensation mit Verfahrenselementen, z.B.<br />

erhöhten Begründungs- und Mitwirkungspflichten, die der gesteigerten Bedeutung<br />

nichtstaatlicher Kontrolle durch die Öffentlichkeit gerecht werden<br />

und die fehlende gerichtliche Prüfungstiefe kompensieren947 . Insgesamt<br />

rechtfertigen diese Anforderungen eine herabgesetzte Eingriffsschwelle bei<br />

der Risikoprävention. Eine hinreichende Sachverhaltsermittlung, Verfahrensrechte<br />

und Entscheidungsbegründung haben bei risikoorientierten Exportkontrollen<br />

eine exponierte Stellung. Ihre Einhaltung muss im Einzelfall<br />

durch die Gerichte überprüft werden.<br />

b) Normstruktur und angemessene Beweislastverteilung<br />

<strong>Die</strong> materielle Eingriffswirkung der Genehmigungspflichten hängt nicht nur<br />

von ihren konkreten Tatbestandsmerkmalen ab, sondern vor allem von der<br />

Frage, zu wessen Lasten bei abgeschlossener Sachverhaltsermittlung<br />

944 Vgl. zur Kompetenzabgrenzung allgemein in Teil 2 II.2.a) und beim Vorsorgetatbestand<br />

in Teil 3 III.3a)<br />

945 Vgl. dazu Teil 3 II.2.a)aa)<br />

946 Zur Bestimmtheit des Begriffs außen- und sicherheitspolitischer Belange vgl. Teil 1<br />

II.5.b)dd) und zur Rolle der exportkontrollpolitischen Grundsätze und Erlasse vgl.<br />

Teil 1 II.5.f)cc)<br />

947 Zur Rolle der Verfahrensfragen und Entscheidungstransparenz Teil 3 V.2.c)<br />

275


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

verbleibende Erkenntnisdefizite gehen. <strong>Die</strong>s muss auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />

des konkreten Eingriffs, insbesondere bei der Zumutbarkeit<br />

bzw. Angemessenheit einer Genehmigungsversagung berücksichtigt werden.<br />

Es wurde schon festgestellt, dass es nach dem Zweck der Exportkontrollen<br />

trotz Ungewissheit oder gerade deswegen zu einer Risikobejahung und damit<br />

auch zu präventiven Eingriffserfordernissen kommen kann. <strong>Die</strong>s ist für<br />

die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast von erheblicher, wenn nicht<br />

entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich gilt auch bei Exportkontrollen die<br />

Untersuchungsmaxime des § 24 VwVfG. Das Gericht kann sich aber neben<br />

den Beweismitteln nach § 26 VwVfG auch auf Auskunftspflichten des Antragstellers<br />

berufen, was § 44 AWG explizit regelt948 . Es wurde angedeutet,<br />

dass das Vorsorgeprinzip im Kontext der Bestimmung des Vorsorgeanlasses<br />

eine Beweislastumkehr impliziert, die nach dem Muster einer widerlegbaren<br />

Gefährlichkeitsvermutung wirken kann949 . <strong>Die</strong> Reichweite dieser Gefährlichkeitsvermutung<br />

muss für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände noch näher<br />

bestimmt werden.<br />

<strong>Die</strong> geschilderten Prinzipien zur Beweislastverteilung und das Beweismaß<br />

stellen im Wesentlichen auf die Verantwortung bzw. betroffene Sphäre der<br />

Verfahrensbeteiligten ab. Aber auch die normative Durchsetzungskraft der<br />

materiellen Rechtspositionen ist von Bedeutung, so dass Beweislast und<br />

Abwägung der betroffenen Rechtspositionen in untrennbarem Zusammenhang<br />

stehen. Eine grundsätzliche Gefährlichkeitsvermutung würde beim Bestehen<br />

eines Vorsorgeanlasses zur Annahme eines entscheidungserheblichen<br />

Risikos zu Ungunsten des Antragstellers führen. <strong>Die</strong> Durchsetzungskraft der<br />

Außenwirtschaftsfreiheit ist bei den Genehmigungspflichten strukturell unterschiedlich<br />

angelegt. Zu den Interessen der Antragsteller beim technischen<br />

Sicherheitsrecht lassen sich durchaus Parallelen ziehen. Sie erlauben im Ergebnis<br />

folgende Rückschlüsse. <strong>Die</strong> <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände knüpfen<br />

ebenfalls an die Zuverlässigkeit eines Antragstellers an. Auf die Wirkungen<br />

der Zuverlässigkeit als zunächst bestehende Ungefährlichkeitsvermutung<br />

wurde bereits eingegangen950 . <strong>Die</strong> relativ hohen Beweislasthürden für<br />

ein nicht bestehendes Risiko, wie sie im Atomrecht wegen der erheblichen<br />

Risiken verlangt werden, dürften auf eine technische Gefährdungsvermutung<br />

bei gelisteten Gütern schließen lassen. Erkenntnisdefizite über die gesicherte<br />

zivile Verwendung würden in diesen Fällen zu Lasten des Antragstellers<br />

gehen.<br />

948 Vgl. Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 AWG Rn 11c<br />

949 So Calliess, DVBl. 2001, S. 1725 (insbes. 1732 f.), s.a. Teil 3 III.2.c)bb)<br />

950 Vgl. Teil 3 V.2.a)gg)<br />

276


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

Der nach der Untersuchungsmaxime erforderliche Anfangsverdacht für eine<br />

gesetzlich missbilligte Sachlage wird bereits mit der Aufnahme des Dualuse-Gutes<br />

in die Kontrolllisten begründet, so dass für die Genehmigungspflicht<br />

weitergehende Darlegungslasten der Behörde für einen Missbrauch<br />

nicht bestehen müssen951 . <strong>Die</strong>s wird auch durch den EuGH bestätigt, der für<br />

den Bereich gelisteter Dual-use-Güter entschieden hat, dass vom Ausführer<br />

der volle Nachweis einer zivilen Endnutzung verlangt werden kann952 . <strong>Die</strong>se<br />

Rechtsprechung des EuGH bezog sich zwar auf nationale deutsche Normen.<br />

Es gibt aber keine Argumente gegen die Anwendung dieses Grundsatzes<br />

auch auf Entscheidungen nach der Dual-use-VO. Dem hatte sich auch das<br />

VG Frankfurt angeschlossen953 . Es bestätigt, dass bei gelisteten Gütern gem.<br />

Art. 3 i.V.m. Anhang I der Dual-use-VO die Beweislast der zivilen Verwendung<br />

eines Dual-use-Gutes beim Ausführer liegt954 . <strong>Die</strong> Beweislast, dass das<br />

jeweilige Gut unter den Anhang I der Dual-use-VO fällt, also gelistet ist,<br />

liegt jedoch bei der Behörde955 . <strong>Die</strong>se Beweisregeln gelten auch für Genehmigungspflichten<br />

aufgrund nationaler Listenpositionen.<br />

Um dem Risikovorsorgekonzept entsprechend Erkenntnisdefizite zu bewältigen,<br />

kommt es bei Prognoseentscheidungen zu herabgesetzten Beweisanforderungen.<br />

Faktisch besteht eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung.<br />

Dagegen spricht auch nicht der Wortlaut des § 3 Abs.1 AWG. Er sieht eine<br />

Genehmigungserteilung vor, wenn keine oder nur eine unwesentliche Gefährdung<br />

der Rechtsgüter des § 7 AWG gegeben ist. Bei Erkenntnisdefiziten<br />

ist diese positive Feststellung für den Antragsteller nur schwerlich möglich956<br />

. <strong>Die</strong> Beweislast geht also zu seinen Lasten, wenn er die zivile Verwendung<br />

des gelisteten Gutes nicht darlegen kann. <strong>Die</strong>s lässt sich rechtfertigen,<br />

weil er durch seine produktspezifische Expertise und Kundennähe dazu<br />

am besten in der Lage ist. <strong>Die</strong> Beweislastverteilung entspricht dem Gedanken<br />

zur adäquaten Risikoverteilung bzw. Sphärentheorie. <strong>Die</strong> Mitwirkungspflichten<br />

nach § 44 AWG erscheinen im Zusammenwirken mit den<br />

Genehmigungstatbeständen bei gelisteten Gütern angemessen. Im Einzelfall<br />

ist damit ein Vorsorgeanlass gegeben.<br />

951 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 246<br />

952 EuGH, Urteile vom 17.10.1995, Rs.C 84/94 (Leifer), Slg. 1995 I S. 3189, Rn 46 und<br />

Rs 70/94 - Werner, Slg 1995, I 3231, Rn 12 (FN 27)<br />

953 VG Frankfurt, Urteil vom 23.5.96 - Az E 3661/93 (3)<br />

954 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128),S. 91<br />

955 V. Bogdandy (FN 4), S. 77; Verwaltungsgericht Frankfurt, Urteil vom 25.01.1996 -<br />

Az.1E 121/93 (3), nicht veröff.<br />

956 So Sauer, in: Hohmann/John (FN 26) § 3 Teil 3 Rn 11 R unter Verweis auf Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich<br />

(FN 21), § 3 AWG Rn 17<br />

277


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

Dagegen benötigt die Behörde bei ungelisteten Gütern Anhaltspunkte für einen<br />

missbräuchlichen Verwendungszusammenhang957 . Das OLG Köln<br />

schlussfolgert diese Beweislastverteilung aus dem Tatbestand des § 5c<br />

AWV, der auf ein „bestimmt sein (können)“ zu rüstungstechnischen Verwendungen<br />

abstellt958 . Danach muss die Behörde den Beweis für die Verwendungsabsicht<br />

des Empfängers antreten. Mit Einführung des Wortes<br />

„können“ in den Tatbestand hat sich die Nachweispflicht allerdings etwas<br />

relativiert, so dass Anhaltspunkte für die konkrete Verwendung genügen<br />

müssen. Bei den Verwendungstatbeständen der Dual-use-VO ist die Normstruktur<br />

identisch. Danach genügen bei den Verwendungstatbeständen Anhaltspunkte<br />

dafür, dass die Güter im Massenvernichtungsbereich bzw. Trägerbereich<br />

oder im konventionellen Rüstungsgüterbereich bestimmt sein<br />

können. In beiden Fällen ist dann auch der Vorsorgeanlass im Einzelfall zu<br />

bejahen. Es genügt für die Behörde, die Möglichkeit eines Missbrauchs<br />

plausibel darzulegen. <strong>Die</strong>se geringen Anforderungen seien wegen des besonderen<br />

Proliferationsrisikos gerechtfertigt, das mit Art. 4 Abs.1 Dual-use-<br />

VO unterbunden werden soll959 . Ähnliche Schlüsse lassen sich auch aus den<br />

Art. 4 Abs. 2 Dual-use-VO, § 5c AWV sowie § 5d AWV ziehen, die für besonders<br />

sensitive Empfängerländer gelten. Das genügt für die Feststellung<br />

der Genehmigungspflicht. Es kommt nicht darauf an, ob die Güter tatsächlich<br />

für diese Zwecke verwendet werden960 . <strong>Die</strong> Gefahr darf nicht nur hypothetisch<br />

sein. Ausreichende Indizien können z.B. i.V.m. dem empfängerspezifischen<br />

Produktionsspektrum oder sonstigen Indizien für einen militärischen<br />

Bezug der Lieferung oder Zusammenhänge zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen<br />

dargelegt werden. Der Antragsteller müsste Anhaltspunkte<br />

dafür entkräften.<br />

Voll nachweispflichtig bliebe die Behörde dafür, dass die auszuführenden<br />

Güter geeignet sind, die genannten Zwecke zu gefährden. Bei den spezifischen<br />

Anforderungen der einzelnen Tatbestände an die Qualität objektiver<br />

Indizien könnte nach dem Normzweck eine weitergehende Differenzierung<br />

geboten sein. So ist das staatliche Interesse einer Risikobewältigung bei der<br />

Lieferung von Dual-use-Gütern in Bezug auf Massenvernichtungswaffen<br />

deutlich stärker als z.B. bei Bezügen zu einer Pistolenproduktion, die im internationalen<br />

Kontext zumindest nicht generell missbilligt wird. Dabei muss<br />

957 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 79<br />

958 OLG Köln, Urt. v. 20.01.2000 – Rs 7U84/99, NVWz 2000, 594, 595<br />

959 Karpenstein, in: Hohman/John, Rn 22 zu Art. 9<br />

960 Vgl. Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 86 und 90 unter Verweis<br />

auf VG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.12.96, Az.: I E 3838/93<br />

278


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

eine Gewichtung im Einzelfall stattfinden961 . Starre Beweislastregeln sind<br />

ebenso wenig opportun wie eine generelle dogmatische Regel, dass Zweifel<br />

am Bestehen einer Gefährdung im Sinne des § 3 AWG zu Lasten der Behörde<br />

gingen. Das entspricht auch dem Verständnis angemessener Risikoverteilung,<br />

dessen Wertung dem Verhältnismäßigkeitskriterium entliehen ist962 .<br />

Der Beurteilungsspielraum risikoorientierter Exportkontrollen erfordert eine<br />

entsprechende Interpretation des Gefährdungsmerkmals, so dass die Beweislastfrage<br />

im Einzelfall gewichtet und bewertet werden muss963 . Mit Blick<br />

auf die in der Ausfuhrkontrolle sehr hochrangigen schützenswerten Rechtsgüter<br />

kann auch nicht das Prinzip „im Zweifel für die Außenwirtschaftsfreiheit“<br />

gelten964 . Solche pauschalen Prinzipien wären mit dem Erfordernis der<br />

Einzelabwägung sowie der Ausdifferenzierung von je nach Liefergegenstand<br />

und/oder Missbrauchspotenzial unterschiedlichen Gefährdungslagen in<br />

der Tat nicht vereinbar. Es bedarf daher des Rückgriffs auf ein politisches<br />

Bewertungssystem zur Ausfüllung des Gesetzesbegriffs wie es mit den<br />

schon mehrfach erwähnten Anwendungsrichtlinien gegeben ist. Für die (zivile)<br />

Verwendungsprognose reicht es aus, wenn der Antragsteller für eine<br />

plausible und schlüssige Darlegung sorgt.<br />

Im Ergebnis ist es für die Legitimation des Eingriffs erforderlich, Umstände<br />

darzulegen, wonach exportkontrollrechtlich geschützte Belange berührt<br />

sind. Das gilt ganz unabhängig von dem Erfordernis einer Gefahr oder eines<br />

Risikos. <strong>Die</strong> Behörde muss ihre eventuell anderweitige Auffassung plausibel<br />

mit Nachweisen unterlegen und muss auf nach den politischen Grundsätzen<br />

missbilligte Verwendungen Bezug nehmen. <strong>Die</strong>s kann aber auch typisierend<br />

geschehen, wie es über erstellte Länderprofile und Firmenlisten der Fall ist.<br />

Sie standardisieren die bestehende Erkenntnislage. Dagegen können Widersprüche<br />

bei den Antragsangaben, fehlende Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit<br />

der Behauptungen auf ein Missbrauchsrisiko hindeuten. In dem Fall<br />

würden Erkenntnisdefizite entstehen, deren Wirkungen der zu Lasten des<br />

Antragstellers gehen.<br />

Bei ungelisteten Gütern sind die Anforderungen an die Begründung einer<br />

Missbrauchsgefahr höher, denn grundsätzlich ist ihr Risikobezug deutlich<br />

geringer als bei gelisteten Gütern. Im Rahmen der Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />

müssen bei sämtlichen Genehmigungspflichten die Kriterien betreffend<br />

der Technologie des Liefergutes, der vertraglichen Gestaltung, des Aus-<br />

961 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 77<br />

962 Vgl. Teil 3 IV.2.c)cc)<br />

963 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 246<br />

964 Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (Fn 7), Bd 2, § 1 AWG Rn 17<br />

279


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

führers sowie des Empfängers berücksichtigt werden 965 . So wäre z.B. relevant,<br />

ob der Empfänger in einem militärischen Zusammenhang steht (Konzernverbund)<br />

oder gar selbst militärische Produktionsbereiche hat. Eine wesentliche<br />

Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Länderbezug einer Lieferung,<br />

da z.B. im konventionellen Rüstungsbereich hinnehmbare Restrisiken<br />

in Krisenregionen (wie beispielsweise Nahost) deutlich niedriger sind<br />

als z.B. bei Lieferungen nach Mexiko. Soweit die konkrete zivile Endverwendung<br />

ausreichend dargelegt ist, erfordert die Ablehnung eine zusätzliche<br />

Begründung. <strong>Die</strong> Behörde muss erklären, welche staatlichen Interessen bzw.<br />

Verpflichtungen von der Lieferung berührt sind, z.B. infolge von Vereinbarungen<br />

des Regimes oder Abkommen. Von besonderer Problematik ist insoweit<br />

die Anwendung rein nationaler Sonderregelungen, da der Rückgriff auf<br />

diese Vereinbarungen nicht möglich ist und allgemeine Wirkungen der auswärtigen<br />

Belange in Rechnung gestellt werden müssen. <strong>Die</strong> Begründung<br />

hieran muss also umso fundierter sein.<br />

c) Ergebnis<br />

<strong>Die</strong> Frage der Beweislastverteilung ist bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />

grundlegend für die Verteilung der Risikoverantwortung. Nach den<br />

Grundsätzen des Vorsorgeprinzips werden dabei die Risikosphären der Beteiligten<br />

unterschieden. <strong>Die</strong>s beinhaltet eine wertende Betrachtung, die auch<br />

auf die Rechtsgütergewichtung im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

zielt. Hierbei spielen Listung der Güter und Zuverlässigkeitsfragen eine Rolle,<br />

aber auch die Intensität der Bedrohung. Liegen Anhaltspunkte für eine<br />

verwendungsbezogene Besorgnis vor, trägt der Antragsteller für die zivile<br />

Verwendung des Liefergutes die Beweislast.<br />

2. Verhältnismäßigkeit der Genehmigungserfordernisse<br />

a) Exportkontrollrelevante Grundrechte und ihre Schranken<br />

<strong>Die</strong> im AWG wie auch auf EG-Ebene verbürgte Außenwirtschaftsfreiheit<br />

wird über die Grundrechtsgewährleistungen der Handlungsfreiheit, Eigentums-<br />

und Berufsfreiheit in die Rechtmäßigkeitsprüfung des Eingriffs eingestellt966<br />

. Bei der Prüfung von Genehmigungsentscheidungen kommt die<br />

Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes hinzu967 . <strong>Die</strong> Schranken der<br />

965 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 244<br />

966 Vgl. hierzu schon Teil 2 III.3.b)<br />

967 Zur gemeinschaftsrechtlichen Anerkennung Teil 2 II.3.b) und zum nationalen Verfassungsverständis<br />

Teil 2 I.5.b)aa)<br />

280


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

benannten Grundrechte sind im Grundgesetz ausdrücklich benannt oder allgemein<br />

beschrieben. Letztes erfolgt durch Bezugnahme auf öffentliche Interessen.<br />

An dieser Stelle spielt die Rechtsprechung des BVerfG eine wichtige<br />

Rolle. So wird die notwendige Gemeinwohlqualität der Beschränkung spezifiziert<br />

968 oder die Wechselwirkung der betroffenen Grundrechte bei der Beschränkung<br />

durch allgemeine Gesetze herausstellt 969 . Schließlich muss jeder<br />

Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen<br />

970 . Zu den folgenden exportkontrollrelevanten Grundrechten bestehen<br />

auf nationaler wie gemeinschaftsrechtlicher Ebene Gewährleistungen, deren<br />

Beschränkungen durch Genehmigungspflichten bzw. die Ablehnung einer<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> einer Rechtfertigung bedürfen.<br />

aa) Gleichbehandlungsgrundsatz und Willkürverbot<br />

Bei der Durchsetzungskraft der Außenwirtschaftsfreiheit kommt neben den<br />

Grundrechten auch der aus wirtschaftspolitischer Sicht bedeutende Gleichbehandlungsgrundsatz<br />

zum Tragen. <strong>Die</strong> selbst bestimmte und eigenverantwortliche<br />

wirtschaftliche Betätigung hängt im Wesentlichen von einer Neutralität<br />

im Wettbewerb ab, die der Staat nicht durch einseitige und benachteiligende<br />

Eingriffe beeinträchtigen darf. 971 Nach Art. 3 GG dürfen natürliche<br />

und juristische Personen des Privatrechts dann eine Ungleichbehandlung erfahren,<br />

wenn dafür ein sachlicher Grund besteht. Gleiche Sachverhalte sollen<br />

deshalb grundsätzlich auch gleich behandelt werden. Negativ gesprochen<br />

geht es um das Verbot der willkürlichen Ungleichbehandlung972 . <strong>Die</strong>s<br />

gilt unabhängig von der Nationalität des Betroffenen, so dass auch Ausländer<br />

geschützt sind. <strong>Die</strong> Nationalität darf kein Differenzierungsgrund sein973 .<br />

Ein ausreichender Differenzierungsgrund bestehe aber bei Typisierung und<br />

Generalisierung von verschiedenen Sachverhaltkonstellationen974 . <strong>Die</strong>se<br />

