Die exportkontrollrechtliche Ausfuhrgenehmigung - EFA-Schriften
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Mendel Verlag
<strong>Schriften</strong>reihe<br />
des Europäischen Forums<br />
für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll e.V.<br />
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster<br />
Band 42<br />
II
<strong>Die</strong> <strong>exportkontrollrechtliche</strong><br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
unter Berücksichtigung von Gemeinschaftsverwaltungs-<br />
recht und Aspekten der Gefahrenprävention<br />
von<br />
Nils Weith<br />
Mendel Verlag<br />
III
D 6<br />
Mendel Verlag GmbH & Co. KG<br />
Gerichtsstraße 42, 58452 Witten<br />
Telefon +49-2302-202930<br />
Fax +49-2302-2029311<br />
E-Mail info@mendel-verlag.de<br />
Internet mendel-verlag.de<br />
ISBN 978-3-930670-69-7<br />
Alle Angaben ohne Gewähr. Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen jeglicher Art sind nur<br />
nach Genehmigung durch den Verlag erlaubt.<br />
Herausgeber: Europäisches Forum für Außenwirtschaft, Verbrauchsteuern und Zoll e.V.,<br />
Universitätsstr. 14-16, 48143 Münster, E-Mail: efa@uni-muenster.de<br />
Einbandentwurf: KJM GmbH Werbeagentur, Hafenweg 22, 48155 Münster, Internet:<br />
www.KJM.de<br />
© 2009 by Mendel Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten<br />
IV
Meinen Kindern Pascal, Chiara-Eliza und Leni Johanna<br />
V
Vorwort<br />
VI
Vorwort<br />
Vorwort<br />
<strong>Die</strong> vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2008 von der Rechtswissenschaftlichen<br />
Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster<br />
als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten im<br />
Wesentlichen bis Januar 2008 berücksichtigt werden.<br />
Im Laufe der Arbeit an einer Dissertation kommt bisweilen die Frage auf,<br />
wofür die Mühe lohnt. Beim Verfassen des Vorwortes findet sich schließlich<br />
zumindest ein Teil der Antwort: Auch, um einmal offiziell danken zu können.<br />
Mein herzlicher Dank zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Hans-<br />
Michael Wolffgang. Er hat mich dazu ermutigt, in dieser Arbeit praktische<br />
Erfahrungen und wissenschaftliche Erkenntnisse zusammenzuführen. Bei<br />
der Entwicklung des Themas und in der Umsetzung hat er mich regelmäßig<br />
bestärkt. Ohne seine Geduld hätte ich diese interessante wissenschaftliche<br />
Aufgabe nicht mit meinen beruflichen Pflichten und familiären Freuden vereinbaren<br />
können. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr.<br />
Christian Calliess. Er hat nicht nur das Zweitgutachten gefertigt, sondern<br />
stand mir schon in einem sehr frühen Stadium der Arbeit mit Zeit und Rat<br />
zur Seite.<br />
Mein Dank gilt auch den Kollegen und Freunden, die mich immer in dem<br />
Projekt unterstützt und/oder mit Korrekturhilfen geholfen haben. Dazu gehören<br />
besonders Dr. Daniela Hein und Christof Wegner sowie Evelyn Helm,<br />
Johannes Höfer und Dr. Alexander von Portatius.<br />
Schließlich und ganz besonders danke ich meiner Familie. Meine Eltern Ulrike<br />
und Werner haben mir das juristische Studium ermöglicht. Und auch in<br />
den zurückliegenden Jahren waren sie jederzeit bereit, mich bei meinen Projekten<br />
und Zielen zu unterstützen. Ohne sie wäre vieles nicht möglich gewesen.<br />
Gleiches gilt selbstverständlich für meine Frau Sandra. Nicht nur ihr<br />
täglicher Zuspruch, sondern auch ihr geduldiger Verzicht sind der Grundstein<br />
für diese Arbeit. Vor allem ihre und die Lebensfreude unserer drei Kinder<br />
sind die wesentliche Quelle der Kraft und Ausdauer, die man für erfolgreiche<br />
Projekte braucht. Zum Dank dafür eine feste Umarmung!<br />
Berlin, im Mai 2009 Nils Weith<br />
VII
Inhaltsübersicht<br />
VIII
Inhaltsübersicht<br />
Inhaltsübersicht<br />
Seite<br />
Widmung ....................................................................................................... V<br />
Vorwort ........................................................................................................VII<br />
Inhaltsverzeichnis .........................................................................................XI<br />
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XXI<br />
Literaturverzeichnis ...............................................................................XXVII<br />
Einleitung.............................................................................................. 1<br />
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei<br />
Exportkontrollen.................................................................................. 3<br />
I. Standortbestimmung.......................................................................... 3<br />
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle ............................................. 4<br />
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die<br />
nationale Gesetzgebung ................................................................... 58<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1.......................................................... 79<br />
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und<br />
gerichtliche Überprüfung ................................................................. 81<br />
I. Standortbestimmung........................................................................ 81<br />
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der<br />
Verwaltung........................................................................................ 82<br />
III. Typus administrativen Handelns bei der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 117<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2........................................................ 135<br />
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung................................................... 137<br />
I. Standortbestimmung...................................................................... 137<br />
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite...................... 138<br />
IX
Inhaltsübersicht<br />
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge................................. 170<br />
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung .............................. 196<br />
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts .................... 226<br />
VI. Schlussfolgerungen aus Teil 3........................................................ 272<br />
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der<br />
Risikovorsorge bei Exportkontrollen ............................................ 273<br />
I. Standortbestimmung...................................................................... 273<br />
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten.................................................... 273<br />
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 306<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre ...... 320<br />
Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der<br />
Risikovorsorge durch Exportkontrollen ....................................... 325<br />
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse................................. 325<br />
X
Inhaltsverzeichnis<br />
Seite<br />
Widmung ....................................................................................................... V<br />
Vorwort ........................................................................................................VII<br />
Inhaltsübersicht.............................................................................................IX<br />
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XXI<br />
Literaturverzeichnis ...............................................................................XXVII<br />
Einleitung.............................................................................................. 1<br />
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei<br />
Exportkontrollen.................................................................................. 3<br />
I. Standortbestimmung.......................................................................... 3<br />
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle ............................................. 4<br />
1. Exportkontrollrecht als Teil des Außenwirtschaftsrechts..................... 5<br />
2. Geschichtliche Entwicklung ................................................................ 7<br />
a) Handelsbeschränkungen und der Weg zu<br />
Exportkontrollen ........................................................................... 8<br />
b) Exportkontrollen nach 1945.......................................................... 9<br />
c) Jüngere Entwicklungen bei Exportkontrollen............................. 11<br />
d) Ergebnis....................................................................................... 12<br />
3. Kontrollansatz und Regelungssystem ................................................ 12<br />
a) Begriff des Dual-use-Gutes und Kontrollansätze ....................... 12<br />
b) Das internationale Kontrollsystem.............................................. 15<br />
c) <strong>Die</strong> Exportkontrollregimes.......................................................... 15<br />
aa) Nuclear Suppliers Group und Zangger Committee ............. 16<br />
bb) Missile Technology Control Regime ................................... 17<br />
cc) Australische Gruppe und CWÜ ........................................... 18<br />
dd) Wassenaar Regime ............................................................... 18<br />
d) Ergebnis....................................................................................... 19<br />
4. Europäische und nationale Kontrollvorschriften ............................... 20<br />
a) Kompetenzabgrenzung................................................................ 20<br />
b) <strong>Die</strong> EG-Dual-use-Verordnung..................................................... 22<br />
c) Nationale Vorschriften................................................................. 26<br />
d) Nationale Kontrollen für Rüstungsgüter..................................... 28<br />
e) Nationale Kontrollen für Dual-use-Güter ................................... 30<br />
XI
Inhaltsverzeichnis<br />
f) Sachliche und formelle Zuständigkeit......................................... 31<br />
g) Ergebnis....................................................................................... 32<br />
5. Exportkontrollrechtliche Genehmigungstatbestände ......................... 32<br />
a) Allgemeine Erwägungen............................................................. 32<br />
b) Genehmigungsvoraussetzungen nach dem AWG ....................... 34<br />
aa) Außenwirtschaftsfreiheit und<br />
Beschränkungskriterien........................................................ 34<br />
bb) Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik ........................... 37<br />
cc) Völkerfriede ......................................................................... 39<br />
dd) Begriff der Auswärtigen Beziehungen................................. 39<br />
ee) Quantifizierung des geschützten Adressatenkreises ............ 44<br />
c) Genehmigungsvoraussetzungen nach der Dual-use-VO ............ 44<br />
d) Genehmigungskriterien im Vergleich ......................................... 46<br />
aa) Außen- und Sicherheitspolitik ............................................. 46<br />
bb) Sonstige Überlegungen ........................................................ 47<br />
e) Eingriffschwelle - Reichweite des Gefährdungsbegriffs ............ 48<br />
f) Entscheidungsleitende Vorgaben................................................. 51<br />
aa) Grundsätzliche Erwägungen bei Rüstungsexporten ............ 51<br />
bb) Genehmigungsleitlinien bei Dual-use-Gütern ...................... 54<br />
cc) Genehmigungspolitik und Selbstbindung der<br />
Verwaltung ........................................................................... 55<br />
g) Ergebnis....................................................................................... 56<br />
6. Verfahrenserleichterungen.................................................................. 57<br />
7. Zusammenfassung der Ergebnisse ..................................................... 57<br />
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die<br />
nationale Gesetzgebung ................................................................... 58<br />
1. Das nationale Verwaltungsrecht......................................................... 58<br />
a) Historie und Rechtsquellen des Verwaltungsrechts .................... 58<br />
b) Systematik des Verwaltungsrechts .............................................. 60<br />
c) Verfassungsrechtliche Vorgaben und Einflüsse .......................... 61<br />
d) Ergebnis....................................................................................... 62<br />
2. Das Gemeinschaftsverwaltungsrecht ................................................. 62<br />
3. Verfahrensgrundsätze und Grundrechte............................................. 65<br />
a) Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit............................................... 67<br />
b) Exportkontrollrelevante Grundrechte ......................................... 70<br />
c) Ergebnis....................................................................................... 71<br />
4. Vollzug des Gemeinschaftsrechts....................................................... 71<br />
a) Anwendungsvorrang und Rechtsangleichung............................. 71<br />
aa) Auflösung der direkten Kollision......................................... 72<br />
bb) Auflösung der indirekten Kollision...................................... 74<br />
XII
Inhaltsverzeichnis<br />
cc) Ergebnis................................................................................ 76<br />
b) Anwendungsvorrang und Exportkontrolle.................................. 76<br />
c) Ergebnis....................................................................................... 79<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1.......................................................... 79<br />
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und<br />
gerichtliche Überprüfung ................................................................. 81<br />
I. Standortbestimmung........................................................................ 81<br />
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der<br />
Verwaltung........................................................................................ 82<br />
1. Strukturelle Umsetzung der Verwaltungsautonomie.......................... 82<br />
2. Verfassungsvorgaben und Verwaltungsautonomie............................. 83<br />
a) Verfassungsvorgaben und Kontrolldichte ................................... 83<br />
b) Struktur der Verwaltungsautonomie und<br />
Genehmigungsanspruch .............................................................. 84<br />
c) Rechtsprechung des BVerfG ....................................................... 85<br />
d) Ergebnis....................................................................................... 87<br />
3. Überprüfungskompetenz der Gerichte............................................... 88<br />
a) <strong>Die</strong> Ermessensfehlerlehre ........................................................... 88<br />
aa) <strong>Die</strong> rechtliche Ausgestaltung von Ermessen........................ 88<br />
bb) Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung............... 89<br />
(1) Ermessensfehlgebrauch (Ermessensdefizit und<br />
unzureichende Sachverhaltsermittlung) ...................... 89<br />
(2) Ermessensnichtgebrauch ............................................. 90<br />
(3) Ermessensüberschreitung ............................................ 90<br />
(4) Ermessensreduzierung (auf Null)................................ 91<br />
cc) Subjektiver Anspruch des Betroffenen ................................ 91<br />
b) Beurteilungsspielraum der Verwaltung....................................... 92<br />
aa) Rechtsgrundlagen................................................................. 92<br />
bb) Grad der Bestimmtheit der Norm......................................... 95<br />
cc) Grundsätze der gerichtlichen Prüfungstiefe......................... 97<br />
c) Abgrenzungsfragen und rechtstechnische Konsequenzen.......... 99<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 100<br />
4. Gemeinschaftsrechtliche Betrachtung.............................................. 101<br />
a) Entscheidungsspielraum im<br />
Gemeinschaftsverwaltungsrecht ............................................... 101<br />
b) Interpretation der EuGH-Rechtsprechung mittels<br />
Rechtsvergleich ......................................................................... 106<br />
5. <strong>Die</strong> rechtlichen Folgen fehlerhafter Ermessensausübung................ 111<br />
XIII
Inhaltsverzeichnis<br />
6. Gemeinsamkeiten der gerichtlichen Prüfungstiefe im<br />
nationalen Recht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht ................... 113<br />
a) Vergleich der Fehlerlehren ........................................................ 113<br />
b) Einheitliches Prüfungsschema und Gewichtung der<br />
Evidenzlehre.............................................................................. 116<br />
7. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 117<br />
III. Typus administrativen Handelns bei der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 117<br />
1. <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung in der Exportkontrolle .......................... 118<br />
a) Vorbemerkungen zum Vergleich der Regelungsbereiche<br />
in AWG und Dual-use-VO........................................................ 118<br />
b) Verwendungsprognose und Sachverhaltsermittlung................. 119<br />
aa) Verwendungsprognose als Grundlage der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>......................................................... 119<br />
bb) Zutreffende Sachverhaltsermittlung................................... 120<br />
c) Instrumente der Erkenntnisgewinnung ..................................... 122<br />
d) Erkenntnisdefizite ..................................................................... 123<br />
e) Mitwirkungspflichten und Beweislast ...................................... 125<br />
f) Ergebnis..................................................................................... 126<br />
2. Qualität der Genehmigungsentscheidung ........................................ 126<br />
a) Nationale Genehmigungstatbestände........................................ 126<br />
b) Gemeinschaftsrechtlicher Genehmigungstatbestand und<br />
die Entscheidungsprärogative ................................................... 128<br />
aa) Wortlaut und Normzweck .................................................. 128<br />
bb) Ansatz der Einschätzungsprärogative und<br />
Rechtsprechung.................................................................. 129<br />
cc) Kompensation der Kontrolldefizite durch Verfahren......... 132<br />
c) Ergebnis..................................................................................... 132<br />
3. Fehlerfolgen und Bestandskraft der Entscheidung .......................... 133<br />
4. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 135<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2........................................................ 135<br />
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung................................................... 137<br />
I. Standortbestimmung...................................................................... 137<br />
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite...................... 138<br />
1. Der Sicherheitsbegriff im Wandel.................................................... 139<br />
a) Innere und äußere sowie technische Sicherheit ........................ 139<br />
b) Sicherheit, Fortschritt und Vorsorge.......................................... 142<br />
XIV
Inhaltsverzeichnis<br />
c) Ergebnis..................................................................................... 143<br />
2. Sicherheit und Verfassung................................................................ 143<br />
3. Qualität des staatlichen Sicherheitsauftrages................................... 146<br />
a) Sicherheit als Gemeinwohlbelang............................................. 146<br />
b) Grundrecht auf Sicherheit und staatliche Schutzpflichten........ 147<br />
c) Sicherheitsbegriff und Schutzpflichtendogmatik auf EU-<br />
Ebene......................................................................................... 150<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 152<br />
4. Reichweite des Sicherheitsbegriffs .................................................. 153<br />
a) Gefahrenbegriff ......................................................................... 153<br />
aa) Nationales Recht ................................................................ 153<br />
bb) Gemeinschaftsrecht............................................................ 156<br />
cc) Abgrenzung der Gefahrenschwelle.................................... 157<br />
b) Konkrete, abstrakte und latente Gefahr..................................... 157<br />
c) Risiko und Restrisiko ................................................................ 159<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 161<br />
5. Das Vorsorgeprinzip......................................................................... 161<br />
a) Zusammenhang von Wissen und Sicherheit ............................. 161<br />
b) Der Vorsorgestaat ...................................................................... 164<br />
c) Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht....................................... 166<br />
aa) Entwicklung des Vorsorgeprinzips im internationalen<br />
Kontext............................................................................... 166<br />
bb) Das Vorsorgeprinzip in der Rechtspraxis........................... 168<br />
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge................................. 170<br />
1. Reichweite des Vorsorgetatbestandes und<br />
Verhaltenssteuerung ......................................................................... 171<br />
a) Kompetenzabgrenzung, Gesetzesvorbehalt und<br />
Bestimmtheitsgrundsatz ............................................................ 171<br />
b) Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften ...................... 172<br />
c) Instrumente der Verhaltenssteuerung ........................................ 174<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 176<br />
2. Struktur des Vorsorgeprinzips .......................................................... 177<br />
a) Feststellung eines Vorsorgeanlasses.......................................... 178<br />
b) Sachverhaltsermittlung und Bewertung.................................... 179<br />
aa) Bestimmung des Schadenpotenzials - Prognose................ 179<br />
bb) Standardisierte Risikoschwellen ........................................ 180<br />
cc) Verfahrensansätze zur Kompensation von<br />
Erkenntnisdefiziten ............................................................ 181<br />
c) Vorsorgeprinzip und Beweislast................................................ 184<br />
aa) Allgemeine Beweislastgrundsätze ..................................... 185<br />
XV
Inhaltsverzeichnis<br />
bb) Beweiserhebung bei Erkenntnisdefiziten und<br />
Modifikation der Beweislast .............................................. 187<br />
cc) Beweislast und Verfassung................................................. 191<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 194<br />
3. Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses.................................................... 194<br />
4. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 196<br />
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung .............................. 196<br />
1. Subjektiv öffentlicher Anspruch auf Sicherheit ............................... 197<br />
2. Auflösung der Interessenkollision durch Abwägung....................... 201<br />
a) Verhältnismäßigkeit und Risikoverteilung................................ 202<br />
b) <strong>Die</strong> klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung ............................ 204<br />
aa) Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit ................ 204<br />
bb) Verursachungszuweisung ................................................... 205<br />
cc) Interessen des Betroffenen und Gemeinwohl .................... 207<br />
dd) Mehrpolige Grundrechtsbeziehungen und wirksamer<br />
Grundrechtsschutz.............................................................. 208<br />
ee) Untermaßverbot und multipolare<br />
Verhältnismäßigkeitsprüfung ............................................. 210<br />
c) <strong>Die</strong> Freiheitsverträglichkeitsprüfung im multipolaren<br />
Verfassungsrechtsverhältnis ...................................................... 213<br />
aa) Staatliche Handlungsverpflichtung .................................... 213<br />
bb) Berücksichtigung staatlicher Schutzpflichten im<br />
Verfahren............................................................................ 215<br />
cc) Interessenabwägung durch die<br />
Freiheitsverträglichkeitsprüfung ........................................ 216<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 220<br />
3. Gerichtliche Kontrolle der multipolaren Entscheidung ................... 221<br />
a) Legislatives Tätigwerden .......................................................... 221<br />
b) Kontrolle der Genehmigungsentscheidung............................... 223<br />
c) Ergebnis..................................................................................... 225<br />
4. Zusammenfassung der Ergebnisse ............................................ 226<br />
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts .................... 226<br />
1. Risiko und Vorsorgeprinzip im Polizeirecht .................................... 227<br />
a) Subjektivierung der Gefahr und vorbeugende Prävention<br />
im Polizeirecht .......................................................................... 228<br />
b) Vorsorge als bereichsübergreifendes allgemeines<br />
Rechtsprinzip............................................................................. 233<br />
c) Spezifisch im Polizeirecht angelegtes Vorsorgeprinzip ............ 235<br />
aa) Eingriffsadressat und Störerprinzip.................................... 235<br />
XVI
Inhaltsverzeichnis<br />
bb) Aufgabenabgrenzung der Polizei zu anderen<br />
Behörden ............................................................................ 236<br />
cc) Vorliegen von Erkenntnisdefiziten und Bestimmung<br />
der Eingriffsschwelle ......................................................... 240<br />
dd) Kooperative Ansätze und Rationalisierung des<br />
Verfahrens .......................................................................... 241<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 243<br />
2. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf Exportkontrollen ........... 243<br />
a) Wortlaut und Schutzzweck der Genehmigungstatbestände ...... 244<br />
aa) Allgemeine Abgrenzungsfragen......................................... 244<br />
bb) Struktureller Normansatz und Sicherheit als<br />
Bezugspunkt der Prognose.................................... 245<br />
cc) Bezugnahme auf Sicherheit als Kollektivbelang ............... 248<br />
dd) Konkretisierung des Normzwecks ..................................... 251<br />
ee) Abgrenzung von Gefahr und Risiko im Kontext von<br />
Ungewissheit...................................................................... 252<br />
ff) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von<br />
Rüstungsgütern................................................................... 255<br />
gg) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von Dual-use-<br />
Gütern................................................................................. 256<br />
hh) Zusammenfassende Wertung des Risikobezugs von<br />
Exportkontrollen ................................................................ 260<br />
b) Normkonkretisierung und standardisierte<br />
Eingriffsschwellen..................................................................... 261<br />
c) Sicherstellung der beabsichtigten Endverwendung im<br />
Verfahren................................................................................... 265<br />
aa) Aufklärung zur Minimierung von<br />
Erkenntnisdefiziten und Transparenzgebot........................ 265<br />
bb) Rationalisierung des Verfahrens und kooperative<br />
Ansätze............................................................................... 267<br />
d) Vergleich der Exportkontrollen zum technischen<br />
Sicherheitsrecht......................................................................... 269<br />
3. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf die Europäische<br />
Regelungsebene................................................................................ 271<br />
VI. Schlussfolgerungen aus Teil 3........................................................ 272<br />
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der<br />
Risikovorsorge bei Exportkontrollen ............................................ 273<br />
I. Standortbestimmung...................................................................... 273<br />
XVII
Inhaltsverzeichnis<br />
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten.................................................... 273<br />
1. Bestehen eines Vorsorgeanlasses, Bestimmtheit der Norm und<br />
Beweislast ........................................................................................ 274<br />
a) Bestimmtheitsgebot und Verfahrenskompensation................... 275<br />
b) Normstruktur und angemessene Beweislastverteilung ............. 275<br />
c) Ergebnis..................................................................................... 280<br />
2. Verhältnismäßigkeit der Genehmigungserfordernisse .................... 280<br />
a) Exportkontrollrelevante Grundrechte und ihre Schranken ....... 280<br />
aa) Gleichbehandlungsgrundsatz und Willkürverbot............... 281<br />
bb) Handlungsfreiheit............................................................... 282<br />
cc) Berufsausübungsfreiheit und unternehmerische<br />
Freiheit ............................................................................... 283<br />
dd) Eigentumsgarantie.............................................................. 285<br />
ee) Zusammenfassung.............................................................. 287<br />
b) Bestimmung der betroffenen Schutzgüter bzw.<br />
potenziellen Risikoopfer ........................................................... 287<br />
aa) Bezug der Abwägung beim Schutz des<br />
Kollektivrechtsgutes Sicherheit ......................................... 287<br />
bb) Rechte des Betroffenen in Verbindung mit dem<br />
Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und<br />
Gesundheit.......................................................................... 288<br />
c) Abwägung der Belange im Rahmen der klassischen<br />
Verhältnismäßigkeitsprüfung und der multipolare<br />
Prüfungsansatz .......................................................................... 289<br />
aa) Klassischer Prüfungsansatz................................................ 289<br />
bb) Begründung zum multipolaren Prüfungsansatz ................. 290<br />
cc) Grundrechtsgeltung und Schutzadressat ............................ 291<br />
dd) Individualisierung der geschützten Rechtsgüter ................ 293<br />
ee) Verhältnismäßigkeitsprüfung der einschlägigen<br />
Genehmigungserfordernisse............................................... 294<br />
(1) Mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis ................. 295<br />
(2) Genehmigungserfordernis als geeignetes<br />
Schutzkonzept ........................................................... 296<br />
(3) Erforderlichkeit des Schutzkonzeptes -<br />
Alternativenprüfung und<br />
Entscheidungskorridor............................................... 296<br />
(4) Interessenabwägung und zumutbarer Eingriff .......... 299<br />
(5) Typisierungen des zumutbaren Eingriffs................... 303<br />
(6) Zwischenergebnis...................................................... 305<br />
d) Ergebnis..................................................................................... 306<br />
XVIII
Inhaltsverzeichnis<br />
3. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 306<br />
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>..................................................................... 306<br />
1. Ermessensfehlerlehren und begrenzter Prüfungsrahmen................. 307<br />
a) Abgrenzung nationaler und gemeinschaftsrechtlicher<br />
Prüfungstiefe ............................................................................. 307<br />
b) Prüfungsschema unter Einbeziehung von<br />
Ermessensfehlerlehren und Vorsorgestrukturen........................ 308<br />
2. Formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung.................................... 310<br />
3. Materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung im Kontext von<br />
Entscheidungsspielraum und Vorsorgeprinzip................................. 310<br />
a) Vorsorgeanlass - administrative Risikoermittlung bei der<br />
Exportkontrolle ......................................................................... 311<br />
b) Bewertung des Vorsorgeanlasses und Einhaltung des<br />
Abwägungsrahmens .................................................................. 313<br />
aa) Ermessensgrenzen und Abwägungsrahmen....................... 313<br />
bb) Betroffene Belange und Abwägungsvorgang..................... 314<br />
c) Ergebnis..................................................................................... 318<br />
4. Fehlerfolgen: Nichtigkeit oder Aufhebung der Entscheidung ......... 318<br />
5. Zusammenfassung der Ergebnisse ................................................... 319<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre ...... 320<br />
Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der<br />
Risikovorsorge durch Exportkontrollen ....................................... 325<br />
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse................................. 325<br />
XIX
Abkürzungsverzeichnis<br />
Abkürzungsverzeichnis<br />
AA Auswärtiges Amt<br />
a.A. andere Ansicht<br />
a.a.O. am angegebenen Ort<br />
ABC-Waffen- Atom-, biologische-, chemische Waffen<br />
ABl. EG Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften<br />
Abs. Absatz<br />
Abschn. Abschnitt<br />
a.F. alte Fassung<br />
AG Allgemeingenehmigung, Australische Gruppe,<br />
Aktiengesellschaft, Amtsgericht<br />
AHK Alliierte Hohe Kommission<br />
AL Ausfuhrliste<br />
Alt. Alternative<br />
Amtl. Amtlich<br />
Anh. Anhang<br />
Anm. Anmerkung<br />
AÖR Archiv des öffentlichen Rechts<br />
Art. Artikel<br />
ASV Atomwaffensperrvertrag (=NPT)<br />
Aufl. Auflage<br />
ausf. ausführlich<br />
AWG Außenwirtschaftsgesetz<br />
AW-Prax Außenwirtschaftliche Praxis (Jahr, Seite)<br />
AWR Außenwirtschaftsrecht<br />
AWV Außenwirtschaftsverordnung<br />
Az. Aktenzeichen<br />
AzG Auskunft zur Güterliste<br />
BAFA Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle<br />
BAnz Bundesanzeiger<br />
BAW Bundesamt für Wirtschaft<br />
Bd. Band<br />
Begr. Begründung<br />
Bek. Bekanntmachung<br />
BGB Bürgerliches Gesetzbuch<br />
BGBl (I, II) Bundesgesetzblatt Teil I, Teil 2 (Jahr/Seite)<br />
BGH Bundesgerichtshof<br />
BK Bundeskanzleramt<br />
XXI
Abkürzungsverzeichnis<br />
BKA Bundeskriminalamt<br />
BMF Bundesministerium der Finanzen<br />
BMI Bundesministerium des Innern<br />
BMJ Bundesministerium der Justiz<br />
BMVg Bundesministerium der Verteidigung<br />
BMWi Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie<br />
BMZ Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung<br />
BND Bundesnachrichtendienst<br />
BSI Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik<br />
BSR Bundessicherheitsrat<br />
BReg Bundesregierung<br />
BTag Bundestag<br />
BT-Drs.- Bundestagsdrucksache (Legislaturperiode/Nummer)<br />
BVerfG Bundesverfassungsgericht<br />
BVerfGE Bundesverfassungsgerichtsentscheidung<br />
(Band/Seite)<br />
BVerwG Bundesverwaltungsgericht<br />
BVerwGE Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung<br />
(Band/Seite)<br />
BWÜ Übereinkommen über biologische und Toxinwaffen<br />
bzw. beziehungsweise<br />
ca. circa<br />
CoArm Ratsarbeitsgruppe der EU im Bereich Waffen<br />
und Rüstungsgüter<br />
CoCom Coordination Committee for Multilateral Export<br />
Controls<br />
COREU Telexnetz der außenpolitischen Zusammenarbeit<br />
CWÜ Chemiewaffenübereinkommen<br />
CWÜAG Ausführungsgesetz zum CWÜ<br />
CWÜV Ausführungsverordnung zum CWÜAG<br />
ders. derselbe<br />
d.h. das heißt<br />
Dok. Dokument<br />
DÖV <strong>Die</strong> öffentliche Verwaltung<br />
Dual-use-VO EG-Dual use -Verordnung<br />
DVBl Deutsches Verwaltungsblatt (Jahr/Seite)<br />
XXII
Abkürzungsverzeichnis<br />
EAG Europäische Atom Gemeinschaft<br />
EG Europäische Gemeinschaft<br />
EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl<br />
EGV Vertrag über die Europäischen Gemeinschaft<br />
EG-VO EG-Verordnung<br />
EL Einfuhrliste<br />
EMRK Europäische Menschenrechtskonvention<br />
Entw. Entwurf<br />
erg. ergänzend<br />
Erl. Erlass (Behörde)<br />
EuGH Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften<br />
EU Europäischen Union<br />
EUC End use Certificate (auch EVE = Endverwendungserklärung)<br />
EUR Euro (Währung)<br />
EUV Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-<br />
Vertrag)<br />
EVE siehe EUC<br />
EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft<br />
f. folgende<br />
FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
ff. fortfolgende<br />
Fn. Fußnote<br />
FS Festschrift<br />
FuE Forschung und Entwicklung<br />
G8 Gruppe der acht führenden Industrieländer<br />
GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
GATS Allgemeines Abkommen über den Handel mit<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen<br />
GATT Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen<br />
gem. gemäß<br />
GewO Gewerbeordnung<br />
GG Grundgesetz<br />
ggf. gegebenenfalls<br />
GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung<br />
COARM EU-Ratsarbeitsgruppe betreffend Rüstungsgüterkontrollen<br />
grds. Grundsätzlich<br />
h.A. herrschende Ansicht<br />
Haddex Handbuch der deutschen Exportkontrolle<br />
XXIII
Abkürzungsverzeichnis<br />
HdB Handbuch<br />
HFSK-Report Report der Hessischen Stiftung Friedens- und<br />
Konfliktforschung<br />
Hrsg. Herausgeber<br />
IAEO/IAEA Internationale Atomenergie Organisation = International<br />
Atomic Energy Agency<br />
IC Import Certificate<br />
i.d.F. in der Fassung<br />
i.d.R. in der Regel<br />
i.e.S. im engeren Sinne<br />
IHK Industrie- und Handelskammer<br />
i.V.m. in Verbindung mit<br />
i.Z.m. in Zusammenhang mit<br />
JA Juristische Arbeit (Jahr/Seite)<br />
JR Juristische Rundschau (Jahr/Seite)<br />
Jura Juristische Ausbildung (Jahr/Seite)<br />
JuS Juristische Schulung (Jahr/Seite)<br />
JZ Juristische Zeitung (Jahr/Seite)<br />
KOM Europäische Kommission<br />
KR Kontrollrat<br />
KWKG Kriegswaffenkontrollgesetz<br />
KWL Kriegswaffenliste<br />
Lit. Literatur<br />
Losebl.-Slg. Loseblattsammlung<br />
MRG Militärregierungsgesetz<br />
MTCR Missile Technology Control Regime<br />
NATO Nordatlantikvertragsorganisation<br />
n.F. neue Fassung<br />
NJW Neue Juristische Wochenschrift (Jahr/Seite)<br />
NPT Non Proliferation Treaty (auch NVV= Nichtverbreitungsvertrag)<br />
Nr. Nummer<br />
NSG Nuclear Suppliers Group<br />
NStE Neue Entscheidungssammlung zum Strafrecht<br />
NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht (Jahr/Seite)<br />
NRO Nichtregierungsorganisation<br />
NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht<br />
OFD Oberfinanzdirektion<br />
o.g. oben genannt<br />
OHG Offene Handelsgesellschaft<br />
OLAF Amt für Betrugsbekämpfung<br />
XXIV
Abkürzungsverzeichnis<br />
OLG Oberlandesgericht<br />
OPCW Organisation für das Verbot chemischer Waffen<br />
OSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit<br />
in Europa<br />
OwiG Ordnungswidrigkeitengesetz<br />
POLARM EU-Ratsarbeitsgruppe zur Abrüstungspolitik<br />
RA Runderlass Außenwirtschaft<br />
RG Reichsgericht<br />
RGBl I, II Reichsgesetzblatt Teil I, Teil 2 (Band/Seite)<br />
Rs Rechtssache<br />
Rspr. Rechtsprechung<br />
SE Europäische Aktiengesellschaft<br />
Slg. Sammlung<br />
s.o. siehe oben<br />
StGB Strafgesetzbuch<br />
StPO Strafprozessordnung<br />
SWP Stiftung für Wissenschaft und Politk<br />
u.a. und andere/ unter anderem<br />
Urt. Urteil<br />
usw. und so weiter<br />
TU Technische Unterstützung<br />
TWA Trading with The Enemy Act<br />
verb. verbundene<br />
VerwArchiv Verwaltungsarchiv (Jahr/Seite)<br />
vgl. vergleiche<br />
VN Vereinte Nationen<br />
VN-Res Resolution der Vereinten Nationen (Beschluss)<br />
VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz<br />
VWGO Verwaltungsgerichtsordnung<br />
WaffenG Waffengesetz<br />
WTO Welthandelsorganisation<br />
z.B. zum Beispiel<br />
ZIS Zollinformationssystem<br />
ZK Zollkodex<br />
ZKA Zollkriminalamt<br />
ZPO Zivilprozessordnung<br />
XXV
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XLII
Einleitung<br />
I. Standortbestimmung<br />
<strong>Die</strong>se Arbeit befasst sich mit den praktischen Auswirkungen, die das Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
auf die Anwendung nationalen Rechts hat. Ein<br />
konkretes Beispiel dafür bietet das Recht der Exportkontrolle, welches für<br />
die vorliegende Untersuchung im Mittelpunkt stehen soll. In diesem Rechtsgebiet<br />
können verfahrensrechtliche Einflüsse des Gemeinschaftsrechts, vor<br />
allem im Rahmen der Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> nach der Verordnung<br />
(EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22. Juni 2000 über eine Gemeinschaftsregelung<br />
für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien<br />
mit doppeltem Verwendungszweck1 (im Folgenden Dual-use-VO), zu<br />
gegenüber rein nationalen Kontrollpflichten divergierenden Entscheidungsmaßstäben<br />
führen. Teilbereiche des Exportkontrollrechts und einzelne <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände<br />
werden aus Kompetenzgründen oder aufgrund<br />
einer gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung noch immer im nationalen<br />
Recht geregelt, dort auf der Rechtsgrundlage des Außenwirtschaftsgesetzes<br />
(im Folgenden AWG) und der Außenwirtschaftsverordnung (im<br />
Folgenden AWV).<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en können also nach beiden Rechtskreisen erteilt werden.<br />
Folgende Beispiele sollen das veranschaulichen:<br />
(1) Das Unternehmen M soll Kryptosoftware nach Russland liefern. <strong>Die</strong><br />
Software ist in Anhang I der Dual-use-VO gelistet, ihre Lieferung aus<br />
der EU daher gemeinschaftsrechtlich genehmigungspflichtig.<br />
(2) Der Reifenhersteller C erhält einen Auftrag zur Lieferung von LKW-<br />
Reifen an das syrische Militär. <strong>Die</strong> Reifen sind nicht gelistet. Eine Genehmigungspflicht<br />
besteht dennoch nach der nationalen Regelung des<br />
§ 5c AWV, weil die Lieferung in ein Land der Länderliste K geht und<br />
eine militärische Verwendung geplant ist.<br />
<strong>Die</strong> Arbeit greift die Folgen des Auseinanderfallens der Regelungskreise für<br />
die Entscheidungsfindung auf. Im Rahmen des jeweiligen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestandes<br />
spielt der Entscheidungsspielraum der Behörde eine besondere<br />
Rolle. Ob es hierbei zu inhaltlichen Abweichungen zwischen europäischer<br />
und nationaler Rechtsgrundlage kommt, richtet sich nach den jeweils<br />
einschlägigen materiellen Entscheidungskriterien und den formellen<br />
Verfahrensvorgaben. So richtet sich Beispiel 1 nach den Vorgaben des Gemeinschaftsrechts,<br />
Beispiel 2 nach dem nationalen Verwaltungsrecht. Vor al-<br />
1 Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22. Juni 2000, Abl. EG Nr. L 159 S. 1<br />
1
Einleitung<br />
lem die jeweils einschlägigen Grundsätze zur Ausübung von Verwaltungsermessen<br />
und entsprechende gerichtliche Prüfungsmaßstäbe können die Behördenentscheidung<br />
im jeweiligen Regelungsbereich beeinflussen. <strong>Die</strong><br />
Möglichkeit, in beiden Rechtskreisen tätig zu werden, stellt die zuständige<br />
Verwaltungsbehörde demnach vor zusätzliche Herausforderungen. Ob und<br />
in welchem Ausmaß in den jeweiligen Regelungsbereichen tatsächlich unterschiedliche<br />
Maßstäbe für die Verwaltungsentscheidung gelten, muss auch<br />
im Rahmen des sicherheitsrechtlichen Kontextes beantwortet werden. Für<br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong> Genehmigungstatbestände ist das Prognoseelement<br />
der Rechtsgutgefährdung von besonderer Bedeutung. Insoweit muss die vorliegende<br />
Arbeit allgemeine Grundsätze zur gerichtlichen Prüfung von Prognoseentscheidungen<br />
ebenso berücksichtigen wie die sicherheitsrechtlichen<br />
Grundsätze zu den Anforderungen an die Gefahrenabwehr.<br />
<strong>Die</strong> Grenze der Untersuchung ergibt sich aus den konkreten Bezugsnormen<br />
im Kontext der Genehmigungspflichten bei Dual-use-Gütern. Wenngleich<br />
sich die vorliegende Arbeit wegen der Perspektive von EG-Recht und<br />
AWG/AWV auf die Regelungen zu Dual-use-Gütern beschränkt, ist hinsichtlich<br />
wesentlicher Abgrenzungsfragen auch ein Blick auf die Funktionsweise<br />
von Rüstungsgüterkontrollen notwendig. Denn auf nationaler Ebene<br />
gleichen sich die rechtlichen Vorgaben zur Entscheidung strukturell,<br />
die Genehmigungskriterien einbezogen. Im Rahmen der einschlägigen<br />
Prognoseentscheidung wird es aber im Wesentlichen auf den Vergleich der<br />
nationalen und europäischen Dual-use-Güter-Kontrolle ankommen. Hierbei<br />
werden in Rechtsprechung und Wissenschaft herausgearbeitete verfassungsrechtliche<br />
und sicherheitsrechtliche Aspekte aufgegriffen, soweit diese für<br />
Ausfuhrentscheidungen von Relevanz sind. Bezogen auf die Reichweite der<br />
staatlichen Sicherheitsgewährleistungen und die Bestimmung der Eingriffsschwelle<br />
sollen dabei Gefahren- und Risikoprävention abgegrenzt sowie die<br />
Übertragbarkeit technischer wie verhaltensbezogener Kontrollansätze aus<br />
anderen Bereichen des Sicherheitsrechts untersucht werden.<br />
Ziel der Untersuchung ist es letztlich, konkrete Prüfungsmaßstäbe für die<br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong> <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> herauszuarbeiten, die Anhaltspunkte<br />
für die verfassungsrechtlichen Grenzen und die gerichtliche Prüfungstiefe<br />
bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Behördenentscheidungen bieten.<br />
Am Ende der Arbeit soll ein Prüfungsschema stehen, das die verfassungsrechtlichen<br />
Maßstäbe bei Entscheidungsspielräumen und die Kriterien für<br />
eine prognoseorientierte Ausübung staatlicher Schutzpflichten im sicherheitsrechtlichen<br />
Gefahren- und Risikoumfeld zusammenführt.<br />
2
I. Standortbestimmung<br />
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
I. Standortbestimmung<br />
Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle kennzeichnet sich durch die Besonderheit<br />
nebeneinander stehender nationaler Regelungen nach dem AWG und<br />
der AWV sowie nach der gemeinschaftsrechtlichen Dual-use-VO. In beiden<br />
Bereichen bestehen Genehmigungspflichten für die Ausfuhr von Dual-use-<br />
Gütern. <strong>Die</strong>se Situation beruht auf den EU-Kompetenzen zur Handelspolitik<br />
(Art. 133 EG). <strong>Die</strong>se werden durch im nationalen Bereich verbliebene<br />
Kompetenzen der Sicherheitspolitik eingeschränkt (Art. 296 EG). Damit<br />
bietet das Exportkontrollrecht zahlreiche Anknüpfungspunkte für das Verhältnis<br />
und den Vergleich europäischer und nationaler Vorschriften sowie die<br />
Wirkung übergeordneter Prinzipien. Das Nebeneinander der Regelungen<br />
wird auch mit den Begriffen Parallelität, Zweigleisigkeit oder Duales Recht<br />
umschrieben. Im Kontext der Kontrollermächtigungen spielen auch internationale<br />
Vereinbarungen eine Rolle.<br />
<strong>Die</strong> Kriterien für die jeweils relevanten Genehmigungstatbestände ergeben<br />
sich aus den Vorschriften und übergeordneten Prinzipen beider Rechtskreise.<br />
Es gelten die allgemeinen Auslegungsgrundsätze. Im Vergleich der Kriterien<br />
lässt sich feststellen, ob es zu unterschiedlichen Kontrollmaßstäben kommt.<br />
Wegen des engen Bezuges zu Fragen der sicherheits- und außenpolitischen<br />
Interessen des Staates sind auch die hiermit verbundenen Maßstäbe von Bedeutung.<br />
<strong>Die</strong> <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungskriterien und politischen<br />
Leitlinien reichen für die Entscheidungsfindung nicht aus. <strong>Die</strong> Behörde<br />
kann den tatsächlich zu Grunde liegenden Sachverhalt oftmals nur<br />
schwer ermitteln. Gerade bei Dual-use-Gütern stellen sich für die Verifikation<br />
der Antragsangaben besondere Herausforderungen, da Verwendungsmöglichkeiten<br />
für militärische und zivile Bereiche denkbar sind. Hinzu kommt<br />
die Prognose, die der tatbestandsmäßige „Gefahrenbegriff“ erfordert. Hier<br />
muss eine Wertung des Rechtsanwenders erfolgen, gleichwohl muss die Behörde<br />
die Grenzen der damit verbundenen Wertungsspielräume einhalten.<br />
<strong>Die</strong> Behörde muss die Vorgaben des allgemeinen Verfahrensrechts und darüber<br />
stehenden Verfahrensprinzipien des Gemeinschaftsverwaltungsrechts<br />
beachten. Es ist untrennbarer Bestandteil der Gemeinschaftsverfassung. Es<br />
legitimiert das Verwaltungshandeln auf europäischer Ebene. Es kommt zu<br />
einer mittelbaren oder zur direkten Verwaltung europarechtlicher Vorschrif-<br />
3
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
ten, entweder durch die nationalen oder aber durch europäische Verwaltungsbehörden.<br />
Im vorliegenden Kontext der Exportkontrolle geht es um die<br />
direkte Verwaltung europäischer Vorschriften durch die nationale Behörde.<br />
Ein Allgemeines Verwaltungsgesetz, wie auf nationaler Ebene, gibt es im<br />
Gemeinschaftsverwaltungsrecht nicht. Dennoch wird zwischen „besonderen“<br />
Verwaltungsvorschriften im Rahmen der jeweils einschlägigen Rechtsetzung<br />
durch die EG sowie aus den Verträgen abgeleiteten „allgemeinen“<br />
Verfahrensgrundsätzen unterschieden. Letztere ergeben sich aus dem Verfassungskontext<br />
der Verwaltungsvorschriften. <strong>Die</strong>se Vorgaben nehmen auf<br />
nationales Recht Einfluss und müssen in die Prüfung einbezogen werden.<br />
Einander widersprechende Vorgaben müssen aufgelöst werden. Das kann<br />
sich auf den Vollzug der materiellen Genehmigungsvorschriften auswirken.<br />
<strong>Die</strong> einheitliche Rechtsanwendung in der EU muss im Rahmen der Verträge<br />
stattfinden. <strong>Die</strong> vertragskonforme Auslegung der jeweiligen Norm erfordert<br />
die Einbeziehung der Harmonisierungsziele.<br />
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Das Tätigwerden der Verwaltungsbehörde auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht<br />
oder von nationalem Recht wird auch als zweigleisiges Verwaltungshandeln<br />
bezeichnet. Das ist denkbar, wenn die Europäische Gemeinschaft<br />
tätig wird und nationale Kompetenzen fortbestehen. Art. 23 Abs. 1<br />
GG berechtigt und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland zur Übertragung<br />
hoheitlicher Kompetenzen an die EU, deren Organe nach Maßgabe<br />
des Gemeinschaftsvertrages handeln2 . Gleichzeitig unterliegt die EU nach<br />
Art. 2 Abs. 2 EUV dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Sie darf<br />
zur Erreichung von Gemeinschaftszielen tätig werden, wenn Maßnahmen<br />
der Mitgliedstaaten selbst dafür nicht ausreichen3 . Auf diese Weise können<br />
die Kompetenzen der Mitgliedstaaten ganz oder teilweise beschränkt werden.<br />
Bei den Exportkontrollen hat die Gemeinschaft Regelungsbefugnisse für<br />
unmittelbar der Handelspolitik zuzurechnende Maßnahmen. <strong>Die</strong> Ausfuhr<br />
von Rüstungsgütern ist hier nicht berührt, sie wird der Sicherheitspolitik zugeordnet.<br />
Darauf beruhende Beschränkungen sind dem nationalen Recht<br />
vorbehalten. Das auch als ordre public bezeichnete Prinzip des Vorbehaltes<br />
nationaler Interessen der Sicherheit und Ordnung kann bei handelspolitisch<br />
2 Maurer, Staatsrecht I, S. 128<br />
3 Vgl. hierzu Hilf/Pache, in Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar<br />
zum EUV und EGV, Bd. I, Art 2 EUV Rn 22<br />
4
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
motivierten Regelungen zu nationalen Sonderregelungen führen. Auf Basis<br />
dieser verschiedenen Regelungskompetenzen hat sich das Rechtsgebiet der<br />
Exportkontrolle entwickelt. <strong>Die</strong> damit erforderliche Kompetenzabgrenzung<br />
bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en muss anhand des einschlägigen Sachverhaltes<br />
erfolgen. <strong>Die</strong> Bestimmung des Kompetenzrahmens richtet sich zunächst<br />
nach der Unterscheidung von Rüstungs- und Dual-use-Gütern. Für die Ausfuhr<br />
von Dual-use-Gütern können beide Rechtskreise einschlägig sein. Dort<br />
kommt es zur Zweigleisigkeit des Exportkontrollrechts. <strong>Die</strong> Unterschiede<br />
auf Tatbestands- und Rechtsfolgenebene wie im Verfahrensrecht können<br />
sich auf die Behördenentscheidung auswirken.<br />
1. Exportkontrollrecht als Teil des Außenwirtschaftsrechts<br />
Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle gehört zum besonderen Verwaltungsrecht.<br />
Es ist Bestandteil des Außenwirtschaftsrechts und damit Teil des Wirtschaftsverwaltungsrechts4<br />
. Exportkontrollen stehen neben internationalen<br />
handelspolitischen Vereinbarungen und beziehen sich auf den grenzüberschreitenden<br />
Austausch von Waren und <strong>Die</strong>nstleistungen, die sicherheitspolitisch<br />
relevant, also missbrauchsanfällig sind. <strong>Die</strong> sicherheitsmotivierte Beschränkung<br />
des Warenverkehrs ist ein Eingriff in wirtschaftliches Handeln<br />
und hat ökonomische Auswirkungen. <strong>Die</strong> entsprechenden Wechselwirkungen<br />
beider Interessen bergen erhebliches Konfliktpotenzial5 . Der Aspekt<br />
wirtschaftlicher Interessen wird durch die rechtliche Zuordnung zum Außenwirtschaftsrecht<br />
hervorgehoben. Demgegenüber sind sicherheitspolitische<br />
Erwägungen im Zusammenspiel mit den auswärtigen Beziehungen<br />
auszulegen6 . Auch weiche Aspekte der Konfliktprävention wie die Menschenrechte<br />
sind erfasst7 .<br />
Exportkontrollen stützen sich auf internationale politische Vereinbarungen.<br />
<strong>Die</strong> Kontrollvorschriften für Ausfuhren und grenzüberschreitende <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
gehen daher nicht allein auf nationale Bedürfnisse oder Gemeinschaftsinteressen<br />
zurück. Sie können auch auf der Umsetzung internationa-<br />
4 Vgl. nur Haddex, Handbuch der deutschen Exportkontrolle, Band 1, Teil 1, Rn 10 ff;<br />
Wolffgang, in: Bieneck, Handbuch des Außenwirtschaftsrechts, § 8 A, S. 147; Hucko,<br />
Exportkontrollrecht, in: Ehlers/Wolffgang, Rechtsfragen der Ausfuhrkontrolle und<br />
Ausfuhrförderung, S. 39; Reuter, Außenwirtschafts- und Exportkontrollrecht Deutschland/<br />
Europäische Union, S. 1, 247; von Bogdandy, <strong>Die</strong> außenwirtschaftsrechtliche<br />
Genehmigung, Verwaltungsarchiv 83 (1992), S. 53, 57<br />
5 So Gerth, „Exportkontrolle quo vadis?“, AW-Prax 2004, S. 95<br />
6 Vgl. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3) , Bd. IV, E 16, Art. 9 Rn 7<br />
7 So im Ergebnis Beutel, in: Wolffgang/Simonsen, AWR-Kommentar, Bd. 2, 611 Rn 15<br />
5
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
ler Embargos und Sanktionen oder auf multilateralen bzw. völkerrechtlichen<br />
Vereinbarungen beruhen. Das System der Exportkontrollen ist daher komplex,<br />
auch weil damit mehrere Zielrichtungen verfolgt werden. Zunächst<br />
geht es um die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen<br />
(MVW, Nonproliferation) und Bemühungen, eine unkontrollierte<br />
Verbreitung konventioneller Rüstungsgüter auszuschließen. <strong>Die</strong> Verfügbarkeit<br />
von konventionellen Waffen beziehungsweise die Fähigkeit, sie zu entwickeln<br />
oder herzustellen, ist ein Schlüsselelement bei der Entstehung von<br />
gewaltsamen Konflikten.<br />
<strong>Die</strong> Verbreitung von Massenvernichtungswaffen wie auch Rüstungsgütern<br />
ist nicht nur durch den Transfer der jeweiligen Endprodukte (Waffensystem<br />
bzw. ABC-Waffe/Trägersystem) möglich, sondern auch durch den Transfer<br />
von Komponenten, Herstellungsausrüstung und Herstellungstechnologie.<br />
Um entsprechendes Produktionspotenzial zu verhindern, müssen Exportkontrollen<br />
differenziert ansetzen. Neben spezifischen Militär- und Rüstungsgütern<br />
werden deshalb auch als Mehrzweck- oder Dual-use-Güter bezeichnete<br />
Güter kontrolliert. Sie eignen sich sowohl für militärische als auch zivile<br />
Verwendungen. Bei der Eignung kommt es auch auf die Zweckbestimmung<br />
an. Um eine Abgrenzung zum rein zivilen Single-use zu ermöglichen, muss<br />
das Ziel von Exportkontrollen berücksichtigt werden. Es bedarf eines Missbrauchspotenzials,<br />
das über die bloße subjektive Missbrauchsabsicht hinausgeht.<br />
Der spezifische Bezug des Gutes zu einem militärischen oder einem<br />
gesetzlich missbilligten Einsatz ist erforderlich.<br />
<strong>Die</strong> Intensität möglicher Rechtseingriffe, die regelmäßig zu Lasten der Teilnehmer<br />
am Außenwirtschaftsverkehr gehen, richtet sich nach dem Gefährdungspotenzial<br />
einzelner Handlungen und nach der Sensitivität betroffener<br />
Güter. Verbote bilden die umfassendste Form eines Eingriffs in den Außenwirtschaftsverkehr.<br />
Sie gehen Genehmigungspflichten vor und sind vorrangig<br />
zu beachten8 . Sie stehen im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen<br />
oder Embargos, die auf besonders gefährliche Empfänger (oder<br />
Empfängerländer) gerichtet sind. Verbote greifen am weitesten in die Außenwirtschaftsfreiheit<br />
des Betroffenen ein, sie sind nur ausnahmsweise verhältnismäßig<br />
und damit gerechtfertigt. Verbote finden sich zum Beispiel im<br />
Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG; §§ 17, 18, 18a) oder bei Embargobestimmungen.<br />
Embargos schränken den Handel mit betroffenen Ländern oder Personen aus<br />
sicherheitspolitischen Erwägungen ein. Instrumente, wie Leistungs- oder<br />
8 Haddex (FN 4), Bd, 1, Teil 1, Rn 70<br />
6
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Lieferverbote, stehen zur Verfügung. Dabei erfolgt eine Aussetzung der<br />
Wirtschaftsbeziehungen gegenüber Drittländern (Handel, Zahlungs- und<br />
Kapitalverkehr). Soweit für bestimmte Güter bereits Genehmigungspflichten<br />
bestehen, kann die Umsetzung einer Verbotsvorschrift administrativ erfolgen,<br />
indem die Behörde eine beantragte Genehmigung verweigert. Zu unterscheiden<br />
sind Totalembargos (Handels- und Finanzembargo) und Teilembargos<br />
(z.B. Waffenlieferungen) 9 . <strong>Die</strong> rechtsverbindliche Umsetzung von internationalen<br />
Gremien gefassten Embargobeschlüssen erfolgt durch eine<br />