Gattungsbildung in Form der Typisierung von Lebenssachverhalten erleichtert<br />

die Rechtsanwendung und ist zulässig, solange dadurch allenfalls für<br />

kleine Personenkreise Härten entstehen und Ungerechtigkeiten nur mit gro-<br />

968 Siehe z.B. die Drei-Stufen-Theorie zu Art.12 GG beim Apothekenurteil, BVerfGE 7,<br />

377, 405<br />

969 So BVerfGE 7, 198, 204 ff. - Lüth<br />

970 Dazu Bleckmann (FN 817), § 12 Rn 77 ff., Rn 111<br />

971 So auch Epping (FN 26), S. 67, 153 ff.<br />

972 Rüfener, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (FN 282), Art. 3 Abs.1 Rn 15 ff.<br />

973 Ebenda, Art. 3 Abs.1 Rn 135<br />

974 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), vor §§ 5 ff., Rn 43<br />

281


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

ßer Schwierigkeit vermeidbar sind 975 . Das allgemeine Diskriminierungsverbot<br />

nach Art. 12 EG sowie die entsprechenden Ausgestaltungen bei den einzelnen<br />

Freiheiten sind auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene Grundlage<br />

für eine umfassende Anerkennung des Willkürverbotes 976 . <strong>Die</strong> geschilderten<br />

Grundsätze sind demnach bei Genehmigungsentscheidungen im EU-<br />

Kontext wie auch nach dem AWG zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere,<br />

wenn eine Selbstbindung der Verwaltung stattgefunden hat 977 , beispielsweise<br />

über Anwendungsrichtlinien und Normkonkretisierungen oder<br />

schlichte Präzedenzentscheidungen.<br />

bb) Handlungsfreiheit<br />

<strong>Die</strong> allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG gilt gegenüber jedermann,<br />

natürlichen sowie juristischen Personen des Privatrechts978 . Sie gilt als Auffanggrundrecht<br />

und kann durch einfaches Gesetz beschränkt werden. Der<br />

sehr weit gefasste Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG führt durch die verfassungsmäßig<br />

bestimmte Schrankenbestimmung zu einem relativ geringen<br />

Schutzgrad979 . Über das Verhältnismäßigkeitsprinzip unterliegen diese Beschränkungen<br />

aber ebenfalls Rechtfertigungsanforderungen. Sie bestehen in<br />

Abhängigkeit von der Qualität und Äußerungsform der Handlungsfreiheit980 .<br />

Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene gibt es kein dem deutschen Auffanggrundrecht<br />

des Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbares Grundrecht. Das wird durch<br />

eine entsprechend weitere Fassung der Schutzbereiche spezifischer Grundrechte<br />

kompensiert981 . Dennoch erkennt auch der EuGH die allgemeine<br />

Handlungsfreiheit als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts an982 .<br />

Ebenso wie nach dem Grundgesetz bedürfen damit alle Eingriffe der öffentlichen<br />

Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung natürlicher oder juristischer<br />

Personen einer Rechtsgrundlage. Das Willkürverbot darf nicht verletzt<br />

werden und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein983 .<br />

975 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs.1 GG<br />

Rn 23<br />

976 V. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I Art. 3 Abs. 1 Rn 1 ff.<br />

977 Dazu Teil 2 II.3.b)bb)<br />

978 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (FN 975), Bd. 1, Art. 2 Abs.1 Rn 42<br />

979 Ebenda, Bd. 1, Art. 2 Abs.1 Rn 21 ff.<br />

980 So BVerfG in BVerfGE 17, 306, 314<br />

981 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (FN 3) Bd. I, nach Art 6 EUV, Rn 75<br />

982 So z.B. EuGH verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst / Kommission, Slg. 1989, 2859,<br />

2924; EuGH verb. Rs. 133 bis 136/85, Rau / Balm, Slg. 1987, 2289, 2338; EuGH,<br />

verb. Rs. 97 bis 99/87, Dow Chemical Ibérica u.a. /Kommission, Slg. 1989, 3165, Rn<br />

16<br />

983 EuGH verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst / Kommission, Slg. 1989, 2859, 2924<br />

282


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

cc) Berufsausübungsfreiheit und unternehmerische Freiheit<br />

Art. 12 GG wird als wesentlicher Anknüpfungspunkt des Schutzes wirtschaftlicher<br />

Betätigung und damit auch der Außenwirtschaftsfreiheit gesehen984<br />

. <strong>Die</strong> im Rahmen von Art. 12 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit<br />

erfasst nach herrschender Lehre auch die unternehmerische Freiheit und<br />

freie Gewerbeausübung985 . Zum geschützten Adressatenkreis gehören nur<br />

Deutsche und im bestimmten Umfang EU-Ausländer sowie inländische Personen<br />

des privaten Rechts. <strong>Die</strong> Bestimmung des Schutzbereichs erfolgt nach<br />

der gesicherten Rechtsprechung des BVerfG i.V.m. der Abgrenzung von<br />

Fragen der Berufsausübung und Berufswahl. Nach der Drei-Stufen-Lehre<br />

sind im Rahmen der Schrankenprüfung abgestufte Verhältnismäßigkeitsanforderungen<br />

zu berücksichtigen986 . Dabei erfolgt eine Gewichtung der Eingriffsintensität<br />

und entsprechend verfolgter Gemeinwohlbelange. Berufsausübungsbeschränkungen<br />

im Sinne der ersten Stufe, wie sie regelmäßig<br />

in Verbindung mit der Versagung von Ausfuhren in Rede stehen, müssen<br />

nach dieser Rechtsprechung durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls<br />

gerechtfertigt sein. Nur bei als subjektive oder objektive Berufswahlbeschränkung<br />

einzustufenden Maßnahmen sind die Anforderungen höher.<br />

Nachdem die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik zu den Gemeinwohlgründen<br />

gehören, sind diese durchaus geeignet, den Schutzbereich nach<br />

Art. 12 GG einzuschränken. <strong>Die</strong> Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung<br />

muss dann über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs im Einzelfall entscheiden.<br />

In der Rechtsprechung des EuGH ist die Berufsfreiheit ebenfalls geschützt987<br />

. Sie ist in Art. 14 der Grundrechte-Charta als Jedermann-<br />

Grundrecht formuliert. Neben der freien Berufsausübung wird auch die unternehmerische<br />

Freiheit erfasst. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Betätigung und Handelsfreiheit<br />

wird als spezifische Ausprägung der freien Persönlichkeitsentfaltung<br />

in den Geltungsbereich der Berufsfreiheit einbezogen988 . Hinzu kommt die<br />

freie wirtschaftliche Betätigung und die Wettbewerbsfreiheit989 . Ihre explizite<br />

Aufnahme in Art. 16 der Grundrechte-Charta geht vor allem auf das An-<br />

984 Epping (FN 26), S. 68, vgl. Abschnitt 1.3.3.2.<br />

985 Mannsen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (FN 975), Bd. 1, Art. 12 Abs.1 Rn 68<br />

986 BVerfGE 7, 377, 378 - Apothekenurteil<br />

987 St. Rspr. des EuGH seit Rs 4/73 – Nold, Slg. I 1974, 491, 507 f.; vgl. nur Rs 44/79 –<br />

Hauer, Slg. 1979, 3227, 3750 und Rs C 177/90 – Kühn, Slg.1992 I, 35, 63 f, Rs<br />

306/93 – SMW Winzersekt GmbH, Slg. 1994, 5555, 5581<br />

988 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 137 ff.<br />

989 Epping (FN 26), S. 577 unter Verweis auf EuGH Rs 11/70, Internationale Handelsgesellschaft,<br />

Slg. 1970, 1125,1134<br />

283


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

liegen zurück, im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der EU den sozialen<br />

Grundrechten einen Kontrapunkt entgegenzusetzen990 . <strong>Die</strong>se Ausführungen<br />

zeigen, dass auch auf Gemeinschaftsebene der Konflikt zwischen den Freiheitsrechten<br />

einerseits und den sozialstaatlichen Gewährleistungen andererseits<br />

deutlich anerkannt wird. <strong>Die</strong>s ist bei der Rechtfertigung der Beschränkungen<br />

zu berücksichtigen. Bestandteil des Gemeinschaftsgrundrechts der<br />

Berufsfreiheit ist auch die Ausfuhrfreiheit, die ihren sekundärrechtlichen<br />

Ausdruck in Art. 1 VO (EWG) Nr. 2603/69 (EG-Ausfuhr-VO) gefunden hat.<br />

Sie umfasst das Recht, grundsätzlich alle Waren in Drittstaaten zu verbringen<br />

und mit drittländischen Unternehmen Handel zu treiben991 . Das geht aus<br />

Art. 11 der EG-Ausfuhr-VO hervor. Er zielt auf die Gleichbehandlung von<br />

Außen- und Binnenhandel992 .<br />

<strong>Die</strong> Schranken des Rechts der freien Berufsausübung werden im Rahmen<br />

seiner sozialen Funktion gesehen, so dass Einschränkungen durch das öffentliche<br />

Interesse bzw. dem Gemeinwohl dienende Gemeinschaftsziele gerechtfertigt<br />

sind993 . Mit jedem Eingriff in die Berufsfreiheit muss also ein<br />

dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt werden. Im Hinblick darauf darf<br />

die Beschränkung nicht unverhältnismäßig und nicht untragbar sein. Der<br />

Wesensgehalt dürfe nicht angetastet werden994 . <strong>Die</strong> Kriterien dieses Wesensgehalts<br />

sind allerdings nicht eindeutig. Der EuGH lehnt es grundsätzlich ab,<br />

dem individuellen Interesse den Vorrang vor dem hoheitlichen Regelungsinteresse<br />

einzuräumen. Auch dieses Grundrecht steht somit unter einem allgemeinen<br />

Gemeinschaftsvorbehalt, so dass der Prüfung der Verhältnismäßigkeit<br />

die entscheidende Bedeutung zukommt995 . Wenngleich eine dem<br />

deutschen Verfassungsverständnis immanente strenge Differenzierung von<br />

Eigentums- und Berufsfreiheit seitens des EuGH nicht vorgenommen wird,<br />

so ergeben sich in der Sache, zumindest beim Prüfungsschema und der gemeinwohlorientierten<br />

Rechtfertigung, kaum Abweichungen zur Reichweite<br />

von Art. 12 und 14 GG. Es muss dennoch berücksichtigt werden, dass er<br />

diese Gemeinwohlziele weit gefasst versteht und den Behörden einen großen<br />

Einschätzungsspielraum zugesteht996 .<br />

990 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 141<br />

991 Ehlers/Pünder, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, E 15, 3. Teil Rn 27<br />

992 Hohmann (FN 89), S. 468<br />

993 Entspr. der Rspr. zur Eigentumsgarantie: EuGH, Rs 4/73 - Nold, Slg. 1974, 491, 506<br />

ff.<br />

994 EuGH, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, 2268<br />

995 Mit diversen Literaturhinweisen Epping (FN 26), S. 584 f.<br />

996 Ebenda, S.580, 585 unter besonderem Verweis auf EuGH Rs. 11/70, Internationale<br />

Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125,1135<br />

284


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

dd) Eigentumsgarantie<br />

Gegenüber Art. 12 GG wird der Eigentumsgarantie im Rahmen der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

eine zum Teil geringere Bedeutung zugemessen. Allerdings<br />

stellt sich im Kern auch im Außenwirtschaftsrecht die Frage, ob nicht<br />

doch bis zu einem gewissen Grade auch das Vermögen und die Nutzung des<br />

Eigentums zur Vermögenserwirtschaftung geschützt sind. <strong>Die</strong>se Diskussion<br />

steht im Zusammenhang mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten<br />

Gewerbebetrieb und führt zu der Frage, ob mit dem abgelehnten Ausfuhrantrag<br />

auch Eigentumspositionen des Antragstellers berührt werden. Das wird<br />

regelmäßig negativ beantwortet, da die Genehmigung die Qualität einer einseitigen<br />

staatlichen Gewährung ohne Gegenleistung des Antragstellers habe,<br />

also nicht auf dessen eigener Leistung beruhe. Bloße Geschäftschancen sind<br />

im Rahmen von Art. 14 GG aber nicht geschützt997 . Soweit es um Eingriffe<br />

in die Erwerbs- und Leistungsfähigkeit, also den Erwerb des Betroffenen<br />

und nicht um das Erworbene, gehe, sei regelmäßig Art. 12 GG betroffen998 .<br />

Im Außenwirtschaftsrecht bzw. bei Exportkontrollen stehen auch Forderungen<br />

in Rede, die durchaus den Charakter einer erworbenen Rechtsposition<br />

haben und somit dem Schutzbereich von Art. 14 GG unterfallen, z.B. wenn<br />

sie schuldrechtlich begründet sind und aus abgeschlossenen Kaufverträgen<br />

entstammen. Auf das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb<br />

kommt es dann nicht an999 . <strong>Die</strong> Abgrenzung von Art. 12 und 14 GG<br />

richtet sich letztlich danach, ob ein Rechtsgeschäft bereits vor dem Genehmigungsantrag<br />

getätigt wurde oder sich lediglich in Anbahnung befindet.<br />

<strong>Die</strong> Frage, ob den Antragsteller im Falle eines Schadens in Anbetracht der<br />

möglichen Kenntnis an der Genehmigungspflicht eine Mitschuld trifft, weil<br />

er sich z.B. kein vertragliches Rücktrittsrecht vorbehalten hat, ist allenfalls<br />

für die Entschädigungspflicht von Bedeutung. Beide Rechtsgüter können<br />

demnach für die Abwägung eines rechtmäßigen Eingriffs einschlägig sein.<br />

Soweit es um abgeschlossene Verträge geht, die einen Vermögenswert und<br />

damit ein Ergebnis eigener Leistung darstellt, ist Art. 14 GG maßgeblich.<br />

Bezogen auf die Durchführung des Geschäftes, das einen Teil der Berufsausübung<br />

darstellt, gilt Art. 121000 . Nach Art. 14 GG kann jede natürliche<br />

und juristische Person des Privatrechts Grundrechtsträger sein. Der Schutz-<br />

997 Zum Ganzen, Epping (FN 26), S. 73 ff., S 98,<br />

998 Mit vielen Hinweisen zur Rechtsprechung und Schrifttum: ebenda, S. 104<br />

999 Hinweis des OLG Köln im Zusammenhang mit einer verhinderten Ausfuhr nach<br />

Libyen, Urt. v. 20.01.2000 – Rs 7U84/99, veröff. in NVWz 2000, 594 und unter<br />

Verweis auf BVerfGE 45, 142, 179 sowie 68, 193, 222<br />

1000 Mit Blick auf Art. 14 GG: v. Bogdandy (FN 4), S. 87, unter Verweis auf BVerfGE<br />

16, 94, 112 und 18, 392, 397<br />

285


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

bereich des Eigentums wird durch die Rechtsverordnung als Ganzes näher<br />

bestimmt1001 . Nach h.L. und Rechtsprechung des BVerwG wird dabei auch<br />

das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb umfasst1002 .<br />

Eine Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen ist je nach der Unterscheidung<br />

von Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art 14 Abs. 1<br />

S. 2 sowie Enteignungsqualität des Eingriffs nach Art. 14 Abs. 3 möglich.<br />

Erstere werden im Wege einer Abwägung der Individualinteressen und der<br />

Gemeinschaftsbelange bestimmt und sind von dem sozialen Bezug des Eigentums<br />

abhängig1003 . Das wird aus der in Art. 14 Abs. 2 GG erwähnten Sozialbindung<br />

des Eigentums abgeleitet. Gründe des Gemeinwohls sind geeignet,<br />

den Eingriff zu rechtfertigen. Im Rahmen des Übermaßverbotes sind<br />

Inhalts- und Schrankenbestimmungen als enteignungsgleicher Eingriff nicht<br />

gerechtfertigt, wenn es sich um ein Sonderopfer des Eingriffsadressaten<br />

handelt. <strong>Die</strong> als sachspezifische Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />

in Art. 14 Abs.1 S. 2 GG entwickelte Rechtsprechung zur Sonderopfertheorie<br />

geht auf das Reichsgericht zurück. BGH und BVerwG konkretisieren<br />

hierbei die Abgrenzung der Inhalts- und Schrankenbestimmung zur Enteignung<br />

nach dem Prinzip der materiellen Lastengleichheit1004 .<br />

Auch auf EU-Ebene erfolgt ein Schutz des Eigentums. Es steht grundsätzlich<br />

jeder Person zu1005 . Das nach Art. 17 der Grundrechte-Charta verbürgte<br />

Recht wurde in der Rechtsprechung des EuGH zunächst aus der Schutzposition<br />

eines berechtigten Vertrauens und dem Grundsatz wohl erworbener<br />

Rechte entwickelt. <strong>Die</strong>ser Ansatz wird zwischenzeitlich explizit anerkannt1006<br />

. In drei Stufen werden das Bestehen einer Nutzungsbeschränkung,<br />

die Erforderlichkeit hinsichtlich des Schutzes eines berechtigten Allgemeininteresses<br />

sowie die zweckorientierte Einschränkung und Angemessenheit<br />

der Maßnahme geprüft. Der Wesensgehalt des Eigentums wäre nur im Kern<br />

geschützt1007 . <strong>Die</strong> Durchsetzungskraft der Außenwirtschaftsfreiheit wäre da-<br />

1001 BVerfGE 58, 300, 336 - Naßauskieselungsbeschluss<br />

1002 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), §§ 5 ff. Rn 21, zur Einbeziehung von<br />

Vermögen: BVerfGE 74, 129, 148<br />

1003 BVerfGE 50, 290, 340<br />

1004 Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (FN 975), Bd. 1, Art. 14 Rn 258 ff.<br />

1005 St. EuGH-Rspr. seit EuGH Rs 44/79, Slg. 1979, 3727, 3745 – Hauer; vgl. nur verb.<br />

Rs 41, 121, 796/79 – Testa u.a., Slg. 1980, 1979, 1997, Rs 306/93 – SMW Winzersekt<br />

GmbH, Slg. 1994, 5555, 5581<br />

1006 Siehe EuGH Rs 4/73 – Nold, Slg. I 1974, 491, 507 f.; Rs 78/70 - Deutsche Grammophon,<br />

Slg. 1971, 487, 499ff; und grundlegend Rs 44/79 - Hauer , Slg. 1979,<br />

3727, 3745<br />

1007 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, nach Art. 6 EUV, Rn 147<br />

286


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

nach eher gering. Wie bei der Berufsfreiheit gilt allerdings ein umfassender<br />

Vorbehalt der Gemeinschaftsinteressen. Sie haben nach der EuGH-<br />

Rechtsprechung regelmäßig sehr starke Durchsetzungskraft. Wegen der im<br />

innergemeinschaftsrechtlichen Handel geltenden Grundfreiheiten dürfte der<br />

Außenwirtschaftsfreiheit daher eine stärkere Gewichtung zukommen1008 .<br />

Im Vergleich des EU-Standards mit dem Grundgesetz scheint es zumindest<br />

mit Blick auf die zulässigen gemeinwohlorientierten Inhalts- und Schrankenbestimmungen<br />

nicht zu Abweichungen zu kommen. Auf Fragen der Einschädigungspflichtigkeit<br />

bestimmter Eingriffe soll an dieser Stelle nicht eingegangen<br />

werden.<br />

ee) Zusammenfassung<br />

Im Ergebnis bleibt u.a festzuhalten, dass im Rahmen der Außenwirtschafsfreiheit<br />

vor allem Art. 12 GG und, je nach Sachverhalt, Art. 14 GG eine gewichtige<br />

Rolle für die Rechtmäßigkeit von Eingriffen spielen. Eine Einschränkung<br />

ist bei beiden Grundrechten regelmäßig aus Gemeinwohlgründen<br />

möglich. Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene sind die Grundrechtsgewährleistungen<br />

ebenfalls zu berücksichtigen. Allerdings scheinen die Beschränkungsmöglichkeiten<br />

durch Gemeinschaftsinteressen aufgrund der<br />

EuGH-Rechtsprechung eher weit gefasst. Maßgeblich bleibt, ob die an sich<br />

begründeten Grundrechtsbeschränkungen verhältnismäßig sind. <strong>Die</strong>ser<br />

Grundsatz gilt auch im Gemeinschaftsrecht1009 . Hierbei spielt das Untermaßverbot<br />

eine Rolle. Es legt dem Gesetzgeber bei Wahrnehmung seiner<br />

staatlichen Pflichten ein Mindestmaß auf, um diese überhaupt erfüllen zu<br />

können.<br />

b) Bestimmung der betroffenen Schutzgüter bzw. potenziellen Risikoopfer<br />

aa) Bezug der Abwägung beim Schutz des Kollektivrechtsgutes Sicherheit<br />

Im Rahmen der Erörterungen zum Begriff der Sicherheit und der dahinter<br />

stehenden Staatszielbestimmungen sowie der Schutzpflichtendiskussion<br />

wurde deutlich, dass hinter dem Kollektivrechtsgut Sicherheit konkrete Individualinteressen<br />

einer unbestimmten Anzahl von Grundrechtsträgern stehen.<br />

Faktisch werden damit die Interessen des Art. 2 Abs. 2 GG in die Güterabwägung<br />

eingestellt, was auch in der Exportkontrollliteratur so gesehen<br />

1008 Dazu eingehend Epping (FN 26), S. 595<br />

1009 Vgl. Teil 2 III.3.a)<br />

287


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

wird 1010 . Mit dem gem. § 7 Abs. 1 Nr. 3 AWG und Art. 8 auch nach der Dual-use-VO<br />

möglichen Rückgriff auf auswärtige Belange des Art. 32 GG<br />

lässt sich über den Gemeinwohlbelang hinaus kaum ein dem Freiheitsgebrauch<br />

gegenläufiges Verfassungsgut entwickeln. Eine Güterabwägung<br />

und die Herstellung praktischer Konkordanz stößt damit auf Schwierigkeiten<br />

1011 . Wegen der verfassungskonformen Auslegung dieser Belange im Sinne<br />

sicherheitsrelevanter Ereignisse kann das aber überwunden werden. <strong>Die</strong><br />

schlichte Abwägung kollektiver Rechtsgüter als Grundlage der staatlichen<br />

Eingriffsermächtigungen würde zu einer Entdifferenzierung der gegenüberstehenden<br />

Verfassungsbelange führen. Es käme zu einer kollektiven Überhöhung<br />

einzelner Rechtsgüter, so dass praktisch jeder Eingriff gerechtfertigt<br />

würde. Dem muss mit einer hinreichenden Individualisierung und Bestimmung<br />

des geschützten Rechtsgutes begegnet werden 1012 . Wenn es im Kontext<br />

des Sicherheitsrechts um staatliche Schutzpflichten geht, können die insoweit<br />

drohenden Abwägungsschwierigkeiten auch überwunden werden.<br />

bb) Rechte des Betroffenen in Verbindung mit dem Recht auf Leben,<br />

körperliche Unversehrtheit und Gesundheit<br />

Auf die Gewährleistungen der nach Art. 2 Abs. 2 GG verbürgten Schutzgüter<br />

des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit und ihren grundlegenden<br />

Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG wurde bereits eingehend im Rahmen der<br />

näheren Bestimmung des Staatsziels Sicherheit und der damit aufgeworfenen<br />

Schutzpflichtdiskussion eingegangen1013 . Nach Art. 6 der Grundrechte-<br />

Charta findet die Sicherheit ebenfalls dahingehend Erwähnung, dass sie im<br />

Zusammenhang mit dem Recht auf Freiheit wesentlich ist. Der Sicherheitsbegriff,<br />

der auch in Art. 5 EMRK verwendet wird, wird nach der Rechtsprechung<br />

des EuGH lediglich mit dem Verständnis der Rechtssicherheit belegt.<br />

Es geht aber um den Schutz vor staatlicher Willkür, nicht um grundrechtliche<br />

Gewährleistungen1014 . Dennoch erkennt der EuGH über die Gemeinschaftsziele<br />

und Verkehrsfreiheiten auch staatliche Schutzpflichten an1015 .<br />

1010 Vgl. Teil 3 V.2.a)cc), vgl. dort auch von Bogdandy, der selbst die BVerfGE zu 2<br />

Abs. 1 GG zitiert<br />

1011 So Hohmann (FN 89), S. 522, 529<br />

1012 Vgl. Teil 3 I.4.a)aa)<br />

1013 Vgl. Teil 3 IV.2.c)bb)<br />

1014 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, nach Art 6 EUV, Rn 83<br />

1015 Zu den Schutzpflichten auf Gemeinschaftsebene vgl. Teil 4 II.3.c)<br />

288


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

c) Abwägung der Belange im Rahmen der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

und der multipolare Prüfungsansatz<br />

aa) Klassischer Prüfungsansatz<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht wie auch die Genehmigungsversagung bedeuten<br />

einen Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit des Betroffenen. Nach dem<br />

klassischen Liberalitätsprinzip darf die Außenwirtschaftsfreiheit des Ausführers<br />

im Rahmen der verfassungsrechtlich anerkannten Schranken beschränkt<br />

werden. Der Eingriff muss darüber hinaus verhältnismäßig sein. Beides<br />

muss anhand der o.g. hinter der Außenwirtschaftsfreiheit stehenden Grundrechte<br />

und des gesetzgeberischen Willens geprüft werden, welche öffentlichen<br />

Interessen die Behörde verfolgt. Zu diesem Zweck greift das BVerfG<br />

regelmäßig auf die Gesetzesmaterialien, wie die Gesetzesbegründung, zurück.<br />

Dabei kommt es unter Beachtung des objektiven Normzweckes darauf<br />

an, ob der Eingriff für die Erreichung des Zweckes geeignet, erforderlich<br />

und angemessen erscheint1016 . Im Rahmen der Erforderlichkeit erfolgt eine<br />

Alternativenprüfung zum wirksamsten Mittel, das in möglichst geringem<br />

Unfang das betroffene Grundrecht beeinträchtigt. Hierbei hat der Gesetzgeber<br />

einen gewissen Beurteilungsspielraum. Auf dieses legislative Ermessen<br />

wurde bereits eingegangen. Es findet seine Grenzen im Wesensgehalt der<br />

Grundrechte, der nach der Rechtsprechung des BVerfG im Sinne des Art. 19<br />

Abs. 2 GG unantastbar ist1017 .<br />

Das AWG kann die Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG als einfaches<br />

Gesetz beschränken. Mit dem staatlichen Sicherheitsinteresse dürfte auch<br />

der gemeinwohlorientierte Beschränkungsansatz im Sinne der Art. 12 und<br />

14 GG gegeben sein. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht ist verfassungsrechtlich<br />

dann legitimiert, wenn eine Rechtfertigung mit Verweis auf die Gewährleistung<br />

der staatlichen Sicherheitsinteressen durch hinreichende Gemeinwohlgründe<br />

gegeben und ein milderes Mittel nicht erkennbar ist. Aufgrund der<br />

Bezugnahme zu den hochwertigen Rechtsgütern Leben und körperliche Unversehrtheit<br />

kann es dahinstehen, ob es sich um die Berufsausübung begrenzende<br />

hinreichende Gemeinwohlgründe handelt oder einen Gemeinwohlgrund<br />

im Sinne der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art. 14 Abs. 1 S.<br />

2 GG. In beiden Alternativen wäre eine Grundrechtsbeschränkung zunächst<br />

begründet. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der notwendigen<br />

Relationierung des Gemeinwohlinteresses Sicherheit gegenüber der<br />

Ausfuhrfreiheit wird dann das Übermaßverbot geprüft. Allerdings kommt es<br />

1016 Bleckmann (FN 817), § 12 Rn 122<br />

1017 Vgl. Teil 3 IV.3.a)<br />

289


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

dabei zum schon erwähnten Defizit einer hinreichenden Wahrung des Mindestmaßes<br />

an Schutzerfordernissen gegenüber den vom festgestellten Risiko<br />

bedrohten Rechtsgutinhabern. Den entsprechenden staatlichen Schutzpflichten<br />

will der multipolare Prüfungsansatz durch ein Untermaßverbot gerecht<br />

werden.<br />

bb) Begründung zum multipolaren Prüfungsansatz<br />

<strong>Die</strong> Risikovorsorge ist über das Umweltrecht hinaus für das gesamte Sicherheitsrecht,<br />

besonders aber auch Exportkontrollen relevant. <strong>Die</strong> Übertragung<br />

des umweltrechtlich erprobten Vorsorgeprinzips in das allgemeine Sicherheitsrecht<br />

ist von besonderer rechtsstaatlicher Brisanz, weil damit eine<br />

Erweiterung der staatlichen Eingriffsbefugnisse erfolgt, indem der zulässige<br />

Eingriffszeitpunkt vorverlagert wird 1018 . Je enger der Begriff der Gefahr bestimmt<br />

wird, desto weniger wird der von einem staatlichen Eingriff betroffene<br />

Bürger in seiner Freiheit beschränkt, desto freiheitlicher ist also der<br />

Rechtsstaat1019 . Für die Risikoprävention gilt die umgekehrte Tendenz. Zudem<br />

ist auf Grund von Erkenntnisdefiziten im Risikostadium regelmäßig die<br />

Frage nach der Zurechenbarkeit bzw. nach dem Störer offen. Das „neue“<br />

präventive Sicherheitsrecht droht deshalb, sich von seinem Bezug auf gesetzliches<br />

Unrecht zu lösen und zur Vermeidung generell unerwünschter Situationen<br />

eingesetzt zu werden.<br />

Aus rechtsstaatlicher Sicht hoch bedenklich ist, dass der Bürger den Staat<br />

nicht mehr durch legales Verhalten auf Distanz halten kann. Im Verhältnis<br />

Bürger - Staat wird auf diese Weise faktisch eine Beweislastumkehr eingeführt,<br />

in der das Risiko zur Normalität wird und die Nichtgefährlichkeit zur<br />

Ausnahme, die der Bürger für seine Person beweisen muss1020 . Hinzu<br />

kommt, dass auch die Exportkontrollen auf Ergebnisse eines frühzeitigen Informations-<br />

und Wissenserwerbs sowie deren systematische Auswertung angewiesen<br />

ist, lange bevor es zu Rechtsgutverletzungen kommt. Maßgebliche<br />

Konsequenz des Vorsorgeprinzips ist ein Spannungsverhältnis zum Rechtsstaatsprinzip,<br />

das in materieller Hinsicht die Gewährleistung von Freiheit<br />

mittels der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte umfasst 1021 . <strong>Die</strong><br />

Über- und Untermaßprüfung nach den Grundsätzen zum multipolaren Abwägen<br />

berücksichtigt die gebotene Reichweite der Durchsetzbarkeit von<br />

Gemeinwohlbelangen und der betroffenen Grundrechte umfassender als die<br />

1018 Ausführlich hierzu Calliess (FN 288), S. 154 ff.<br />

1019 Hierzu Di Fabio, Jura 1996, S. 566 (568).<br />

1020 Grimm, (FN 609), S. 199; Prantl, Verdächtig: der starke Staat und die Politik der inneren<br />

Unsicherheit, , S. 9; Denninger, KJ 2002, S. 467 (472).<br />

1021 Calliess (FN 288), S. 604<br />

290


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

klassische bipolare Prüfung. <strong>Die</strong> damit verbundene Schärfung der betroffenen<br />

Rechtspositionen kann auch für die angemessene Risikoverteilung bei<br />

Exportkontrollen fruchtbar gemacht werden.<br />

Im Rahmen der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten müsste<br />

demnach über die Gemeinwohlbelange der auswärtigen Beziehungen, äußere<br />

und innere Sicherheit hinaus geprüft werden, ob mit Blick auf Art. 2 Abs.<br />

2 GG die „Weltbevölkerung“ oder bestimmte Gruppen und Bürger „hinreichend“<br />

geschützt werden. Zweck der multipolaren Prüfung ist die Schärfung<br />

des Schutzinteresses über die Prüfung des Untermaßverbotes1022 . Eine solche<br />

konkrete Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung zum Schutz betroffener<br />

Rechtsgüter ist allerdings nur möglich, wenn sie zumindest individualisierbar<br />

erscheinen. Im Zeitpunkt der Ausfuhr bzw. Behördenentscheidung<br />

über deren Genehmigung ist regelmäßig noch nicht klar, wer später<br />

konkret von einer missbräuchlichen Verwendung betroffen ist bzw. auf wen<br />

die Waffe gerichtet sein wird. <strong>Die</strong> individuelle Sicherheit potenziell betroffener<br />

Bürger scheint also nur schwerlich in die Abwägung eingestellt werden<br />

zu können.<br />

cc) Grundrechtsgeltung und Schutzadressat<br />

In der Exportkontrolle geht es, anders als im technischen Sicherheitsrecht,<br />

nicht um ortsbezogene Risiken. So ist der umweltrechtliche Nachbarbegriff,<br />

wie er bei der Zulassung von technischen Anlagen eine Rolle spielt, für die<br />

Prognose der Risikoszenarien infolge von Ausfuhren ohne Bedeutung. <strong>Die</strong><br />

Endverwendungsprognose bei Dual-use-Gütern bezieht sich vielmehr auf<br />

die Produktion von Waffen und daraus resultierende Missbrauchspotenziale.<br />

Wo der zu missbilligende Waffeneinsatz stattfinden und welche konkreten<br />

Individuen hierdurch bedroht werden könnten, ist in aller Regel nicht vorhersehbar.<br />

Anders als bei technischen Reaktionen oder Immissionen ist dies<br />

Teil der Ungewissheit bei der Risikoabwägung. Es können Ausländer oder<br />

Inländer betroffen sein. Zunächst ist es unwahrscheinlich, dass mit deutschen<br />

Komponenten hergestellte Waffen gerade gegen deutsche Staatsbürger<br />

eingesetzt werden. Sie dürften nur im Einzelfall bei Erkenntnissen über<br />

konkret geplante Angriffe auf bzw. in Deutschland Prognoserelevanz haben,<br />

z.B. bei terroristischen Anschlägen. Da es bei der Sicherheitsdimension von<br />

Exportkontrollen überwiegend auf Risiken für Rechtsgüter in Regionen außerhalb<br />

des Geltungsbereiches des Grundgesetzes geht, können diese nur in<br />

die Abwägung eingestellt werden, wenn sie als Jedermann-Grundrechte, unabhängig<br />

vom Territorium der Bundesrepublik, ihre Wirkung entfalten kön-<br />

1022 Vgl. Teil 3 IV.<br />

291


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

nen. Im Ausland lebende Bürger müssen sich darauf berufen können. Zumindest<br />

im Falle des vornehmlich in Rede stehenden Art. 2 Abs. 2 GG ist<br />

dies der Fall, erst recht bei der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG. Entsprechend<br />

kann und muss die verfassungsrechtliche Interessenabwägung<br />

unabhängig vom konkreten Ort der Risikorealisierung erfolgen.<br />

Wenngleich Art. 2 Abs. 2 GG ein Jedermann-Grundrecht ist, könnte sich die<br />

im Rahmen der Schutzpflichtendiskussion angeführte Garantenstellung des<br />

Staates gegenüber Ausländern so relativieren, da diese nicht zum Staatsvolk<br />

gehören und bei diesen die über den Staatszweck und das Gewaltmonopol<br />

bestehende Schutzdimension des Art. 2 Abs. 2 GG in Frage gestellt wird. Im<br />

Rahmen der Dual-use-VO wird zudem ausdrücklich auf die nationalen Sicherheitsinteressen<br />

verwiesen. Demnach könnte man zwar eine gewisse<br />

Mitverantwortung für alle EU-Bürger unterstellen. <strong>Die</strong> Wirkungen für Drittstaatenangehörige<br />

wären dann aber schwächer ausgeprägt. Dagegen spricht<br />

auch nicht der Aspekt der einschlägigen äußeren Sicherheit, ebenso wenig<br />

wie die völkerrechtlichen Vereinbarungen zugunsten des Friedenserhaltes,<br />

zur Ächtung von Massenvernichtungswaffen oder einer Unterbindung von<br />

Waffenproduktionen bzw. zur restriktiven Handhabung von Ausfuhren in<br />

Spannungsgebiete. <strong>Die</strong>se Aspekte sind über den Gemeinwohlbelang der äußeren<br />

Sicherheit und Friedenspflicht mitumfasst, so dass es keines weiteren<br />

Schutzes bedürfte.<br />

Mit Bezug auf die hiermit ebenfalls beschriebenen öffentlichen Interessen<br />

fremder Staaten, die gerade im Bereich der Außenwirtschaftsfreiheit von erheblicher<br />

Bedeutung sind, sei auch noch einmal auf die breite Einschätzungsprärogative<br />

der Verwaltung hingewiesen, was sie als öffentliches Interesse<br />

wertet. Dabei können mit Bezug auf den Schutz von Ausländern die<br />

guten Beziehungen zu Nachbarstaaten ebenso angeführt werden, wie die<br />

Erwartung, dass im Drittstaat ein genauso weit reichender Schutz deutscher<br />

Interessen stattfindet1023 . Hinzu kommt die Verteidigungskraft in Kooperationen<br />

wie der NATO oder das Völkergewohnheitsrecht, wonach über Art. 25<br />

GG die Interessen fremder Staaten zu berücksichtigen sind1024 . Unter diesem<br />

Aspekt ist zumindest ein Gemeinwohlinteresse am Schutz ausländischer<br />

Rechtsgüter zu bejahen. Der Mehrwert einer im Sinne der Mehrpoligkeitsprüfung<br />

gebotenen individualisierten Risikoprüfung ist deshalb zunächst<br />

nicht erkennbar.<br />

1023 Vgl. Teil 2 II.5.b)dd)<br />

1024 Vgl. Bleckmann (FN 817), § 12 Rn 116 ff.; s.a. Teil 2 III.2.<br />

292


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

dd) Individualisierung der geschützten Rechtsgüter<br />

Anders als z.B. im Bereich des technischen Sicherheitsrechts, wie dem<br />

Umweltrecht, beim Arzneimittelrecht oder der Gentechnik, kann man die<br />

Auswirkungen auf den Adressaten einer neuen Entwicklung nicht abstrahieren<br />

und wenigstens eine bestimmte Gruppe von Bürgern eingrenzen. Im<br />

Umweltrecht geht es vornehmlich auch um den Schutz von Nachbarn bzw.<br />

sonstige Anwohner, die in der Region der örtlich gebundenen Anlage bekannt<br />

sind. Hier wird erneut das Dilemma der ortsungebundenen Risikoprävention<br />

von Exportkontrollen deutlich. Es ist regelmäßig völlig ungewiss,<br />

wo sich Risiken aus missbrauchsanfälligen Dual-use-Lieferungen realisieren<br />

könnten. <strong>Die</strong> Tendenz zu globalen Sicherheitspartnerschaften wird hier bestätigt.<br />

<strong>Die</strong> Verknüpfung von innerer und äußerer Sicherheit ist für erfolgreiche<br />

Präventionsmaßnahmen unabdingbar.<br />

Eine Konkretisierung des Sicherheitszieles zugunsten bestimmter Regionen<br />

oder gar Personengruppen ist mit dem offenen Ansatz der Exportkontrollen<br />

zur weltweiten Verhinderung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen<br />

oder konventionellen Waffen, hier mit der Einschränkung der Nichtbelieferung<br />

instabiler Regionen, weder gewollt noch möglich. Hier unterscheiden<br />

sich die Schutzzwecke von Exportkontrollen und technischem Sicherheitsrecht<br />

erheblich. Es wurde festgestellt, dass die Schutzdimension von Art. 2<br />

Abs. 2 GG gegenüber Ausländern tendenziell nicht aktiviert werden kann,<br />

wenn man dabei auf das staatliche Gewaltmonopol und nationale Interessen<br />

abstellt. Wegen der Sicherheitspartnerschaften und auswärtigen Bezüge der<br />

Exportkontrollen tritt demnach der Gemeinwohlbelang der äußeren Sicherheit<br />

wie auch der staatlichen Friedenspflicht in den Vordergrund. <strong>Die</strong> hinter<br />

der dogmatischen Begründung der Mehrpoligkeitsprüfung stehende Notwendigkeit<br />

einer schutzpflichtorientierten individualisierten Risikoprüfung<br />

scheint deshalb bei Exportkontrollen nicht gegeben.<br />

<strong>Die</strong> allein auf Gemeinwohlfragen fokussierende klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

gewichtet die Freiheit stärker, als dies in der multipolaren<br />

Prüfung der Fall ist. Dort tritt das Abwehrrecht auf die gleiche Stufe wie die<br />

Schutzpflicht des Staates1025 . Vor dem Hintergrund der Schutzpflichtendiskussion,<br />

die zunächst vor allem auf Inländer im Einflussgebiet des Grundgesetzes<br />

bezogen ist, sollte eine angemessene Berücksichtigung der Grundrechtsdimension<br />

der Exportkontrollen auch bei Ausländern möglich sein.<br />

Wenngleich dies nicht in der Schärfe des nachbarschaftsorientierten Umweltrechts<br />

möglich ist, sollten sich EU-Ausländer mit Blick auf den Schutz<br />

1025 Vgl. Teil 3 IV2.a)aa)<br />

293


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

der Menschenwürde, des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit und<br />

auf das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot berufen können, alle<br />

Übrigen auf die Gleichbehandlung gem. Art. 3 GG. Im Rahmen von Interessenabwägung<br />

und Untermaßverbot muss die bestehende staatliche Handlungsverpflichtung<br />

deshalb nicht nur gegenüber deutschen Staatsangehörigen<br />

und auf deutschem Territorium lebenden Bürgern, sondern auch gegenüber<br />

nicht ansässigen Ausländern einbezogen werden. Nur so ist ein einheitlicher<br />

Mindestschutzstandard sichergestellt, der das Vorliegen eines effektiven,<br />

praktisch wirksamen Schutzkonzeptes einfordert. Hierbei muss auf ein<br />

hypothetisches Individualrechtsgut im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG abgestellt<br />

werden, welches neben den Gemeinwohlbelangen von § 7 Abs.1 AWG<br />

bzw. Art. 8 Dual-use-VO steht. Das Prüfungsschema der multipolaren Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

ist auf diesem Wege auch für Exportkontrollen<br />

anwendbar.<br />

ee) Verhältnismäßigkeitsprüfung der einschlägigen Genehmigungserfordernisse<br />