EG-Verordnung oder auf nationaler Ebene (AWG, AWV). Rechtsgrundlage<br />
sind Art. 60 und 301 EG sowie der Auffangnorm des Art. 308 EG. Alternativ<br />
können die Mitgliedstaaten im Rahmen nationaler sicherheitspolitischer<br />
Erwägungen Maßnahmen ergreifen.<br />
Neben den Verboten stehen Genehmigungspflichten und sonstige Beschränkungen,<br />
z.B. Meldeverpflichtungen. Sie stellen regelmäßig einen gegenüber<br />
dem Ausfuhrverbot geringeren Eingriff dar. Bei der Ausfuhr bestimmter Dual-use-Güter<br />
und Technologien sind zwei unterschiedliche Typen von Genehmigungspflichten<br />
zu unterscheiden. Neben der Erfassung des betroffenen<br />
Gutes in der Ausfuhrliste bestehen Genehmigungspflichten, wenn trotz<br />
der Eignung eines Gutes für zivile Zwecke ein Verwendungszusammenhang<br />
mit Massenvernichtungswaffen oder Trägertechnologien vorliegt. <strong>Die</strong>se als<br />
Verwendungstatbestände oder auch Auffang- bzw. „catch all“-Vorschrift bezeichneten<br />
Genehmigungsvorbehalte gibt es auch für militärisch relevante<br />
Güter. Einer Genehmigung bedarf es aber nur, wenn die Lieferungen in<br />
Länder stattfinden, die mit einem Waffenembargo belegt sind oder in einer<br />
Liste von als besonders gefährlich eingestuften Ländern aufgeführt sind.<br />
Solche Genehmigungstatbestände müssen aber im Umfang sowie Eingriffsintensität<br />
von regelmäßig weiter gefassten Embargobestimmungen unterschieden<br />
werden.<br />
Im Ergebnis ist festzustellen, dass Exportkontrollen als besonderes Verwaltungsrecht<br />
zum Wirtschaftsverwaltungsrecht zählen. <strong>Die</strong> verfügbaren Instrumente,<br />
insbesondere Genehmigungspflichten, beschränken den Außenwirtschaftsverkehr.<br />
2. Geschichtliche Entwicklung<br />
<strong>Die</strong> Auslegung der Kriterien für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung erfordert<br />
neben der Analyse des Wortlautes eine Betrachtung des Sinn und<br />
Zweckes der betreffenden Regelung. <strong>Die</strong> sicherheits- wie handelspolitischen<br />
9 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich, Grundzüge der Exportkontrolle, B. Rn 79<br />
7
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Motive der Regelungen sind für die ratio legis ebenso wichtig wie die historische<br />
Betrachtung. Daher soll zunächst ein kurzer Blick auf die Entwicklungsgeschichte<br />
von Exportkontrollen und sonstigen Handelsbeschränkungen<br />
erfolgen.<br />
a) Handelsbeschränkungen und der Weg zu Exportkontrollen<br />
Handelsbeschränkungen gibt es so lange wie den Handel selbst, wenn auch<br />
mit sehr unterschiedlichen Motiven, z.B. die Einflussnahme auf die Kriegsführung<br />
mittels Kontrolle von Militär- oder Zivilgütern oder aber der Staatsfinanzierung<br />
durch Wegezölle10 . <strong>Die</strong> Wurzeln der Exportkontrollen werden<br />
u.a. auf die Zeit des Merkantilismus im 16. bis 18. Jahrhundert zurückgeführt11<br />
. Hier wollten die Zentralgewalten ihre politische Macht ausbauen,<br />
indem sie für positive Handelsbilanzen sorgten und gesunde Staatseinnahmen<br />
hatten. Der Außenhandel wurde gefördert, fremder Handel behindert.<br />
Gerade Preußen verfolgte eine sehr aktive Wirtschaftspolitik. Mit diversen<br />
Handelsbeschränkungen wie Ein- und Ausfuhrverboten sowie Zöllen, ergänzt<br />
durch bilaterale Abkommen, entwickelte sich ein komplexes Regelungssystem12<br />
. Liberale und protektionistisch ausgerichtete Politiken wechselten<br />
sich in der Folge ab.<br />
Zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden erste Handelsembargos und Boykottmaßnahmen<br />
eingeführt. Genehmigungspflichten oder Ausfuhrverbote<br />
flankierten kriegerische Auseinandersetzungen. <strong>Die</strong> Sicherheitsinteressen<br />
des Staates wurden zum Motiv außenwirtschaftlicher Beschränkungen13 . Im<br />
Jahr 1917 wurde in den USA der Trading With The Enemy Act (TWA) verabschiedet.<br />
Er regelte umfassend Exportbeschränkungen, um die Unterstützung<br />
des Feindes durch Kriegsgegner zu verhindern14 . Während des 1.<br />
Weltkrieges wurden auch in Deutschland Beschränkungen dieser Art eingeführt.<br />
Sie betrafen zwar zunächst den Zahlungs- und Kapitalverkehr, erfassten<br />
aber aufgrund von Devisenbeschränkungen mittelbar auch den Warenverkehr15<br />
. Unmittelbare Ausfuhrverbote erfassten nicht nur auf wichtige Lebensmittel<br />
und Arzneimittel, sondern auch „Waffen, Munition, Pulver und<br />
10 So Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 3; zur Entwicklung von Handelsbeschränkungen<br />
s.a. Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 1 Rn 1 ff.<br />
11 Vgl. Hucko/Wagner, Textsammlung zum Außenwirtschaftsrecht, Einf. S. 9 ff.<br />
12 Ott/Schäfer, Wirtschafts-Ploetz, 1984, S. 87 und 108<br />
13 Zu Ausfuhrverbotsermächtigungen in den USA: Bamberger/Hölscher, in: Wolffgang/Simonsen<br />
(FN 7) Bd. 1, 60 Rn. 1<br />
14 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 11<br />
15 Devisengesetz 1935 , RGBl I S. 106, und Ergänzungsverordnungen, Neuregelung Devisengesetz<br />
1938, RGBl I S. 1734<br />
8
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Sprengstoffe sowie andere wichtige Artikel des Kriegsbedarfs und Gegenstände,<br />
die zur Herstellung von Kriegsbedarfsartikeln dienen“ 16 . Hinzu kamen<br />
Rohstoffe für den Kriegsbedarf17 . In Bezug auf die Herstellung von<br />
Kriegsbedarfsartikeln wurden auch Dual-use-Güter der Exportkontrolle unterworfen18<br />
.<br />
Erste völkerrechtliche Ansätze zu gemeinsamen Verbotsstandards im Zusammenhang<br />
mit Waffeneinsätzen, mittelbar auch für Rüstungskontrollen,<br />
gab es mit den Den Haager Abkommen im Jahr 1907. Sie ächteten den Einsatz<br />
von Giftgas-Waffen, z.B. in Form eines Giftgasverbotes und Verbotes<br />
für den Einsatz von Dumdum-Geschossen19 . Es folgten internationale Maßnahmen<br />
gegen die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen, später im<br />
„Genfer Giftgasprotokoll“ vom 17.06.1925 spezifiziert. Es erfasste Giftgase<br />
und bakteriologische Mittel. <strong>Die</strong>se Initiativen mündeten mit zunehmender<br />
Bedeutung von MVW während des 2. Weltkrieges und in Folge der atomaren<br />
Aufrüstung danach in die Gründung von Exportkontrollregimes.<br />
b) Exportkontrollen nach 1945<br />
Umfassende Exportkontrollregelungen wurden auf internationaler Ebene<br />
erst nach 1945 diskutiert. <strong>Die</strong> USA verabschiedeten im Jahre 1949 den Export<br />
Control Act. <strong>Die</strong>ser wurde auch als erstes Exportkontrollsystem der<br />
USA zu Friedenszeiten betitelt20 . Damit sollte nicht nur die Remilitarisierung<br />
Deutschlands verhindert werden, es ging darum, den im aufkeimenden<br />
Kalten Krieg immer wichtiger werdenden Technologievorsprung westlicher<br />
Nationen vor dem Ostblock zu schützen.<br />
<strong>Die</strong> nationalen Exportkontrollen in Deutschland beschränkten sich zunächst<br />
auf die Gewährleistung und Durchsetzung von Verboten. Das bis ins Jahr<br />
1955 geltende Besatzungsstatut setzte die maßgeblichen Regelungen. Erst<br />
nach 1955 kam es schrittweise zur Liberalisierung des Außenwirtschaftsverkehrs21<br />
. Verordnungen wurden angepasst, Verfahrensfragen auf die Bundesregierung<br />
(Bundesminister für Wirtschaft) übertragen. <strong>Die</strong>se nutzte den gewonnenen<br />
Spielraum und stellte mittels Runderlassen praktisch den Grund-<br />
16 Veröff. in RGBl I S. 265<br />
17 Veröff. in RGBl I S. 267<br />
18 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 13 zur Verordnung über Außenhandelskontrolle<br />
1919, RGBl I S. 2128, sowie zum Gesetz über Kriegswaffengerät 1927, RGBl I S.<br />
239; vgl. auch Schulz, Das Außenwirtschaftsgesetz, Teil 1 A Rn. 13<br />
19 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 15<br />
20 Hofhansel, Commercial Competition and National Security, S. 47<br />
21 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich, Kommentar zum Außenwirtschaftsrecht, Einführung<br />
AWG, S.48; Wolffgang, in: Bieneck, (FN 4), § 1 Rn 13<br />
9
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
satz der Ausfuhrfreiheit her22 . Verfahrenstechnisch wurde dabei von Allgemeingenehmigungen<br />
Gebrauch gemacht. Schließlich wurde der Grundsatz<br />
der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs (kurz Außenwirtschaftsfreiheit)<br />
in Art. 1 AWG verankert23 . Das bis dahin formal bestehende Verbot mit Erlaubnisvorbehalt<br />
wurde durch eine Genehmigungspflicht ersetzt. Neben dem<br />
AWG ist zum 01.09.1961 auch ihr bedeutendstes Ausführungsgesetz, die<br />
Außenwirtschaftsverordnung (AWV), in Kraft getreten.<br />
Auch auf europäischer Ebene verstärkte sich ab Mitte der 50'er Jahre die internationale<br />
Zusammenarbeit. Im außenwirtschaftlichen Bereich wurden mit<br />
EGKS, EWG und EAG nationale Rechtsetzungsbefugnisse an die EU übertragen.<br />
<strong>Die</strong>se sollten sich für die spätere Koordination von Exportkontrollen<br />
als beispielhaft erweisen. Eine erste gemeinsame Ausfuhrregelung wurde<br />
mit der EG-Ausfuhr-Verordnung 1969 (nachfolgend kurz EG-VO 69) geschaffen24<br />
. Sie sieht eine umfassend an die EG übertragene Gemeinschaftskompetenz<br />
für Handelspolitik vor. <strong>Die</strong> dabei verfolgten Zwecke richteten<br />
sich auf die Sicherung der Verfügbarkeit bestimmter Güter innerhalb der<br />
EU. Wie schon zuvor im AWG, wurde in Art. 1 EG-V0 69 der Grundsatz der<br />
Außenwirtschaftsfreiheit festgeschrieben. Er wird auf das Primärrecht gestützt,<br />
insbesondere das in Art. 133 EG statuierte Bekenntnis zur liberalen<br />
Handelspolitik sowie nach der Rechtsprechung des EuGH auf die aus dem<br />
EMRK abgeleiteten Grundrechte zur Berufs-, Handels-, Gewerbe- und<br />
Wettbewerbsfreiheit25 . Zur Handelsfreiheit gehöre auch die Außenhandelsbzw.<br />
Ausfuhrfreiheit26 . Auch hier wird die Wiederkehr des Liberalitätsprinzips<br />
deutlich. <strong>Die</strong> Ausfuhr- bzw. Außenwirtschaftsfreiheit ist systematischer<br />
Ausgangspunkt für die Rechtfertigung von Eingriffen in damit verbundene<br />
Rechtspositionen. Gem. Art. 11 EG-VO 69 werden die Mitgliedstaaten ermächtigt,<br />
bei Vorliegen von Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung<br />
("ordre public") nationale Beschränkungen vorzunehmen. Der EuGH<br />
sieht darin eine spezifische Ermächtigung der Mitgliedstaaten, zusätzliche<br />
nationale Vorschriften einzuführen27 . Sicherheitspolitische Überlegungen,<br />
wie sie in der modernen Exportkontrolle im Mittelpunkt stehen, waren aber<br />
22 Schulz (FN 18), Teil 1A Rn 21<br />
23 BGBl I 1961, 481, 495, 1555 (Begründung des Entwurfs in BR-Drs. Nr. 191/59)<br />
24 Verordnung (EWG) Nr. 2603/96 vom 20.12.1969, Abl. EG Nr. l 324, S. 25ff.<br />
25 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. IV, E 16 Rn 18<br />
26 Hohmann, in: Hohmann/John, Kommentar zum Ausfuhrrecht, Teil 1/ EG-VO 69 Art 1<br />
Rn 1; zur Herleitung Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 1, 122, zu Art 8<br />
Rn 14, zur Außenwirtschaftsfreiheit s.a. Epping, in: ebenda, Bd. 1, 20, Rn 31<br />
27 EuGH in den Urteilen vom 17.10.1995 Rs C 70/94 - Werner, Slg. 1995 I 3189 sowie<br />
Rs C 83/94 - Leifer , Slg. 1995 I 3231<br />
10
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
bei Inkrafttreten der EG-VO 69 nur ein Nebenaspekt. Im Zentrum standen<br />
wirtschaftspolitisch motivierte Handelsbeschränkungen inklusive der Einfuhr<br />
bestimmter Güter. Obwohl die EG-VO 69 noch heute gilt, beschränkt<br />
sich die Praxisrelevanz auf ihre Art. 1 und 11. Grad der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
und Reichweite ihrer Schranken sind nach wie vor strittig. Dazu tragen<br />
auch WTO-Vorgaben bei, die der EuGH bei seinen Erwägungen berücksichtigt<br />
28 .<br />
c) Jüngere Entwicklungen bei Exportkontrollen<br />
Eine nennenswerte Fortentwicklung der bestehenden Exportkontrollbestimmungen<br />
folgte im Jahr 1984. Sie stand unter dem Eindruck der Giftgaseinsätze<br />
im Iran-Irak-Krieg (Erster Golfkrieg) sowie eines Skandals um deutsche<br />
Zulieferungen für eine Anlage in Rabta/Libyen, die zur Giftgasherstellung<br />
genutzt wurde29 . <strong>Die</strong> politischen Bemühungen um verbesserte Kontrollmechanismen<br />
verstärkten sich, nachdem im Irak ein Programm für Massenvernichtungswaffen<br />
aufgedeckt wurde. Nach dem zweiten Golfkrieg im<br />
Jahr 1990/91 wurden deshalb besonders die institutionellen Voraussetzungen<br />
der Kontrollen überarbeitet30 . Materiell wurden die nationalen Exportkontrollvorschriften<br />
mit den Änderungen des AWG im Jahre 1992 verschärft31 ,<br />
z.B. in Form der Einzeleingriffsbefugnis des Bundesministeriums für Wirtschaft<br />
und Technologie (BMWi) bei gegen das nationale Interesse gerichteten<br />
Handlungen. Hinzu kamen die Einbeziehung von Auslandsdeutschen in<br />
Exportkontrollen, Verwendungstatbestände als Auffangnorm für nicht gelistete<br />
Güter sowie stringentere Strafvorschriften.<br />
Zeitgleich begannen die Arbeiten an einer neuen EG-Verordnung, sie sollte<br />
umfassendere Exportkontrollen der Mitgliedstaaten koordinieren helfen. <strong>Die</strong><br />
bis dahin bestehende Verordnung (EG) Nr. 428/89, betreffend die Ausfuhr<br />
bestimmter chemischer Erzeugnisse, erfasste nur wenige Güter. Ergebnis der<br />
Fortentwicklung war die im Zusammenwirken von EG und GASP verabschiedete<br />
Verordnung (EG) Nr. 3381/94 Gemeinschaftsregelung der Ausfuhrkontrolle<br />
von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck (GASP-<br />
Beschluss 94/942). <strong>Die</strong> EG-Dual-use-VO Nr. 3381/1994 trat zum<br />
01.07.1995 in Kraft32 . Auch bis dahin bestehende nationale Regelungen im<br />
28 Zur gemeinschaftsrechtlichen Anerkennung Grundrechtsgewährleistungen durch<br />
EuGH-Rspr.: Epping, <strong>Die</strong> Außenwirtschaftfreiheit, S. 576<br />
29 Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 1 Rn 6<br />
30 Dazu Weith/Wegner/Ehrlich, (FN 9), B. Rn 31<br />
31 Hucko/Wagner (FN 11), Einf. S. 19<br />
32 Haddex, (Fn 4), Bd. 1, Teil 1 Rn 11<br />
11
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Dual-use-Güter-Bereich wurden abgelöst33 . <strong>Die</strong> neue Verordnung (im Folgenden<br />
Dual-use-VO 1994) sowie ein Beschluss des Rates gem. Art. J 3.<br />
EUV a.F. in Form der Gemeinsamen Aktion bildeten somit die Grundlage<br />
für die Modernisierung der nationalen Exportkontrollen in Europa. Exportkontrollregeln<br />
wurden zwar allgemein als Maßnahmen der Außen- und Sicherheitspolitik<br />
eingestuft; die EG-Regelung war gleichwohl durch das Ziel<br />
eines freien europäischen Binnenmarktes sowie gleicher Wettbewerbsbedingungen<br />
in Europa motiviert. Rechtlich knüpfte sie deshalb für den Bereich<br />
der Dual-use-Güter an die handelspolitischen Kompetenzen der EU an. Wegen<br />
des bei Dual-use-Gütern bestehenden Bezuges zur gemeinsamen Außen-<br />
und Sicherheitspolitik der EU waren die Lösungsansätze dennoch kooperativ<br />
ausgestaltet. Instrumente beider Politiken wurden genutzt, daher<br />
rührt auch die Bezeichnung als integriertes System. Auf die Abgrenzung zu<br />
der den nationalen Kompetenzen der Mitgliedstaaten vorbehaltenen Kontrolle<br />
von Rüstungsgütern wird aber noch zurückzukommen sein.<br />
Mit der heute geltenden Dual-use-VO Nr. 1334/2000 erfolgte danach eine<br />
Fortentwicklung hin zu einheitlichen materiellen Vorgaben, die ausschließlich<br />
im Rahmen der Handelspolitik gelten. Zudem verstärkten die Mitgliedstaaten<br />
ihre administrative Zusammenarbeit. <strong>Die</strong> entsprechende Umsetzung<br />
ins nationale Recht erfolgte zeitgleich zum Inkrafttreten der Dual-use-VO.<br />
Grundlage waren die 51. Änderungsverordnung zur AWV am 23.08.2000<br />
und die Anpassung der Allgemeingenehmigungen34 .<br />
d) Ergebnis<br />
Es bleibt festzuhalten, dass in der geschichtlichen Entwicklung vor allem<br />
der sicherheitspolitische Aspekt von Handelsbeschränkungen in die Exportkontrollen<br />
Eingang fand und als ihr wesentliches Motiv gilt. <strong>Die</strong> Kompetenzübertragung<br />
auf die EU im Bereich der Handelspolitik führte zu einer<br />
Überlappung rein sicherheitspolitischer nationaler Vorschriften mit Handelsbeschränkungen<br />
auf europäischer Ebene, die für Dual-use-Güter gelten.<br />
3. Kontrollansatz und Regelungssystem<br />
a) Begriff des Dual-use-Gutes und Kontrollansätze<br />
<strong>Die</strong> Kontrolle von Exporten sensitiver Güter und Technologien mit Dualuse-Charakter<br />
hat also eine langjährige Entwicklung hinter sich. <strong>Die</strong>se sind<br />
33 Ehrlich, in: Bieneck, (FN 4), § 2 Rn 5<br />
34 Vgl. Bekanntmachung im BAnZ 183/2000 vom 27.09.2000, 19229<br />
12
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
auch Folge des EU-Harmonisierungsprozesses. <strong>Die</strong> auf nationaler und europäischer<br />
Ebene vorzufindenden verwaltungsrechtlichen Regelungen betreffen<br />
aber nicht Rüstungsgüter. Hier muss eine Kompetenzabgrenzung erfolgen.<br />
Bei beiden Gruppen ergeben sich darüber hinaus unterschiedliche Kontrollbedürfnisse.<br />
<strong>Die</strong> sicherheitspolitische Zielsetzung von Exportkontrollen bei Rüstungsgütern<br />
und Kriegswaffen versteht sich von selbst. <strong>Die</strong> Unterscheidung nach<br />
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern spielt bei der Frage, ob deren<br />
Ausfuhr der Kontrolle unterliegt, zunächst nur eine untergeordnete Rolle.<br />
Nach AWG unterliegen ausnahmslos alle Rüstungsgüter der Exportkontrolle.<br />
Handlungen, die keinen Export darstellen, werden in aller Regel nicht<br />
vom AWG erfasst, häufig aber vom KWKG. Nicht nur der deutsche Gesetzgeber,<br />
sondern auch andere EU-Staaten unterscheiden diese beiden Gruppen.<br />
Es geht dabei um die Differenzierung von Waffen einerseits und Baugruppen<br />
und Einzelteilen anderseits. Letztere sind oft gar nicht für die Waffen<br />
sondern nur für deren Umfeld (Logistik, Aufklärung, Kommunikation),<br />
bestimmt.<br />
Exportkontrollen für Rüstungs- und Dual-use-Güter stehen im Zusammenhang.<br />
Das bei Waffen bestehende Ziel von Lieferbeschränkungen gegenüber<br />
bestimmten Ländern wäre bei einfacher Umgehungsmöglichkeit mittels Lieferung<br />
von zugehöriger Ausrüstung, Material und technischem Know-how<br />
für den Aufbau einer eigenen Waffenproduktion in solchen Ländern konterkariert35<br />
. Beim Umlauf konventioneller Waffen, wie auch zur Verhinderung<br />
der Weiterverbreitung von ABC- bzw. Massenvernichtungswaffen, ergibt<br />
sich eine große politische Verantwortung der jeweiligen Regierung. Deren<br />
Wahrnehmung ist für das außenpolitische Ansehen der Bundesrepublik<br />
Deutschland von größter Bedeutung. Sie hat sich international verpflichtet,<br />
wie auch immer geartete Beiträge deutscher Exporteure zur missbräuchlichen<br />
Herstellung o.g. Waffen unter Anwendung der gegebenen Instrumentarien<br />
zu unterbinden. <strong>Die</strong> Definition der Dual-use-Güter ist deshalb relativ<br />
weit gefasst. Sie bezieht sich im Wesentlichen auf Ausrüstung, Werkstoffe,<br />
Software und Technologie, insbesondere aus den Bereichen Chemie, Elektronik,<br />
Rechner, Telekommunikation, Informationssicherheit, Sensoren und<br />
Laser, Luftfahrt, Meeres- und Schiffstechnik, Antriebssysteme und Raumfahrttechnik36<br />
. Innerhalb der Güterlisten werden Dual-use-Güter mit exakten<br />
technischen oder naturwissenschaftlichen Parametern bezeichnet. Im Ge-<br />
35 Bachmann, AW-Prax 2003, S. 115<br />
36 Aufbauend auf dem Güterbegriff: „Bewegliche Sachen und Elektrizität einschließlich<br />
Software und Technologie“: Monreal/ Runte, GewArch 2000, S. 145<br />
13
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
gensatz zu Rüstungsgütern kommt es nicht auf eine besondere Konstruktion<br />
an.<br />
Letztlich ist jedes zivile Gut mittelbar auch für den Gebrauch bei militärischen<br />
Einsätzen geeignet, hat also Dual-use-Charakter. Als typisches Beispiel<br />
werden oft die von Flugzeugentführern verwandten Teppichmesser genannt.<br />
Bei der Abgrenzung zu "Single-use-Gütern" darf nicht nur die Frage<br />
eines denkbaren Missbrauchs stehen, sondern auch die nach dem funktionalen<br />
Bezug eines bestimmten Gutes und damit verbundener Kontrollnotwendigkeit.<br />
Eine sinnvolle Abgrenzung ist schließlich nur bei Feststellung eines<br />
gewissen Gefährdungspotenziales möglich. Nur so wird eine angemessene<br />
Kontrolldichte erzielt, die behördlich und praktisch umsetzbar ist. Mittels<br />
Aufnahme dieser sensitiven Güter in die Ausfuhrlisten wird die Reichweite<br />
des Genehmigungstatbestandes bestimmt. Im Rahmen von Verfahrenserleichterungen<br />
erfolgt dann die Feinjustierung der Kontrolldichte37 .<br />
Beschränkungen des Handels mit Dual-use-Gütern bestehen in Form der gesetzlichen<br />
Anordnung einer Genehmigungspflicht. Eine solche bildet die<br />
Ausnahme zum grundsätzlich freien Außenwirtschaftsverkehr. Genehmigungspflichten<br />
knüpfen an objektiv-technische Eigenschaften eines Gutes<br />
an, wenn es in eine Güterliste aufgenommen wird. Unabhängig von einer<br />
Listung kann auch die geplante Endverwendung maßgeblich sein38 . Als zusätzliches<br />
Kriterium der Genehmigungspflicht kommt das Bestimmungsland<br />
der Ausfuhr in Frage. Nicht an eine Liste anknüpfende Beschränkungen<br />
werden als Auffangtatbestand oder „catch-all-Vorschrift“ bezeichnet. Grund<br />
für diese Regelungen ist, dass Ausfuhrlisten nicht alle kontrollbedürftigen<br />
Sachverhalte erfassen können. Der Kontrollbedarf unterhalb der dort berücksichtigten<br />
Hightech-Ebene soll nicht durch undifferenzierte und damit<br />
für den zivilen Warenverkehr bürokratische Erweiterungen der Listen abgedeckt<br />
werden39 . Das nationale Recht ist an der Stelle mit dem europäischen<br />
Recht vergleichbar.<br />
Von der Frage einer Genehmigungspflicht ist die Genehmigungsfähigkeit zu<br />
unterscheiden. Erstere eröffnet das Verwaltungsverfahren. Letztere entscheidet<br />
über den Ausgang des Verfahrens.<br />
37 So Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 61<br />
38 Zum Vorrang der güterbezogene Tatbestände (gelistete Güter): Bachmann, AW-Prax<br />
2003, S. 115, 117<br />
39 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 5 Rn 232<br />
14
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
b) Das internationale Kontrollsystem<br />
Exportkontrollrechtliche Regelungen finden sich in einer Reihe von Gesetzen<br />
und Verordnungen. Dazu gehören Genehmigungspflichten im Warenund<br />
<strong>Die</strong>nstleistungsverkehr. <strong>Die</strong> nationalen Exportkontrollen müssen mit<br />
Vorgaben aus dem europäischen Recht und internationalen Abkommen vereinbar<br />
sein. Auch die internationalen Gremien, in denen die Mitglieder multilaterale<br />
Verpflichtungen eingehen, gehören zur Rüstungs- und Abrüstungskontrolle.<br />
Beispiele dafür sind die Vereinten Nationen, der OECD oder G8-<br />
Staaten. Insbesondere die Bemühungen zur Verhinderung von Proliferation<br />
im ABC-Waffen- und Trägertechnologiebereich gehen auf eine Reihe von<br />
völkerrechtlichen Vereinbarungen unterschiedlicher Rechtsqualität zurück.<br />
Solche wurden z.B. in den Genfer Protokollen von 1925, bei der B-Waffen-<br />
Konvention, dem Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ), dem Atomwaffensperrvertrag<br />
bzw. nuklearen Nichverbreitungsvertrag (Non Proliferation<br />
Treaty = NPT) sowie der IAEO-Satzung vereinbart40 . <strong>Die</strong>se politischen<br />
Plattformen haben für die Genehmigungssystematik zwar keine unmittelbare<br />
Relevanz, für die Kriterien und Leitlinien der Genehmigungsentscheidungen<br />
sind ihre Vorgaben dennoch maßgeblich.<br />
Wesentlichen Einfluss auf die national geltenden Regelungen haben die Absprachen<br />
in den Exportkontrollregimes. <strong>Die</strong>se internationalen Verpflichtungen<br />
der Bundesrepublik Deutschland bilden die Grundlage für die jeweils<br />
anzuwendende nationale Gesetzgebung und damit auch für die Kontrollstandards<br />
der entsprechenden Teilnehmerstaaten. Gleichwohl weichen Zielrichtung<br />
und Harmonisierungsgrad der Kontrollansätze in den einzelnen<br />
Regimes voneinander ab41 . Im Übrigen gelten auch für Dual-use-Güter und<br />
Rüstungsgüter zum Teil unterschiedliche Beschränkungen. <strong>Die</strong>se Unterscheidung<br />
muss wegen der begrenzten Regelungskompetenzen auch auf Ebene<br />
der Europäischen Union berücksichtigt werden.<br />
c) <strong>Die</strong> Exportkontrollregimes<br />
<strong>Die</strong> Exportkontrollregimes treffen eine Reihe von Vorgaben für die nationalen<br />
Exportkontrollen. Das CoCom-Regime war spätestens nach Ende des<br />
Kalten Krieges nicht mehr geeignet, die inzwischen weltweit, insbesondere<br />
aus Asien und Nahost, stattfindenden Beschaffungsversuche zu verhindern.<br />
<strong>Die</strong> Mitglieder entschlossen sich daher, für konventionelle Waffen und Du-<br />
40 Ricke, in: Bieneck (FN 4), § 7 Rn 3; Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 44<br />
41 Zum Konflikt von sicherheits- und rüstungspolitischen Interessen sowie wettbewerbspolitischen<br />
Fragen: Karpenstein, Europäisches Exportkontrollrecht für Dual-use-<br />
Güter, S. 180<br />
15
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
al-use-Güter ein neues, nicht bestimmten Staaten zugewandtes, zu gründen,<br />
das Wassenaar Arrangement (WA).<br />
Andere Kontrollregimes konzentrieren sich dagegen auf den Kampf gegen<br />
Massenvernichtungswaffen. Ergänzend zum Atomwaffensperrvertrag (auch<br />
Non Proliferation Treaty, NPT) stellen die Nuclear Suppliers Group (NSG)<br />
sowie das Missile Technology Control Regime (MTCR) angemessene Kontrollen<br />
sicher. Während NSG den Missbrauch von Nuklearmaterial verhindern<br />
will, widmet sich MTCR der Kontrolle der Herstellung von Trägertechnologie<br />
(Raketentechnik). <strong>Die</strong> Australia Group (AG) ist ein Zusammenschluss<br />
von Ländern, welche die Weiterverbreitung von chemischen und<br />
biologischen Komponenten zu verhindern sucht. Sie ergänzt das CWÜ und<br />
das BWÜ, die sich auf die Kontrolle von Beständen beschränken.<br />
<strong>Die</strong> Exportkontrollregimes NSG, MTCR, AG und WA bilden die inhaltliche<br />
und konzeptionelle Grundlage für nationale Exportkontrollen. Für alle Regime<br />
gilt, dass diese keine rechtsverbindlichen Vorgaben für Exportkontrollen<br />
machen. Sie haben nicht die Qualität eines völkerrechtlichen Vertrages42 .<br />
Regimeabsprachen für gleichgerichtete und damit effizientere Exportkontrollpolitiken<br />
sind allein politisch verbindlich43 . Für die Auslegung bestehender<br />
Genehmigungskriterien sind sie dennoch wichtig, da die Kriterien<br />
auf die Vorgaben der Exportkontrollregimes Bezug nehmen. Deshalb seien<br />
die dort entwickelten sachlichen Zuständigkeiten, Kontrollverpflichtungen<br />
und Leitlinien in Kürze dargestellt.<br />
aa) Nuclear Suppliers Group und Zangger Committee<br />
<strong>Die</strong> 1975 als „Londoner Klub“ gegründete Nuclear Suppliers Group (NSG)<br />
hat heute 45 Teilnehmerstaaten44 . Sie steht für Exportkontrollen zur Verhinderung<br />
der Weiterverbreitung von nuklearen Materialien, Ausrüstung und<br />
Technologie. Friedliche nukleare Zwecke sollen keinesfalls einen Beitrag<br />
zur Verbreitung nuklearer Waffen und Explosivstoffe leisten. Kontrollierte<br />
Güter sind in Listen für spezifische Nuklearausrüstungen und -materialien<br />
(Liste 1) sowie missbrauchsanfällige Dual-use-Güter (Liste 2) erfasst. Beide<br />
NSG-Listen enthalten Dual-use-Güter. Sie unterscheiden sich lediglich bezüglich<br />
des nuklearspezifischen Einsatzes, also dem Missbrauchspotenzial.<br />
Hintergrund der NSG-Gründung war die Zündung der indischen Atombombe<br />
1974 und die damit verbundene Erkenntnis, dass sich die Anzahl der<br />
Staaten im Besitz solcher Waffen erhöhen könnte, mit allen Folgen für die<br />
42 Haddex (Fn 4), Bd. 1, Teil 1, Kapitel 3 Rn 17<br />
43 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 50<br />
44 Vgl. aktuelle Übersicht auf www.nsg-online.org<br />
16
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Bedrohung der Menschheit. Nach Art. III NPT kontrolliert die IAEO die<br />
Weitergabe spaltbaren Nuklearmaterials vor Ort. Darüber hinaus sind auch<br />
für andere nuklearrelevante Güter Kontrollen notwendig.<br />
Güterlisten, die solche besonders gefährlichen Güter enthalten, erstellte zunächst<br />
im Jahr 1971 das Zangger Committee. <strong>Die</strong> NSG hat diese Ansätze<br />
aufgegriffen und entwickelt sie regelmäßig fort. Sie definiert Genehmigungsrichtlinien<br />
für Nukleartransfers unter Differenzierung der Liste 1-<br />
Güter bzw. Trigger Liste und der Liste 2-Güter. <strong>Die</strong> Genehmigungsrichtlinien<br />
für beide Listen sind unterschiedlich stringent. Für Dual-use-Güter der<br />
Liste 2 sind sie weniger formal45 . Ihr wesentlicher Gedanke ist die Versagung<br />
von Ausfuhren bzw. Genehmigungen für die Lieferung gelisteter Ausrüstungsgegenstände,<br />
Materialien, Software und Technologie, wenn die<br />
Nutzung in einem Nicht-Nuklearstaat erfolgen soll oder eine Verwendung<br />
bei Nuklearanreicherungsmaßnahmen in nicht den IAEO-Kontrollen unterliegenden<br />
Ländern geplant ist. Inakzeptable Weiterverarbeitungsrisiken oder<br />
Verstöße gegen diese Ziele des Vertrages sollen vermieden werden46 .<br />
Hier wird das Safeguard-Zusatzabkommen der NPT-Staaten relevant. Es<br />
ermöglicht Kontrollen vor Ort. <strong>Die</strong> Ermächtigung beruht auf einem Notenwechsel<br />
zwischen Liefer- und Empfängerstaat. <strong>Die</strong> Zusammenarbeit der<br />
NSG-Staaten und die Implementierung der Vereinbarungen standen zuletzt<br />
im Rahmen iranischer Nuklearaktivitäten im Brennpunkt.<br />
bb) Missile Technology Control Regime<br />
Das Missile Technology Control Regime (MTCR) wurde im Jahr 1987 von<br />
den Teilnehmern des Weltwirtschaftsgipfels (G7) als Londoner Abkommen<br />
zur Raketentechnologie gegründet. Es dient dem Zweck der Verhinderung<br />
der Weiterverbreitung von Gütern zur Herstellung von Trägersystemen für<br />
MVW. Trägersysteme gelten als gefährlichste Mittel, Massenvernichtungswaffen<br />
wirksam zu einem bestimmten Ziel zu transportieren. <strong>Die</strong>s wurde<br />
u.a. wegen der Raketeneinsätze im Iran-Irak-Krieg (so genannter „Städtekrieg“)<br />
deutlich. Davon unberührt ist der Bereich ziviler Raumfahrt. Mittlerweile<br />
zählt MTCR 34 Mitgliedstaaten47 .<br />
<strong>Die</strong> Kontrollen basieren auf Listen mit wichtigen Gütern für militärisch relevante<br />
Trägertechnologie und Dual-use-Güter, wenn sie für die Herstellung<br />
und Entwicklung von Trägersystemen Bedeutung haben. <strong>Die</strong> Kategorie 1-<br />
45 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 54 f.<br />
46 Vgl. NSG-Guidelines unter www.nsg-online.org<br />
47 Vgl. www.mtcr.info<br />
17
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Liste enthält komplette Trägersysteme; die Kategorie 2 dagegen für Raketentechnik<br />
wichtige Mehrzweckgüter mit Dual-use-Charakter. Nach den<br />
Genehmigungsrichtlinien des MTCR soll die Ausfuhr von Raketen aller Art<br />
sowie der MTCR-gelisteten Güter unterbunden werden, wenn eine Regierung<br />
im Empfängerland unter dem Verdacht steht, sie als Träger für Massenvernichtungswaffen<br />
verwenden zu wollen 48 .<br />
cc) Australische Gruppe und CWÜ<br />
<strong>Die</strong> Australische Gruppe (AG), gegründet im Jahre 1985, widmet sich der<br />
Kontrolle von Vorprodukten, Agenzien und Anlagen. Es geht vornehmlich<br />
um Dual-use-Güter, die für die Produktion von chemischen und biologischen<br />
Waffen relevant sind. Der AG gehören zur Zeit 39 Mitglieder an49 .<br />
Anlass für ihre Gründung war der Einsatz chemischer Waffen im iranischirakischen<br />
Krieg. <strong>Die</strong> Ergebnisse einer VN-Untersuchung im Frühjahr 1984<br />
brachten die Erkenntnis, dass die Verpflichtungen aus dem Genfer Protokoll<br />
1925 verletzt worden waren. Zumindest Teile des irakischen Chemiewaffenprogramms<br />
stammten aus legalen Handelsströmen. So wurde deutlich, dass<br />
nationale Exportkontrollen bei Dual-use-Chemikalien verbessert sowie auch<br />
international koordiniert werden mussten.<br />
Mit der AG besteht ein Forum für den Informationsaustausch über Beschaffungsmethoden<br />
und Entwicklungen in chemiewaffenverdächtigen Ländern.<br />
Folgende Kontrolllisten sind zu unterscheiden: Vorprodukte für chemische<br />
Waffen, Produktionsanlagen und Herstellungsausrüstung sowie Technologie<br />
zur Herstellung von Dual-use-Chemikalien, biotechnologische Ausrüstung<br />
mit Dual-use-Charakter, biologische Agenzien, Pflanzenpathogene, Tierpathogene.<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungs-Leitlinien orientieren sich an angemessenen<br />
Kontrollstandards im Empfängerland. Im Unterschied zum CWÜ geht es<br />
nicht um die Kontrolle oder Vernichtung vorhandener Chemikalien oder<br />
Waffenbestände, sondern ausschließlich um Ausfuhrkontrollen von Gütern<br />
mit Dual-use-Charakter50 .<br />
dd) Wassenaar Regime<br />
Im Jahr 1996 wurde das Wassenaar Regime (WA) gegründet. <strong>Die</strong> eingangs<br />
beschriebene Neuausrichtung des CoCom-Regimes führt zu dem Versuch,<br />
48 Ricke, in: Bieneck, (FN 4), § 7 Rn 75; .s.a. aktuelle MTCR-Guidelines unter<br />
www.mtcr.info<br />
49 Vgl. www.australiagroup.net<br />
50 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 64, auch mit Anmerkungen zur AG und ihrer gegenüber<br />
CWÜ ergänzenden Funktion, I Rn 18f.<br />
18
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
weltweit Kontrollen bei Exporten konventioneller Rüstungsgüter und Dualuse-Güter<br />
zu gewährleisten. Neben den westlichen Industrienationen traten<br />
rüstungsrelevante Staaten aus dem ehemaligen Ostblock ein, wie z.B. Russland<br />
und Ukraine 51 . <strong>Die</strong> Zahl der Wassenaar-Teilnehmerstaaten beläuft sich<br />
derzeit auf 39. Das WA will eine destabilisierende Anhäufung von konventionellen<br />
Waffen und dafür relevante Dual-use-Güter und Technologien verhindern.<br />
Koordinierte Exportkontrollen leisten einen Beitrag für weltweit<br />
mehr Sicherheit und Stabilität. Auch die Achtung der Menschenrechte durch<br />
den Empfängerstaat wird berücksichtigt 52 . Das allgemeine Ziel weltweiter<br />
Sicherheit und Stabilität unterscheidet sich von den konkreten Kontrollansätzen<br />
der anderen Exportkontrollregimes. Von wenigen Ausnahmen abgesehen,<br />
ist die Ächtung von Massenvernichtungswaffen weltweit anerkannt.<br />
Verbreitungsverbote sind deutlich weitergehend spezifiziert und harmonisiert<br />
als bei den nationalen Rüstungs- und Verteidigungspolitiken. Der Harmonisierungsprozess<br />
bei Rüstungskontrollen steht also vergleichsweise am<br />
Anfang. Auch im GASP-Bereich der EU ist das der Fall.<br />
Neben dem regelmäßigen Abgleich der Kontrolllisten und der Entwicklung<br />
gemeinsamer Standards für Exportkontrollen geht es beim WA auch um den<br />
Informationsaustausch der beteiligten Staaten. Er ermöglicht effektivere<br />
Kontrollen. In den letzten Jahren wichtige Themen waren z.B. Beschlüsse<br />
zu gemeinsamen Standards bei der Kontrolle von Manpads, Waffenvermittlungsgeschäften,<br />
unverkörperten Technologietransfers sowie zu „catch-all-„<br />
bzw. Verwendungstatbeständen und Fragen der Endverwenderdokumentation<br />
53 .<br />
d) Ergebnis<br />
Bei Exportkontrollen werden Dual-use-Güter und Rüstungsgüter unterschieden.<br />
<strong>Die</strong> internationalen Exportkotrollregimes koordinieren die nationalen<br />
Kontrollpolitiken. Sie haben spezifische Kontrollansätze und Leitlinien,<br />
die sich auf nukleare, chemische und biologische Massenvernichtungswaffen<br />
sowie Träger- bzw. Raketentechnologie und schließlich konventionelle<br />
Rüstungsgüter beziehen. Dual-use-Güter spielen bei allen Regimes<br />
eine gewichtige Rolle.<br />
51 Zu den Schwierigkeiten beim Übergang von CoCom zu WA und dem neuen Focus<br />
(„built on cold war“ und „new threads“): Hofhansel (FN 20), S. 3 f.<br />
52 Vgl. Basic Principles: unter www.wassenaar.org<br />
53 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 69<br />
19
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
4. Europäische und nationale Kontrollvorschriften<br />
a) Kompetenzabgrenzung<br />
<strong>Die</strong> Kompetenzen der Europäischen Union (EU) sind im EG-Vertrag verfasst.<br />
Sie dienen dem gemeinsamen Binnenmarkt. Hierzu gehören Fragen<br />
der Handelspolitik und damit verbundene Rechtsetzung, nicht aber die Sicherheitspolitik.<br />
Aus <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Sicht muss zwischen Handel<br />
und der Weitergabe von Rüstungsgütern unterschieden werden, auch zwischen<br />
europäischen und ausschließlich nationalen Regelungen. Soweit die<br />
Handelspolitik gem. Art. 133 Abs. 1 EG berührt ist, gelten zunächst die gemeinschaftlichen<br />
Vorschriften54 . Beschränkungen des Außenhandels werden<br />
dadurch ermöglicht, die Ermächtigungstatbestände finden sich also in der<br />
„1. EU-Säule“ (EG-Säule).<br />
Der Umfang der EU-Kompetenzen für die Handelspolitik war im Bereich<br />
Außenwirtschaft und damit auch mit Blick auf Exportkontrollen nicht immer<br />
unumstritten. Wegen der Ähnlichkeit zum Warenverkehr unterfallen<br />
z.B. auch nicht an einen Grenzübertritt anknüpfende <strong>Die</strong>nstleistungen sowie<br />
der Zahlungsverkehr dieser EU-Kompetenz. Voraussetzung ist aber, dass sie<br />
im Zusammenhang mit Handelsfragen stehen55 . Es war lange unklar, ob Erwägungen<br />
der Sicherheitspolitik bei der Kontrolle von Dual-use-Gütern gegen<br />
eine EU-Kompetenz in diesem Bereich sprechen. Auf das „integrierte<br />
System“ wurde bereits eingegangen.<br />
Der EuGH hat sich zwischenzeitlich dafür ausgesprochen56 . Danach stehen<br />
sicherheitspolitische Erwägungen beim Handel mit Dual-use-Gütern (im<br />
Vergleich zu spezifischen Rüstungsfragen) nicht im Vordergrund. Handelskompetenzen<br />
der EU sind daher im Ergebnis für die Kompetenzzuweisung<br />
maßgeblich. Der EuGH stellte zugleich fest, dass über Art. 133 EG hinausgehende<br />
nationale Maßnahmen nicht ausgeschlossen sind. Das stützt er auf<br />
Art. 11 der EG-VO 1969. Es kommt zu einem Spannungsverhältnis von EG-<br />
Kompetenzen und nationalen Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten. Der<br />
EuGH stellt im Ergebnis nicht auf das politische Ziel der Beschränkung,<br />
sondern deren objektiven Charakter als Handelsbeschränkung ab. So erfolgt<br />
wegen der objektiven Wirkung der Beschränkungen die Zuordnung zur<br />
Handelspolitik<br />
54 Zum Aufbau der EU: Zimmermann, in: Wolffgang, Öffentliches Recht und Europarecht,<br />
S. 230<br />
55 Bachmann, AW-Prax 2000, 448, 449<br />
56 EuGH in den Urteilen vom 17.10.1995 Rs C 70/94 - Werner und Rs C 83/94 - Leifer<br />
(FN 27)<br />
20
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
<strong>Die</strong> EuGH-Rechtsprechung wurde im System der aktuellen Gesetzgebung,<br />
insbesondere bei der Konzeption der Dual-use-VO57 berücksichtigt. <strong>Die</strong><br />
Öffnungsklausel in Art. 5 Abs. 1 Dual-use-VO trägt den Kompetenzzuweisungen<br />
beider EU-Säulen Rechnung. <strong>Die</strong> Dual-use-VO erhebt nicht den Anspruch,<br />
eine abschließende Regelung der Exportkontrolle von Dual-use-<br />
Gütern zu sein. In Absatz 12 der Präambel des EG-Vertrages heißt es deklaratorisch,<br />
dass die Mitgliedstaaten bis zu einer weitergehenden Harmonisierung<br />
innerhalb der Grenzen des Art. 30 EG das Recht behalten, die Verbringung<br />
von bestimmten Gütern mit doppeltem Verwendungszweck innerhalb<br />
der Europäischen Gemeinschaften zum Schutz der öffentlichen Ordnung<br />
und öffentlichen Sicherheit Kontrollen zu unterziehen.<br />
<strong>Die</strong> Grundlage für die so gewährte nationale Regelungsbefugnis bildet, wie<br />
die o.g. EuGH-Entscheidungen zeigen, Art. 11 der EG-VO 69. Er führt die<br />
öffentliche Sicherheit und Ordnung als Rechtfertigung für Beschränkungen<br />
der Außenhandelsfreiheit an. Zusätzliche über die Dual-use-VO hinausgehende<br />
nationale Ausfuhrbeschränkungen sind daher möglich. Art. 5 Dualuse-VO<br />
präzisiert diese Ermächtigung der Mitgliedstaaten und erfordert<br />
„Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Menschenrechtserwägungen“. Einen<br />
verbindlichen Kriterienkatalog, welche dies sind, gibt es aber nicht58 .<br />
Gem. Art. 249 EG als EG-Verordnung erlassene Vorschriften gelten auf Ebene<br />
der Mitgliedstaaten unmittelbar und verbindlich. Sie stehen einem Gesetz<br />
gleich und gelten in der gesamten EU einheitlich. Sie müssen bzw. dürfen<br />
deshalb nicht in nationales Recht umgesetzt werden59 .<br />
Auch Regelungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs unterfallen nach Art.<br />
58 ff. EG der EU-Kompetenz. Regelungen gegenüber Drittstaaten sind einbezogen.<br />
Exportkontrollrechtlich spielen diese nur eine mittelbare Rolle. Sie<br />
sind Bestandteil von Embargomaßnahmen der EU, die für die Mitgliedstaaten<br />
regelmäßig als EG-Verordnung unmittelbar rechtsverbindlich sind.<br />
Beschränkungen mit Bezug auf <strong>Die</strong>nstleistungen in oder für Drittstaaten gehören<br />
nicht zur Handelspolitik. Soweit die EU hierzu Regelungen trifft, ist<br />
dies nur im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik<br />
(GASP, „2. Säule der EU“) möglich. Gleiches gilt für den Handel mit Rüstungsgütern.<br />
Gem. Art. 296 Abs. 1 b) EG haben die EU-Mitgliedstaaten hier<br />
explizit ihre nationale Zuständigkeit behalten. Das Ziel der gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik ist Teil des EU-Vertrages von Maastricht ge-<br />
57 Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates vom 22.06.2000, Abl. EG Nr. L 159/1<br />
58 Simonsen, AW-Prax 2000, 252, 253<br />
59 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, Art. 249 EG, Rn 110 ff.<br />
21
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
m. Art. 11 EUV. <strong>Die</strong> praktische Umsetzung der Ziele erfolgt nach Art. 12<br />
EUV durch Ratsbeschluss über gemeinsame Strategien, Aktionen oder<br />
Standpunkte. Dazu gehören beispielsweise Wirtschaftssanktionen.<br />
Bezüglich der Kontrolle von Rüstungsgütern wurde die Ratsarbeitsgruppe<br />
(COARM) eingerichtet. <strong>Die</strong> Mitgliedstaaten einigten sich hier über eine<br />
gemeinsame Militärgüterliste und einen Verhaltenskodex für Exportentscheidungen.<br />
Innerhalb der GASP-Säule wird ein politisch verbindlicher<br />
Rahmen gesetzt. Das ermöglicht zumindest teilweise eine Harmonisierung<br />
der nationalen Rechtsvorschriften60 , was die nationalen Politiken und Maßnahmen<br />
effektiver gestaltet. <strong>Die</strong> rechtsverbindliche Umsetzung der Beschlüsse<br />
obliegt der nationalen Gesetzgebung. Seit ein paar Jahren wird<br />
auch die gemeinschaftsrechtlich verbindliche Umsetzung des VK-EU diskutiert.<br />
b) <strong>Die</strong> EG-Dual-use-Verordnung<br />
Wesentliche Regelungen für die Ausfuhrkontrolle von Dual-use-Gütern<br />
werden in der Dual-use-VO getroffen. Sie gewährleistet ein EU-weit harmonisiertes<br />
Kontrollniveau. Das Primärziel des freien Binnenmarktes soll<br />
mittels einheitlicher Kontrollstandards erreicht werden. So können Exportkontrollen<br />
möglichst weitgehend auf Lieferungen aus dem Wirtschaftsgebiet<br />
der EU beschränkt werden. <strong>Die</strong>sem Ziel kommt die Dual-use-VO deutlich<br />
näher als ihre Vorgängerin. Ausnahmen gibt es mit der Genehmigungspflicht<br />
für innergemeinschaftliche Verbringungen von Gütern des Anhanges IV. Es<br />
handelt sich um besonders sensitive Güter, im Wesentlichen mit Bezug auf<br />
MVW. Mit der Dual-use-VO werden einheitliche Zuständigkeiten geregelt,<br />
Kernbegriffe des Ausfuhrrechts geklärt sowie die institutionelle Zusammenarbeit<br />
in der EG verbessert61 . <strong>Die</strong> nationalen Regelungen in AWG und AWV<br />
sind auf die Vorgaben der EU abgestimmt. <strong>Die</strong> Vorschriften im jeweiligen<br />
Rechtskreis haben unmittelbare Geltung.<br />
Wenn sich nationale Vorschriften mit der Dual-use-VO inhaltlich überschneiden,<br />
gilt ein Anwendungsvorrang des EG-Rechts. Das nationale Recht<br />
tritt zurück. Darauf wird bei der allgemeinen Erörterung des Gemein-<br />
60 EU-Verhaltenskodex für Rüstungsexporte (EU-Außenministerbeschluss) vom<br />
25.5.1998, DocNr. 8675/2/98 REV 2, veröffentlicht als Anhang zu den Exportkontrollpolitischen<br />
Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen<br />
und sonstigen Rüstungsgütern, BAnz Nr. 19 v. 28. Januar 200, S. 1299<br />
61 Simonsen, AW-Prax 2000, 252<br />
22
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
schaftsverwaltungsrechts noch einzugehen sein62 . Der Anwendungsbereich<br />
der Dual-use-VO (dort Art. 1) ist, wie schon erwähnt, auf Handelsbeschränkungen<br />
für Dual-use-Güter begrenzt. Der Güterbegriff erstreckt sich auf<br />
körperliche Gegenstände, d. h. Waren, Software und Technologie. Insbesondere<br />
bei Software und Technologie sind zwar auch mündliche oder elektronische<br />
Übertragungswege denkbar. <strong>Die</strong> EU-Regelung knüpft dagegen allein<br />
an die Existenz verkörperter Vorlagen, wie z.B. Hardware oder Papierformate,<br />
an.<br />
<strong>Die</strong> Handelsbeschränkungen der Dual-use-VO gelten weitestgehend gegenüber<br />
Drittländern. Im Binnenmarkt, also beim Handel zwischen den Mitgliedstaaten,<br />
sind Beschränkungen auf wenige Ausnahmen begrenzt. <strong>Die</strong><br />
Dual-use-VO regelt in Abgrenzung zum nicht gesetzestechnischen Exportbegriff<br />
zunächst Ausfuhren. Als Ausfuhr gilt gem. Art. 2b der Dual-use-VO<br />
die Verbringung aus dem Zollgebiet der Europäischen Union. Das Zollgebiet<br />
wird für Ausfuhrverfahren nach Art. 161 Zollkodex (ZK) bestimmt, abweichend<br />
bei Wiederausfuhren Art. 182 ZK. Das Zollgebiet entspricht<br />
grundsätzlich dem Hoheitsgebiet der 25 EU-Mitgliedstaaten63 . <strong>Die</strong>ser Ausfuhrbegriff<br />
wird ebenfalls in den nationalen Regelungen der AWV verwendet.<br />
<strong>Die</strong> Kontrollen beziehen sich auch auf vorübergehende Ausfuhren oder<br />
die Wiederausfuhr zuvor eingeführter Ware. Durchfuhren, der Transport<br />
durchs Bundesgebiet ohne zollamtliche Abfertigung, sind nicht erfasst. Ausfuhren<br />
innerhalb der EU, gesetzestechnisch als Verbringung bezeichnet, sind<br />
gem. Art. 21 Dual-use-VO und § 7 AWV nur in Teilen beschränkt.<br />
Neben der Dual-use-VO wurde inzwischen noch eine unmittelbar rechtsverbindliche<br />
Verordnung erlassen. Sie verfolgt Beschränkungen im Warenverkehr<br />
mit dem Ziel der Sicherung von Menschenrechten. <strong>Die</strong> Anti-Folter-<br />
Verordnung sieht Verbote und Genehmigungspflichten für den Handel mit<br />
bestimmten Gütern vor, die zur Vollstreckung der Todesstrafe, zur Folter oder<br />
zu anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung<br />
oder Strafe verwendet werden können64 .<br />
Im Vergleich zur EG-Dual-use-VO 1994 wurden bei der Dual-use-VO die<br />
Entscheidungen des EuGH zur Gemeinschaftskompetenz für die Exportkon-<br />
62 Zum Rangverhältnis vgl. Ehrlich, Das Genehmigungsverfahren für Dual-use-Waren<br />
im deutschen Exportkontrollrecht, S. 7; zur Abgrenzung der Genehmigungspflichten<br />
nach der Dual-use-VO zur AWV: Pietsch, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 1, 122,<br />
Art. 4 Rn 9<br />
63 Weitere Einzelheiten unter www.zoll.de<br />
64 Verordnung (EG) Nr. 1236/2005 vom 27.06.2005 (ABl. EG Nr. L 200/1 vom<br />
30.07.2005), dazu mehr in Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 110<br />
23
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
trolle von Dual-use-Gütern berücksichtigt65 . <strong>Die</strong> gemeinsamen Güterlisten<br />
wurden direkt in die Verordnung aufgenommen und die Kontrollen auf unverkörperte<br />
Technologietransfers ausgedehnt. Hinzu kamen eine neue Auffangnorm<br />
für die Ausfuhr nicht gelisteter Güter und der erstmals einheitlich<br />
definierte Ausführerbegriff. Eine wesentliche Verfahrensvereinfachung erfolgte<br />
mit Einführung der Allgemeinen Genehmigung EU 001. Schließlich<br />
wurden wichtige Definitionen vereinheitlicht und die verfahrenstechnischen<br />
Fragen fortentwickelt, was mittels Intensivierung und Institutionalisierung<br />
der administrativen Zusammenarbeit geschah.<br />
Es bleibt festzuhalten, dass die Dual-use-VO nicht nur materiellrechtliche<br />
Bestimmungen, sondern auch Verfahrensvorschriften enthält. Darauf wird<br />
noch gesondert einzugehen sein, da entsprechende Regelungen auf europäischer<br />
Ebene eher untypisch sind. Daher muss grundsätzlich auf nationales<br />
Verfahrensrecht zurückgegriffen werden.<br />
<strong>Die</strong> Regelungen der Dual-use-VO im Einzelnen:<br />
Art. 1 Dual-use-VO begrenzt die Regelungswirkung der Verordnung auf die<br />
Ausfuhr und Verbringung von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck.<br />
Zu unterscheiden sind die Bereiche Durchfuhr, Transithandel, <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
und Wissenstransfer. Technische <strong>Die</strong>nstleistungen und Wissenstransfer<br />
werden in der Gemeinsamen Aktion EG-2000/401/GASP zur technischen<br />
Unterstützung koordiniert66 . Art. 2 definiert eine Reihe von wesentlichen<br />
Rechtsbegriffen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Bestimmung des<br />
Ausführers, der mit der letzten Novellierung der Dual-use-VO nicht mehr an<br />
den Eigentümer einer Ware oder Technologie anknüpft, sondern als „Geschäftsherr“<br />
fungiert67 .<br />
Regelmäßiger Anknüpfungspunkt für Beschränkungen der Ausfuhr sind die<br />
technischen Eigenschaften des kontrollierten Gutes, z.B. weil es für militärische<br />
Zwecke besonders konstruiert ist oder eine Schlüsselkomponente für<br />
die Herstellung von Massenvernichtungswaffen darstellt. Bei Dual-use-<br />
Gütern kann auch die Art der beabsichtigten Endverwendung sowie in diesem<br />
Zusammenhang der konkrete Empfänger und/oder Endverwender maß-<br />
65 EuGHE vom 17.10.1995 Rs C-70/94 - Werner und C-83/94 - Leifer (FN 27)<br />
66 Gemeinsame Aktion des Rates vom 22. Juni 2000 betreffend die Kontrolle von technischer<br />
Unterstützung in Bezug auf bestimmte militärische Endverwendungen, ABl.<br />
EG Nr. L 159 S. 216<br />
67 Zum Hintergrund Monreal, AW-Prax 1999, S. 48 ff. (insbesondere „Geschäftsherrentheorie“);<br />
mit Verweis auf unterschiedliche Rechtssysteme - Zeitpunkt des Eigentumserwerbs:<br />
Simonsen in AW-Prax 2000, 312, 313<br />
24
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
geblich sein. Deshalb werden listen-, güter- sowie verwendungsbezogene<br />
Kontrollen unterschieden.<br />
Art. 3 Dual-use-VO betrifft alle von der Güterliste des Anhanges I erfassten<br />
Ausfuhren aus dem Gemeinschaftsgebiet. <strong>Die</strong> Liste wird regelmäßig angepasst,<br />
vor allem bei Änderungen in den Kontrollregimes. <strong>Die</strong> Änderungen<br />
werden in die nationalen Ausfuhrliste (Teil 1 Abschnitt C) übernommen.<br />
Güterbezogene Genehmigungspflichten bestehen unabhängig von der Endverwendung.<br />
Es geht allein um die technische Einstufung in eine Listenposition.<br />
<strong>Die</strong> erfassten Güter sind für einen bestimmten Zweck „besonders konstruiert“<br />
oder sie weisen objektiv-technische Merkmale auf, die eine spezifische<br />
Funktionalität oder Beschaffenheit ermöglichen68 . Ihre Listung ist Ausdruck<br />
der besonderen Sensitivität für eine Verwendung im Bereich der Herstellung<br />
von Rüstungsgütern oder von Trägertechnologie und Massenvernichtungswaffen.<br />
Hierunter fällt auch die in Beispiel 1 der Einleitung genannte<br />
Kryptosoftware.<br />
Art. 4 Dual-use-VO regelt verwendungsbezogene Genehmigungspflichten.<br />
Für die Genehmigungspflicht ist nicht die technische Beschaffenheit, sondern<br />
die beabsichtigte Endverwendung maßgeblich. In Art. 4 Abs. 1 ist die<br />
Verwendung im Zusammenhang mit der Herstellung von Massenvernichtungswaffen<br />
und Trägertechnologie geregelt. In Abs. 2 geht es hingegen um<br />
eine militärische Endverwendung in Embargoländern. Hierunter fällt daher<br />
nicht die Lieferung nach Syrien in Beispiel 2 der Einleitung. <strong>Die</strong> gleichlautende<br />
nationale Regelung des § 5c AWV geht hier weiter, da sie sich nicht<br />
auf Embargoländer beschränkt. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht der endverwendungsbezogenen<br />
Tatbestände knüpft an eine positive Kenntnis des Ausführers<br />
an, dass es um eine Ausfuhr für die genannten Zwecke geht. <strong>Die</strong> Kenntnis<br />
kann auch durch eine Unterrichtung der zuständigen Behörde hergestellt<br />
werden, das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). <strong>Die</strong><br />
Unterrichtung ist möglich, wenn das BAFA selbst gesicherte oder auch ungesicherte<br />
Kenntnis von einer genehmigungspflichtigen Verwendung hat,<br />
was durch die Formulierung „bestimmt sein oder bestimmt sein können“<br />
zum Ausdruck kommt69 .<br />
Art. 9 Dual-use-VO enthält Verfahrensvorschriften und betrifft die Entscheidungsmöglichkeiten<br />
der Behörde. Art. 8 Dual-use-VO gibt Hinweise<br />
68 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 4 Rn 163<br />
69 Haddex (FN 4), Teil 5 Rn 232a, 237, dort auch mit Einzelheiten zu einzelnen Verwendungsvarianten<br />
und gesetzlich bestimmten Kausalitäten bei den verschiedenen<br />
Genehmigungstatbeständen<br />
25
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
für die Entscheidungskriterien. Auf die Rechtsnatur dieser Entscheidung und<br />
die Maßstäbe für die gerichtliche Kontrolle wird noch einzugehen sein.<br />
Art. 21 Dual-use-VO beinhaltet eine für den Binnenmarkt ungewöhnliche<br />
Vorschrift. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht für innergemeinschaftliche Lieferungen,<br />
die Verbringung, soll für Güter des Anhanges IV gelten. Deren Sensitivität<br />
geht auf den Bezug zu Massenvernichtungswaffen zurück. Ein Teil der<br />
Güter ist der Allgemeingenehmigung zugänglich. Der Verwaltungsaufwand<br />
für betroffene Unternehmen hält sich daher in Grenzen. Art. 21 Abs. 2d)<br />
Dual-use-VO enthält eine Kooperationsverpflichtung der Mitgliedstaaten.<br />
Solche kooperativen Vorschriften sieht auch Art. 9 Abs. 2 und 3 vor, der<br />
Konsultationsverpflichtungen regelt. Hinzu kommen allgemeine Informationsaustauschpflichten<br />
in Art 15 bzw. 18 Dual-use-VO.<br />
c) Nationale Vorschriften<br />
<strong>Die</strong> nationalen Vorschriften der Exportkontrolle finden sich im Außenwirtschaftsgesetz<br />
(AWG) 70 sowie im Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) 71 .<br />
Wesentliche Regelung des AWG ist die Ermächtigung des § 2, der die<br />
Grundlage für die Beschränkung von Rechtsgeschäften und Handlungen im<br />
Außenwirtschaftsverkehr bildet. <strong>Die</strong> erforderlichen Einzelfragen regelt die<br />
Außenwirtschaftsverordnung (AWV). In der AWV sind verschiedene Abschnitte<br />
zu unterscheiden. In den Anhängen finden sich Güter- und Länderlisten,<br />
die im Zusammenspiel mit den einschlägigen Normen bestimmte Regelungswirkungen<br />
vorsehen, in Abhängigkeit vom Warencharakter (Ausfuhrliste<br />
mit den Abschnitten A, B und C) und Ziel der beabsichtigten Lieferung<br />
(Länderliste K). <strong>Die</strong> Ausfuhrliste unterscheidet Rüstungsgüter (Abschnitt<br />
A), Folterinstrumente (Abschnitt B) und Dual-use-Güter (Abschnitt<br />
C mit Bezug zu konventionellen Waffen und ABC-Waffen). <strong>Die</strong> für das<br />
KWKG einschlägigen Güter werden im Anhang der Kriegswaffenliste genannt.<br />
<strong>Die</strong> Abgrenzung der Kompetenzzuweisungen, Zuständigkeitsebenen<br />
und Regelungsbereiche ist nicht immer leicht zu erkennen. Bei Anwendung<br />
der nationalen Regelungen muss die Vorrangwirkung der EU-Regelungen<br />
beachtet werden.<br />
Auch die nationalen Regelungen der Exportkontrolle knüpfen an den Ausfuhrbegriff<br />
an. Als Ausfuhr gilt die „vorübergehende oder endgültige Ver-<br />
70 In der Fassung der Bekanntmachung vom 26.06.2006, BGBl. I S. 1386; zuletzt geändert<br />
durch Artikel 3 des Gesetzes vom 12.06.2007 BGBl. I 1037<br />
71 Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Absatz 2 GG in der Fassung der Bekanntmachung<br />
vom 22.11.1993 BGBl. I 1934, 2493, zuletzt geändert durch Verordnung v. 24. 4. 2007<br />
BAnz. Nr. 78, 4307<br />
26
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
bringung von Gemeinschaftswaren aus dem Zollgebiet der Gemeinschaft<br />
einschließlich der Wiederausfuhr (Verbringung von Nichtgemeinschaftswaren)“.<br />
Unterschieden werden müssen die Teilnahme am Warenverkehr und<br />
die Durchführung von <strong>Die</strong>nstleistungen beziehungsweise technische Unterstützung.<br />
Innerhalb des Warenverkehrs gibt es Ausfuhr, Verbringung und<br />
Durchfuhr. Verbringung ist der Warenverkehr zwischen den EG-<br />
Mitgliedstaaten. Sie ist eine Sonderform der Ausfuhr gem. der §§ 4 Abs. 2<br />
Nr. 3 AWG i.V.m. 4c Nr. 2 AWV. Als Durchfuhr gilt die Beförderung von<br />
Sachen aus fremden Wirtschaftsgebieten durch das nationale Wirtschaftsgebiet,<br />
ohne das diese in den zollrechtlich freien Verkehr gelangen gem. § 4<br />
Abs. 2 Nr. 5 AWG.<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht von Ausfuhren hängt von der Qualifikation als<br />
Kriegswaffe, Rüstungsgut oder Dual-use-Gut ab. Maßgeblich für die Einstufung<br />
eines Gutes sind dessen spezifische technische Eigenschaften: Der nationale<br />
Güterbegriff entspricht im Wesentlichen dem der Dual-use-VO. Er<br />
umfasst Waren und ihre Bestandteile (bewegliche Sachen außer Wertpapiere<br />
und Zahlungsmittel § 4 Abs. 2 Nr. 3 AWG) sowie Software und Technologie.<br />
Rüstungsgüter sind Kriegswaffen und sonstige Rüstungsgüter, respektive<br />
Waffen und ihre Komponenten. Deren militärische Endverwendung ist<br />
nicht nur beabsichtigt, sondern ergibt sich schon aus der Natur der Sache.<br />
Für die Genehmigungsentscheidung selbst räumt der Gesetzgeber gem. Art.<br />
7 AWG der Verwaltung unter Vorgabe bestimmter Kriterien oder Überlegungen<br />
einen gewissen Entscheidungsspielraum ein. Auf dieser Grundlage<br />
werden die außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen der Bundesregierung<br />
administrativ umgesetzt. <strong>Die</strong> Veraltung muss die Kriterien des Art. 7<br />
als entscheidungsleitende Vorgaben berücksichtigen. In den exportkontrollpolitischen<br />
Grundsätzen der Bundesregierung vom 19.01.2000 werden sie<br />
spezifiziert72 .<br />
Um effiziente Kontrollen sowie Wettbewerbsgleichheit zu ermöglichen,<br />
setzt sich die Bundesregierung für die weitere Harmonisierung internationaler<br />
Kontrollstandards und Kontrollpolitiken ein. Wenngleich es in der vorliegenden<br />
Untersuchung vor allem auf die Genehmigungsentscheidung bei<br />
Dual-use-Gütern ankommt, aufgrund des technischen und politischen Zusammenhanges<br />
mit der Rüstungsgüterkontrolle sollen zunächst beide Aspekte<br />
erörtert werden.<br />
72 Bek. im BAnz Nr. 19 v. 28.01.2000, S. 1299<br />
27
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
d) Nationale Kontrollen für Rüstungsgüter<br />
<strong>Die</strong> Ausfuhr von Rüstungsgütern wird in Deutschland auf Basis von zwei<br />
recht unterschiedlichen Rechtsgrundlagen kontrolliert. <strong>Die</strong> Eingriffsermächtigung<br />
des AWG wird durch die AWV und Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste<br />
(AL) umgesetzt. <strong>Die</strong> Regelungen gelten für alle Rüstungsgüter73 . Daneben<br />
gilt das KWKG mit seinem Anhang, der Kriegswaffenliste (KWL) sowie einigen<br />
Durchführungsverordnungen. Sie betreffen eine Teilmenge der Rüstungsgüter,<br />
die Kriegswaffen. Rüstungsgüter, die keine Kriegswaffen sind,<br />
werden als „sonstige Rüstungsgüter“ bezeichnet74 . Das KWKG sieht für militärische<br />
Waffen besonders restriktive Kontrollinstrumente vor, die über<br />