Zunächst muss eine Abgrenzung der Prüfung der Eingriffe durch Genehmigungspflicht<br />

und Entscheidung selbst erfolgen. Vorliegend soll es um die<br />

Rechtmäßigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit der Genehmigungspflichten gehen.<br />

Eine generelle Differenzierung zwischen den Genehmigungspflichten<br />

nach der Dual-use-VO und der AWV muss nicht vorgenommen werden.<br />

Fragen der Listung und konkrete Verwendungsbezüge werden bei der Güterabwägung<br />

noch einmal anzusprechen sein. Der Vorsorgeanlass bzw. eine<br />

Besorgnis im Sinne der Risikoprävention dürfte unstreitig gegeben sein, da<br />

die unkontrollierte Ausfuhr von Waren und Technologien aller Art zu einem<br />

unbeschränkten Zugang interessierter Staaten und Gruppen an waffenrelevantes<br />

Material, an Maschinen oder Know How zur Herstellung bestimmter<br />

Waffen befähigt, mit entsprechenden Wirkungen auf das weltweite Gewaltpotenzial.<br />

Eine erhöhte Bedrohungslage für die Zivilgesellschaft und Individuen<br />

wäre zwangsläufig gegeben. Im Rahmen der Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />

muss, unter Berücksichtigung der einschlägigen Grundrechtspositionen<br />

der Außenwirtschaftsfreiheit auf der einen sowie der Individualbelange<br />

des Art. 2 Abs. 2 GG und der sicherheitsorientierten Gemeinwohlbelange<br />

auf der anderen Seite, geprüft werden, ob die existierenden Genehmigungspflichten<br />

verhältnismäßig bzw. alternative Schutzkonzepte angemessen erscheinen.<br />

294


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

(1) Mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis<br />

<strong>Die</strong> im Zusammenhang mit grundrechtlichen Schutzpflichten erfolgte Anerkennung<br />

mehrpoliger Verfassungsverhältnisse erfordert eine Prüfung nicht<br />

nur des abwehrrechtlichen Übermaßverbotes, sondern auch des schutzrechtlichen<br />

Untermaßverbotes. Es wurde festgestellt, dass eine angemessene Verantwortungszuweisung<br />

bei der Risikoprävention unter Berücksichtigung aller<br />

beteiligten Rechtspositionen und der Gemeinwohlbelange vor allem dadurch<br />

gewährleistet werden kann, dass im Rahmen der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

eine angemessene Gewichtung und wechselseitige<br />

Optimierung der Belange stattfindet und insoweit auch für Exportkontrollen<br />

die Einhaltung des verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards zur Erfüllung<br />

des Normzwecks gerichtlich übergeprüft werden kann.<br />

Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis bezieht sich bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

auf den staatlichen Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit<br />

des Betroffenen durch die Genehmigungspflicht sowie auf den<br />

grundrechtlichen Schutzanspruch des Bürgers, der durch die Ausfuhr sensitiver<br />

Dual-use-Güter in seinem Leben oder in seiner körperlichen Unversehrtheit<br />

gem. Art. 2 Abs. 2 GG bedroht sein könnte. Hinzu treten die Gemeinwohlbelange<br />

in Form der Sicherheitsinteressen des Staates und auswärtiger<br />

Belange. <strong>Die</strong> so kollidierenden Verfassungspositionen müssen in einer<br />

mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung gegeneinander abgewogen werden.<br />

So könnte zunächst geprüft werden, ob die verfassungsrechtlich angestrebte<br />

Herstellung praktischer Konkordanz zwischen diesen Rechtspositionen<br />

bei den bestehenden Genehmigungspflichten gewährleistet werden<br />

kann. Sich daraus ergebende Erwägungen müssen auch bei der administrativen<br />

Umsetzung berücksichtigt werden.<br />

Im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle der Genehmigungspflichten ist die<br />

Reichweite legislativen Ermessens und somit der Vertretbarkeitsmaßstab<br />

einzubeziehen1026 . <strong>Die</strong> Überprüfung der Genehmigungspflichten beschränkt<br />

sich auf das Vorliegen eines Schutzkonzeptes, die Eignung und Erforderlichkeit<br />

der danach vorgesehenen Maßnahmen (1. und 2.Stufe der Verhältnismäßigkeit)<br />

sowie eine Prüfung der Angemessenheit respektive Zumutbarkeit<br />

im Rahmen einer Interessenabwägung (3. Stufe der Verhältnismäßigkeit)<br />

1027 . Dabei sind die möglichen Handlungsalternativen zu bewerten.<br />

Damit der Eingriff die angestrebte optimale Wirkung erzielen kann, wird<br />

zunächst die Bedeutung bzw. Wertigkeit der abzuwägenden Belange ermit-<br />

1026 Siehe Teil 3 IV.3.a)<br />

1027 Calliess (FN 288), S. 460, dazu ausführlich Teil 3 IV.<br />

295


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

telt und dann eine Gewichtung vorgenommen. <strong>Die</strong> Mittelbarkeit der Handlung<br />

des Betroffenen für das Risiko erhöht die Anforderungen an einen Eingriff<br />

1028 .<br />

(2) Genehmigungserfordernis als geeignetes Schutzkonzept<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht ist ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt,<br />

das die Außenwirtschaftsfreiheit beschränkt. <strong>Die</strong>se ist von vornherein nicht<br />

uneingeschränkt gewährleistet. Vielmehr sind gem. § 1 Abs. 1 S. 2 AWG<br />

Beschränkungen explizit zulässig. Sie sind auch verfassungsgemäß, wenn<br />

sie zugunsten eines oder mehrerer gegenläufiger Verfassungsgüter erfolgen<br />

1029 . <strong>Die</strong> Beschränkung der Ausfuhr von Dual-use-Gütern, die für die<br />

Herstellung von Massenvernichtungswaffen, Trägertechnologie und konventionellen<br />

Waffen relevant sind, wird mit sicherheits- und außenpolitischen<br />

Gründen gerechtfertigt. Hinter den sicherheitsorientierten staatlichen<br />

Schutzinteressen steht die physische Sicherheit der Bürger, konkretisiert<br />

durch die grundrechtliche Schutzdimension des Art. 2 Abs. 2 GG. Er stellt<br />

ein gewichtiges Verfassungsgut dar, das für die Entfaltung der Menschenwürde<br />

sowie aller anderen Grundrechte unabdingbar und daher in besonderer<br />

Weise zu schützen ist. Genehmigungspflichten erscheinen als präventive<br />

Kontrollmaßnahme zur Verhinderung von missbrauchsrelevanten Lieferungen<br />

i.Z.m. der Waffenherstellung geeignet, einen Beitrag zum Schutz der betroffenen<br />

Rechtsgüter des vom staatlichen Eingriff Begünstigten zu leisten.<br />

Letztlich ist das Schutzkonzept der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflicht<br />

auch geeignet, im Rahmen des Übermaßverbotes in die Belange<br />

des betroffenen Ausführers einzugreifen.<br />

(3) Erforderlichkeit des Schutzkonzeptes - Alternativenprüfung und<br />

Entscheidungskorridor<br />

Bedenken könnten hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Genehmigungspflicht<br />

bestehen. Als milderes Mittel käme aus freiheitlicher Sicht eine Reihe<br />

von Alternativen in Betracht. Neben einer Selbstregulierung der Unternehmen<br />

könnten z.B. monetäre Fehlanreize, Meldepflichten bzw. Anzeigepflichten,<br />

flankiert mit strafrechtlichen Sanktionen oder gar einem Vetorecht<br />

der Behörde in Frage kommen. Auch weiter gehende Ausnahmen von den<br />

Genehmigungspflichten, als sie bisher in § 19 AWV geregelt sind, erscheinen<br />

denkbar. Aus schutzrechtlicher Sicht muss nach dem Untermaßverbot<br />

1028 Zum gesamten Komplex siehe Teil 3 IV.2.c)cc) mit grundlegenden Ausführungen<br />

von Calliess (FN 288), 592 ff.<br />

1029 Siehe dazu Hohmann (FN 89), S. 6.<br />

296


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

geprüft werden, ob es effektivere, aber gleichsam milde Eingriffsalternativen<br />

des Staates gibt.<br />

Zur Möglichkeit der Selbstregulierung ließe sich sagen, dass es ohnehin zu<br />

den allgemeinen ethischen Standards der Wirtschaftsunternehmen gehört,<br />

dass sie die Verantwortung hinsichtlich der Risiken und Folgen ihrer Unternehmungen<br />

tragen. Sie sind auf Grund der Wahrnehmung ihrer unternehmerischen<br />

Freiheit verantwortlich und dürfen von ihr nur beschränkt Gebrauch<br />

machen. Erforderlichkeit bedeutet aber auch, dass das mildere Mittel der<br />

Selbstregulierung gleichsam geeignet bzw. wirksam sein muss wie die Genehmigungspflichten.<br />

Da die Unternehmerfreiheit keinesfalls das Recht gibt,<br />

sich bei seiner Tätigkeit über die Rechte seiner Mitbürger auf Leben oder<br />

Gesundheit oder Allgemeinbelange hinwegzusetzen, kann einer reinen<br />

Selbstregulierung durch Selbstverantwortung nicht schlechthin Vorrang zukommen<br />

1030 . Der Schutz der gegenläufigen Verfassungsgüter erscheint gerade<br />

beim hoch gewichteten Gut der physischen Sicherheit wegen der regelmäßig<br />

ambivalenten Eigenverantwortlichkeit des Unternehmers kaum geeignet.<br />

<strong>Die</strong>ser muss seine Wettbewerbsinteressen verfolgen. Ebenso scheint<br />

es wegen oftmals komplexer Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen<br />

im Unternehmen gewagt, auf eine funktionierende Selbstregulierung zu<br />

setzen. Monetäre Interessen könnten im Einzelfall zu dominant werden.<br />

Würde die Selbstregulierung dagegen als Rechtspflicht formuliert, findet<br />

wegen der notwendigen Sanktionen gegen den erfolglosen Unternehmer<br />

wiederum ein Eingriff in Art. 12 bzw. 14 GG statt, so dass man nicht mehr<br />

von einem milderen Mittel sprechen könnte. Daher kann die Selbstregulierung<br />

kaum als milderes, gleich wirksames Mittel zur staatlichen Genehmigungspflicht<br />

bezeichnet werden.<br />

Ebenso könnten monetäre Mechanismen wie Sonderzölle vorzugswürdig<br />

sein. Doch sie wären gleichsam nicht geeignet, die Schutzziele der Exportkontrollen<br />

durchzusetzen. <strong>Die</strong>se könnten in die Gewinnorientierung des Unternehmers<br />

einkalkuliert werden und wären dann kaum noch effizient. Hinsichtlich<br />

der ebenfalls vorgeschlagenen Melde- und Anzeigeverfahren unter<br />

Flankierung mit strafrechtlichen Bestimmungen und gut ausgestatteten<br />

Strafverfolgungsbehörden1031 sowie einem Vetorecht der Behörde, wie es<br />

jüngst bei der Kontrolle der Veräußerung von Anteilen an Rüstungsunternehmen<br />

eingeführt wurde1032 , bestehen ebenfalls Bedenken. Aus sicherheits-<br />

1030 BVerfGE 47, 327, 368 ff..<br />

1031 Mit ausführlichen Literaturhinweisen zur Problematik der Verhaltenssteuerung<br />

durch den Staat: v. Bogdandy (Fn 4), S. 96 ff.<br />

1032 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 156 ff.<br />

297


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

politischer Sicht dürften diese kaum ausreichen. Es gibt nicht zuletzt aufgrund<br />

der drohenden Verfahrensmasse empirische Zweifel an der Effizienz<br />

der Ausfuhrkontrollen. Schon heute ist die Anzahl der Genehmigungsverfahren<br />

hoch1033 . Bei Meldeverfahren würde die Bürokratie keinesfalls entlastet.<br />

Aus Sicht des Betroffenen droht eher mehr Rechtsunsicherheit, da durch<br />

Unklarheiten über die Reichweite der Informationspflichten und die dann<br />

wiederum möglichen Vetomaßnahmen noch größere Verfahrenshürden drohen.<br />

<strong>Die</strong> Hemmung des Fristenlaufes und die mögliche Anforderung weiterer<br />

Nachweise und Unterlagen beim Betroffenen für die Sachbewertung wären<br />

kein milderes Mittel. Würde das Verfahren weniger strikt angewendet,<br />

bestünde die Gefahr einer unangemessenen Vernachlässigung der Schutzpflichten,<br />

was die Einhaltung des Untermaßverbotes in Frage stellte.<br />

Als weitere Alternative könnten stringentere Ausnahmen bzw. Befreiungen<br />

von den heutigen Genehmigungspflichten als die bisherigen Regelungen des<br />

§ 19 AWV angeführt werden1034 . <strong>Die</strong>s könnte z.B. über Zertifizierungen bestimmter<br />

Lieferziele, Ausführer oder auch mengen- oder wertmäßige Begrenzungen<br />

bzw. „de minimis“-Ansätze erfolgen. Solche Ausnahmeregelungen<br />

bestehen bisher bei den rein nationalen Vorschriften der §§ 5 ff. AWV,<br />

regelmäßig mit Wertgrenzen von 2500 Euro1035 . Vergleichbare Effekte werden<br />

auch über die Instrumente der Allgemeingenehmigung erzielt, die mit<br />

eben diesen Kriterien Verfahrenserleichterungen vorsehen. Das führt faktisch<br />

zu Anzeigepflichten über die Art und Menge der Ausfuhren in die betroffenen<br />

Gebiete. <strong>Die</strong> Behörde ist auf Informationen zur Quantität der in<br />

Anspruch genommenen Genehmigungen beschränkt1036 . Voraussetzung dafür<br />

ist die Zuverlässigkeit des Ausführers.<br />

Es könnte durchaus noch einmal näher untersucht werden, inwieweit die bestehenden<br />

Instrumentarien zur Modifikation der Genehmigungspflichten<br />

bzw. der Genehmigungsverfahren ihre Möglichkeiten für bestimmte Einzelfallgruppen<br />

ausschöpfen. Ihre verhältnismäßige Ausgestaltung müsste anhand<br />

der Einzelfallpraxis unter Prüfung der Rechtmäßigkeit der Genehmigungsentscheidungen<br />

selbst festgestellt werden, wenn auch mit Blick auf<br />

bestimmte Fallgruppen. <strong>Die</strong>s bedarf aber empirischer Untersuchungen und<br />

Abwägungen, die den Rahmen dieser Untersuchung verlassen1037 . Der sys-<br />

1033 Ebenda, G. Rn 84 ff.<br />

1034 Ebenda, F. Rn 95 ff.<br />

1035 Vgl. Teil 2 II.6.<br />

1036 Vgl. zur Regulierung von Exportrisiken: Karpenstein (FN 41), S. 232 ff.<br />

1037 So wird die weitere Prüfung von de minimis- und unreasonable risk-Ansätzen auch<br />

behördenseits für notwendig erachtet: vgl. Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/<br />

Lechleitner, (Fn 128) S. 77, S. 98 ff.<br />

298


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

tematische Ansatz bestehender Genehmigungspflichten und Modifikationen<br />

erscheint in der Gesamtschau als mildestes wirksames bzw. erforderliches<br />

Mittel des Eingriffs im Sinne des Übermaßverbotes.<br />

Abschließend sei auch das Untermaßverbot erwähnt. Hier könnte die Möglichkeit<br />

von Verboten in Betracht gezogen werden. Da diese aber in viel<br />

stärkerem Maße in die Außenwirtschaftsfreiheit eingreifen, wäre das nur<br />

denkbar, wenn die Genehmigungspflichten nicht den staatlichen Schutzpflichten<br />

genügen. Hierfür gibt es aber keine Anhaltspunkte, schon gar nicht<br />

im Sinne der Vertretbarkeitskontrolle des BVerfG.<br />

Bei Vorliegen einer Gefährdungslage erscheinen präventive Kontrollen<br />

durch Genehmigungsvorbehalte also durchaus erforderlich, um die Verbreitung<br />

von Dual-use-Gütern, die zur Entwicklung, Herstellung oder Verwendung<br />

missbrauchsrelevanter Güter bzw. Waffen dienen, angemessen unterbinden<br />

zu können. <strong>Die</strong> Unterscheidung zwischen ungelisteten und gelisteten<br />

Gütern erscheint bei dieser Wertung nicht geboten. Sie alle bedürfen im<br />

Rahmen des Vorsorgeansatzes einer effektiven Kontrolle zugunsten politischer<br />

Wertungen im Einzelfall, für die der Staat die Alleinverantwortung<br />

trägt. <strong>Die</strong> Differenzierung der jeweiligen Missbrauchsrelevanz bestimmter<br />

Güter und Liefermengen wird aber dann bei der entsprechenden Einzelfallentscheidung<br />

in Betracht zu ziehen sein. <strong>Die</strong> Genehmigungspflichten selbst<br />

liegen innerhalb des zulässigen Rahmens der gesetzgeberischen Beschränkung<br />

der Außenwirtschaftsfreiheit1038 . <strong>Die</strong>s gilt für das Übermaßverbot wie<br />

auch das Untermaßverbot.<br />

(4) Interessenabwägung und zumutbarer Eingriff<br />

Genehmigungspflichten müssen angemessen und zumutbar sein. <strong>Die</strong>s ist<br />

nach der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst dann der Fall,<br />

wenn das betroffene Schutzgut bzw. die Gemeinwohlbelange grundsätzlich<br />

höher als die Außenwirtschaftsfreiheit zu gewichten sind. Nur wenn ein<br />

Abwägungspatt vorliegt, also eine Gleichgewichtung der Belange erfolgt,<br />

bedarf es im weiteren Verfahren ihrer Optimierung. Dabei sollen Alternativen,<br />

die für den Normzweck gleichermaßen geeignet und erforderlich erscheinen,<br />

noch einmal nach ihrer für alle Beteiligten optimalen Wirkung geprüft<br />

werden können1039 .<br />

1038 So im Ergebnis auch Sauer, in: Hohmann /John (FN 26), § 7 AWG Rn 6, vgl. auch<br />

BVerfGE, NJW 1995, S. 1337 ff.<br />

1039 Vgl. Teil 3 IV.2.c)bb)<br />

299


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

Das multipolare Prüfungsschema entfaltet hier seinen Mehrwert. Es ermöglicht<br />

wie in anderen Vorsorgebereichen, wie z.B. dem Umwelt- und Technikrecht,<br />

planungsähnliche Entscheidungen und Alternativenabwägungen. Dazu<br />

gehört die Kooperation von Behörden und Unternehmen sowie auch<br />

Drittbetroffenen1040 . Bei einzig auf Lieferung bzw. Ausfuhr gerichteten Exportkontrollen<br />

kommt dieser Mehrwert nur bedingt zum Tragen. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht<br />

ist einzig geeignete und erforderliche Eingriffsalternative.<br />

Sie ist allenfalls im Rahmen der näheren, einzelfallbezogenen Ausgestaltung<br />

von Kriterien, Befreiungen und Verfahrenserleichterungen variabel.<br />

Auch die im Rahmen der Genehmigungsentscheidung selbst denkbaren Modifikationen,<br />

z.B. i.V.m. Sicherungsmaßnahmen, die u.a. in Form von Auflagen<br />

oder Nebenbestimmungen denkbar sind, haben keinen Einfluss auf die<br />

Frage der verfassungsmäßigen Bewertung der Genehmigungspflichten. Sie<br />

geben lediglich den legislativen Rahmen für die Einzelfallentscheidung vor.<br />

Mangels Alternativen entscheidet demnach die Rechtsgüterabwägung über<br />

die Zumutbarkeit der Maßnahme. Steht der Eingriffserfolg nicht außer Verhältnis<br />

zum Mittel, ist er zumutbar.<br />

Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung kommt es letztlich, wie bei der<br />

klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung auch, auf die gewichtende Wertung<br />

der Außenwirtschaftsfreiheit, das dahinter stehende volkswirtschaftliche Interesse<br />

sowie die Risikonähe der Ausfuhr i.V.m. Sicherheitsinteressen und<br />

potenziell gefährdeten Individuen an. Auf Seiten des Ausführers müssen unternehmerische<br />

Interessen eingestellt werden. Dazu gehören z.B. Umsatzund<br />

Gewinneinbußen, Beschäftigungswirkungen, eine mögliche Insolvenzgefahr,<br />

Innovationsinteressen und Marktpräsenz im Wettbewerb. Ebenfalls<br />

eine Rolle spielen die volkswirtschaftlichen Gemeinwohlinteressen des<br />

Staates, die gerade bei einer Exportnation wie Deutschland bestehen.<br />

Schließlich haben Ausfuhren und damit einhergehende Exporterfolge auch<br />

eine gewisse volkswirtschaftliche Relevanz. Sie tragen z.B. maßgeblich zu<br />

Beschäftigung und Steuereinnahmen bei. <strong>Die</strong>s wurde mit § 3 Abs. 1 S. 2<br />