bloße Ausfuhrkontrollen hinausgehen. <strong>Die</strong>s wird mit Art. 26 Abs. 1 GG sogar<br />
von der Verfassung gefordert. Es wird deshalb dem „Verfassungsrecht<br />
im materiellen Sinne“ zugerechnet. <strong>Die</strong> im KWKG umfassend geregelten<br />
Genehmigungs- und Überwachungsinstrumente des KWKG können nicht<br />
auf die unüberschaubare Vielfalt und Vielzahl der sonstigen Rüstungsgüter<br />
erstreckt werden, die für sich allein genommen oft völlig ungefährlich<br />
sind75 .<br />
Im Anwendungsbereich des AWG gilt dagegen gem. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 der<br />
Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit. Im Rahmen der noch zu erörternden<br />
Kontrolldichte von Genehmigungsentscheidungen stellt sich allerdings die<br />
Frage, welche Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs zu stellen<br />
sind. Der Gesetzgeber hat mit § 1 Abs. 2 AWG explizit Beschränkungsmöglichkeiten<br />
der Außenwirtschaftsfreiheit durch Gesetze oder<br />
Rechtsverordnung vorgesehen. Nach § 2 Abs. 3 S. 2 AWG werden die Ausfuhrbeschränkungen<br />
spezifiziert. Sie sollen in Art und Umfang auf das für<br />
die Erreichung des Gesetzeszweckes notwendige Maß beschränkt bleiben.<br />
<strong>Die</strong>ser Hinweis verdeutlicht die Relevanz des Freiheitsgedankens, vor allem<br />
aber auch des verfassungsmäßigen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.<br />
Auch die Formulierung des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG bestätigt seine Bedeutung,<br />
indem er einen Anspruch der Genehmigungserteilung bei unwesentlicher<br />
Gefährdung eines Rechtsgutes vorsieht76 . Das AWG selbst fungiert als<br />
Rahmengesetz. Es enthält zumindest für den Bereich der Exportkontrolle<br />
keine eigenen Beschränkungen.<br />
73 Vgl. Weber, JA 1990, 73 ff.; Bachmann, AW-Prax 2000, 488 ff.<br />
74 Zur Frage, welche Qualifikation von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern:<br />
Bieneck und Pathe/Wagner, in: Bieneck (FN 4), § 28 Rn 15 ff sowie § 38<br />
75 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 4ff.<br />
76 Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 1 AWG Rn 16 f.<br />
28
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
§ 2 Abs. 1 AWG sieht die Möglichkeit von Verboten und Genehmigungsvorbehalten<br />
vor. Sie werden durch Rechtsverordnungen umgesetzt. Das geschieht<br />
praktisch mit der AWV, was im Vergleich zu AWG-Änderungen ein<br />
flexibles Handeln der Bundesregierung gewährleistet, wenn eine konkrete<br />
Gefährdungslage besteht. Dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 Abs. 1<br />
GG wird über den Normzweck in § 7 AWG Rechnung getragen77 . Neben § 7<br />
werden auch in den §§ 5 und 6 Eingriffsermächtigungen statuiert. <strong>Die</strong>se Paragraphen<br />
setzen den inhaltlichen Rahmen für den Erlass von Beschränkungen.<br />
§ 5 AWG eröffnet dem Verordnungsgeber zum Beispiel die Möglichkeit,<br />
völkerrechtliche Verpflichtungen unmittelbar und zügig ohne ein neues<br />
besonderes Gesetz umzusetzen. Das gilt insbesondere für Resolutionen des<br />
VN-Sicherheitsrats. <strong>Die</strong> Ermächtigung für Beschränkungen in Form der Genehmigungstatbestände<br />
der Exportkontrollen beruht auf § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis<br />
3 AWG. Danach können sie eingeführt werden, um „die wesentlichen Sicherheitsinteressen<br />
der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten; eine<br />
Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu verhüten oder zu<br />
verhüten, dass die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland<br />
erheblich gestört werden“.<br />
Zu den Beschränkungstatbeständen gehören die Genehmigungspflichten<br />
nach § 5 AWV. Da diese keine weiteren Anhaltspunkte bieten, nach welchen<br />
Kriterien Genehmigungen versagt werden können, ist auf die in § 7 Abs. 1<br />
AWG genannten Gründe zurückzugreifen78 . § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 AWG<br />
wird daher nicht zu Unrecht als „Einfallstor für politische Maßnahmen“ bezeichnet79<br />
. Es wird noch zu erörtern sein, welche Anforderungen an die<br />
Verwaltung gestellt sind, um eine verfassungsgemäße Anwendung des damit<br />
eröffneten Spielraums zu gewährleisten. Im juristischen Schrifttum sind gegen<br />
diese Ansammlung unbestimmter, allenfalls schwer justiziabler Rechtsbegriffe<br />
durchaus Bedenken vorgebracht worden80 .<br />
In § 7 Abs. 2 AWG wird die allgemeine Beschränkungsermächtigung des §<br />
7 Abs. 1 AWG konkretisiert, beispielhaft mit Anwendungsfällen des Warenverkehrs,<br />
z.B. die Ausfuhr § 5 Abs. 1 AWV, die Verbringung § 7 Abs. 1<br />
AWV. Erfasst sind aber auch Vermittlungsgeschäfte §§ 40 ff. AWV sowie<br />
77 Dazu auch Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 2 AWG Rn 3<br />
78 Zu den Bewegungsgründen im Einzelnen: Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd.<br />
2, 611, § 7 Rn 7ff., insbesondere zu der Tatsache, dass die Schutzgedanken der nationalen<br />
Sicherheitsinteressen in Art. 51 der UN-Charta und des friedlichen Zusammenlebens<br />
der Völker in Art. 2 UN-Charta (Gewaltverbot) international anerkannt sind<br />
79 Friedrich, NJW 1980, 2620, 2621<br />
80 Zu dieser Problematik näher: Weber, JA 90, 73, 78<br />
29
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
technische Unterstützung §§ 45 ff. AWV. § 7 Abs. 3 AWG erweitert dagegen<br />
den nach § 1 AWG an sich auf Gebietsansässige beschränkten Anwendungsbereich<br />
des AWG. Erfasst sind auch Beschränkungen gegenüber deutschen<br />
Staatsangehörigen mit Wohnsitz im Ausland.<br />
Auf die Genehmigungspflichten braucht nicht eingegangen zu werden. Für<br />
die vorliegende Untersuchung spielen die Rüstungsgüter nur eine mittelbare<br />
Rolle. Sie sind aber für die Berücksichtigung der ratio legis von Exportkontrollen<br />
und damit für einander ergänzende Entscheidungsleitlinien auch<br />
i.Z.m. Dual-use-Gütern von Bedeutung.<br />
e) Nationale Kontrollen für Dual-use-Güter<br />
<strong>Die</strong> für Rüstungsgüter getroffenen Ausführungen zur Beschränkungsermächtigung<br />
des AWG und der Umsetzung der Genehmigungspflichten der<br />
AWV gelten auch für Daul-use-Güter-Kontrollen. Auch für ihre Ausfuhr und<br />
Verbringung gilt der Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit. <strong>Die</strong> Kriterien<br />
für die Genehmigungsversagung im Einzelfall sind § 7 AWG zu entnehmen.<br />
<strong>Die</strong> Mitgliedstaaten können aufgrund der Ermächtigungsnorm des Art. 5<br />
Dual-use-VO ergänzende nationale Regelungen für die Kontrolle von Dualuse-Gütern<br />
treffen. Beispiel dafür sind zusätzliche Genehmigungspflichten<br />
in der AWV und international nicht vorgesehene Positionen der Ausfuhrliste.<br />
Grundlage dafür sind – wie bei Rüstungsgütern – die Ermächtigungsnormen<br />
des AWG. Auf die in diesem Punkt kritische Frage der Kompetenzzuweisung<br />
i.Z.m. der Reichweite der EU-Kompetenzen gem. Art. 133 EG<br />
wurde bereits eingegangen. <strong>Die</strong> Anwendbarkeit der Dual-use-VO und des<br />
nationalen Rechts ist für den Rechtsanwender schwer abgrenzbar, systematisch<br />
aber eindeutig81 . Das Rangverhältnis der Normen wird über Art. 249<br />
EG geregelt, der über die Anordnung der unmittelbaren Geltung von Verordnungen<br />
das Prinzip des Anwendungsvorranges von Gemeinschaftsrecht<br />
sicherstellt.<br />
<strong>Die</strong> AWV regelt nach § 5 Abs. 2 im gelisteten Dual-use-Güter-Bereich unmittelbar<br />
lediglich die nationalen Positionen von Teil 1 Abschnitt C der Ausfuhrliste.<br />
Güter des Anhanges I der Dual-use-VO sind in der Ausfuhrliste<br />
zusätzlich deklaratorisch wiedergegeben, aus Gründen der Übersichtlichkeit<br />
und Anwenderfreundlichkeit. Art. 3 Dual-use-VO bleibt die einschlägige<br />
Rechtsnorm. Neben den nationalen Sonderpositionen der Ausfuhrliste gibt<br />
es zusätzliche Genehmigungspflichten bei Ausfuhren mit dem Zweck militärischer<br />
Endverwendung in den Ländern der Liste K nach § 5c AWV sowie<br />
81 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 1 Rn 15<br />
30
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
zu zivilen nuklearen Zwecken nach § 5d AWV in die dort aufgeführten Länder.<br />
Zu den in beiden Vorschriften benannten Ländern gehören als besonders<br />
sensitiv oder instabil geltende Länder, wie z.B. Iran oder Nordkorea. Beide<br />
haben atomare Bestrebungen und unterwerfen sich nicht den internationalen<br />
Kontrollstandards. Syrien ist kein Embargoland, aber in der Länderliste K<br />
des § 5c AWV aufgeführt. Daher unterliegt Beispiel 2 der Einleitung der nationalen<br />
Genehmigungspflicht.<br />
Zur Wirkungsweise der Genehmigungspflichten für gelistete und ungelistete<br />
Dual-use-Güter wurde bereits im Rahmen der Darstellung zur Dual-use-VO<br />
Stellung genommen. Abschließend sei erwähnt, dass auch die Verbringungsgenehmigung<br />
§ 7 Abs. 2 AWV bei Kenntnis des Ausführers von einer Endverwendung<br />
der Lieferung außerhalb der EU eine nationale Besonderheit<br />
ist. Zudem beinhalten auch die §§ 45 ff. AWV zur Technischen Unterstützung<br />
rein nationale Regelungen. Sie gehen aus Kompetenzgründen nicht auf<br />
die Ermächtigungsklausel der Dual-use-VO zurück, sondern sind Ausfluss<br />
der schon benannten Gemeinsamen Aktion des Rates.<br />
f) Sachliche und formelle Zuständigkeit<br />
Für die sachliche Zuständigkeit in der Exportkontrolle sind folgende Vorschriften<br />
von Bedeutung. Gem. Art. 83 ff. GG ist in Deutschland der Bund<br />
für den Vollzug <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Vorschriften zuständig. Nach Art.<br />
87 Abs. 3 GG können durch das Bundesgesetz für Angelegenheiten, für die<br />
dem Bund die Gesetzgebung zusteht, selbstständige Bundesoberbehörden<br />
errichtet werden.<br />
Für das Exportkontrollrecht hat der Bund gem. Art. 73 Nr. 5 GG die ausschließliche<br />
Gesetzgebungskompetenz82 . Auf dieser Grundlage wurde mit<br />
dem Gesetz vom 28.02.199283 das Bundesausfuhramt errichtet, heute das<br />
BAFA. Es ist gem. § 28 Abs. 3 AWG i.V.m. der Zuständigkeitsverordnung<br />
zur Durchführung von Exportkontrollen ermächtigt84 . Das BAFA hat ebenfalls<br />
die Zuständigkeit für Entscheidungen bei Dual-use-Gütern. Sie sind<br />
gem. Art. 6 Abs. 2 Dual-use-VO den Mitgliedstaaten zugewiesen. Danach<br />
ist es im Grundsatz für alle <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Verfahren zuständig,<br />
82 Lärche, in: Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum GG, Artikel 73, Rn 97<br />
83 Veröff. in BGBl. I, S. 376<br />
84 Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten im Außenwirtschaftsverkehr vom<br />
18.07.1997, BGBl. I, S 1308<br />
31
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
auch nach dem Gemeinschaftsrecht 85 . Insoweit kommt es formal nicht zu<br />
der materiell festgestellten Zweigleisigkeit des Behördenhandelns, was bei<br />
der Umsetzung der Dual-use-VO durch den zuständigen Mitarbeiter der Behörde<br />
umso mehr berücksichtigt werden muss.<br />
g) Ergebnis<br />
Neben der Abgrenzung von Dual-use- und Rüstungsgütern muss bei den<br />
Dual-use-Gütern selbst das zweigleisige Kontrollsystem beachtet werden.<br />
<strong>Die</strong> nationalen Regelungen des AWG und der AWV gelten für bereits in der<br />
Dual-use-VO geregelte Genehmigungspflichten deklaratorisch, für weitergehende<br />
nationale Dual-use-Kontrollen sowie Rüstungsgüterkontrollen dagegen<br />
konstitutiv. <strong>Die</strong> sachliche Verfahrenszuständigkeit obliegt für beide<br />
Regelungskreise dem BAFA. Es hat je nach Sachverhalt die entsprechend<br />
geltenden Vorschriften zu berücksichtigen.<br />
5. Exportkontrollrechtliche Genehmigungstatbestände<br />
a) Allgemeine Erwägungen<br />
Unterliegt ein Vorhaben im Außenwirtschaftsverkehr dem Genehmigungsvorbehalt,<br />
muss die Verwaltung eine Entscheidung treffen. <strong>Die</strong> Genehmigungsbehörde<br />
prüft dabei zunächst das Bestehen einer Genehmigungspflicht.<br />
Erst wenn eine solche festgestellt wurde, befasst sie sich mit der<br />
Frage der Genehmigungsfähigkeit eines Antrages. Das <strong>exportkontrollrechtliche</strong><br />
Genehmigungsverfahren wird mit der Entscheidung über die Erteilung<br />
einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> abgeschlossen. <strong>Die</strong> zu erteilende Genehmigung<br />
wie auch Ablehnung eines Antrages stellen (begünstigende bzw. belastende)<br />
Verwaltungsakte im Sinne des allgemeinen Verwaltungsrechts nach § 35 S.<br />
1 VwVfG dar. <strong>Die</strong> Genehmigungsentscheidung entfaltet Bestandskraft, es<br />
sei denn sie wird mit den einschlägigen Rechtsbehelfen angefochten.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ist von anderen Entscheidungen der Exportkontrollbehörden<br />
abzugrenzen. Mit Bezug auf nicht gelistete Güter kann ein so<br />
genanntes Nullschreiben, also die Feststellung, dass eine Genehmigungspflicht<br />
gar nicht besteht, aber auch die Konstituierung einer Genehmigungspflicht<br />
aufgrund bestimmter Endverwendungsabsichten erfolgt. Beide haben<br />
85 Eine Ausnahme gilt für Kriegswaffen, die nicht im Außenwirtschaftsrecht geregelt<br />
sind und die Übertragung von Anteilen an Rüstungsunternehmen: Weith/Wegner/Ehrlich<br />
(Fn 9), D. Rn 77 und F. Rn 35<br />
32
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
ebenfalls die Qualität eines Verwaltungsaktes nach § 35 S. 1 VwVfG86 . <strong>Die</strong><br />
Voranfrage ist ein Instrument, mit dem ein Teilnehmer am Außenwirtschaftsverkehr<br />
vorab prüfen lassen kann, ob für ein derzeit noch nicht vertraglich<br />
gesichertes Projekt eine Genehmigung erteilt werden würde. Aus<br />
verwaltungsrechtlicher Sicht handelt es sich dabei um eine verbindliche<br />
Auskunft beziehungsweise Zusicherung nach § 38 VwVfG.<br />
Hingegen stellt die Auskunft zur Güterliste (AZG) keine das Verwaltungsverfahren<br />
abschließende Entscheidung dar87 . Es handelt sich um eine behördliche<br />
Auskunft, die Frage betreffend, ob eine ganz bestimmte Ware einer<br />
der Ausfuhrlisten unterfällt. Sie ergeht in Form eines technischen Gutachtens<br />
und vermittelt Klarheit hinsichtlich der Listenerfassung, hat aber<br />
selbst keine rechtlich regelnde Wirkung im Sinne des § 35 VwVfG.<br />
Zentraler Bezugspunkt aller <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbestände<br />
ist der Ausfuhrbegriff. Neben diesen klassischen güterbezogenen Exportkontrollen<br />
stehen weitergehende Kontrollansätze. <strong>Die</strong>nstleistungen in<br />
Form technischer Unterstützung bzw. Wissenstransfer knüpfen an die Person<br />
des Leistenden, den Ort der Leistung und den Bezug zu einem bestimmten<br />
sicherheitsrelevanten und damit sensitiven Verwendungszusammenhang an.<br />
Auch Vermittlungsleistungen (Brokering) oder die Meldepflicht für den ausländischen<br />
Anteilserwerb an Unternehmen, die Rüstungsgüter herstellen haben,<br />
mit dem Exportbegriff wenig gemein, dienen letztlich aber ebenso der<br />
Verhinderung unkontrollierter Lieferungen. <strong>Die</strong> Umgehung bestehender Warenverkehrsbeschränkungen<br />
und das Abwandern sensitiver Technologien<br />
ins Ausland soll erschwert werden.<br />
Es bleiben folgende Genehmigungstatbestände zur Ausfuhr und Verbringung<br />
festzuhalten88 :<br />
(1) Kontrolle von Rüstungsgütern: §§ 3 AWG i.V.m. 5 Abs. 1 AWV, § 7<br />
AWV<br />
(2) Kontrolle gelisteter Dual-use-Güter unter Verweis auf die Listenanhänge:<br />
Art. 3 Dual-use-VO, §§ 3 AWG i.V.m. 5 Abs. 2 AWV<br />
86 Vgl. zur Verwaltungsaktqualität vgl. Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), Bd. 1,<br />
§ 3 AWG, S. 6 (Anm.2); zu Rechtsbehelfen §§ 68 VwGO, Nebenbestimmungen nach<br />
§§ 30 AWG, 36 VwVfG: Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 404 und 406 ff.<br />
87 Vgl. Überblick in Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 9 Rn 626 ff. dazu auch Monreal/Runte,<br />
GewArchiv 2000, S.142, 148<br />
88 <strong>Die</strong> dogmatisch ebenfalls zu Exportkontrollen zu zählenden KWKG-Tatbestände sind<br />
hier ausgeblendet, insbesondere gilt hier das Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
nicht: vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 93, 100<br />
33
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
(3) Kontrolle ungelisteter Dual-use-Güter: Art. 4 Abs.1 und 2 Dual-use-VO,<br />
§§ 3 AWG i.V.m. 5c, 5d AWV<br />
(4) Verbringung von bestimmten Dual-use-Gütern (innerhalb der EU): Art.<br />
7, §§ 3 AWG i.V.m. 21 AWV<br />
Ob nach Feststellung der Genehmigungspflicht eine positive oder negative<br />
Verwaltungsentscheidung ergehen kann, regeln die Kriterien des § 7 Abs. 1<br />
AWG sowie Art. 8 Dual-use-VO. Ihre Anwendung bestimmt sich nach dem<br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbestand im jeweils eröffneten<br />
Regelungsbereich. Beide Kriterienkataloge beinhalten Erwägungen sowie<br />
rechtlich geschützte Interessen, deren mögliche Beeinträchtigung im Einzelfall<br />
zu prüfen ist. Dazu gehören auch die entscheidungsleitenden Vorgaben<br />
für die Verwaltung. Zusätzlich muss der vom Gesetzgeber eröffnete Ermessens-<br />
bzw. Beurteilungsspielraum beachtet werden. Auf die Begründung der<br />
hiermit verbundenen Entscheidungsspielräume wird zurückzukommen sein.<br />
<strong>Die</strong> der Entscheidung zu Grunde liegenden Normen sind ausfüllungsbedürftig.<br />
Ihre rechtmäßige Anwendung erfordert die Beachtung allgemeiner Verfassungs-<br />
und Verfahrensprinzipien sowie der Grundrechte der Betroffenen.<br />
b) Genehmigungsvoraussetzungen nach dem AWG<br />
aa) Außenwirtschaftsfreiheit und Beschränkungskriterien<br />
<strong>Die</strong> Außenwirtschaftsfreiheit wird gem. Art. 1 Abs. 1 S. 1 AWG als grundlegendes<br />
Prinzip statuiert. <strong>Die</strong> damit beschriebene Freiheit eines grenzüberschreitenden<br />
Waren-, <strong>Die</strong>nstleistungs- und sonstigen Wirtschaftsverkehrs<br />
bestätigt grundrechtlich verbürgte Ansprüche89 . Sie ergeben sich aus Ableitungen<br />
verfassungsrechtlicher Vorgaben. Hierzu gehören die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit Art. 2 Abs. 1 GG, die über Art. 12 GG geschützte Unternehmerfreiheit<br />
sowie die Eigentumsgarantie Art. 14 GG90 . Insbesondere Art.<br />
12 GG schützt neben der freien Berufsausübung die freie unternehmerische<br />
Betätigung bzw. Gewerbefreiheit, was durch selbstverantwortliche unternehmerische<br />
Disposition nach Art. 2 Abs. 1 GG ergänzt wird. Ein mit <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Beschränkungen verbundener Eingriff muss mit<br />
Blick auf die genannten Freiheiten, insbesondere aber auf Art. 12 GG gerechtfertigt<br />
sein91 .<br />
Der Außenwirtschaftsfreiheit entgegen stehende Interessen, wie auch die im<br />
Zusammenhang mit der Sicherheitsgewährleistung stehenden Staatsziele,<br />
89 Hohmann, Angemessene Außenhandelsfreiheit im Vergleich, S. 216<br />
90 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), Einführung AWG, S. 28<br />
91 Hohmann (FN 89), S. 422; s.a. Epping (FN 28), S. 68<br />
34
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
müssen noch erörtert werden. Bereits hier sei auf die mit Art. 26 GG vom<br />
Verfassungsgeber hervorgehobene völkerrechtliche Friedenspflicht hingewiesen.<br />
Unmittelbare Geltung hat diese Vorgabe vor allem für die Kriegswaffenkontrolle.<br />
Mit der Friedenspflicht soll generell sichergestellt werden,<br />
dass die Bundesrepublik Deutschland keinesfalls in friedensgefährdende<br />
Handlungen involviert wird und sich die Verteidigungspolitik auf die Bündnissicherheit<br />
konzentriert92 . <strong>Die</strong> Kompetenz dafür hat nach Art. 73 Nr. 1 GG<br />
allein der Bund. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Beschränkungsermächtigungen<br />
des AWG gesehen werden.<br />
§ 3 Abs. 1 S. 1 AWG regelt die Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>, wenn<br />
mit der beabsichtigten Ausfuhr allenfalls eine unwesentliche oder aber gar<br />
keine Gefährdung eines Rechtsgutes zu erwarten ist. <strong>Die</strong> Schwelle der Unwesentlichkeit<br />
ist Ausprägung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der<br />
Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs. Das bedarf einer zusätzlichen Wertung<br />
der Behörde. § 3 Abs. 1 S. 2 eröffnet auch in Fällen der wesentlichen Gefährdung<br />
geschützter Rechtsgüter und Belange bei Vorrang eines volks- und<br />
betriebswirtschaftlichen Exportinteresses eine Genehmigungsoption der Behörde.<br />
In der Praxis besteht dafür wegen der Gewichtung der jeweiligen Interessen<br />
aber kaum Relevanz.<br />
Den Maßstab für eine zulässige Beschränkung der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
in Form der Genehmigungsversagung formuliert § 7 Abs. 1 AWG. Danach<br />
sind die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland<br />
zu gewährleisten; eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker<br />
(ist) zu verhüten oder (es ist) zu verhüten, dass die auswärtigen Beziehungen<br />
der Bundesrepublik Deutschland erheblich gestört werden. <strong>Die</strong>se Kriterien<br />
bilden nicht nur eine Ermächtigung für die Beschränkungen der AWV, mithin<br />
die Einführung von Genehmigungspflichten. Sie sind auch der Maßstab<br />
für die Genehmigungsentscheidung im Einzelfall. <strong>Die</strong> Kriterien des § 7<br />
AWG weisen mit den für die Prüfung zu Grunde liegenden Termini der Sicherheitsinteressen,<br />
des Völkerfriedens und der Auswärtigen Beziehungen<br />
auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe auf. <strong>Die</strong> auch als Schutztrias bezeichneten<br />
Ermächtigungszwecke gehen ineinander über und verfolgen Staatsziele<br />
von sehr hohem Rang, die als Gemeinwohlbelang Beschränkungen der<br />
Berufsausübung sowie auch des Eigentums rechtfertigen und deshalb mit<br />
Art. 12 und 14 GG grundsätzlich vereinbar seien93 .<br />
92 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), B. Rn 23<br />
93 Hohmann, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 AWG, Rn 6 unter Verweis auf BVerfG,<br />
NJW 1992, S. 2624<br />
35
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Beschränkungen der Außenwirtschaftfreiheit sind gem. § 2 Abs. 3 S. 2<br />
AWG in Art und Ausmaß nach dem Normzweck begrenzt. <strong>Die</strong>s deckt sich<br />
bei Zugrundlegung der zentralen Frage nationaler Sicherheitsinteressen im<br />
Wesentlichen mit den bereits auf EU-Ebene zur Geltung von Art. 1 EG-VO<br />
69 getroffenen Feststellungen94 . Allerdings müsse das Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
faktisch als bloßer Programmsatz verstanden werden, da<br />
die Beschränkungen zahlreich sind und das Prinzip nicht zuletzt aufgrund<br />
der Anzahl internationaler Krisenherde kaum durchzuhalten sei95 . Auf die<br />
dogmatische Begründung, mit den durchaus subjektive Rechte vermittelnden<br />
Grundrechten, wird noch einzugehen sein. Bestimmtheitsgrundsatz, Gesetzesvorbehalt<br />
und damit die entsprechend gebotene verfassungskonforme<br />
Auslegung der mit dem Beschränkungstatbestand verbundenen unbestimmten<br />
Rechtsbegriffe spielen dafür eine große Rolle. Hier müssen die Schranken<br />
der Grundrechtsausübung und die Abwägung mit ihnen entgegenstehenden<br />
Verfassungsrechtsgütern einbezogen werden.<br />
Einen besonderen Hinweis verdient § 3 Abs. 2 AWG. <strong>Die</strong> Zuverlässigkeit<br />
des Ausführers ist Voraussetzung für die Erteilung einer Genehmigung.<br />
Letztlich geht es dabei um die Gewähr für die Einhaltung der Exportkontrollvorschriften<br />
im Unternehmen selbst, insbesondere die dafür notwendigen<br />
organisatorischen Voraussetzungen und die Bestimmung eines Ausfuhrverantwortlichen96<br />
. Eingefügt wurde diese personenbezogene Genehmigungsvoraussetzung<br />
mit einer AWG-Änderung im Jahr 1992, welche auf die<br />
schon zuvor erörterte Verstärkung der Kontrollen infolge des Rabta-<br />
Skandals zurückgeht97 . Gleichzeitig wurde ein Zuverlässigkeitsnachweis<br />
nach § 3 Abs. 2 AWG zur Genehmigungsvoraussetzung gemacht. <strong>Die</strong> verfassungsrechtliche<br />
Interpretation und Legitimität der mit einer Unzuverlässigkeitsfeststellung98<br />
verbundenen Verwaltungssanktionen ist nicht unstrittig99<br />
. <strong>Die</strong> dogmatische Verankerung dieses Instruments wird anlässlich der<br />
Konkretisierung des Entscheidungsspielraums der Behörde noch aufgegriffen.<br />
94 Vgl. Teil 1 II. 3.c)<br />
95 Epping, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, 611, § 20 Rn 4 ff.<br />
96 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 AWG, Rn 155 ff.; siehe auch Pottmeyer,<br />
„Der Ausfuhrverantwortliche“ (zur Stellung im Unternehmen, Aufgaben und Risiken)<br />
97 Zur Zuverlässigkeit und der Rolle des Ausfuhrverantwortlichen: Sauer, in: Hohmann/John<br />
(FN 26), Teil 3 § 3 Rn 15<br />
98 Zum System der Zuverlässigkeit: Haddex (FN 4), Bd. 1 Teil 6 Rn 344 ff.<br />
99 Zu gesetzlich nicht geregelten Verwaltungssanktionen: Hohmann (FN 89), S. 248 f.<br />
36
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
bb) Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik<br />
Der Begriff der Sicherheitsinteressen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 AWG bezieht sich<br />
nicht auf ein Individualrechtsgut, wie z.B. die körperlichen Unversehrtheit<br />
eines Bürgers i.S.v. Art. 2 Abs. 2 GG. Es geht dabei um ein kollektives Interesse<br />
der staatlichen Gemeinschaft. Der so verfolgte Schutzzweck ist international<br />
anerkannt. In Art. 51 der UN-Charta ist das Selbstverteidigungsrecht<br />
eines Staates bei kriegerischen Angriffen festgeschrieben, bis Frieden<br />
und Sicherheit durch den Rat gewährleistet werden können. In Art. XXI<br />
GATT wird ebenfalls auf nationale Sicherheitsinteressen Bezug genommen.<br />
Sie rechtfertigen eine Ausnahme vom Ziel des freien Welthandels. Hierbei<br />
geht es auch um die Verteidigungsfähigkeit eines Staates. Das übergeordnete<br />
gesellschaftliche Interesse der Gewährleistung von Sicherheit bezieht sich<br />
mittelbar auf den Aspekt der körperlichen Unversehrtheit und das Leben der<br />
Bürger. Dafür hat der Staat mit dem Gewaltmonopol Verantwortung übernommen.<br />
<strong>Die</strong>s spiegelt sich im Regelungszweck des § 7 AWG wieder. Auf<br />
die verfassungsrechtliche Legitimation von sicherheitsrelevanten Eingriffen,<br />
die insoweit gegebene Reichweite des Sicherheitsbegriffs sowie die Frage<br />
der Abwägung gegenüber dazu kollidierenden Freiheitsrechten, wird noch<br />
einzugehen sein.<br />
Der Begriff der Sicherheitsinteressen im Sinne des § 7 AWG umfasst zunächst<br />
den herkömmlichen Sicherheitsbegriff, d.h. die innere und äußere Sicherheit<br />
des Staates100 . <strong>Die</strong> innere Sicherheit betrifft den Erhalt der öffentlichen<br />
Ordnung, insbesondere die Verhinderung von Angriffen auf staatliche<br />
Institutionen. Bei der äußeren Sicherheit geht es dagegen um die militärische<br />
Bedrohung des Staates von außen101 . Exportkontrollen dienen einer<br />
Verhinderung der militärrelevanten Stärkung eines potenziellen Aggressors<br />
oder unerwünschten instabilen Situationen. Auf die Entwicklungen während<br />
des Kalten Krieges und die inzwischen zunehmende Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen<br />
wurde bereits hingewiesen102 . Zu den wesentlichen<br />
Sicherheitsinteressen gehört auch der Schutz vor sonstigen weltweiten Bedrohungslagen<br />
und Konflikten. Dazu zählt der internationale Terrorismus103 .<br />
Hier muss der Zusammenhang zum Merkmal des Völkerfriedens und dessen<br />
Interpretation gesehen werden. Fragen der inneren und äußeren Sicherheit<br />
sind in vielen Bereichen nicht mehr klar voneinander trennbar. Grenzüberscheitende<br />
Kriminalität und internationaler Terrorismus sind die plakativsten<br />
100 Dazu Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 611, § 7 AWG Rn 7<br />
101 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 AWG Rn 7<br />
102 Siehe Teil 1 II.3.c)<br />
103 Wolffgang, in: Bieneck, (FN 4), § 4 Rn 72<br />
37
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Beispiele dafür, dass eine eindeutige Zuordnung zu beiden Aufgaben häufig<br />
nicht möglich ist. Hierbei muss es zu einer umfassenden Behördenkooperation<br />
kommen, nationale Polizei- und Ordnungsbehörden sowie die Bundeswehr<br />
müssen ebenso zusammenarbeiten wie Polizei und Justiz, auch international.<br />
Zu Recht wird deshalb von einem erweiterten oder ganzheitlichen<br />
Sicherheitsbegriff ausgegangen104 . Das gilt auch und gerade für auf internationale<br />
Kooperation ausgerichtete Exportkontrollen105 . Von außen kommende<br />
Gefahren für die innere Sicherheit können in Verbindung mit dem Fehlverhalten<br />
eines Staates in der internationalen Zusammenarbeit bei der Gewährleistung<br />
innere Sicherheit zu einem Problem der äußeren Sicherheit<br />
werden106 .<br />
Mit Erweiterung des ursprünglich im AWG verfolgten Sicherheitsbegriffs<br />
wird zudem auch die militärische Versorgungssicherheit der Bundesrepublik<br />
Deutschland einbezogen107 . Mit dem 11. AWG-Änderungsgesetz108 wurde<br />
die Bundesregierung ermächtigt, den Erwerb sicherheitsrelevanter in<br />
Deutschland ansässiger Rüstungsunternehmen, § 7 Abs. 2 Nr. 5 AWG i.V.m.<br />
§§ 52 ff. AWV zu kontrollieren109 . <strong>Die</strong> Formulierung „Gewährleistung“ der<br />
Sicherheitsinteressen lässt erkennen, dass es nicht auf die konkrete Gefährdung<br />
eines Rechtsgutes ankommen soll. Erfasst scheint damit schon die<br />
Eignung eines Rechtsgeschäfts oder einer Handlung, die zur militärischen<br />
Schwächung der Bundesrepublik Deutschland führt. Es ginge also um<br />
Handlungen im Vorfeld einer Gefährdung im Einzelfall. Andererseits erfolgt<br />
eine Einengung des Tatbestandes, der die staatliche Gewährleistungspflicht<br />
auf wesentliche, also keinesfalls alle Sicherheitsinteressen des Staates bezieht.<br />
<strong>Die</strong> Anforderungen an diese sehr weit gehende, aber dennoch den<br />
Schranken der Verfassung genügende Gefahrenabwehr, müssen noch näher<br />
untersucht werden. Primär geht es dabei um Fragen zur Abgrenzung von sicherheitsrelevanten<br />
Gefahren und Risiken auf der einen sowie die angemessene<br />
Berücksichtigung der Freiheiten von Rechtssubjekten auf der anderen<br />
Seite. <strong>Die</strong> Diskussion ist aus dem Polizeirecht, aber auch aus dem Umweltrecht<br />
bekannt. Entsprechend müssen die Reichweite zulässiger Beschrän-<br />
104 Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, § 2 Rn 2a<br />
105 Zur Verschmelzung der Begriffe aufgrund von Eurpäisierung und Globalisierung s.a.:<br />
Calliess, Äußere Sicherheit im Wandel, S. 13 ff.; so auch Kapitel 2 im Weißbuch zur<br />
Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr,<br />
www.weissbuch.de<br />
106 Möstl, <strong>Die</strong> staatliche Garantie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 287<br />
107 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), § 7 AWG, Rn 3<br />
108 11. Gesetz zur Änderung des AWG sowie der AWV v. 23.07. 2004, GBl. I S. 1859<br />
109 Dazu ausführlich Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 156 ff.<br />
38
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
kungen und Mindestanforderungen an die Darlegungslast der Verwaltung<br />
geprüft werden.<br />
cc) Völkerfriede<br />
Das friedliche Zusammenleben der Völker i.S.v. § 7 Abs.1 Nr. 2 AWG ist<br />
der Leitgedanke des bereits erwähnten Art. 51 und des Gewaltverbotes in<br />
Art. 2 Nr. 4 der VN-Charta. Der Bundesrepublik ist damit auch international<br />
verpflichtet, dem verfassungsrechtlichen Friedensauftrag nach Art. 26 GG<br />
zu entsprechen. Zu den internationalen Verpflichtungen gehören z.B. auch<br />
die Leitmotive des Wassenaar Arrangements, wonach Exporte keinen destabilisierenden<br />
Beitrag zu Konflikten zwischen Drittstaaten leisten sollen. Es<br />
geht dabei um eine generelle Vermeidung friedenstörender Konflikte. Hierunter<br />
fallen nach VN-Verständnis alle militärischen Aktionen, die nicht der<br />
Verteidigung gegen einen Angriff dienen oder als Kollektivmaßnahme der<br />
VN gerechtfertigt sind110 . Konflikte zwischen zwei Völkern innerhalb eines<br />
Staates sind ebenfalls erfasst. Nach dem Normzweck sollen sogar Konflikte<br />
innerhalb ethnischer Gruppen dazu gehören, wenn sie sich auf andere Völkergruppen<br />
oder Staaten ausweiten können. Dazu zählen auch terroristische<br />
Handlungen111 . Zu Störungen im Kriegssinne zählen ernsthafte Androhungen,<br />
die Förderungs- oder Vorbereitungshandlungen. Dazu gehören z.B.<br />
auch Waffenlieferungen112 .<br />
Bei den Exportkontrollen rückt in den letzten Jahren ihr Beitrag zur Terrorismusbekämpfung<br />
ins Blickfeld, vor allem durch Embargos im Waren- und<br />
Kapitalverkehr, aber auch bei Anwendung der Genehmigungstatbestände.<br />
<strong>Die</strong> Grenzen der Schutzzwecke Völkerfriede, innerer und äußerer Sicherheit<br />
sind fließend113 . Mit Blick auf den gesetzlichen Auftrag der Verhütung von<br />
Störungen im o.g. Sinne kommt die vorsorgende Komponente von § 7 AWG<br />
zum Ausdruck. Hierauf wird i.Z.m. den zulässigen Eingriffsschwellen nach<br />
Prinzipien der Gefahrenprävention noch näher einzugehen sein.<br />
dd) Begriff der Auswärtigen Beziehungen<br />
§ 7 Abs. 1 Nr. 3 regelt eine Beschränkungsermächtigung, wenn damit eine<br />
erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen verhütet werden kann.<br />
110 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 AWG, Rn 11, dazu auch EuGHE v.<br />
17.10.1995, RS C 70/94 – Leifer (FN 27)<br />
111 Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), §4 Rn 73<br />
112 Jarass/Pieroth, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 26 GG Rn 2<br />
113 Vgl. zur Bekämpfung des Terrorismus mit Mitteln des Außenwirtschaftsrechts Ricke,<br />
AW-Prax 2006, S. 411 sowie Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), C. Rn 44 ff.<br />
39
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Auch hier kommt mit dem gesetzlichen Auftrag der Verhütung von Störungen<br />
eine vorsorgende Komponente zum Ausdruck114 . Zunächst werden die<br />
auswärtigen Beziehungen mit den Beziehungen der Bundesrepublik<br />
Deutschland zu anderen Staaten und zu internationalen Organisationen definiert.<br />
Eine erhebliche Störung wird angenommen, wenn die Bundesrepublik<br />
durch Handlungen oder Rechtsgeschäfte einzelner Bürger in eine Lage gebracht<br />
wird, die eine Wahrnehmung ihrer Interessen bei diesen anderen Saaten<br />
oder Organisationen ernsthaft erschwert oder unmöglich macht. Zu den<br />
„erheblichen Störungen“ zählen Situationen, die es der Bundesrepublik erschweren,<br />
ihre Interessen gegenüber anderen Staaten wahrzunehmen. Beispiele<br />
dafür sind der Abbruch diplomatischer Beziehungen, ein Botschafterrückruf<br />
oder die Verurteilung in internationalen Gremien. <strong>Die</strong> für eine Störung<br />
notwendige Intensität der erwarteten Reaktion ist je nach Land unterschiedlich,<br />
dies hängt von der Qualität der Beziehungen ab115 .<br />
Eine Erschwerung der Interessenwahrnehmung im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr.<br />
3 AWG trifft keine Aussage, um welche Interessen es dabei geht. Dabei<br />
muss auf Art. 32 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden. Danach ist der Schutz<br />
außenpolitischer Interessen, also die Verhütung von erheblichen Störungen<br />
der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik, auch Teil der Liste verfassungsrechtlich<br />
geschützter Belange116 . <strong>Die</strong> Reichweite des Schutzgutes<br />
ist unklar. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, für dessen<br />
Anwendung wegen der politischen Einschätzungsprärogative der Bundesregierung<br />
ein erheblicher Bewertungsspielraum eingeräumt wird117 . Der Begriff<br />
wird gesetzlich nirgends näher definiert. Art. 32 Abs. 1 GG regelt lediglich<br />
die Pflege der auswärtigen Beziehungen, ohne diese z.B. in Form<br />
völkerrechtlicher Verträge zu konkretisieren, wie es z.B. in Art. 59 GG der<br />
Fall ist. Damit wäre jedwede Imagebeeinträchtigung zu Lasten der Bundesrepublik<br />
erfasst. Es gibt deshalb starke Zweifel an einer aus Art. 32 GG ableitbaren<br />
umfassenden Schutzpflicht, die Eingriffe des Staates in andere<br />
Rechtsgüter oder die Außenwirtschaftsfreiheit rechtfertigen könne118 . Es ist<br />
unbestritten, dass der Verwaltung wegen der politischen Dimension der Auslegung<br />
des unbestimmten Rechtsbegriffes auswärtiger Interessen ein breiter<br />
114 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 AWG Rn 17<br />
115 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), § 7 AWG Rn 9, auch unter Verweis auf<br />
BVerfGE v. 25.10.1991, Rs 2 BvR 374/90, NJW 1992, S. 2624<br />
116 BVerfGE v. 25.10.1991, (FN 115)<br />
117 So Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 AWG Rn 6 unter Hinweis auf diverse<br />
Entscheidungen des BVerfG<br />
118 Epping (FN 28), S. 356 ff.<br />
40
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Bewertungsspielraum zusteht119 . Der mit Art. 32 GG eröffnete Rahmen lässt<br />
jede Hypothese zur negativen Reaktion anderer Staaten oder Subjekte als<br />
„Störung“ erscheinen. Ohne eine nähere Bestimmung des auf diese Weise<br />
nahezu unbegrenzten Spielraumes, also des Bezugspunktes der betroffenen<br />
Interessen, wäre damit aber eine völlige Marginalisierung von Grundrechten<br />
und Individualfreiheiten möglich. Sie würden gegenüber dem Kollektivinteresse<br />
immer verdrängt. Der Anspruch auf gerichtlichen Schutz des Art. 19<br />
Abs. 4 GG würde bei einer derartig weit gefassten Eingriffsermächtigung<br />
der Verwaltung (und Politik) konterkariert, ein umfassendes Primat der Außenpolitik<br />
ohne programmatische Konkretisierungen deshalb verfassungsrechtlich<br />
fragwürdig. Es widerspräche dem Bestimmtheitsgebot des Art. 80<br />
Abs. 1 S. 2 GG120 .<br />
Der Grad der notwendigen Gefährdung und die hinreichende Bestimmtheit<br />
der Norm können aber nicht durch den bloßen Verweis auf internationale<br />
Verpflichtungen der Bundesrepublik und den Sicherheitsauftrag der Verfassung<br />
kompensiert werden. Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 Nr. 3 AWG bietet<br />
keine Anhaltspunkte für die Reichweite des Begriffs. <strong>Die</strong> auswärtigen Belange<br />
dürfen nicht isoliert betrachtet werden. Es ist ein Bezug zu Rechtsgütern<br />
notwendig, die verfassungsrechtlich geschützt werden und damit auch<br />
vom Schutzzweck der Norm erfasst sind. Im Allgemeinen wird ein Zusammenhang<br />
mit dem nach Art. 2 Abs. 1 und 20a, 24, 25, 26 GG bestehendem<br />
sicherheitspolitischen verfassungsrechtlichen Schutzauftrag des Staates gesehen.<br />
Hierzu zählen die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Bürger<br />
sowie sich daraus ableitende Sicherheits- und Friedensinteressen, aber<br />
auch der Beitrag zur Verwirklichung von Menschenrechten und das Einschreiten<br />
gegen terroristische Handlungen, welche das friedliche Zusammenleben<br />
der Völker stören121 . <strong>Die</strong> Formulierungen in § 7 Abs. 1 Nr. 3<br />
AWG decken sich mit diesem Verfassungsauftrag.<br />
Der auf die Ermächtigungsgrundlagen des § 7 Abs. 1 AWG bezogene Vorwurf<br />
fehlender Bestimmtheit wird vom BVerfG nicht geteilt und mehrfach<br />
119 So wird in der Exportkontrollliteratur immer wieder die Einschätzungsprärogative<br />
der Bundesregierung bemüht, die auf die Rechtsprechung des BVerfG zurückgeht:<br />
Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, § 7 AWG Rn 12; BVerfGE vom<br />
25.10.1991 2 BVR 374/90, NJW 1992, S. 2624 (FN 115), unter Verweis auf BVerf-<br />
GE 40,141,178 und 68, 1, 97<br />
120 Dazu auch Hohmann (FN 89), S. 466; Epping (FN 28), S. 362 ff., bestätigt auch<br />
durch BVerfGE 4, 157, 174 ff. – Saarstatut, wonach entsprechend zum Schutz des<br />
Wesensgehalts der Grundrechte die politischen Spielräume trotz völkerrechtlicher<br />
Vereinbarungen begrenzt sind<br />
121 Vgl. Hohmann ( FN 89), S. 463 f.<br />
41
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
zurückgewiesen122 . Der Schutzgutcharakter auswärtiger Beziehungen ergebe<br />
sich in dieser Gesamtschau nur im Zusammenhang mit o.g. Erwägungen, die<br />
letztlich auf staatlichen Schutzpflichten beruhen. Zwar sieht das BVerfG im<br />
Begriff der auswärtigen Beziehungen durchaus Bestimmtheitsdefizite. Ein<br />
bloßes Abstellen auf die erhebliche Gefährdung auswärtiger Beziehungen<br />
würde auf eine praktisch nicht überschaubare Vielfalt von Beziehungen abstellen<br />
und die Anlässe von Kontrollmaßnahmen ins Uferlose wachsen lassen123<br />
. Deshalb müsse die Auslegung der zunächst zu unbestimmten Definition<br />
verfahrensmäßig abgesichert und kompensiert werden. <strong>Die</strong>s könne auch<br />
außerhalb des AWG oder durch eine enge Auslegung im Rahmen der Verordnungsermächtigung<br />
des § 2 Abs. 1 i.V.m. den Ermächtigungszwecken<br />
des § 7 Abs. 2 AWG geschehen124 . Es hat daher die Wahrung des Bestimmtheitsgebotes<br />
in § 7 Abs. 1 Nr. 3 AWG vor allem mit dem Hinweis bejaht,<br />
dass über die Bezugnahme auf Ausfuhren von Kriegs- und strategischen Gütern<br />
im Sinne des § 7 Abs. 2 AWG an der Tendenz des Ermächtigungszweckes<br />
keine Zweifel bestehen könnten. Der zu auswärtigen Beziehungen formulierte<br />
Verfassungsauftrag muss im Ergebnis auf die Gefährdung der dort<br />
genannten Schutzgüter bezogen werden, die sämtlich sicherheitsorientiert<br />
sind.<br />
<strong>Die</strong>ser Befund bestätigt sich aufgrund der Vertretungsmacht der Bundesregierung<br />
bei der Ausübung auswärtiger Gewalt nach Art. 59 GG. <strong>Die</strong> völkerrechtlichen<br />
Zusagen, auch als völkerrechtlich wirksam gewordene Außenpolitik<br />
im Sinne des Art. 32 GG bezeichnet, müssen durch die Exekutive umgesetzt<br />
werden. Sie haben aufgrund der administrativen Kooperation auf internationaler<br />
Ebene und durch objektive internationale Regelungsstrukturen,<br />
wie z.B. in Regimes internationaler Organisationen, einen grenzüberschreitenden<br />
regulierenden gemeinwohlorientierten Schutzcharakter125 . Hier wiederum<br />
spielen Beziehungspflege und Imagefragen im Sinne des Art. 32 GG<br />
eine Rolle.<br />
Im Kontext von Exportkontrollen geht es um die Einhaltung der sicherheitsrelevanten<br />
internationalen Verpflichtungen. <strong>Die</strong> auswärtigen Interessen müssen<br />
also im Gesamtkontext des § 7 AWG interpretiert werden, wonach der<br />
Bezug von internationalen Exportkontrollen auf Fragen der inneren und äu-<br />
122 Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 4 Rn 81 und Nachweise bei Sauer, in: Hohmann/John<br />
(FN 26), Teil 3 § 7 AWG, Rn 19 f.<br />
123 So in BVerfGE 110, 33, 67 - Zollfahndungsdienstgesetz<br />
124 Dazu bereits BVerfGE, NJW 1992, S. 2624 (FN115)<br />
125 Calliess, Auswärtige Gewalt, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd.<br />
IV, § 83 Rn 2 und 6<br />
42
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
ßeren Sicherheit betroffener Länder gerichtet ist. Wegen der Internationalisierung<br />
von Gefahren wurde bereits angesprochen, dass beide Dimensionen<br />
verschmelzen, es faktisch zu einem einheitlichen Sicherheitsbegriff kommt.<br />
Dabei sind auch die Menschenrechte erfasst. Sie werden zwar nicht explizit<br />
genannt, aber über die auswärtigen Belange aufgrund diverser internationaler<br />
Verpflichtungen, z.B. auf UN- und EU-Ebene, sind sie einbezogen126 . Bei<br />
den auswärtigen Beziehungen im Sinne der Exportkontrolle geht es um den<br />
Ruf der Bundesrepublik Deutschland als verlässlicher Vertragspartner und<br />
ihre Glaubwürdigkeit bei der Umsetzung ihrer politischen (verbindlichen)<br />
Zusagen in das nationale Kontrollsystem. An dieser Stelle sind insbesondere<br />
die Verpflichtungen Deutschlands in den Exportkontrollregimes oder aufgrund<br />
der Chemie- und Biowaffenübereinkommen zu nennen, soweit diese<br />
nicht bereits auf der Grundlage gemeinschaftsrechtlicher Regelungen umgesetzt<br />
werden127 . Insoweit kommt es zu einer gewissen Deckungsgleichheit<br />
mit den sicherheitspolitisch motivierten Beschränkungen gem. § 7 Abs. 1<br />
Nr. 1 AWG. Vergleichbare Erwägungen finden regelmäßig auch im Bereich<br />
der auswärtigen Beziehungen statt128 . Es bleibt festzuhalten, dass die auswärtigen<br />
Belange und Sicherheitsinteressen des § 7 AWG nicht isoliert voneinander<br />
betrachtet werden dürfen129 .<br />
Schließlich wird das mit dem administrativen Entscheidungsspielraum verbundene<br />
Kontrolldefizit mit der parlamentarischen Nachkontrolle gem. § 27<br />
Abs. 2 AWG ein stückweit relativiert, so dass dem Anliegen des Bestimmtheitsgrundsatzes<br />
i.V.m. dem Gesetzesvorbehalt entsprochen werden kann130 .<br />
In der Praxis wurde hiervon aber noch nie Gebrauch gemacht131 . <strong>Die</strong> mit den<br />
exportkontrollpolitischen Grundsätzen der Bundesregierung erfolgte Konkretisierung<br />
der Entscheidungskriterien trägt ebenfalls dazu bei, dass der<br />
Gesetzgeber für eine hinreichende Bestimmung der gesetzlichen Zielsetzung<br />
sorgt, die nicht nur für die Bewertung von Ausfuhren bei Rüstungsgütern,<br />
sondern zumindest nach ihrer Zielsetzung auch bei den Dual-use-Gütern herangezogen<br />
werden können. Dennoch ist eine möglichst weitgehende ge-<br />
126 Beutel, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 611, zu § 7 AWG Rn 15<br />
127 Vgl. Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 4 Rn 75<br />
128 Dazu Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner, Risikomanagement im Exportkontrollrecht,<br />
S. 77 ff. unter Verweis auf BVerfG-Beschluss vom 25.10.1991 2 BVR<br />
374/90 in NJW 1992, S. 2624 (FN 115), v. Bogdandy (FN 4), S. 77; Tettinger,<br />
Rechtsanwendung und gerichtliche Kontrolle im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 443<br />
129 BVerfGE v. 25.10.1991 (vgl. FN 115)<br />
130 So Epping, in Wolffgang/Simonsen (FN 7), 611, § 27 Rn 13-15; s.a. BVerfGE, NJW<br />
1995, S. 1537, 1538<br />
131 Vgl. v. Bogdandy (FN 4), S. 61<br />
43
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
setzliche Präzisierung der Beschränkungsgründe des § 7 AWG wünschenswert<br />
132 . Letztlich müssen die o.g. Grundsätze zur verfassungskonformen<br />
Auslegung der Rechtsbegriffe zur Bestimmung ihrer Reichweite im Rahmen<br />
der Rechtmäßigkeit von Genehmigungsentscheidungen berücksichtigt werden.<br />
ee) Quantifizierung des geschützten Adressatenkreises<br />
<strong>Die</strong> einzelnen Genehmigungstatbestände knüpfen an qualitativ zunächst unterschiedliche<br />
Güter an, deren Ausfuhr aufgrund der Kriterien in § 7 AWG<br />
bzw. Art. 8 Dual-use-VO beschränkt werden kann. <strong>Die</strong> dahinter stehenden<br />
schützenswerten Interessen bzw. Rechtsgüter sind allen Kontrollansätzen<br />
gemein. Sie orientieren sich am Sicherheitsbegriff. Dahinter stehen das Gemeinwohl<br />
und die Inhaber schützenswerter Interessen. Zu ihnen gehören alle<br />
Personen, deren körperliche Integrität dem staatlichen Schutz unterliegt.<br />
Der Kreis der betroffenen Personen ist zunächst nicht näher konkretisiert.<br />
Im Unterschied zu den Sicherheitsinteressen können die auswärtigen Interessen<br />
nicht auf bestimmte Individuen bezogen werden. Hier ist der Staat als<br />
Ganzes Adressat. <strong>Die</strong> Mittel der Exportkontrolle dienen der Erfüllung seiner<br />
Schutzpflichten. Rechtsgutverletzungen sollen bereits frühzeitig unterbunden<br />
werden. Auf die Frage der dabei zu beachtenden Abwägungsbelange<br />
wird bei der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Genehmigungstatbestandes<br />
und der Genehmigungsentscheidung zurückzukommen sein.<br />
c) Genehmigungsvoraussetzungen nach der Dual-use-VO<br />
Das Prinzip der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs (oder Außenwirtschaftsfreiheit)<br />
ist im nationalen sowie gemeinschaftsrechtlichen Kontext<br />
vergleichbar. In Art. 1 EG-VO 1969 wird sie ebenso postuliert wie in § 1<br />
AWG. Beschränkungen der Außenwirtschaftsfreiheit sind als Ausnahme<br />
formuliert und müssen durch eine Ermächtigungsnorm gedeckt sein. <strong>Die</strong>s<br />
strahlt auf das Genehmigungserfordernis sowie die Genehmigungsfähigkeit<br />
einer Ausfuhr aus. <strong>Die</strong> Entscheidung muss sachlich gerechtfertigt und begründet<br />
sein. Entscheidungen nach Art. 9 Abs. 1 Dual-use-VO müssen die<br />
Kriterien im Katalog von Art. 8 Dual-use-VO berücksichtigen. Dazu gehören<br />
neben den generalklauselartig formulierten sachdienlichen Erwägungen:<br />
Kriterium Nr. 1: Verpflichtungen der internationalen Nichtverbreitungsregime<br />
oder aus einschlägigen internationalen Verträgen: Internationale Verpflichtungen<br />
der EU-Mitgliedstaaten (z.B. Exportkontrollregime)<br />
132 So auch eine Forderung von Hohmann (FN 89), S. 349<br />
44
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Kriterium Nr. 2: Verpflichtungen im Rahmen von Sanktionen, d.h. Embargobestimmungen<br />
(VN und OSZE-Sanktionen sowie Maßnahmen der EU in<br />
Form von Rats-Beschlüssen, Gemeinsame Aktionen, Gemeinsame Standpunkte<br />
sowie Verordnungen)<br />
Kriterium Nr. 3: Überlegungen der nationalen Außen- und Sicherheitspolitik<br />
einschließlich der Aspekte des VK-EU<br />
Kriterium Nr. 4: Überlegungen über die beabsichtigte Endverwendung und<br />
die Gefahr einer Umlenkung (von Waffen und waffenfähigen Gütern), also<br />
die Gefahr von Umgehungslieferungen.<br />
<strong>Die</strong> relativ offenen Formulierungen des Kriterienkataloges, insbesondere der<br />
generelle Verweis des Art. 8 auf alle sachdienlichen Erwägungen, müssen<br />
vor dem Hintergrund des noch nicht abgeschlossenen Harmonisierungsprozesses<br />
gesehen werden. Über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
nach dem EU-Vertrag gibt es hierzu zwar politische Ansätze, eine Regelungskompetenz<br />
der EU besteht aber gerade nicht. <strong>Die</strong> Mitgliedstaaten bewerten<br />
nach ihren eigenen Entscheidungsmaßstäben. Sie beziehen sämtliche<br />
internationale und völkerrechtliche Verpflichtungen ein. Soweit einzelne<br />
Mitgliedstaaten nicht unmittelbar verpflichtet sind, fühlen sie sich über die<br />
EU-Mitgliedschaft und ihre Verpflichtungen aus der Dual-use-VO und den<br />
GASP-Entschließungen daran gebunden. Ein einheitliches Schutzniveau ist<br />
damit gewährleistet. Bei der Auslegung einzelner Kriterien und der gefahren-<br />
bzw. sicherheitsrelevanten Bewertung konkreter Sachverhalte sind aber<br />
Abweichungen möglich. <strong>Die</strong> sachdienlichen Erwägungen erlauben einen<br />
dynamischen Schutz, der den aktuellen Entwicklungen und Beschlüssen,<br />
z.B. in den Exportkontrollregimes, Rechnung trägt133 . <strong>Die</strong> Auslegung dieses<br />
unbestimmten Rechtsbegriffes erfolgt nach dem Leitbild der beispielhaft<br />
benannten Kriterien, hinzu tritt die Zuverlässigkeit des Antragstellers. <strong>Die</strong><br />
Rechtfertigungsgründe sind auf den durch die Kriterien vermittelten Normzweck<br />
begrenzt. Für die sachgerechte Bewertung bedarf es der hinreichenden<br />
Sachverhaltsfeststellung, die durch Hinzuziehung größtmöglicher Expertise<br />
zu erfolgen hat, z.B. auch von nachrichtendienstlichen Informationen134<br />
.<br />
<strong>Die</strong> offene Formulierung des Kriterienkataloges führt dazu, dass weder Eingriffsschwelle<br />
noch geschützte Rechtsgüter hinreichend konkretisiert werden135<br />
. Auch hier ist zu prüfen, inwieweit eine Konkretisierung im Wege der<br />
133 Vgl. Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 122, zu Art. 8 Rn 2<br />
134 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 4 und 17<br />
135 So Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 122, zu Art. 8 Rn 12<br />
45
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
„verfassungskonformen“ Auslegung möglich ist. Auf EU-Ebene sind die im<br />
Gemeinschaftsverwaltungsrecht geltenden Rechtsprinzipien zu berücksichtigen.<br />
d) Genehmigungskriterien im Vergleich<br />
aa) Außen- und Sicherheitspolitik<br />
<strong>Die</strong> Überlegungen zur nationalen Außen- und Sicherheitspolitik (Kriterium<br />
3) in Art. 8 Dual-use-VO entsprechen den Belangen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 und<br />
3. Bei beiden Vorschriften geht es um Beeinträchtigungen bzw. die Gefährdung<br />
der öffentlichen Sicherheit oder die Störung auswärtiger Beziehungen.<br />
Auch nach der Dual-use-VO kommt es allein auf die Sicht der Mitgliedstaaten<br />
selbst an. Bereits ihrer Natur nach können diese Kriterien nicht einheitlich<br />
auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts ausgelegt werden136 . Beide Bereiche<br />
betreffen die gemeinschaftlich koordinierten Politiken der Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gem. Art. 296 EG, unterfallen<br />
also systembedingt den nationalen Kompetenzen137 . <strong>Die</strong> Auslegungsgrundsätze<br />
zu § 7 Abs. 1 AWG können deshalb auch bei der Dual-use-VO herangezogen<br />
werden.<br />
<strong>Die</strong> Rechtsordnung der Gemeinschaft ist Teil der öffentlichen Sicherheit.<br />
Beim Begriff der öffentlichen Ordnung muss aber berücksichtigt werden,<br />
dass dem Begriff auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein anderes Verständnis<br />
anhaftet138 . Der EuGH beschreibt sie als hoheitlich festgelegte Grundregeln,<br />
die wesentliche Interessen des Staates berühren139 . Somit müssen auch<br />
die Grundfreiheiten der Gemeinschaft einbezogen werden. <strong>Die</strong> Auslegung<br />
des Sicherheitsbegriffes muss im allgemeinen Gefahrenabwehrkontext erfolgen.<br />
<strong>Die</strong> bereits zuvor für die nationale Rechtsanwendung erörterte Notwendigkeit<br />
einer zusammenhängenden Betrachtung von Sicherheit und<br />
Auswärtiges wird vom EuGH bestätigt. Er hatte sich in seinen Entscheidungen<br />
zu Fritz Werner und Leiffer u.a. mit dem Begriff der öffentlichen Sicherheit<br />
beschäftigt. <strong>Die</strong>ser erfasse die innere wie auch äußere Sicherheit<br />
der Mitgliedsaaten im Sinne des Art. 36 EGV (30 EG). Bei Beschränkung<br />
auf Fragen der inneren Sicherheit im Binnenmarkt gelte ein restriktiverer<br />
136 Ebenda, Rn 26<br />
137 Dazu auch Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), zu Art. 8 DUV, S. 3: dem<br />
Kriterium des Art. 8c sei deshalb auch die rechtliche Relevanz abzusprechen, die Erwähnung<br />
der nationalen Kompetenzen sei „Besserwisserei“<br />
138 Vgl. Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 82 Rn 57, unter Verweis auf Lindner,<br />
JuS 2005, 302, 306<br />
139 EuGH Rs. 113/80 - Kommission/Irland, Slg. 1981, 1625, Rn 7 f.<br />
46
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
Maßstab als bei Lieferungen in Drittländer. Zudem sei eine Abgrenzung von<br />
sicherheits- und außenpolitischen Erwägungen schwierig. <strong>Die</strong> Sicherheit der<br />
internationalen Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten seien eng verknüpft140<br />
. Eine Beschränkung der aus Art. 1 EG-VO 1969 abgeleiteten Außenwirtschaftsfreiheit<br />
auf der Grundlage der Ausnahme des Art. 11 sei möglich.<br />
<strong>Die</strong>ser erlaubt mengenmäßige Ausfuhrbeschränkungen durch die Mitgliedstaaten<br />
aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit. Genehmigungserfordernisse<br />
würden die Warenverkehrsfreiheit Art. 28 EG (30<br />
EGV) in Form einer mengenmäßigen Beschränkung beeinträchtigen, was in<br />
Zusammenhang mit der auf Art. 133 EG (Art. 113 EGV) gestützten EG-VO<br />
1969 und Art. XI des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens auch auf<br />
den internationalen Handel gegenüber Drittländern bezogen sei. <strong>Die</strong> Beschränkungen<br />
müssten allerdings dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
genügen, wobei den Mitgliedstaaten bei der Frage der Erforderlichkeit bestimmter<br />
Maßnahmen ein gewisser Ermessenspielraum zustünde. In diesem<br />
Zusammenhang komme es auch zu einer Beweislast des Antragstellers bezüglich<br />
der zivilen Endverwendung seiner Lieferung oder der unangemessenen<br />
Genehmigungsversagung, wenn eine Bedrohung der öffentlichen Sicherheit<br />
festgestellt wird141 .<br />
Der in Kriterium 3 erwähnte Verhaltenskodex der EU zu Rüstungsexporten<br />
entspricht dem Ansatz der exportkontrollpolitischen Grundsätze der Bundesregierung,<br />
die den EU-Kodex formal auf nationaler Ebene integrieren. Beide<br />
dienen der Konkretisierung der genannten Sicherheitsinteressen.<br />
bb) Sonstige Überlegungen<br />
<strong>Die</strong> internationalen Verpflichtungen (Kriterien 1 und 2) sind über die „Auswärtigen<br />
Beziehungen“ gem. § 7 AWG Abs. 1 Nr. 3 mit erfasst. Beide haben<br />
,wie schon erörtert, einen Bezug zur öffentlichen Sicherheit. Zum Teil sind<br />
die Verpflichtungen als höherrangiges Recht ohnehin verbindlich bzw. aus<br />
verfassungsrechtlichen Gründen zu beachten.<br />
<strong>Die</strong> Überlegungen zur Endverwendung in Kriterium 4 beinhalten wichtige<br />
Teilaspekte der Behördenprüfung. Sie werden aber über den Begriff der Gefährdung<br />
von Sicherheitsinteressen von § 7 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. 3 AWG mit<br />
umfasst. <strong>Die</strong> Kriterien der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände in § 3 Abs. 1<br />
AWG und § 7 AWG stimmen letztlich - wenn auch in etwas anderer Formu-<br />
140 EuGH v. 17. Oktober 1995, Rs C 70/94 - Fritz Werner, Rn 25 f. (FN 27), unter Verweis<br />
auf EuGHE, Rs C 367/89, Slg. 1991, I.-4621-Les Accessoires Scientifiques<br />
141 EuGH v. 17. Oktober 1995, Rs C-83/94 – Leifer, Rn 20ff, 34ff. (FN 27)<br />
47
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
lierung und Reihenfolge - inhaltlich mit Art. 8 Dual-use-VO überein142 . <strong>Die</strong><br />
jeweiligen Kontrollansätze sind auch rational vergleichbar.<br />
<strong>Die</strong> Unwesentlichkeitsschwelle in § 3 AWG dient einer Konkretisierung des<br />
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der in § 2 Abs. 3 AWG explizit, wegen<br />
der Ableitung aus den Gemeinschaftsprinzipien, auch im Rahmen der<br />
Überlegungen des Art. 8 EG-VO Berücksichtigung findet.<br />
<strong>Die</strong> in der EG-VO 1969 sowie im AWG deklarierte Außenwirtschaftsfreiheit<br />
muss neben dem Katalog Art. 8 Dual-use-VO oder § 7 AWG als Abwägungskriterium<br />
berücksichtigt werden143 . Zwar beinhaltet diese kein einklagbares<br />
Recht, sie ist aber ein Ermessenskriterium. Es ist im Rahmen der<br />
sachdienlichen Erwägungen unter Anwendung der Grundsätze der Gleichbehandlung<br />
und Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen144 . Auf die konkrete<br />
Abwägung wird im Rahmen der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
noch eingegangen.<br />
Schließlich bleibt festzustellen, dass trotz der materiell vergleichbaren Genehmigungskriterien<br />
gemeinschaftsrechtliche Prinzipien und Beschränkungen<br />
der nationalen Verwaltungsautonomie berücksichtigt werden müssen,<br />
wenn sie für die einheitliche Rechtsanwendung von Bedeutung sind. <strong>Die</strong> Existenz<br />
solcher Prinzipien und ihr Verhältnis zum nationalen Verwaltungsrecht<br />
bedürfen ebenso der Klärung wie eventuelle Abweichungen durch gemeinschaftsrechtliche<br />
Vorgaben bei der Auslegung von Rechtsbegriffen und<br />
Entscheidungsspielräumen der Verwaltung sowie deren richterlichen Kontrolle.<br />
e) Eingriffschwelle - Reichweite des Gefährdungsbegriffs<br />
<strong>Die</strong> Eingriffsschwellen nach Art. 8 Dual-use-VO bzw. §§ 3, 7 AWG bedürfen<br />
einer näheren Untersuchung. Bei den dort verwendeten Begriffen wie<br />
„sachdienliche Erwägungen“ und „Gefährdung“ handelt sich um unbestimmte<br />
Rechtsbegriffe. Ihre Reichweite bestimmt sich nicht nur nach dem<br />
Wortlaut, sondern auch nach dem Normzweck. Hierbei muss eine gemeinschafts-<br />