AWG sogar explizit herausgestellt, da bei Feststellung eines solchen Belanges<br />

auch die erhebliche Rechtsgutsgefährdung i.S.v. § 7 Abs. 1 AWG zurückgestellt<br />

werden kann1041 . Wegen der erörterten Abwägungsdogmatik<br />

kann diese Regelung aber allenfalls deklaratorisch verstanden werden, da<br />

dieser Anknüpfungspunkt auch im Rahmen der Wertung der „Gefährdungsintensität“<br />

des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG und dort erforderlicher Abwägung im<br />

1040 Zur legislativen Ausgestaltung und administrativen Umsetzung des Optionenermessens<br />

der Behörde vgl. Calliess (FN 288), S. 597 ff.<br />

1041 Vgl. Teil 1 II.5.b)aa)<br />

300


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden muss. Auf<br />

Seiten der geschützten Belange stehen Art. 2 Abs. 2 GG zugunsten des<br />

hypothetisch von einem Waffeneinsatz betroffenen Individuums sowie die<br />

Sicherheit des Staates. <strong>Die</strong> i.V.m. der Risikovorsorge angestrebte Optimierung<br />

der betroffenen Belange muss vor allem anhand der Einzelfallabwägung<br />

erfolgen. Das Genehmigungsverfahren selbst ist hierfür das geeignetere<br />

Instrument, als abstrakte gesetzliche Vorgaben.<br />

Ein Überwiegen der Außenwirtschaftsfreiheit muss wegen der o.g. Gewichtung<br />

des Schutzgutes i.S.v. Art. 2 Abs. 2 GG verneint werden. Demnach wären<br />

Eingriffe in die über die grundrechtliche Abwehrdimension verbürgte<br />

Freiheit potenzieller „Störer“ mit dem Schutzargument leicht zu rechtfertigen.<br />

Ein Abwägungsspielraum für rechtmäßige Maßnahmen des Staates bestünde<br />

dann nicht, so dass die Interessenabwägung selbst schon entfallen<br />

könnte. Es muss aber berücksichtigt werden, dass es bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />

eher selten um eine konkrete Gefahr für die physische Sicherheit<br />

Dritter geht. Vielmehr erhöhen die Ausfuhren der Dual-use-Güter regelmäßig<br />

zunächst nur die Möglichkeit eines Missbrauchs sensitiver Güter und<br />

Technologien. Folgen für die körperliche Unversehrtheit und das Leben von<br />

Menschen ergeben sich erst durch einen Missbrauch der hergestellten Waffen.<br />

Der damit verbundene hypothetische Geschehensablauf beruht auf vielen<br />

Ungewissheiten. Das spricht für die Zuordnung der Exportkontrollen in<br />

den Bereich der Risikovorsorge. <strong>Die</strong> Genehmigungspflichten dienen der<br />

physischen Sicherheit eher mittelbar. Sie scheinen von der konkreten Konfliktsituation<br />

zwischen Sicherheit und Freiheit so weit entfernt, dass sie der<br />

bloßen Gemeinwohlqualität nahe kommen und sich der Abwägungsspielraum<br />

des Staates im Rahmen der Ausgestaltung und Handhabung von Exportkontrollen<br />

erheblich erweitern muss. <strong>Die</strong> Anforderungen an eine Rechtfertigung<br />

des Eingriffs sind umso höher, je mittelbarer das Schutzgut betroffen<br />

ist1042 . Eine Übergewichtung der Außenwirtschaftsfreiheit ist durchaus<br />

möglich, wenn das Bedrohungsszenario, wie bei der Ausfuhr von Dual-use-<br />

Gütern üblich, sehr hypothetisch und vage ist.<br />

Allerdings muss eine Differenzierung der Risikointensität stattfinden, die<br />

sich nach dem möglichen Waffenmissbrauch richtet. <strong>Die</strong>s ist nicht abstraktgenerell<br />

im Genehmigungstatbestand möglich, sondern muss im Einzelfall<br />

bewertet werden. Auf die Elemente des Risikobezugs, also der Erkenntnisdefizite<br />

bei Dual-use-Güter-Kontrollen wurde bereits eingegangen. Dabei<br />

ganz maßgeblich sind neben der technischen Eignung vor allem Endverbleib<br />

1042 Siehe Teil 3 IV.2.c)cc)<br />

301


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

und Endverwendung der gelieferten Ware oder Technologie1043 . Bezogen auf<br />

den konkret denkbaren Missbrauch wären z.B. nicht quantifizierbare Bedrohungen,<br />

bei denen es um Gesellschaftsgruppen, ganze Regionen oder gar<br />

Staaten geht, wie das z.B. durch Massenvernichtungswaffen möglich ist,<br />

und die Bedrohung allenfalls einzelner Rechtsgutträger, z.B. durch Schusswaffen,<br />

zu unterscheiden. Auch kommt es auf die Bewertung des Adressaten<br />

und dessen möglicher Absichten an. So ist der Gebrauch durch staatliche<br />

Behörden u.U. weniger sensitiv zu bewerten als die Gefahr der Unterstützung<br />

krimineller oder terroristischer Handlungen. Bei der Interessengewichtung<br />

im Einzelfall sind aber nicht nur schützenswerte Individuen bzw. Bürger<br />

und das staatliche Sicherheitsinteresse, sondern auch das staatliche Gemeinwohlinteresse<br />

an der Freiheitsausübung einzubeziehen.<br />

Der Gesetzgeber deutet explizit an, dass er nicht jede Rechtsgütergefährdung<br />

zur Grundlage einer Genehmigungspflicht machen will. Nach § 3<br />

AWG führt nur eine über die Wesentlichkeitsschwelle hinausgehende Gefährdung<br />

zu Eingriffsermächtigungen. Nach § 7 AWG müssen die wesentlichen<br />

Sicherheitsinteressen des Staates berührt, die auswärtigen Belange erheblich<br />

betroffen sein. Auf diese Weise wird die Bedeutung der verhältnismäßigen<br />

Ausgestaltung der Genehmigungspflichten hervorgehoben, so dass<br />

nicht jeder Bagatellfall zur Freiheitsbeschränkung führen darf bzw. nicht jedes<br />

auch nur mittelbare staatliche Interesse an der Vermeidung von Risiken<br />

dazu ermächtigen soll. Der Grundsatz gilt auch in der Gemeinschaftsordnung1044<br />

, ohne dass dies in der Dual-use-VO explizit erwähnt wäre.<br />

Wenngleich damit nicht fallspezifisch festgelegt wird, wann diese Erheblichkeit<br />

bzw. Wesentlichkeit gegeben sein soll, müssen diese gesetzgeberischen<br />

Vorgaben in geeigneter Form umgesetzt werden. <strong>Die</strong>s ist beispielsweise<br />

mit den schon erwähnten Wertgrenzen nationaler Genehmigungspflichten<br />

und Allgemeingenehmigungen geschehen, muss aber ebenfalls im<br />

Einzelfall berücksichtigt werden, z.B. bei Ausfuhren, die den Wertgrenzen<br />

nahe liegen oder mit Sachverhalten i.S.v. Ausnahmeregelungen vergleichbar<br />

sind. Trotz der Betroffenheit der physischen Sicherheit der Bürger muss daher<br />

eine Abwägung der kollidierenden Verfassungsgüter erfolgen. Falls im<br />

Einzelfall keiner der betroffenen Belange vorzugswürdig erscheint, ist es allein<br />

Sache der Kontrollbehörde, die konkret betroffenen Interessen bei der<br />

Zumutbarkeit zu bewerten.<br />

Um eine angemessene Verteilung der Risikoverantwortung sicherzustellen,<br />

können die Möglichkeiten einer verfahrenstechnischen Differenzierung des<br />

1043 Zu den Elementen der Risikoprognose vgl. Teil 3 V.2.a)ff)<br />

1044 Vgl. Teil 1 III.3.a)<br />

302


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

Präventivschutzes bemüht werden. So kann die Genehmigungserteilung z.B.<br />

durch anerkannte Verwaltungsinstrumente, wie die schon erwähnten Auflagen<br />

und Nebenbestimmungen modifiziert werden. Gleichzeitig wird mit der<br />

nach § 3 Abs. 2 AWG und Art. 8 Dual-use-VO eingestellte Zuverlässigkeitsprüfung<br />

ein Mindestmaß an Risikoverantwortung des Ausführers festgelegt<br />

werden, was zugunsten des Untermaßverbotes gegenüber den betroffenen<br />

Dritten wirkt. So wird im Rahmen der Genehmigungspflichten eine angemessene<br />

Interessenverteilung ermöglicht 1045 . Das Bestehen der Genehmigungspflichten<br />

als solche erscheint nach den genannten Aspekten zumutbar.<br />

Damit kommt es auf die Frage der gerichtlichen Prüfungstiefe in Form der<br />

Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle nicht mehr an.<br />

(5) Typisierungen des zumutbaren Eingriffs<br />

Der angemessene Ausgleich zwischen den Schutzpflichten des Staates und<br />

den Abwehrrechten der Betroffenen im Sinne des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses<br />

muss im Rahmen der administrativen Entscheidung erfolgen.<br />

Dazu gehören objektive (technische Eignung) und subjektive Maßstäbe<br />

(Verwendung und politisches Umfeld), aber auch die konkreten politischen<br />

Verpflichtungen der Bundesregierung. Soweit Letztere unverhältnismäßig<br />

aus Sicht der Freiheitsbelange erscheinen, könnte die Bundesrepublik<br />

Deutschland auch verpflichtet werden, auf eine Änderung internationaler<br />

Vereinbarungen hinzuwirken, wie dies z.B. bei Listenfragen der Fall sein<br />

könnte1046 .<br />

Der administrative Entscheidungsspielraum wird durch typisierende Vorgaben,<br />

objektive Kriterien und Regeln beschränkt. Darauf wurde i.Z.m. den<br />

Risikovorsorgestrukturen, aber auch i.V.m. der Rechtmäßigkeit unbestimmter<br />

Rechtsbegriffe und Ermessensspielräume bereits hingewiesen. Solche<br />

Verwaltungsvorschriften mit einem normkonkretisierenden Charakter gibt es<br />

auch bei Exportkontrollen1047 . Sie gewährleisten eine ausgewogene Risikoverteilung.<br />

Bestimmtheitsdefizite, die angemessene Beweislastverteilung<br />

und Verhältnismäßigkeitskontrolle werden letztlich bei der Anwendung dieser<br />

Vorschriften zusammengeführt. Nur die Einhaltung dieses Rahmens ist<br />

der gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Bei der Typisierung in Form von<br />

normkonkretisierenden Vorgaben müssen Risikodimension und Vorsorgeanlass<br />

bestimmter Fallgruppen in Rechnung gestellt werden. Dabei wird auf<br />

1045 S.a. Teil 3 IV.2c)cc), inbes. FN 807<br />

1046 zu den Prognoseelementen vgl. Teil 3 V.2.a)g); zu diesen Genehmigungsaspekten<br />

eingehend: Karpenstein (FN 41), S. 237 f.<br />

1047 Vgl. Teil 3 V.2.b)<br />

303


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

das konkrete Liefergut und dessen Verwendungsmöglichkeiten abgestellt.<br />

Auch hier kann nach den Bezügen zu Massenvernichtungswaffen und konventionellen<br />

Gütern unterschieden werden. Erstere führen regelmäßig zu<br />

weniger hinnehmbaren Risiken. Je weniger nahe liegend oder nützlich die<br />

Ausfuhr für die in Rede stehende missbräuchliche Verwendung ist bzw. je<br />

mehr unüblich, fern liegender oder unvernünftig ein solcher Missbrauch erscheint,<br />

desto eher sollten Genehmigungen erteilt werden. Bei gelisteten Gütern<br />

scheint die Ablehnung aber eher geboten, als bei an sich nicht sensitiven<br />

gelisteten Gütern. <strong>Die</strong>se Differenzierung führt vor allem bei der Beweislast<br />

zu Abweichungen. <strong>Die</strong>ses Ergebnis deckt sich mit einer Höhergewichtung<br />

des abstrakten Gefährdungsgrades und der der Risikonähe gelisteter Güter<br />

im Rahmen der Interessenabwägung. Hinzu kommen aber auch andere<br />

Komponenten, die Hinweise auf die konkret geplante Verwendung des Liefergutes<br />

geben. <strong>Die</strong> vorhandenen Richtlinien und Typisierungen müssen<br />

auch die internationalen Entwicklungen berücksichtigen. Das gilt sowohl bei<br />

der Technik als auch bei der Handelspolitik. Hierzu gehört z.B. die Frage, ob<br />

konkrete Waren im Empfängerland oder anderweitig erhältlich sind, eventuell<br />

sogar als so genannte Massenware. Entsprechende Kriterien für eine „kritische“<br />

Wahrscheinlichkeit werden durch die schon erwähnten Grundsätze<br />

und Erlasse nur bedingt angeboten. So erscheint die Erlasslage bei bestehenden<br />

Genehmigungspflichten durchaus noch fortentwicklungsfähig. <strong>Die</strong>s<br />

wurde auch bei der Erforderlichkeit von Eingriffen i.Z.m. Risiken minderer<br />

Bedeutung wie z.B. de minimis-Risiken schon angedeutet1048 .<br />

Eine fortdauernde Entwicklung und Anpassung bestehender Typisierungen<br />

wird nicht nur dem Ziel der effektiven Risikoprävention gerecht. Glaubwürdige<br />

und verbindliche Typisierungen führen auch zu mehr Rechtssicherheit<br />

im Sinne der verfassungskonformen Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />

und mit Blick auf die verfahrenstechnisch auf kooperative Risikominimierung<br />

angelegten Exportkontrollen letztlich auch zu mehr Vertrauen der<br />

Ausführer in das staatliche Handeln. Das kann die Effizienz der Kontrollen<br />

insgesamt steigern helfen. Gerade wegen des behördlichen Entscheidungsspielraums<br />

besteht ein erhebliches Interesse an Offenlegung der Prozesse.<br />

Auch die Exportkontrollen müssen die für risikopräventive Maßnahmen<br />

notwendige Akzeptanz durch die Öffentlichkeit und alle Beteiligten soweit<br />

wie möglich fördern1049 . Zur auch in den Exportkontrollen geforderten Ver-<br />

1048 Vgl. Ladeur (FN 641), S. 146 und Simonsen (FN 1037); s.a.Teil 1 II.5.f)cc)<br />

1049 Zum Transparenzgebot vgl. Teil 3 V.2.c)aa); so sieht Karpenstein (FN 41), S. 243<br />

wegen der ungenügenden Ausgestaltung der politischen Grundsätze und vieler nur<br />

interner Behördenerlasse einen Verstoß gegen die OSZE-Verpflichtung transparenter<br />

Vorgaben<br />

304


II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />

fahrensrationalisierung gehören nicht nur die Kooperation mit den Unternehmen,<br />

sondern auch Transparenz und konstruktive Kommunikation mit<br />

allen Beteiligten. Durch die Möglichkeit des Rückgriffs auf möglichst ausdifferenzierte<br />

Kriterien oder Richtlinien stehen den Exportkontrollbehörden<br />

damit auch eine Entscheidungshilfe und Grundlage für die Selbstkontrolle<br />

der Verwaltung zur Verfügung. Eine angemessene Berücksichtigung aller<br />

kollidierenden Interessen wird so erheblich erleichtert. Andererseits findet<br />

diese Ausdifferenzierung in der notwendigen Anpassungsfähigkeit auf veränderte<br />

politische Entwicklungen ihre Grenzen.<br />

Eine konkrete Bewertung der bestehenden Richtlinien muss sich an der<br />

Rechtmäßigkeit im Einzelfall orientieren. Eine innerhalb der geforderten<br />

Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Zumutbarkeitsschwellen<br />

erfolgende Einzelfallbewertung bewegt sich aber im Rahmen der Zweckmäßigkeitskontrolle<br />

dieser Richtlinien, zu der die Gerichte nicht befugt sind.<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Abwägung zwischen Außenwirtschaftsfreiheit<br />

und den Schutzpflichten des Staates im Bereich der<br />

<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten abstrakt nicht möglich erscheint. Es muss<br />

daher im konkreten Einzelfall versucht werden, einen angemessenen Ausgleich<br />

zu finden, um allen Rechtsgütern optimale Wirkung zu verschaffen.<br />

(6) Zwischenergebnis<br />

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Sicherheit<br />

der Bundesrepublik können einen Eingriff in die hinter der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

stehenden Grundrechte des Art. 12 bzw. 14 GG rechtfertigen.<br />

Dabei handelt es sich um Gemeinwohlgründe im Sinne der Schranken des<br />

Art. 12 und 14 GG. <strong>Die</strong>se sind einem Einzelinteresse aber nicht per se übergeordnet1050<br />

. Sie müssen bei der einzelfallorientierten Prüfung auf der<br />

Grundlage der Genehmigungspflicht einer angemessenen Abwägung und<br />

Risikoverteilung zugeführt werden. Typisierungen und Richtlinien begrenzen<br />

hierbei die administrativen Spielräume. Das Schutzkonzept der Genehmigungspflicht<br />

erscheint dagegen bei Berücksichtigung bestehender Alternativen<br />

als geeignetes, mildestes und damit erforderliches sowie zumutbares<br />

Mittel eines Eingriffs in die Außenwirtschaftsfreiheit. Das Über- wie Untermaßverbot<br />

wird gewahrt.<br />

1050 So aber Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 Rn 6, unter Verweis auf die Begründung<br />

des AWG, s.a. BVerfG in NJW 1995, S. 1537 f. und VG Frankfurt v. 23.9 1999,<br />

Az. 1 E 2005/97, S.14 (nicht veröff.)<br />

305


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

d) Ergebnis<br />

<strong>Die</strong> Genehmigungspflichten der Dual-use-VO und der AWV sind verhältnismäßig,<br />

damit rechtmäßig. Es müsste geprüft werden, ob die bestehenden<br />

Anwendungsrichtlinien und Verfahrenserleichterungen bei der bestehenden<br />

Genehmigungspraxis bestimmte Einzelfallgruppen unangemessen<br />

benachteiligen. Über möglichst umfassende Typisierungen kann die Verhältnismäßigkeit<br />

bestimmter Fallgruppen sichergestellt werden, was eine<br />

Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle ermöglicht, der Normenklarheit<br />

dient und auch die Behörden entlastet. So wird im Sinne effektiven Risikomanagements<br />

die umfassende Prüfung der wirklich sensitiven Fallkonstellationen<br />

gewährleistet1051 .<br />

3. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Auch unter dem Aspekt der Risikoprävention sind die Genehmigungspflichten<br />

nach AWG/AWV und Dual-use-VO verfassungsgemäß. Zweifeln an der<br />

Erfüllung des Bestimmtheitsgebotes wird mit den bestehenden Kooperationsansätzen<br />

und Verfahrensvorschriften der Behörden begegnet. Bei verfassungskonformer<br />

Auslegung des § 7 Abs. 1 AWG im Lichte der Sicherheitszwecke<br />

des § 7 Abs. 2 kommt man auch bei auswärtigen Belangen zu einer<br />

hinreichenden Bestimmung der Reichweite des Eingriffs. Zweifel an Fragen<br />

der Transparenz von Entscheidungsgründen, insbesondere wenn es um Auslandstatsachen<br />

geht, müssen im Einzelfall aufgegriffen werden. Das Spannungsverhältnis<br />

von Offenlegungs- und Geheimhaltungspflichten sollte vor<br />

dem Hintergrund der weit reichenden Eingriffswirkung <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r<br />

Risikoprävention eine Interessenabwägung ermöglichen, die den Belangen<br />

des Ausführers möglichst umfassend genügt. Bei Verfahren und Förderung<br />

der Normenklarheit sowie Rechtssicherheit durch die Anwendungsrichtlinien<br />

besteht zwar noch immer in gewisser Optimierungsbedarf. <strong>Die</strong><br />

<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten erscheinen aber mit Blick<br />

auf die Verhältnismäßigkeit damit verbundener Eingriffe rechtmäßig.<br />

III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei<br />

der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht dient der Prävention abstrakter Risiken und führt<br />

nur nach der konkreten Risikobewertung zu einem endgültigen Eingriff in<br />

die Außenwirtschaftsfreiheit. Nachdem die Verfassungsmäßigkeit der Ge-<br />

1051 Vgl. Forderungen aus der Praxis s.a. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), J. Rn 7<br />

306


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

nehmigungspflichten festgestellt wurde, können die Prüfungskriterien der<br />

Gerichte im Zusammenhang mit risikoorientierten <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />

herausgearbeitet bzw. anhand der schon erörterten Grundsätze<br />

zu Ermessens- und Vorsorgeentscheidungen zusammengefasst werden.<br />

Im Rahmen der Rechtsfolgeprüfung müssen bei der verfassungskonformen<br />

Auslegung der Entscheidung vor allem beide Über- und Untermaßverbot<br />

sowie die Interessenabwägung im Einzelfall berücksichtigt werden.<br />

<strong>Die</strong> angemessene Risikoverteilung muss unter Ausschöpfung der im Rahmen<br />

der Genehmigungsentscheidung verfügbaren Alternativen und unter<br />

Einbeziehung aller verfügbaren Sicherungsmittel und Nebenbestimmungen<br />

geschehen. Nur so wird die mit dem multipolaren Schema beabsichtigte Optimierung<br />

der Belange möglich. Im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung<br />

sind die schon zu den Genehmigungspflichten und Typisierungserwägungen<br />

angeführten Kriterien zur Risikonähe der Ausfuhr, der weltweiten<br />

Zugänglichkeit der Ware oder auch eventuelle risikominimierende Wert- und<br />

Qualitätsmerkmale heranzuziehen. <strong>Die</strong> Anwendungserlasse der Behörde<br />

spielen dafür ebenso wie die Genehmigungspraxis eine wichtige Rolle. Neben<br />

dem ausführerbezogenen Zuverlässigkeitsmerkmal ist die empfängerbezogene<br />

Differenzierung nach den politischen Risiken von wesentlicher Bedeutung.<br />

<strong>Die</strong> politischen Grundsätze der Bundesregierung, der VK-EU und<br />

die internationalen Regimeempfehlungen bieten Anhaltspunkte für die mit<br />

den entsprechenden Sachverhaltsfeststellungen verbundenen Beweislastfragen<br />

und die Risikoverteilung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

ist aber nur zu prüfen, ob Ermessensfehler vorliegen und Willkürverbot sowie<br />

Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt sind. Hierbei müssen aus gemeinschaftsrechtlicher<br />

Sicht evidente Verstöße gegeben sein.<br />

1. Ermessensfehlerlehren und begrenzter Prüfungsrahmen<br />

a) Abgrenzung nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Prüfungstiefe<br />

In Kapitel 2 wurde herausgearbeitet, dass die Exportkontrollbehörde bei der<br />

Genehmigungsversagung i.V.m. dem Prognosecharakter der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

einen gewissen Entscheidungsspielraum hat, der einer nur begrenzten<br />

richterlichen Kontrolle unterliegt. Für das Gemeinschaftsverfahrensrecht<br />

sind die europäischen Verfahrensgrundsätze für die Ausübung des<br />

„Ermessens“ anzuwenden. Es kommt wegen der Zweigleisigkeit des Verfahrensrechts<br />

zu formal unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben bei der Erteilung<br />

von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en im Rahmen von AWG und Dual-use-VO.<br />

307


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

Es wurde aber auch festgestellt, dass der unterschiedliche Verfahrensansatz<br />

zur gerichtlichen Kontrolldichte bei der nationalen Ermessensfehlerlehre<br />

und bei der Evidenzlehre des EuGH im Ergebnis nicht zu unterschiedlichen<br />

Entscheidungen führen dürfte, da sich der Beurteilungsspielraum der Verwaltung<br />

im Sinne des § 3 Abs. 1 AWG ebenso auf die Sachverhaltsfeststellung<br />

und -bewertung erstreckt wie das Ermessen nach EG-Recht. <strong>Die</strong> gerichtliche<br />

Kontrolldichte der Behördenentscheidungen erscheint im Ergebnis<br />

nahezu identisch 1052 . Sie fällt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung dogmatisch<br />

allein aufgrund der Evidenzlehre auseinander, was aber im Rahmen der<br />

Interessenabwägung in beiden Rechtskreisen vergleichbare Wertungen ermöglicht<br />

1053 . <strong>Die</strong>ses Ergebnis drängt sich umso mehr auf, wenn es bei einer<br />

konkreten Rechtsanwendung der jeweils einschlägigen Genehmigungskriterien<br />

letztlich immer auf die Gefahrenprognose ankommt, die bei jeder <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />

zentrales Tatbestandselement ist und erheblich<br />

durch Wertungen geprägt wird 1054 . <strong>Die</strong> inhaltlichen Anforderungen im<br />

nationalen Recht wie auch Gemeinschaftsrecht unterscheiden sich deshalb<br />

nicht. In beiden Fällen muss auf die zur Risikovorsorge entwickelten Prüfungsansätze<br />

der Gerichte zurückgegriffen werden. <strong>Die</strong> damit verbundenen<br />

sicherheitsorientierten Kriterien sind weitestgehend den Mitgliedstaaten<br />

vorbehalten, auch und gerade bei Exportkontrollen nach der Dual-use-VO.<br />

Auf dieser Grundlage ergeben sich bei der Rechtsanwendung - soweit alle<br />

Tatbestandselemente erfüllt sind - praktisch keine relevanten Unterschiede.<br />

Im Folgenden sollen die im Rahmen der Genehmigungsentscheidung relevanten<br />

Prüfungsschritte festgehalten werden, die einer gerichtlichen Kontrolle<br />

nach beiden Rechtskreisen zugänglich sind.<br />

b) Prüfungsschema unter Einbeziehung von Ermessensfehlerlehren<br />

und Vorsorgestrukturen<br />

<strong>Die</strong> nationale Ermessensfehlerlehre beschränkt sich auf die Prüfung der Kriterien<br />

einer Ermessensüberschreitung, des Ermessensnichtgebrauchs und des<br />

Ermessensfehlgebrauchs. Mit Blick auf Beurteilungsspielräume erfolgt eine<br />

entsprechende Anwendung. <strong>Die</strong> Prüfung der Gerichte beschränkt sich auf<br />

die formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung respektive Einhaltung der<br />

Vorschriften zu Zuständigkeit, Verfahren und Form. Dabei werden vor allem<br />

die zutreffende und vollständige Sachverhaltsermittlung, die Gelegenheiten<br />

zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte des Betroffenen sowie die Einhaltung<br />

des Begründungserfordernisses geprüft. Im Rahmen der materiellen<br />

1052 Vgl. Teile 2 II.6.a) und 2 II.b)cc)<br />

1053 <strong>Die</strong>s bestätigt Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 77, 96<br />

1054 Kadelbach (FN 194), S. 453<br />

308


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

Rechtmäßigkeit erfolgt eine beschränkte Inhaltskontrolle, die sich auf eine<br />

Bestimmung des Ermessensrahmens, der Ermessensfehler und dabei vor allem<br />

en Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />

beschränkt. Der EuGH fasst die offensichtliche Unangemessenheit einer<br />

Maßnahme neben Verfahrensfehlern, Verstößen gegen die Normenklarheit<br />

und Willkür unter den Aspekt des Ermessensmissbrauchs1055 .<br />

Bei Bestimmung der Reichweite des Ermessens erfolgt eine verfassungskonforme<br />

Auslegung des Genehmigungstatbestandes, u.a. mit Blick auf den<br />

Gefahrenbegriff. <strong>Die</strong> normzweckorientierte Selbstbindung der Verwaltung<br />

infolge der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes bzw. Typisierung<br />

der Ermessenssachverhalte durch Richtlinien muss hierbei berücksichtigt<br />

werden. Schließlich sind die vorhandenen Richtlinien unter Beachtung<br />

des Gleichbehandlungsgrundsatzes anzuwenden. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />

des Eingriffs erfolgt eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung<br />

von Grundrechtseingriffen und Beweislastfragen.<br />

Der Vergleich der Kontrolle von Entscheidungsspielräumen zu den für die<br />

Risikoprävention entwickelten Prüfungsanforderungen zeigt, dass es dort<br />

ebenfalls um eine entsprechend beschränkte Inhaltskontrolle der Entscheidung<br />

geht. <strong>Die</strong> Bestimmung des Vorsorgeanlasses beantwortet die Frage, ob<br />

sich die Behörde überhaupt im Rahmen des eröffneten Entscheidungs- bzw.<br />

Ermessensspielraumes bewegt. Ermessensüberschreitung und -missbrauch<br />

werden bei der verfassungskonformen, am Normzweck orientierten Auslegung<br />

des Tatbestandes, berücksichtigt. Darüber hinaus findet eine Vorsorgebewertung,<br />

bezogen auf die Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses, statt. Hierbei<br />

werden sonstige Punkte, wie Gleichbehandlungsgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip,<br />

überprüft. Letzteres sollte idealerweise im Rahmen einer<br />

multipolaren Interessenabwägung stattfinden. Folgende Prüfungsschritte erscheinen<br />

für die inhaltliche Überprüfung administrativer Risikoentscheidungen<br />

wie der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> allgemeingültig. Wegen des multipolaren<br />

Ansatzes und der bei Exportkontrollen gebotenen Integration gemeinschaftsrechtlicher<br />

Begriffe soll hier von Abwägungsspielräumen gesprochen werden,<br />

die bei Ausfuhrentscheidungen zu beachtet werden müssen:<br />

I. Darlegung risikorelevanter Tatsachen (Vorsorgeanlass/ Beweislast):<br />

(1) Objektive Anhaltspunkte für eine sicherheitsrelevante Gefährdungslage?<br />

(2) Non liquet-Situation und Interessengewichtung i.V.m. Beweislast?<br />

1055 Vgl. Teil 2 II.4.<br />

309


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

II. Bewertung der Gefährdungslage durch Abwägung (Rechtsfolge):<br />

(1) Abwägungsrahmen: Bestimmtheit der Norm und Normkonkretisierung<br />

(Risikoparameter), verfassungskonforme Auslegung und Normzweck:<br />

Ist das festgestellte Gefährdungsrisiko vom Genehmigungstatbestand<br />

erfasst? Hinweise auf Abwägungsmissbrauch, -überschreitung?<br />

(2) Abwägungsvorgang: Anwendung normkonkretisierender Richtlinien:<br />

Ist die risikorelevante Handlung von den Richtlinien erfasst (Gleichbehandlungsgrundsatz)<br />

und ist die Rechtsanwendung verhältnismäßig?<br />

Eignung, Erforderlichkeit, Zumutbarkeit des Eingriffs (Interessengewichtung,<br />

Abwägungspatt), Abwägungsüberschreitung bzw. -disproportionalität?<br />

2. Formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung<br />

Im Rahmen der formellen Anforderungen an die Genehmigungsentscheidung<br />

werden die schon erörterten Punkte zur Behördenzuständigkeit, zur<br />

Einhaltung der Verfahrensvorschriften und zur Form der Entscheidung, insbesondere<br />

zur Einhaltung der Begründungspflicht der Behörde, geprüft.<br />

Letztere ist vor allem von Bedeutung, weil sie wesentliche Grundlage dafür<br />

ist, dass eine gerichtliche Inhaltskontrolle überhaupt stattfinden kann. Es<br />

wurde bereits festgestellt, dass bei Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen<br />

Genehmigungstatbestände im Anwendungsbereich der Dual-use-VO die<br />

gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften gegenüber mitgliedsstaatlichen<br />

Vorschriften Anwendungsvorrang genießen. <strong>Die</strong>s führt bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Verfahren dazu, dass das nationale verfassungsrechtliche<br />

Erwägungen, allgemeine Vorgaben nach dem VwVfG und besondere Verfahrensregelungen<br />

nach dem AWG und der AWV zurückzutreten haben.<br />

Voraussetzung dafür ist, dass gemeinschaftsrechtliche Prinzipien oder Regelungen<br />

entgegenstehen. <strong>Die</strong> Zuordnung des im Einzelfall einschlägigen Verfahrensrechts<br />

richtet sich nach dem eröffneten Rechtskreis.<br />

3. Materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung im Kontext<br />

von Entscheidungsspielraum und Vorsorgeprinzip<br />

Nicht nur formelle Rechtmäßigkeitsanforderungen, wie die Einhaltung von<br />

Verfahrensgrundsätzen sowie Transparenz- und Begründungspflichten, sind<br />

der gerichtlichen Prüfung zugänglich. Nach den o.g. Erwägungen ergeben<br />

sich bei der inhaltlichen Kontrolle der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />

die folgenden Prüfungsschritte. Im Rahmen des Vorsorgeanlasses wird geprüft,<br />

ob eine hinreichende Tatsachenermittlung stattgefunden hat und wer<br />

310


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

die Beweislast für einzelne Tatsachen trägt. Bei der Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />

wird der Abwägungsrahmen festgestellt. Es erfolgt eine beschränkte<br />

Prüfung des Abwägungsvorgangs.<br />

a) Vorsorgeanlass - administrative Risikoermittlung bei der Exportkontrolle<br />

Es wurde bereits konstatiert, dass eine Suche nach absoluter Gewissheit in<br />

Rechtsgebieten mit Risikobezug nicht erfolgreich sein kann. Auch die Wissenschaft<br />

kann die handlungsorientierte Rolle von Erfahrung nicht ersetzen.<br />

Bei Exportkontrollen scheiden wissenschaftliche Quellen insoweit aus, als<br />

es vor allem um Verhaltensprognosen zu den subjektiven Verwendungsabsichten<br />

möglicher Empfänger oder Endverwender eines risikorelevanten<br />

Liefergutes geht. Hier helfen allenfalls statistische Erfahrungssätze mit<br />

Blick auf die Vergangenheit. Das verbleibende Prognoserisiko wird durch<br />

Effizienzregeln für die Erkenntnis- und Informationsgewinnung sowie entscheidungsorientierte<br />

Verfahren minimiert. Eine angemessene Risikoverteilung<br />

erfolgt nach den Verantwortungsbereichen aller Beteiligten.<br />

Wie soeben festgestellt, bedarf es konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte und<br />

nicht nur theoretischer Spekulationen, um das staatliche Handeln von einer<br />

Vorsorge ins Blaue hinein abzugrenzen. Um ein für den Vorsorgeanlass notwendiges<br />

Besorgnispotenzial annehmen zu können, muss mit Blick auf Dual-use-Güter<br />

eine Ermittlung des Exportrisikos erfolgen, das sich nach dem<br />

der Ausfuhrware inhärenten Missbrauchspotenzial bzw. der Qualität eines<br />

möglichen Missbrauchsbeitrages richtet. Damit kommt es ganz wesentlich<br />

auf die technische Eignung des Gutes für bestimmte sensitive Zwecke an,<br />

die bei gelisteten Dual-use-Gütern produktspezifisch ist, bei ungelisteten<br />

Dual-use-Gütern durch weitere Anhaltspunkte zur voraussichtlich missbräuchlichen<br />

Verwendung bejaht werden muss, z.B. durch ein militärisches<br />

Umfeld, bestimmte regionale Einflüsse oder konkrete Kundenkontakte des<br />

Empfängers. <strong>Die</strong>se Erwägungen zum Vorsorgeanlass decken sich letztlich<br />

mit der Struktur der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten. Sie<br />

führen bei gelisteten Gütern immer zu einem Vorsorgeanlass, sprich einer<br />

Genehmigungspflicht. Bei ungelisteten Dual-use-Gütern wird über dies über<br />

die Voraussetzung des „bestimmt sein können“ für gesetzlich missbilligte<br />

Verwendungszwecke statuiert, dass der Behörde Anhaltspunkte zu entsprechenden<br />

missbräuchlichen Verwendungsabsichten vorliegen müssen.<br />

Letztlich geht es beim Vorsorgeanlass aber nur um eine Art begründeten Anfangsverdacht,<br />

der faktisch eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung<br />

darstellt. Es obliegt dem Ausführer, das Tätigkeitsfeld des Empfängers und<br />

zivile Verwendungsabsichten zu prüfen und darzulegen. Andererseits ist die<br />

311


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

Bewertung der generellen Gefährdungslage im Ausland nicht mehr in der<br />

Risikosphäre des Ausführers. Auch diese kann aber auf Empfängerabsichten<br />

Hinweise geben. Insoweit muss bei der Interessenabwägung auch die Frage<br />

verortet werden, wem welche Tatsachennachweise zumutbar sind. <strong>Die</strong>s ist<br />

entscheidungserheblich, denn eine positive Behördenfeststellung zum<br />

Nichtbestehen einer Gefährdung nach § 3 Abs.1 S. 1 AWG ist wegen der regelmäßig<br />

vorhandenen Erkenntnisdefizite ebenso wenig denkbar wie die sichere<br />

Feststellung der Gefährdung1056 .<br />

<strong>Die</strong> nach der Beweislast notwendigen Behördenerkenntnisse müssen ebenso<br />

wie die zur Verwaltungsentscheidung führenden Erwägungen gem. § 39<br />

VwVfG schriftlich begründet werden. Entsprechend dem Vorsorgeanlass<br />

muss die Behörde hinreichend konkrete Gesichtspunkte dazu darlegen, warum<br />

eine positive Entscheidung nicht möglich sei, also die maßgeblichen<br />

Kriterien dafür angeben1057 . Unter Berücksichtigung der politischen Realitäten<br />

müssen dabei auch die politischen Folgen einer Entscheidung in die Prüfung<br />

einbezogen werden1058 . Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass<br />

eine Verweigerung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> mit dem allgemeinen Hinweis<br />

auf auswärtige Interessen möglich wäre. Schließlich muss auch insoweit eine<br />

hinreichende Begründung der Freiheitsbeschränkung, sprich ihre sachliche<br />

Rechtfertigung erfolgen. Im exportkontrollpolitischen Kontext spielt dafür<br />

der Zusammenhang von äußerer und innerer Sicherheit, inklusive der<br />

darauf bezogenen internationalen Zusammenarbeit eine Rolle. Mit auswärtigen<br />

Belangen verbunden ist der potenzielle Anlass einer Missbilligung des<br />

Handelns der Bundesrepublik Deutschland. Ein Bezug auf eine Gefährdung<br />

der öffentlichen Sicherheit muss also gegeben sein und in einem nachvollziehbaren<br />

Zusammenhang zur verwehrten Ausfuhr gebracht werden1059 . Dabei<br />

muss auch auf die zur verfahrensorientierten Kompensation von Erkenntnisdefiziten<br />

entwickelten kooperativen Maßnahmen, unter Einbeziehung<br />

aller Beteiligten, zurückgegriffen werden, so dass eine möglichst effektive<br />

Sachverhaltsermittlung gewährleistet ist.<br />

1056 Zu den Erkenntnisdefiziten bei der Dual-use-Güter-Kontrolle vgl. Teil 3 V.2.a)gg)<br />

1057 <strong>Die</strong>s bestätigend Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), § 7 AWG Rn 14, s.a. Simonsen,<br />

in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 91; zum Ganzen eingehend<br />

Teil 4 II.1.b).<br />

1058 Vgl. Teile 1 II.5.b)dd) zur Einschätzungsprärogative bei politischen Entscheidungen<br />

und ihren Grenzen<br />

1059 Vgl. Teil 1 II.5.b)dd)<br />

312


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

b) Bewertung des Vorsorgeanlasses und Einhaltung des Abwägungsrahmens<br />

Mit dem Vorsorgeanlass ist nunmehr als Ausgangspunkt des Vorsorgeprinzips<br />

festgestellt, dass ein staatliches Tätigwerden gerechtfertigt erscheint,<br />

nicht aber wie die Vorsorge im Einzelfall ausgestaltet werden sollte. Mit den<br />

Genehmigungspflichten ist hierzu lediglich ein Rahmen vorgegeben, der im<br />

Einzelfall ausgefüllt werden muss. Dabei müssen aber die bereits zur<br />

Rechtmäßigkeit der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten getroffenen Feststellungen<br />

einbezogen werden.<br />

aa) Ermessensgrenzen und Abwägungsrahmen<br />

Jede Wertung enthält auch eine Gewichtung und Abwägung der betroffenen<br />

Interessen. Das wurde bereits mit der Wahrscheinlichkeitsformel des Preußischen<br />

OVG zum Gefahrenbegriff deutlich, aber auch mit den Erwägungen<br />

zur Risikoverteilung nach dem Vorsorgeprinzip. <strong>Die</strong> Abwägung erfolgt<br />

schließlich mit der Rangfolgebestimmung und Interessenabwägung zwischen<br />

einzelnen, u.U. einander entgegenstehenden Verfassungsbelangen im<br />

Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der Rahmen für den damit beschriebenen<br />

Abwägungsvorgang wird durch den Normzweck, vor allem aber<br />

durch die zu beachtenden übergeordneten Rechtsprinzipien bestimmt. Damit<br />

sind auch die wesentlichen Grenzen für den Entscheidungsspielraum der<br />

Verwaltung beschrieben, der neben dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durch<br />

den Gleichbehandlungsgrundsatz beschränkt wird1060 . Deshalb soll vorliegend<br />

nicht nur von den Ermessensgrenzen, sondern von einem Abwägungsrahmen<br />

und Abwägungsvorgang die Rede sein.<br />

Bei der Inhaltskontrolle konkreter Verwaltungsentscheidungen müssen insbesondere<br />

die Bindungswirkungen des Normzweckes beachtet werden. Deshalb<br />

muss die zuständige Genehmigungsbehörde den Nachweis sachdienlicher, also<br />

dem Normzweck entsprechenden Erwägungen, führen und darlegen, weshalb<br />

sie zu einer Ablehnungsentscheidung kommt. <strong>Die</strong>s gilt besonders mit Blick auf<br />

die Rechtfertigung von Eingriffen unter der Voraussetzung einer Gefährdung<br />

der im Rahmen von § 7 AWG und Art. 8 Dual-use-VO geschützten Belange,<br />

die dem Schutzkonzept der Exportkontrollen entsprechen. <strong>Die</strong> Grenzen der<br />

richterlichen Nachprüfung dieser Rechtfertigungsgründe finden sich in den<br />

mit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe eröffneten Entscheidungsspielräumen<br />

der Verwaltung, die politische Wertungen und Prognosen<br />

beinhalten. Im Rahmen der unter Kapitel 1 herausgearbeiteten verfassungs-<br />

1060 So auch Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 45<br />

313


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

konformen Auslegung der Norm bedarf es aber der Relevanz von Menschenrechtsverletzungen<br />

oder einer Gefährdung der Sicherheitsinteressen im<br />

Sinne der den Exportkontrollen zu Grunde liegenden Staatsziele1061 .<br />

Anlässlich einer rechtlichen Überprüfung der Verwaltungsentscheidung<br />

müssen im Zusammenhang mit dem Normzweck vor allem die i.V.m. dem<br />

Bestimmtheitsgebot notwendigen Konkretisierungen in Form von Anwendungsrichtlinien<br />

nachvollziehbar auf den Einzelfall übertragen werden. An<br />

der Stelle sind die Gerichte auch nach den Ermessensfehlerlehren zur Prüfung<br />

befugt. Dazu gehört z.B. die zutreffende Anwendung internationaler<br />

Verpflichtungen anhand des ermittelten Sachverhaltes, z.B. i.V.m. einer<br />

MTCR-Regimevorgabe zum Umgang mit gelisteten Gütern1062 . <strong>Die</strong> o.g.<br />