bzw. verfassungskonforme Auslegung erfolgen.<br />
142 Haddex (FN 4), Bd 1, Teil 6 Rn 397<br />
143 So Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 45: zur Berührung der Warenverkehrsfreiheit<br />
trotz der Begründung von Beschränkungen mit nationalen sicherheitspolitischen Interessen<br />
aus: EuGHE v. 14. Januar 1997, RS C 124-95 - Centro-Com Srl., Slg. I 1997<br />
S. 1081 – Rn 26<br />
144 Vgl. Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 45<br />
48
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
§ 3 AWG stellt im Wortlaut auf eine Gefährdung ab, was die Anwendung<br />
des Gefahrenbegriffs nahe legt. <strong>Die</strong> Formulierung in Art. 8 der Dual-use-VO<br />
(„Überlegungen“) bezieht sich nicht explizit auf eine Gefahr, beinhaltet aber<br />
dem Zweck nach zumindest eine prognostizierbare Beeinträchtigung der benannten<br />
Kriterien. Ein eindeutiger Hinweis auf die Qualität der vom Gesetzgeber<br />
geforderten Beeinträchtigung besteht in beiden Rechtskreisen nicht.<br />
Gleichwohl scheint sich der Gefährdungstatbestand des AWG nach den<br />
etablierten verwaltungsrechtlichen Grundsätzen zur Gefahrenabwehr richten.<br />
Darauf wird noch zurückzukommen sein.<br />
Dem Normzweck der Exportkontrollen kommt eine für die Eingriffsschwelle<br />
maßgebliche Bedeutung zu. Exportkontrollen richten sich u.a. gegen Gewalt<br />
gegenüber dem Rechtsstaat und seinen Verbündeten, was mit der Terrorismusproblematik<br />
besondere Aktualität erfährt. Es geht letztlich immer um<br />
den Schutz der zivilen Bevölkerung vor existenzbedrohender Gewalt. Auch<br />
die im Sinne des Völkerfriedens, der auswärtigen Beziehungen und Menschenrechte<br />
tatbestandsmäßig geschützten Interessen haben zumindest mittelbare<br />
Rückwirkungen auf die äußere und innere Sicherheit der Bundesrepublik145<br />
. <strong>Die</strong>se Schutzzwecke sind Bezugspunkt und Maßstab für die Genehmigungsfrage.<br />
Wie soeben festgestellt, ergeben sich hierbei keine materiellen<br />
Unterschiede zwischen Dual-use-VO und AWG.<br />
Mit der Anknüpfung der Exportkontrolle an Fragen der äußeren und inneren<br />
Sicherheit ergeben sich Parallelen zum Polizeirecht. Aus diesem Grund<br />
wurden Exportkontrollen bisher dogmatisch in die Nähe des Polizeirechts<br />
gerückt. Bei den <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbeständen wird<br />
der klassische Gefahrenbegriff herangezogen. In der Exportkontrollliteratur<br />
sowie in der Rechtsprechung wird für die Auslegung der „Gefahr“ oder „Gefährdung“<br />
von der Anwendbarkeit des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs<br />
ausgegangen146 . Über das Vorliegen der Gefahr entscheidet die Wahrscheinlichkeit<br />
eines Schadeneintritts bei einem ungehinderten Fortgang des Geschehens.<br />
Der Grad der Wahrscheinlichkeit soll dabei von der Wertigkeit des<br />
zu schützenden Rechtsgutes abhängen147 . Danach sei eine konkrete Gefahr<br />
erforderlich, d.h. es müsse eine Schadenprognose anhand konkreter Sach-<br />
145 Zu den Definitionen vgl. Teil 1 II.5.b)bb) und Teil 1 II.5.d)aa)<br />
146 Zurückgehend auf v. Bogdandy (FN 4), S. 53, vgl. Ehrlich (FN 62), S. 99, so auch<br />
Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2, § 3 AWG Rn 13; dazu auch Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich<br />
(FN 21), § 3 AWG, S. 4 (Anm.2); Haddex (FN 4),<br />
Teil 6 Rn 395 f.; hingegen kritisch Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3, § 3<br />
AWG Rn 10<br />
147 Vgl. Ehrlich (FN 62), S. 99, sowie Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 2 § 3<br />
AWG Rn 13 unter Verweis auf Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 220<br />
49
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
verhaltsfeststellungen erfolgen, wobei die Anforderungen an die Prognose<br />
bei Exportkontrollen wegen der hochwertigen Rechtsgüter des § 7 AWG<br />
nicht zu hoch sein dürfen148 . Auch nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte<br />
genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die<br />
Zulassung des Exports zu einer Beeinträchtigung des in § 7 Abs. 1 Nr. 3 genannten<br />
Rechtsgutes führen werde149 . <strong>Die</strong>se Rechtsprechung stellt aber angesichts<br />
der Qualität der mit dem AWG verfolgten Schutzgüter ebenfalls<br />
keine allzu hohen Anforderungen an diese Wertung. Auf strenge Kausalitätsund<br />
Zurechungsmaßstäbe wird verzichtet. <strong>Die</strong> Darlegung einer (theoretischen)<br />
Schadensmöglichkeit könne dagegen nicht ausreichen und die Versagung<br />
der Genehmigung rechtfertigen150 . Bei der Abwägung werden das kollektive<br />
Sicherheitsinteresse und die dahinter stehenden Individualrechtsgüter<br />
sowie die Außenwirtschaftsfreiheit des Antragstellers gegenübergestellt.<br />
Der für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> regelmäßig verwendete Gefahrenbegriff<br />
muss von dem in der Exportkontrollliteratur inzwischen ebenfalls verwendeten<br />
Risikobegriff abgegrenzt werden. Häufig wird auch der missverständliche<br />
Begriff der Gefahrenvorsorge verwendet, z.B. wird bei Belangen des § 7<br />
AWG die gesetzliche Formulierung des Verhütens einer Störung genutzt.<br />
Damit wird die Geltung des klassischen Gefahrenbegriffs relativiert151 . Allerdings<br />
bestehe bei den Ansätzen des Risikomanagements die Gefahr, dass<br />
die Vorsorge unterhalb der Gefahrenschwelle eine beliebige Ausdehnung erfährt,<br />
z.B. zum Besorgnis-Verdacht, Risiko-Verdacht, Gefahr eines Gefahren-Verdachts.<br />
Es dürfe nicht allein auf die Unterbrechung einer potenziell<br />
schädlichen Ereigniskette ankommen. Deshalb muss eine Typisierung des<br />
auch bei Exportkontrollen bestehenden Problems „Ungewissheit“ erfolgen.<br />
Es wird also durchaus anerkannt, dass die Einschätzungsprärogative der<br />
Verwaltung dieses inhaltliche Problem nicht löst und die Auslegung des Gefahrenbegriffs<br />
bei Exportkontrollen rechtsdogmatisch fortentwickelt werden<br />
muss152 . <strong>Die</strong> Reichweite des Eingriffs von Exportkontrollen muss im Kontext<br />
der Gefahrenprävention näher bestimmt werden, trotz der zunächst sehr<br />
unterschiedlich formulierten Tatbestände in Dual-use-VO und AWG. Nur auf<br />
dieser Grundlage kann die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs bestimmt werden.<br />
Dabei wiederum spielen Eignung und Erforderlichkeit des Mittels zur<br />
Erreichung des Normzwecks eine gewichtige Rolle. <strong>Die</strong> Anforderungen an<br />
148 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 13 unter Verweis auf v. Bogdandy (FN 4), S. 53<br />
149 Vgl. VG Frankfurt, Urteil v. 25.01.1996, 1 E 1218/93 (B), n. veröff.; s.a.Simonsen, in:<br />
Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 77 ff. mit Rechtsprechungshinweisen<br />
150 So Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 AWG Rn 11<br />
151 Ebenda, § 3 AWG Rn 10 und § 7 AWG Rn 17<br />
152 Dazu Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 77, 97 ff.<br />
50
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
die Kausalität zwischen Ausfuhr einer bestimmten Ware und dem möglichen<br />
Schaden für geschützte Rechtsgüter müssen für den behördlichen Eingriff<br />
spezifiziert werden. Der Aspekt der Wahrscheinlichkeitsprognose und das<br />
Vorliegen möglicher Erkenntnisdefizite bedürfen einer näheren Betrachtung,<br />
die auch die im technischen Sicherheitsrecht entwickelten Grundsätze berücksichtigt.<br />
<strong>Die</strong>s soll Gegenstand von Kapitel 3 der Arbeit sein. In Kapitel<br />
4 wird schließlich auf die verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Genehmigungsvorbehalte<br />
und die dabei einzustellenden Belange eingegangen. Im<br />
Rahmen der Abwägung von Schutz- und Gefahrengut muss schließlich näher<br />
untersucht werden, welche Anforderungen an die Darlegung einer Gefahr<br />
bzw. Gefährdung für die betroffenen Belange zu stellen sind. Dazu<br />
muss insbesondere die Frage nach der Gewichtung des kollektiv wirkenden<br />
staatlichen Interesses gegenüber dem mit der Außenwirtschaftsfreiheit verbürgten<br />
Individualinteresses beantwortet werden.<br />
f) Entscheidungsleitende Vorgaben<br />
Entscheidungsleitende Vorgaben dienen der Konkretisierung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe oder der Ausfüllung von Wertungsspielräumen der Verwaltung<br />
und damit vor allem der dem Gleichbehandlungsgrundsatz geschuldeten<br />
einheitlichen Rechtsanwendung. <strong>Die</strong>se neben den gesetzlichen Genehmigungsvoraussetzungen<br />
zweite Kategorie von Vorgaben ist in sich relativ<br />
heterogen und umfasst Kriterien der unterschiedlichsten Art und von unterschiedlicher<br />
politischer und rechtlicher Verbindlichkeit, wobei ebenfalls Dual-use-<br />
und Rüstungsgüter zu unterscheiden sind. Zunächst soll dabei auf<br />
veröffentlichte Leitlinien der Bundesregierung und der EU-Ratsgruppe eingegangen<br />
werden, danach auf behördeninterne Verfahrensanweisungen.<br />
aa) Grundsätzliche Erwägungen bei Rüstungsexporten<br />
Bei der Genehmigungsentscheidung zur Lieferung von Rüstungsgütern stehen<br />
die Einhaltung von nationalen und internationalen Sicherheitsinteressen<br />
sowie außenpolitische Belange im Vordergrund. Anders als bei den Dualuse-Gütern<br />
wirft die Sachverhaltsermittlung weniger Probleme auf. <strong>Die</strong> militärische<br />
Endverwendung ist regelmäßig bekannt, oft ergibt sie sich schon<br />
aus der Güterqualität. <strong>Die</strong> Genehmigungsfähigkeit hängt deshalb vor allem<br />
von der politischen Bewertung eines Vorgangs ab. <strong>Die</strong> „Politischen Grundsätze<br />
der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen<br />
Rüstungsgütern“ sowie europäische Vorgaben im EU-Verhaltenskodex153 enthalten Leitlinien für die Entscheidung im Einzelfall. Sie vermitteln kon-<br />
153 Vgl. Teil 1 II.4.a) (FN 60)<br />
51
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
kretere Vorstellungen davon, wie sich Bundesregierung und Parlament die<br />
Auslegung der gesetzlichen Genehmigungskriterien vorstellen. Sie wurden<br />
unter Beteiligung der Regierungskoalition erarbeitet und können deshalb als<br />
normkonkretisierende Richtlinien eingestuft werden154 . Sie sind zwar nicht<br />
unmittelbar rechtsverbindlich, dennoch entfalten sie politische Bindungswirkung.<br />
Das Vertrauen in die Kontrolleffizienz der Bundesregierung soll<br />
sichergestellt werden, die Auswärtigen Beziehungen würden bei Befolgung<br />
der politischen Grundsätze nicht beeinträchtigt. Im Verhältnis von Exekutive<br />
und Legislative stellen sie eine Übereinkunft der jeweils aktuellen Regierungskoalition<br />
dar. <strong>Die</strong> Rüstungsexportkontrollpolitik der Bundesregierung<br />
wird daran ausgerichtet, um Konflikte zwischen Regierung und Regierungsfraktionen<br />
zu vermeiden155 . Wegen des Gleichbehandlungsgrundsatzes sowie<br />
der Selbstbindung der Verwaltung haben sie die Qualität normkonkretisierender<br />
Vorschriften. Auf diese Weise entwickeln sie eine zumindest mittelbar<br />
rechtliche Wirkung. Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass<br />
auch diese Grundsätze Unklarheiten und Zielkonflikte enthalten, die weite<br />
Beurteilungsspielräume belassen und einer Konkretisierung durch die Verwaltung<br />
bedürfen156 .<br />
Wesentlicher Grundgedanke der Kriterien sind die länderspezifischen Vorgaben.<br />
Sie unterscheiden zwischen kooperativen Ländern, Verteidigungsbündnis<br />
und Drittstaaten, wo eine grundsätzlich restriktive Politik gelten<br />
soll. Für die Entscheidungen sollen auch Menschenrechtskriterien, das Vertrauen<br />
in die Exportkontrollpolitiken der belieferten Länder, ihr Vorgehen<br />
gegen internationale Kriminalität und Terrorismus sowie Fragen der Endverbleibssicherung<br />
eine Rolle spielen. Neben diesen Erwägungen wird die<br />
Völkerrechtstreue des Kauflandes, die Wirkung der betroffenen Lieferung<br />
auf die Stabilität der Region, die Gefahr einer Überrüstung des Empfängerlandes<br />
und der Schutz der nationalen Sicherheit geprüft. Selbstverständlich<br />
muss auch die Einhaltung der Leitlinien geprüft werden, die sich aus den<br />
Nonproliferationsverträgen, internationalen Embargos und sonstigen völ-<br />
154 Siehe dazu ausführlich Weith/Wegner/Ehrlich, (FN 9), G. Rn 17; zur Qualität interner<br />
Verwaltungsanweisungen auch Karpenstein (FN 41), S. 208; a.A. Pottmeyer;<br />
KWKG, Einl. Rn 228 , der dies aber nur für die 1982 ohne Parlamentsbeteiligung<br />
aufgestellten Richtlinien konstatiert; zum ermessensbegrenzenden Charakter: Epping<br />
(FN 28), S. 82<br />
155 Vgl. den geltenden Koalitionsvertrag vom 11.11.2005, Rn 6419:„Wir halten an den<br />
derzeit geltenden Rüstungsexportbestimmungen fest und setzen uns für eine Harmonisierung<br />
der Rüstungsexportrichtlinien innerhalb der EU ein.“; dazu auch sehr ausführlich<br />
Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 13 ff.<br />
156 Ebenda, G. Rn 21 f<br />
52
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
kerrechtlichen Verpflichtungen, wie z.B. den Exportkontrollregimes, ergeben157<br />
. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass der unbestimmte Rechtsbegriff sicherheitspolitischer<br />
Erwägungen durch die politischen Grundsätze ergänzt<br />
wird. Gleichwohl verbleibt der Behörde ein großer Beurteilungsspielraum.<br />
Der EU-Verhaltenskodex ist eine Vereinbarung der EU-Staaten im Rahmen<br />
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) von 1998. Er wurde<br />
in der Ratsarbeitsgruppe COARM ausgearbeitet und seither weiterentwickelt.<br />
Es bleibt bisher bei dem ausschließlich normkonkretisierenden Charakter<br />
für die jeweils geltenden nationalen Kontrollvorschriften für Rüstungsgüter,<br />
auch wenn über eine rechtlich verbindliche Regelung seit längerem<br />
nachgedacht wird. Zu beachten ist der in den operativen Bestimmungen<br />
vorgesehene Mechanismus einer so genannten no-undercut-policy, was eine<br />
Konsultation der Mitgliedstaaten für vergleichbare Genehmigungssachverhalte<br />
und damit eine gewisse Abstimmung der Genehmigungspolitiken ermöglicht.<br />
Eine Bindungswirkung der ausländischen Bewertung besteht zwar<br />
nicht, aber über die außenpolitische Rücksichtnahme entsteht durchaus ein<br />
außenpolitisch geprägter Reflex für die Genehmigungsfähigkeit eines Antrages,<br />
soweit die sicherheitspolitischen Bedenken geteilt werden158 .<br />
Der Verhaltenskodex ist Bestandteil der Politischen Grundsätze der Bundesregierung<br />
und wird gemeinsam mit diesen der Genehmigungspraxis für<br />
Rüstungsgüter zu Grunde gelegt. In diesen Grundsatzpapieren sind auch andere<br />
Leitlinien aus Gremien der EU, VN, dem schon erwähnten Exportkontrollregimes,<br />
vor allem dem Wassenaar Arrangement, oder der Beschlüsse<br />
der OSZE implementiert. Trotz bestehender gemeinsamer Leitlinien und internationaler<br />
Harmonisierung bestehen aber unter den Partnerstaaten durchaus<br />
Unterschiede in der Beurteilung genehmigungsfähiger Rüstungsexporte.<br />
Grund dafür sind im Detail durchaus verschiedene Politiken und Zielsetzungen,<br />
unterschiedliche historische Beziehungen zu Drittländern oder schlicht<br />
unterschiedliche politische Auffassungen zum Rüstungsexport selbst159 . Mit<br />
Bezug auf die völkerrechtlich verbindlichen Leitlinien bleibt festzuhalten,<br />
dass sie über den Umweg der außenpolitischen Dimension eines möglichen<br />
Verstoßes die Genehmigungsfähigkeit eines Antrages in Frage stellen können.<br />
157 Karpenstein (FN 41), S. 254<br />
158 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 36<br />
159 Hahn, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S.14<br />
53
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
bb) Genehmigungsleitlinien bei Dual-use-Gütern<br />
Falls bei der Beurteilung einer Ausfuhr Zweifel über die Auslegung des zutreffenden<br />
Genehmigungskriteriums bestehen, können die Exportkontrollpolitischen<br />
Grundsätze der Bundesregierung und VK-EU zu Rate gezogen<br />
werden. Zwar gelten diese unmittelbar nur für Rüstungsgüter. Sie haben<br />
aber eine gewisse Reflexwirkung für den Dual-use-Bereich, da deren Sensitivität<br />
bei militärischer Endverwendung vergleichbar ist. Genehmigungsentscheidungen<br />
müssen in beiden Bereichen konsistent sein. Da Dual-use-<br />
Güter für die Frage der militärischen Potenziale eines Empfängerlandes auf<br />
mittlere Sicht ebenso relevant sein können wie Direktlieferungen von Rüstungsgütern,<br />
spielen die dort genannten strategischen Kriterien eine ebenso<br />
bedeutende Rolle für die Lieferung von Dual-use-Gütern. Dazu gehören z.B.<br />
die Rüstungskooperation, die Billigung der Aufrüstung im Verteidigungsbündnis,<br />
die Einbindung des Empfängerlandes in internationale Absprachen<br />
zur Proliferationsbekämpfung, das Rüstungspotenzial sowie die Konfliktrelevanz<br />
möglicher Lieferungen. Deshalb wird auch von einem Verfließen der<br />
Grenzen zwischen militärischer und ziviler Produktion gesprochen160 . Im<br />
Falle der subjektiv geplanten zivilen Endverwendung und der Absicherung<br />
dieser Verwendung ist die Ausfuhr von Dual-use-Gütern genehmigungsfähig.<br />
Eine direkte Anwendbarkeit des VK-EU wird nach Nr. 6 seiner operativen<br />
Bestimmungen nur auf den begrenzten Anwendungsbereich von Lieferungen<br />
an das Militär, die Polizei oder ähnliche staatliche Einrichtungen<br />
postuliert.<br />
<strong>Die</strong> Dual-use-VO selbst enthält keine politischen Vorgaben für die Entscheidung<br />
aufgrund der dort vorgesehenen Notifizierungs- und Konsultationspflichten.<br />
<strong>Die</strong>se gelten für einzelne Antragsverfahren, bewirken aber faktisch<br />
einen gewissen Harmonisierungsdruck. Eine mittelbare Rechtsbindung<br />
erfolgt auch wegen der Präzedenzwirkung vorangegangener Entscheidungen.<br />
Auch Ablehnungsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten nach Art. 9<br />
Abs. 3 Dual-use-VO entfalten keine rechtliche Bindungswirkung. Allerdings<br />
entsteht wegen der regelmäßig betroffenen auswärtigen Beziehungen bei<br />
begründeten Ablehnungen ebenfalls eine faktische Bindungswirkung der noundercut-policy.<br />
<strong>Die</strong> Ausgestaltung gegenseitiger Informations- und Konsultationspflichten<br />
in den Exportkontrollregimes ist unterschiedlich.<br />
Insgesamt sind bei Genehmigungsentscheidungen im Dual-use-Bereich,<br />
ähnlich wie bei den Rüstungsgütern, die Leitlinien der internationalen Gremien<br />
und Organisationen zu beachten. Gleiches gilt für die Berücksichti-<br />
160 Mit Verweisen auf die Umsetzung europäischer Vereinbarungen in diversen Ländern:<br />
Karpenstein (FN 41), S. 116<br />
54
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
gung von Regelungen bestehender Embargos oder sonstiger Sanktionen gegenüber<br />
bestimmten Ländern, Personen oder Gruppen. Auf die im Bereich<br />
gelisteter Dual-use-Güter maßgeblichen Genehmigungsrichtlinien der Exportkontrollregimes<br />
wurde bereits eingegangen 161 .<br />
cc) Genehmigungspolitik und Selbstbindung der Verwaltung<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungspolitik bei Dual-use-Gütern unterscheidet sich nach dem<br />
Gefährdungsgrad der Endverwendung. Es leuchtet, unabhängig von einer<br />
nähren Analyse des Gefahrenkriteriums, ein, dass der Bezug zu weltweit geächteten<br />
MVW nicht zu den gleichen Ergebnissen führen muss wie die Verwendung<br />
für konventionelle Rüstungsgüter. <strong>Die</strong>s ergibt sich bereits aufgrund<br />
der Tatsache, dass MVW nach dem KWKG einem Exportverbot unterworfen<br />
sind. Das erfordert besonders strenge Maßstäbe. Des Weiteren gilt<br />
auch bei Dual-use-Gütern das Willkürverbot. Hierbei handelt es sich um ein<br />
Rechtsprinzip. <strong>Die</strong> Auslegung der Leitlinien führt im Einzelfall zur Selbstbindung<br />
der Verwaltung. <strong>Die</strong> Behörde muss vergleichbare Entscheidungen<br />
aus früheren Antragsverfahren, s genannte Präzedenzen, berücksichtigen.<br />
<strong>Die</strong> Vergleichbarkeit von Sachverhalten ist aufgrund meist komplexer technischer<br />
und empfängerbezogener Fragen oft schwierig darstellbar. Dennoch<br />
erfolgt eine gewisse Klassifizierung von Fallgruppen, die z.B. nach Empfängerländern,<br />
Empfängerinstitutionen oder Gütergruppen differenzieren162 .<br />
<strong>Die</strong> soeben erörterten Leit- und Richtlinien der Bundesregierung sind nicht<br />
zu verwechseln mit Behördenerlassen der zuständigen Behörden. Ihre Geltung<br />
wird oft wegen mangelnder Transparenz für den Rechtsanwender gerügt,<br />
was vor allem Folge der Geheimhaltungspraxis nachrichtendienstlicher<br />
Erkenntnisse und der fehlenden Homogenität informeller Anweisungen aus<br />
den einzelnen zuständigen Ministerien ist. Sie werden daher als kaum nachvollziehbar<br />
kritisiert163 . Behördenerlasse stellten keine hinreichend konkret<br />
formulierten Kontrollziele zu Verfügung, um einen Rechtseingriff zu rechtfertigen.<br />
Dazu sei angemerkt, dass Exportkontrollen nicht ganz zu Unrecht<br />
als regelungsfeindlicher Politikbereich gelten. Ein neben den genannten<br />
Grundsätzen weitgehendes Fehlen von veröffentlichten Entscheidungskriterien<br />
lässt sich dadurch erklären, dass internationale Beziehungen schon als<br />
solches regelungsfeindlich sind. Sie erfordern flexible Reaktionen, die vor<br />
allem der Gesetzgeber nicht leisten kann. <strong>Die</strong>se Argumente befreien die Exekutive<br />
dennoch nicht von den ihr angetragenen Konkretisierungsaufga-<br />
161 Vgl. Teil 1 II.3.c)<br />
162 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 66<br />
163 Karpenstein (FN 41), S. 125<br />
55
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
ben. Der Mangel an Vorhersehbarkeit durch den vom Gesetzgeber gewährten,<br />
mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der auswärtigen Beziehungen sowie<br />
den Sicherheitsinteressen sehr weit gefassten Beurteilungsspielraum<br />
muss inhaltlich kompensiert werden164 . <strong>Die</strong> behördeninternen Verfahrensanweisungen<br />
bzw. Erlasse tragen dennoch ein gutes Stück zur einheitlichen<br />
Rechtsanwendung bei. Sie werden in bestimmten Bereichen durchaus bekannt<br />
gemacht165 . Wenngleich politische Fallgruppen nicht in dem Maße<br />
existieren, wie es die Wirtschaft wünscht, so ermöglichen die Erlasse wenigstens<br />
eine einheitliche Auslegung bestimmter Definitionsmerkmale in<br />
den Genehmigungstatbeständen, z.B. der Herstellungsausrüstung. Es erfolgt<br />
eine Kategorisierung bestimmter besonders sensitiver Verwendungen, so<br />
dass die Rechtsanwendung erleichtert wird. Sie entfalten über das Willkürverbot<br />
sogar eine rechtlich durchsetzbare Selbstbindungswirkung.<br />
Zu einzelnen sensitiven Ländern gegeben die Länderlisten der Verwendungstatbestände<br />
gem. §§ 5c und 5d AWV Aufschluss. Zu besonders sensitiven<br />
Empfängern werden z.B. bezogen auf ihre Relevanz zur Herstellung<br />
von Massenvernichtungswaffen, Frühwarnschreiben der Bundesregierung<br />
erstellt und den Verbänden mitgeteilt. <strong>Die</strong>se können potenziell betroffene<br />
Exporteure informieren. <strong>Die</strong>s ist für verwendungsbedingte und von der<br />
Kenntnis des Lieferanten abhängige Genehmigungspflichten von erheblicher<br />
Bedeutung166 . In den Erlassen festgeschriebene, für die Rechtsanwendung<br />
relevante Auslegungsgrundsätze werden zudem mittelbar über Veröffentlichungen<br />
des BAFA sowie den Haddex transparent gemacht. Daran<br />
muss sich die Behörde messen lassen. Für eine verbesserte Spezifizierung<br />
der Genehmigungsleitlinien spricht die effektivere Selbstkontrolle der Verwaltung.<br />
Der Vollzug von Exportkontrollen würde ebenfalls erleichtert, insbesondere<br />
die angemessene Information von Partnerländern zur Vermeidung<br />
illegaler Umgehungen167 .<br />
g) Ergebnis<br />
Im Vergleich der nationalen und europäischen Genehmigungstatbestände<br />
zeigt sich, dass sich die Genehmigungskriterien im Wortlaut sowie auch<br />
nach der Zwecksetzung erheblich ähneln. Aus der unterschiedlichen Systematik<br />
von Beurteilungsspielräumen und Ermessen dürften sich wegen des<br />
164 Ebenda, S. 251 f.<br />
165 Vgl. Haddex, (FN 4), Bd. IV, mit diversen Anwendungserlassen, z.B. zu § 5c AWV<br />
166 Zur Kenntnis als Tatbestandsmerkmal vgl. Teil 2 II.4.b) für die Dual-use-VO; zur<br />
Funktionsweise von Frühwarnschreiben s.a. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 75<br />
ff. sowie Pietsch, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), 612, § 5c AWV, Rn 31 ff.<br />
167 So Hohmann (FN 89), S. 529<br />
56
II. Das Rechtsgebiet der Exportkontrolle<br />
ohnehin bestehenden Entscheidungsspielraums der Behörde keine wesentlichen<br />
Abweichungen bei der Entscheidung ergeben. Für die rechtmäßige<br />
Entscheidung entscheidend sind die Reichweite des Gefahrenbegriffs, eine<br />
verfassungskonforme Rechtsanwendung durch die Behörde sowie seine<br />
Auslegung i.V.m. den bestehenden Entscheidungsleitlinien. Für die politischen<br />
Vorgaben bestehen mit dem VK-EU Harmonisierungsansätze, die in<br />
den exportkontrollpolitischen Grundsätzen der Bundesregierung umgesetzt<br />
worden sind.<br />
6. Verfahrenserleichterungen<br />
<strong>Die</strong> große Mehrzahl der Genehmigungen im Außenwirtschaftsrecht ergeht<br />
im Wege der Einzelfallentscheidung. Gleichwohl gibt es Verfahrenserleichterungen<br />
und Ausnahmetatbestände, die ein wichtiges gestalterisches Mittel<br />
darstellen, um Unternehmen und Verwaltung von unnötigen bürokratischen<br />
Belastungen zu entlasten. Das gilt z.B., wenn für bestimmte Fallgruppen ein<br />
exportkontrollpolitisches Bedürfnis nach einem individuellen Prüfungs- und<br />
Entscheidungsverfahren nicht notwendig erscheint. Verfahrenserleichterungen<br />
stellen dabei administrative Vereinfachungen des Genehmigungsverfahrens<br />
dar. Dazu gehören Allgemeingenehmigungen oder Sammelausfuhrgenehmigungen<br />
168 . Art. 6 Dual-use-VO ist Rechtsgrundlage dafür. Ausnahmetatbestände,<br />
wie die in den §§ 5, 5c, 5d und 7 AWV enthaltenen Wertfreigrenzen,<br />
heben die Genehmigungspflicht für bestimmte Fallgruppen auf.<br />
Der Gesetzgeber ist hierbei nicht gänzlich frei. Kontrollverpflichtungen aus<br />
Regimes bzw. der EU würden mit gesetzlichen Ausnahmetatbeständen nicht<br />
vollständig umgesetzt. Dagegen ist es den nationalen Behörden unbenommen,<br />
das Verfahren effizient und zielführend zu gestalten 169 .<br />
7. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
Im Rechtsgebiet der Exportokontrollen müssen verschiedene Genehmigungstatbestände<br />
im nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Kontext unterschieden<br />
werden. Demnach gelten auch unterschiedliche Verfahrensprinzipien<br />
für die Rechtsanwendung. Dabei ist die Zielsetzung der Exportkontrollen<br />
zu berücksichtigen, die sich aus historischen Entwicklungen und in-<br />
168 Vgl. dazu Karpenstein (FN 41), S. 208, die Allgemeingenehmigungen werden regelmäßig<br />
als Bekanntmachung der zuständigen Behörde veröffentlicht, z.B. unter<br />
www.bafa.de<br />
169 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), F. Rn 93 ff. (auch mit Hinweisen auf die Genehmigungszahlen)<br />
57
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
ternationalen Aspekten ergibt. Auch normkonkretisierende Anwendungsrichtlinien<br />
der Regierung und Behörden gehören hierzu. Im Übrigen müssen<br />
vor allem die auf nationaler Ebene bestimmten sicherheitspoltischen Erwägungen<br />
der einzelnen EU-Mitgliedstaaten beachtet werden.<br />
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale<br />
Gesetzgebung<br />
<strong>Die</strong> bei Exportkontrollregelungen erforderliche Unterscheidung von nationalen<br />
und gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften impliziert die Frage nach<br />
dem Verhältnis beider Rechtskreise zueinander. Das gilt zunächst für materiell-rechtliche<br />
Vorschriften, aber auch für das Verfahrensrecht. Beim Genehmigungsverfahren<br />
ist der Vollzug des jeweiligen materiellen Rechts und<br />
deshalb - soweit es um Genehmigungsverfahren für die Ausfuhr von Dualuse-Gütern<br />
im Sinne der Dual-use-VO geht - auch der Vollzug von Gemeinschaftsrecht<br />
betroffen. <strong>Die</strong> zuständige Behörde wendet das jeweils geltende<br />
Exportkontrollrecht an. Welche Maßstäbe die Behörde dabei zu beachten<br />
hat, insbesondere der Umfang zu berücksichtigender gemeinschaftsrechtlicher<br />
und nationaler Vorgaben, ist Gegenstand dieses Abschnitts.<br />
1. Das nationale Verwaltungsrecht<br />
a) Historie und Rechtsquellen des Verwaltungsrechts<br />
<strong>Die</strong> Prinzipien des Verwaltungsrechts erklären sich durch die nationale Verwaltungstradition.<br />
Hinzu kommt der EU-rechtliche Rahmen, der durch die<br />
Rechtssysteme in den europäischen Mitgliedstaaten beeinflusst wird.<br />
<strong>Die</strong> Ursprünge der im Verwaltungsrecht maßgeblichen Prinzipien, wie Gewaltenteilung<br />
und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, reichen in das frühe 18.<br />
Jahrhundert zurück. Es gelang erst allmählich, die Befugnisse einer zentralen<br />
Staatsgewalt herauszubilden. <strong>Die</strong> Verwaltungstätigkeit bestand zunächst<br />
in Eingriffs-, später auch in Hilfs- und Fördermaßnahmen. Erst danach setzte<br />
sich eine der wichtigsten Voraussetzungen für den liberalen Rechtsstaat<br />
durch, die Trennung von Justiz und Verwaltung. Im letzten Drittel des 19.<br />
Jahrhunderts entstanden in den Kleinstaaten Verwaltungsgerichte170 . <strong>Die</strong> bis<br />
dahin sehr absolut ausgeprägte, rechtlich ungebundene Verwaltung wurde in<br />
ein liberales Staatsmodell überführt. Sie sollte sich zunächst vor allem auf<br />
die Gewährleistung von Sicherheit und die Gefahrenabwehr zur Bewahrung<br />
170 Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, S.192<br />
58
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
der öffentlichen Ordnung, also den Schutz der Bürger vor Eingriffen in deren<br />
Freiheiten und Eigentumspositionen beschränken. Eingriffe waren nur<br />
zulässig, wenn die Verwaltung durch ein vorab von der Volksvertretung gebilligtes<br />
Gesetz dazu ermächtigt wurde. Der entsprechende Gesetzesvorbehalt<br />
bezog sich vor allem auf durch Grundrechte vermittelte Schutzpositionen.<br />
<strong>Die</strong> neue Verteilung der Macht zwischen Monarchie und Bürgertum<br />
wurde durch einen verfassungsbildenden Prozess gefördert. Hierzu gehörten<br />
die Herausbildung einer parlamentarischen Volksvertretung und ihrer Mitwirkung<br />
bei der Gesetzgebung sowie die Begründung von Grundrechten.<br />
Am Ende dieses Prozesses standen das Demokratieprinzip und die Gewaltenteilung.<br />
Für die Entwicklung des Verwaltungsrechts war das von besonderer<br />
Bedeutung, da Eingriffe der Verwaltung in Freiheit und Rechte des<br />
Einzelnen im Ergebnis nur noch mit Hilfe einer rechtlichen Legitimation<br />
möglich wurden. Sie ergab sich allein aus den Schutzpflichten des Staates<br />
sowie dem geschützten Rechtsbereich Dritter. <strong>Die</strong> Grundrechte wurden<br />
erstmals 1848 explizit statuiert171 . <strong>Die</strong> Verwaltungsmacht wurde damit erheblich<br />
reduziert und fortan der Gesetzesbindung bzw. Gesetzmäßigkeit unterworfen172<br />
.<br />
Hinzu kam die Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den einzelnen<br />
Ländern. Insbesondere das preußische OVG prägte eine Reihe von noch<br />
heute gültigen Grundsätzen173 . Im Zuge der Industrialisierung und Bevölkerungszunahme<br />
verstärkten sich die sozialen Nöte. <strong>Die</strong>se rückten den Staat<br />
und damit die Verwaltung auch als Leistungsträger in den Mittelpunkt. <strong>Die</strong>ser<br />
Aspekt findet sich in der Kurzformel des sozialen Rechtsstaats noch heute<br />
in der Verfassung wieder174 . Im Ergebnis bildeten diese Entwicklungen<br />
sowie die Erfahrungen der Verfassungsväter in Folge der jüngeren Geschichte<br />
vor 1949 die Grundlage des deutschen Grundgesetzes und der sich<br />
daraus abgeleiteten allgemeinen verwaltungsrechtlichen Prinzipien. Das nationale<br />
Verwaltungsrecht basiert aber nicht nur auf der Verfassung, sondern<br />
auch formellen Gesetzen, Rechtsverordnungen und Satzungen, die deren<br />
Vorgaben umsetzen. Es unterteilt sich in Bundes- und Landesrecht sowie<br />
Gewohnheitsrecht. Hierzu zählen auch das Richterrecht sowie das dort entwickelte<br />
allgemeine Rechtsprinzipien. Aus dieser Aufzählung ergibt sich die<br />
171 Zum Beschluss der Reichsversammlung vom 21. Dezember 1848 in der Frankfurter<br />
Paulskirche und der Grundrechtsentwicklung allgemein: Badura, Staatsrecht, Einl.<br />
Rn 24 f.<br />
172 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2 Rn 5 ff.<br />
173 Vgl. Mayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und Rechtsverfahrens, S. 1 ff. (1857)<br />
und Deutsches Verwaltungsrecht, S. 1 ff. (1924)<br />
174 W. Wolff, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 21 Rn 1<br />
59
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Unterscheidung geschriebener und ungeschriebener Rechtsquellen 175 . <strong>Die</strong><br />
entsprechenden allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätze sind aber letztlich<br />
alle auf Konkretisierungen des Verfassungsrechts zurückzuführen.<br />
b) Systematik des Verwaltungsrechts<br />
Das allgemeine Verwaltungsrecht176 regelt die Rechtsbeziehungen des Staates<br />
zu seinen Bürgern sowie die Funktionsweise der Institutionen der öffentlichen<br />
Verwaltung. <strong>Die</strong> Grundsätze dazu lassen sich aus der Verfassung ableiten177<br />
. Mit dem VwVfG erfolgte eine Rechtsvereinheitlichung der bis dahin<br />
bestehenden Ländervorschriften, die heute weitgehend dem Bundesgesetz<br />
entsprechen178 . Hier werden alle Handlungsformen der Verwaltung, namentlich<br />
der Verwaltungsakt, der Verwaltungsrealakt, die Rechtsverordnung,<br />
die Satzung, der öffentlich-rechtliche Vertrag und das Verfahren geregelt.<br />
In Abgrenzung zu Gesetzgebung und Gerichtsverfahren werden dabei<br />
die Rechte und Pflichten der Verfahrensbeteiligten, die besonderen Verfahrensarten,<br />
die Verwaltungsvollstreckung und die Organisation der Verwaltung<br />
festgesetzt. <strong>Die</strong> Konkretisierung einzelner Vorschriften erfolgt durch<br />
Rechtsprechung und Lehre179 .<br />
Das besondere Verwaltungsrecht ist das spezielle Verwaltungsrecht, welches<br />
auf die Erfordernisse konkreter sachlicher Verwaltungsaufgaben zugeschnitten<br />
ist. Es baut auf Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts auf<br />
und ergänzt oder modifiziert sie. Hierzu gehören z.B. das allgemeine Polizei-<br />
und Ordnungsrecht sowie das Umweltrecht, so das Immissionsschutzund<br />
Abfallrecht. Das besondere Verwaltungsrecht ist sowohl durch Bundes-,<br />
als auch durch Landesgesetze geregelt. Es wird in vielen Bereichen durch<br />
europäisches Recht überlagert und beeinflusst.<br />
Das Exportkontrollrecht ist als Teil des Außenwirtschaftsrechts dem besonderen<br />
Verwaltungsrecht zuzurechnen, innerhalb dieses Komplexes dem<br />
Wirtschaftsverwaltungsrecht. <strong>Die</strong> nationalen Exportkontrollregelungen des<br />
KWKG und AWG sind in Bundesgesetzen geregelt. Eine Ausnahme bildet<br />
die Dual-use-VO. Für das Genehmigungsverfahren ist damit grundsätzlich<br />
das allgemeine Verwaltungsrecht bzw. das dazugehörige Verwaltungsverfahrensrecht<br />
anwendbar, soweit nicht speziellere Vorschriften oder höherrangi-<br />
175 Vgl. Maurer (FN 172), § 4 Rn 1 ff.<br />
176 Zu den Verwaltungsbegriffen und zum Spektrum der Verwaltungstätigkeit Wolff (FN<br />
174), S. 22 ff.<br />
177 Vgl. Maurer (FN 172), § 2 Rn 14 und 17<br />
178 Dazu Knack, Kommentar zum VwVfG, vor § 1 Rn 2 (LITV)<br />
179 Hierzu Maurer (FN 172), § 4 Rn 23 ff<br />
60
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
ges Recht die allgemeinen Normen verdrängen 180 . Im Bereich der Genehmigungsentscheidung<br />
wird das für Exportkontrollfragen zuständige BAFA regelmäßig<br />
auf Antrag ein Verwaltungsverfahren im o.g. Sinne einleiten. Bei<br />
den formellen Verfahrensvoraussetzungen und der materiellen Entscheidung<br />
über die Genehmigung ist die Anwendbarkeit nationaler und europäischer<br />
Regelungen zu prüfen, insbesondere der im konkreten Fall einschlägige <strong>exportkontrollrechtliche</strong><br />
Genehmigungstatbestand.<br />
c) Verfassungsrechtliche Vorgaben und Einflüsse<br />
Es wurde schon ausgeführt, dass sich die Gerichte vor der expliziten Normierung<br />
des Verwaltungsverfahrensrechts ausschließlich an ungeschriebenen<br />
Grundsätzen orientieren mussten. <strong>Die</strong> Verfassung normiert die Erzeugungsbedingungen<br />
für die Gesetze und ihre inhaltlichen Schranken. Dazu<br />
zählen Grundrechte, Regelungen zur Normenhierarchie, fortschreitende<br />
Normkonkretisierung, Verfassungsprinzipien, wie Gesetzesbindung und -<br />
vorrang, Rechtsweggarantie, Gewaltenteilung und Bundesstaatsprinzip,<br />
Vorgaben für Organisation und Gesetzesvollzug. <strong>Die</strong> Verfassung regelt also<br />
beherrschende Elemente der Verwaltungstätigkeit, weshalb Verwaltungsrecht<br />
nicht ohne Grund als konkretisiertes Verfassungsrecht bezeichnet<br />
wird181 . Grundrechte sowie Verfassungsprinzipien wirken sich unmittelbar<br />
auf die tägliche Verwaltungspraxis aus182 .<br />
Für die Verwaltung von besonderer Bedeutung sind der Gleichheitssatz, das<br />
Rechtsstaatsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung.<br />
Insgesamt geben verfassungsmäßig verbürgte rechtsstaatliche<br />
und demokratische Verfahrensgrundsätze die Leitgedanken des Verfahrensrechts<br />
wieder183 . <strong>Die</strong> Gewährleistung der Grundrechte wird auch über Verfahrensrechte<br />
der Beteiligten sichergestellt. Gleiches gilt für den Umfang<br />
des Rechtsschutzes (Instanzenweg) und die gerichtliche Sachprüfung. Es<br />
wird damit deutlich, dass das Entscheidungsergebnis der Verwaltung nicht<br />
nur vom materiellen Gehalt des im Einzelfall einschlägigen Gesetzes bzw.<br />
subjektiven Rechtsanspruchs abhängt, sondern auch von der Ausformung<br />
des Verwaltungsverfahrens selbst. Es besteht ein untrennbarer Zusammenhang<br />
zwischen Verfahrensausgestaltung und Gewährleistungen des sachlich<br />
zutreffenden Ergebnisses einer Entscheidung184 . Verfahrensvorschriften so-<br />
180 Haddex (FN 4), Bd 1, Teil 6 Rn 313<br />
181 So Werner, DVBl. 1959, S.257<br />
182 Zur verfassungsrechtlichen Legitimation: Müller-Foell, Einführung in das Recht, § 7<br />
183 Wolff (FN 174), S. 71 Rn 16<br />
184 Ebenda, S. 120 Rn 12<br />
61
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
wie entsprechende Verfahrensprinzipien müssen deshalb immer vor diesem<br />
Hintergrund beurteilt und angewandt werden. Ein Widerspruch des Zieles<br />
Rechtsschutz zur Effizienz von Verwaltungsverfahren besteht nicht, wenn<br />
die Balance zwischen Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Funktionsfähigkeit<br />
der Verwaltung gewahrt ist.<br />
Das nationale Verwaltungssystem wird vom EG-Recht beeinflusst. Damit<br />
geht eine Überlagerung des nationalen Verfahrensrechts einher, die aufgrund<br />
des Harmonisierungsziels zur Veränderung des Verfahrensrechtskonzeptes,<br />
also zu einer entsprechenden Rückkoppelung, führt185 . <strong>Die</strong> noch zu treffenden<br />
Ausführungen zum Gemeinschaftsverwaltungsrecht sowie dessen Verhältnis<br />
zum nationalen Verwaltungsrecht müssen dies berücksichtigen. Auf<br />
Fragen des Völkerrechts soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden.<br />
Soweit internationale exportkontrollrechtlich relevante Vorgaben bestehen,<br />
wurden diese durch den zuständigen europäischen oder aber nationalen Gesetzgeber<br />
berücksichtigt. Sie kommen bei den Entscheidungskriterien zur<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ebenfalls zum Tragen. <strong>Die</strong>s ist nicht Gegenstand der<br />
Überlagerung nationalen Rechts, sondern im Gegenteil, dort explizit über<br />
die Genehmigungspflichten und -kriterien berücksichtigt186 .<br />
d) Ergebnis<br />
Im Zentrum der nationalen Verwaltungsrechtstradition und der für die Verwatungsverfahren<br />
maßgeblichen Verfassungsprinzipien stehen Gesetzmäßigkeitsgrundsatz,<br />
Rechtsstaatsprinzip und Gewaltenteilung. Über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
und die Grundrechte werden die Grenzen staatlichen<br />
Handelns normiert. <strong>Die</strong>se Vorgaben sind in das allgemeine und besondere<br />
Verwaltungsverfahrensrecht eingeflossen. Es muss geprüft werden,<br />
ob sie durch das Gemeinschaftsrecht beeinflusst werden und es hierbei zu<br />
Abweichungen kommt.<br />
2. Das Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
Der Begriff des Gemeinschaftsrechts bezieht sich vor allem auf den EG-<br />
Vertrag 187 , die tragende Säule der Europäischen Union mit dem Charakter<br />
185 Knack (FN 178), vor § 1 Rn 21<br />
186 Vgl. Teil 1 II.5.d)bb) zu den Regimen und Teil 1 II.5.f)aa) zum VK-EU (siehe auch<br />
FN 60)<br />
187 Bezogen insbesondere auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Union von<br />
Maastricht, ABl. EG Nr. C 191 vom 29.07.1992, Vertrag von Amsterdam ABl. (EG)<br />
C 340 vom 10.11.1997 sowie Vertrag von Nizza ABl. EG C 325 vom 24.12.2002,<br />
aufbauend auf den Verträgen zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl,<br />
62
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
einer nationalen Verfassung188 . Grundsätze zur Gemeinsamen Außen- und<br />
Sicherheitspolitik sowie zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen sind nicht Gegenstand des Vertrages, sondern ergänzender (so<br />
genannte 2. und 3. Säule) Bestandteil der Europäischen Union189 . <strong>Die</strong> entsprechende<br />
Relevanz für die Exportkontrolle wurde erläutert. Zum Bereich<br />
des auch als Primärrecht bezeichneten EG-Vertrages und der darauf basierenden<br />
Rechtsetzung tritt auch ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, allgemeines<br />
Völkerrecht und der Kernbestand allgemeiner Rechtsgrundsätze190 .<br />
Im Sekundärrecht von besonderer Bedeutung sind neben Richtlinien die in<br />
den Mitgliedstaaten unmittelbar geltenden EG-Verordnungen, zu denen auch<br />
die Dual-use-VO zählt. Das Gemeinschaftsrecht überlagert ebenso wie das<br />
Völkerrecht als supranationales Recht die nationalen Vorschriften191 . Insoweit<br />
ergeben sich eigenständige, in den Mitgliedstaaten verbindlich wirkende,<br />
Verbands- und Organkompetenzen der EG. Je nach Reichweite und Umfang<br />
der darauf beruhenden europäischen Regelungen kommt es zu Auswirkungen<br />
bei der Anwendbarkeit nationalen Rechts. Mit Blick auf die Rechtsprechung<br />
des EuGH im Lichte gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen<br />
der Mitgliedstaaten kommt es auch zu einer wechselseitigen Beeinflussung<br />
der Rechtssysteme192 . <strong>Die</strong> Mitgliedstaaten sind an die Prinzipien des Gemeinschaftsrechts<br />
gebunden.<br />
<strong>Die</strong> Grundlagen für das gemeinschaftliche Verfahrensrecht finden sich im<br />
EG-Vertrag nur fragmentarisch, so z.B. zur Begründungspflicht und zum Inkrafttreten<br />
von Sekundärrecht oder Dokumentenzugang Art. 253 bis 256 EG.<br />
Hinzu kommen vereinzelte spezifische Regelungen im Sekundärrecht, wie<br />
sie beispielsweise zur Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in der Dual-use-<br />
VO vorgesehen sind193 . <strong>Die</strong> bestehende Lücke hinsichtlich der für den Vollzug<br />
des materiellen Gemeinschaftsrechts notwendigen Verfahrensvorschriften<br />
versucht der EuGH mit seiner Judikatur zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen<br />
im Verwaltungsverfahren im Wege des wertenden Rechtsvergleichs zu<br />
BGBl. II 1952, S. 448, den Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemneinschaft,<br />
BGBl. II 1957, S. 766, und zur Europäischen Atomgemeinschaft, BGBl.II 1957, S.<br />
1014<br />
188 Vgl. statt aller Schwarze, EU-Kommentar, Bd.1, Art. 220, Rn 12<br />
189 Vgl. Teil 2 II.4.a)<br />
190 Magiera/Sommermann, Verwaltung in der Europäischen Union, S.421<br />
191 <strong>Die</strong>s wurde in der Verfassung mit Art. 23 GG bestätigt.<br />
192 Der EuGH bestimmt dabei das Verhältnis zwischen dem europäischen auf der einen<br />
und den nationalen und Rechts- und Verfassungssystemen auf der anderen Seite: vgl.<br />
Nehl, Europäisches Verwaltungsverfahren und Gemeinschaftsverfassung, S.2<br />
193 Vgl. dazu Teil 1 II.4.b)<br />
63
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
schließen und betätigt sich so faktisch als Motor der europäischen Integration194<br />
. Das verfassungsrechtliche Erklärungsmodell der EU ergibt sich aus<br />
den nationalen Rechtsordnungen sowie den übergeordneten Kompetenzen<br />
der Gemeinschaft. Dabei ist der Blick auf die europäischen Verfassungswerte<br />
notwendig. Wegen der rechtlichen Integration von inzwischen 27 nationalen<br />
Verwaltungsstrukturen ist die rechtsvergleichende Betrachtung unerlässlich.<br />
Das wird bei der Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt. <strong>Die</strong>se<br />
Kompetenz des EuGH ergibt sich in Ausübung seiner sich aus Art. 220 EG<br />
ergebenden Aufgabe zur Wahrung des Rechts auf der Grundlage der gemeinsamen<br />
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der von ihnen<br />
abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträgen über den Schutz der Menschenrechte195<br />
. In welchem Umfang dabei tatsächlich von Rechtsgrundsätzen<br />
gesprochen werden kann, hängt von der Formulierung durch den EuGH<br />
und der Qualität der ständigen Rechtsprechung ab. Zumindest muss die wertende<br />
Betrachtung dem qualitativen Niveau eines entgegenstehenden nationalen<br />
Grundsatzes entsprechen196 . Der EuGH setzt so die systembildenden<br />
Akzente für das Gemeinschaftsverwaltungsrecht. Er definiert letztverbindlich<br />
dessen Verhältnis zu den nationalen Rechtssystemen und sorgt für die<br />
Gewährleistung eines einheitlichen Verwaltungsvollzugs des Gemeinschaftsrechts.<br />
<strong>Die</strong> unterschiedliche Anwendung europarechtlicher Regelungen<br />
würde nicht nur für die Betroffenen im Sinne des Art. 12 EG diskriminierend<br />
wirken, sie würde die praktische Wirksamkeit der einheitlichen Gesetzgebung<br />
bzw. das Effizienzgebot nach Art. 10 EG unterlaufen und somit<br />
gegen zwei wesentliche Grundsätze des EG-Rechts verstoßen197 .<br />
Im Ergebnis hat sich ein selbständiger Korpus europäischen Verwaltungsrechts<br />
herausgebildet, der allgemein mit dem Begriff Gemeinschaftsverwal-<br />
194 Dazu z.B. Fengler, <strong>Die</strong> Anhörung im europäischen Gemeinschaftsrecht und<br />
deutschen Verwaltungsverfahrensrecht; S. 13, Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht<br />
unter europäischem Einfluss, S. 109; Schnappauf, in: Magiera/ Sommermann<br />
(FN 190), S. 13, 22; Hirsch, Der EuGH im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht<br />
und nationalem Recht, 6. Jahresarbeitstagung des DAI, 2000, S. 5, 15<br />
195 Dazu grundlegend statt aller Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, (FN 3) Bd. III, Art. 220<br />
EG Rn 42, vgl. z.B. Rspr. des EuGH Rs. 4/73 - Nold - Slg. 1974, S. 491; EuGH Rs.<br />
44/79 – Hauer, Slg. 1979, S. 3727; EuGH Rs. 97-99/87 - Dow Chemical Ibérica, Slg.<br />
1989, S. 3165<br />
196 Vgl. Klein, Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts im europäischen Integrationsprozess<br />
in Rechtvereinheitlichung durch Gesetze 1992, S. 117, 152)<br />
197 Hierzu Classen, <strong>Die</strong> Europäische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 182 ff., s.a. von<br />
Danwitz, Verfassungsrechtliches System und europäische Integration, 1996, S. 281<br />
ff.<br />
64
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
tungsrecht umschrieben wird 198 . Es bleibt festzuhalten, dass neben sekundärrechtlichen<br />
Vorschriften zu einigen Rechtsbereichen zwischenzeitlich eine<br />
Reihe von durch den EuGH anerkannte gemeinschaftsverwaltungsrechtliche<br />
Prinzipien, wie Vertrauensschutz, Verhältnismäßigkeit und Effektivitätsgebot,<br />
auf die nationale Rechtsanwendung Einfluss nehmen.<br />
3. Verfahrensgrundsätze und Grundrechte<br />
Aus dem Gemeinschaftsverfassungsrecht abgeleitete Verfahrensgarantien<br />
und deren Konnexität mit dem Umfang des gerichtlichen Rechtsschutzes basieren<br />
im Wesentlichen auf dem allen europäischen Verfassungen gemeinen<br />
Prinzip der Rechtsstaatlichkeit199 . Sie bilden somit die bedeutendste Quelle<br />
der Legitimation europäischer Hoheitsgewalt. Hierzu zählen vor allem die<br />
Prinzipien der Rechts- bzw. Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Gesetzesvorbehalts200<br />
. Neben diesen formellen Verwaltungsrechtsgrundsätzen stehen<br />
die materiellen Grundsätze wie das Vertrauensschutzprinzip, der Anspruch<br />
auf Rechtssicherheit, Vertrauensschutzgedanke und das Verhältnismäßigkeitsprinzip201<br />
.<br />
Hierzu zählen auch die Grundrechtsgewährleistungen, deren europäischer<br />
Standard zugunsten einer gewissen Rechtvereinheitlichung zunächst aus<br />
dem Katalog der EMRK abgeleitet wurde202 . Dabei wird erneut auf allgemeine<br />
Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten, die wegen der Gewährleistung<br />
der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen berücksichtigt werden müssen,<br />
und gemeinschaftsrechtliche Prinzipien zurückgegriffen203 . Mit Verweis<br />
auf die Grundrechte-Charta204 in Art. 6 Abs. 2 EUV wurde diese Rechtsprechung<br />
aufgegriffen. <strong>Die</strong> Geltung allgemeiner Rechtsgrundsätze wurde somit<br />
auf eine weitere rechtliche Grundlage gestellt und die entsprechende Recht-<br />
198 Vgl. Nehl (FN 192,) S. 23 mit besonderer Erwähnung des Grundlagenwerkes von<br />
Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, zum Begriff auch Gassner, DVBl. 1995,<br />
S. 16 ff.<br />
199 So Nehl (FN 192), S. 84<br />
200 Vgl. EuGH, verb. Rs. 46/87, 227/88 - Hoechst, Slg. 1989, 2859<br />
201 Zur Doppelfunktion der Verwaltungsgrundsätze als Ausfluss rechtsstaatlicher Grundaussagen<br />
und spezifisches Verfahrensrecht: Koch, Arbeitsebene der EU–<br />
Verfahrensrecht der Integrationsverwaltung, S. 422<br />
202 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November<br />
1950, BGBl. 1952 II, S. 685, 953, in der Fassung des Protokolls Nr. 11, in Kraft<br />
getreten am 1. November 1998, BGBl. I 2000, S. 1253<br />
203 Z.B. EuGH, Rs 4/73 - Slg 1974, S.491, 506 ff. , Nold (so schon in FN 194), EuGH,<br />
Rs. 374/ 867, Slg,1989, S. 3283 - Orkem<br />
204 Veröff. in ABl. EG Nr. C 364/1 vom 18.12.2000<br />
65
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
sprechung des EuGH verfestigt205 . Danach achtet die Union die Grundrechte,<br />
wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind<br />
und wie sie sich aus den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts<br />
ergeben. <strong>Die</strong> Charta selbst gilt wegen der expliziten Formulierung „achten“<br />
als nicht rechtsverbindlich, womöglich auch, um eine politische Entscheidung<br />
über die Zukunft der Verfassung nicht zu gefährden206 . Der mit der<br />
EuGH-Rechtsprechung anerkannte Mindeststandard der Grundrechtsanerkennung207<br />
kann im Sinne der Wesensgehaltsrechtsprechung des BVerfG interpretiert<br />
werden. Adressat der Prinzipien sind die Organe der Union sowie<br />
die Behörden der Mitgliedstaaten, soweit sie im Rahmen der Gemeinschaftskompetenzen<br />
im unmittelbaren Direktvollzug von Gemeinschaftsrecht<br />
tätig werden208 .<br />
Unabhängig von einer gewissen faktischen Geltung der Charta muss in<br />
dogmatischer Hinsicht indes bis auf weiteres beachtet werden, dass für die<br />
Ausformung des Grundrechtsschutzes im Verhältnis zum Unionsbürger allein<br />
die Auslegung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze durch<br />
den EuGH maßgeblich ist. Zwischenzeitliche Bemühungen zu einer demokratischen<br />
Legitimation des europäischen Verfassungsprozesses209 und die<br />
damit verbundene Kodifizierung der Verfahrensgrundsätze sowie der gemeinschaftsrechtlichen<br />
Grundrechte haben mit der vorläufigen Aussetzung<br />
des Ratifizierungsprozesses zum Entwurf zur Verfassung für Europa, Teil II<br />
Art. II-61 ff. 210 vorläufig noch keinen Fortschritt ermöglicht. Aufgrund der<br />
bereits benannten verfassungsrechtlichen Legitimation der EUGH-<br />
Rechtsprechung ändert dies aber nichts an der Verbindlichkeit der zwischenzeitlich<br />
herausgearbeiteten Prinzipien. Allen Rechtsgrundsätzen gemein ist<br />
ihr an sich drittschützender, grundrechtsähnlicher Charakter. Ebenso wie im<br />
deutschen Verfassungsrecht sind die Grundrechte einerseits Abwehrrechte<br />
des Einzelnen gegenüber dem Staat als auch Bestandteile einer objektiven<br />
205 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I, nach Artikel 6 EUV Rn 4<br />
206 Unter Hinweis auf die EuGH-Rechtspr. Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd.<br />
I, Art 6 EUV, Rn 42 ff., 56 und Pernice/Mayer, ebenda Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 24<br />
207 Pernice/Mayer, ebenda Rn 27 und<br />
208 Statt aller Stumpf, in: Schwarze (FN 187), Art. 6 EUV Rn 16; Fengler (FN 193),S. 9;<br />
Epping (FN 28), S. 565<br />
209 Zum Streit über die Legitimation der vom EuGH begründeten Rechtsprechung: Nehl<br />
(FN 192), Fn 225<br />
210 Vertrag über eine Verfassung für Europa Amtsblatt der EU, Reihe C Nummer 310,<br />
vom 16.12.2004 (Auf Beschluss des Europäische Rates auf seiner Tagung am 21. und<br />
22. Juni 2007 in Brüssel soll der Vertrag Grundlage für die Ausarbeitung eines<br />
Reformvertrags sein. <strong>Die</strong> Substanz des Verfassungstextes soll in die bestehenden<br />
Grundlagenverträge eingearbeitet werden.)<br />
66
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
Wertordnung211 . <strong>Die</strong> Grundrechte sind auch beim Vollzug der Dual-use-VO<br />
zu berücksichtigen212 . Auf Einzelheiten zur Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen<br />
Gewährleistungen wird noch im Rahmen der Rechtsgüterabwägung<br />
anlässlich der gerichtlichen Rechtmäßigkeitsprüfung von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
einzugehen sein.<br />
Nachdem die Legitimation europäischer Grundrechte und Verfahrensgarantien<br />
geklärt ist, sollen zunächst die insbesondere vom EuGH geprägten und<br />
für <strong>exportkontrollrechtliche</strong> Entscheidungen bedeutsamen Rechtsgrundsätze<br />
dargestellt werden213 . Bei der Rechtsprechung von EuG und EuGH zu diesen<br />
allgemeinen Grundsätzen geht es allerdings nicht um absolute Rechte,<br />
sondern um die Hervorhebung einer zur Überwindung dieser Grundsätze erforderlichen<br />
erheblichen Abwägung sowie argumentativer Sorgfalt214 .<br />
a) Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit<br />
Aus dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit wird eine Reihe von Prinzipien<br />
abgeleitet, wie sie sich auch aus der nationalen Verfassung ergeben. Grundlegend<br />
sind die auch in der Grundrechte-Charta benannten formellen Rechte<br />
auf Anhörung, Akteneinsicht und in Ableitung aus dem Prinzip effektiven<br />
Rechtsschutzes215 das Recht auf die Begründung von Entscheidungen. Hinzu<br />
kommt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung216 . Als ein allgemeines<br />
Leitprinzip der Grundrechte-Charta gilt inzwischen der Grundsatz<br />
ordnungsgemäßer Verwaltung bzw. das aus dem angelsächsischen Recht<br />
entstammende Prinzip eines fairen Verwaltungsverfahrens (good governance<br />
principle). Neben dem ebenfalls im deutschen Rechtsstaatsprinzip verankerten<br />
Anhörungsrecht werden hierunter auch andere Elemente des rechtsstaatlichen<br />
Verfahrens abgeleitet. Hieraus ergibt sich z.B. eine Konkretisierung<br />
der Begründungspflicht bei rechtsstaatlichen Verwaltungseingriffen217 . <strong>Die</strong>se<br />
211 Vgl. EuGH, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609, 2639 f.; Rs. C-260/89, ERT, Slg.<br />
1991, I- S. 2925, 2964; Rs. C-288/89, Gouda, Slg. 1991 I, S. 4007, 4042<br />
212 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd. IV, E 16 Rn 18<br />
213 Mit ausführlicher Darstellung: Ehrlich (FN 62), S. 1 ff.<br />
214 Koch (FN 201), S. 464<br />
215 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.5.1986, Rs 222/84 /M.Johnston/ Chief Constable of the Royal<br />
Ulster Constabulary), Slg. 1986, S. 1651 ff., 1663 ff.<br />
216 EuGH, Urt. v. 22.3.1961, verb. Rs 42/59 u. 49/59 (Soceté nouvelle des usines de<br />
Pontlieue-Acèries du temple/ Hohe Behörde), Slg. 1961, S. 105 ff. ,172<br />
217 Schwarze (FN 198) , Einf. S. LXXXII, Koch, (FN 192), S. 441 mit einer Vielzahl<br />
von Rechtsprechungshinweisen, S. 444 zum Wechselbezug des Prinzips guter Verwaltung<br />
im Zusammenhang mit Verwaltungsorganisation, Geschäftsprozessen und<br />
subjektivem Rechtsschutz<br />
67
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
Grundsätze gelten auch bei Beurteilungsspielräumen und Verwaltungsermessen.<br />
Hinzu tritt das mit dem Ermessen korrelierende Prinzip der Selbstbindung<br />
der Verwaltung. <strong>Die</strong>ses ist Ausprägung des auch auf EU-Ebene gültigen<br />
Diskriminierungsverbotes, das praktisch alle Bereiche des Verwaltungshandelns<br />
betrifft und zur Selbstbindung der Verwaltung aufgrund einheitlicher<br />
Standards oder ständiger Verwaltungspraxis führt218 .<br />
Schließlich soll die für die materielle Rechtsdurchsetzung wesentliche<br />
Sachverhaltsermittlung näher betrachtet werden. Dabei geht es um den Umfang<br />
und die Verantwortlichkeit einer Ermittlung der tatsächlichen Grundlagen<br />
(Tatbestandsmerkmale) für eine bestimmte Rechtsfolge. <strong>Die</strong> geltende<br />
Untersuchungs- und Amtsermittlungsmaxime korreliert mit der Mitwirkungspflicht<br />
des Betroffenen. Der Grad der Informationsbeschaffung kann<br />
sich auf die Abwägung im Rahmen von Beurteilungsspielräumen auswirken.<br />
Ebenso mag bei Defiziten der Ermittlung eine ordnungsgemäße Ermessensentscheidung<br />
auf der Rechtsfolgenseite beeinträchtigt sein. Eine sorgfältige<br />
Sachverhaltsermittlung gehört also zu den Grundlagen gesetzmäßiger Entscheidungsfindung219<br />
.<br />
Ein wesentlicher materieller Verfahrensgrundsatz ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,<br />
der in Art. 5 Abs. 3 EUV angesprochen und vom EuGH<br />
als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet<br />
wird220 . Er ist Ausgangspunkt für die Reichweite der Grundrechtsdurchsetzung<br />
und findet im Rahmen der gemeinschaftlichen Rechtsordnung Beachtung221<br />
. In der Literatur wird das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schlüssel<br />
des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes bezeichnet222 . Nach der<br />
Rechtsprechung des EuGH entsprechen hoheitliche Maßnahmen, die für die<br />
Gemeinschaftsbürger belastend sind, nur dann dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,<br />
wenn mit der zu Grunde liegenden Regelung zulässige Ziele<br />
verfolgt werden, die Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele geeignet und<br />
erforderlich sind. Unter mehreren geeigneten Mitteln ist dasjenige zu wählen,<br />
das den Einzelnen am wenigsten belastet. 223 Schließlich muss zwischen<br />
den auferlegten Belastungen und dem angestrebten Zweck ein angemesse-<br />
218 Dazu statt aller Schwarze, ebenda, Einf. S. LXX, vgl. nur EuGH - verb. Rs 16/77<br />
und 117/76 Ruckdeaschel/ Hauptzollamt Hamburg-St.Annen, Slg. 1977, 1753 Rn 7<br />
219 Ule, VerwArch 1971, S. 127<br />
220 EuGH, Rs. 41/79 u.a., Testa, Slg. 1980, 1979, 1997<br />
221 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd. III, Art. 249 EGV Rn 100<br />
222 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, (FN 3), Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 304<br />