Entscheidungsleitlinien bzw. Standards unterliegen, wie die Einzelentscheidung,<br />

dem Verhältnismäßigkeitserfordernis und sind Grundlage der Willkürkontrolle.<br />

Im Rahmen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung muss z.B.<br />

eine willkürfreie Anwendung der politischen Grundsätze der Bundesregierung<br />

oder des VK-EU darstellbar sein. Der Ermessensrahmen der Behörde<br />

würde andernfalls überschritten. Dabei könnte auch von einer Überschreitung<br />

des Abwägungsrahmens die Rede sein. Sofern eine nicht dem Normzweck<br />

entsprechende Rechtsanwendung erfolgt, wäre auch die Terminologie<br />

des Abwägungsmissbrauchs sachgerecht.<br />

bb) Betroffene Belange und Abwägungsvorgang<br />

<strong>Die</strong> mit den Richtlinien zur Anwendung der Genehmigungstatbestände festgestellten<br />

Risikoparameter, sei es technischer Art, verhaltens- bzw. empfängerorientiert<br />

oder politischer Art, müssen ebenso verhältnismäßig sein wie<br />

der Eingriff im Einzelfall1063 . Insoweit erfolgt eine Prüfung der administrativen<br />

Entscheidung selbst, insbesondere die schon erwähnte Alternativenprüfung<br />

zur Genehmigungsversagung. In die Interessenabwägung müssen alle<br />

betroffenen Belange eingestellt werden, sonst kommt es zu einem rechtswidrigen<br />

Abwägungsdefizit, im Extremfall zum Abwägungsfall. <strong>Die</strong> dritte<br />

Variante des Abwägungsfehlers besteht mit der fehlerhaften Interessengewichtung,<br />

sozusagen eine Abwägungsdisproportionalität. <strong>Die</strong> hiermit verbundenen<br />

Anforderungen sollen im Rahmen der bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />

vorliegenden multipolaren Interessenlage i.V.m. Belangen von Verfassungsrang<br />

noch einmal näher geprüft werden.<br />

1061 Vgl. FN 1054<br />

1062 Vgl. Teil 1 II.3.c)bb)<br />

1063 Vgl. Teil 4 II.2.c)ee)(4)<br />

314


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

Mit einer Verweigerung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>, die wie ein Außenhandelsverbot<br />

wirkt, ist regelmäßig ein Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit,<br />

in concreto z.B. der Berufsausübungsfreiheit, verbunden. <strong>Die</strong>se muss zunächst<br />

durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls im Sinne sicherheitsorientierter<br />

Staatsziele gerechtfertigt werden. <strong>Die</strong> Behörde muss konkrete Anhaltspunkte<br />

für einen drohenden Widerspruch zu Gemeinwohlbelangen oder<br />

zur Schutzpflicht des Staates aufzeigen, die in Form der Gefährdung Dritter<br />

aktiviert wird. <strong>Die</strong> betroffenen Grundrechtsbelange müssen bei der Auslegung<br />

der Kriterien zur Erteilung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> und der damit<br />

einhergehenden Interessenabwägung berücksichtigt werden. Nach dem Untermaßverbot<br />

darf es aber ebenso wenig zu einer unangemessenen Risikoverantwortung<br />

im Sinne der Duldung von Eingriffen durch Dritte kommen,<br />

wie zu einer Nichtbeachtung des Übermaßverbotes zu Ungunsten der Ausführer.<br />

Dabei müssen im Rahmen der Geeignetheits-, Erforderlichkeits- und<br />

Angemessenheitsprüfung alle Alternativen zur Genehmigungsverweigerung<br />

geprüft werden.<br />

Anlässlich der Alternativenprüfung ist zu fragen, ob eine Genehmigungserteilung<br />

mit Nebenbestimmungen oder anderen flankierenden Sicherungsmaßnahmen<br />

den Interessen der Beteiligten angemessen zur Geltung verhelfen<br />

kann. Mögliche Sicherungsfaktoren für eine zivile Endverwendung, die<br />

mögliche Risiken minimieren helfen, können z.B. multilaterale oder zwischenstaatliche<br />

Sicherungsabkommen, personelle Überwachungsmaßnahmen,<br />

Wartungsverträge und technische Lösungen sein1064 . Alle im Sinne der<br />

Erforderlichkeitsprüfung denkbaren Maßnahmen bilden den für die Verwaltung<br />

zulässigen Entscheidungskorridor.<br />

<strong>Die</strong> mit der Risikobewertung verbundenen Sachfragen müssen durch möglichst<br />

konkrete Erkenntnisse belegt sein, da erst die Tatsachen selbst überhaupt<br />

eine Risikoprognose bzw. -bewertung ermöglichen. Dabei wird die<br />

Qualität der vorhandenen Erkenntnisse ebenfalls in die Interessenabwägung<br />

eingestellt. Auch an dieser Stelle findet eine wertende Risiko- bzw. Verantwortungsverteilung<br />

statt, die wegen der regelmäßig bestehenden Erkenntnisdefizite<br />

bereits i.Z.m. Beweislastfragen einer Rolle spielt1065 . Hierbei<br />

muss auch das Zuverlässigkeitskriterium bzw. das Funktionieren der Risikomanagementstrukturen<br />

in den Unternehmen in die Abwägung eingestellt<br />

werden. Eingriffswirkung und Schutzbeitrag der Ablehnung müssen in ei-<br />

1064 Siehe dazu Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 74<br />

1065 Zur Beweislast vgl. Teile 3 III.2.c)bb) und 4.II.1.; zur Ermittlung des Exportrisikos<br />

s.a. Karpenstein ( FN 41), S. 243 ff., zu Beweislast und Beweismaß als Teil der politischen<br />

Wertung ebenda, S. 246<br />

315


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

nem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Nur dann ist der Eingriff<br />

auch zumutbar. Unter Einbeziehung der Darlegungs- und Beweislast erfolgt<br />

eine Bewertung vorhandener Tatsachen unter Berücksichtigung bestehender<br />

Erkenntnisdefizite1066 . In diesem Lichte erfolgt anlässlich der Angemessenheitsprüfung<br />

die Gewichtung der betroffenen Belange. Gleichlaufende Belange<br />

wie Sicherheit und auswärtige Interessen sowie hypothetisch betroffene<br />

Individualbelange i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GG werden der Ausfuhrfreiheit und<br />

dem entsprechenden volkswirtschaftlichen Interesse gegenübergestellt.<br />

Vor allem die Missbrauchspotenziale der Lieferung müssen für den Einzelfall<br />

in die Abwägung eingestellt werden. Dabei sind die Prognoseelemente<br />

zur Sensitivität des Gutes, der möglichen Endverwendung, des Empfängers<br />

oder seinen Kunden, das Zugriffsrisiko durch bestimmte Personen oder<br />

Gruppen sowie auch der Geschäftsumstände einzubeziehen, aber z.B. auch<br />

die Frage nach dem weltweit bestehenden Risikopotenzial durch bestimmte<br />

Waffen, zu deren Herstellung die in Rede stehende Lieferung von Dual-use-<br />

Gütern beiträgt und inwieweit sich diese auf das bestehende Risiko auswirkt.<br />

<strong>Die</strong>se Wertung wird auch durch die internationalen Entwicklungen in<br />

technischer wie handelspolitischer Sicht entscheidend mitbestimmt. In bestimmten<br />

Regionen können z.B. auch unilaterale Politiken, Diktaturen,<br />

Staatsterrorismus oder aktive Terrorgruppen auf ein erhöhtes Missbrauchsrisiko<br />

hinweisen. Auch die Gefahr von Umgehungslieferungen kann aufgrund<br />

bestimmter Hinweise besonders hoch sein und muss berücksichtigt werden.<br />

An dieser Stelle ist die internationale Behördenkooperation von großer Bedeutung.<br />

Dabei müssen aber die Grenzen der geheimen Aufklärung i.V.m.<br />

dem Trennungsgebot beachtet werden1067 .<br />

Dabei ist die nach der Erkenntnislage absehbare Mittelbarkeit der Risikorealisierung<br />

einzubeziehen. Sie ist Grundlage der dem Vorsorgeprinzip immanenten,<br />

adäquaten Risikoverteilung. Auf die Elemente zur Risikonähe der<br />

Ausfuhr, den konkreten Waffenbezug der Dual-use-Lieferung sowie die Erheblichkeit<br />

bzw. Wesentlichkeit der Risikolage wurde anlässlich der Prüfung<br />

der Genehmigungspflichten schon detailliert eingegangen1068 . Je mittelbarer<br />

der Risikobezug ist, umso höher sind die Anforderung an die Rechtfertigung1069<br />

. Demnach müssen im Rahmen der Abwägung bei der Gewichtung<br />

der betroffenen Rechtspositionen anhand des Einzelfalls Differenzierungen<br />

1066 Zur Beweislast vgl. Teil 3 III.2.c)bb) und zu Beweislast im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

Bleckmann (FN 391), S. 25 ff, 41<br />

1067 Vgl. Teil 3 V.1.b)cc)<br />

1068 Vgl. Teil 4 II.2.c)ee)(4)<br />

1069 Vgl. auch Calliess, DVBl 2003, 1101, 1104<br />

316


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

bei der Risikonähe gemacht werden, die dazu führen können, dass entweder<br />

die Schutzdimension der Belange Dritter und das Gemeinwohlinteresse der<br />

Sicherheit übergewichtet werden müssen, so z.B. bei gelisteten oder auch<br />

ungelisteten Dual-use-Gütern mit Bezug zu Massenvernichtungswaffen.<br />

Umgekehrt aber muss z.B. bei Lieferungen von geringem Wert bzw. Bagatellfällen<br />

ebenso die Außenwirtschaftsfreiheit in den Vordergrund treten<br />

können wie bei weltweit erhältlicher Massenware. Bei ihnen scheint die<br />

hypothetische Kausalität eines Risikobeitrages fraglich. Solche Erwägungen<br />

müssen auch bei der Festlegung von Richtlinien wie z.B. den Voraussetzungen<br />

für Verfahrenserleichterungen oder Typisierungen für die Genehmigungserteilung,<br />

berücksichtigt werden. Letztlich führen die Gewichtungen<br />

und Wertungen zu einer Entscheidung, welche Belange vorzugswürdig erscheinen.<br />

Erscheint die Genehmigungsverweigerung wegen der fehlenden<br />

Risikonähe einer Ausfuhr unangemessen, ist die Entscheidung rechtswidrig.<br />

Wird dagegen eine Gleichgewichtung der betroffenen Belange festgestellt,<br />

kommt eine Ablehnung des Genehmigungsantrages zunächst nicht in Betracht.<br />

Vielmehr muss eine Optimierung der Belange stattfinden, die wiederum<br />

die im Rahmen des Unter- und Übermaßverbotes für erforderlich gehaltenen<br />

Alternativen, wie z.B. bestimmte Sicherungsmaßnahmen, in die<br />

Abwägung einstellt. Erst wenn aufgrund bestehender Erkenntnisdefizite eine<br />

Risikominimierung ohne Negativentscheid nicht denkbar erscheint, wäre<br />

dieser zumutbar. Im Falle des Abwägungspatts erfolgt eine über die Erforderlichkeitsprüfung<br />

hinausgehende Optimierung der Handlungsalternativen,<br />

die der gerichtlichen Kontrolle nicht zugänglich ist. Geprüft wird dann allenfalls<br />

die Frage, ob die Behörde von dem Optionsermessen Gebrauch gemacht<br />

und ihre Entscheidung begründet hat1070 . Nur wenn die Behörde ihren<br />

Abwägungsspielraum und damit einhergehende Optimierungsverpflichtungen<br />

verkannt hat, liegt ein Rechtsfehler in Form des Abwägungsausfalls vor,<br />

der im Übrigen auch aus EuGH-Sicht justiziabel ist. <strong>Die</strong> Beweislast für einen<br />

Rechtsfehler liegt beim Antragsteller, wenn die Behörde sachliche<br />

Gründe für ihre Entscheidung und damit einhergehende Abwägungen vorgelegt<br />

hat. In diesem Fall wird zugunsten der Verwaltung vermutet, dass die<br />

Entscheidung sachdienlich und angemessen war1071 .<br />

In aller Regel dürfte aber bereits die Interessengewichtung zu einer sachgerechten<br />

bzw. angemessenen Entscheidung führen. <strong>Die</strong> Genehmigungsentscheidung<br />

erscheint hiernach rechtmäßig, wenn sich die gewählte Alternati-<br />

1070 Zur Behörde als Treuhänderin des Optimierungsgebotes vgl. Calliess (FN 288), S.<br />

601, s.a. Teile 3 IV.2.c)cc) und 4 II.2.c)ee)(4)<br />

1071 Vgl. Teil 2 II.4.a) dort vor allem Bleckmann (FN 391), S. 38, 41<br />

317


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

ve im Rahmen des zulässigen Entscheidungskorridors bewegt und die Interessengewichtung<br />

der Behörde nachvollziehbar ist. Bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />

geht es insoweit um die Frage, ob alle im Rahmen von Sicherungsmaßnahmen,<br />

Auflagen und Nebenbestimmungen denkbaren Entscheidungsalternativen<br />

geprüft wurden, sofern diese im Rahmen des Über- und Untermaßverbotes<br />

als geeignet und Erfolg versprechendes mildestes Mittel ersichtlich<br />

sind.<br />

Es lässt sich demnach festhalten, dass im Rahmen der Alternativenprüfung<br />

und Interessengewichtung eine differenzierte Einzelbetrachtung erfolgt, die<br />

auf die konkret vorliegende Risikonähe der Lieferung abstellt und entsprechende<br />

Rechtsfolgen für oder gegen die Außenwirtschaftsfreiheit vorsieht.<br />

Eine generelle Versagung der Genehmigungserteilung mit dem Argument<br />

entgegenstehender Sicherheitsinteressen bzw. Belange Dritter würde gegen<br />

das Verhältnismäßigkeitsgebot und die entsprechende Interessenabwägung<br />

verstoßen. Bei der Entscheidungsbegründung müssen die mit der Bewertung<br />

verbundenen Erwägungen der Behörde neben den konkreten Anhaltspunkten<br />

für den Vorsorgeanlass Erwähnung finden. Dazu gehört die Bewertung des<br />

Risikos missbräuchlicher Verwendung ebenso wie die Gewichtung der entgegenstehenden<br />

Belange. Hinzu kommt die Begründung, warum eine Genehmigung<br />

mit die Lieferung begleitenden Sicherungsmaßnahmen als unangemessen<br />

erachtet wird. Insbesondere müssen das Über- und Untermaßverbot<br />

sowie die grundrechtliche Schutzdimension hypothetisch betroffener<br />

Bürger im In- und Ausland in die Abwägung einbezogen werden. <strong>Die</strong> maßgeblichen<br />

Erwägungen für die Risikoverteilung sind trotz des behördlichen<br />

Entscheidungsspielraumes zu benennen.<br />

c) Ergebnis<br />

<strong>Die</strong> Rechtmäßigkeit der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung bestimmt sich<br />

nach einer zutreffenden Anwendung des Abwägungsrahmens inklusive der<br />

verfassungskonformen Auslegung der Norm sowie eines hinreichend begründeten<br />

Abwägungsvorgangs, der die Grundsätze der Gleichbehandlung<br />

und Verhältnismäßigkeit wahrt. <strong>Die</strong> hiermit verbundenen Erwägungen<br />

bestimmen die angemessene Risikoverteilung und sind der gerichtlichen<br />

Prüfung zugänglich.<br />

4. Fehlerfolgen: Nichtigkeit oder Aufhebung der Entscheidung<br />

<strong>Die</strong> Behörde wird nach § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO wegen des regelmäßig<br />

fortbestehenden Entscheidungsspielraumes zu einer ermessenfehlerfreien<br />

Entscheidung unter zutreffender Gewichtung der Außenwirtschaftsfreiheit<br />

318


III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

verpflichtet. Eine Ausnahme der direkten Gerichtsentscheidung könnte allenfalls<br />

infolge Ermessenreduzierung möglich sein1072 . <strong>Die</strong> vom Ausführer<br />

angestrebte positive Genehmigungsentscheidung würde dann theoretisch<br />

möglich sein. Wegen des politischen Entscheidungsspielraums der Behörde<br />

dürfte dies aber in der Praxis nur selten der Fall sein. Das Gericht muss sich<br />

an identischen Sachlagen orientieren. <strong>Die</strong>se sollten in größtmöglicher zeitlicher<br />

Nähe zur Entscheidung stehen, um relevante Veränderungen der Sachlage<br />

auszuschließen. <strong>Die</strong> Möglichkeit einer Geltendmachung positiver, also<br />

genehmigter Präzedenzentscheidungen für die Genehmigung im Einzelfall,<br />

z.B. bei Konkurrenten, dürfte der Antragsteller also nur selten darlegen können.<br />

Darüber hinaus verbleibt es bei der Einschätzungsprärogative der Verwaltungsbehörde,<br />

die der gerichtlichen Prüfung nicht zugänglich ist.<br />

Bei den Fehlerfolgen kommt es bei der Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte<br />

bzw. der auch denkbaren Nichtigkeit auf nationaler wie gemeinschaftsrechtlicher<br />

Ebene regelmäßig zu vergleichbaren Ergebnissen. Dem<br />

Klägerbegehren einer Genehmigung kann nur im Ausnahmefall genüge getan<br />

werden. Das Vorrangprinzip zugunsten von Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

und dem übergeordneten Rechtsprinzipien wirkt sich insbesondere bei<br />

der Frage nach einer möglichen Heilung von Verfahrensfehlern aus. Im<br />

Lichte der gemeinschaftsverwaltungsrechtlichen Prinzipien könnte eine ungenügende<br />

Begründung der Entscheidung zur Nichtigkeitsfeststellung führen,<br />

so dass nach dem nationalen Verfahrensrecht zumindest die Aufhebung<br />

der Entscheidung erfolgen muss. <strong>Die</strong> noch im Gerichtsverfahren mögliche<br />

Heilung im Sinne des § 45 Abs. 2 VwVfG wäre wegen des Vorrangprinzips<br />

eingeschränkt. Faktisch aber wäre dies bei der dann erforderlichen Neuprüfung<br />

des Klägerbegehrens möglich1073 .<br />

5. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Auch im Rahmen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung erfolgt eine richterliche<br />

Kontrolle. Sie bezieht sich insbesondere auf die Einhaltung der Verfahren<br />

und Formfragen, aber auch die rechtlichen Grenzen der Entscheidungsspielräume,<br />

die bei Risikoprognosen i.V.m. den hypothetischen Folgen<br />

einer Ausfuhr von Dual-use-Gütern gegeben sind. Neben dem Bestehen eines<br />

Vorsorgenlasses stellt das Gericht bei der Rechtsfolgekontrolle fest, ob<br />

die bestehenden normkonkretisierenden Richtlinien zutreffend angewendet<br />

1072 Vgl. Teil 3 IV.3.b)<br />

1073 Zum Ganzen vgl. Teil 2 III.3.<br />

319


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

wurden, ein Verstoß gegen das Willkürverbot vorliegen könnte und die Einhaltung<br />

des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewährleistet ist.<br />

Im Rahmen des multipolaren Prüfungsansatzes, wie er für das Vorsorgeprinzip<br />

entwickelt wurde, lässt sich feststellen, ob zur Ablehnung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />

aus Sicht der schützenswerten Belange, wie der Ausfuhrfreiheit,<br />

Alternativen bestehen. In einem weiteren Schritt erfolgt eine Gewichtung<br />

aller involvierten Belange und Interessen, so dass die Zumutbarkeit der<br />

Maßnahme bestätigt bzw. widerlegt werden kann. Im Ausnahmefall mehrerer,<br />

nach der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung zulässiger Maßnahmen,<br />

könnte im Falle eines Abwägungspatts auch geprüft werden, ob die<br />

Behörde den aufgrund der fehlenden Übergewichtung eines bestimmten Belanges<br />

wiedereröffneten Spielraum zur Optimierung aller Belange bei der<br />

Entscheidung beachtet hat. War die Entscheidung rechtswidrig, erfolgt regelmäßig<br />

eine Aufhebung nach § 113 VwGO bzw. 46 VwVfG. <strong>Die</strong>s gilt im<br />

nationalen Recht wie auch nach dem Gemeinschaftsverwaltungsrecht.<br />

IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre<br />

<strong>Die</strong> Kriterien für eine den rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende Kontrolle<br />

der Verwaltung durch die Gerichte wurden bereits im Zusammenhang<br />

mit Fragen der Qualität einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung angesprochen.<br />