223 EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, 1137; Rs.<br />
4/73, Nold, Slg. 1974, 491, 508; Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, 3747; Rs. 41/79<br />
u.a., Testa, Slg. 1980, 1979, 1997 f.<br />
68
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
nes Verhältnis bestehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) 224 . Damit<br />
folgt der EuGH den in Deutschland geltenden Anforderungen für das Übermaßverbot.<br />
Den Grundsatz der Rechtssicherheit bezeichnet der EuGH als eine bei der<br />
Vertragsanwendung zu beachtende Rechtsnorm225 und als grundlegendes<br />
Prinzip des Gemeinschaftsrechts226 . Dazu gehören das Rückwirkungsverbot<br />
sowie der Bestimmtheitsgrundsatz und die Bestandskraft227 . Als ein weiteres<br />
wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips setzt der Grundsatz des Vertrauensschutzes<br />
staatlichem Verhalten Grenzen. Das gilt dann, wenn ein<br />
Gemeinschaftsorgan einen objektiven Vertrauenstatbestand geschaffen hat,<br />
ein Wirtschaftsteilnehmer hierauf vertraut hat, sein Vertrauen schutzwürdig<br />
ist und sein Individualinteresse gegenüber dem Gemeinschaftsinteresse<br />
überwiegt228 . Solch ein berechtigtes Vertrauen besteht allerdings nicht, wenn<br />
eine Regelungsmaterie betroffen ist, die nach ihrer Zweckrichtung einer<br />
ständigen Anpassung unterworfen ist und die dementsprechend von den<br />
Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihres Ermessens geändert werden<br />
kann229 .<br />
<strong>Die</strong> Organe der Gemeinschaft verfügen bei der Wahl der erforderlichen Mittel<br />
zur Verfolgung ihrer Politik grundsätzlich über einen Ermessensspielraum230<br />
. Gerade dieser Gesichtspunkt dürfte es dem Ausführer im Exportkontrollrecht<br />
schwer machen, sich zur Wahrung seiner Rechte mit Erfolg auf<br />
den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu berufen. Denn das Ausfuhrrecht<br />
unterliegt wegen der sich häufig und schnell ändernden außen- und sicherheitspolitischen<br />
Lage ständigem Wandel. Der Ausführer weiß um diesen<br />
Umstand und kann seine Dispositionen darauf einrichten. Aus anderen Entscheidungen<br />
des EuGH kann der Grundsatz abgeleitet werden, dass sich<br />
nicht auf Vertrauensschutz berufen kann, wer sich selbst rechtswidrig ver-<br />
224 Dazu EuGH, Slg. 1989, 2237, 2269 - Schräder/Hauptzollamt Gronau; Zuleeg, NJW<br />
1994, 545, 547; Gornig/Trüe, JZ 1993, S. 884, 940<br />
225 So EuGH, Rs. 13/61, Bosch, Slg. 1962, 97, 113<br />
226 EuGH, Rs. C-143/93, Van Es Douane Agenten, Slg. 1996. I-431; Rs. C-313/99, Mulligan<br />
u.a., Urt. v. 20.6.2002, Slg. 2002, S. I-05719<br />
227 Statt aller Ehrlich (FN 62), S. 64 mit Vielzahl von Rspr.-Nachweisen<br />
228 Stumpf, in: Schwarze (FN 188), Art. 6 EUV, Rn 15<br />
229 Vgl. EuGH Rs. O´Dwyer u.a./Rat, Slg. 1995, II-2075, 2095; verb. Rs. C-258/90 u. C-<br />
259/90, Pesquerias de Bermeo und Naviera Laida/Kommission, Slg. 1992, I-2901,<br />
2944; EuGH Rs. C-241/95, Accrington Beef, Slg. 1996, I-6699, 6731; EuGH Rs. C-<br />
177/90, Kühn, Slg. 1992, I-35, 62 f.<br />
230 So EuGH, Rs. C-64/95, Lubella, Slg. 1996, I-5105, 5138<br />
69
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
hält. 231 Bei der Beurteilung des subjektiven Vertrauenstatbestandes ist maßgeblich,<br />
ob ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer in der<br />
Lage ist, den Erlass der seine Interessen berührenden Gemeinschaftsmaßnahme<br />
vorauszusehen und hierauf angemessen zu reagieren. 232 Bei der Beurteilung<br />
im Einzelfall kommt der Veröffentlichung der Rechtsakte eine besondere<br />
Bedeutung zu, weil die Wirtschaftsteilnehmer ihr Verhalten nach<br />
dem Regelungsinhalt ausrichten können.<br />
b) Exportkontrollrelevante Grundrechte<br />
<strong>Die</strong> Frage der grundrechtlichen Überprüfungskompetenz bei der Anwendung<br />
von EG-Vorschriften wurde in einer Reihe von Entscheidungen des<br />
BVerfG wie des EuGH herausgearbeitet. Vom Solange I-Beschluss des<br />
BVerfG233 bis hin zur Maastricht-Entscheidung234 wurde die zunächst geäußerte<br />
Annahme des Vorrangs der nationalen Verfassung schrittweise revidiert<br />
und schließlich der Ansatz eines Kooperationsverhältnisses von EuGH<br />
und BVerfG entwickelt. Danach sei in erster Linie der EuGH für die Rechtmäßigkeitsprüfung<br />
von Eingriffen zuständig, während sich die Prüfung des<br />
BVerfG auf die generelle Gewährleistung eines gewissen Mindeststandards<br />
der Grundrechte beschränkt. Im Ergebnis können bei einer gerichtlichen<br />
Kontrolle der Genehmigungsentscheidung nach der Dual-use-VO zunächst<br />
nur im Gemeinschaftsrecht anerkannten Grundrechtestandards geprüft werden.<br />
Allenfalls eine evidente Missachtung der nationalen Verfassung könnte<br />
beim BVerfG geprüft werden235 . In Zusammenhang mit der Freiheit des Außenwirtschaftsverkehrs<br />
und ihr zu Grunde liegenden Verfassungsrechtsgütern236<br />
stellt sich deshalb die Frage vergleichbarer Maßstäbe aus gemeinschaftsrechtlicher<br />
Sicht.<br />
Der Grundsatz des § 1 AWG findet sich ebenso im Rahmen der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
nach Art. 1 EG-VO 1969 wieder, auf die sich der EuGH bei<br />
seinen Entscheidungen regelmäßig bezieht und die ein einklagbares Recht<br />
gewährleistet237 . Zu den dahinter stehenden, auch auf EU-Ebene anerkann-<br />
231 Z.B. EuGH, Rs. 67/84, Sideradria/Kommission, Slg. 1985, 3983; EuG, Rs. T-551/93,<br />
Industrias Pesqueras Campos, Slg. 1996, II-247<br />
232 Vgl. EuGH, Rs. O´Dwyer u.a./Rat, Slg. 1995, II-2075, 2097; Rs. C-22/94, Irish Farmers<br />
Association, Slg. 1997, I-1812, 1839<br />
233 Dazu BVerfGE 37, 271, 280 ff – Solange I<br />
234 Grundlegend: BVerfGE 89, 155, 174 ff. - Maastrichturteil<br />
235 Hohmann (FN 89), S. 421<br />
236 Vgl. dazu Teil 1 I.5.b)aa)<br />
237 Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3), E 16 Rn 18 f. , s.a. EuGHE - Werner und Leifer<br />
(Fn 27)<br />
70
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
ten individualschützenden Grundrechten gehören die Eigentumsgarantie und<br />
die Berufsfreiheit 238 . <strong>Die</strong> Außenwirtschaftsfreiheit sei vor allem Bestandteil<br />
des Gemeinschaftsgrundrechts der Berufsfreiheit 239 , die das Recht umfasse,<br />
grundsätzlich alle Waren in Drittstaaten zu verbringen und mit drittländischen<br />
Unternehmen Handel zu treiben 240 , was aus Art. 11 der EG-Ausfuhr-<br />
VO hervorgeht, der auf eine tendenzielle Gleichbehandlung von Außenhandel<br />
und Binnenhandel zielt 241 . Auch zu berücksichtigen ist der Grundsatz der<br />
Gleichbehandlung. Hier sollen vergleichbare Sachverhalte nicht ohne sachlichen<br />
Grund unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich<br />
behandelt werden. Einen ausdrücklichen Gleichbehandlungsgrundsatz, wie<br />
er in Art. 3 GG statuiert ist, kennt das Gemeinschaftsrecht nicht. <strong>Die</strong> im EG-<br />
Vertrag verankerten Diskriminierungsverbote sind Ausprägung des Rechtsprinzips.<br />
Es betrifft alle Bereiche des Verwaltungshandelns und führt vor allem<br />
zu einer Selbstbindung der Verwaltung 242 . Auf die einzelnen Grundrechtsgewährleistungen<br />
und ihre Schranken wird bei den Ausführungen zu<br />
gerichtlichen Prüfungsmaßstäben für legislatives und administratives Handeln<br />
eingegangen.<br />
c) Ergebnis<br />
<strong>Die</strong> im Gemeinschaftsrecht geltenden Verfahrensprinzipien und Grundrechtsgewährleistungen<br />
decken sich weitgehend mit den nationalen Vorgaben.<br />
Sie alle müssen bei der gerichtlichen Prüfung legislativer und administrativer<br />
Maßnahmen auf gemeinschaftsrechtlicher Grundlage berücksichtigt<br />
werden.<br />
4. Vollzug des Gemeinschaftsrechts<br />
a) Anwendungsvorrang und Rechtsangleichung<br />
Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts steht in Verantwortung der Verwaltung<br />
der EU oder der Verwaltungen ihrer Mitgliedstaaten. <strong>Die</strong> jeweils zuständigen<br />
Behörden müssen das geltende Recht anwenden243 . Es wird zwischen<br />
238 Zur Reichweite der Außenwirtschaftsfreiheit und einschlägiger EuGH-Rechtspr. Epping<br />
(Fn 28), S. 575 ff.<br />
239 So u.a. Hohmann (FN 89), zu § 1 AWG Teil 3, Rn 6<br />
240 Ehlers/Pünder, in: Grabitz/Hilf (FN 3), E 15, 3. Teil Rn 27<br />
241 Hohmann (FN 89), S. 468<br />
242 Dazu statt aller Schwarze (FN 198), Einf. S. LXX (vgl. FN 216), zur objektiven<br />
Rechtfertigung der Differenzierung EuGH und Rs 250/83-Finsider, Slg. 1985, S. 131<br />
Rn 5<br />
243 Vgl. Teil 1 III.2.<br />
71
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
dem direkten Vollzug durch Behörden der EU selbst oder aber dem indirekten<br />
Vollzug durch die mitgliedstaatliche Behörde unterschieden244 . Der direkte<br />
Vollzug von Gemeinschaftsrecht betrifft die eigene Verwaltungstätigkeit<br />
der Gemeinschaftsorgane. <strong>Die</strong>ser Bereich spielt im Exportkontrollrecht<br />
keine Rolle, weil in diesem Rahmen keine EG-Behörden zuständig sind. Der<br />
indirekte Vollzug von Gemeinschaftsrecht betrifft die Anwendung des Gemeinschaftsrechts<br />
durch die mitgliedstaatliche Verwaltung. <strong>Die</strong>se Vollzugsart<br />
stellt den Regelfall dar und prägt auch das Exportkontrollrecht. Beim indirekten<br />
Vollzug werden der unmittelbar und mittelbar indirekte Vollzug unterschieden,<br />
was von der Rechtsnatur des angewendeten Rechts abhängt.<br />
Unmittelbar ist die Anwendung von Gemeinschaftsrecht, mittelbar dagegen<br />
die Anwendung von nationalen Durchführungsbestimmungen mit Bezug<br />
zum EG-Recht245 .<br />
Für den mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts maßgeblich ist<br />
zunächst das Rangverhältnis zwischen den beiden Rechtskreisen und dem<br />
damit einhergehenden Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf das nationale<br />
Recht. Es stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Anwendung der<br />
sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Verfahrensgrundsätze auf die<br />
nationalen Regelungen und schließlich auch auf die konkrete Verwaltungsentscheidung<br />
haben. Soweit die nationale Behörde Gemeinschaftsrecht anwendet,<br />
kommt es zu einem Spannungsverhältnis gegenüber dem nationalen<br />
Recht.<br />
Wenn vergleichbare Regelungen auf EG- und nationaler Ebene zum gleichen<br />
Sachverhalt kollidieren, wird dies als direkte Kollision bezeichnet.<br />
Wenn es zu inhaltlichen Widersprüchen nicht unmittelbar vergleichbarer<br />
Regelungen in unterschiedlichen Kompetenzbereichen, also Wertungswidersprüchen,<br />
kommt, spricht man von einer indirekten Kollision246 .<br />
aa) Auflösung der direkten Kollision<br />
<strong>Die</strong> Lösung der direkten Kollision erfolgt nach dem Prinzip vom Anwendungsvorrang.<br />
<strong>Die</strong>ses Prinzip ist zwischenzeitlich unumstritten247 . In der<br />
praktischen Rechtsanwendung führt der Anwendungsvorrang dazu, dass sich<br />
244 Vgl. z.B. Ehlers, DVBl. 991, S. 605, 609 f. , Erichsen/Ehlers, Kommentar zum<br />
VwVfG, § 3 Rn 50 ff.<br />
245 So z.B. Knack (FN 178), vor § 1 Rn 23 f.<br />
246 Vgl. Kadelbach (FN 194), S. 260, Blanke, Vertrauensschutz im deutschen und europäischen<br />
Verwaltungsrecht, S. 447<br />
247 Vgl. nur EuGH Rs 6/64 - Costa/ENEL, Slg. 1964, 1251 ff., Rs 106/77 - Sinnenthal II,<br />
Slg. 1978, 626 ff., BVerfGE 85, 191 ff., Jarass, NJW 1990, S. 2420 ff., s.a. Ehrlich<br />
(FN 62), S. 24, differenzierter: v. Danwitz (FN 197), S. 115, 159<br />
72
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
das Gemeinschaftsrecht gegenüber nationalem Recht durchsetzt. <strong>Die</strong> Nichtigkeit<br />
der mitgliedstaatlichen Vorschrift hat dies allerdings nicht zur Folge248<br />
. Der Rückgriff auf nationales Recht ist im Ausnahmefall für im Gemeinschaftsrecht<br />
nicht geregelte Bereiche verwehrt, wenn das EG-Recht eine<br />
abschließende Regelung enthält. <strong>Die</strong>ses ist durch Auslegung zu ermitteln.<br />
Für die Reichweite des Vorrangprinzips müssen die Gerichte die Rangfolge<br />
nationaler Verfassungsprinzipien und die eigene Prüfungskompetenz beachten249<br />
. Grundsätzlich gilt zwar die Vorrangwirkung aller gemeinschaftsrechtlichen<br />
Regelungen. Das BVerfG hat wegen der im Zustimmungsgesetz zu<br />
den Gründungsverträgen auf den EuGH erfolgten Übertragung keine eigene<br />
Verwerfungsbefugnis hinsichtlich gemeinschaftsrechtswidriger EG-<br />
Regelungen250 . Dennoch spricht es von einem Kooperationsverhältnis mit<br />
dem EuGH. Das BVerfG will den allgemeinen Grundrechtsschutz nur in den<br />
Fällen prüfen und gewährleisten, in denen EU-Kompetenzen überschritten<br />
oder Grundrechte im Kern nicht mehr gewährleistet würden251 . <strong>Die</strong>se Fälle<br />
seien von dem o.g. Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt. Hier endet<br />
demnach die Vorrangwirkung. Das Vorrangprinzip erstreckt sich also auf<br />
zweierlei, die verfahrensmäßige Autonomie der Mitgliedstaaten unter Anwendung<br />
des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts sowie die Verfassungsgewährleistungen.<br />
In beiden Ebenen haben gemeinschaftsrechtliche<br />
Prinzipien Vorrang. <strong>Die</strong>s setzt die unmittelbare Anwendbarkeit des einschlägigen<br />
Gemeinschaftsrechts ohne weiteren Umsetzungsakt voraus. <strong>Die</strong>se<br />
Bindungswirkung führt dazu, dass sich die EG-Regelung im konkreten Einzelfall<br />
gegenüber entgegenstehenden nationalen Vorschriften durchsetzt. Es<br />
handelt sich um eine unmittelbare Anwendung gem. Art. 249 EG-Dual-use-<br />
VO. Unmittelbar anwendbar sind aber nicht nur primärrechtliche Vorschriften<br />
des EG-Vertrages, sondern auch daraus abgeleitete Rechtsgrundsätze.<br />
Der Grundsatz der Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG ist in dem Fall<br />
deaktiviert252 . <strong>Die</strong> Gemeinschaftsregelungen können also gegenüber dem nationalen<br />
Recht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.<br />
248 So das BVerfG in BVerfGE 75, 223 ff.; zum Anwendungsvorrang in Abgrenzung der<br />
Nichtigkeit: Stern, Staatsrecht, Bd. I, § 15 III ; BVerfGE 75, 223 ff.; Zuleeg, Das<br />
Recht der Europäischen Gemeinschaft im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 136 ff.;<br />
249 Blanke (FN 246), S. 448<br />
250 Kadelbach (FN 194), 214, 226<br />
251 Vgl. BVerfGE 89, S.156, LS7, 175 - Maastricht (wie FN 231)<br />
252 Fengler (FN 192), S.7<br />
73
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
bb) Auflösung der indirekten Kollision<br />
Der Fall der indirekten Kollision ist dann gegeben, wenn eine Norm des nationalen<br />
Verwaltungsrechts der Wirkung einer gemeinschaftsrechtlichen<br />
Vorschrift in anderem Regelungszusammenhang entgegensteht253 . Gleiches<br />
gilt für einen Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts.<br />
Zur Frage der Lösung eines solchen Kollisionsfalls ist die EU-<br />
Rechtsprechung, insbesondere die Milchkontor-Entscheidung des EuGH<br />
von Bedeutung. Zwar unterscheidet der EuGH nicht ausdrücklich zwischen<br />
direkter und indirekter Kollision. In Bestätigung seiner ständigen Rechtsprechung<br />
zur Legitimation eines Gemeinschaftsverwaltungsrechts stellt er den<br />
Grundsatz auf, dass die Mitgliedstaaten nicht die Verwirklichung des europäischen<br />
Rechts praktisch unmöglich machen oder diese wesentlich erschweren<br />
dürften254 . Zudem müsse auch das Interesse der Gemeinschaft in<br />
vollem Umfang berücksichtigt werden255 . Beide Aussagen werden durch das<br />
Effektivitätsprinzip und die Gemeinschaftstreuepflicht nach Art. 10 EG verkörpert.<br />
Hinzu kommt das Diskriminierungsverbot nach Art. 12 EG, welches<br />
durch das Effektivitätsprinzip abgedeckt ist, dass dem Vertragsziel der<br />
Schaffung gleichwertiger Wettbewerbsbedingungen dient. Das nationale<br />
Verfahrensrecht ist somit einer doppelten Schranke unterworfen256 . Der deshalb<br />
als Doppelschranken-Rechtsprechung bekannte Maßstab war vor allem<br />
im Zusammenhang mit der Rückforderung von gemeinschaftswidrig bewilligten<br />
Beihilfen entwickelt worden257 . In diesen Fällen kam es mit Blick auf<br />
die Rücknahme bereits gewährter Beihilfen zu einer indirekten Kollision<br />
zwischen dem Effektivitätsprinzip und den nationalen Verfahrensnormen zur<br />
Ausführung des Normbefehls, die ergänzend zum Gemeinschaftsrecht herangezogen<br />
werden sollten258 . In der Praxis macht sich der gemeinschaftsrechtliche<br />
Einfluss auf die nationalen Verfahrensordnungen hin zu bestimmten<br />
Konvergenzen nicht nur bei der Rücknahme von Verwaltungsakten, sondern<br />
vor allem auch bei den Vorschriften zu Begründungserfordernissen<br />
bemerkbar.<br />
253 Vgl. Kadelbach und Blanke unter FN 246<br />
254 Grundlegend EuGH , Rs 265/78, Slg. 1980, S. 617, 629 ff.; EuGH verb. Rs. 205 -<br />
215/82 - Milchkontor, Slg. 1983, 2633 ff., dazu mit sehr ausführlicher Darstellung:<br />
Ehrlich (Fn 62), S. 25 ff.<br />
255 Vgl. EuGH Rs. 94/87, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 175, 192<br />
256 Knack (FN 178), vor § 1 Rn 24, 29<br />
257 Zur Herleitung: v. Danwitz (FN 197), sowie zu den Rechtsprechungsgründen; im<br />
Einzelnen: Ehrlich (FN 62) , S. 35 und Fengler (FN 192), S. 127 ff.<br />
258 Zur Gesamtabwägung der Interessen durch den EuGH und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit:<br />
Ehrlich (FN 62), S. 30<br />
74
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
<strong>Die</strong> Konfliktbereinigung bei indirekter Kollision erfolgt durch eine Angleichung<br />
der nationalen Vorschriften mittels Auslegung im Lichte des Gemeinschaftsrechts.<br />
<strong>Die</strong> Vollzugsautonomie der Mitgliedsaaten ist insoweit begrenzt.<br />
Hinter der Schrankenfunktion des EG-Rechts stehen die Gedanken<br />
der Gleichheit vor dem Recht, der Rechtssicherheit und der Zweckgerichtetheit<br />
von Gemeinschaftsrecht259 . <strong>Die</strong>ser Angleichungsmechanismus dient<br />
auch dem Ziel vergleichbarer Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt. Es<br />
lässt sich bei Vergleich und Abwägung europäischer und nationaler Grundsätze<br />
prinzipiell feststellen, dass eine Betrachtung des Verwaltungsbezuges<br />
als Ganzes erforderlich ist260 . <strong>Die</strong> Rechtsangleichung erfolgt mittels Abwägung<br />
zwischen den nationalen Regelungen und den Gemeinschaftsinteressen.<br />
Neben dem Effektivitätsprinzip sind die genannten gemeinschaftsrechtliche<br />
Grundsätze wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, Rechtssicherheit<br />
und Vertrauensschutz, aber auch die Grundrechte in die Abwägung einzustellen.<br />
Unantastbar durch das Gemeinschaftsrecht bleiben die durch Art. 79<br />
Abs. 3 GG geschützten Verfassungswerte. Zwischen den gemeinschaftsrechtlichen<br />
und nationalen Rechtsgrundsätzen soll im Rahmen der Abwägung<br />
ein Ausgleich erzielt werden, wobei nach den Grundsätzen der praktischen<br />
Konkordanz jedem Prinzip möglichst weitgehend Geltung zu verschaffen<br />
ist. <strong>Die</strong> Grenze bildet wiederum die Ewigkeitsgarantie nach Art. 79<br />
Abs. 3 GG261 . Hierbei sind das Spannungsfeld von den Zielen der Verfahrensvereinheitlichung,<br />
den nationalen Prägungen im Verhältnis von Verwaltungsfunktion<br />
sowie Parlaments- und Rechtsprechungsfunktion und bereichsspezifische<br />
Sonderregelungen zu berücksichtigen. Auch ein Regulierungsvakuum<br />
spricht für gesetzgeberisch gewollte Handlungs- und Verfahrensspielräume,<br />
was mit Blick auf den schlanken Staat in der Wirtschaftsverwaltung<br />
vieler Mitgliedstaaten eine Rolle spielt. Dem steht regelmäßig<br />
eine höhere Kontrollbefugnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit gegenüber<br />
(Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes) 262 .<br />
Zusammenfassend lassen sich für die Auflösung indirekter Kollisionen in<br />
der praktischen Rechtsanwendung folgende Aussagen treffen263 :<br />
259 Kadelbach (FN 194), S. 115 f.<br />
260 Hierzu Schwarze (FN 198),S. 805 ff.<br />
261 Zu Literaturmeinungen und eingehender dogmatischer Betrachtung: Ehrlich (FN 62),<br />
S. 30 ff.<br />
262 Koch (FN 101), S. 546 und 547<br />
263 Ehrlich (FN 62), S. 53<br />
75
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
(1) Ist eine gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschrift vorhanden, genießt<br />
diese Anwendungsvorrang, wenn sie innerhalb von der EG zustehenden<br />
Gesetzgebungskompetenzen erlassen wurde.<br />
(2) Danach gehen sämtliche Normen des Gemeinschaftsrechts, sofern sie<br />
unmittelbar anwendbar sind, mitgliedstaatlichen Vorschriften vor.<br />
(3) Wenn und soweit das Gemeinschaftsrecht keine Verfahrensregelung<br />
enthält, kommt entsprechend der Vermutung zu Gunsten der nationalen<br />
Verfahrensautonomie mitgliedstaatliches Verwaltungsverfahrensrecht<br />
zur Anwendung.<br />
cc) Ergebnis<br />
Es bleibt festzustellen, dass der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten<br />
durch das Vorrangprinzip Grenzen gesetzt sind. Der Umgang<br />
mit indirekten Kollisionsfällen, wie er z.B. in der gesicherten Rechtsprechung<br />
zur Korrektur fehlerhaften mitgliedstaatlichen Vollzugs gemeinschaftsrechtlicher<br />
Vorschriften aufgezeigt wird264 , muss vor allem das gemeinschaftliche<br />
Effektivitätsprinzip sowie das Diskriminierungsverbot berücksichtigen.<br />
<strong>Die</strong> unter Anwendung mitgliedstaatlichen Verwaltungsverfahrensrechts<br />
gefundenen Ergebnisse sind also im Einzelfall daraufhin zu überprüfen,<br />
ob sie den gemeinschaftsrechtlich intendierten Wertentscheidungen<br />
oder Rechtsgrundsätzen entgegenstehen. Soweit dies nicht der Fall ist,<br />
kommt mitgliedstaatliches Verwaltungsverfahrensrecht ohne Einflussnahme<br />
von Gemeinschaftsrecht zur Anwendung. Soweit aber im Einzelfall eine indirekte<br />
Kollision besteht, ist die Lösung durch eine Abwägung zu suchen.<br />
Auf die entsprechenden verwaltungsrechtlichen Wirkungen soll am Beispiel<br />
der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>serteilung näher eingegangen werden.<br />
b) Anwendungsvorrang und Exportkontrolle<br />
Exportkontrollen werden durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen vollzogen.<br />
In Deutschland ist das BAFA zuständig. Das gilt für das nationale<br />
Exportkontrollrecht sowie für die Kontrollen nach der Dual-use-VO265 . <strong>Die</strong><br />
Dual-use-VO ist nach Art. 249 EG unmittelbar anwendbar. Es handelt sich<br />
um eine Form des unmittelbar indirekten Vollzugs von Gemeinschaftsrecht,<br />
es kommt daher zur direkten Kollision der Regelungsbereiche. Bezogen auf<br />
das Exportkontrollrecht genießt die Dual-use-VO daher gegenüber dem<br />
AWG bzw. der AWV Anwendungsvorrang, soweit ihr Anwendungsbereich<br />
reicht.<br />
264 Dazu ausführlich Blanke (FN 246), S. 450 ff.<br />
265 Hierzu Weith/Wegner/Ehrlich, (FN 9), F. Rn 5<br />
76
III. Gemeinschaftsverwaltungsrecht und Einfluss auf die nationale Gesetzgebung<br />
Nach Art. 1 Dual-use-VO werden nur solche Güter erfasst, die sowohl zivilen<br />
als auch militärischen Verwendungen zugeführt werden können, also<br />
Dual-use-Güter. Nur im Rahmen dieser Genehmigungstatbestände wird ein<br />
Gemeinschaftssystem festgelegt. Nicht dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts<br />
unterfallen Waffen, Munition und sonstige Rüstungsgüter<br />
sowie die Erbringung von <strong>Die</strong>nstleistungen und die persönliche Weitergabe<br />
von Technologie im Rahmen technischer Unterstützung, was klarstellend in<br />
Art. 3 Abs. 3 Dual-use-VO erwähnt wird. <strong>Die</strong>se Transfers unterliegen der<br />
nationalen Exportkontrolle. Gleiches gilt für die Durchfuhr von Gütern<br />
durch das Gebiet der Gemeinschaft nach Art. 3 Abs. 4 Dual-use-VO.<br />
Aus <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Sicht sind alle im Bereich der Dual-use-VO<br />
getroffenen Regelungen sowie übergeordnete gemeinschaftsverwaltungsrechtliche<br />
Prinzipien von der Genehmigungsbehörde vorrangig zu beachten.<br />
<strong>Die</strong>s geschieht ohne Rücksicht auf entgegenstehende nationale Regelungen.<br />
<strong>Die</strong> Anwendung des nationalen Rechts ist zunächst ausgeschlossen. <strong>Die</strong>s gilt<br />
nicht nur für materiell-rechtliche Regelungen, sondern auch für Vorgaben<br />
zum Verwaltungsverfahren. Zwar wurde in der Exportkontrollliteratur häufig<br />
von der Anwendbarkeit des nationalen Verfahrensrechts auch im Rahmen<br />
der Dual-use-VO ausgegangen266 . <strong>Die</strong>se These widerspricht aber dem Vorrangprinzip<br />
beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht und kann deshalb nicht<br />
aufrechterhalten werden267 . Wegen unterschiedlicher Regelungsbereiche im<br />
materiellen Recht der Exportkontrolle besteht eine Zweigleisigkeit des<br />
Rechts. <strong>Die</strong> Vorgaben der Dual-use-VO sowie die nationalen Vorschriften<br />
des AWG stehen nebeneinander. Bezogen auf die Erteilung oder Versagung<br />
einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> muss die Entscheidung entweder nach Art. 9<br />
Abs. 1 Dual-use-VO erfolgen oder aber gem. § 3 Abs. 1 AWG. An dieser<br />
Stelle nochmals der Hinweis, dass § 3 Abs. 1 AWG nicht nur als Grundlage<br />
für konstitutiv wirkende Genehmigungspflichten bezüglich der Rüstungsgüter,<br />
sondern auch für die rein nationalen Genehmigungsvorbehalte bei Dualuse-Gütern<br />
gilt.<br />
<strong>Die</strong> verfahrensrechtlichen Erwägungen müssen damit nach gemeinschaftsverwaltungsrechtlichen<br />
Grundsätzen oder ausschließlich nach nationalen<br />
Gesichtspunkten erfolgen. Das Vorrangprinzip kann aber nur soweit greifen,<br />
266 Reuter, NJW 95, 2190, 2191; Reuter (FN 4) S. 291; Karpenstein/Sack, in: Hohmann/John<br />
(FN 26) Teil 2, Einl.,Rn 26 und Art. 8 Rn 3<br />
267 Vgl. Wolffgang, DVBl.1996, 277, 284, bestätigt durch Ehrlich, mit sehr ausführlicher<br />
Betrachtung (Fn 62) S. 78 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (FN 3) Bd. IV, E 16, Art.<br />
1, Rn 20, 23; Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7) Art. 6 Dual-use-VO, Rn 13<br />
ff.<br />
77
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
wie die Dual-use-VO zum Verwaltungsverfahren selbst Regelungen trifft.<br />
Allein in diesem Fall kann das Prinzip vom Anwendungsvorrang dem nationalen<br />
Verwaltungsrecht vorgehen268 .<br />
Für den Fall, dass im Gemeinschaftsrecht eine bestimmte Verfahrensvorschrift<br />
nicht vorgesehen ist, stellt sich die Frage, in welchem Umfang das<br />
nationale Verwaltungsverfahrensrecht beim Vollzug gemeinschaftsrechtlicher<br />
Vorschriften dennoch zur Anwendung kommen kann. <strong>Die</strong> Dual-use-VO<br />
enthält nur vereinzelt verfahrensrechtliche Vorschriften. <strong>Die</strong>s gilt z.B. für<br />
spezifische Regelungen zu Erlass, Rücknahme und Widerruf von Verwaltungsakten<br />
sowie Nebenbestimmungen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
und die Ausübung verwaltungsrechtlichen Ermessens269 . Ein zusätzlicher<br />
Rückgriff auf die nationalen Vorschriften ist deshalb erforderlich und<br />
möglich. Das für alle Genehmigungsverfahren zuständige BAFA muss also<br />
im Rahmen des Vollzugs europäischer Vorgaben auch das Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
berücksichtigen.<br />
Bezogen auf die Anwendung des nationalen allgemeinen Verfahrensrechts<br />
erfolgt ein mittelbarer Vollzug. Damit kann es im Bereich des Verwaltungsverfahrensrechts<br />
kaum zu so genannten direkten Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht<br />
und nationalem Recht kommen. Es kann insoweit aber<br />
sehr wohl zur so genannten indirekten Kollisionen zwischen Gemeinschaftsrecht<br />
und nationalem Recht kommen. Dabei handelt es sich genau genommen<br />
nicht um eine echte Kollision, so dass auch das Gebot des Anwendungsvorrangs<br />
zunächst versagen muss. Allerdings werden gemeinschaftsrechtliche<br />
Prinzipien von ihnen entgegenstehenden nationalen Vorschriften<br />
überlagert und damit faktisch an ihrer Geltung gehindert270 . <strong>Die</strong>se wurde<br />
oben mit dem Prinzip der Angleichung beschrieben.<br />
Es stellt sich die Frage, wie mit Fällen zu verfahren ist, bei denen die beabsichtigte<br />
Ausfuhr dem nationalen Recht unterliegt, das auf der Grundlage einer<br />
gemeinschaftsrechtlichen Öffnungsklausel erlassen wurde. Wenngleich<br />
hier das Gemeinschaftsrecht den Mitgliedstaaten einen Handlungsrahmen<br />
eröffnet, ergeben sich die Regelungsanordnungen ausschließlich aus nationalen<br />
Genehmigungstatbeständen. So ist auch das nationale Verwaltungsver-<br />
268 Wolffgang, in: Bieneck (FN 4), § 4 Rn 55<br />
269 Dazu Simonsen, in:Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd. 1, 122, Art.6 Dual-use-VO, Rn<br />
15 sowie Haddex, Bd.1, Teil 6 Rn 313<br />
270 Fengler (FN 192), S. 127<br />
78
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1<br />
fahrensrecht anwendbar 271 . Das Gemeinschaftsrecht enthält lediglich die<br />
Kompetenzzuweisung, die dann vom nationalen Normgeber ausgefüllt wird.<br />
Jede andere Beurteilung führte dazu, dass dem nationalen Gesetzgeber die<br />
Befugnis verliehen wird, Gemeinschaftsrecht zu setzen. Im Übrigen besteht<br />
bei rein nationalen Regelungen nicht der Bedarf einer EU-weit einheitlichen<br />
Handhabung. Daraus folgt, dass nur die rein formale Betrachtung nach der<br />
Herkunft des Normgebers der anzuwendenden Vorschrift eine sachgerechte<br />
Zuordnung erlaubt. <strong>Die</strong> Rechtsauffassung, dass nationales Verfahrensrecht<br />
im Bereich der Dual-use-VO noch uneingeschränkt anwendbar ist, ist damit<br />
widerlegt 272 . <strong>Die</strong> Europäisierung des Verwaltungsrechts führe in der Konsequenz<br />
zu einer Spaltung des öffentlichen Rechts in einen in Annäherung an<br />
das Gemeinschaftsrecht mutierten und von derartigen Einflüssen freien<br />
Teil 273 .<br />
c) Ergebnis<br />
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Anwendung der Dual-use-<br />
VO Vorrangwirkung gegenüber der nationalen Dual-use-Güter-Kontrolle<br />
hat. Das Gemeinschaftsrecht und seine Auswirkung speziell auf das nationale<br />
Verfahrensrecht müssen deshalb berücksichtigt werden. Es kommt zu einer<br />
Zweigleisigkeit des Rechts. <strong>Die</strong> Verfahrensregelungen sind typisch für<br />
die Fälle indirekter Kollisionen, also diejenigen Regelungsmaterien, bei denen<br />
im Gemeinschaftsrecht keine hinreichenden Regelungen zum Verfahrensrecht,<br />
aber vorrangig wirkende übergeordnete Wertungen vorhanden<br />
sind. Insoweit müssen nationale Vorschriften zwar ergänzend, aber wegen<br />
der Vorrangwirkung im Lichte des Gemeinschaftsrechts angewendet werden.<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 1<br />
<strong>Die</strong> Rechtsgrundlagen für Exportkontrollen finden sich im nationalen wie<br />
gemeinschaftsrechtlichen Regelungskreis. Das nationale Verwaltungsrecht<br />
wird durch das Gemeinschaftsverwaltungsrecht und damit einhergehende<br />
Prinzipien überlagert. Das Prinzip von Anwendungsvorrang führt bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Verfahren auf Grundlage der Dual-use-VO zu einer<br />
271 Karpenstein/Hohmann, in Hohmann/John (FN 26), Teil 2, Art. 8, Rn 3; a.A.<br />
Wolffgang, DVBl. 1996, S. 277, 284, der allenfalls eine Rückgriff auf nationale Vorschriften<br />
sieht; s.a.Lux, in: Dorsch, Kommentar Zollrecht, F II 14 Art. 8 Anm. 1<br />
272 Ehrlich (FN 62), S.141 (vgl. auch FN 266)<br />
273 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 79 unter Hinweis auf Kadelbach<br />
(FN 194), S. 14<br />
79
Teil 1: Zweigleisiges Verwaltungshandeln bei Exportkontrollen<br />
nachgeordneten Anwendbarkeit des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts.<br />
<strong>Die</strong>s gilt aber nur, soweit im Gemeinschaftsrecht noch keine Regelung<br />
getroffen wurde. Im Übrigen muss vor allem wegen des gemeinschaftsrechtlichen<br />
Effektivitätsgebotes und des Diskriminierungsverbotes eine Anwendung<br />
der nationalen Vorschriften im Lichte gemeinschaftsrechtlicher<br />
Prinzipien erfolgen. Dabei sind bei nationalen und gemeinschaftsrechtlichen<br />
Tatbeständen wesentliche Verfassungsgrundsätze, insbesondere deren Ausflüsse<br />
des Rechtsstaatsprinzips und die Grundrechte zu berücksichtigen.<br />
Für das Verwaltungsverfahren bei der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungserteilung<br />
ist wegen der (wenn auch lückenhaften) Verfahrensvorschriften<br />
in der Dual-use-VO eine praktische Relevanz des Anwendungsvorrangs<br />
gemeinschaftsverwaltungsrechtlicher Grundsätze gegeben. <strong>Die</strong> Zuordnung<br />
des im Einzelfall geltenden Verwaltungsverfahrensrechts erfolgt nach dem<br />
jeweils eröffneten Rechtskreis. Ob es dabei zu inhaltlich relevanten Divergenzen<br />
kommt, ist Gegenstand des folgenden Untersuchungsabschnitts.<br />
80
I. Standortbestimmung<br />
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung<br />
und gerichtliche Überprüfung<br />
Nach dem sich die Untersuchung zunächst der Frage gewidmet hat, welche<br />
gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben bzw. Verfahrensvorschriften auf EU-<br />
Ebene für die <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungsverfahren von Relevanz<br />
sind und wie sich diese auf die Anwendung nationaler Verfahrensvorschriften<br />
auswirken, sollen die damit verbundenen Folgen für den Umgang<br />
mit Entscheidungsspielräumen der Verwaltung herausgearbeitet werden.<br />
I. Standortbestimmung<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungsentscheidung muss sich nach den gesetzlichen Genehmigungskriterien<br />
richten. In der Dual-use-VO bzw. im AWG vorgesehene Kriterien,<br />
sonstige entscheidungsleitende Erwägungen und übergeordnete Verfassungsprinzipien<br />
sind Maßstab für die konkrete Entscheidung im Einzelfall.<br />
<strong>Die</strong> Reichweite der gerichtlichen Kontrolle hängt vom Entscheidungsspielraum<br />
der Verwaltung ab. Dabei sind auch die Grundrechtspositionen<br />
der vom Genehmigungsverfahren Betroffenen zu berücksichtigen.<br />
Es geht hier, wie schon zuvor deutlich wurde, um möglicherweise unterschiedliche<br />
Vorgaben aus dem gemeinschaftsrechtlichen und nationalen<br />
Rechtskreis. Der dogmatische Hintergrund der jeweils einschlägigen Verfahrensgrundsätze<br />
274 und die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung sind zu<br />
berücksichtigen. Anhand des exportkontrollspezifischen Vergleichs der Ausübung<br />
verwaltungsrechtlichen Ermessens nach nationalen sowie gemeinschaftsrechtlichen<br />
Grundsätzen könnte sich schließlich zeigen, dass die<br />
Zweigleisigkeit des Rechts zu unterschiedlichen Kontrollmaßstäben der Gerichte<br />
führen kann. Zunächst stellt sich aber die grundsätzliche Frage, welcher<br />
Normcharakter der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung zuzubilligen<br />
ist. <strong>Die</strong> Abgrenzung von Ermessens- oder Anspruchsnorm mag den deutschen<br />
Verwaltungsjuristen präsent sein. Rechtstradition und Systemansätze<br />
des Gemeinschaftsrechts unterscheiden sich vom nationalen Recht allerdings<br />
erheblich. Ob sich in beiden Rechtskreisen geltende Prinzipien zur gerichtlichen<br />
Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen miteinander vereinbaren<br />
lassen, wird anhand der konkreten Betrachtung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände<br />
erörtert. In der praktischen Rechtsanwendung der Export-<br />
274 Zur Entwicklung und dem verfassungsrechtlichen Kontext des VwVfG vgl. Teil 1<br />
III.1.b)<br />
81
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
kontrollen führen strukturelle Unterschiede der Genehmigungspflichten<br />
nach AWG und Dual-use-VO unter Umständen zu Konsequenzen für die gerichtliche<br />
Kontrolle der Genehmigungsentscheidungen. Hierbei ist auch das<br />
Prognoseelement der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> wichtig.<br />
Zunächst werden Ermessensfehlerlehre und nationale Grundsätze zu Beurteilungsspielräumen<br />
der Gemeinschaftsrechtsentwicklung gegenübergestellt.<br />
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der<br />
Verwaltung<br />
Bei der Betrachtung der Reichweite von Verwaltungsautonomie geht es regelmäßig<br />
um zwei Beziehungen, einmal um das Verhältnis von Legislative<br />
und Verwaltung, zum anderen um das von Verwaltung und Judikative. <strong>Die</strong><br />
Entscheidungsfreiheit der Verwaltung ist von der des Gesetzgebers abzugrenzen.<br />
<strong>Die</strong> Verfassung gibt dem Gesetzgeber deutlich weniger Vorgaben<br />
als der Verwaltung 275 . Im folgenden Abschnitt geht es allein um Fragen der<br />
Reichweite von Entscheidungsspielräumen der Verwaltung.<br />
1. Strukturelle Umsetzung der Verwaltungsautonomie<br />
Im strukturellen Ansatz verwaltungsrechtlicher Entscheidungsautonomie<br />
wird nach der deutschen Rechtstradition zwischen dem Umgang mit unbestimmten<br />
Rechtsbegriffen und dem Verwaltungsermessen unterschieden.<br />
Beide geben der Verwaltung ein gewisses Maß an eigener Gestaltungsfreiheit<br />
und bestimmen den verfassungsrechtlich zulässigen Maßstab der Gewaltenteilung<br />
zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. <strong>Die</strong> damit<br />
einhergehende Lockerung des Gesetzesvorbehalts sorgt für eine sinnvolle<br />
Funktionsverschränkung im Sinne der optimalen Aufgabenverteilung 276 . Ein<br />
Wertungsspielraum der Verwaltung ist für die Anerkennung eines gesetzlich<br />
vorgesehenen Sachverhalts im konkreten Einzelfall denkbar, wenn der Gesetzgeber<br />
unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet. Unter Anwendung der<br />
anerkannten Auslegungsmethoden ist die Verwaltung im Rahmen ihrer Beurteilungskompetenz<br />
zum Ausfüllen dieses Rechtsbegriffs befugt. Ein anderer<br />
Fall liegt vor, wenn sie trotz Erfüllung des Tatbestandes hinsichtlich des<br />
ob und des wie der Rechtsfolge zwischen verschiedenen Verhaltensweisen<br />
wählen soll. <strong>Die</strong>ser Handlungsbereich wird als Verwaltungsermessen qualifiziert.<br />
Welche Form des Entscheidungsspielraums gegeben ist, muss durch<br />
275 Schwarze (FN 198), S. 282<br />
276 Wolff (FN 174), S. 98, Rn 46<br />
82
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
Auslegung und Entstehung des gesetzgeberischen Willens ermittelt werden<br />
277 .<br />
Strittig ist, in welchem Ausmaß die Verwaltung bei der Ausfüllung und<br />
Konkretisierung gesetzlicher Vorgaben der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle<br />
unterworfen ist. Der dabei verwendete Begriff Kontrolldichte bezeichnet<br />
Umfang und Intensität der gerichtlichen Nachprüfung der verwaltungsbehördlichen<br />
Rechtsanwendung nach Maßgabe des materiellen Rechts 278 .<br />
<strong>Die</strong> Grenzziehung für die Kontrolle obliege der Legislative. Sie habe Leitungs-<br />
und Lenkungsfunktion und müsse Inhalt, Zweck und Ausmaß der Bestimmung<br />
festlegen. Nach der Wesentlichkeitstheorie gelte dies insbesondere<br />
bei grundrechtsrelevanten Eingriffsermächtigungen 279 . Das Behördenhandeln<br />
müsse deshalb trotz Ermessen für den Richter messbar sein, er solle<br />
nicht erst die Grundlage des Messens finden müssen 280 . <strong>Die</strong> angemessene<br />
Balance zwischen der Verantwortung von Exekutive und Legislative ist bis<br />
heute strittig und gehört zu den schwierigsten Grundsatzfragen des Verwaltungsrechts<br />
281 . Sie muss anhand der dahinter stehenden verfassungsrechtlichen<br />
Prinzipien erörtert werden.<br />
2. Verfassungsvorgaben und Verwaltungsautonomie<br />
a) Verfassungsvorgaben und Kontrolldichte<br />
<strong>Die</strong> Reichweite der Verwaltungskompetenzen wird durch Verfassungsvorgaben<br />
festgelegt. <strong>Die</strong> Reichweite der Gesetzesbindung von Verwaltung und<br />
Rechtsprechung gem. Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt sich nach dem Gesetzesvorbehalt<br />
gem. Art. 20 Abs. 1 GG sowie dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit<br />
nach Art. 20 Abs. 3 GG. Darüber hinaus müssen die aus dem Gewaltenteilungs-<br />
und Demokratieprinzip herausgebildeten Prinzipien des Parlamentsvorbehalts<br />
sowie der Bestimmtheitsgrundsatz beachtet werden. Das<br />
Verhalten bestimmter Rechtssubjekte wird regelmäßig durch eine abstraktgenerelle<br />
gesetzliche Regelung bestimmt, unter die sich einzelne Sachverhaltskonstellationen<br />
fassen lassen. <strong>Die</strong> Verwaltung vollzieht die bestehenden<br />
Gesetze als Recht anwendendes Organ. Sie ist nach Feststellung des Sachverhalts<br />
und seiner Einordnung unter den betreffenden Tatbestand grund-<br />
277 Schwarze (FN 198), S. 257<br />
278 Schmidt-Aßmann/Groß, NVwZ 1993, 617, 623 ff.<br />
279 Vgl. ständ. Rspr. am Beispiel BVerfGE 58, 257, 268<br />
280 Vgl. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 226; BVerwGE 39,355 f.<br />
281 So H.J.Wolff/ Bachof, Verwaltungsrecht, § 31 Gesetzgebundenheit und Verwaltungsspielräume<br />
83
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
sätzlich an die sich daraus ergebenden, konkreten Vorgaben zur Rechtsfolge<br />
gebunden. <strong>Die</strong> Verwaltung erfüllt damit ausschließlich den Gesetzesauftrag<br />
und unterliegt grundsätzlich einer umfassenden richterlichen Kontrolle. Sie<br />
ist allenfalls zur Rechtsauslegung und -anwendung anhand der klassischen<br />
Auslegungsmethoden befugt. Dazu gehören die Heranziehung von Wortlaut<br />
und Normzweck sowie historische Erwägungen 282 . <strong>Die</strong>se Maßstäbe überschneiden<br />
sich zum Teil, definieren aber die Grenzen der Interpretationsmöglichkeiten<br />
der Verwaltung bei der Rechtsanwendung. Hinzu kommt als<br />
Folge der Normenhierarchie die verfassungskonforme Auslegung, die Einbeziehung<br />
übergeordneter Rechtsprinzipien inklusive der individualschützenden<br />
Grundrechtsgarantien sowie die gemeinschaftskonforme Auslegung.<br />
<strong>Die</strong> genannten Rechtsprinzipien haben eine Doppelfunktion. Sie sind nicht<br />
nur Handlungsmaßstab für die Verwaltung, sondern setzen auch den Kontrollmaßstab<br />
für die Gerichte. Im Rahmen der verfassungsmäßig gewährten<br />
Rechtsweggarantie gem. Art. 19 Abs. 4 und Art. 97 Abs. 1 GG hat grundsätzlich<br />
eine vollständige rechtliche Überprüfung exekutiven Handelns<br />
durch die Judikative zu erfolgen. <strong>Die</strong>se Prinzipien sprechen deshalb zunächst<br />
gegen Entscheidungsspielräume der Verwaltung 283 .<br />
b) Struktur der Verwaltungsautonomie und Genehmigungsanspruch<br />
<strong>Die</strong> Verknüpfung von Tatbestand und Rechtsfolge kann sehr unterschiedlich<br />
strukturiert sein. Neben strikten Verbindungen, der so genannten gebundenen<br />
Verwaltung, soll der Gesetzgeber abweichend von o.g. Prinzipien der<br />
Verwaltung im Rahmen der Entscheidungsfindung in Ausnahmefällen eine<br />
eigene Einschätzungs- und Verantwortungskompetenz einräumen können.<br />
Hintergrund sind zunehmend komplexere Lebenssachverhalte. <strong>Die</strong>ser Vielgestaltigkeit<br />
wird der Staat oft nur unter Berücksichtigung der Umstände des<br />
Einzelfalls gerecht. Einzelfallgerechtigkeit kann der Gesetzgeber selbst aber<br />
nicht erreichen 284 . Der Bedarf einer selbstständigen Beurteilung gesetzlicher<br />
Vorgaben durch die Verwaltung steigt schon aus Gründen der dort vorhandenen<br />
Fachexpertise 285 . Gesetze werden in Abhängigkeit von der Rege-<br />
282 Grundlegend: Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 298 ff., zur verfassungskonformen<br />
Auslegung vgl. Dolzer/ Vogel/Graßhof, Bonner Kommentar zum GG,<br />
zu Art. 20 GG, S. 11; vgl. dazu auch Wolffgang, in: Wolffgang (FN 54), S. 38<br />
283 Dazu ausführlich: Wolff (FN 174), S. 93, Rn 32, s.a. H.A.Wolff/Decker, Kommentar<br />
zur VwGO und zum VwVfG, § 114 VwGO Rn 60, vgl. nur BVerfGE 15, 275, 282<br />
284 Stüwe, in: Wolffgang (FN 54), S. 424<br />
285 Simonsen, in: Ehlers/Wolfgang/Lechleitner (FN 128) S. 77, unter Verweis auf Müller/Christensen,<br />
Juristische Methodik, Rz. 470; BVerfGE in NJW 1991, 2001 sowie<br />
84
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
lungsmaterie unterschiedlich konkret formuliert oder ausgestaltet. <strong>Die</strong> vollziehende<br />
Behörde ist dann nicht zwingend zu einem bestimmten Handeln<br />
verpflichtet 286 . Ob und in welchem Maße Gesetze der Verwaltung einen Entscheidungs-<br />
und Gestaltungsspielraum einräumen und damit auch dem gerichtlichen<br />
Rechtsschutz einen nur beschränkten Umfang zubilligen dürfen,<br />
ist von einer zumindest angemessenen Berücksichtigung der eingangs geschilderten<br />
rechtsstaatlichen Grundsätze abhängig 287 .<br />
Bei der Bestimmung der Durchsetzbarkeit der Rechtspositionen des Begünstigten<br />
im Rahmen staatlicher Genehmigungsverfahren, also eines Genehmigungsanspruchs,<br />
müssen folgende Erwägungen berücksichtigt werden. <strong>Die</strong><br />
Grundrechte selbst vermitteln grundsätzlich keinen Anspruch auf bestimmte<br />
Verwaltungsentscheidungen. Es ist dem Gesetzgeber überlassen, in welcher<br />
Form er die Reichweite der Grundrechte, insbesondere auch in Beachtung<br />
gegenläufiger Interessen und der Grundrechtsschranken, in einfachgesetzlichen<br />
Regelungen implementieren will. Gesetzesvorbehalt und Grundrechtsgewährleistung<br />
legen einen Anspruch bzw. die Qualität einer gebundenen<br />
Entscheidung zwar nahe. Das ebenso verfassungsrechtlich legitime Ziel eines<br />
Ausgleichs der Vielzahl privater und öffentlicher Belange ist aber wegen<br />
der gegebenen Entscheidungsnähe und unter Umständen größeren Expertise<br />
manchmal nur durch die Verwaltung und ihren Entscheidungsspielraum umsetzbar.<br />
Daher sind Genehmigungsvorbehalte ausnahmsweise als planerische<br />
oder Ermessensentscheidung zulässig 288 . Soweit ein bestimmtes Handeln<br />
einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt unterworfen wird, also<br />
mit Genehmigungspflichten belegt wird, kann der Gesetzgeber dies aber<br />
auch ohne einen administrativen Spielraum ausgestalten 289 .<br />
c) Rechtsprechung des BVerfG<br />
Das BVerfG hat in zahlreichen Entscheidungen eine Systematik entwickelt,<br />
wann von einem verfassungsrechtlich legitimierten Entscheidungsspielraum<br />
der Verwaltung ausgegangen werden kann. Grundlegend dafür war u.a. die<br />
Devisenbewirtschaftungsentscheidung aus dem Jahre 1959 290 . Aus dem<br />
Rechtsstaatsprinzip könne abgeleitet werden, dass der Einzelne wissen<br />
Badura, Gestaltungsfreiheit und Beurteilungsspielraum der Verwaltung, in: Püttner,<br />
Festsschrift für Otto Bachoff, S. 169 ff.<br />
286 Mit Beispielen dazu Wolff (FN 174), S. 140<br />
287 Simonsen, in: Ehlers/Wolfgang/Lechleitner (FN 128), S. 77 unter Verweis auf Badura<br />
(FN 285), S. 169 ff.<br />
288 Calliess , Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 380<br />
289 V. Bogdandy (FN 4), S. 68<br />
290 Vgl. BVerfGE 9, 137, 149<br />
85
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
muss, inwieweit die Verwaltung in seinen Rechtskreis eingreifen darf. Ein<br />
genaues Umreißen des Tatbestandes sei aber nicht immer möglich. Damit<br />
werden im Grundsatz die Option eines Entschließungsermessens und die<br />
Nutzung unbestimmter Rechtsbegriffe anerkannt.<br />
In der Entscheidung zum Sammlungsgesetz 291 hat es zu den Anforderungen<br />
an ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt ausgeführt, Zweck einer<br />
solchen vorbeugenden Betrachtung sei die Wahrung der Gemeinwohlinteressen<br />
zu gewährleisten. <strong>Die</strong> Gefahr für Rechtsgüter Dritter müsse daher im<br />
Einzelfall geprüft werden. Ein Ermessen, ob diese bestehe, sei auch bei<br />
Grundrechtseingriffen nicht ausgeschlossen. Um den Eingriff zu rechtfertigen,<br />
müssten aber die Voraussetzungen der Genehmigungsversagung klar<br />
sein. Für solche gesetzlichen Hinweise zu den Entscheidungskriterien seien<br />
nicht allein Beispiele ausreichend. Inhalt, Zweck und Ausmaß der Eingriffsnorm<br />
müssten hinreichend bestimmt sein 292 , so dass die Vorhersehbarkeit<br />
der Wirkung einer Verordnungsermächtigung gewährleistet ist, beispielsweise<br />
durch Programmsätze für die Entscheidungsfindung der Verwaltung 293 . Je<br />
stärker die Grundrechte berührt werden, umso stärker müssten die Spielräume<br />
der Verwaltung begrenzt sein. Mit dieser Gleitformel werden nicht<br />
nur die Entscheidungsspielräume der Verwaltung, sondern auch die richterliche<br />
Rechtsfortbildung eingeschränkt 294 . <strong>Die</strong> Bedeutung des Bestimmtheitsgrundsatzes<br />
für die Reichweite der Entscheidungsspielräume wird deutlich.<br />
Ein Rechtsanspruch auf Genehmigung sei verfassungsrechtlich nicht geboten,<br />
wenn es bei der Verwaltungsentscheidung um die Berücksichtigung einzelfallübergreifender<br />
Konzepte zur Wahrung des Allgemeinwohls gehe. Hier<br />
kann es sein, dass im Vorgang selbst die Beeinträchtigung des Gemeinwohls<br />
nicht ausreicht, um einen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen, aber die Kumulation<br />
vergleichbarer Vorgänge zu einer solchen nicht mehr akzeptablen<br />
Gemeinwohlbeeinträchtigung führen kann. Deshalb müssen auch Planungsakte<br />
zulässig sein 295 . <strong>Die</strong> Notwendigkeit der Verwendung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe wurde in diesem Zusammenhang in der Reiten-im-Walde-<br />
Entscheidung bestätigt 296 , wonach wegen der Vielzahl der betroffenen Inte-<br />
291 BVerfGE 20,150,154<br />
292 So bereits BVerfGE 8, 276, 325<br />
293 BVerfGE 58, 257, 277 ff.<br />
294 BVerfGE 83, 130 und 49, 89, auf dieses Urteil eingehend: Bleckmann, Staatsrecht, §<br />
48 V 1<br />
295 Grundlegend, u.a mit Ausführungen zur Reichweite der Eigentumsgarantie Art. 14<br />
GG: BVerfGE 58, 300, 347- Naßauskieselung,<br />
296 BVerfGE 80, 137, 161 ff.<br />
86
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
ressen eine sachgerechte Konfliktbewältigung durch die gesetzliche Regelung<br />
schlicht unmöglich sei. Ein Verzicht auf die Durchsetzung verfassungsrechtlich<br />
legitimer Ziele dürfe mit den o.g. Prinzipien nicht verbunden sein.<br />
Dennoch müsse dabei berücksichtigt werden, dass ein Ermessen der Verwaltung<br />
nicht so unbestimmt sein darf, dass die Entscheidung für Gerichte gar<br />
nicht mehr überprüfbar wäre.<br />
An der geschilderten Rechtsprechung des BVerfG gab es zunächst auch Kritik.<br />
Ermessen und Beurteilungsspielraum wurden als Trojanisches Pferd des<br />
rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts bezeichnet 297 Eine angemessene Verwirklichung<br />
der gesetzgeberischen Ziele bzw. Zwecksetzung der Norm sei<br />
so unmöglich 298 . <strong>Die</strong> nicht zuletzt in den Nachkriegsjahren erfolgte Überdehnung<br />
des Gesetzesvorbehaltes durch das Streben nach perfektionierten<br />
Gesetzen hatte aber gezeigt, dass das Parlament andernfalls überfordert, die<br />
Verwaltung gelähmt und der Rechtsgehorsam des Bürgers erschwert<br />
scheint 299 . <strong>Die</strong> richterliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit und damit verbundener<br />
Grundrechtsschranken kann das Bestimmtheitsdefizit kompensieren<br />
helfen, so dass das gesetzgeberische Ziel oft erst durch Ermessen und<br />
Beurteilungsspielräume erreichbar erscheint. Hinzu kommen transparente<br />
Entscheidungsrichtlinien und Verfahren 300 .<br />
d) Ergebnis<br />
Nach diesen Erwägungen muss festgestellt werden, ob der Gesetzgeber dem<br />
Normadressaten im Bereich seiner Handlungs- und Wirtschaftsfreiheit einen<br />
Genehmigungsanspruch wirklich zubilligen wollte. Trotz einer gewissen<br />
Verwaltungsautonomie muss er die Grenzen der Ermächtigung hinreichend<br />
deutlich machen. Soweit er der Exekutive tatsächlich Entscheidungsspielräume<br />
gewährt, müssen durch die Verfahrensausgestaltung, also das Genehmigungsverfahren,<br />
und den Umfang richterlicher Kontrolle einer damit<br />
verbundenen Gefahr unangemessener Rechtseingriffe begegnet werden. <strong>Die</strong><br />
Rechtsprechung bleibt im Rahmen ihres Verfassungsauftrages auf die<br />
Überwachung der Einhaltung der gesetzlichen Ermächtigung beschränkt. Im<br />
Ergebnis kann die Legislative der Verwaltung also auch unter verfassungsrechtlichen<br />
Gesichtspunkten einen gewissen Entscheidungsspielraum zubilligen,<br />
wenn dafür aufgrund der Materie eine sachliche Notwendigkeit be-<br />
297 Obermayer, in: Mang/Maunz, Staats- und Verwaltungsrecht in Bayern, S. 182 f. sowie<br />
Ossenbühl, DÖV, 1968, 621<br />
298 Vgl. Tettinger (FN 128) S. 89<br />
299 Bullinger, in: ders., Verwaltungsermessen im modernen Staat, S. 137, 144<br />
300 So Wahl, in: ders., Prävention und Vorsorge, S. 230<br />
87
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
steht und die Effizienz von Legislative sowie Exekutive das gebieten. Unangemessenen<br />
Rechtseingriffen muss durch hinreichende Bestimmung der<br />
Spielräume, insbesondere mittels Offenlegung der Entscheidungskriterien,<br />
begegnet werden.<br />
3. Überprüfungskompetenz der Gerichte<br />
Im Sinne der o.g. Anforderungen an die Verwaltungsautonomie haben<br />
Rechtsprechung und Wissenschaft für das nationale Recht die Lehren zum<br />
Beurteilungsspielraum sowie die Ermessensfehlerlehre entwickelt. Danach<br />
wird der Umfang dieser Entscheidungsspielräume im Lichte der o.g. verfassungsrechtlichen<br />
Prägung begrenzt, insbesondere aber die notwendige Balance<br />
zwischen Verwaltungseffizienz und dem Rechtsschutzinteresse des<br />
von der Entscheidung Betroffenen geschaffen 301 . Darauf wird bei der Prüfung<br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Entscheidungen, vor allem mit Blick auf<br />
Prognoseelemente der Entscheidung, noch einzugehen sein.<br />
a) <strong>Die</strong> Ermessensfehlerlehre<br />
aa) <strong>Die</strong> rechtliche Ausgestaltung von Ermessen<br />
Ermessen steht für die Möglichkeit der Verwaltung, bei Erfüllung eines gesetzlichen<br />
Tatbestandes, mehrere, in gleicher Weise rechtlich zulässige Entscheidungen<br />
zu treffen. Sie ist dabei nicht nur ermächtigt, sondern sogar<br />
verpflichtet, alle notwendigen Überlegungen über den Gebrauch ihrer damit<br />
verbundenen Gestaltungsfreiheit anzustellen 302 . Ermessen betrifft die<br />
Rechtsfolge einer Vorschrift, anders als der Beurteilungsspielraum auf Tatbestandsebene.<br />
Ermessen kann in Form des Entschließungsermessens, also<br />
ob eine Rechtsfolge gewollt ist, oder aber des Auswahlermessens, also einer<br />
bestimmten Art und Weise der Rechtsfolge vorliegen. Beide können auch in<br />
Kombination auftreten.<br />
<strong>Die</strong> Einräumung von Ermessen kennzeichnet der Gesetzgeber regelmäßig<br />
mit Formulierungen wie kann, darf oder befugt. In Abgrenzung zur gebundenen<br />
Entscheidung (muss, darf nicht versagt werden) hat die Verwaltung<br />
zum Wohle der Einzelfallgerechtigkeit eine Lenkungsbefugnis, die sich am<br />
zweckorientierten Handeln ausrichtet 303 . Ein Belieben bzw. Willkür der Behörde<br />
sind durch Ermessensbindungen ausgeschlossen, die sich an rechtli-<br />
301 Vgl. Teil 1 III.1.c)<br />
302 Wolff (FN 174), S. 98 Rn 46<br />
303 Wolff (FN 174), S. 99, Rn 154<br />
88
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
chen Bindungen oder dem Normzweck orientieren. § 40 VwVfG 304 normiert<br />
die Voraussetzungen einer Ermessensentscheidung. Hinzu kommen gesetzliche<br />
Grenzen im Ermessenstatbestand sowie der dort vorgesehenen Rechtsfolge<br />
und verfassungsimmanente rechtliche Bindungen 305 . Letztere kennzeichnen<br />
sich durch unmittelbare Grundrechtsgeltung. Sie unterliegen dem<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip. Eine starke Einengung des Verwaltungsspielraumes<br />
bewirkt der Gleichheitssatz gem. Art. 3 GG 306 , insbesondere durch<br />
die Selbstbindung der Verwaltung. <strong>Die</strong> einheitliche Handhabung des Ermessens<br />
soll durch Verwaltungsrichtlinien sichergestellt werden. Ihre Rechtsnatur<br />
ist zwar umstritten, es wird ihnen aber Rechtssatzcharakter zugewiesen,<br />
auf den sich Betroffene berufen können 307 .<br />
bb) Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung<br />
Wegen der bereits beschriebenen Lockerung des Gesetzvorbehalts ist die<br />
nach Art. 19 Abs. 4 GG vorgesehene Rechtsweggarantie beschränkt, vor allem<br />
die tatsächliche und rechtliche Überprüfung eines Sachverhalts durch<br />
die Gerichte. <strong>Die</strong>s zeigt die Vorschrift des § 114 VwGO, die sich an den Anforderungen<br />
von § 40 VwVfG orientiert, der die materielle Seite der Entscheidung<br />
betrifft 308 . Danach ist die Bewertung der Zweckmäßigkeit einer<br />
Entscheidung allein der Verwaltung vorbehalten. Für die Rechtmäßigkeitsprüfung<br />
und die richterliche Kontrolle des Verwaltungshandelns wurde die<br />
Ermessensfehlerlehre entwickelt. Hierzu gehören neben der Feststellung einer<br />
Ermessensermächtigung folgende Fragen 309 :<br />
(1) Ermessensfehlgebrauch (Ermessensdefizit und unzureichende<br />
Sachverhaltsermittlung)<br />
Hierbei erfolgt die Prüfung, ob sachfremde Erwägungen angestellt wurden,<br />
die sich nicht aus dem Normzweck ergeben. Dazu gehört z.B. das Motiv der<br />
Gefahrenabwehr im Sicherheitsrecht. Auch allgemein verbotene Zwecke<br />
dürfen nicht Entscheidungsgrundlage sein, ein Beispiel hierfür bieten mit<br />
304 Es gelten die jeweiligen Länderverwaltungsgesetze und das des Bundes<br />
305 Wolff (FN 174), S. 156, Schwertdfeger, Fallbearbeitung, § 5 Rn 4<br />
306 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 25<br />
307 Wolff (FN 174), S. 75<br />
308 Schwarze (FN 198), S. 261<br />
309 Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Kommentar zur VwGO, § 114 Rn 16 ff. mit der<br />
Unterscheidung einer Kontrolle der Einhaltung der Ermessensermächtigung und der<br />
Anforderungen an die Ermessensausübung; zur Ermessensfehlerlehre; s.a.: Fehling/Kastner/Wahrendorf,<br />
Kommentar zu VwVfG und VwGO, § 114 VwGO Rn 42<br />
ff.<br />
89
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
der Entscheidung erfüllte Straftatbestände. Ermessensfehlgebrauch wird in<br />
diesem Falle als Ermessensmissbrauch bezeichnet. Ebenfalls erfasst ist eine<br />
unzureichende Abwägung maßgeblicher Gesichtspunkte. <strong>Die</strong>se auch als<br />
Ermessensdefizit beschriebene Konstellation wird regelmäßig als unzureichende<br />
Tatsachenermittlung bewertet. Sachfremde Erwägungen stehen einem<br />
falschen Sachverhalt gleich, den die Behörde ihrer Entscheidung zu<br />
Grunde legt. In diesen Bereich fallen auch in sich nicht schlüssige Begründungen<br />
nach § 39 VwVfG und die Verletzung von Verfahrensvorschriften.<br />
Das Begründungserfordernis hat eine zentrale Bedeutung für die Ermessensausübung.<br />
Ohne sie kann die gerichtliche Prüfung einer zweckorientierten<br />
und sachgerechten Entscheidung auf der Grundlage der Ermächtigungsnorm<br />
nicht stattfinden. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese materielle<br />
Wirkung dem § 39 VwVfG selbst inne wohnt oder aus Art. 19 Abs. 4 GG<br />
abgeleitet werden kann. Schließlich ist die Behörde für die Einhaltung der<br />
Ermessensgrenzen und -schranken beweispflichtig 310 .<br />
(2) Ermessensnichtgebrauch<br />
Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn die Verwaltung gar keine Abwägung<br />
getroffen, also die Ermessensnorm verkannt hat oder die möglichen<br />
Handlungsalternativen nicht geprüft hat. <strong>Die</strong>se Gruppe kann als Unterfall<br />
des Fehlgebrauchs in absolutester Form bewertet werden.<br />
(3) Ermessensüberschreitung<br />
Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Behörde zwar hinreichend<br />
den Sachverhalt ermittelt hat, aber eine in der Rechtsnorm nicht vorgesehene<br />
Rechtsfolge wählt oder andere Rechtsnormen dieser Folge entgegenstehen,<br />
dazu gehören Grundrechte sowie sonstige allgemeine Verfassungs-<br />
und Verwaltungsgrundsätze, aber auch im besonderen Verwaltungsrecht<br />