Der nach dem nationalen wie auch im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

bestehende Entscheidungsspielraum der Exportkontrollbehörden wird aus<br />

den unbestimmten Rechtsbegriffen der Gefahr, Sicherheit und Sicherheitsinteressen<br />

abgeleitet. Bei der Rechtsanwendung im Einzelfall, also einer Genehmigungsentscheidung<br />

bei Dual-use-Lieferungen, ist die verfassungskonforme<br />

Auslegung der Rechtsbegriffe ebenso von Bedeutung wie die die Bestimmtheitsdefizite<br />

kompensierenden Verfahrenselemente. Mit einer hinreichenden<br />

Transparenz der Entscheidungsmaßstäbe und entsprechender Entscheidungsbegründung<br />

sollen die Betroffenen wie auch Gerichte in die Lage<br />

versetzt werden, Rechtsfehler korrigieren zu können. Insoweit gelten nationale<br />

bzw. gemeinschaftsrechtliche Maßstäbe der Ermessensfehlerlehre.<br />

<strong>Die</strong> Kontrollstandards für verfassungsrechtlich legitimierte Exportkontrollen<br />

können auch durch die aus dem Umwelt- und Technikrecht heraus entwickelten<br />

Grundsätze zur Risikovorsorge bestimmt werden. <strong>Die</strong> Struktur des<br />

Vorsorgeprinzips sorgt für eine angemessene Risikoverteilung, die auf verfassungsrechtlicher<br />

Ebene durch eine multipolare Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

implementiert werden kann, deren wesentliches Element die Abwägung<br />

aller beteiligten Belange ist. <strong>Die</strong> Erkenntnisse zur Anwendbarkeit ge-<br />

320


IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre<br />

meinschaftsrechtlichen Ermessens, zu den geltenden Maßstäben der gerichtlichen<br />

Überprüfung und vor allem zu den Rückwirkungen des Vorsorgeprinzips<br />

bei der Auslegung des tatbestandlichen Gefahrenbegriffs können unter<br />

dem Stichwort einer genehmigungsspezifischen Abwägungsfehlerlehre zusammengefasst<br />

werden. Hierbei sind alle behördlicherseits zu prüfenden<br />

Tatsachen- und Rechtsfragen sowie die Beweislast zu berücksichtigen.<br />

Aus den in dieser Untersuchung dargelegten Prinzipien kann für administrative<br />

Eingriffe in die Außenwirtschaftsfreiheit folgendes Prüfungsschema abgeleitet<br />

werden:<br />

1. Auswirkungen der Entscheidungsprärogative<br />

a) Berücksichtigung geltender Verfassungsprinzipien: v.a Einhaltung des<br />

Bestimmtheitsgrundsatzes i.V.m. Normkonkretisierung<br />

b) Beschränkter Maßstab gerichtlicher Kontrolle: nationale Entscheidungsfehlerlehre/Evidenzkontrolle<br />

des EuGH<br />

2. Formelle Rechtmäßigkeit<br />

a) Zuständigkeit: Prüfung der BAFA-Kompetenzen, eröffneter Rechtskreis<br />

b) Verfahren: Sachverhaltsermittlung, Verteidigungs- bzw. Anhörungsrechte,<br />

Verfahrensmissbrauch (Abwägungsfehlgebrauch)<br />

c) Form: Begründung des Eingriffs<br />

3. Feststellung eines Vorsorgeanlasses:<br />

Eröffnung des Verwaltungsverfahrens bei konkreten Anhaltspunkten<br />

für ein Ausfuhrrisiko: empfänger-, verwendungs-, und warenbezogene<br />

Qualität der Gefährdung (z.B. Listung, mögliche militärische Verwendung<br />

in bestimmten Empfängerländern); Beweislastfragen<br />

4. Bewertung des Vorsorgeanlasses: Abwägungsfehlerlehre<br />

a) Abwägungsrahmen<br />

Feststellung betroffener Belange: Außenwirtschaftsfreiheit, geschützte<br />

Individualbelange, Gemeinwohlgüter bzw. Staatsziele<br />

Feststellung des Abwägungsrahmens: Normzweck, Richtlinien<br />

b) Abwägungsvorgang<br />

Abwägungsausfall: Verkennung eines Entscheidungsspielraumes<br />

bzw. Abwägungserfordernisses<br />

321


Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />

322<br />

Abwägungsdefizit (Abwägungsfehlgebrauch)<br />

- Abwägungsmissbrauch: Umgehung des Normzwecks<br />

- Heranziehungsdefizit: Einstellung sachfremder Belange, Verkennung<br />

des Normzwecks, verbotene Zweckverfolgung, Tatsachenfehler,<br />

Nichtbeachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />

Einstellung aller relevanten Belange bzw. Freiheiten: Außenwirtschaftsfreiheit<br />

und betroffene Grundrechte (Handlungs- und<br />

Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, Unternehmerposition - wirtschaftlicher<br />

Wert - Unternehmergewinn/Kosten in Abgrenzung<br />

zur bloßen Gewinnchance), Gemeinwohl<br />

c) Abwägungsüberschreitung bzw. –disproportionalität<br />

Maßstab der Verhältnismäßigkeit, multipolare Prüfung<br />

Übermaßverbot<br />

- Geeignetheit: Hypothese des Risikos trotz Ablehnungsentscheidung,<br />

z.B. Argument bereits beim Empfänger vorhandener<br />

Kapazitäten<br />

- Erforderlichkeit: Handlungsalternativen mit vergleichbarer<br />

Wirkung, z.B. Genehmigung mit Nebenbestimmungen<br />

Untermaßverbot<br />

- Geeignetheit: Hypothese der Ablehnungs- oder Genehmigungsentscheidung<br />

- Erforderlichkeit: Abwägung nach Intensität der Gefährdung,<br />

erhöhte Gefahr z.B. bei Relevanz für MVW<br />

Angemessenheitsprüfung / Verhältnismäßigkeit i.e.S.<br />

- Übermaßverbot und Untermaßverbot als Korridor der Entscheidung,<br />

Alternativenprüfung<br />

- Zumutbarkeit der Genehmigungsverweigerung: Beweislastfragen,<br />

Gewichtung der Belange und Angemessenheitsprüfung<br />

bei Abwägungspatt<br />

- Eingriffsrechtfertigung: Gewichtung betroffener Belange und<br />

Risikonähe; Risiko der Gefahrenverwirklichung in Relation<br />

zum drohenden Schaden, Einbeziehung offensichtlich geringer<br />

Bedeutung der Gründe (vgl. Bagatellfälle), Vertrauensschutz


IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre<br />

Abwägungsreduzierung<br />

Anwendung der Richtlinien bzw. Erlasse, Selbstbindung der Verwaltung<br />

durch Antizipierung der Entscheidung Art. 3 GG, abweichende<br />

Zusage<br />

5. Fehlerfolgen: Aufhebung oder Nichtigkeit der Entscheidung, Beachtung<br />

des Anwendungsvorrangs, Evidenzlehre des EuGH<br />

323


Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge durch Exportkontrollen<br />

324


Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />

Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge<br />

durch Exportkontrollen<br />

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />

1. Exportkontrollen dienen maßgeblich der Gewährleistung innerer und äußerer<br />

Sicherheit und damit zusammenhängenden Staatszielen. Das beinhaltet<br />

auch die Wahrung der Menschenrechte. Auf dieser Grundlage<br />

können Eingriffe in die Außenwirtschaftsfreiheit gerechtfertigt werden.<br />

Über den internationalen Aspekt multilateraler friedenssichernder Vereinbarungen<br />

hinaus wird die außenpolitische Dimension der nationalen<br />

Sicherheitsinteressen einbezogen. <strong>Die</strong> auswärtigen Interessen der Bundesrepublik<br />

Deutschland berechtigen zu einem Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit,<br />

wenn diese mit Sicherheitsaspekten in Zusammenhang<br />

stehen.<br />

2. Mit der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung erfolgt eine Prognoseentscheidung.<br />

Sie basiert gem. §§ 3 und 7 AWG auf einer Gefährdung bestimmter<br />

Belange. Dabei hat die Genehmigungsbehörde einen Beurteilungsspielraum.<br />

Soweit die Entscheidung im Rahmen der Überlegungen<br />

des Art. 8 i.V.m. 9 Dual-use-VO erfolgt, besteht ein Ermessen im Sinne<br />

des Gemeinschaftsverwaltungsrechts. Im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />

erfolgt keine dogmatische Unterscheidung von Beurteilungsspielräumen<br />

und Ermessen, wie es nach den im nationalen Verwaltungsrecht<br />

entwickelten Grundsätzen der Fall ist. Deshalb erscheint der allgemeine<br />

Begriff des Entscheidungsspielraums besser geeignet, die Reichweite der<br />

Verwaltungsautonomie zu bestimmen.<br />

3. <strong>Die</strong> gerichtliche Prüfungstiefe bei administrativen Entscheidungsspielräumen<br />

ist nach der nationalen Ermessensfehlerlehre, entsprechend anwendbar<br />

auf Beurteilungsspielräume, sowie nach der Evidenzlehre des<br />

EuGH weitgehend vergleichbar. Für formelle Rechtmäßigkeitsfragen bestehende<br />

Verfahrensfehlervorschriften des VwVfG finden im Gemeinschaftsrecht<br />

keine Entsprechung. Ebenso wie bei der materiellen Inhaltskontrolle<br />

stellt der EuGH nur bei evidenten Rechtsfehlern einen Verstoß<br />

gegen die Rechtsordnung fest. <strong>Die</strong> möglicherweise differierende Fehlerfolge<br />

der Nichtigkeit oder Aufhebung der Entscheidung hat wegen des<br />

auf eine Genehmigung gerichteten Klägerbegehrens keine Praxisrelevanz.<br />

Nach der nationalen Ermessensfehlerlehre erfolgt eine begrenzte<br />

materielle Rechtmäßigkeitskontrolle, ebenso wie bei der Evidenzlehre<br />

des EuGH. In beiden Fällen erfolgt eine Gewichtung der betroffenen<br />

325


Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge durch Exportkontrollen<br />

Rechtsgüter. Wesentliches Element beider Lehren ist eine Wertung und<br />

Interessenabwägung. Sie ist für den Bestand der Verwaltungsentscheidung<br />

maßgeblich. Für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en kommt es nach Dualuse-VO<br />

und AWV zu einer vergleichbaren gerichtlichen Prüfungstiefe.<br />

4. Zentraler Anknüpfungspunkt für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />

ist die Prognose der Rechtsgutsgefährdung. Unter Einbeziehung allgemeiner<br />

sicherheitsrechtlicher Entwicklungen ist von einer erheblichen<br />

Qualität bzw. Quantität der regelmäßig bestehenden Erkenntnisdefizite<br />

auszugehen. <strong>Die</strong>se Tatsache führt im Lichte des Normzwecks von Exportkontrollen<br />

und der Formulierungen in den Eingriffsermächtigungen<br />

des AWG und der Dual-use-VO zu dem Schluss, dass es dabei um Maßnahmen<br />

der Risikoprävention geht. Im Kontext der Prognoseentscheidung<br />

erscheint es daher kaum mehr vertretbar, auf die Wahrscheinlichkeitsrelation<br />

des klassischen Gefahrenbegriffs abzustellen und damit auf<br />

das Vorliegen einer konkreten oder abstrakten Gefahr für bestimmte<br />

Rechtsgüter. Vielmehr sind die im Rahmen des Vorsorgeprinzips entwickelten<br />

Ansätze zur Risikoprävention und angemessenen Risikoverteilung<br />

anwendbar. Bestätigt wird dieser Befund durch mit dem technischen<br />

Sicherheitsrecht vergleichbare systematische Ansätze, z.B. kooperativer<br />

Art. Rechtspolitisch scheint es in der Konsequenz geboten, die<br />

Beschränkungsermächtigung des § 3 AWG anzupassen. Angesichts der<br />

zurückliegenden Fortentwicklung des Kontrollsystems erscheint eine<br />

Formulierung sachgerechter, die darauf abstellt, ob kein oder ein nur unwesentlicher<br />

Schaden für gem. § 7 AWG geschützte Belange droht. An<br />

der Normstruktur, insbesondere am Beurteilungsspielraum der Behörde<br />

zur Bewertung des Genehmigungsanspruchs, ändert sich damit nichts.<br />

<strong>Die</strong> Dual-use-VO deckt nach dem aktuellen Wortlaut auch eine Ermächtigung<br />

der Behörde zur Risikovorsorge ab.<br />

5. Nach der Struktur des Vorsorgeprinzips berechtigt, anders als bei Gefahren,<br />

bereits die Darlegung einer Besorgnis zu einem risikopräventiven<br />

Eingriff. Über die Beweislastregeln wird hier bereits die grundsätzliche<br />

Risikoverantwortung zugewiesen. Das beinhaltet eine wertende Betrachtung,<br />

die z.B. bei Dual-use-Gütern je nach Sensitivität unterschiedliche<br />

Ergebnisse haben kann. <strong>Die</strong> Rechtsfolge wird im Rahmen der Bewertung<br />

des Vorsorgeanlasses bestimmt. <strong>Die</strong> Grenzen des bestehenden Entscheidungsspielraumes<br />

(Abwägungsrahmen) enthalten die Wahrung des<br />

Gleichheitsgrundsatzes und die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, nach<br />

der gemeinschaftsrechtlichen wie der nationalen Lehre. Dabei werden alle<br />

betroffenen Interessen in die Abwägung eingestellt: die Freiheiten des<br />

Handelnden ebenso wie die Grundrechtsschranken des Gemeinwohls<br />

326


Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />

und die aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitenden Schutzpflichten<br />

des Staates für die Grundrechtsbelange Dritter, mithin deren<br />

Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />

6. In Anerkennung einer drittschützenden Wirkung der grundrechtlichen<br />

Schutzdimension besteht ein multipolares Verfassungsrechtsverhältnis.<br />

Der daraus abgeleitete multipolare Prüfungsansatz hilft, die bei der Risikovorsorge<br />

erfolgende Vorverlagerung staatlicher Eingriffe kompensieren.<br />

Betroffene Interessen werden stärker konturiert und berücksichtigt.<br />

Abweichend von der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung wird nicht<br />

nur das Übermaßverbot zugunsten des vom Eingriff Betroffenen, sondern<br />

auch das Untermaßverbot zu Gunsten des durch den Eingriff geschützten<br />

Dritten bzw. Begünstigten in die Prüfung einbezogen. So ist<br />

die staatliche Schutzpflicht effektiv erfüllbar. Geeignetheit und Erforderlichkeit<br />

eines staatlichen Eingriffs sind in zwei Richtungen zu prüfen,<br />

mit Blick auf die Freiheitsdimension des Betroffenen sowie die Schutzdimension<br />

von Grundrechten Dritter, die durch den Eingriff begünstigt<br />

werden sollen. Über- und Untermaßverbot werden im Rahmen der Angemessenheitsprüfung<br />

miteinander in Einklang gebracht. Es wird eine<br />

dem Gefahrenbegriff ähnliche Interessenabwägung bzw. -gewichtung<br />

vorgenommen, die nicht nur die Rechtsgutsqualität des bedrohten Interesses,<br />

sondern auch die Risikonähe der Handlung in die Frage der angemessenen<br />

Risikoverteilung einstellt.<br />

7. Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG sowie das staatliche Sicherheitsinteresse<br />

dürfen trotz ihrer hohen Wertigkeit nicht automatisch stärker gewichtet<br />

werden als die Außenwirtschaftsfreiheit. Sonst würde in Anbetracht<br />

der risikoorientierten Eingriffsermächtigung bei Exportkontrollen jedes<br />

Risiko die Freiheit beschränken. <strong>Die</strong>s stünde in Widerspruch zur eigentlich<br />

im Vordergrund stehenden Abwehrdimension der Grundrechte, die<br />

so faktisch zugunsten der nur als ultima-ratio anerkannten Schutzdimension<br />

aufgehoben würde. Der Freiheitsbegriff wäre dann Makulatur. Für<br />

die Abwägung gilt deshalb: Je mittelbarer die potenziell gefährdeten<br />

Rechtsgüter durch die beim staatlichen Eingriff in Rede stehende Handlung<br />

Risiken ausgesetzt sind, umso höher muss die Gewichtung der Freiheitsposition,<br />

mithin der Außenwirtschaftsfreiheit, sein. Somit sind die<br />

Anforderungen an den Eingriff von der Risikonähe einer Ausfuhr abhängig.<br />

<strong>Die</strong> damit einhergehende Vermeidung einer pauschalen Übergewichtung<br />

einzelner Belange entspricht dem Verständnis des Vorsorgeprinzips<br />

zur gewichtenden Risikoverteilung. <strong>Die</strong> fehlende Risikonähe einer Ausfuhr<br />

kann durchaus, im Einzelfall muss sie sogar gegen die geschützten<br />

Belange und damit auch eine Genehmigungsversagung sprechen.<br />

327


Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge durch Exportkontrollen<br />

8. <strong>Die</strong> Gewichtung der beteiligten Interessen bestimmt die Angemessenheit<br />

des Eingriffsmittels. An dieser Stelle sind alle beteiligten Interessen,<br />

auch die Gemeinwohlbelange einzubeziehen. <strong>Die</strong> <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />

Genehmigungspflichten sind in dieser Hinsicht die geeignete, mildeste<br />

und wirksamste Eingriffsalternative. Sie erscheinen gegenüber den<br />

Beteiligten zumutbar und stehen im Einklang mit Verfassung und Gemeinschaftsrecht.<br />

Erst die Prüfung der Genehmigungsfähigkeit eines Antrages<br />

im Einzelfall ermöglicht die angemessene Risikoverteilung. Hierzu<br />

gehört die Prüfung der konkret in Rede stehenden Eingriffsalternativen,<br />

eine Bewertung der Risikonähe der Ausfuhr, die Eingriffsintensität<br />

sowie die Erheblichkeit einer Gefährdung. Dazu gehört auch die Effektuierung<br />

aller Interessen i.V.m. der Optimierungsverpflichtung der Verwaltung<br />

bei mehreren verfügbaren Eingriffsalternativen. <strong>Die</strong> nach der Erforderlichkeitsprüfung<br />

zulässigen Handlungsoptionen bestimmen dabei den<br />

Entscheidungsspielraum der Genehmigungsbehörde. Bei der multipolaren<br />

Alternativenprüfung werden nicht nut die geschützten Interessen<br />

stärker einbezogen. Auch können die bestehenden Handlungsalternativen<br />

effektiver auf ihre optimale Wirkung zugunsten aller Beteiligten geprüft<br />

werden. Ein stückweit wird die Genehmigungsbehörde damit planend tätig.<br />

<strong>Die</strong>s spielt bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen z.B. i.V.m. der<br />

Feststellung geeigneter Nebenbestimmungen und Sicherungsmaßnahmen<br />

eine Rolle. Eine <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> kann somit trotz einer Risikobesorgnis<br />

verhältnismäßig sein. Der multipolare Prüfungsansatz deckt sich<br />

hier mit dem Vorsorgeprinzip. Er hilft, die damit verbundene Vorverlagerung<br />

des Eingriffs auf Risiken zu kompensieren. Er bietet einen Rahmen<br />

für den gebotenen Interessenausgleich und verschafft Sicherheitsbelangen<br />

wie der Außenwirtschaftsfreiheit gleichermaßen Geltung.<br />

9. In der Gesamtschau kann konstatiert werden, dass unter Berücksichtigung<br />

der Risikodimension von Dual-use-Ausfuhren und der dabei betroffenen<br />

Belange von Verfassungsrang nicht nur eine formelle Rechtmäßigkeitskontrolle<br />

der Gerichte erfolgt - trotz der prognoseorientierten<br />

Entscheidungsspielräume der Behörde. Bei der materiellen Rechtmäßigkeit<br />

muss eine umfassende Kontrolle der Wahrung gewichtiger Verfassungs-,<br />

gegebenenfalls auch Gemeinschaftsrechtsprinzipien stattfinden.<br />

<strong>Die</strong> Grundsätze der nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Ermessensfehlerlehren<br />

müssen mit der Struktur des Vorsorgeprinzips bei der Risikoprävention<br />

zusammengeführt werden. Für Exportkontrollen können<br />

die Ansätze einer multipolaren Verhältnismäßigkeitsprüfung genutzt<br />

werden. Damit wird die angemessene Risikoverteilung unter Gewichtung<br />

aller beteiligten Belange sichergestellt.<br />

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