vorgesehene Richtlinien oder Kriterien. Ein Beispiel dafür ist der Verstoß<br />
gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 GG und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.<br />
Im Rahmen des Letzteren hat die Verwaltung zu prüfen,<br />
ob eine Maßnahme zur Erreichung des Gesetzeszweckes geeignet, erforderlich<br />
(mildestes Mittel) und angemessen ist. Nicht zweckorientiertes Handeln<br />
oder die Nichtbeachtung der gesetzlichen Ziele 311 würden diesen Vorgaben<br />
widersprechen. Zusammengefasst kann Ermessensüberschreitung mit<br />
Nichtbeachtung des allgemeinen Rechtsrahmens beschrieben werden.<br />
310 Ebenda, Rn 40, 43<br />
311 Zur grundsätzlichen Zweckrichtung von Gesetzen: Müller-Foell (FN 182), § 7<br />
90
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
(4) Ermessensreduzierung (auf Null)<br />
Im Einzelfall kann das Gestaltungsrecht der Verwaltung eingeschränkt sein,<br />
bis hin zur Möglichkeit einer einzigen rechtmäßigen Entscheidung 312 . So<br />
kann trotz verschiedener Handlungsalternativen eine Handlungsverpflichtung<br />
entstehen, z.B. aufgrund einer Gefährdung von Grundrechten Dritter<br />
oder wegen der Selbstbindung der Verwaltung, die entweder infolge der Antizipierung<br />
der Entscheidung i.Z.m. Art. 3 GG, durch eine abweichende Zusage<br />
oder sonstige Vertrauensschutz bildende Handlungen zu einer Ermessensreduzierung<br />
führen kann. Neben ständiger Verwaltungspraxis stehen<br />
systematische Ansätze wie Richtlinien. Wenn es um atypische Sonderfälle<br />
geht, bleibt Raum für gewisse Abweichungen von diesen Vorgaben 313 . Auch<br />
bei offensichtlich geringer Bedeutung von Eingriffsgründen (Bagatellfälle)<br />
kann im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Ermessensreduzierung vorliegen.<br />
cc) Subjektiver Anspruch des Betroffenen<br />
Grundpfeiler der Ermessensfehlerlehre ist der Anspruch des betroffenen Adressaten<br />
auf ermessensfehlerfreie Entscheidung 314 . Er kann den Verwaltungsrechtsweg<br />
nach der Schutznormtheorie nur insoweit beschreiten, als er<br />
in Verletzung eigener grundrechtlicher Positionen ein subjektiv öffentliches<br />
Abwehrrecht geltend machen kann 315 . <strong>Die</strong> gerichtliche Korrektur beschränkt<br />
sich auf oben bezeichnete Verfahrensfehler, die Verkennung anwendbaren<br />
Rechts, die Unrichtigkeit des zu Grunde gelegenen Sachverhalts, die Verletzung<br />
allgemein gültiger Bewertungsmaßstäbe und die Orientierung an sachfremden<br />
Erwägungen 316 . <strong>Die</strong> zweckorientierte Entscheidung ist allein der<br />
Verwaltung vorbehalten 317 . Eine Ausnahme bildet auch die Ermessensreduzierung,<br />
wenn nur eine ganz bestimmte Entscheidung ermessensfehlerfrei<br />
ist. In diesem Fall ergeht ein Verpflichtungsurteil nach § 113 Abs. 5 S. 1<br />
VwGO, nicht aber ein Bescheidungsurteil nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO 318 .<br />
312 Vgl. Wolff (FN 174), S. 103<br />
313 Zu Vertrauensschutz und Selbstbindung: Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), §<br />
114 VwGO Rn 25 f.<br />
314 Ebenda, Rn 19<br />
315 Wolff (FN 174), S. 104<br />
316 Wahl, NVwZ 1991, 414 ff.<br />
317 Kadelbach (FN 194), S. 444 (mit weiteren Nachweisen)<br />
318 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO Rn 53<br />
91
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
b) Beurteilungsspielraum der Verwaltung<br />
aa) Rechtsgrundlagen<br />
Vorgaben zum Umgang der Verwaltung mit unbestimmten Rechtsbegriffen<br />
liefert der bereits benannte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.<br />
Danach ist diese gem. Art. 20 Abs.3 GG grundsätzlich an Recht und Gesetz<br />
gebunden. Eine Ausnahme hierzu bilden die unbestimmten, seitens der Verwaltung<br />
näher auszufüllenden Rechtsbegriffe. Der Adressat muss zwar erkennen<br />
können, welche konkrete Einzelsituation ein Gesetz erfasst. Um die<br />
bezweckte Anwendung auf eine Vielzahl von Sachverhalten zu ermöglichen,<br />
ist dennoch ein gewisser Abstraktionsgrad der Normierung notwendig, also<br />
eine generalklauselartige Formulierung. Hinzukommen muss der Umstand,<br />
dass erst durch die Verwaltung eine Verdichtung der vorgegebenen (unbestimmten)<br />
Rechtsbegriffe möglich ist319 .<br />
Im Rahmen der Rechtsanwendung muss die Verwaltung im Zusammenhang<br />
mit dem Bestimmtheitsgebot die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />
durch Rechtsprechung oder Verwaltungsvorschriften, z.B. Anwendungserlasse<br />
der Behörde, berücksichtigen. <strong>Die</strong> Zulässigkeit unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe entbindet den Gesetzgeber nicht von den schon erwähnten<br />
rechtsstaatlichen Grundsätzen der Normenklarheit und vollständigen Justiziabilität,<br />
die sich aus der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Art. 20 Abs.<br />
3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie dem damit verbundenen Grundsatz<br />
rechtlichen Gehörs ergeben. Der Betroffene muss im Vertrauen in den<br />
Rechtsstaat die Voraussetzungen seines Handelns erkennen können. Das öffentliche<br />
Interesse an Rechtssicherheit und Zuverlässigkeit der Verwaltung<br />
steht dem Problem einer nur begrenzten Möglichkeit zur Erkenntnisgewinnung<br />
durch den Gesetzgeber, auch bezüglich des Grads der geforderten Erkenntnis,<br />
gegenüber. Hier muss eine Abwägung unterschiedlicher Gesichtspunkte<br />
erfolgen.<br />
In Abgrenzung zur Rechtsfolge geht es beim Beurteilungsspielraum ausschließlich<br />
um den Tatbestand, also Sachverhaltsfeststellungen und die Zuordnung<br />
eines Sachverhalts zum vorgegebenen Rechtsrahmen. Unbestimmte<br />
Rechtsbegriffe sind Formulierungen unterschiedlicher Präzision. Sie sind im<br />
divergierenden Abstraktionsgrad und in Skalen inhaltlicher Bestimmtheit<br />
vorzufinden. Dabei ist zwischen deskriptiven (Beschreibung von Gegenständen<br />
oder Ereignissen) und normativen (wertende Betrachtung) Begriffen<br />
319 So Tettinger, (FN 128), S 438, 442<br />
92
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
abzugrenzen, auch werden sachverhaltsbedingte und sprachlich unbestimmte<br />
Begriffe unterschieden320 .<br />
Nach welchen Regeln der Verwaltung ein Interpretationsspielraum bzw. eigene<br />
Wertungsmöglichkeit zugestanden wird und in welchem Umfang eine<br />
gerichtliche Überprüfungsbefugnis besteht, ergibt sich aus den Schlussfolgerungen<br />
der Lehre vom Beurteilungsspielraum, auf den § 114 VwGO zwar<br />
nicht analog, aber wegen der gleichen zu Gunde liegenden Verfassungsprinzipien<br />
entsprechend anwendbar sein soll321 . Hierbei werden verschiedene<br />
Typenbereiche im Zusammenhang mit z.B. Planungs- und Prognoseentscheidungen,<br />
aber auch auf besonderen persönlichen Wertungen beruhenden<br />
Prüfungsentscheidungen unterschieden322 . Bei der dogmatischen Begründung<br />
der dahingehend anerkannten Beurteilungsspielräume werden verschiedene<br />
Ansätze vertreten. Wenn die Ermächtigung zu einem autonomen<br />
Verwaltungshandeln vorliegt, sind eigenständige Wertungen der Gerichte<br />
nicht möglich. Nach der normativen Ermächtigungslehre kann diese auch<br />
stillschweigend, mittels Auslegung der Vorschrift erfolgen323 . Zur Reichweite<br />
des Beurteilungsspielraums sieht es die Vertretbarkeitslehre als rechtmäßig<br />
an, wenn die Lösungen im Rahmen des Vertretbaren liegen, also mehrere<br />
vertretbare und damit rechtmäßige Entscheidungsoptionen bestehen324 .<br />
Letztlich kommen alle Theorien zu ähnlichen Ergebnissen. Der Verwaltung<br />
wird ein gewisses Maß an Eigenverantwortung zugestanden325 . <strong>Die</strong> Grenzen<br />
der Verwaltungsautonomie finden sich in der Beachtung der Verfahrensvorschriften,<br />
zutreffenden Tatsachen, im Gleichheitsgrundsatz und in den allgemeinen<br />
Bewertungsrichtlinien, schließlich in der Einbeziehung sachfremder<br />
(willkürlicher) Erwägungen326 .<br />
Das BVerwG erachtet nur in Ausnahmefällen eine vollständige richterliche<br />
Überprüfung für verzichtbar. Das erfordert besondere Voraussetzungen327 ,<br />
die nur dann gegeben seien, wenn die gerichtliche Überprüfung an die Funktionsgrenzen<br />
der Rechtsprechung stößt. <strong>Die</strong>se richterliche Zurückhaltung<br />
320 Mit Beispielen: Wolff (FN 174), S. 94, Rn 33 ff.<br />
321 Dazu grundlegend: Bachof, JZ 1955, 97 ff., und 1972, 641 ff., s.a. Wolff/Decker (FN<br />
283) § 114 VwGO Rn 66<br />
322 Dazu grundlegend Larenz (FN 282), S.279 f.; s.a. Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN<br />
309), § 114 VwGO Rn 59 f.<br />
323 Dazu Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO Rn 57<br />
324 Ule, VerwArch 76 (1985), S. 1, 9 ff.; mit Verweis auf BVerfGE 2, 395; 4, 92; 15, 41<br />
325 Maurer (FN 171), § 7 Rn 32<br />
326 Stüwe, in: Wolffgang (FN 54), S. 434<br />
327 BVerwGE 75, 275, 279, BVerwG ,NVwZ 1991, 586 ff. BverwG NVwZ 1993, 794,<br />
796<br />
93
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
ergibt sich aus der konsequenten Verfolgung des Gewaltenteilungsgrundsatzes328<br />
. <strong>Die</strong> Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe wird als Teil der<br />
Erkenntnisgewinnung verstanden, welche der richterlichen Kontrolle unterliegt329<br />
. Bei der Eingriffsverwaltung bestünden hier erst recht enge Grenzen.<br />
<strong>Die</strong> richterliche Verantwortung sei in dem Fall höher zu bewerten als der<br />
Verwaltungsspielraum. Damit sei eine umfassende gerichtliche Prüfung<br />
möglich330 .<br />
Als Ausnahme von dieser Sichtweise werden allein Bewertungsspielräume<br />
bei berufsbezogenen Prüfungen, Beurteilungen und prüfungsähnlichen Entscheidungen<br />
gesehen331 . Zusätzlich sind Beurteilungsspielräume bei Prognoseentscheidungen<br />
und Risikobewertungen denkbar332 . Mit Blick auf die bei<br />
Prognosen notwendige Einbeziehung zukünftiger Entwicklungen wird oft<br />
auch vom Begriff der Einschätzungsprärogative gesprochen, die durch das<br />
Gericht zumindest aus der dafür notwendigen ex-ante Betrachtung weder<br />
nachvollziehbar noch überprüfbar sein kann333 . Mit dem Begriff wird verdeutlicht,<br />
dass das wertende Element der Entscheidung auch die Sachverhaltsfeststellung<br />
tangiert334 . Allerdings bedarf es i.V.m. dem Bestimmtheitsgebot<br />
einer Konkretisierung der Kriterien des § 7 AWG. <strong>Die</strong> Prärogative findet<br />
hier ihre Grenzen335 .<br />
<strong>Die</strong> administrative Gestaltungsfreiheit bei Prognoseentscheidungen soll nur<br />
dann möglich sein, wenn die Maßstäbe gerichtlicher Kontrolle und die<br />
Kompetenzabschichtung im Sinne der funktionsadäquaten Gewaltenteilung<br />
nach Maßgabe sorgfältigster Normanalyse sichergestellt sind336 . <strong>Die</strong>ser<br />
funktionsrechtliche Ansatz fokussiert auf die spezifische Leistungsfähigkeit<br />
der Verwaltung und Gerichte. Es geht um eine gewisse Funktionsoptimierung,<br />
was bei komplexen Risikolagen, wie im Umwelt- und Technikrecht,<br />
für eine administrative Befugnis zur Normkonkretisierung spricht. <strong>Die</strong>s ist<br />
328 Wolff (FN 174), S. 150<br />
329 Schwarze (FN 198), S. 256<br />
330 Dazu oben Teil 2 II.2.<br />
331 Zu den Fallgruppen: Wolff (FN 174), S. 95.<br />
332 Stüwe, in: Wolffgang (FN 54), S. 432; s.a. Wolff/Decker (FN 283) , § 114 VwGO Rn<br />
79 unter Hinweis auf politische Einschätzungsprärogative und BVerfGE 97, 203, 209<br />
– Luftverkehr, der Begriff selbst wurde von Wolff geprägt (vgl. FN 322)<br />
333 Als begriffsprägend gilt insoweit Wolff, in: Wolff/Bachof, (FN 280) § 31, S. 188 ff.<br />
334 So Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 80 und Hinweis auf<br />
BVerfGE v. 25.10.1991 (FN 115)<br />
335 So im Ergebnis Epping, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd.1, 20, Rn 27, s.a. Teil 1<br />
II.5.b)dd)<br />
336 Vgl. Hope, DVBl. 1975, 691<br />
94
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
aber nur ein Indiz und Auslegungshilfe für die bestehende Ermächtigung 337 .<br />
Schließlich kann die Leistungsfähigkeit der Gewalten nicht die Kompetenzverteilung<br />
bestimmen, sondern allenfalls die Qualität der Wahrnehmung der<br />
Gesetzgebungskompetenzen beeinflussen. Darüber muss allein der Gesetzgeber<br />
entscheiden und dies auch deutlich machen. Aber selbst bei einem<br />
weiten politisch-konzeptionellen Einschätzungsspielraum der Verwaltung<br />
bleibt die Herausbildung von einheitlichen Maßstäben zur Rechtsanwendung<br />
das Ziel des Gesetzgebers. Das gewährleistet auch einen dem Gleichheitssatz<br />
entsprechenden Gesetzesvollzug. <strong>Die</strong> Verwaltung muss die begriffsprägenden<br />
Elemente feststellen und den vorliegenden Einzelfall danach<br />
beurteilen 338 . Der Prüfungsumfang der Gerichte wird zwar beschränkt, beinhaltet<br />
aber auch die Einhaltung der Grenzen der normativen Ermächtigung<br />
i.V.m. der Rechtsanwendung.<br />
bb) Grad der Bestimmtheit der Norm<br />
Wenngleich der Verwaltung über Beurteilungsspielräume und Ermessensvorschriften<br />
ein gewisser Grad an Entscheidungsautonomie eingeräumt<br />
wird, dürfen die Befugnisse der Legislative nicht durch faktisch pauschale<br />
Eingriffsermächtigungen ausgehöhlt werden. Das Vertrauen des Gesetzgebers<br />
auf eine verfassungskonforme Rechtsanwendung bietet hierfür kein<br />
hinreichendes Korrektiv. Das Gebot der Rechtssicherheit gebietet Klarheit,<br />
Bestimmtheit, Widerspruchsfreiheit und Übersichtlichkeit des Rechts, so<br />
dass der Rechtsanwender die Rechtslage erkennen und sein Verhalten an einer<br />
Norm ausrichten kann. <strong>Die</strong> Reichweite des Gesetzesvorbehaltes sowie<br />
damit verbundene Eingriffsrechte werden vom BVerfG mit der Wesentlichkeitstheorie<br />
umschrieben339 . <strong>Die</strong> Normierungspflicht des Gesetzgebers hinsichtlich<br />
des ob und wie der gesetzlichen Handlungsanweisung bezieht sich<br />
auf alle Angelegenheiten, die eine Verwirklichung der Grundrechte berühren340<br />
. In Rechtsgebieten, deren Regelungsmaterie einer starken Dynamik<br />
unterliegt und besondere Fachexpertise erfordert, ist die Lehre vom Beurteilungsspielraum<br />
anerkanntes Instrumentarium des modernen Verwaltungsstaates.<br />
Der Bestimmtheitsgrundsatz wird deshalb allenfalls Prinzipienqualität<br />
mit einem gewissen Optimierungselement zugeschrieben341 . Generalklauselartig<br />
formulierte Gestaltungs- und Ermessensspielräume stehen den<br />
337 Pache, Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum, S. 76 ff., 108<br />
338 Tettinger (FN 128), S. 107<br />
339 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 12, S. 104<br />
340 BVerfGE 40, 237, 248 ff.<br />
341 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75<br />
95
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
o.g. Prinzipien wegen dem Interesse an der Effizienz des Verwaltungsverfahrens<br />
in einem der Sache nach angemessenen Umfang nicht entgegen342 .<br />
Der Grad der geforderten Bestimmtheit orientiert sich an der Gewährleistung<br />
der Zweckerreichung des Regelungstatbestandes. Er setzt den administrativen<br />
Spielräumen Grenzen. Gerade bei gravierenden Eingriffen, wie sie<br />
mit an unsichere Sachverhalte oder ungewisse künftige Ereignisse anknüpfende<br />
Prognoseentscheidungen verbunden sind, muss eine möglichst weitgehende<br />
Konkretisierung des behördlichen Handlungsspielraumes erfolgen.<br />
<strong>Die</strong>s gilt insbesondere bei innerhalb des Beurteilungsspielraumes angelegten<br />
Werte- bzw. Grundrechtskonflikten. Sie bestimmen das Ausmaß des geforderten<br />
Bestimmtheitsgrades mit343 . Je größer die Eingriffsintensität und Wertigkeit<br />
der Grundrechte, umso höher die Anforderungen an die Bestimmtheit<br />
der Ermächtigung344 . Aus Sicht des BVerfG darf sich der Gesetzgeber der<br />
Bürde nicht entziehen, insoweit eine im politischen Prozess gefundene Entscheidung<br />
zu treffen und allgemeine Vorzugsregeln bzw. eine Gewichtung<br />
der jeweils betroffenen Positionen vorzunehmen345 . Zwar darf er in einem<br />
gewissen Rahmen auf unbestimmte Rechtsbegriffe zurückgreifen346 , der<br />
Tatbestand muss aber mit Hilfe allgemeiner Interpretationsregeln noch erkennbar<br />
sein347 . Es sind wenigstens richtungsweisende Gesichtspunkte des<br />
Gesetzgebers erforderlich. Inhalt, Zweck und Ausmaß des Eingriffs bzw. einer<br />
Eingriffsermächtigung müssen hinreichend bestimmt, messbar und vorhersehbar<br />
sein. Dazu können generalisierende, typisierende und pauschalierende<br />
Regelungen beitragen, die aus dem Gesamtbild der bisherigen Erfahrungen<br />
des Gesetzgebers resultieren. Zu vage Generalklauseln verstoßen gegen<br />
die Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips348 .<br />
Führt die verfassungskonforme Auslegung zur hinreichenden Bestimmung<br />
der Engriffsvoraussetzungen, muss dies auch beim Verwaltungsakt bzw.<br />
Eingriff selbst berücksichtigt werden. Insoweit kommen auch vom Gesetzgeber<br />
autorisierte oder seiner Zwecksetzung entsprechende Auslegungsgrundsätze<br />
in Form von normkonkretisierenden Vorschriften oder Regelwerken<br />
ins Spiel. Sie ermöglichen eine verfassungskonforme Anwendung<br />
342 Zippelius/Würtenberger (FN 339), S. 107<br />
343 BVerfGE 108, 235; 48, 210, 221 ff.<br />
344 Zippelius/Würtenberger (FN 339), S. 107<br />
345 Denninger, Recht in globaler Unordnung, S. 156, 159<br />
346 BVerfGE 13, 153, 161 ff. - Kapitalverkehrssteuer; 48, 210, 211 ff. und 78, 214, 226 -<br />
Einkommensteuer<br />
347 BVerfGE 87, 287, 317 f.; 98, 49, 60 - Berufsrecht<br />
348 BVerfGE 21, 73, 82 - Waldnutzung; 80, 103, 108 - Reiten im Walde und 8, 274, 325<br />
– Preisbindung; 78, 214, 226 - Einkommensteuer und Unterhalt<br />
96
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
zunächst zu unbestimmter Eingriffsermächtigungen. Dazu tragen auch die<br />
seitens der Verwaltung genutzten Anwendungsrichtlinien bei. <strong>Die</strong> Verwendung<br />
inhaltlich nicht abschließend vorbestimmter Normen beruht auf dem<br />
Erfordernis der Abwägung im Zeitpunkt der Rechtsanwendung. <strong>Die</strong> wertende<br />
Betrachtung gilt inzwischen nicht nur als anerkanntes, sondern also notwendiges<br />
Instrument der Lösung von Zielkonflikten, die der Gesetzgeber<br />
nicht leisten kann. Allerdings muss das Verwaltungsverfahren entsprechend<br />
so angelegt sein, dass die Sachverhaltsermittlung als Grundlage der Abwägung<br />
einer angemessenen Konfliktbewältigung dienen kann349 .<br />
<strong>Die</strong> Anwendungsrichtlinien der Verwaltung tragen hierzu Wesentliches bei.<br />
Aber keinesfalls soll der Norminterpret allein auf Kategorien wie Erfahrung<br />
oder Rechtsgefühl rekurrieren350 . Vielmehr ist die Transparenz des Bewertungsvorgangs<br />
mittels Aufstellung möglichst rationaler Kriterien geboten351 .<br />
<strong>Die</strong>se werden in Abgrenzung der ermessensleitenden Verwaltungsvorschriften<br />
als normkonkretisierende Anwendungsrichtlinien verstanden352 . Ähnliche<br />
Feststellungen wurden zur Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs<br />
sicherheits- und außenpolitischer Belange dargelegt353 . <strong>Die</strong> Bewertung<br />
und die methodische Absicherung der Handhabung von unbestimmten<br />
Rechtsbegriffen bei der Gesetzesanwendung bleiben der richterlichen Prüfung<br />
zugänglich. Für Zweifelsfragen sei damit eine einheitliche Anwendung<br />
sichergestellt354 . Bei atypischen oder überholten Fallgruppen kann die Bindungswirkung<br />
der normkonkretisierenden Vorschriften entfallen355 .<br />
cc) Grundsätze der gerichtlichen Prüfungstiefe<br />
Das Ausmaß der gerichtlichen Überprüfung ist in der Rechtswissenschaft<br />
noch immer umstritten, vor allem ob die bereits beschriebenen Ermessensgrundsätze<br />
des § 114 VwGO auf den Beurteilungsspielraum anwendbar<br />
sind356 . Für die Fehlerkontrolle lassen sich folgende systematische Ansätze<br />
festhalten357 :<br />
349 Dazu eingehend Pache (FN 337), S. 482 ff., 505<br />
350 Dazu ausführlich: Tettinger (FN 128),S. 25 ff.<br />
351 Larenz, Festschrift für E. Klingmüller, S. 248<br />
352 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), S. 23 f.<br />
353 Vgl. Teil 1 II.5.b)bb) und Teil 1 II.5.b)dd)<br />
354 Ossenbühl, in: Erichsen/Martens, Allgemeines Verwaltungsrecht, S.79<br />
355 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO, Rn 70<br />
356 Meyer/Borgs, VwVfG § 40, Rn 17 ff.<br />
357 Wolff (FN 174), S. 96<br />
97
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
(1) Verstoß gegen Verfahrens- und Formvorschriften (insbesondere Begründungserfordernis<br />
§ 39 VwVfG, d.h. Offenlegung der tragenden<br />
Gesichtspunkte des Sachverhaltes für die rechtliche Subsumtion),<br />
(2) Zugrundelegung unrichtiger Sachverhalte einschließlich Prüfung der<br />
Angemessenheit der Einschätzungsverfahren und Richtlinien,<br />
(3) Verkennung des unbestimmten Rechtsbegriffs oder des gesetzlichen<br />
Rahmens, Einstellung sachfremder Erwägungen (Willkürverbot),<br />
(4) Missachtung allgemein gültiger Prinzipien und Grundrechtsrelevanz<br />
der Maßnahme (Verfassungskonformität, Verhältnismäßigkeit, praktische<br />
Konkordanz).<br />
Sinn und Bedeutungsgehalt der Rechtsbegriffe können daher durch befasste<br />
Gerichte nach den anerkannten Grundsätzen ausgelegt und die Richtigkeit<br />
der Tatsachen überprüft werden. Es wird die Ansicht vertreten, dass mit den<br />
o.g. Kriterien eine zu weit gehende Verrechtlichung erfolgt sei und für die<br />
Verwaltung kaum noch ein eigener Spielraum verbleibe358 . Gerade im Rahmen<br />
des Grades der Erkenntnisgewinnung dürfte aber hier auch dem Gericht<br />
eine Grenze gesetzt sein. Es kommt auf die Tatsachen und die Begründung<br />
eines Eingriffs an. An dieser Stelle spielt die verfassungsrechtlich verbürgte<br />
Begründungspflicht von § 39 VwVfG eine tragende Rolle.<br />
Neben der konkretisierenden Bestimmtheitskomponente steht die Kompensation<br />
der mit unbestimmten Rechtsbegriffen einhergehenden Kontrolldefizite<br />
durch Verfahrenselemente, wie erhöhte Begründungs- und Mitwirkungspflichten359<br />
. <strong>Die</strong> Reduzierung der Kontrolldichte müsse durch das<br />
Verwaltungsverfahren erdient werden360 . <strong>Die</strong> Beweisaufnahme des Gerichts<br />
würde hierbei intensiviert361 . In dem Zusammenhang ist insbesondere die<br />
Begründungspflicht des § 39 VwVfG von Bedeutung, vor allem bei autonomen<br />
Wertungen der Behörde. Aus der Begründung lässt sich ableiten,<br />
dass es tatsächliche Anhaltspunkte für die Erfüllung des Tatbestandes gibt,<br />
insbesondere für kausale Zusammenhänge zur Erreichung des Normzwecks<br />
im Einzelfall, Darüber hinaus muss eine Interessenabwägung stattgefunden<br />
haben. Im Rahmen ihrer gerichtlichen Überprüfung müssen die Spielräume<br />
der Verwaltung dennoch respektiert werden, die ihrer Letztentscheidungsbe-<br />
358 Ebenda, S. 97<br />
359 Zu den Verfassungsvorgaben vgl. Teil 1 I 1.a) sowie zum Begriff außen- und sicherheitspolitischer<br />
Belange Teil 1 I.5.b)dd)<br />
360 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 15<br />
361 Vgl. VGH Kassel, NJW 1990, S. 2704, 2706<br />
98
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
fugnis vorbehalten sind 362 . Wirksamstes Korrektiv der damit verbundenen<br />
Kontrolldefizite ist die Kontrolle durch die Öffentlichkeit, die durch eine gesteigerte<br />
Durchsetzungsfähigkeit der Verfahrensrechte und Transparenz der<br />
Entscheidungsbegründung gewährleistet werden kann 363 . <strong>Die</strong> Öffentlichkeit<br />
kann so einen wichtigen Beitrag zur Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze<br />
leisten 364 .<br />
c) Abgrenzungsfragen und rechtstechnische Konsequenzen<br />
Aus den vorgenannten Ausführungen geht hervor, dass Ermessen und unbestimmte<br />
Rechtsbegriffe nach wie vor strittige Bereiche sind, insbesondere<br />
bei der Qualifikation der Rechtsfiguren und ihrer Unterscheidung365 . <strong>Die</strong><br />
Abgrenzung der Entscheidungsspielräume ist nicht immer leicht, zumal diese<br />
kombiniert auftreten können. Es geht hierbei letztlich um rechtstheoretische<br />
Fragen zur Normenstruktur, insbesondere hinsichtlich objektiver Gesichtspunkte<br />
bei der Tatbestandsbewertung und um subjektive Entscheidungen<br />
bezüglich der angemessen erscheinenden Rechtsfolge. In Konstellationen,<br />
wo subjektive Wertentscheidungen erforderlich sind, kommt es in der<br />
Rechtsanwendungspraxis kaum zu Unterschieden366 .<br />
<strong>Die</strong>se Sichtweise wird bei Prognoseentscheidungen und den daran zu knüpfenden<br />
Anforderungen deutlich, die nicht ohne eine Wertung hypothetischer<br />
Kausalitäten möglich sind. <strong>Die</strong> Einschätzung, dass beide Institute kaum<br />
voneinander trennbar seien, wird durch die Anwendungspraxis beider<br />
Rechtsfiguren bestätigt, die sich sehr stark ähnelt: Beide Lehren müssen sich<br />
am Gesetzeszweck und an übergeordneten Prinzipien orientieren. <strong>Die</strong> Tendenz<br />
einer möglichst umfassenden richterlichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit<br />
reduziert die praktische Bedeutung von Beurteilungsspielräumen. Auch<br />
hier geht es um Wertungen, die vom Ermessen kaum unterschieden werden<br />
können367 . Theoretisch wäre zwar die Erkenntnis bzw. Wissens- und Willensseite<br />
von Tatbestand und Rechtsfolge abgrenzbar, diese können aber<br />
einander beeinflussen. Je geringer das Wissen, umso höher das Risiko einer<br />
Fehlentscheidung. Es muss ein Ausgleich mit dem Willenselement, also der<br />
362 Zur Kontrolldichte s.a. Kadelbach, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Verwaltungskontrolle,<br />
S. 237 ff.<br />
363 Vgl. Kadelbach, ebenda, S. 243<br />
364 So Hoffmann-Riem, ebenda, S. 353<br />
365 Vgl. Maurer (FN 172), § 7 Rn 47<br />
366 Zu methodischen Fragen und der verfassungsrechtlichen Ermächtigung für Entscheidungsspielräume:<br />
Wolff (FN 174), S. 75 ff.<br />
367 Schwarze (FN 198), S. 259<br />
99
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
behördlichen Überzeugung von der Notwendigkeit der Rechtsfolge, stattfinden.<br />
Eine Typisierung von Sachverhalten durch Kriterienkataloge oder Richtlinien<br />
spielt für Ermessen sowie Beurteilungsspielräume eine Rolle. Der wesentliche<br />
Unterschied zum Ermessen besteht bei Prognoseentscheidungen<br />
darin, dass die der gerichtlichen Prüfung nur begrenzt zugängliche subjektive<br />
Wertungskomponente dogmatisch unterschiedlich eingeordnet wird. Vor<br />
dem Hintergrund der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 und der Gesetzmäßigkeit<br />
nach 20 Abs. 3 GG gilt grundsätzlich, dass die Rechtsprechung<br />
nicht nur die rechtliche Wertungen, sondern auch die zutreffende<br />
Sachverhaltsermittlung und Subsumtion dieser Sachverhalte, also die Konkretisierung<br />
unbestimmter Rechtsbegriffe überprüfen darf. Streng begrenzte<br />
Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn die Sachverhaltsermittlung auf<br />
unüberwindbare Grenzen stößt und es Anhaltspunkte für die sachliche Begründung<br />
der Entscheidung und die Erfüllung von Tatbestandsmerkmalen<br />
gibt. Das gilt im Falle der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> z.B. für die gerichtlich nur<br />
begrenzt überprüfbare Prognoseentscheidung i.V.m. dem Vorliegen einer<br />
Gefahrensituation.<br />
d) Ergebnis<br />
Im Ergebnis erfüllen Beurteilungsspielraum und Ermessen vergleichbare<br />
praktische Bedürfnisse. Sie sind mit entsprechend vergleichbaren Maßstäben<br />
und Grenzen zu handhaben. Im nationalen Recht liegt der Fokus hierbei<br />
auf der Ermessensfehlerlehre in direkter Anwendung von § 114 VwGO sowie<br />
im Falle unbestimmter Rechtsbegriffe bei einer Analogie. Letztlich greifen<br />
beide Rechtsfehlerlehren auf die Einhaltung des Rechtsstaatsprinzips<br />
bzw. der Vorgaben aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz zurück. Insoweit ist<br />
auch eine Analogie zu § 114 VwGO gerechtfertigt, was durch Vergleichbarkeit<br />
oben geschilderter Prüfungsmaßstäbe bestätigt wird368 . <strong>Die</strong> folgenden<br />
Prüfungsmerkmale ergeben sich aus beiden Lehren:<br />
(1) Verfahrensfehler, insbesondere hinreichende Sachverhaltsermittlung<br />
und Einhaltung des Begründungserfordernisses gem. § 39 VwVfG<br />
(Ermessensfehlgebrauch, sachfremde Erwägungen),<br />
(2) Wahrung übergeordneter Rechtsprinzipien, verfassungskonforme Auslegung<br />
unbestimmter Rechtsbegriffe (unter Wertung betroffener<br />
Rechtsgüter und der Eingriffsintensität), Typisierung von Beurteilungs-<br />
368 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO Rn 70<br />
100
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
spielräumen und Ermessen durch Richtlinien und ihre Anwendung<br />
(Ermessensfehlgebrauch, sachfremde Erwägungen),<br />
(3) Beachtung des Willkür- bzw. Diskriminierungsverbotes gem. Art. 3 GG<br />
(Ermessensüberschreitung und Ermessensreduzierung auf Null),<br />
(4) Einstellung zweckdienlicher Erwägungen und Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips,<br />
Abwägung und Wertungen i.V.m. verfassungskonformer<br />
Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (Ermessenüberschreitung<br />
und Disproportionalität).<br />
4. Gemeinschaftsrechtliche Betrachtung<br />
a) Entscheidungsspielraum im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
Entscheidungsspielräume von Verwaltungsbehörden sind in vielen sekundärrechtlichen<br />
Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts vorgesehen.<br />
Gleichwohl gibt es keine Regelung zu Maßstab oder Kontrolle dieser Spielräume.<br />
<strong>Die</strong> europäische Gerichtsbarkeit schließt diese Lücke durch Auslegung<br />
übergeordneter Rechtsprinzipien. Beim indirekten Vollzug von Gemeinschaftsrecht<br />
durch die nationalen Verwaltungsbehörden sind deren Entscheidungen<br />
nicht unmittelbar vor dem EuGH angreifbar. Im Rahmen von<br />
durch die nationalen Gerichte eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren<br />
kann die Rechtsprechung des EuGH die Kontrolldichte aber auch bei nationalen<br />
Gerichtsverfahren beeinflussen369 . <strong>Die</strong> rechtliche Grundlage für eine<br />
Überprüfung bezieht der EuGH aus seiner vertraglichen Aufgabenzuweisung<br />
gem. Art. 5 i.V.m. Art. 7 Abs.1 S. 2 EG. Art. 220 EG regelt explizit seine<br />
Aufgabe zur Rechtswahrung i.V.m. der Auslegung und Anwendung des<br />
Gemeinschaftsrechts370 .<br />
Der EuGH erkennt einen umfassenden Entscheidungsspielraum der Verwaltung<br />
an, wenn diese bei Würdigung komplexer Sachverhalte die größere<br />
Sachkompetenz hat371 . <strong>Die</strong>se sei z.B. bei Entscheidungen mit prognostischer<br />
und politischer Natur gegeben. Dafür sind besondere Sachkompetenz und<br />
Verfahren erforderlich. Der EuGH folgt damit dem funktionsrechtlichen Ansatz,<br />
der auch i.V.m. der nationalen Ermächtigungslehre eine Rolle spielt372 .<br />
Inhaltlich decken sich die in beiden Rechtskreisen anerkannten Fallgruppen.<br />
369 Herdegen/Richter, in: Frowein, die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung<br />
von Handlungen der Verwaltung, S. 210<br />
370 Dazu auch Pache (FN 337), S. 374<br />
371 Vgl. beispielsweise Schwarze (FN 198), S. 283<br />
372 So Pache (FN 337), S. 396<br />
101
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
Allerdings finden sich die im deutschen Verwaltungsrecht entwickelten spezifischen<br />
Lehren zu Beurteilungsspielraum und Ermessen im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
nicht wieder. Zwischen dem Beurteilungsspielraum<br />
auf der Tatbestandsseite und einem Ermessen auf der Rechtsfolgeseite wird<br />
nicht unterschieden373 .<br />
In der Rheingoldentscheidung bezeichnet der EuGH die Unterscheidung von<br />
Beurteilungsspielraum und Ermessen im Sinne der deutschen Verwaltungsrechtstradition<br />
als für das Gemeinschaftsrecht lediglich terminologisch bedeutsam.<br />
Der Verwaltung wird ein genereller Gestaltungsspielraum zuerkannt,<br />
ein sog. erweiterter Ermessensspielraum. Der EuGH verwendet dabei<br />
die Begriffe Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff auch als Synonym<br />
für Entscheidungsfreiräume der Verwaltung374 . Hintergrund dessen ist auch<br />
die Formulierung der Verträge, z.B. Art. 173 EWGV und Art. 146 EAGV, in<br />
denen der Begriff Ermessen auch die Subsumtion unbestimmter Rechtsbegriffe<br />
erfassen soll375 .<br />
Gesetze und Verordnungsermächtigungen müssen, wie im nationalen Recht<br />
auch dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Der EuGH formuliert hierzu<br />
das Gebot der Normenklarheit und berücksichtigt das im Rahmen der Prüfung<br />
der Grenzen der Ermächtigungsnorm i.V.m. Verwaltungsermessen376 .<br />
Schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat sich zum Bestimmtheitsgebot<br />
ausdrücklich geäußert377 . <strong>Die</strong> Reichweite des Entscheidungsspielraums<br />
wird durch das Ziel der Ermächtigungsnorm begrenzt.<br />
Hierzu gehören auch die Pflicht zur gewissenhaften Sachverhaltsermittlung<br />
sowie Beachtung der Verfahrensvorschriften. Bei Entscheidungsspielräumen<br />
legt der EuGH besonderen Wert auf eine hinreichende Entscheidungsbegründung378<br />
. Der Verzicht auf eine Durchnormierung des Verwaltungsrechts<br />
darf nicht zur Willkür oder zu sachlich unbegründeten Entscheidungen führen.<br />
Deshalb kommt der Entscheidungsbegründung erhebliche Bedeutung<br />
zu. <strong>Die</strong> Behörde muss darlegen, warum sie eine Entscheidung so getroffen<br />
hat und nicht anders. <strong>Die</strong>s dient nicht nur der Selbstkontrolle der Verwaltung,<br />
sondern auch der Möglichkeit des Betroffenen, die Erfolgsaussichten<br />
373 EuGH, Slg. 1985, 3321, 3361 Rn 23 f. - Rheingold<br />
374 Vgl. Schwarze (FN 198), S. 458; s.a. Ehrlich (FN 62), S. 110<br />
375 So z.B. Herdegen/Richter, in: Frowein, <strong>Die</strong> Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung<br />
von Handlungen der Verwaltung, S. 211<br />
376 EuGH Rs 158/80 - Rewe, Slg. 1981 S. 1805 ff., Schwarze (FN 198), S. 389<br />
377 Zu Art. 8 Dual-use-VO unter Verweis auf EuGHMRE, EUGRZ 1988, 356: Karpenstein,<br />
in: Grabitz/Hilf (FN 4), E 16, Rn 7<br />
378 EuGH, Rs C 269-90 – TU München, Slg. 191 I 5469, 5499; bestätigt durch EuGHE<br />
Rs C 27-04 – Stabilitätspakt, EuZW 2004, S. 465<br />
102
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
eines Rechtsmittels beurteilen zu können. Ermessen und Begründung stehen<br />
in engem Zusammenhang, um die Willensbildung der Verwaltung für alle<br />
Beteiligten nachvollziehbar zu machen379 . <strong>Die</strong> Kontrollfunktion der Begründung<br />
führt dazu, dass je nach Art der Maßnahme die Anforderungen an sie<br />
steigen. So ist bei Einzelfallentscheidungen eine umfassendere Begründung<br />
erforderlich als bei einer bloßen Richtlinieanwendung: je weiter das Ermessen<br />
umso höher die Anforderungen an Begründungspflichten380 . <strong>Die</strong> Intensität<br />
der Verfahrenskontrolle soll umso stärker sein, je mehr Entscheidungsspielraum<br />
der Verwaltung zugebilligt wird381 . <strong>Die</strong> Bedeutung der Verfahrensgarantien<br />
bei Ermessensakten wird noch eingehender zu erörtern sein.<br />
Neben der ausreichenden Begründung ist also eine hinreichende, vollständige<br />
und richtige Tatsachenermittlung erforderlich. Das ist Ausfluss des<br />
Rechtsstaatsprinzips, ebenso wie die anderen Verfahrensrechte des Betroffenen.<br />
Sonst wäre eine sachgerechte Rechtsverfolgung durch den Betroffenen<br />
nicht möglich. <strong>Die</strong> Ermittlungspflicht wird auch vom EuGH wahrgenommen,<br />
der im Prozess selbst Beweis erheben kann382 . Zu den wesentlichen<br />
Verfahrensrechten zählt der EuGH auch das Recht auf rechtliches Gehör,<br />
Akteneinsicht und Auskunftspflichten der Behörde, die ebenfalls zur vollständigen<br />
Sachaufklärung beitragen und eine gewisse Selbstkontrolle der<br />
Verwaltung ermöglicht. Bei der Prüfung formeller Anforderungen an eine<br />
rechtmäßige Maßnahme kommen Zuständigkeitsfragen i.V.m. der Gemeinschafts-<br />
und Organkompetenz ebenso wie Formfragen hinzu383 . Werden Verfahrensregeln<br />
gezielt umgangen, kann es sich dabei um eine Form des Ermessensmissbrauchs<br />
handeln384 .<br />
<strong>Die</strong> Rechtskontrolle des EuGH erstreckt sich neben den genannten formellen<br />
Voraussetzungen des Verwaltungshandelns auf eine Inhaltskontrolle der<br />
Entscheidung. <strong>Die</strong> allgemeinen Rechtsgrundsätze müssen in gerichtlich kontrollierbarer<br />
Weise eingehalten werden385 . Der EuGH zieht dabei regelmäßig<br />
die allgemeinen Prinzipien des Vertrauensschutzes, der Verhältnismäßigkeit<br />
379 Vgl. Schwarze (FN 198), S. 285<br />
380 Zu Funktion und Umgang der Begründungspflicht eingehend: Calliess, Für Sicherheit,<br />
für Europa, in: Hendler/Ibler/Soria, Festschrift für Götz, S. 252 ff.<br />
381 EuGHE vom 13.07.2004, Rs C-27/04, EuZW 2004, S. 465, Rn 80 ff.<br />
382 Schwarze (FN 198), S. 1195<br />
383 Ebenda, Einf. S. LX, 291, zu den Verteidigungsrechten S. 1201 ff., s.a. Gornig/Trüe,<br />
JZ 1993, S. 884 ff., 886<br />
384 EuGHE Rs 2/57 – Compagnie de Hauts Foreaux Chasse, slg. 1958, S. 131 ff.<br />
385 EuGH (FN 378), mit weiteren Rspr.-Nachweisen: Schwarze (FN 198), S. 291 ff., 389<br />
ff.<br />
103
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
und das Diskriminierungsverbot heran386 . Für Entscheidungen der nationalen<br />
Behörden im unmittelbar indirekten Vollzug von Gemeinschaftsrecht,<br />
wie nach der Dual-use-VO, muss zusätzlich eine einheitliche Handhabung<br />
durch die Mitgliedstaaten sichergestellt sein. Judikative Leitlinien können<br />
den Spielraum der Verwaltung einschränken.<br />
Grundsätzlich beschränkt sich die gerichtliche Prüfung von Verwaltungsermessen<br />
auf die Einhaltung der Ermessensgrenzen. Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte<br />
bleiben außen vor387 . Der EuGH prüft hierbei allein die Einstellung<br />
vollständiger und richtiger Tatsachengrundlagen in die Entscheidung<br />
sowie die Reichweite des Entscheidungsspielraums. Hierzu sind inhaltliche<br />
Bindungen durch die Ermächtigung oder auch durch übergeordnete vertragliche<br />
Gemeinschaftsziele von Belang388 . Daneben berücksichtigt er die<br />
Selbstbindung der Verwaltung, z.B. durch Auswahlkriterien oder Ermessensrichtlinien389<br />
. Gerade der Gleichbehandlungsgrundsatz ist hierbei von<br />
Bedeutung. Nach Ansicht des EuGH sei eine Selbstbindung der Verwaltung<br />
möglich, die beispielsweise durch Ermessensrichtlinien begründet werden<br />
kann. Im Rahmen des Gerichtsverfahrens könne die Einhaltung dieses Rahmens<br />
überprüft werden390 .<br />
Schließlich prüft der EuGH das Vorliegen von Ermessensmissbrauch, der<br />
sich nach dem französischen Ansatz des détournement de pouvoir durch gesetzeswidrige<br />
Zweckverfolgung kennzeichnet, den die zuständige Behörde<br />
begehe, wenn sie ihre Befugnisse zu anderen als den vom Normgeber vorgegebenen<br />
Zielen bzw. Zwecken gebraucht. Bei gerade im politischen Bereich<br />
wachsenden Ermessensspielräumen geht auch der EuGH von einer<br />
Kompensation durch gerichtliche Kontrollen aus. Das aber führt zu einem<br />
Spannungsverhältnis von Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Der EuGH<br />
gewichtet seine Prüfung wegen der oft nicht erkennbaren Zielsetzung des<br />
Gemeinschaftsorgans nicht zwingend beim Ermessensmissbrauch, sondern<br />
zunehmend der Willkürkontrolle und Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme.<br />
Dabei muss die Sachdienlichkeit einer Entscheidung einbezogen werden.<br />
<strong>Die</strong>s ähnelt der Rechtsgüterabwägung nach nationalem Recht, wie sie bei<br />
der Angemessenheitsprüfung bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne<br />
386 Herdegen/Richter, in: Frowein (FN 369), S. 215 f.<br />
387 Dazu eingehend unter Betrachtung verschiedener Rechtsbereiche: Schwarze (FN<br />
198), S. 287 ff.<br />
388 EuGHE Rs 8/57 - Groupement des Hauts Forneaux et Auieries Belges, Slg. 1958, S.<br />
231 ff.<br />
389 EuGHE Rs 25/83 Bueck, Slg. 1984, 1773, 1783 und Rs 280/80 – Bakke D’Aloya,<br />
Slg. 1981, 2887, 2900<br />
390 Vgl. Schwarze (FN 198), S. 297, 299<br />
104
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
stattfindet. <strong>Die</strong> Prüfung des EuGH fokussiert daher auf die Gleichbehandlung<br />
und allgemeine Interessenabwägung. Findet diese nicht statt, liegt<br />
ebenfalls ein Ermessensmissbrauch vor391 .<br />
Der EuGH beschränkt die Prüfung der Ermessensfehler allerdings auf eine<br />
offensichtliche Überschreitung der Ermessensgrenzen392 . Für einen solch<br />
evidenten Irrtum unter Verkennung des Normzwecks oder der für die Entscheidung<br />
notwendigen Tatsachen ist der Kläger beweispflichtig. Das gilt<br />
auch für ein Unterlassen der Berücksichtigung wesentlicher Gesichtspunkte<br />
oder die fehlerhafte Bewertung außerhalb der Reichweite des Entscheidungsspielraums.<br />
Dabei reichen Indizien aus, die einen solchen Einwand berechtigt<br />
erscheinen lassen393 . Grundlage dafür sind das gemeinschaftsrechtliche<br />
Effektivitätsprinzip sowie das Gebot des Individualrechtsschutzes394 . Sie<br />
sind mit der Rechtsweggarantie des Grundgesetzes vergleichbar, dürfen<br />
nicht durch den Entscheidungsspielraum der Verwaltung konterkariert werden395<br />
. <strong>Die</strong> Überschreitung der Ermessengrenzen sowie die Einhaltung der<br />
gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze und der Grundrechte werden damit<br />
durch den EuGH überprüft. Dort geschützte Individualbelange schränken<br />
die Letztentscheidungsbefugnis der Verwaltung demnach ein.<br />
Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der EuGH auch bei unbestimmten<br />
Rechtsbegriffen nicht von einer vollständigen Überprüfbarkeit durch die Gerichte<br />
ausgeht396 . Er folgt damit der französischen Rechtstradition, wonach<br />
die Verwaltungsgerichte grundsätzlich auf die rechtliche Untersuchung der<br />
vom Kläger geltend gemachten Klagegründe beschränkt sind und unter<br />
Rücksichtnahme auf die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung von<br />
Amts wegen nur besonders schwerwiegende Rechtsfehler berücksichtigen397<br />
. Deshalb wird hierbei auch vom Evidenzkriterium gesprochen. <strong>Die</strong>se<br />
391 Zum Ermessensmissbrauch eingehend: Bleckmann, in: Grewe/Rupp/Schneider,<br />
Europäische Gerichtsbarkeit und nationale Verfassungsgerichtsbarkeit: Festschr. zum<br />
70. Geburtstag von Hans Kutscher., S. 25 ff., dort insbesondere S. 28, 35 und 38; s.a.<br />
Gornig/Trüe, JZ 1993, S. 890 mit Rspr-Hinweisen; aber auch Schwarze (FN 198), S.<br />
399; sowie beispielhaft EuGHE Rs 8/55 – Federation Charbonniere de Belgique ,<br />
Slg. 55/56 S. 317 ff.<br />
392 Grundlegend Rs 6/54 Regierung des Königreichs der Niederlande, Slg. 54/55, S. 213<br />
ff.; so auch zum Außenhandelsrecht Rs 191/81 Fediol, slg. 1983, 2913 ff. (anti-<br />
Dumping) , mit weiteren Nachweisen: Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III,<br />
Art. 249 EGV, Rn 103<br />
393 Schwarze (FN 198), S. 321<br />
394 Tettinger (FN 128), 329, 331<br />
395 Kadelbach (FN 194), S. 449, 452<br />
396 Ehrlich (FN 62) , S 111<br />
397 Vgl. von Danwitz (FN 197), S. 84<br />
105
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
vom EuGH angewandten Grundsätze müssen wegen des Anwendungsvorrangs<br />
auch die nationalen Gerichte beachten 398 . Zweckmäßigkeits- und<br />
Prognoseerwägungen werden nach der EuGH-Rechtsprechung nur im Ausnahmefall<br />
beanstandet. Auf die Reichweite des mit einem wertenden Charakter<br />
verbundenen Evidenzkriteriums muss aber noch einmal näher eingegangen<br />
werden.<br />
b) Interpretation der EuGH-Rechtsprechung mittels Rechtsvergleich<br />
Hinweise darauf, wie die EuGH-Rechtsprechung zum Entscheidungsspielraum<br />
der Verwaltung rechtsdogmatisch begründet ist, auch zur Auslegung<br />
des Evidenzkriteriums, bietet ein Blick auf dessen Ursprünge im französischen<br />
Verwaltungsrecht und die hierzu ergangenen Ausführungen in der<br />
französischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. Ergänzend und beispielhaft<br />
für die anderen Mitgliedstaaten soll ein Blick auf die britische<br />
Rechtsordnung erfolgen. Schließlich geht es bei den Erscheinungsformen<br />
von Verwaltungsermessen nicht um eine gemeingültige Abstraktion, sondern<br />
allenfalls um vergleichbare Rechtsinstitute. Sie haben wegen ihrer verfassungsrechtlichen,<br />
historischen und politischen Verankerung unterschiedliche<br />
Grenzen des administrativen Entscheidungsspielraums entwickelt. An dieser<br />
Ausprägung der Gewaltenteilung in den Mitgliedstaaten muss sich der<br />
EuGH orientieren, um die im Binnenmarkt angestrebte Harmonisierungswirkung<br />
zu erzielen.<br />
Das Verwaltungsermessen französischer Prägung ist, ganz anders als in der<br />
deutschen Rechtsgeschichte, nicht Produkt des Gesetzes oder Richters, sondern<br />
einer historischen Verwaltungsautonomie399 . In der Gesetzgebung gibt<br />
es deshalb Zuständigkeiten der Verwaltung für Maßnahmen, die nicht oder<br />
nur sehr generalisierend an konkrete Voraussetzungen gebunden sind oder<br />
bei denen auch eine Umschreibung der Rechtsfolgenseite fehlt. <strong>Die</strong>ses erzeugt<br />
beachtliche administrative Handlungsspielräume und macht die Ermessensverwaltung<br />
zum Regelfall400 . Handlungsfreiheit wird mittels Unbestimmtheit<br />
der Rechtsnorm erzielt und mit pouvoir discrétionnaire bezeichnet.<br />
Ermessen liegt nach dem französischen Rechtsverständnis im Spannungsfeld<br />
mit dem principe légalité, einer richterrechtlichen Ausprägung des<br />
Rechtsstaatsprinzips und dem principe opportunité, dem der richterlichen<br />
398 Bestätigend Schwarze (FN 198), S. 458<br />
399 Vgl. Gaudemet, in: Bullinger (FN 299), Französischer Landesbericht, S. 113 ff.<br />
400 Schlette, <strong>Die</strong> verwaltungsgerichtliche Kontrolle von Ermessensakten in Frankreich,<br />
S.96, 98<br />
106
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
Kontrolle nicht zugänglichen Prinzip der Zweckmäßigkeit einer Behördenentscheidung.<br />
<strong>Die</strong>se Prinzipien sind inzwischen stark durch die Rechtsprechung des obersten<br />
französischen Kontrollorgans der Verwaltung, des Conseil d’Etat (Staatsrates),<br />
relativiert worden. Neben einer zunehmend formalen Kontrolle von<br />
Ermessensentscheidungen (Zuständigkeit, Verfahren) erfolgt die Kontrolle<br />
der materiellen Rechtmäßigkeit. Bei ihr werden die Grenzen des Ermessens,<br />
so genannte Ermessensirrtümer, geprüft. <strong>Die</strong> Behörde muss einen rechtmäßigen<br />
Zweck verfolgen, den Sachverhalt zutreffend ermitteln und subsumieren<br />
sowie die Beachtung allgemeiner Rechtsprinzipien nachweisen. Dazu<br />
gehören u.a. der Gleichheitssatz, das Anhörungsrecht und die Verhältnismäßigkeit401<br />
. Besonderen Wert wird im Rahmen der Prüfung einer Rechtsverletzung<br />
auf die Begründung einer Ermessensentscheidung gelegt. Im Falle<br />
der Verwendung falscher oder unvollständiger Tatsachen gilt dies als fehlerhaft402<br />
, was zur Nichtigkeit der Entscheidung führt. Der ebenfalls der richterlichen<br />
Kontrolle zugängliche Vorwurf des Ermessensmissbrauchs, also<br />
eine bewusst zeckfremde Entscheidung, spielt für die Praxis eine geringe<br />
Rolle. Hintergrund ist die für den Kläger ungünstige Beweislast hierfür403 .<br />
Bei der Eingriffsverwaltung werden unbestimmte Rechtsbegriffe durch eine<br />
richterrechtliche condition légale daraufhin überprüft, ob eine zum Eingriff<br />
berechtigende Situation vorliegt404 . Hier stehen sich das öffentliche Interesse<br />
und die Freiheitsrechte des Bürgers in besonderem Maße gegenüber. Das<br />
Rechtsschutzinteresse des Einzelnen erhält besonderes Gewicht, so dass eine<br />
maximale gerichtliche Überprüfung polizeilichen Handelns gewährleistet<br />
sein soll405 . Es werden, wie im nationalen Recht, richterlich überprüfungsfähige<br />
Anwendungskriterien entwickelt, die den unbestimmten Rechtsbegriff<br />
näher bestimmen und ausfüllen sollen. Ein Beispiel dazu bildet das Polizeirecht,<br />
in dem Gründe der öffentlichen Sicherheit (ordre public) mittels des<br />
Erfordernisses einer menace (Bedrohung, Gefährdung) oder von troubles<br />
(Störung) spezifiziert werden 406 . Unter Berücksichtigung von Zeitpunkt und<br />
Umständen des Einzelfalls werden Erfordernis und Angemessenheit eines<br />
401 Schwarze (FN 198), S. 252<br />
402 Ebenda, S. 249<br />
403 Ebenda, S. 253<br />
404 Mit umfassenden Ausführungen zu Grundlagen des Ermessens und Kontrolldichte:<br />
Schlette (FN 400), S. 161,<br />
405 Schwarze (FN 187), S. 251<br />
406 Schlette (FN 400), 212, 220,<br />
107
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
Eingriffs geprüft407 . Es wird nicht nur die Gesetzmäßigkeit der Ziele des<br />
Eingriffs, sondern auch die Erforderlichkeit der eingesetzten Mittel hinterfragt.<br />
Schwere des Eingriffs und Maßnahme werden gegenübergestellt408 .<br />
Zur Schließung verbliebener Lücken der Verwaltungskontrolle hat sich in<br />
der jüngeren Rechtsprechung das Rechtsinstitut des „offensichtlichen Beurteilungsfehlers“<br />
(erreur manifeste) etabliert. <strong>Die</strong>ser erlaubt eine zunächst<br />
umfassende richterliche Kontrolle von Tatsacheneinschätzung, Entschließungs-<br />
und Auswahlermessen, in deren Rahmen ebenfalls eine Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
stattfindet. Das Kernstück des Rechtsinstitutes, das Evidenzkriterium,<br />
wird je nach Rechtsgebiet unterschiedlich weit ausgelegt, die<br />
Intensität der Entscheidungskontrolle ist dabei regelmäßig hoch, erst im Ergebnis<br />
wird dann über die Evidenz beschieden, was von der Schwere des<br />
Verstoßes und der Sensibilität des Rechtsgebietes abhängt. Im Sicherheitsrecht<br />
ist der Maßstab eher eng, im Wirtschaftsverwaltungsrecht weit gefasst.<br />
Für die Kontrollintensität gibt es letztlich keine generalisierende Regel wie<br />
im deutschen Verwaltungsrecht. Sie richtet sich nicht zuletzt auch nach den<br />
betroffenen schützenswerten berechtigten öffentlichen und privaten Interessen409<br />
. Eine flexiblere Handhabung lässt auch der EuGH erkennen. Für das<br />
Außenwirtschaftsrecht sei z.B. wegen der damit verbundenen politischen<br />
Dimension der Entscheidungsspielraum der Verwaltung höher zu bewerten<br />
als in der Binnenwirtschaft. Jedoch lässt sich nicht klar differenzieren, in<br />
welchen Fällen der Gerichtshof sich auf eine Evidenzkontrolle der Verwaltungsentscheidung<br />
beschränkt. Zum Beispiel würde bei Klagen im Zusammenhang<br />
mit komplexen Werturteilen nicht zwingend ein Beurteilungsspielraum<br />
festgestellt410 .<br />
Auch in Großbritannien hat die Ermessensfunktion mit Blick auf die Gewährleistung<br />
der Gewaltenteilung eine besondere Stellung bei der judical<br />
review von Verwaltungsentscheidungen. Sie hat besonderen Einfluss auf die<br />
Herausbildung eines organisatorischen sowie verfahrensrechtlichen Sicherungssystems,<br />
dass einen Ermessenmissbrauch der Behörde verhindern soll.<br />
Überprüft wird das Handeln der Verwaltung innerhalb bzw. außerhalb des<br />
Ermächtigungsrahmens (ultra vires). Dazu gehört das schon zum deutschen<br />
sowie französischen Recht erörterte Prinzip der Regelbildung. Allgemein<br />
richte sich die Intensität der gerichtlichen Kontrolle danach, ob eine Regel-<br />
407 Schmitz, Rechtsstaat und Grundrechtsschutz im französischen Polizeirecht, S. 240 ff.,<br />
264<br />
408 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 43<br />
409 Nolte, in: Frowein (FN 369), S. 281<br />
410 Herdegen/Richter, in: Frowein (FN 369), S. 244 f.<br />
108
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
bildung möglich ist bzw. Anwendungsrichtlinien existiert. <strong>Die</strong>ses hänge<br />
vom betroffenen Sachbereich der Verwaltung ab411 . Eine der deutschen und<br />
französischen Verfassung vergleichbare Rechtsschutzgarantie gibt es<br />
gleichwohl nicht. Der Prüfungsmaßstab nach den drei Stufen Illegality, Irrationality<br />
und Proportionality wird bei der Ermessensentscheidung nur im<br />
Ausnahmefall angewandt. Stufen eins und zwei sind wegen der negativen<br />
Formulierung eher als Missbrauchsverbot zu verstehen. <strong>Die</strong> dritte Stufe, das<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip, wird vor allem bei starken Beeinträchtigungen<br />
der Freiheitsrechte angewandt. Im Übrigen gibt es eine Tendenz der Rechtsprechung<br />
zur Verstärkung der Kontrolldichte412 .<br />
Insgesamt lässt sich festhalten, dass in Frankreich sowie in England beim<br />
Ermessen keine Unterscheidung von Rechtsfolgen- und Tatbestandsseite getroffen<br />
wird. Das deckt sich mit der EuGH-Rechtsprechung. In beiden<br />
Rechtsordnungen wurden wie in Deutschland, Grenzen der Ermessensausübung<br />
herausgearbeitet, die der gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Insbesondere<br />
geht es um die Einhaltung der Grenzen übertragener Staatsgewalt,<br />
was in der englischen ultra-vires-Rechtsprechung oder im französischen<br />
pouvoir discrétionnaire, insbesondere aber durch die jeweils entwickelten<br />
Formeln und Standards für die inhaltliche Kontrolle des Ermessens zum<br />
Ausdruck kommt413 . Verschiedene Ermessensbereiche unterliegen auch der<br />
materiellen richterlichen Kontrolle des zweckmäßigen Handelns, je nach<br />
Eignung zur Rechtsfortbildung über die Entwicklung von Anwendungsregeln<br />
auf der Grundlage von Erfahrungssätzen.<br />
Bei dieser Regelbildung darf die Verwaltung allerdings nicht an einer im<br />
Einzelfall angemessenen Reaktion gehindert werden, insbesondere darf die<br />
Ermessensfunktion effektiven Handelns der Verwaltung nach dem Normzweck<br />
nicht außer Acht gelassen werden414 . Insbesondere sind normkonkretisierende<br />
Verwaltungsvorschriften nicht geeignet, eine richterliche Bindung<br />
zu erzeugen. Sie können das Fehlen eines Rechtssatzes, vor allem wegen<br />
oftmals fehlender Transparenz nicht ersetzen415 . Daraus lässt sich der<br />
Schluss ziehen, dass eine gerichtliche Prüfung zumindest dahingehend möglich<br />
ist, dass die Verwaltungsrichtlinien bzw. -vorschriften von der vorhan-<br />
411 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 49 und Graig, ebenda, S. 110<br />
412 Nolte, in: Frowein, (FN 369), S. 281<br />
413 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 28, 37<br />
414 Zum Konflikt von Rechtssicherheit auf der einen, und Berechenbarkeit und Effizienz<br />
des Verwaltungshandelns auf der anderen Seite: ebenda, S. 49, 149<br />
415 Kadelbach, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S.239 unter Verweis auf<br />
v. Danwitz (FN 197), S. 220 ff.<br />
109
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
denen Rechtsnorm gedeckt sind, also sich im Rahmen des Entscheidungsspielraumes<br />
bewegen. Im Vergleich mit den in Deutschland entwickelten<br />
Grundsätzen zu Ermessen und Beurteilungsspielraum lässt sich feststellen,<br />
dass die Kontrolldichte bei Ermessensfehlgebrauch und -ausfall in Frankreich<br />
durchaus vergleichbar ist. Grundrechte und Verfassungsprinzipien inklusive<br />
der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs werden, wenn auch nicht innerhalb<br />
des Ermessens, so doch in allen Rechtsordnungen gleichermaßen,<br />
berücksichtigt.<br />
Der Umgang mit dem Beurteilungsspielraum, insbesondere hinsichtlich der<br />
Überprüfung allgemein gültiger Bewertungsmaßstäbe ist ebenfalls vergleichbar416<br />
. Auch in der Kontrollpraxis des EuGH geht es nach den o.g.<br />
Erwägungen vor allem um die Berücksichtigung schwerer Rechtsfehler, die<br />
ohne weiteres erkennbar bzw. feststellbar sind. Es erfolgt, wie sie nach der<br />
nationalen Lehre, eine Wertung des Normzwecks und betroffener Belange417<br />
. Allerdings ist eine eher restriktive Tendenz des EuGH zu beobachten,<br />
evidente Fehler im Rahmen dieser Wertung anzuerkennen, insbesondere bei<br />
mit der Wertung verbundenen materiellen Rechtsfragen418 . Dem deutschen<br />
Ansatz einer materiell sehr weitgehenden gerichtlichen Prüfungskompetenz<br />
stehen dafür auf EG-Ebene stärker verfahrensorientierte Modelle gegenüber,<br />
wie dies auch in Frankreich und Großbritannien der Fall ist419 . <strong>Die</strong> vom<br />
EuGH übernommenen kompensatorischen Elemente von Anwendungsrichtlinien<br />
und Verfahrensrelevanz erinnern im Übrigen erheblich an Maßstäbe<br />
aus dem Risikoverwaltungsrecht, auf das noch später einzugehen sein<br />
wird420 . Letztlich geht es um das Prinzip einer funktionsgerechten Machtverteilung<br />
(Gewaltenteilung) zwischen Gesetzgeber, Verwaltung und Gerichten,<br />
welches als Organisationsprinzipien auch auf EG-Ebene zu berücksichtigen<br />
ist421 . Das ergibt sich nicht zuletzt aus Art. 6 EMRK422 .<br />
416 Schlette (FN 400), zur Offensichtlichkeit eines Beurteilungsfehlers,:S. 273 ff.;<br />
Rechtsvergleich mit deutscher Ermessensfehlerlehre: S. 351<br />
417 Vgl. hierzu Pache (FN 337), S. 399<br />
418 So Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 50<br />
419 Pietzker, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 111 unter Verweis u.a.<br />
auf Kokott, DÖV 1998, 335, 336 f.<br />
420 Vgl. Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 418<br />
421 Schmidt-Aßmann. in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S.37<br />
422 Frowein, in: Frowein, (FN 369), S. 284<br />
110
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
5. <strong>Die</strong> rechtlichen Folgen fehlerhafter Ermessensausübung<br />
Ein Vergleich der gerichtlichen Prüfungstiefe im nationalen und Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
bedarf auch der Frage nach den Fehlerfolgen. Konkrete<br />
Regelungen zur gerichtlichen Kassation von Verwaltungsakten, wie sie<br />
die §§ 45 und 46 VwVfG vorsehen, gibt es im allgemeinen Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
ebenso wenig wie in der Dual-use-VO. Daher ist das nationale<br />
Recht anwendbar.<br />
Nach § 44 VwVfG kommt es ausnahmsweise zur Nichtigkeit von Rechtsakten,<br />
wenn dies offensichtliche, besonders schwere Fehler der Verwaltung betrifft.<br />
Bei Würdigung aller Tatsachen muss der Durchschnittsbürger erkennen<br />
können, dass die Maßnahme fehlerhaft war423 . § 44 Abs. 2 VwVfG<br />
zeigt, dass die Maßstäbe dafür gegenüber der Evidenzrechtsprechung des<br />
EuGH höher angesiedelt sind. Neben schwerwiegenden Verfahrensfehlern,<br />
zu denen gerade nicht die Begründungspflicht zählt, stehen ganz erhebliche<br />
materielle Fehler, die an Straftaten und einer Verletzung der guten Sitten fest<br />
machen. Es geht nicht um bereichsspezifische Wertungen und Abwägungen,<br />
wie sie der EuGH im Sinne einer Verhältnismäßigkeitskontrolle vornimmt.<br />
In Folge fehlerhafter Ermessensausübung kann das Gericht eine Entscheidung<br />
nach § 46 VwVfG aufheben oder gem. §§ 86, 113 Abs. 2 und 3 VwGO<br />
selbst entscheiden424 . <strong>Die</strong>s hängt davon ab, ob eine Entscheidung zwingend<br />
hätte anders getroffen werden müssen, also Auswirkungen des Fehlers auf<br />
die Entscheidung bestehen. Es geht um eine gerichtliche Wertung der zulässigen<br />
Fehlertoleranz, keinesfalls um eine Beweislast des Betroffenen für die<br />
Auswirkungen des Fehlers425 . <strong>Die</strong>ser Wertungsspielraum der Gerichte<br />
scheint dem Evidenzkriterium des EuGH zu ähneln, das sich allerdings auch<br />
auf materielle Rechtsfehler bezieht. Wenn eine anderweitige Sachentscheidung<br />
denkbar ist, führen Zuständigkeits- und Verfahrensmängel zur Aufhebung<br />
der Entscheidung nach § 46 VwVfG426 .<br />
Im nationalen Recht ordnet § 45 VwVfG eine nachträgliche Heilung oder<br />
Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern an. Dadurch könnte die Effizienz<br />
des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigt werden. Eine sanktionslose Nachholung,<br />
z.B. der Mitwirkungsrechte des Antragstellers, könnte die Missachtung<br />
des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten begünstigen. Im Einzel-<br />
423 Bull/Mehde, Verwaltungsrecht und Verwaltungslehre, S. 324 ff.<br />
424 Zum nationalen Recht: Alexy, JZ 1986, 707<br />
425 Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO, Rn 54<br />
426 Starck, in: Bullinger (FN 299), S. 38<br />
111
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
fall muss diese Regelung daher wegen des gemeinschaftsrechtlichen Effizienzgebotes<br />
zurücktreten427 .<br />
Fehler ziehen im gemeinschaftsrechtlichen Verfahren häufig ernstere Konsequenzen<br />
nach sich als nach dem nationalen Recht. Verstöße sollen dort<br />
stets beachtlich sein, es sei denn, es können Auswirkungen des Fehlers auf<br />
die Entscheidung ausgeschlossen werden428 . Im Gemeinschaftsrecht führt<br />
jeder Verfahrensverstoß zur Fehlerhaftigkeit des Verwaltungsaktes. Es kann<br />
bei offensichtlichen Fehlern auch eine Nichtigkeit der Entscheidung angenommen<br />
werden. Nach der Theorie der Nichtexistenz entfaltet ein Rechtsakt<br />
keine Rechtswirkung, wenn er Fehler aufweist und diese besonders schwerwiegend<br />
und offenkundig sind. Er sei dann weder für diejenigen, für die er<br />
bestimmt sei, noch für die Stelle, die ihn erlassen habe, verbindlich, ohne<br />
dass eine vorherige richterliche Entscheidung erforderlich sei. <strong>Die</strong> Tatsache,<br />
dass dieser Rechtsakt keine Wirkung entfalte, könne im Übrigen auch außerhalb<br />
der vorgesehenen Rechtsbehelfsfristen festgestellt werden429 . <strong>Die</strong><br />
Nichtigkeit macht den formalen Aufhebungsakt des Gerichtes verzichtbar.<br />
<strong>Die</strong>se Rechtsprechung folgt der dargelegten französischen Rechtstradition,<br />
wonach die Verwaltungsgerichte auf die Untersuchung der vom Kläger geltend<br />
gemachten Klagegründe beschränkt sind. Unter Rücksichtnahme auf<br />
die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung muss das Gericht nur schwerwiegende<br />
Rechtfehler berücksichtigen430 .<br />
Der in Einzelbereichen geringeren materiell-rechtlichen Kontrolle des<br />
EuGH steht in jedem Fall eine striktere Überprüfung verfahrensrechtlicher<br />
Garantien bei der Ausübung des Entscheidungsspielraums gegenüber431 . <strong>Die</strong><br />
Einhaltung der Verfahrens- und Formvorschriften bietet aus seiner Sicht sehr<br />
wichtige Anhaltspunkte für die materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung432<br />
. Im Vergleich der Ermessensfehlerlehre und der Grenzen von Beurteilungsspielräumen<br />
mit dem Gemeinschaftsrecht ergeben sich folgende<br />
Konsequenzen:<br />
(1) Im Ergebnis würde eine Beschränkung von §§ 45, 46 VwVfG durch<br />
gemeinschaftsfreundliche Auslegung zu einer Aufhebung der Verwal-<br />
427 Mit Beispiel der Kooperationspflichten der Mitgliedstaaten und der Vorrangwirkung<br />
gegenüber § 45 VwVfG: Ehrlich (FN 62),S. 92/ 94<br />
428 Gornig/Trüe, JZ 2000, 395, 397<br />
429 EuGH, Rs C-137/92 - BASF u. a./Kommission, Slg. 1994 I, 2555; aus Sicht von<br />
Schwarze ist dies aber die Ausnahme, (FN 198), S. LX und 285<br />
430 von Danwitz (FN 197), S. 84<br />
431 EuGH, Slg. 1991, I-5469 Rn 13 f. und I-5502, Rn 27 ff. – TU München<br />
432 Schwarze (FN 198), S. 308<br />
112
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
tungsentscheidung führen. Eine <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> wäre so noch<br />
nicht erteilt. Sie müsste in einem neuen Verfahren beschieden werden.<br />
Dort könnte die verbesserte Begründung heilend nachgeschoben werden.<br />
Eine nach Gemeinschaftsrecht mögliche Nichtigkeit der Ablehnungsentscheidung<br />
würde damit zur selben Rechtsfolge wie die Aufhebung<br />
führen. Dem Begehren des Ausführers ist so nicht Genüge getan.<br />
(2) Soweit es in seinem Interesse liegt, hat er Anspruch auf eine Bescheidung<br />
des Antrages. Den Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung<br />
kann er gegenüber der zuständigen Behörde geltend machen. Im<br />
Ergebnis kommt es in beiden Rechtsbereichen faktisch zu vergleichbaren<br />
Fehlerfolgen.<br />
(3) Eine Genehmigungsentscheidung des Gerichts wäre ausnahmsweise<br />
bei Sachverhalten möglich, in denen die Entscheidungsprärogative der<br />
Behörde nicht beeinträchtigt wäre, weil die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> in jedem<br />
Fall hätte erteilt werden müssen. Eine solche Ermessensreduzierung<br />
auf Null 433 wäre z.B. denkbar, wenn bei identischen Sachverhalten<br />
und unveränderter Gefahrenlage eine anderweitige positive Entscheidung<br />
aus der Vergangenheit hätte berücksichtigt werden müssen. Eine<br />
Selbstbindung der Verwaltung liegt vor, wenn sachliche Gründe für eine<br />
abweichende Beurteilung fehlen. In der Praxis ist das kaum denkbar,<br />
da die absolute Vergleichbarkeit zweier Genehmigungsanträge<br />
kaum gegeben ist. Bei den technischen Eigenschaften des Ausfuhrgutes<br />
ebenso sowie den Prognosen zur Endverwendung und sicherheitspolitischen<br />
Konsequenzen differieren die Anträge regelmäßig.<br />
6. Gemeinsamkeiten der gerichtlichen Prüfungstiefe im nationalen<br />
Recht und Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
a) Vergleich der Fehlerlehren<br />
Der EuGH erkennt einen umfassenden Entscheidungsspielraum der Verwaltung<br />
an. Aus den Parallelen zum französischen Recht lässt sich schließen,<br />
dass dieser durchaus einer richterlichen Kontrolle zugänglich ist, wie sie im<br />
nationalen Recht erfolgt. Der EuGH beschränkt sich bei der Prüfung der<br />
Tatsachenwürdigung umso mehr, je weiter das der Entscheidung zu Grunde<br />
liegende Ermessen ist und je unsicherer sich die künftigen Auswirkungen<br />
der Entscheidung beurteilen lassen. Gegenüber normativen Akten kann auch<br />
433 Dazu Wolff (FN 174), S. 103 Rn 60<br />
113
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
ein Verstoß gegen den Ermächtigungszweck oder eine gezielte Umgehung<br />
vorgegebener Verfahren als Ermessensmissbrauch geltend gemacht werden.<br />
Bei behördlichen Einzelentscheidungen sind diese Missbräuche kaum praxisrelevant434<br />
. <strong>Die</strong> Kontrolle beschränkt sich auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit<br />
einer Maßnahme und die Frage, ob diese offensichtlich ungeeignet<br />
ist. <strong>Die</strong> Beurteilung künftiger Entwicklungen ist von Rechts wegen<br />
nur zu beanstanden, wenn die getroffene Maßnahme offensichtlich irrig erscheint<br />
435 . Gleichzeitig steigen mit dem Ermessen die Anforderungen an die<br />
Verfahrensvorgaben, insbesondere die Begründungspflicht der Behörde.<br />
<strong>Die</strong>s ist wichtig, weil Verfahrensfehler zur Nichtigkeit von Rechtsakten führen<br />
können.<br />
Ähnliche Prüfungsschritte gelten auch im Rahmen der nationalen Maßstäbe.<br />
<strong>Die</strong> verfassungsmäßige Kontrolle des konkreten Verwaltungshandelns bezieht<br />
sich auf die Sachverhaltsermittlung, Verfahrensgestaltung und die inhaltliche<br />
Kontrolle der Entscheidung selbst. Auch hierbei werden Ermessensfehler<br />
in Form von Überschreitungen und Missbräuchen, der im Rechtsstaatsprinzip<br />
verankerter Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, das Willkürverbot<br />
und die Freiheitsrechte einbezogen. Im Rahmen der Maßstäbe von §<br />
144 VwGO und § 40 VwVfG wird dies am Erfordernis einer pflichtgemäßen<br />
Ermessensausübung bzw. am Ermessensfehlgebrauch festgemacht.<br />
Auch evidente Tatsachenirrtümer, wie sie der EuGH missbilligt, sind von<br />
der nationalen Lehre erfasst. Eine möglicherweise anderweitige Sachentscheidung<br />
im Sinne des § 46 VwVfG erscheint dann kaum denkbar.<br />
Als wesentlicher Unterschied zwischen nationalen und gemeinschaftsrechtlichen<br />
Prüfungsansätzen verbleibt die Steuerung der Kontrollintensität durch<br />
das Evidenzkriterium und die damit verbundenen Wertungen. In Verfahren,<br />
wo es trotz vorliegender Ermessensfehler zu einer Beibehaltung der Entscheidung<br />
kommt, wird die Rechtsverletzung des Klägers hingenommen.<br />
Das Evidenzkriterium sorgt dafür, dass die Verwaltungsautonomie bis zu einem<br />
bestimmten Grad Vorrang behält. Nach der nationalen Ermessensfehlerlehre<br />
könnte die Ermessenüberschreitung oder eine fehlerhafte Interessenabwägung<br />
im Rahmen der Verhältnismäßigkeit bei vergleichbaren Fällen<br />
scheinbar leichter gerügt werden. Da dies aber ebenfalls über Abwägungen<br />
und Wertungen geschieht, kommt es zu einem mit der Evidenzsteuerung<br />
vergleichbaren Effekt. Bereichspezifische Entscheidungsspielräume bleiben<br />
434 Dazu mit Beispielen: Schwarze (FN 198), 314, 318<br />
435 EuGH, Rs. 265/87 - Schräder, Slg. 1989, 2237, 2270; Rs. C-280/93 - Bananenmarktordnung,<br />
Slg. 1994, I-4973; zur offenischtlich irrigen Annahmen vgl. EuGH, Rs. C-<br />
295/94 - Hüpeden, Slg. 1996, I-3375<br />
114
II. Gesetzesbindung und Gestaltungsspielraum der Verwaltung<br />
durch die Gerichte graduell unangetastet. Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
und nationales Verwaltungsrecht führen danach regelmäßig zu vergleichbaren<br />
Ergebnissen. Verfahrensfehler, wie die mangelhafte Entscheidungsbegründung,<br />
führen im Gemeinschaftsrecht zu einer Nichtigkeit der Entscheidung,<br />
während es bei materiellen Ermessensdefiziten durch das Evidenzkriterium<br />
zu einer weniger strikten Bewertung der Rechtswidrigkeitsfrage<br />
kommen kann.<br />
Im Vergleich der praktischen Rechtsanwendung divergieren nationale und<br />
gemeinschaftsrechtliche Prinzipien vor allem deshalb, weil die EU eine<br />
dogmatische Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge nicht kennt, sondern<br />
beide in einer umfassenden Doktrin der Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit<br />
der Verwaltung aufgehen436 . Auch im Gemeinschaftsrecht geht es<br />
darum, administrative Gestaltungsfreiheit, bürgerschaftliche Rechtsschutzgewährung<br />
und parlamentarische Verantwortung angemessen zu verorten.<br />
Entscheidungsfreiheit in Folge rechtlicher Vorgaben ist immer gebunden<br />
und frei zugleich, da die Verwaltung immer zur Beachtung der Rechtsschranken<br />
verpflichtet ist437 . <strong>Die</strong> strukturellen Gemeinsamkeiten von Beurteilungsspielraum<br />
und Ermessen lassen beide Rechtsinstitute als Subkategorien<br />
administrativer Gestaltungsmacht erscheinen. Deren Kontrollmaßstäbe<br />
gleichen sich mit Rücksicht auf den Anspruch rechtlichen Gehörs stark438 .<br />
Schließlich zielt Ermessen auf eine einzelfallbezogene Tatbestandsergänzung<br />
der offenen Rechtsfolge. Vergleichbares geschieht beim Beurteilungsspielraum,<br />
der als Rechtsschöpfung zweiter Stufe durch Bildung konkretisierender<br />
Untersätze verwirklicht wird. <strong>Die</strong> strukturellen Trennlinien von<br />
Tatsachen- und Rechtsfragen lassen sich aber nicht immer erkennen439 . Es<br />
muss berücksichtigt werden, dass in allen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten<br />
Entscheidungsspielräume der Verwaltung und zu den deutschen Ansätzen<br />
Parallelen bestehen. Wegen der sehr starken Verknüpfung des Themas<br />
mit der machtpolitischen Verteilung und dem Staatsorganisationsgefüge als<br />
Ganzes ist eine Konvergenz der Mitgliedstaaten aber erheblich gehemmt.<br />
Der EuGH bezieht die Besonderheiten der Rechtsschutzsysteme bei seinen<br />
Erwägungen ein, auch bei der Bewertung der Reichweite von Verwaltungsautonomie440<br />
. Im Ergebnis sind die Erwägungen der nationalen Fehlerlehre<br />
im Lichte der weitgehend vergleichbaren EuGH-Rechtsprechung anwend-<br />
436 Mit diesem Fazit vgl. Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), Bd.1, Art. 6 Dualuse-VO,<br />
Rn 15<br />
437 Rhinow, in: Bullinger (FN 299), S. 77<br />
438 von Danwitz (FN 197), S. 84<br />
439 Herdegen/Richter, in: Frowein (FN 369), S. 247<br />
440 Schwarze (FN 198), S. 297<br />
115
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
bar, so dass praktische Auswirkungen dogmatisch unterschiedlicher Ansätze<br />
weder bei Verfahrens- noch Rechtsfehlern gegeben sein dürften. Das gilt erst<br />
recht, wenn man weit reichende Entscheidungsspielräume der Verwaltung<br />
i.V.m. Prognoseentscheidungen anerkennt 441 .<br />
b) Einheitliches Prüfungsschema und Gewichtung der Evidenzlehre<br />
Im Ergebnis eröffnet das Gemeinschaftsrecht eine mit § 114 VwGO vergleichbare<br />
Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen. Verfahrensfehler werden<br />
genauso wie Richtlinienverstöße, Verstöße gegen den Gleichheitssatz<br />
und Verhältnismäßigkeitsprüfung einbezogen. <strong>Die</strong> Gewichtung des Rechtsfehlers<br />
erfolgt beim EuGH allein im Rahmen der Evidenzkontrolle, was<br />
dann zur Nichtigkeit der Entscheidung führt. <strong>Die</strong>s ist letztlich mit der Abwägung<br />
der betroffenen Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit vergleichbar,<br />
die auch im nationalen Recht vorgesehen ist. Hierbei können aufgrund<br />
der materiellen Wirkung des § 39 VwVfG auch Verfahrensfehler einbezogen<br />
werden. Bei Gemeinschaftsrechtsakten ist die Möglichkeit der Heilung<br />
von Verfahrensfehlern im Sinne des § 45 VwVfG durch den Anwendungsvorrang<br />
präkludiert. Der dort formulierte Sanktionsgedanke der Nichtigkeit<br />
bei Verfahrensfehlern muss auch von deutschen Gerichten berücksichtigt<br />
werden und zur Aufhebung der Entscheidung führen. Folgendes<br />
einheitliches Prüfungsschema lässt sich nach diesen Feststellungen aus beiden<br />
Lehren festhalten:<br />
116<br />
I. Formelle Rechtmäßigkeit<br />
1. Zuständigkeit<br />
2. Verfahren: zutreffende und vollständige Sachverhaltsermittlung<br />
(evidenter Tatsachenirrtum, Ermessensfehlgebrauch), Einhaltung<br />
weiterer Verfahrensvorgaben, z.B. Berücksichtigung der Verteidigungsrechte<br />
3. Form: Einhaltung des Begründungserfordernisses (Ermessensfehlgebrauch)<br />
II. Materielle Rechtmäßigkeit bzw. Inhaltskontrolle<br />
1. Feststellung des Ermessensrahmens: Berücksichtigung der Verfassungs-<br />
oder Gemeinschaftsziele, Normzweck und verfassungs-<br />
441 So auch Wolffgang, DVBL. 1996, 277, 284 unter Verweis auf Bleckmann, in: Grewe/Rupp/Schneider<br />
(FN 391), S.25 ff., Gornig/Trüe, JZ 1993, S. 890, aber auch<br />
Schwarze (FN 198), S. 454 ff. ; s.a. Wolffgang, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN<br />
128), S. 39 ff., 70
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
konforme Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, Berücksichtigung<br />
von Grundrechtseingriffen und Beweislastfragen (Ermessensmissbrauch<br />
oder -fehlgebrauch)<br />
2. Selbstbindung der Verwaltung: Konkretisierung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe/ Typisierung von Ermessenssachverhalten durch<br />
Richtlinien, Anwendung der vorhandenen Richtlinien und Beachtung<br />
des Willkür- bzw. Diskriminierungsverbotes (Ermessensfehlgebrauch,<br />
Ermessensüberschreitung)<br />
3. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs: Geeignetheit und Erforderlichkeit<br />
des Eingriffs, Interessenabwägung i.V.m. Normzweck (Ermessensüberschreitung,<br />
Disproportionalität)<br />
III. Evidenzlehre des EuGH<br />
Wertung der Intensität des Rechtsfehlers i.V.m. betroffenen Belangen<br />
und Normzweck (Ähnlichkeiten zur Angemessenheitsprüfung<br />
im Rahmen der Verhältnismäßigkeit); u.U. abweichende Gewichtung<br />
von Verfahrensfehlern im Vergleich zum nationalen Recht<br />
7. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
Aus rechtssystematischen Gründen muss auch weiter unterschieden werden,<br />
welcher Kontrollmaßstab bzw. welche Ermessensfehlerlehre im konkreten<br />
Fall anzuwenden ist. Wegen der Zweigleisigkeit des Verfahrensrechts richtet<br />
sich diese nach der Herkunft der materiellen Norm, die einen Entscheidungsspielraum<br />
der Verwaltung vorsieht. <strong>Die</strong> Dogmatik des Gemeinschaftsverwaltungsrechts<br />
steht einer einheitlichen Anwendung der Ermessensfehlerlehren<br />
nicht entgegen. Sie unterscheiden sich dadurch, dass gemeinschaftsrechtliche,<br />
nur offensichtliche inhaltliche Ermessensfehler, gerügt<br />
werden können während im nationalen Recht Verfahrensfehler weniger erheblich<br />
sind. Im Vergleich zur deutschen Dogmatik kommt es zu einer verstärkten<br />
Bedeutung des Verfahrens. Darauf müssen die nationalen Behörden<br />
bei der Umsetzung von Gemeinschaftsrecht achten.<br />
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
Nach dieser allgemeinen Betrachtung der rechtsdogmatischen Ansätze des<br />
Entscheidungsspielraums wird die rechtliche Qualität einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />
geprüft. Dabei kommt es auf das Prognoseelement an,<br />
117
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
das der Gefahrenbewertung immanent ist. Hier ergibt sich ein bestimmter<br />
Prüfungsmaßstab für die Sachverhaltsermittlung und -bewertung durch die<br />
Behörde sowie auch für die gerichtliche Kontrolle der administrativen Entscheidung.<br />
1. <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung in der Exportkontrolle<br />
Sowohl nach AWG sowie auch der Dual-use-VO kommt es für die Erteilung<br />
der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> auf das Vorliegen einer Gefahr bzw. Gefährdung<br />
für die dort geschützten Rechtsgüter bzw. Interessen an. <strong>Die</strong> dafür notwendige<br />
Behördeneinschätzung hat Prognosecharakter, da sie sich auf eventuelle<br />
mögliche künftige Ereignisse im Zusammenhang mit der Verwendung der<br />
Lieferung bezieht. Es kommt auf die Frage nach den objektiven Anhaltspunkten<br />
für mögliche Rechtsgutgefährdungen ebenso an, wie auf die rechtlichen<br />
Maßstäbe zur Bewertung der tatbestandlich geforderten Gefahren-<br />
oder Störungssituation.<br />
a) Vorbemerkungen zum Vergleich der Regelungsbereiche in AWG<br />
und Dual-use-VO<br />
Beim Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit gibt es hinsichtlich der Normierung<br />
selbst keine Abweichungen. Beschränkungen sind die Ausnahme<br />
und müssen durch eine Ermächtigungsnorm gedeckt sein. <strong>Die</strong>s gilt auch bei<br />
Versagung einer Genehmigung. Sie muss sachlich gerechtfertigt und begründet<br />
sein. Mit Blick auf die Genehmigungskriterien stimmen Entscheidungen<br />
bei Genehmigungspflichten der Dual-use-VO nach Art. 9 Abs. 1<br />
Dual-use-VO und § 3 Abs. 1 AWG und § 7 AWG letztlich - wenn auch in<br />
etwas anderer Formulierung und Reihenfolge - inhaltlich überein442 . <strong>Die</strong>s<br />
wird der Sachlage und rationalen Vergleichbarkeit der jeweiligen Kontrollansätze<br />
gerecht. Im Ergebnis wird man selbst bei Annahme einer unterschiedlichen<br />
dogmatischen Verankerung der Genehmigungspflicht zu gleichen<br />
Entscheidungen kommen müssen.<br />
Was die verfassungsrechtliche Einstufung des Normcharakters und des damit<br />
verbundenen Entscheidungsspielraumes angeht, ist die im Gegensatz zu<br />
§ 3 AWG abweichende Formulierung der Dual-use-VO bedeutsam. Es gibt<br />
inzwischen eine Reihe von Stimmen, die davon ausgehen, dass Art. 8 i.V.m.<br />
442 Zur nationalen Regelung des § 1 AWG vgl. Teil 1 II.5.b) und zu Art 1 EG-VO Teil 1<br />
II.2.b), zum Vergleich der Genehmigungskriterien so im Ergebnis: Haddex (FN 4),<br />
Bd. 1, Teil 6 Rn 397 sowie eingehend dazu: Teil 1 I.5.d)<br />
118
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
Art. 9 Dual-use-VO als Ermessensnorm einzustufen ist443 . Zumindest die<br />
Formulierungen in den Vorschriften wie kann ablehnen oder die negative<br />
Formulierung im Zusammenhang mit Überlegungen sowie der offene Kriterienkatalog<br />
sprechen für diese Auslegung. In der Konsequenz wird geschlussfolgert,<br />
dass die europäischen Verfahrensgrundsätze für die Ausübung<br />
des Ermessens anzuwenden seien, sie wären insbesondere durch die<br />
Rechtsprechung des EuGH geprägt. Im Ergebnis könnte dann eine nur eingeschränkte<br />
gerichtliche Überprüfung des Entscheidungsspielraums erfolgen,<br />
was sich vor allem auf eine Beschränkung der Fehlerkontrolle auswirke.<br />
Ausgehend von dem bereits hinlänglich beschriebenen Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
gibt es dazu aber auch Gegenstimmen. Insbesondere gingen<br />
die zuständigen Behörden wegen der Notwendigkeit der Gefährdung der<br />
im Kriterienkatalog genannten Interessen von einem Anspruch des Antragstellers<br />
auf <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> aus, es sei denn, es liegen Anhaltspunkte<br />
für die gesetzliche Ausnahme vor444 . <strong>Die</strong> hinter den jeweiligen Auffassungen<br />
stehenden systematischen Argumente sollen deshalb noch einmal<br />
herausgestellt werden, vor allem mit der Fragestellung, ob es dabei wirklich<br />
zu abweichenden Prüfungsergebnissen kommt. Zuvor werden die sich in<br />
Verbindung mit der genehmigungsimmanenten Gefährdungs- bzw. Verwendungsprognose<br />
ergebenden Qualitätsmerkmale der Genehmigungspflicht<br />
näher untersucht.<br />
b) Verwendungsprognose und Sachverhaltsermittlung<br />
aa) Verwendungsprognose als Grundlage der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
Im Rahmen der bei jeder <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung zu treffenden<br />
Gefahrenprognose stellt sich bei Dual-use-Gütern implizit immer auch die<br />
Frage der Verwendungsprognose, das heißt, ob eine militärische Endverwendung<br />
des Gutes oder eine sonstige sensitive Endverwendung in Frage<br />
kommt. <strong>Die</strong> Gefahrenprognose bezieht sich also auf die Endverwendung<br />
und die daraus resultierende Rechtsgutgefährdung. Sie muss sich auf einen<br />
Sachverhalt stützen, der hinreichende Anhaltspunkte für die Endverwendung<br />
des Ausfuhrgutes bietet. Neben der technischen Qualität müssen Empfänger<br />
und Endverwender sowie deren potenzielle Verwendungsabsichten geklärt<br />
443 Ehrlich (FN 62), S. 106; Wolffgang, DVBl. 1996, 277, 284 VG Frankfurt a.M. (Urteil<br />
vom 08.05.2003 1E 3273/02(1), Besprechung von Ott, AW-Prax 2003, S. 353, 355,<br />
eingehend zu Hintergrund, Handhabung und gerichtlicher Prüfung der „Entscheidungsprärogative“<br />
Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S.77 ff.<br />
444 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 63 ff.<br />
119
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
werden445 . Aber weder der Antragsteller noch die Behörde können sicherstellen,<br />
dass die vorliegenden Angaben zur Endverwendung Realität werden<br />
und vor allem bleiben. Es schließt sich deshalb die Frage an, ob es dennoch<br />
ein Restrisiko gibt oder, tatbestandsmäßig gesprochen, wie hoch die Gefahr<br />
einer gesetzlich missbilligten Endverwendung ist446 . <strong>Die</strong> Bewertung die Erkenntnisse<br />
wird schließlich regelmäßig auch anhand bisher nicht absehbarer<br />
Ereignisse in der Zukunft erfolgen müssen, weist gewissermaßen immer einen<br />
Prognosecharakter auf.<br />
<strong>Die</strong> Erfüllung eines Genehmigungstatbestandes führt zunächst zu einer Genehmigungspflicht.<br />
<strong>Die</strong>s trifft aber keine Aussage über die Genehmigungsfähigkeit<br />
eines entsprechend gestellten Antrages des Ausführers. <strong>Die</strong>s gilt<br />
vor allem für gelistete Güter, deren Ausfuhr bei gesetzlich nicht missbilligter<br />
Endverwendung, also einer positiven Verwendungsprognose, grundsätzlich<br />
genehmigt wird. Bei den Verwendungstatbeständen bzw. ungelisteten Gütern<br />
ist eine solche Prognose der Behörde zusätzlich Voraussetzung dafür,<br />
dass überhaupt eine Genehmigungspflicht besteht. <strong>Die</strong> Endverwendungsprognose<br />
ist also nicht nur Instrument der Entscheidungsfindung sondern<br />
wirkt für die Genehmigungspflicht konstitutiv447 . Ohne eigene oder vom<br />
BAFA vermittelte Kenntnis des Ausführers von einer tatbestandlich relevanten<br />
Endverwendung seiner geplanten Ausfuhr gibt es keine rechtliche Handhabe,<br />
vor allem aber auch keine Sanktion bei fehlendem Genehmigungsantrag.<br />
Erst nach Feststellung eines für die Genehmigungspflicht einschlägigen<br />
Sachverhaltes kann die tatsächliche Gefahr für die schützenswerten Interessen<br />
und Rechtsgüter bewertet werden. Hinsichtlich der Sachverhaltsfeststellung<br />
müssen beide Schritte, also Verwendungsprognose auf der einen sowie<br />
Gefahrenprognose auf der anderen Seite rechtssystematisch unterschieden<br />
werden. Sie fallen jedoch zusammen, wenn es für die Genehmigungspflicht<br />
nicht auf die mögliche Verwendung ankommt.<br />
bb) Zutreffende Sachverhaltsermittlung<br />
<strong>Die</strong> Feststellung des zutreffenden Sachverhalts ist Ausgangspunkt jeder Behördenentscheidung,<br />
ganz unabhängig von der Frage eines Beurteilungsoder<br />
Ermessensspielraumes. Im nationalen Recht gilt hierbei der Amtsermittlungs-<br />
und Untersuchungsgrundsatz gem. § 24 VwVfG. <strong>Die</strong> Behörde<br />
muss den Sachverhalt ermitteln. Sie kann sich Beweismitteln, wie Auskünf-<br />
445 Zu den Antragserfordernissen: Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 334 ff.; nähere Angaben<br />
zu Ausfuhr, Ausfuhrgut, Empfänger und Endverwendung<br />
446 Zu den Anforderungen an die Abgrenzung der Gefährdung vom Restrisiko, v. Bogdandy<br />
(FN 4), S. 77<br />
447 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 5 Rn 332a<br />
120
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
ten und Anhörungen der Beteiligten, bedienen. Grundsätzlich ist den Beteiligten<br />
gem. § 29 VwVfG Akteneinsicht zu gewähren448 . <strong>Die</strong> Untersuchungsmaxime<br />
ist auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene anerkannt.<br />
Für alle Genehmigungstatbestände gilt zunächst, dass die im Antrag statuierte<br />
Endverwendung schlüssig sein muss. <strong>Die</strong> Darlegung des Sachverhalts<br />
muss unter Vorlage bestimmter Nachweise substantiiert erfolgen und einen<br />
logischen Zusammenhang aufweisen. Dazu gehört auch die technische Eignung<br />
des Ausfuhrgutes zum angegebenen Zweck. Darüber hinaus ist die<br />
Plausibilität, also Glaubhaftigkeit der Darstellung der zivilen Endverwendung<br />
einer Lieferung zu beurteilen. <strong>Die</strong>ser Grundsatz ist bei zivil verwendbaren<br />
Dual-use-Gütern noch bedeutsamer als bei Rüstungsgütern, deren<br />
Verwendung nach technischen Eigenschaften regelmäßig eindeutig ist449 .<br />
Bei gelisteten und ungelisteten Dual-use-Gütern konzentriert sich der Entscheidungsprozess<br />
auf die Frage der Genehmigungsfähigkeit, also einer Erteilung<br />
oder Ablehnung der Genehmigung. <strong>Die</strong> Bewertung eines Genehmigungsantrages<br />
ist bei Dual-use-Gütern deutlich komplexer als bei Rüstungsgütern.<br />
Hier steht die Frage der tatsächlichen Verwendung im Vordergrund.<br />
Bei Rüstungsgütern stellt sich allenfalls die Frage, in wessen Hände sie fallen.<br />
<strong>Die</strong> Gesamtheit der entscheidungsrelevanten Tatsachen liegt somit klar<br />
auf dem Tisch. <strong>Die</strong> Ermittlung des Sachverhaltes ist schwieriger und aufwendiger.<br />
<strong>Die</strong> behördliche Prüfung erfordert eine verlässliche Prognose der<br />
tatsächlichen Endverwendung einer Lieferung sowie der möglichen Verletzung<br />
entsprechender Rechtsgüter. Insoweit unterscheiden sich die Kontrollansätze<br />
von EU und nationalem Gesetzgeber nicht. Das Beispiel der schützenswerten<br />
Belange i. S. des § 7 AWG oder des Art. 8 Dual-use-VO zeigt,<br />
dass sich Sachverhalt und Wertung systematisch kaum trennen lassen450 .<br />
<strong>Die</strong> Verwendungsprognose und die Bewertung des Missbrauchspotenzials<br />
einer Lieferung müssen gemeinsam mit der politischen Bewertung des Empfängers<br />
als Grundlage für eine Entscheidung aufbereitet werden. Je nach<br />
Ziel einer Lieferung und Qualität des betroffenen Gutes erfolgt eine höchst<br />
differenzierte Betrachtung. Neben die rechtlichen Genehmigungskriterien<br />
treten die Instrumente einer Gefahrenprognose und die politischen Entscheidungsleitlinien.<br />
Sie differenzieren vor allem bei der Bestimmung einer Gefahr.<br />
So ist es bei Dual-use-Gütern ein großer Unterschied, ob sich die Verwendung<br />
auf konventionelle Rüstungsgüter bezieht oder aber ein Programm<br />
zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Für die Prüfungsschritte<br />
448 Zu den Verfahrenspflichten: Bull/Mehde (FN 423), Rn 619 ff.<br />
449 Dazu Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 70<br />
450 Vgl. Kadelbach (FN 194), S. 445<br />
121
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
der Behörde bleibt daher festzuhalten: In einem ersten Schritt wird bei gelisteten<br />
sowie ungelisteten Dual-use-Gütern die Plausibilität des dem Vorgang<br />
zu Grunde liegenden Sachverhaltes, also der tatsächlichen Endverwendung,<br />
festgestellt. In einem zweiten Schritt muss das Gefährdungspotenzial<br />
eines Gutes in der Hand des Endverwenders, bezogen auf die nach Dualuse-VO<br />
bzw. § 7 AWG geschützten Rechtsgüter, bewertet werden. Bei Dualuse-Gütern<br />
steht die tatsächliche Endverwendung im Vordergrund. Empfänger<br />
und/oder Endverwender spielen dafür eine gewichtige Rolle, allerdings<br />
in vielen Fällen weniger deren Geschäftszweck, als vielmehr deren subjektiven<br />
Absichten.<br />
c) Instrumente der Erkenntnisgewinnung<br />
<strong>Die</strong> der Gefahrenprognose implizite Verwendungsprognose erfordert möglichst<br />
konkrete Erkenntnisse über eine potenzielle militärische Verwendung<br />
des Ausfuhrgutes. Dazu gehören Empfänger und Endverwender des Gutes<br />
sowie dessen Verwendungsabsicht. Je nach Empfängerland oder Zielregion<br />
mag das Wissen um einen unmittelbaren oder auch mittelbaren militärischen<br />
Nutzen der Verwendung die Ablehnung des Antrages nahe legen. Bei der<br />
Verwendungsprognose ist der Exportkontrolleur zunächst auf die Angaben<br />
des Antragstellers angewiesen. Insbesondere dessen Aussagen zur Endverwendung<br />
des betroffenen Gutes werden auf ihre Schlüssigkeit und Plausibilität<br />
überprüft. Eine eindeutige Missbrauchsabsicht des Verwenders dürfte<br />
dem Antragsteller nur sehr selten bekannt sein. Dessen Kunde ist nicht in allen<br />
Fällen der Endverwender. Auch die Verwendungsangaben des Kunden<br />
gegenüber dem Antragsteller müssen nicht immer zutreffen, denn der bösgläubige<br />
Waffenproduzent wird sich kaum gegenüber seinem Lieferanten zu<br />
erkennen geben. Daher ist die umfassende technische und verwaltungsmäßige<br />
Plausibilitätskontrolle des Vorganges angezeigt. Bei der technischen Analyse<br />
wird die technische Eignung des betroffenen Gutes für den angegebenen<br />
Verwendungszweck bewertet. <strong>Die</strong> Überprüfung des Empfängers oder<br />
Endverwenders erfolgt an Hand von Behördenerkenntnissen, z.B. aus vorangegangenen<br />
Antragsverfahren, öffentlichen Quellen. Dazu gehören u.a.<br />
das Handelsregister oder Internetseiten, im Einzelfall auch aus nachrichtendienstlichen<br />
Quellen451 . Hier kann auch die Nennung bestimmter Empfänger<br />
in behördlichen Frühwarnschreiben eine Rolle spielen452 .<br />
Endverbleib und -verwendung können zusätzlich mittels einer Erklärung des<br />
Empfängers sichergestellt werden. <strong>Die</strong> Endverbleibserklärung muss je nach<br />
451 Zum Prüfungsvorgang: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 72 ff., S. 229<br />
452 Vgl. Teil 1 II.5.f)<br />
122
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
Fallgruppe unterschiedlich ausgestaltet sein, entweder als amtliche oder<br />
privatschriftliche Erklärung oder aber bei bestimmten Ländern auch als Erklärung<br />
im Rahmen von Importzertifikaten, teilweise werden in diesem Zusammenhang<br />
für eventuelle Reexporte Zustimmungsvorbehalte geltend gemacht<br />
453 . Ein weiterer Aspekt ist die Art der Ausfuhr, da die vorübergehende<br />
Ausfuhr tendenziell weniger sensitiv ist. Auch der Verarbeitungsgrad des<br />
Gutes, z.B. die Einstufung als Rohstoff, Vorprodukt, Endprodukt oder Technologie,<br />
ist von Bedeutung 454 . Daran schließt sich auch die Frage der Verfügbarkeit<br />
an, also ob das Gut im Umkreis des Empfängers bereits vorhanden,<br />
anderweitig verfügbar oder beschaffbar ist. So muss z.B. eine Abgrenzung<br />
der Lieferung von Ersatzteilen für bereits vorhandene Technik sowie<br />
eines Upgrades erfolgen. Vor Ort erhältliche Technologie oder Entwicklungsstandards<br />
oder Lieferungen von Wettbewerbern des deutschen Lieferanten<br />
und deren Genehmigungsaussichten sind weitere zu berücksichtigende<br />
Kriterien. Dabei müssen aus Gründen der Gleichbehandlung auch die<br />
Entscheidungen für vorangegangene vergleichbare Lieferungen (Präzedenzfälle)<br />
einbezogen werden 455 .<br />
d) Erkenntnisdefizite<br />
<strong>Die</strong> für <strong>exportkontrollrechtliche</strong> Sachverhalte maßgebliche Frage der Endverwendung<br />
beinhaltet die für jede Verwaltung schwer zu handhabende Zukunftskomponente.<br />
Selbst bei Ausschöpfung aller denkbaren Erkenntnismethoden<br />
bleibt immer ein Element des Unwissens. Absolute Gewissheit wird<br />
in der Regel nicht zu erzielen sein. Das liegt in der Natur von Prognosen.<br />
Deshalb kann nur mit Erfahrungswissen der Behörde und Indizien gearbeitet<br />
werden. Mit Prüfung der Plausibilität, Erfahrung und allgemein oder sonstigen<br />
zugänglichen Informationen über das Ziel der Ausfuhr, z.B. Person,<br />
Land und Region, können Wissenslücken geschlossen werden. Ein gewisses<br />
Prognose – bzw. Bewertungsrisiko muss gleichwohl in Kauf genommen<br />
werden. <strong>Die</strong> Komponente Unwissen soll durch verfahrenstechnische Instrumentarien<br />
möglichst weitgehend überwunden werden456 .<br />
<strong>Die</strong> Prognose der tatsächlichen Endverwendung eines Gutes - oder negativ<br />
ausgedrückt - der Missbrauchsgefahr sollte möglichst fundiert sein. In Abwägung<br />
der Interessen des freien Außenwirtschaftsverkehrs und der Verantwortung<br />
von Exportkontrollen soll das unvermeidbare Restrisiko auf ein<br />
453 Zu den Arten der Endverbleibsdokumente Haddex (FN 4),Bd. 1, Teil 6 Rn 365 ff.<br />
454 Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 398<br />
455 Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 74, S. 231<br />
456 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 97 ff.<br />
123
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
Minimum reduziert werden. Einzelne administrative Komponenten einer<br />
möglichst effizienten Risikoanalyse und -bewertung im Zusammenhang mit<br />
der Gefahrenprognose sind deshalb von Bedeutung. Bei der rechtlichen Vorgabe<br />
einer Gefährdung im Genehmigungstatbestand erfolgt eine doppelte<br />
Prognose, zunächst in Bezug auf die Bewertung der güterspezifischen Gefahr<br />
und dann bei Bewertung des Empfängers bzw. Endverwenders. <strong>Die</strong><br />
Prüfung einer bei Antragstellung behaupteten zivilen Endverwendung des<br />
Gutes muss möglichst sicherstellen, dass diese auch tatsächlich erfolgt. An<br />
der Stelle knüpft auch die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit<br />
und Kooperation in EU und Regimes, aber auch auf UN und OECD-Ebene,<br />
an. Wenn sich alle maßgeblichen Rüstungsproduzenten und Industriestaaten<br />
an Exportkontrollen beteiligen, wird auch die Gefahr von Umgehungsgeschäften<br />
und entsprechenden Restrisiken geringer sein. Auch der verfahrensspezifische<br />
Informationsaustausch zwischen den Behörden ist hier von Bedeutung.<br />
Er findet sowohl zwischen Mitgliedern der Exportkontrollregimes<br />
oder auch auf Basis der Dual-use-VO statt, z.B. durch Notifizierungen über<br />
bestimmte <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en und Ablehnungen und mittels fallspezifischer<br />
Konsultationen457 .<br />
<strong>Die</strong> Verantwortung der Unternehmen wurde in den letzten Jahren stark erweitert,<br />
denn die Ausfuhrkontrolle ist letztlich in hohem Maß auf die Mitwirkung<br />
der Antragsteller angewiesen. Gerade sie kennen das konkrete Ausfuhrgeschäft<br />
und die Umstände, unter denen die Verhandlungen geführt<br />
worden sind, dazu in der Regel auch Profil und Bonität des Kunden. Der<br />
Aufwand dafür wird für das Ausfuhrverfahren instrumentalisiert. Unter Einbindung<br />
des institutionalisierten Ausfuhrverantwortlichen, der als Person<br />
und in seinem Handeln zuverlässig sein muss. Beides ist Voraussetzung für<br />
die antragsrelevante Zuverlässigkeit des Antragstellers458 . Auf diese Weise<br />
wird eine optimale Gefahrenprävention sichergestellt. <strong>Die</strong> Zuverlässigkeit<br />
eines Unternehmens wird von der Behörde nach § 3 Abs. 2 AWG bzw. im<br />
Rahmen der sonstigen Überlegungen des Art. 8 Dual-use-VO berücksichtigt.<br />
<strong>Die</strong>ser Ansatz ist auch deshalb erfolgreich, weil das Unternehmen auch ein<br />
hohes Eigeninteresse daran hat, nicht in negative Schlagzeilen zu geraten.<br />
Zudem müsste das Unternehmen bei Unzuverlässigkeit das Risiko verwaltungsrechtlicher<br />
Sanktionen tragen. Es geht u.U. das Risiko ein, nicht mehr<br />
457 Vgl. Teil 1 II.3.c) und Teil 1 II.4.b)<br />
458 Vgl. Fassung vom 1.8.2001 , BAnz. 2001, S. 17281 , vgl. Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil<br />
6 Rn 344 ff.<br />
124
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
genehmigungsfähig zu sein, was zumindest exportabhängige Unternehmen<br />
in der Existenz gefährden könnte459 .<br />
Hier ist von Bedeutung, dass neben dem Genehmigungsverfahren selbst andere<br />
Anknüpfungspunkte für die Gefahrenprävention möglich sind. Sog. risikominimierende<br />
Maßnahmen können Missbrauchsgefahren vorbeugen<br />
oder diese aufdecken. Sie stehen selten in einem direkten Zusammenhang<br />
zum Verwaltungsverfahren und werden begleitend bzw. flankierend eingesetzt.<br />
Nur ganz ausnahmsweise können sie für die Gefahrenprognose im<br />
konkreten Antragsverfahren hilfreich sein. Dazu gehören z.B. präventive<br />
Abhörbefugnisse oder aber nachträgliche Überprüfungen, wie die Außenwirtschaftsprüfung460<br />
. Auch eine administrative Überprüfung des tatsächlichen<br />
Verbleibs der Ware ist denkbar. Solche Maßnahmen sind wegen der<br />
justiziellen Kompetenzen nur mit Einverständnis des Empfängerstaates<br />
möglich.<br />
e) Mitwirkungspflichten und Beweislast<br />
Wegen der an einem Sachverhalt verbleibenden Restzweifel stellt sich die<br />
Frage, ob diese zu Lasten des Antragstellers gehen sollten oder der Grundsatz<br />
"in dubio pro Ausführer“ gelten kann. Je nachdem, um welche Art des<br />
Gutes es sich handelt, können die Mitwirkungspflichten und damit letztlich<br />
auch die Darlegungs- bzw. Beweislast des Antragstellers für eine bestimmte<br />
(zivile) Endverwendung unterschiedlich ausgeprägt sein. Hier entscheidet<br />
sich, wer das Risiko einer Fehlprognose zu tragen hat. Auf den verfassungsrechtlichen<br />
Rahmen dafür wird noch zurückzukommen sein. Zunächst sollte<br />
lediglich festgehalten werden, dass die Graduierung der Anforderungen an<br />
den Antragsteller und sein Bemühen um das Ausräumen jedweder Zweifel<br />
hinsichtlich einer zivilen Verwendung der Lieferung aus Sicht der Exportkontrollliteratur<br />
in Abhängigkeit der Korrelation von Gefahr und Risiko<br />
steht. Der nahe liegende Zusammenhang zum polizeilichen Gefahrenbegriff,<br />
der im Recht der inneren Sicherheit verwendet wird, könnte demnach auch<br />
für die auf innere und äußere Sicherheit bezogenen Exportkontrollen zu<br />
Grunde gelegt werden461 . Danach darf die Annahme einer Gefahr, je nach<br />
Fallkonstellation und in Abhängigkeit zur Wertigkeit gefährdeten Rechtsguts<br />
459 Dazu ausführlich Simonsen, in: Wolffgang/Ehlers/Lechleitner (FN 128), S.98<br />
460 Von Portatius/ Berg, AW-Prax, 2004, 379, 381<br />
461 So Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), § 3 AWG Rn 13, vgl. auch Teil 1 I.5.e)<br />
125
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
unterschiedlich hohen Anforderungen genügen 462 . <strong>Die</strong>s hat unmittelbare<br />
Auswirkung auf die Beweislastverteilung.<br />
f) Ergebnis<br />
<strong>Die</strong> Prognose im Rahmen der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Entscheidung muss<br />
auf der Grundlage von Erkenntnisdefiziten erfolgen. Entsprechende kooperative<br />
Verfahrensinstrumente sollen die Sachverhaltsermittlung erleichtern<br />
sowie die aufgrund der Verwaltungsautonomie vorhandenen gerichtlichen<br />
Kontrolldefizite kompensieren helfen. Dabei spielen die Reichweite der<br />
Mitwirkungspflichten und Beweislastverteilung eine gewichtige Rolle, um<br />
die Interessen aller Beteiligten angemessen zu wahren.<br />
2. Qualität der Genehmigungsentscheidung<br />
Nachdem die allgemeine Struktur <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Prognoseentscheidungen<br />
im Kontext der Gefahrenbewertung geklärt ist, stellt sich die<br />
Frage nach der rechtlichen Qualität einschlägiger Genehmigungsvorschriften.<br />
a) Nationale Genehmigungstatbestände<br />
<strong>Die</strong> Konzeption der Beschränkungsermächtigung des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG<br />
beinhaltet einen kriterienbedingten Anspruch auf Genehmigungserteilung.<br />
Dafür spricht die nach dem Wortlaut positive Formulierung. Er sieht im<br />
Grundsatz die Genehmigung vor, wenn nicht ausnahmsweise eine wesentliche<br />
Gefährdung der in § 7 AWG genannten Rechtsgüter im Raume steht.<br />
Daher handelt es sich um eine gebundene Entscheidung. Auf ein Ermessen<br />
der Behörde gibt es keine Hinweise. Allerdings besteht, wie zuvor erwähnt,<br />
auch bei der Entscheidung nach §§ 3 i.V.m. 7 AWG ein gewisser Entscheidungsspielraum,<br />
da es maßgeblich auf die außen- und sicherheitspolitische<br />
Bewertung des Sachverhaltes ankommt. Das hat erhebliche Auswirkungen<br />
auf die Rechtswahrung des Ausführers, der bei Entscheidungsspielräumen in<br />
Folge der begrenzten richterlichen Kontrolle nur noch bedingt seine Rechte<br />
durchsetzen kann. Das ist wegen der Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4<br />
und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach Art. 20 Abs. 3 GG auf Fälle<br />
begrenzt, in denen der Gesetzgeber dies beabsichtigt hat, weil allein der<br />
Verwaltung die adäquate Erkenntniserlangung und Einzelfallbewertung<br />
möglich ist. Für eine entsprechende Einschätzungsprärogative der Verwal-<br />
462 Dazu bestätigend Bieneck, in: AW-Prax 2003, S. 460, 463; Sicherheitsinteresse und<br />
freiheitliche Gesichtspunkte stehen hier in Korrelation: Calliess, DVBl. 2003, S.<br />
1096,1104.<br />
126
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
tung genügt aber auch bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en nicht allein der Umstand,<br />
dass es um Prognoseentscheidungen geht463 .<br />
Es geht bei den Exportkontrollen regelmäßig um sicherheitspolitische Erwägungen.<br />
Es besteht eine Konstellation, wo nur die Aktualität des Verwaltungswissens<br />
und ihre Fachexpertise eine angemessene Entscheidung ermöglichen.<br />
<strong>Die</strong> rechtliche Gestaltung der ständigen Veränderungen unterworfenen<br />
außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen erscheint nicht<br />
möglich. Hinzu kommt die alleinige politische Verantwortung der Bundesregierung.<br />
Gerade die außenpolitische Dimension, wie sie in § 7 Abs. 1<br />
AWG relevant ist, erfordert einen Wertungsspielraum der Exekutive. <strong>Die</strong><br />
prognoseorientierte Einschätzungsprärogative der Verwaltung ist deshalb für<br />
sämtliche sicherheitspolitisch motivierten Beschränkungen gem. § 7 Abs. 2<br />
AWG gegeben464 . Im militärischen Bereich und Außenhandelsrecht ist die<br />
ausschließliche Sachkompetenz der Verwaltung anerkannt465 . Der Zusammenhang<br />
zwischen der Wahrung auswärtiger Beziehungen und sicherheitspolitischen<br />
Erwägungen wurde bereits dargestellt466 . Einschätzungen in diesen<br />
Bereichen erscheinen wegen der Sachnähe der Verwaltung und besserem<br />
Informationszugang, beispielsweise bei geheimdienstlichen Erkenntnissen,<br />
auch verfahrenstechnisch begründet467 . Ein davon abweichender Bewertungsanspruch<br />
der Gerichte bei der Durchsetzung der Sicherheitskonzepte<br />
der Bundesregierung würde den Grundsatz der Gewaltenteilung missachten.<br />
Gefahren- bzw. Risikoabschätzung werden deshalb bei Exportkontrollen zu<br />
Recht als ausschließliche Aufgaben der Exekutive bezeichnet468 .<br />
Es kommt im Ergebnis nicht auf den Prognosecharakter der Entscheidung<br />
an, sondern auf die politischen Einschätzungen, die der Bundesregierung<br />
vorbehalten sind. Deshalb darf von einem bei den <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbeständen<br />
auf der Grundlage des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG von einem Entscheidungsspielraum<br />
der Genehmigungsbehörde ausgegangen werden. Hinzu<br />
kommt aus systematischer Sicht, dass diese Vorschrift nach einer positiven<br />
Feststellung des Nichtbestehens wesentlicher Gefährdungslagen verlangt,<br />
die regelmäßig gar nicht geleistet werden kann, weil die Sachverhaltserkenntnisse<br />
hierfür nicht ausreichen. Faktisch ist schon deshalb kein Geneh-<br />
463 Vgl. Teil 2 II.3.b)aa)<br />
464 So auch Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 14<br />
465 Dazu Hinweise von Fehling/Kastner/Wahrendorf (FN 309), § 114 VwGO, Rn 67<br />
466 Vgl. Teil 1 I.5.b)<br />
467 So im Ergebnis Beutel, in: Wolffgang//Simonsen (FN 7), § 7 AWG Rn 17<br />
468 So unter Verweis auf BVerwGE 72, 300, 316: v. Bogdandy (FN 4), S. 53 ff., 77<br />
127
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
migungsanspruch gegeben 469 . Bezogen auf die Rechtsfolge bleibt es rechtsdogmatisch<br />
bei einer gebundenen Entscheidung. Angesichts der im Tatbestand<br />
überaus weit gefassten Ablehnungsgründe des § 7 Abs. 1 AWG und<br />
der damit verbundenen Entscheidungsspielräume erscheint es ausgeschlossen,<br />
dass die Behörde im Einzelfall entgegen ihren außen- und sicherheitspolitischen<br />
Überzeugungen eine Genehmigung erteilen müsste 470 . Auf ein<br />
Entschließungsermessen der Behörde kommt es in der Sache nicht an. Der<br />
Entscheidungsspielraum beschränkt sich auf die Bewertung der Gefahrensituation.<br />
Ein besonderer Fall liegt beim kaum praxisrelevanten § 3 Abs. 1<br />
Satz 2 AWG vor. Hier eröffnet das überwiegende volkswirtschaftliche Interesse<br />
an einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ein zusätzliches Behördenermessen.<br />
Dabei handelt es sich um eine Koppelungsnorm, also einer Kombination aus<br />
Beurteilungsspielraum und Ermessen 471 .<br />
b) Gemeinschaftsrechtlicher Genehmigungstatbestand und die Entscheidungsprärogative<br />
aa) Wortlaut und Normzweck<br />
Für eine Ermessensqualität des Art. 8 i.V.m. 9 Abs. 1 Dual-use-VO sprechen<br />
die Formulierung des Tatbestandes (kann) und der vage Überlegungsbezug<br />
der Beschränkungsgründe. Ausgehend von dem Prinzip der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
erscheint bei Art. 8 i.V.m. Art. 9 Dual-use-VO ein Ermessen<br />
der Behörde grundrechtlich nicht vertretbar. Es gibt andererseits keine teleologischen<br />
Gesichtspunkte, die gegen ein Behördenermessen sprechen. Insbesondere<br />
die einleitenden Erwägungen der Dual-use-VO geben dafür keinen<br />
Anlass. Sie verweisen unter Punkt (3) lediglich auf ein gemeinsames<br />
Kontrollsystem und harmonisierte Konzepte, nicht etwa auf abgestimmte<br />
Entscheidungen, die eine einheitliche Dogmatik der Beschränkungen erfordern.<br />
Man könnte zwar das Argument anführen, dass die dogmatische Einstufung<br />
der gebundenen nationalen Genehmigungstatbestände bei Rüstungsgütern<br />
im Erst-Recht-Schluss auf weniger sensitive Dual-use-Güter im<br />
Sinne der EG-Verordnung ausgedehnt werden müsste. Sonst erschiene die<br />
potenziell gefährlichere Lieferung von Rüstungsgütern (Anhang A der Ausfuhrliste)<br />
gegenüber den nach der Dual-use-VO kontrollierten Gütern faktisch<br />
privilegiert. <strong>Die</strong>se Auffassung würde nationales Recht über europäi-<br />
469 Vgl. Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), zu § 3 AWG Rn 11<br />
470 Monreal/Runte, GewArchiv, 2000, S. 142 ff., s.a. zur Sachnähe der Verwaltung bzw.<br />
Regierung: Ehrlich unter FN 134<br />
471 Ott, AW-Prax 2003, 353, 355<br />
128
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
sches Recht stellen, was dem Prinzip vom Anwendungsvorrang widerspricht.<br />
Zumindest die Materien von Rüstungs- und Dual-use-Güter-Kontrolle sind<br />
aus einer Reihe von Gründen nach Normzweck und Interessenlage nicht<br />
vergleichbar. Das mag zwar für die Genehmigungskriterien gelten, die weitgehend<br />
identisch sind, bei der technischen Eignung und potenziellen Gefährdungslage<br />
ergeben gleichwohl Unterschiede. Für Dual-use-Güter ist die<br />
subjektive Verwendungsabsicht oft schwer bestimmbar. Während bei Rüstungsgütern<br />
die Gefahr vor allem vom Empfänger und dessen verantwortungsvollem<br />
Umgang damit abhängig ist, steht bei Dual-use-Gütern die tatsächliche<br />
(zivile) Verwendung im Vordergrund. <strong>Die</strong> Prognoseanforderungen<br />
sind bei Rüstungsgütern eher geringer, zumindest aber weniger komplex.<br />
Der Bewertungsspielraum der Behörde bezieht sich daher auf ganz unterschiedliche<br />
Schwerpunkte.<br />
<strong>Die</strong> rein nationalen Dual-use-Regelungen können hier zunächst ausgeblendet<br />
werden. Sie haben wegen der expliziten Öffnungsklausel des Art. 5<br />
Dual-use-VO zwar einen gemeinschaftsrechtlichen Ausgangspunkt, weisen<br />
aber dennoch rein nationalen Charakter auf. <strong>Die</strong>ser ist nicht dem harmonisierten<br />
Bereich des EG-Rechts unterworfen, ein Gleichlauf der Dogmatik also<br />
nicht zwingend472 . <strong>Die</strong> Entscheidungsqualität des AWG präkludiert somit<br />
nicht den Systemansatz der Dual-use-VO.<br />
<strong>Die</strong>sem Ergebnis entspricht auch der systematische Ansatz von Art. 8 Dualuse-VO.<br />
Wie schon mehrfach erwähnt, sollen die für die Entscheidung maßgeblichen<br />
außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen gerade den Mitgliedstaaten<br />
vorbehalten bleiben. Eine systematische Verknüpfung von<br />
AWG und Dual-use-VO ist nur bedingt geboten. Der für diese Belange verwendete<br />
unbestimmte Begriff eröffnet nach der EuGH-Rechtsprechung Entscheidungsspielräume,<br />
die dem Verständnis des deutschen Ermessensbegriffs<br />
nahe kommen473 .<br />
bb) Ansatz der Einschätzungsprärogative und Rechtsprechung<br />
Aus den geschilderten Erwägungen sind Art. 8 und 9 der Dual-use-VO als<br />
Ermessensnorm zu charakterisieren474 . Es handelt sich um eine Prognoseent-<br />
472 Zur dogmatischen Verortung: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 126<br />
473 Vgl. Teil 2 II.6.a)<br />
474 Erstmals Wolffgang, DVBl. 1996, 277, 284, grundlegend dazu auch Ehrlich (FN 62),<br />
S. 106; a.A. Sauer, in: Hohmann/John, § 3 AWG, Rn 3; dagegen missverständlich<br />
Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich, (FN 21) spricht zu § 3 AWG Anm. 1 von einem<br />
129
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
scheidung der Behörde. Aufgrund des damit verbundenen Restrisikos beansprucht<br />
sie einen gewissen Entscheidungsspielraum 475 . <strong>Die</strong>se Wertung wurde<br />
durch das VG Frankfurt bestätigt 476 . In der Entscheidung vom<br />
08.05.2003, bei der es um eine Koordinatenschleifmaschine nach Indien<br />
ging, hat das Gericht ausgeführt, die Gefahrenprognoseentscheidung fiele in<br />
den Bereich des gerichtsfreien Bewertungsspielraumes der zuständigen Behörde.<br />
Damit hat das Gericht bestätigt, dass sich Sachverhaltsfeststellung<br />
und Subsumtion bei der Konkretisierung offener Tatbestände nicht trennen<br />
lassen. Es verwendet hierbei auch den Begriff der Einschätzungsprärogative<br />
477 . Das Gericht verweist auf die Systematik des Gemeinschaftsverwaltungsrechts,<br />
wonach die in Art. 1 der VO 2603/69 statuierte Ausfuhrfreiheit<br />
zwar grundsätzlich ein einklagbares Recht zur Ausfuhr von Dual-use-Gütern<br />
gewährt, dies aber durch Art. 3 Abs. 1 Dual-use-VO relativiert würde. In<br />
Anwendung von Art. 9 Abs. 2 Dual-use-VO kann die Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
verweigert werden, was im pflichtgemäßen Ermessen der<br />
nationalen Behörde stehe 478 . Eine Verpflichtung zur Berücksichtigung der in<br />
Art. 8 Dual-use-VO aufgeführten Gesichtspunkte und Ziele stünde dem<br />
nicht entgegen. Bei der Bewertung und Gewichtung der in Art. 8 Dual-use-<br />
VO nur beispielhaft genannten außen- und sicherheitspolitischen Überlegungen<br />
sei der zuständigen Behörde im Rahmen des Ermessens wiederum<br />
ein Spielraum einzuräumen. Für die Urteilsbegründung vermeidet das Gericht<br />
also die Dogmatik der Kombination von Beurteilungsspielraum auf<br />
Tatbestandsebene und eines Ermessens auf der Rechtsfolgeseite. Das VG<br />
Frankfurt verweist vielmehr auf einen allgemeinen Ermessensrahmen, wendet<br />
also faktisch die gemeinschaftsrechtliche Ermessenslehre an. Das ist<br />
Beurteilungsspielraum und entsprechender Anwendung in Art. 8 Dual-use-VO (dort<br />
zu Art. 8 Anm. 1 und Art. 9 Anm. 2)<br />
475 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 93 verweist auf das Verwaltungsgericht<br />
Köln, das den Begriff Einschätzungsprärogative zwar nicht nutze,<br />
aber in den Entscheidungen vom 13.06.96 und vom 11.11.1999 (Az.1 K 1102/93 und<br />
1 K 6937/96) ausgeführt hatte, dass der Verwaltung hinsichtlich der in Frage stehenden<br />
Rechtsbegriffe (Entscheidungskriterien in § 7 AWG) ein gerichtlich nur beschränkt<br />
überprüfbarer Entscheidungsspielraum zustünde, das Gericht daher auf eine<br />
Plausibilitätskontrolle beschränkt sei.<br />
476 VG Frankfurt a.M. (Urteil vom 08.05.2003 1 E 3273/02 (1), Besprechung von Ott,<br />
AW-Prax 2003, S. 353, 354<br />
477 So Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 93 unter Verweis auf<br />
Kadelbach (FN 193), S. 445; dagegen spricht Wolffgang, den das VG Frankfurt zitiert,<br />
eher von einem Verwaltungsermessen, vgl. DVBl. 1996, 277, 284<br />
478 Auch in früheren Urteilen wurde von einem Entscheidungsspielraum gesprochen:<br />
vgl. VG Frankfurt, Urteil vom 05.12.1996, Az.: 1 E 3838/93 (nicht veröff.)<br />
130
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
wegen des EU-Bezugs der Entscheidung auf Grundlage der Dual-use-VO<br />
konsequent.<br />
<strong>Die</strong> nationale Dogmatik i.V.m. Beurteilungsspielräumen bzw. Einschätzungsprärogative<br />
findet auf EG-Ebene keine Entsprechung. Der EuGH<br />
spricht, wie zuvor erörtert, allgemein von Entscheidungsspielräumen. Um<br />
Irritationen einer Anwendbarkeit der nationalen Lehre von Beurteilungsspielraum<br />
zu vermeiden, sollte im Kontext der Dual-use-VO deshalb besser<br />
von einer Entscheidungsprärogative gesprochen werden. Nach der einschlägigen<br />
gemeinschaftsrechtlichen Ermessensfehlerlehre sind die schon beschriebenen<br />
Ermessensgrenzen und eventuelle Missbräuche zu berücksichtigen479<br />
.<br />
In concreto sind von diesen Erwägungen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en im Rahmen<br />
der Art. 3 sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 Dual-use-VO betroffen, die nach<br />
den Vorgaben der Art. 8 i.V.m. 9 Abs. 1 entschieden werden. Es greift das<br />
Prinzip vom Anwendungsvorrang. Danach ist bei der praktischen Rechtsanwendung<br />
das EG-Recht zunächst maßgeblich, soweit die Materie dort geregelt<br />
ist. <strong>Die</strong>s ist im Rahmen der o.g. gemeinschaftsrechtlichen Ermessenslehre<br />
der Fall. Eine Anwendung der nationalen Grundsätze des § 40 VwVfG<br />
ist ausgeschlossen. Teilweise wurde dem entgegnet, dass eine spezialgesetzliche<br />
Vorschrift in der Dual-use-VO fehle480 . Nicht zuletzt bei der Ermessensausübung<br />
im Rahmen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> nach der Dual-use-VO<br />
wird aber die Notwendigkeit einer gemeinschaftsweit einheitlichen Umsetzung<br />
deutlich. <strong>Die</strong>s ist der Hauptzweck der Verordnung und erscheint auch<br />
verfahrensrechtlich nur unter Anwendung der Gemeinschaftsrechtsprinzipien<br />
gewährleistet481 . Da die Ermessensvorschrift in Art. 9 Dual-use-VO ein<br />
Kernstück bei der Umsetzung dieser Verordnung sei, würden dem unterschiedliche<br />
Umsetzungspraktiken widersprechen. Gerade auf diesem Gebiet<br />
sei es die Intention der Kompetenzübertragung, eine einheitliche europäische<br />
Exportkontrolle zu verwirklichen und damit auch Umgehungsgeschäfte<br />
zu vermeiden482 . Damit findet eine Unterscheidung zwischen Ermessen und<br />
Beurteilungsspielraum im Rahmen der Dual-use-VO nicht statt. Vielmehr<br />
wird der Behörde eine sog. Entscheidungsprärogative zugestanden, ohne<br />
dass es auf deren Zuordnung zur Rechtsfolge oder zum Tatbestand ankommt.<br />
479 Vgl. Teil 2 II.3.b), so im Ergebnis auch Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 47<br />
480 VG Frankfurt, Urteil vom 5.12.1996 - 1 E 3838/93; Karpenstein, in: Hohmann/John<br />
(FN 28), Teil 2, EG-Dual-use-VO von 1994, Artikel 9 Rn. 20<br />
481 Vgl. Wolffgang, DVBl. 1996, 277, 284<br />
482 Karpenstein (FN 41), S. 102<br />
131
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
cc) Kompensation der Kontrolldefizite durch Verfahren<br />
<strong>Die</strong> Akzeptanz des bei der Dual-use-VO und auch im AWG bestehenden<br />
administrativen Entscheidungsspielraums führt zu einer beschränkten richterlichen<br />
Kontrolle und bedarf daher einer stärkeren rechtsstaatlichen Kontrolle<br />
im Verfahren483 . Der verfahrens- und mitwirkungsorientierte Kompensationsgedanke<br />
deckt sich mit den Ausführungen zur EuGH-<br />
Rechtsprechung. Der EuGH würde zwar nur evidente Ermessensmissbräuche<br />
kontrollieren, aber Rechtsfehler i.V.m. Verfahrensfragen und Anwendungsrichtlinien<br />
viel stärker berücksichtigen als dies traditionell im deutschen<br />
Verwaltungsrecht geschieht484 . <strong>Die</strong> Exportkontrollbehörde hat im<br />
Rahmen der Begründungspflicht des § 39 VwVfG eine Darlegungspflicht zu<br />
den konkreten Gesichtspunkten, die zur Ablehnung der Genehmigung führen,<br />
mithin zur Missbrauchsgefahr des Ausfuhrgutes sowie zu einer korrekten<br />
Offenlegung der Wertungsmaßstäbe vor dem Hintergrund des bestehenden<br />
Sachverhalts. Der Bewertungsspielraum bezieht sich nicht auf gerichtlich<br />
voll überprüfbare Tatsachenfragen, die unpolitisch sind. Dazu gehören<br />
technische Einstufungen, z.B. in die Ausfuhrliste485 .<br />
c) Ergebnis<br />
<strong>Die</strong> nationalen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände sind rechtsdogmatisch als<br />
Anspruchsnorm mit Beurteilungsspielraum bei der Gefahrenprognose zu<br />
verorten, während in der Dual-use-VO ein Ermessenstatbestand statuiert ist.<br />
Wegen des Anwendungsvorrangs von Gemeinschaftsrecht ist die Ermessensfehlerlehre<br />
des EuGH anzuwenden. Hierbei gibt es mit Blick auf die Evidenzlehre<br />
dogmatische Unterscheidungen beim Ansatzpunkt der Wertung<br />
rechtlicher Interessen. Das Auseinanderfallen des Verfahrensrechts dürfte<br />
aber im Ergebnis kaum zu unterschiedlichen Prüfungsanforderungen der<br />
Gerichte führen, nicht zuletzt wegen der bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> notwendigen<br />
Prognoseentscheidung, die der Verwaltung nach beiden Lehren<br />
einen weiten Entscheidungsspielraum eröffnet486 . Dabei geht es wegen der<br />
in der Dual-use-VO und AWG vergleichbaren Genehmigungskriterien vor<br />
483 Vgl. Teil 2 II.3.b)<br />
484 Vgl. Teil 2 II.5.<br />
485 So auch v. Bogdandy (FN 4) , S. 53 ff., 77 f., auch unter Verweis auf Wahl, NVwZ<br />
1991, 409, 415 ff<br />
486 Vgl. Teil 2 II.6.a), so im Ergebnis auch Wolffgang, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner<br />
(FN 128), S. 39 ff., 70<br />
132
III. Typus administrativen Handelns bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
allem um die Bewertung der Gefahrensituation. In beiden Rechtskreisen<br />
kommt es hier auf die gleichen Interessen an 487 .<br />
3. Fehlerfolgen und Bestandskraft der Entscheidung<br />
<strong>Die</strong> Wirkung einer positiven Genehmigungsentscheidung bezieht sich neben<br />
der Feststellung zur gegenwärtigen Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen<br />
im Zeitpunkt der Entscheidung auf das Element der Rechtssicherheit,<br />
die sich auf die Ausfuhr zu einem späteren Zeitpunkt richtet. Grundsätzlich<br />
werden die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en auf zwei Jahre befristet488 , so<br />
dass die Bindungswirkung der Genehmigung, also die Bestandskraft des<br />
Verwaltungsaktes nach § 43 Abs. 2 VwVfG für diese Zeit vertrauensbildend<br />
wirken kann. Wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips ist dessen Verlässlichkeit,<br />
hier der Bestand von erworbenen Rechten. Das Vertrauensschutzgebot<br />
bezieht sich auf die Rückwirkung von belastenden Gesetzen ebenso<br />
wie auf die Aufhebung einzelner Verwaltungsakte489 .<br />
<strong>Die</strong> mit der Genehmigung einhergehenden politischen Bewertungen sind<br />
nicht statisch, die Rahmenbedingungen können sich täglich verändern. Fehleinschätzungen<br />
sind möglich. Sie lassen sich durch nachträgliche Tatsachenerkenntnisse<br />
korrigieren. Wegen der sicherheitsorientierten Funktion<br />
der Exportkontrollen kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen der<br />
staatlichen Sicherheitsaufgabe und dem grundsätzlich berechtigten Vertrauen<br />
auf den Fortbestand der Entscheidung kommen490 . Der verfassungsrechtlich<br />
geschützte Vertrauensschutz kann deshalb bei Verwaltungsentscheidungen<br />
nur ganz ausnahmsweise durch die in den §§ 48, 49 VwVfG vorgesehene<br />
Rücknahme- und Widerrufsmöglichkeiten aufgebrochen werden. Ausnahmen<br />
eröffnet die Nebenbestimmung eines Widerrufsvorbehalts. Bei der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> ergibt sich eine Ermächtigung zu Rücknahme oder<br />
Widerruf der Genehmigung aus § 30 Abs. 2 AWG bzw. Art. 9 Abs. 2 S. 1<br />
Dual-use-VO. Zunächst erlangt der Ausführer nach einem abgeschlossenen<br />
Genehmigungsverfahren eine grundrechtlich geschützte Position, insbesondere<br />
sind dabei Art. 12 und Art. 14 GG einschlägig491 . <strong>Die</strong> Voraussetzungen<br />
des Grundrechtseingriffs bestimmen die §§ 48 ff. VwVfG. <strong>Die</strong> Aufhebung<br />
der Genehmigungsentscheidung ist nur unter stringenten Voraussetzungen<br />
und bei umfassender Begründung der Behörde möglich. Hierbei erfolgt eine<br />
487 Vgl. Teil 1 II.5.d)<br />
488 Vgl. Haddex (FN 4), Bd. 1, Teil 6 Rn 409<br />
489 So Badura (FN 171), S. 319 ff.<br />
490 V. Bogdandy (FN 4), S. 84<br />
491 Hohmann (FN 89), S. 442 ff.<br />
133
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Abwägung der betroffenen Interessen.<br />
Neben den o.g. Rechtspositionen muss das schutzwürdige Vertrauen mit<br />
dem öffentlichen Rücknahme- bzw. Widerrufsinteresse abgewogen werden.<br />
Wegen der gesteigerten Schutzwürdigkeit bei rechtmäßig zustande gekommenen<br />
Verwaltungsakten ist beim Widerruf nach § 48 Abs. 3 VwVfG sogar<br />
eine Entschädigung vorgesehen. <strong>Die</strong> Frage der Entschädigung ist je nach<br />
Fallgruppe, Vorhersehbarkeit der Entwicklungen und Mitverantwortung des<br />
Unternehmers unterschiedlich zu beantworten492 .<br />
Im Bereich der Dual-use-VO muss nicht auf die nationalen Regelungen zurückgegriffen<br />
werden, da der EuGH mit Blick auf Fristsetzung, Vertrauensschutz<br />
und Interessenabwägung eigene Grundsätze entwickelt hat493 . Der<br />
Vertrauensschutzgedanke ist bereits seit langem in der EuGH-<br />
Rechtsprechung anerkannt494 . Dabei werden dem Betroffenen trotz der<br />
durch das Effizienzgebot regelmäßig sehr starken gemeinschaftlichen Interessen<br />
grundrechtliche Minimalstandards eines Vertrauensschutzes zugestanden495<br />
. Im Übrigen ist im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Bereichs<br />
ein Rückgriff auf die Vorgaben des nationalen Rechts möglich, weil<br />
die Gemeinschaftsinteressen auch im Rahmen des Ermessens der Verwaltung<br />
berücksichtigt werden können496 . Wegen der auf evidente Fehler beschränkten<br />
Kontrolle gemeinschaftsrechtlicher Ermessensakte muss der Vertrauensschutz<br />
aber offenkundig überwiegen, um eine Rücknahme vor Gericht<br />
erfolgreich anfechten zu können497 . Beim Vorliegen evident rechtswidriger<br />
Verwaltungsakte erfolgt auch nach der nationalen Rechtsprechung eine<br />
Ermessensreduktion, so dass die Rücknahme des Verwaltungsaktes geboten<br />
ist. In diesen Fällen dürfte in der Sache eine zum EuGH vergleichbare Linie<br />
verfolgt werden498 .<br />
<strong>Die</strong> Gerichte können fehlerhafte Bescheide nach § 113 Abs. 5 VwGO aufheben,<br />
nach Gemeinschaftsrecht wäre i.V.m. evidenten Fehlern auch eine<br />
Nichtigkeit der Verwaltungsentscheidung denkbar. Das dürfte aber im Ergebnis<br />
kaum von Relevanz sein, da das eigentliche Interesse des Ausführers<br />
492 Dazu v. Bogdandy (FN 4), S. 90<br />
493 So im Ergebnis Ehrlich (Fn 62) S. 135 ff., zur Interessenabwägung EuGH Rs 14/81<br />
Alpha Steel, Slg. 1982, 749 f., 764<br />
493 Ebenda (FN 62), S. 138<br />
494 Rennert, DVBl. 2007, 400, 402 mit Hinweisen auf EuGHE 1983, 2633 Rn 27 f. -<br />
Milchkontor<br />
495 Zur Entwicklung: Blanke (FN 246), S. 488 ff., 509<br />
496 S.a. Ehrlich (FN 62), S. 138<br />
497 Vgl. Teil 2 II.4.b), bestätigend für Exportkontrollen: Hohmann (FN 89), S. 440<br />
498 So im Ergebnis Rennert, DVBl. 2007, 400, 408<br />
134
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2<br />
an einer positiven Genehmigungsentscheidung damit nicht erreicht werden<br />
kann. Auf Fragen der Reichweite gerichtlicher Kompetenzen und Prüfungstiefe<br />
wird noch zurückzukommen sein.<br />
4. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
Während prognoseorientierte <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en im nationalen Recht<br />
als Anspruchsnorm mit Beurteilungsspielraum einzustufen sind, muss diesen<br />
in der Dual-use-VO Ermessenscharakter zugebilligt werden, so dass der<br />
Verwaltung eine Entscheidungsprärogative zusteht, mit entsprechenden Folgen<br />
für die eingeschränkte richterliche Kontrolle. <strong>Die</strong> in den jeweiligen<br />
Rechtskreisen abweichenden Verfahrensprinzipien und Fehlerlehren sind zu<br />
berücksichtigen. Mit Blick auf die Fehlerfolgen bleibt festzuhalten, dass<br />
Verwaltungsakte und damit auch <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en nach beiden<br />
Rechtskreisen widerrufen und zurückgenommen werden können.<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 2<br />
Ob Beurteilungsspielraum auf nationaler Ebene oder Ermessen auf EU-<br />
Ebene, der Entscheidungsspielraum der Expotkontrollbehörde bei der Genehmigungsfrage<br />
bezieht sich maßgeblich auf die Gefahrenprognose. <strong>Die</strong><br />
Kontrolldichte der Entscheidung ist sowohl nach nationalem als auch Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
begrenzt. Wenngleich die Evidenzkontrolle<br />
des EuGH in ihrer Systematik von der nationalen Ermessensfehlerlehre abweicht,<br />
kann konstatiert werden, dass zumindest eine offensichtliche<br />
Zweckverfehlung der Entscheidung und Verfahrensfehler justiziabel sind.<br />
Da die maßgeblichen politischen Bewertungen für ein Gericht ebenfalls nur<br />
begrenzt überprüfbar sind, haben die unterschiedlichen systematischen Herangehensweisen<br />
keine praktischen Auswirkungen. Bei der Rechtsanwendung<br />
ergeben sich, soweit alle Tatbestandselemente erfüllt sind, keine relevanten<br />
Unterschiede. Ein Anspruch auf bestimmte Prognosen besteht nicht.<br />
Allenfalls darf man von der Behörde erwarten, dass sie die Gründe für die<br />
Annahme einer Gefahr in Bezug auf die gesetzlich geschützten Interessen<br />
auch benennt. Anknüpfungspunkt der Entscheidung sind immer Tatsachen,<br />
also Erkenntnisse zum Tätigkeitsfeld des Empfängers oder der möglichen<br />
Verwendung des Dual-use-Gutes.<br />
Nach diesen Erwägungen stellt sich die Frage, welche Prüfungsschritte in<br />
den beiden Bereichen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> durch die Behörde vorzunehmen<br />
und ob sie im konkreten Fall der gerichtlichen Kontrolle zugänglich<br />
sind. <strong>Die</strong> Voraussetzungen für eine rechtmäßige Prognoseentscheidung müs-<br />
135
Teil 2: Grundsätze der Verwaltungsentscheidung und gerichtliche Überprüfung<br />
sen sich nach den allgemeinen Anforderungen an Gefahrenprognosen richten.<br />
Dabei ist vor allem die materielle Rechtmäßigkeit der konkreten Eingriffsnorm<br />
zu überprüfen, die durch den sicherheitsrechtlichen Kontext von<br />
Exportkontrollen bestimmt sind.<br />
136
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
I. Standortbestimmung<br />
I. Standortbestimmung<br />
Aufgrund der Feststellungen zu den nationalen und gemeinschaftsrechtlichen<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbeständen bestehen für die Rechtsanwendung<br />
Entscheidungsspielräume der Verwaltung, die zu einer nur begrenzten richterlichen<br />
Kontrolle führen. Dabei stellt sich die Frage, welche Mindestanforderungen<br />
an die im Tatbestand zentrale Feststellung einer Gefahr für dort<br />
genannte Rechtsgüter bzw. Interessen zu stellen sind.<br />
<strong>Die</strong> Gefährdung bzw. Bedrohung im Sinne der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände<br />
wird als unbestimmter Rechtsbegriff qualifiziert, der einer Konkretisierung<br />
bedarf499 . <strong>Die</strong> festzustellende Gefährdungslage muss auf Sicherheitsinteressen<br />
(AWG) bzw. Überlegungen der öffentlichen Sicherheit (Dual-use-VO)<br />
oder auf die erforderliche Berücksichtigung der auswärtigen Interessen<br />
bzw. Beziehungen bezogen sein. <strong>Die</strong> Prüfungsanforderungen an die<br />
Gefahrenprognose ergeben sich aus dem allgemeinen Sicherheitsrecht. Der<br />
Vergleich von Exportkontrollen zu anderen sicherheitsrechtlichen Gebieten<br />
des besonderen Verwaltungsrechts bietet sich daher an. <strong>Die</strong> Sicherheitserwartungen<br />
der Gesellschaft und die verfassungsrechtlichen Handlungsgebote<br />
an den Staat sind dabei von Bedeutung. Besonders die Begriffe der<br />
Schutzpflicht sowie der Risikogesellschaft sind Schlüsselbegriffe der betroffenen<br />
Verfassungsrechtsmaterie500 .<br />
Der Prüfungsrahmen der Gerichte bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />
bestimmt sich nach den Grundsätzen der Ermessensfehlerlehre. Darauf<br />
wird auch in Verbindung mit unbestimmten Rechtsbegriffen zurückgegriffen.<br />
<strong>Die</strong> unterschiedliche Gewichtung von Verfahren und materiellen Aspekten<br />
im europäischen sowie nationalen Regelungsbereich müssen berücksichtigt<br />
werden501 . In dem Gesamtkontext muss eine verfassungskonforme Auslegung<br />
des Gefahrenbegriffs erfolgen. Sie kann den Entscheidungsspielraum<br />
der Behörde begrenzen. Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen gehören<br />
u.a. die Vorgaben des Gesetzesvorbehalts und Bestimmtheitsgebots502 sowie das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
müssen alle relevanten Belange in die Abwägung eingestellt werden.<br />
499 Vgl. Teil 1 II.5.e)<br />
500 Dazu grundlegend Beck, <strong>Die</strong> Risikogesellschaft, S. 26, 29 ff.<br />
501 Vgl. Teil 2 II.6.<br />
502 Vgl. Teil 2 II.3.b)bb)<br />
137
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Der unbestimmte Rechtsbegriff der Gefahr im Sinne der Eingriffsermächtigung<br />
des § 7 AWG bzw. Art. 8 Dual-use-VO bedarf der Konkretisierung.<br />
Ausgangspunkt dafür ist der klassische Gefahrenbegriff im Polizeirecht und<br />
die Abgrenzung zum Risiko. Der Gefahrenbegriff beinhaltet eine Prognose<br />
und ist für die zuständigen Behörden und auch die betroffenen Ausführer regelmäßig<br />
mit einer Komponente der Ungewissheit verbunden, weshalb damit<br />
zusammenhängende Fragen oft unter dem Stichwort Risikomanagement<br />
thematisiert werden 503 . <strong>Die</strong>ser Terminus zeigt, dass sich auch die Exportkontrolle<br />
mit der aus anderen Rechtsgebieten bekannten Tendenz eines Überganges<br />
von der staatlichen Gefahrenabwehr zum staatlichen Risikomanagement<br />
befassen muss. Eine Diskussion über die Reichweite staatlicher Präventionsaufgaben<br />
wird schon seit längerem auf den Gebieten des Atomrechts,<br />
des Umweltrechts und der Gentechnik geführt. Inzwischen stellen<br />
sich diese Fragen aber nicht mehr nur im technischen Sicherheitsrecht, sondern<br />
ebenso im allgemein sicherheitsrechtlichen Kontext. <strong>Die</strong>s betrifft auch<br />
die klassische Gefahrenabwehr im Polizeirecht. Im Ergebnis dieser Betrachtung<br />
kann, unter Berücksichtigung der methodischen Ansätze von EU-Recht<br />
und nationalem Recht, durch eine vergleichende Betrachtung festgestellt<br />
werden, ob die jeweils einschlägigen Genehmigungskriterien und sonstige<br />
zu berücksichtigende Vorgaben und Prinzipien zu unterschiedlichen Ergebnissen<br />
bei den Genehmigungstatbeständen führen.<br />
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
Im Sicherheitsrecht werden häufig Begriffe wie Gefahrenabwehr, Gefahrenvorsorge<br />
und Risikoprävention genannt. Auf die Frage, ob und in welcher<br />
Form vor allem der Terminus Risikomanagement bei Exportkontrollen tatsächlich<br />
angebracht ist bzw. ob der damit verbundene Kontrollansatz von<br />
der gesetzlichen <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflicht auch aus verfassungsrechtlicher<br />
Sicht gedeckt ist, fehlt bisher eine Antwort. Auf den ersten Blick besteht<br />
zum dort verwendeten Gefahrenbegriff eher ein Widerspruch 504 . Der<br />
hinter dem Gefahren- und Risikobegriff stehende Schutzauftrag des Staates<br />
und die sich daraus abzuleitende Reichweite seiner Sicherheitsaufgaben sind<br />
von wesentlicher Bedeutung. Wie andere Bereiche des Sicherheitsrechts<br />
knüpfen auch die Exportkontrollen explizit an den Begriff Sicherheit an. Er<br />
setzt nicht nur den Zweck für die damit verbundenen Eingriffsermächtigun-<br />
503 Vgl. Teil 1 II.5.e)<br />
504 Deshalb wohl auch Simonsens Forderung nach einem Forschungsdissertat: Simonsen,<br />
in Ehlers/Woffgang/Lechleitner (FN 128), S. 100<br />
138
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
gen, sondern bildet auch den Maßstab für den konkreten Eingriff. Schließlich<br />
sind bestimmte Bedrohungslagen für die Sicherheit im Zusammenhang<br />
mit Genehmigungspflichten Voraussetzung der Genehmigungspflicht sowie<br />
auch der Genehmigungsfähigkeit bestimmter Ausfuhren. So werden in § 7<br />
AWG die Kriterien der Störung des Völkerfriedens oder der auswärtigen<br />
Beziehungen sowie der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland<br />
angeführt. <strong>Die</strong> Reichweite des staatlichen Sicherheitsauftrages muss<br />
mit Blick auf seine verfassungsrechtliche Verankerung näher bestimmt werden.<br />
1. Der Sicherheitsbegriff im Wandel<br />
Zum Sicherheitsbedürfnis einer Gesellschaft wurde schon im 19. Jahrhundert<br />
festgestellt, dass es dabei nicht um einen Naturzustand ginge, sondern<br />
vielmehr eine Übereinstimung der gesellschaftlichen Vorstellungen über ein<br />
gefahrloses, also friedvoll (geregeltes) Leben 505 . <strong>Die</strong>se Überlegungen wurden<br />
u.a. durch das BVerfG aufgegriffen, indem es die Ausübung grundrechtlich<br />
geschützter Freiheiten unter den Vorbehalt des Gewaltverzichts und die<br />
Staatsgewalt über jede Rechtskonfrontation stellt 506 . Der Staat muss die gesellschaftlichen<br />
Erwartungen erfüllen, die sein Gewaltmonopol rechtfertigen.<br />
Er muss auf den gesellschaftlichen Wandel und sich verändernde<br />
Empfindlichkeiten reagieren können. Das ist für die Reichweite des Sicherheitsbegriffs<br />
von großer Bedeutung. Der Sicherheitsbegriff darf daher nicht<br />
statisch verstanden werden.<br />
a) Innere und äußere sowie technische Sicherheit<br />
<strong>Die</strong> klassische Domäne des Staates ist die innere Sicherheit. Sie widmet sich<br />
dem unmittelbaren Schutz von Rechtspositionen der Bürger durch die polizeiliche<br />
und ordnungsbehördliche Gefahrenabwehr sowie die Nachsorge mit<br />
präventiver Wirkung gegenüber Dritten durch Strafverfolgung und -vollzug,<br />
was dem repressiven Tätigkeitsbereich der Verwaltung zugeordnet wird507 .<br />
Das Schutzgut, welches der Gefahrenabwehr zu Grunde liegt, ist die innere<br />
Sicherheit. Im Polizei- und Ordnungsrecht wird sie regelmäßig mit öffentlicher<br />
Sicherheit und Ordnung definiert. Mit der Unterscheidung werden die<br />
Zuständigkeitsbereiche der zur Exekutive gehörenden Polizei und der Ord-<br />
505 Calliess, DVBl. 2003, 1096, 1100 und in FN 288, S. 1 ff. u.a. mit näheren Ausführungen<br />
zur staatstheoretischen Entwicklung des Sicherheitsgedankens (unter Verweis<br />
auf Hobbes, Leviathan, Kap. 17, S. 134)<br />
506 BVerfGE 69, 315, 360, zur Versammlungsfreiheit<br />
507 Stoll, Sicherheit als Aufgabe von Staat und Gesellschaft, S. 15 f.<br />
139
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
nungsbehörden abgegrenzt. In der eng mit den Staatsaufgaben verbundenen<br />
geschichtlichen Entwicklung dieses Rechtsgebietes erfolgte eine starke Ausdifferenzierung<br />
präventiver Sachaufgaben508 . Während die sachliche Zuständigkeit<br />
der Polizei auf den unmittelbaren Ordnungsvollzug, insbesondere<br />
in Zusammenhang mit strafrechtlich relevantem Verhalten, auch unter<br />
Verwendung von Zwangsmitteln, gerichtet ist, nehmen die Ordnungsbehörden<br />
regelmäßig die ihnen zugewiesenen Sachaufgaben der inneren Verwaltung<br />
wahr. Das geschieht beispielsweise in Form von behördlichen Handlungsanweisungen,<br />
Verboten oder Genehmigungsverfahren509 . <strong>Die</strong> Abgrenzung<br />
findet sich auch in den föderalen Kompetenzen auf kommunaler, Landes-<br />
und Bundesebene510 .<br />
Bei der öffentlichen Sicherheit geht es um den gesetzlich geregelten Schutz<br />
von Rechtsgütern. Als vom Sicherheitsbegriff umfasste Schutzgüter werden<br />
der Staat und seine Einrichtungen, die Rechtsordnung als Ganzes sowie die<br />
nach dem Grundgesetz geschützten Individualrechtsgüter genannt, die sich<br />
aber in Teilen unterscheiden511 . Das mit der Rechtsordnung erwähnte geschriebene<br />
Recht, wie StGB und OWiG, aber auch Verordnungen und Satzungen,<br />
regelt letztlich das Verhältnis der Bürger untereinander und des<br />
Bürgers zum Staat bzw. der Gesellschaft. Dabei werden die verfassungsrechtlichen<br />
Schranken der Grundrechte konkretisiert, so z.B. die Reichweite<br />
der Eigentümerrechte oder der Vertragsfreiheit. Der Schutz des Staates und<br />
seiner Einrichtungen bezieht sich auf die Funktionsfähigkeit des Staates, also<br />
seine durch bestimmte Institutionen und Personen vermittelte hoheitliche<br />
Handlungsfähigkeit. Auch hierbei geht es um eine Verletzung der Rechtsordnung.<br />
Der rechtmäßige Freiheitsgebrauch muss dagegen hingenommen<br />
werden. Eine über diese Aspekte hinaus unbestimmbare Funktionsfähigkeit<br />
des Staates kann deshalb nicht zum Schutzgut Sicherheit erhoben werden512 .<br />
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass als Bezugspunkt der Gefahrenabwehr<br />
nicht Sicherheit als solches, z.B. als Sicherheitsgefühl, geschützt<br />
wird. Es handelt sich vielmehr um einen Verweisungsbegriff. Je nach<br />
Regelungsmaterie und Normzweck bezieht er sich auf die Schädigung bestimmter<br />
subjektiver Rechte oder Rechtsgüter einzelner Personen, die sich<br />
bei einer einfachgesetzlichen Rechtsverletzung realisieren kann. Dazu gehö-<br />
508 Kugelmann (FN 138), S. 22 Rn 90 ff.<br />
509 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 65<br />
510 Kugelmamnn (Fn 138),S. 61 Rn 52 ff.<br />
511 Dazu Pieroth /Schlink Kniesel (FN 104), § 8 Rn 3 ff., mit Kritik an der Einbeziehung<br />
von Kollektivrechtsgütern, wie Wasserversorgung und Volksgesundheit, s.a.<br />
Knemeyer (FN 509), Rn 100<br />
512 Dazu Pieroth/Schlink/Kniesel (FN 104), § 8 Rn 42<br />
140
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
ren normativ verbürgte Rechte wie z.B. Leib, Leben, Gesundheit oder Ehre.<br />
Im Einzelfall kann daneben die hoheitliche Handlungsfähigkeit stehen. Öffentlich<br />
ist die Sicherheit aber nur dann, wenn daran ein öffentliches Interesse<br />
besteht, also Rechtsgüter in der Schutzverantwortung des Staates betroffen<br />
sind513 .<br />
Hingegen bezieht sich die in dem Kontext oft benannte öffentliche Ordnung<br />
auf ungeschriebene Normen und das darauf beruhende geordnete Zusammenleben<br />
der Bürger514 . <strong>Die</strong>se können aber allenfalls dann betroffen sein,<br />
wenn es an einer strafrechtlichen Sanktionierung fehlt, so z.B. bei neuen Gefahrentypen515<br />
. Rechtseingriffe sollen aber wegen der verfassungsrechtlich<br />
umstrittenen Bestimmtheit dieses Begriffs nur bei gleichzeitig drohenden<br />
Rechtsgutsverletzungen möglich sein, da sich sonstige soziale Aufgaben<br />
nicht an die Polizei, sondern den Gesetzgeber richten516 .<br />
In Abgrenzung zum Bereich der inneren Sicherheit wird auch der Begriff<br />
der äußeren Sicherheit verwendet, der sich mit der Verteidigungsfähigkeit<br />
eines Staates als Ganzes bzw. dem Schutz vor Angriffen von außen widmet.<br />
Auf die entsprechenden Abgrenzungen bzw. Verschmelzungstendenzen in<br />
Folge der Internationalisierung von Gefahren und Risiken, auch zum Staatsziel<br />
Völkerfriede, wurde schon eingegangen517 . Neben dem damit zunächst<br />
verbundenen Gedanken der physischen Sicherheit, also dem Schutz der verfassungsrechtlich<br />
in Art. 2 Abs. 1 GG verbürgten körperlichen Unversehrtheit<br />
und des Lebens der Bürger vor Gewalt, tritt auch der Gedanke technischer<br />
Sicherheit. Dabei wird das Polizei- und Ordnungsrecht ebenfalls bemüht,<br />
um unmittelbare Gefahren für andere Rechtsgüter, wie z.B. durch Abfall<br />
oder Bodenkontamination, zu verhindern oder zu beseitigen. Grundlage<br />
hierfür ist der Maßstab des bestimmungsgemäßen Gebrauchs technischer<br />
Anlagen oder sonstiger Objekte. Gewalt als physisch vermittelter Zwang zur<br />
Überwindung von Widerstand518 , also z.B. unmittelbar körperliche Gewalt,<br />
wird in diesem Bereich durch eine mittelbare, aber dem Verursacher zurechenbare<br />
Störung eines Rechtsgutinhabers ersetzt. Beide können strafrechtlich<br />
relevant sein519 .<br />
513 Gusy, Polizeirecht, Rn 81 ff.<br />
514 BVerfGE, 69, 315, 352; BVerwG, NJW, 1980, 1640, 1641<br />
515 Knemeyer (FN 509), Rn 104<br />
516 Dazu Erichsen, VVDStRL 35, 171, 194 ff.<br />
517 Vgl. Ausführungen zu den Definitionen in Teil 1 II.5.b)bb)<br />
518 Tröndle/Fischer, Kommentar zum StGB, § 240, Rn 5<br />
519 Zur Beeinträchtigung von Rechtsgütern durch Unterlassen (Garantenpflicht): ebenda,<br />
§ 13, Rn 5<br />
141
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
b) Sicherheit, Fortschritt und Vorsorge<br />
In den letzten Jahren hat die internationale Dimension von Sicherheit an Bedeutung<br />
gewonnen. <strong>Die</strong>s geht auf den Wegfall der Grenzkontrollen sowie<br />
die Freizügigkeit der Bürger und den freien Warenverkehr innerhalb der EU<br />
zurück. Darüber hinaus kommt es im Rahmen der Globalisierung zu einer<br />
immer stärkeren Verflechtung und Vernetzung der Staaten, vor allem finanziell<br />
und wirtschaftlich. <strong>Die</strong>s führt zu grenzüberschreitend agierenden<br />
Netzwerken, mit legalen sowie illegalen Anliegen. <strong>Die</strong> Zivilgesellschaft<br />
wird durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher kultureller, ethischer<br />
und religiöser Vorstellungen beeinflusst. Mit diesen Entwicklungen werden<br />
Gefahren und Risiken für die Sicherheit von Staat und Bürger internationalisiert.<br />
Im Bereich physischer Sicherheit bilden terroristische Handlungen dafür<br />
ein plakatives Beispiel. <strong>Die</strong> Fragen der äußeren oder inneren Sicherheit<br />
überlappen sich hierbei. <strong>Die</strong> Tatsache, dass die Sicherheit wegen der grenzüberschreitenden<br />
Vernetzung von Kommunikations- und Verkehrswegen<br />
nicht mehr allein durch die Nationalstaaten gewährleistet werden kann, ist<br />
kaum bestreitbar. Wie die Ursachen der neuen Bedrohungen, so muss auch<br />
Sicherheit internationalisiert werden. <strong>Die</strong> institutionelle Zusammenarbeit<br />
und die Rechtspflege müssen hierauf abgestimmt werden. Es kommt zu einer<br />
Überlappung von innerer und äußerer Sicherheit der Staaten. In den zuständigen<br />
internationalen Foren, wie der EU, NATO oder VN, werden die<br />
dafür notwendigen gemeinsamen Maßnahmen entwickelt bzw. beschlossen.<br />
Neben diesen verkehrstechnischen Fortschritt tritt der produkttechnische<br />
Fortschritt, der im Rahmen des schon angesprochenen technischen Sicherheitsbegriffs<br />
eine Rolle spielt. Entwicklungen in Wissenschaft und Technik<br />
bergen nicht nur Chancen, sondern auch Risiken. Sie sind oftmals weder<br />
räumlich noch zeitlich eingrenzbar, zum Teil drohen irreversible Schäden.<br />
Man könnte an dieser Stelle von der Komplexität der Risiken infolge Komplexität<br />
des Wissens sprechen. In beiden Bereichen werden neue Gefahrenund<br />
Risikopotentiale geschaffen bzw. ermöglicht. Das Bewusstsein darüber<br />
wird in der bestehenden Kommunikations- und Informationsgesellschaft geschärft.<br />
<strong>Die</strong> gesellschaftliche Erwartungshaltung an den staatlichen Schutz<br />
steigt mit jedem Fall der Realisierung solcher Gefahren. Empfindungen des<br />
Einzelnen, wie Unbehagen oder Verunsicherung, verdichten sich zu einem<br />
gesellschaftlichen Moment520 . <strong>Die</strong> Abgrenzung der physischen und psychischen<br />
Sicherheit mag hierbei nicht mehr in jedem Falle möglich sein. In<br />
dem Zusammenhang wird oft von einer Risikogesellschaft gesprochen. Unter<br />
Sicherheit werden heute aber auch Begriffe wie die ökologische oder so-<br />
520 Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, S. 14 ff.<br />
142
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
ziale Sicherheit gefasst521 . Aus den bekannten Formen der sozialen, inneren<br />
und äußeren Sicherheit hat sich der Begriff der Zukunftssicherheit entwickelt522<br />
.<br />
Im Sicherheitsrecht, mithin der Exportkontrolle, wird diese Tendenz einer<br />
umfassenderen Risikovorsorge ebenso deutlich, beispielsweise bei der Terrorismusbekämpfung.<br />
Sie spielt im Polizeirecht und bei Exportkontrollen im<br />
weiteren Sinne (Embargos, Personenlisten) inzwischen eine bedeutsame<br />
Rolle. Auch für die Frage der Erteilung einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> sind terroristische<br />
Bedrohungen zu berücksichtigen. <strong>Die</strong> künftige Verwendung einer<br />
Lieferung von Waren oder Technologie ist aber unabhängig vom späteren<br />
Einsatz durch einzelne Personen, Gruppen oder auch Staaten oft kaum vorhersehbar,<br />
wenngleich die Eigenschaften des Liefergutes und der Empfänger<br />
der Lieferung zumeist bekannt sind. Es fehlen regelmäßig Informationen,<br />
die eine weitergehende Prognose zum Verbleib erlauben. Das Missbrauchspotenzial<br />
variiert je nach Zielregion. Hinzu kommen nicht absehbare politische<br />
Entwicklungen in bestimmten Ländern. Eine mittel- oder langfristige<br />
Prognose zur Verwendung des Liefergutes wird so erschwert. Es stellt sich<br />
also durchaus die Frage, ob diese Ungewissheit und damit verbundene Gefahren<br />
oder Risiken zur Bejahung einer Gefahr im Sinne der Genehmigungstatbestände<br />
führen kann bzw. soll. <strong>Die</strong> Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit<br />
eines Missbrauchs und in dessen Folge auch eines Schadens<br />
im Sinne der geschützten Rechtsgüter und Interessen sind hierbei maßgeblich.<br />
Sie müssen spezifiziert werden.<br />
c) Ergebnis<br />
Der Sicherheitsbegriff unterliegt einer erheblichen Dynamik. Seine Reichweite<br />
hängt von gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Erwartungen an<br />
die Schutzpflichten des Staates gegenüber der Gesellschaft ab.<br />
2. Sicherheit und Verfassung<br />
Ein expliziter Sicherheitsauftrag an den Staat lässt sich der Verfassung nicht<br />
entnehmen, schon gar nicht mit Verweis auf bestimmte gesellschaftliche<br />
Entwicklungen oder Erwartungshaltungen. <strong>Die</strong> Gewährleistung von physischer<br />
Sicherheit der Bevölkerung ist so selbstverständlich, dass sie als<br />
Staatsziel nicht vorzufinden ist. Das Grundgesetz geht von einer funktionierenden<br />
Staatsgewalt aus, wie es auch Staatsgebiet und Staatsvolk voraus-<br />
521 Isensee, JZ 1999, S. 265, 271 ff.<br />
522 Callies, DVBl. 2003, S. 1096, 1097<br />
143
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
setzt. Schließlich geht es dabei um die Grundlagen der Gesellschaft. Das<br />
historisch gegen die konkurrierende Gewaltausübung kleiner Herrschaftsverbände<br />
im Interesse des Staatszweckes Sicherheit durchgesetzte Gewaltmonopol<br />
gilt als konstituierende Entstehungsbedingung des modernen<br />
Staatswesens. Sicherheit gilt als wesentlicher Anknüpfungspunkt für die Legitimation<br />
des Staates. Sein Volk hat ihm das uneingeschränkte Recht auf<br />
Gewaltausübung vollständig übertragen. Er bietet dem Einzelnen dafür die<br />
Sicherheit vor Übergriffen. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit ergibt sich vornehmlich<br />
aus dem staatlichen Gewaltmonopol. <strong>Die</strong> damit verbundene Friedenspflicht<br />
des Bürgers kann nur durch die Wahrnehmung der entsprechenden<br />
Schutzpflicht des Staates gerechtfertigt werden523 . Sicherheit ist so ein<br />
wesentliches Element des Rechtsstaatsprinzips524 . Davon erfasst sind<br />
Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. <strong>Die</strong>se setzen nicht nur effektiven<br />
Rechtsschutz, sondern eine effektive Gefahrenabwehr voraus. Schließlich ist<br />
vom materiellen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips die durch Grundrechte<br />
vermittelte Gewährleistung und Förderung der individuellen Freiheit erfasst525<br />
. Dem Rechtsstaat im materiellen Sinne wird regelmäßig Staatszielcharakter<br />
zugeschrieben. Der Schutz der Menschenwürde und der individuellen<br />
Freiheiten, wie z.B. der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit<br />
nach Art. 2 Abs. 2 GG, stehen im Zentrum dieses Zieles, ergänzt<br />
durch Willkürverbot, Eigentumsgarantie und justizielle Garantien526 . Es wird<br />
deutlich, dass das Gewaltmonopol des Staates und darauf beruhende Eingriffe<br />
für den Rechtsgüterschutz und die Freiheit eine Doppelfunktion haben527 .<br />
Der staatliche Sicherheitsauftrag ergibt sich auch aus den spezifisch in der<br />
Verfassung formulierten einzelnen Staatszwecken. Er ist unverzichtbarer<br />
Teil des Gemeinwohls. Dazu gehört neben dem auf inneren Frieden bzw. innere<br />
Sicherheit gerichteten Rechtsstaatsprinzip das Prinzip der Friedensstaatlichkeit.<br />
<strong>Die</strong>ses ist Kernelement der äußeren Sicherheit und wird in Art.<br />
26 GG explizit erwähnt. Neben dem Ziel der Verhinderung von Krieg werden<br />
bereits Störungen des friedlichen Zusammenlebens kriminalisiert. Daneben<br />
steht die Förderung von Systemen kollektiver Sicherheit über die<br />
Herstellung von Bündnissen und internationalen Organisationen sowie die<br />
Völkerrechtsfreundlichkeit und dessen besondere Ausprägung der Menschenrechtsfreundlichkeit,<br />
denen über die Staatszielbestimmung Vorrang vor<br />
523 Zu den Grundlagen der Sicherheitsgewährleistungen: Möstl (FN 106), S. 14 ff.<br />
524 Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge: Grundlagen, Rechts-<br />
und Vollzugsstrukturen, Fn 52 ff.<br />
525 Calliess (FN 288), S. 72 mit Verweis auf Sobota, Prinzip Rechtssaat, S. 478, 485 ff.<br />
526 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S 203, 211 ff.<br />
527 Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 34 f.<br />
144
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
der nationalen Gesetzgebung eingeräumt wird. Im Zusammenhang mit auswärtigen<br />
Angelegenheiten entstehe an dieser Stelle eine Bindungswirkung in<br />
Form der Verpflichtung zum Abschluss gegenläufiger Völkerrechtsverträge<br />
bzw. in Form des Hinwirkens auf Verträge, die zur innerstaatlichen Zielverwirklichung<br />
beitragen528 . In Art. 24 Abs. 2 GG wird die Gewährleistung der<br />
inneren und äußeren Sicherheit im Rahmen der Wahrung einer friedlichen<br />
Ordnung im System kollektiver Sicherheit ebenfalls erwähnt. Auch hier<br />
handelt es sich um eine sicherheitsorientierte Staatszielbestimmung529 . Bereichsspezifische<br />
Sicherheit wird aber nicht nur im inneren und äußeren<br />
Friedenssinne, sondern auch durch die Staatszwecke Sozial- und Umweltstaatsprinzip<br />
vermittelt. Der Umweltschutz ist so Teil des Staatszweckes Sicherheit.<br />
Der Staatszweck Sicherheit wirkt auch in zeitlicher Hinsicht. Der<br />
Schutz künftiger Generationen und von deren geschützten Rechtsgütern vor<br />
einer Schädigung, unabhängig vom Zeitpunkt der Verursachung, ist umfasst530<br />
. <strong>Die</strong>ser Gedanke ist für Fragen der inneren und äußeren Sicherheit<br />
relevant.<br />
Auf EU-Ebene ist der Sicherheitsgedanke in den Art. 2 und 29 EUV sowie<br />
Art. 61 EG verbürgt. Dort wird das Unionsziel eines Raumes der Freiheit,<br />
der Sicherheit und des Rechts formuliert. Der EuGH hebt die grenzüberschreitende<br />
Wirkung des Aspektes Sicherheit und dessen Bedeutung für die<br />
Europäische Gemeinschaft hervor und verweist auf die Funktion der Mitgliedstaaten<br />
als Garanten für geeignete und ausreichende Maßnahmen zur<br />
Wahrung der innergemeinschaftlichen Freiheiten531 . Der Sicherheitsbegriff<br />
findet sich schließlich auch in internationalen Vereinbarungen, wie z.B. Art.<br />
5 EMRK, die Sicherheit (und Freiheit) des Menschen vor willkürlicher Verfolgung<br />
und Verhaftung zum Gegenstand hat532 . Auf die Kompetenz der<br />
Mitgliedstaaten zur Auslegung des Sicherheitsbegriffs wurde bereits eingegangen.<br />
<strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit leitet sich also aus einer Vielzahl verfassungsrechtlicher<br />
Gewährleistungen ab und ist auch auf EU-Ebene anerkannt.<br />
Es besteht keine zeitliche Eingrenzung, sondern eine ebenso kurzfristige<br />
sowie langfristige Orientierung. Sie besteht immer dann wenn die Schädigung<br />
verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen droht.<br />
528 Sommermann (FN 526), S. 239 ff.<br />
529 Dolzer/Vogel/Graßhof (FN 282), Art. 24 Rn 5, 137<br />
530 Calliess (FN 288), S. 98<br />
531 Am Beispiel der Handelsfreiheit, EuGH in EuGRz 1997, 620 ff, Rn 32 ff.; NJW<br />
1998, 1931<br />
532 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November<br />
1950, BGBl. 1952 II, S. 685, 953, in der Fassung des Protokolls Nr. 11, in Kraft<br />
getreten am 1. November 1998, BGBl. I 2000 S. 1253 (vgl. FN 202)<br />
145
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
3. Qualität des staatlichen Sicherheitsauftrages<br />
<strong>Die</strong> aus der Sicherheitsaufgabe des Staates verfassungsmäßig erwachsenden<br />
Schutzpflichten sind in der Rechtswissenschaft grundsätzlich unbestritten.<br />
Über die Qualität der Schutzpflichten und deren Verhältnis z.B. zu den Freiheitsgrundrechten<br />
wurde damit aber noch keine Aussage getroffen.<br />
a) Sicherheit als Gemeinwohlbelang<br />
Neben den verfassungsimmanenten Schranken sind nach der Rechtsprechung<br />
des BVerfG auch Gemeinwohlbelange Legitimationsgrund für die Erreichung<br />
gesetzgeberischer Ziele, damit auch für einen Grundrechtseingriff.<br />
<strong>Die</strong>s kam mit der im Apothekenurteil des BVerfG entwickelten Stufentheorie<br />
sehr deutlich zum Ausdruck533 . Dahinter steht letztlich die gewichtende<br />
Verknüpfung entgegenstehender Belange durch die Je-desto-Formel, auf die<br />
beim Gefahrenbegriff noch näher einzugehen sein wird. <strong>Die</strong> Rechtfertigung<br />
soll sich nach der Intensität des Eingriffs und Wertigkeit des betroffenen<br />
Rechtsguts richten, dem durch die Verfassung legitimierte Gemeinwohlbelange<br />
gegenüberstehen. Anerkannt sind regelmäßig kollektive Interessen, die<br />
sich aus einer Vielzahl gleichartiger Individualinteressen summieren, z.B.<br />
die Volksgesundheit. Dabei werden von dem ursprünglichen Personenbezug<br />
losgelöste, aber zusammenhängende Individualinteressen, z.B. die Daseinsvorsorge,<br />
und Kollektivinteressen unterschieden. Beide ergeben sich aus<br />
dem Selbstverständnis des Staatszweckes bzw. der Staatsziele534 . In diese<br />
erste Kategorie gehören die bereits beschriebenen Aspekte der Sicherheit<br />
des Staates535 .<br />
<strong>Die</strong> Legitimationsfunktion von Gemeinwohl ist in Fällen, in den die Verfassung<br />
selbst keinen Vorbehalt vorgesehen hat, nur dann gewährleistet, wenn<br />
er aus der Verfassung zumindest abgeleitet werden kann. Solche verfassungsimmanenten<br />
Schranken sieht das BVerfG dann, wenn die Grundrechtsausübung<br />
mit Grundrechten Dritter kollidiert oder andere Rechtswerte<br />
von Verfassungsrang betroffen sind536 . Gemeinwohlbelange lassen sich mit<br />
diesen Rechtswerten identifizieren. Im Rahmen der Grundrechtsschranken<br />
kommt es zur Gewichtung der Verfassungswerte und zu einer gegenseitigen<br />
Optimierung damit verbundener Prinzipien. Es muss an dieser Stelle zwischen<br />
vorbehaltlos gewährten Grundrechten, Gesetzesvorbehalt und Ge-<br />
533 BVerfGE 7, 377 f., S. 403<br />
534 Zum Gemeinwohl: Schuppert, in: Schuppert/Neidhardt, Gemeinwohl: auf der Suche<br />
nach Substanz , S. 30 , 36<br />
535 BVerfGE 20, S 162 (179ff.)<br />
536 BVerfGE 28, 243 (260) Kriegsdienstverweigerungsentscheidung<br />
146
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
meinwohlgründen differenziert werden. Bereits auf dieser Stufe ist eine gewisse<br />
Rangordnung von Verfassungswerten vorgesehen. <strong>Die</strong>se Wertungen<br />
sind im Rahmen der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln<br />
und bei der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen zu berücksichtigen<br />
537 .<br />
b) Grundrecht auf Sicherheit und staatliche Schutzpflichten<br />
<strong>Die</strong> Ausführungen zum staatlichen Sicherheitsauftrag haben nicht die Frage<br />
beantwortet, in welchem Umfang der einzelne Bürger daraus eigene subjektiv-öffentliche<br />
Ansprüche ableiten kann. Ob der Verfassung neben der geschilderten<br />
Rolle im Rahmen der Staatsziele ein Grundrecht auf Sicherheit<br />
zu entnehmen ist, wurde in der Vergangenheit intensiv diskutiert. Denn eine<br />
explizite allgemeine staatliche Schutzpflicht kann dem Grundgesetz nicht<br />
entnommen werden. Nach dem Wortlaut der einzelnen Grundrechte wird eine<br />
Schutzpflicht allein i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG erwähnt. Danach soll die<br />
Menschenwürde nicht nur gewahrt, sondern auch geschützt werden. <strong>Die</strong> allgemeine<br />
Grundrechtsidee der Schutzpflicht wurde gleichwohl aufgegriffen<br />
und ist als solches inzwischen unstreitig. Allerdings sind die Auffassungen<br />
zur Herleitung unterschiedlich538 . Der Staat hat mit der Gewährleistung von<br />
Sicherheit zunächst eine objektive Staatsaufgabe. <strong>Die</strong> offene Flanke des damit<br />
verbundenen Grundrechtsschutzes müsse durch eine positive Schutzdimension<br />
der Grundrechte geschlossen werden, die Anspruchscharakter hat,<br />
sonst würde die Grundrechtsposition des Rechtsbrechers privilegiert539 . Allerdings<br />
richte sich der Anspruch nur im Ausnahmefall auf bestimmte Maßnahmen.<br />
Im Übrigen sei die Umsetzung der Schutzpflicht im pflichtgemäßen<br />
Ermessen der zuständigen Staatsorgane540 . Darauf wird noch näher einzugehen<br />
sein.<br />
Das BVerfG beschreibt die Sicherheit von Staat und Bürgern als unverzichtbaren<br />
Verfassungswert und folgert die Schutzpflichten aus den objektiven<br />
Wertentscheidungen, die den jeweils betroffenen Grundrechten innewohnen.<br />
Als dogmatische Grundlage dafür wird die staatliche Pflicht zum Schutz der<br />
537 Sommermann (FN 526), S. 425<br />
538 Überblick zum Meinungsstand vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik<br />
Deutschland, § 69 IV 5; Calliess, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd.<br />
II, § 44 Rn 8<br />
539 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd V, § 111, Rn 85, 184 ff. s.a. Isensee (FN<br />
527),S. 1 ff.<br />
540 Isensee, ebenda, Rn 162 ff.<br />
147
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Menschenwürde Art. 1 Abs.1 GG angeführt541 . Gegenstand und Maß der<br />
Schutzpflicht würden aber durch das jeweils einschlägige Grundrecht näher<br />
bestimmt. Im Wesentlichen ergeben sich danach Schutzpflichten aufgrund<br />
einer existenziellen Gefahr für Leib und Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1<br />
GG542 . Der objektive Verstoß gegen Schutzinteressen Einzelner wird bei Gefahren<br />
für solche besonders hochwertige Grundrechte543 oder bei aus der<br />
Gesellschaft stammenden Gefahren und einer Mitverantwortung des Staates<br />
dafür 544 einer subjektiven Grundrechtsverletzung gleichgesetzt. Das<br />
BVerfG geht aber nicht auf die Frage ein, ob diese über objektive Wertentscheidungen<br />
vermittelte Schutzdimension der Grundrechte ein subjektives<br />
Recht des Betroffenen auf staatliches Handeln statuiert. Gegen diese Rechtsprechung<br />
wird angeführt, dass die subjektive Abwehrdimension der Grundrechte<br />
zu Gunsten des Eingriffsadressaten stärker hervorgehoben werden<br />
müsse. Ein Eingriff könne nur ganz ausnahmsweise gerechtfertigt werden545 .<br />
Sonst bestehe die Gefahr einer zu starken Einschränkung der die Freiheit sichernden<br />
Grundrechtsfunktion, indem die Freiheiten Dritter nahezu unbegrenzt<br />
die Freiheit des Betroffenen beschränkend wirken können. Auch<br />
würde das Gewaltenteilungsprinzip in Frage gestellt, wenn das BVerfG dem<br />
Gesetzgeber über die Schutzpflicht Handlungspflichten auferlegt. <strong>Die</strong> Begründung<br />
staatlicher Schutzpflichten leitet sich deshalb allein aus den für<br />
die Sicherheitsaufgabe maßgeblichen Staatszielen und dem Gewaltmonopol<br />
ab, ohne dass diesen ein Grundrechtscharakter zukäme.<br />
Der Auffassung des BVerfG ist zuzustimmen. Der Normativgehalt der<br />
Grundrechte geht über die subjektive Abwehrfunktion gegenüber staatlichen<br />
Eingriffen hinaus. Grundrechte enthalten einen Freiheitsermöglichungsanspruch.<br />
Sie weisen einen Doppelcharakter auf. Je nach Bedrohungsgrad und<br />
Verantwortungszusammenhang muss sich eine staatliche Schutzpflicht hin<br />
zu einem Anspruch auf staatliches Einschreiten verdichten können546 . Ein<br />
541 Erstmals BVerfG v. 22.11.1958, BVerfGE 7, 198, 204 ff. –Lüth, danach BVerfGE<br />
35, 79, 114 - Hochschulurteil, so auch Dürig, in: Maunz/ders., Art. 1 Abs. 1 Rn 3, 45,<br />
80f.<br />
542 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538), Rn 5, mit zahlreichen Verweisen auf Entscheidungen<br />
des BVerfG; u.a. zum Schutz der Bürger vor Gefahren der friedlichen Kernenergienutzung:<br />
BVerfGE 49, 24, 56 f. (Kalkar); BVerfGE 53, 30, 57 (Mülheim-<br />
Kärlich)<br />
543 BVerfGE 39, 1, 42 –(Schwangerschaftsabbruch) BVerfGE 77, 170, 214 - C-Waffen<br />
und BVerfGE 77, 381, 402 f. - Gorleben ; BVerfGE 56, 54,73 - Fluglärm<br />
544 BVerfGE 46, 160, 164 - Schleyer<br />
545 Zur Kritik am BVerfG beispielhaft Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken<br />
der Technik, S. 62 ff.<br />
546 So Isensee (FN 527), S. 21, 36, 51 ff., bestätigend Calliess (FN 288), S. 606<br />
148
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
subjektives Recht auf staatliches Handeln besteht wegen der möglichen Überdehnung<br />
der Schutzpflicht nur im Ausnahmefall. Dafür muss dargelegt<br />
werden, dass gar keine oder lediglich offensichtlich ungeeignete Maßnahmen<br />
des Gesetzgebers zum gebotenen Rechtsgüterschutz getroffen wurden547<br />
. Das Schutzpflichtkonzept soll nur dann gelten, wenn dies für die Erfüllung<br />
der klassischen Grundrechtsfunktion einer Abwehr von Grundrechtsgefährdungen<br />
unabdingbar erscheint. So wären in Fällen irreparabler<br />
Verletzungen von Leib und Leben, nicht beherrschbarer Entwicklungen oder<br />
dann, wenn der Konflikt durch die Betroffenen nicht autonom gelöst werden<br />
kann, andere Instrumentarien nicht effektiv genug. <strong>Die</strong> Handlungsverpflichtung<br />
des Gesetzgebers wäre in diesem Ausnahmefall verfassungsrechtlich<br />
geboten. Mit Blick auf fördernde Sicherungsanliegen des Staates verliere<br />
das Schutzkonzept dagegen seine Konturen, da diese unbegrenzt ausdehnbar<br />
sind548 . <strong>Die</strong>ser einschränkenden Betrachtung kann sich angeschlossen werden.<br />
Zumindest wegen der ultima ratio des verfassungsrechtlich gebotenen<br />
Schutzes i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 2 GG muss der Staat eingreifen<br />
können, wenn andere Sicherungsmechanismen ineffizient erscheinen.<br />
Mit dem Schutzpflichtkonzept kommt es auch zu einer verbesserten Strukturierung<br />
multipolarer Relationen zwischen allen Betroffenen grundrechtsrelevanten<br />
Handelns, was der beschriebenen Dynamik des Sicherheitsbegriffs<br />
ebenso gerecht wird wie der zunehmenden Komplexität der Handlungsketten<br />
und der Veränderung der gesellschaftlichen Wissensbestände. <strong>Die</strong> damit<br />
verbundenen langfristigen Wirkungen menschlichen Handelns erfordern eine<br />
verbesserte Risikoverteilung. Eine undifferenzierte Gleichschaltung kollektiv<br />
geprägter subjektiv-öffentlicher Rechte und individueller Grundrechtspositionen<br />
des Einzelnen, gar die Aufgabe der liberalen Grundordnung<br />
muss aber vermieden werden. Der Grundrechtsschutz darf also nicht zu einem<br />
ausufernden Verständnis der objektiv-rechtlichen Dimension führen<br />
und ihn auf einen Schutz der Verhältnismäßigkeit staatlicher Intervention<br />
reduzieren549 . Eine Berufung auf die primär freiheitsichernde Funktion der<br />
Grundrechte erscheint demnach grundsätzlich berechtigt, so lange die ultima-ratio-Funktion<br />
der Schutzdimension hervorgehoben wird. Soweit also<br />
allein die Effektuierung der Abwehrfunktion der Grundrechte erfolgt, dürfte<br />
es nicht zu einer verfassungsrechtlich bedenklichen Überdehnung der<br />
Schutzpflichten kommen. Zumindest das Leben und die körperliche Unver-<br />
547 So im Ergebnis BVerfGE 77, 170 (214 ff.), C-Waffen-Entscheidung<br />
548 Pieroth/Schlink, Staatsrecht II, § 4 Rn 98<br />
549 So zu recht Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 43, 65<br />
sowie in DÖV 2007, S. 1 ff., 7<br />
149
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
sehrtheit unterliegen deshalb unter den genannten Voraussetzungen wie alle<br />
anderen Freiheitsgrundrechte einer staatlichen Schutzpflicht. <strong>Die</strong> so definierten<br />
Gewährleistungen durch den Staat ergeben sich also aus den grundrechtlichen<br />
Schutzpflichten, dem Gewaltmonopol sowie Rechtsstaatsprinzip.<br />
Sie werden mit dem schon beschriebenen Begriff der inneren Sicherheit zusammengefasst550<br />
. Der Verfassungsrang dieses Staatszieles und der dem entsprechende<br />
Schutzcharakter wird hierbei bestätigt.<br />
Um dem i.V.m. den sicherheitsorientierten Staatszielen damit weitgehend<br />
unstrittigen Doppelcharakter der Grundrechte551 und insbesondere deren<br />
Schutzdimension gerecht zu werden, muss bei der Lösung von Konfliktfällen<br />
eine angemessene Einbeziehung des auf diese Weise subjektivierten<br />
Gemeinwohlbelangs Sicherheit ermöglicht werden. Auf die entsprechende<br />
Frage der subjektiv-öffentlichen Anspruchsposition des Inhabers eines<br />
schützenswerten Interesses und die Gewichtung gegenüber dem Freiheitsrecht<br />
wird deshalb noch einzugehen sein.<br />
c) Sicherheitsbegriff und Schutzpflichtendogmatik auf EU-Ebene<br />
Für einen einheitlichen europarechtlichen Sicherheitsbegriff besteht bisher<br />
kein Bedarf. Bereits im Zusammenhang mit den Genehmigungskriterien<br />
nach der Dual-use-VO wurde erwähnt, dass aufgrund der nationalen Vorbehalte<br />
bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ausschließlich<br />
eine Koordinierung der Politiken in den Mitgliedstaaten erfolgt.<br />
Zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit gehört die Rechtsordnung der<br />
Gemeinschaft. Der nationale Begriff ist bei Bedrohung gemeinschaftlich geschützter<br />
Rechtsgüter zu öffnen552 . Dem gemeinschaftsrechtlichen Begriff<br />
der öffentlichen Sicherheit werden vornehmlich Gefahren für Leib und Leben<br />
zugeschrieben. Es geht um die Gewährleistung der inneren und äußeren<br />
Sicherheit553 . Im Hinblick auf die öffentliche Ordnung muss unterschieden<br />
werden, da ihr auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene ein anderes Verständnis<br />
anhaftet554 . Der EuGH beschreibt es durch hoheitlich festgelegte Grundregeln,<br />
die wesentliche Interessen des Staates berühren555 . Es erfolgt eine Bezugnahme<br />
auf den eher im Völkerrecht vorzufindenden ordre-public-<br />
550 Siehe auch Aulehner (FN 524), S. 436 f.<br />
551 <strong>Die</strong>s bestätigend Sommermann (FN 526), S. 416, 421 ff.<br />
552 Lindner, JuS 2005, S. 302, 305<br />
553 So EuGH, Rs C 129/95-Centro Com-Slg. 1997 I, 581 und Rs C 73/89 - Richardt, Slg.<br />
1991 I, 4621<br />
554 Zum ordre public und dem Sicherheitsbegriff im Rechtsvergleich: Leiblein, in: Grabitz/Hilf<br />
(FN 3), Bd. 1 Rn 12 ff.<br />
555 EuGH Rs 113/80 - Kommission/Irland, Slg 1981, 1625, Rn 7 f.<br />
150
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
Vorbehalt. <strong>Die</strong> Definition setzt geschriebenes Recht voraus, ist damit restriktiver<br />
als die auf ungeschriebene Normen bezogene nationale Definition. Sie<br />
enthält i.Z.m. dem Verweis auf die Rechtsordnung auch Elemente des nationalen<br />
Sicherheitsbegriffs556 . Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten sind<br />
die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten einzubeziehen557 .<br />
Im Zusammenhang mit der Vorrangwirkung des Gemeinschaftsrechts stellt<br />
sich die Frage, inwieweit die nach Art. 6 Abs. 2 EUV i.V.m. Art. 8 EMRK<br />
zu beachtenden Grundrechte ebenfalls im Sinne einer Schutznorm interpretiert<br />
werden können. Wenngleich die einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen<br />
zwischenzeitlich unumstritten sind558 , so scheint eine der deutschen<br />
Verfassungsdiskussion adäquate Herleitung der Schutzdimension von<br />
Grundrechten, basierend auf der Werteordnung und dem staatlichen Gewaltmonopol<br />
schon wegen der fehlenden Staatsqualität der EU, aber auch<br />
der fehlenden Verfassungsqualität der Verträge, nicht zuletzt vor dem Hintergrund<br />
des noch nicht abgeschlossenen Verfassungsprozesses, schwierig.<br />
Dennoch ist auch bei der EuGH-Rechtsprechung eine Tendenz festzustellen,<br />
wonach Ansätze für eine Einstandspflicht der Mitgliedstaaten für die Grundlagen<br />
eines menschenwürdigen Lebensumfeldes entwickelt werden sollen.<br />
Bezüglich der Grundfreiheiten bietet das EuGH-Urteil zur französischen<br />
Bauernblockade hierzu einen Anhaltspunkt. Der EuGH stellt fest, dass die<br />
Mitgliedstaaten unter dem Aspekt der Funktion des innergemeinschaftlichen<br />
Handels gem. Art. 28 EG nicht untätig bleiben dürfen. <strong>Die</strong>s wird ebenso aus<br />
dem Gebot der Gemeinschafstreue gem. Art. 10 EG abgeleitet. Ein Rückgriff<br />
auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit erfolgt über den Begriff<br />
der öffentlichen Sicherheit. Ein solches Recht wird mittelbar über das Diskriminierungsverbot<br />
anerkannt. Das führe zu Schutzpflichten der Mitgliedstaaten<br />
gegenüber allen EU-Mitbürgern, soweit diese auch gegenüber den<br />
nationalen Bürgern bestehen559 . Damit erkennt der EuGH über die Gemeinschaftsziele<br />
und Verkehrsfreiheiten staatliche Schutzpflichten an, die auch<br />
für die staatliche Sicherheitsgewährleistung eine Rolle spielen. Bei der Warenverkehrsfreiheit<br />
werden nationale Schutzpflichten der Mitgliedstaaten<br />
aufgrund des Gesundheitsschutzes als Rechtfertigungsgrund anerkannt.<br />
Wörtlich heißt es, dass Gesundheit und Leben von Menschen gegenüber den<br />
nach Art. 28 EG geschützten Gütern den ersten Rang einnehmen würden560 .<br />
556 Kugelmann (FN 138), S. 85 Rn 65<br />
557 Lindner (FN 552),S. 305<br />
558 Vgl. Teil 1 III.3.b)<br />
559 EuGH Rs 186/87, Slg. 89, 195, 219 ff. - Cowan<br />
560 EuGHE Rs 293/94 Brandsma, Slg. 1996 I, 3159, Rs 1047/75, de Peijper, Slg. 1976<br />
613, 635<br />
151
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Das wird aus der Beschränkungsausnahme zur öffentlichen Sicherheit und<br />
Ordnung nach Art. 30 EG deutlich. Insgesamt besteht ein dem Art. 2 Abs. 2<br />
GG entsprechender Schutzstandard, der die gewichtige Qualität dieser<br />
Rechtsgüter hervorhebt.<br />
Bei der Umsetzung der freiheitsbezogenen Schutzpflichten wird den Mitgliedstaaten<br />
ein Ermessen eingeräumt. So beschränkt sich der EuGH bei<br />
seiner Prüfung auf eine Evidenzkontrolle und belässt es im Benehmen der<br />
Mitgliedstaaten, welche Maßnahmen sie für den Schutz der Grundfreiheiten<br />
für geeignet erachten. Analog dazu werden offensichtliche Verletzungen der<br />
Schutzdimension von Grundrechten unterstellt, die auf der Grundlage der<br />
EMRK und gemeinsamen Verfassungswerten der Mitgliedstaaten ebenfalls<br />
anerkannt werden561 . Ausgehend von Art. 30 EG, müssen und dürfen die<br />
Mitgliedstaaten auch den sich aus der öffentlichen Sicherheit und Ordnung<br />
ergebenden Schutzauftrags und die damit verbundene nationale Werteordnung<br />
berücksichtigen. <strong>Die</strong> gemeinschaftsrechtlichen Grenzen des Ermessens<br />
ergeben sich aus der Abwägung der nationalen Interessen mit den Grundfreiheiten562<br />
.<br />
Es bleibt festzustellen, dass auf EU-Ebene eine der nationalen Lehre vergleichbare<br />
Schutzpflichtendiskussion noch nicht sehr weitgehend entwickelt<br />
ist. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass z.B. mit Blick auf die<br />
Sicherheitsverantwortung der Mitgliedstaaten gegenüber den EU-Bürgern<br />
ein dem Grundgesetz vergleichbares Schutzniveau gegeben ist und dieses<br />
zumindest in Form eines in allen Mitgliedstaaten anerkannten Verfassungsprinzips<br />
in die Abwägung staatlicher Eingriffsentscheidungen einzubeziehen<br />
ist.<br />
d) Ergebnis<br />
Eine grundrechtlich gebotene Schutzpflicht des Staates ist als ultima ratio<br />
anerkannt, besonders wenn es um gewichtige Rechtsgüter wie das Leben<br />
bzw. die körperliche Unversehrtheit geht. Auf gemeinschaftsrechtlicher<br />
Ebene können entsprechende Verpflichtungen aus den Grundfreiheiten abgeleitet<br />
werden, aber auch aus dem dort zur Gewährleistung der öffentlichen<br />
Sicherheit und Ordnung bestehenden Schutzauftrag der Mitgliedstaaten.<br />
<strong>Die</strong>ser ist in die Abwägung der bei staatlichen Eingriffen betroffenen Belange<br />
einzubeziehen.<br />
561 Calliess, ZUR 2000, 246, 252 f. unter Verweis auf, EuGH Rs C - 265/95 v.<br />
9.12.1997, EURZW 1998, 84<br />
562 Leiblein, in: Grabitz-Hilf (Fn 3), Bd. 1 Rn 16<br />
152
4. Reichweite des Sicherheitsbegriffs<br />
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
Über die Reichweite des staatlichen Gewaltmonopols wurden bisher keine<br />
Aussagen getroffen. Soweit die Bejahung von Sicherheit die Abwesenheit<br />
von Gefahren bzw. Risiken widerspiegelt, hängt der Umfang des staatlichen<br />
Schutzes von der Definition der jeweils betroffenen einzelgesetzlichen Ermächtigungsnorm<br />
ab. <strong>Die</strong> dort verwendeten Begriffe der Gefahr und in Abgrenzung<br />
dazu des Risikos müssen näher untersucht werden. Dazu gehört<br />
die verfassungsrechtliche Legitimation staatlicher Eingriffe in sicherheitsrechtlichen<br />
Bereichen. <strong>Die</strong> Ergebnisse dieser Betrachtung erlauben auch<br />
Rückschlüsse auf die Auslegung und Anwendung des <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Gefahrenbegriffs.<br />
a) Gefahrenbegriff<br />
aa) Nationales Recht<br />
Der klassische Gefahrenbegriff wurde maßgeblich durch das Kreuzbergurteil<br />
des PrOVG geprägt, wonach aus einem gegenwärtigen Zustand oder<br />
Verhalten nach dem Gesetz der Kausalität gewisse Schaden bringende Zustände<br />
und Ereignisse erwachsen563 . <strong>Die</strong>se Definition gilt als zentrales Element<br />
für die Bestimmung der Reichweite polizeilicher Eingriffsermächtigungen<br />
im Rahmen des Gesetzesvorbehalts. Das Gericht wollte dem polizeilichen<br />
Ermessen auf diese Weise Schranken setzen, in diesem Falle aber<br />
auch baupolizeiliche Kompetenzen gegenüber anderen staatlichen Aufgaben<br />
und Behörden begrenzen564 . Ein weitergehender Schutz öffentlicher Interessen<br />
sei nur durch Spezialgesetzgebung, nicht aber durch die allgemeine Gefahrenabwehr<br />
möglich565 . In dieser Tradition stellt die Rechtsprechung auf<br />
die Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts für geschützte Rechtsgüter bei<br />
einem ungehinderten Fortgang des Geschehens ab566 . Es geht um eine Situa-<br />
563 Urteil des PrOVG vom 14.6.1882, PrOVGE 9, 353 ff., neu abgedruckt in DVBl.<br />
1985, 219 und VBlBW 1993, 271<br />
564 Zum Zusammenhang des Entwicklungsprozesses einer Aufgabendifferenzierung bei<br />
Polizei- und Ordnungsbehörden: Kugelmann (FN 138), Rn 99 f., S. 24<br />
565 PrOGVE 9, 353 ff., (FN 563)<br />
566 Ständige Rechtsprechung, etwa: BVerwG, Urt. v. 13.12.1967 – IV C 146/65, BVerw-<br />
GE 28, 310/315 f.; Urt. v. 26.6. 1970 – IV C 99/67, DÖV 1970, 713/714; Urt. v.<br />
26.2.1974 – I C 31.72, BVerwGE 45, 51/57. Entsprechend definieren auch die Polizeigesetze<br />
von z.B. Bremen (§ 2 Nr. 3 Lit. a BremPolG), Niedersachsen (§ 2 Nr. 1<br />
Lit. a NPolG) und Sachsen-Anhalt (§ 3 Nr. 3 Lit. a SOG LSA) den Gefahrenbegriff.<br />
153
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
tion, in der mit genügender Sicherheit ein Kausalzusammenhang zwischen<br />
Ursache und erwartetem Schaden nachgewiesen werden kann567 .<br />
<strong>Die</strong> Aufgabe der Gefahrenabwehr wird mit der Abwesenheit von Gefahr<br />
umschrieben. Sie betrifft die Herstellung oder Sicherstellung eines schadens-<br />
bzw. störungsfreien Zustandes. Der ebenfalls oft verwendete Begriff<br />
der Störung bezieht sich auf die Schädigung rechtlich geschützter Güter. Es<br />
stellt sich die Frage, wann in diesem Kontext ein Schaden angenommen<br />
werden kann. Manche Einwirkungen können schädlich sein, ohne das Maß<br />
einer hinnehmbaren Belästigung zu überschreiten. An dieser Stelle wird<br />
auch von sozialadäquaten Beeinträchtigungen gesprochen. Eine solche Toleranzpflicht<br />
wird bei rechtlich zulässigem Handeln gesehen. Dabei werden<br />
die Legalisierungswirkung von Genehmigungen, die Zulässigkeit der Beeinträchtigung<br />
aufgrund untergesetzlicher Vorschriften, z.B. technische Normen,<br />
oder außerrechtliche soziale Regeln, wie das Kriterium der Ortsüblichkeit,<br />
anerkannt568 .<br />
Als bloße Belästigung gilt die Beeinträchtigung des physischen oder psychischen<br />
Wohlbefindens, wenn nicht bereits die Gesundheit beeinträchtigt<br />
ist569 . Gewicht bzw. Intensität der Rechtsgutsverletzung müssen berücksichtigt<br />
werden. Anstatt von Schäden wird oft auch von Nachteilen gesprochen,<br />
die sich auf eine quantitative Herabsetzung oder Minderung bestimmter<br />
Rechtsgüter, z.B. auf Vermögenseinbußen, beziehen570 .<br />
Das gesetzlich beabsichtigte Schutzniveau richtet sich nach dem Sollzustand<br />
des geschützten Belanges. Das in manchen Regelungen statuierte Erfordernis<br />
eines erheblichen Schadens dient regelmäßig als Korrektiv für sehr weit<br />
gefasste Schutzgüter. Zu solchen zählen z.B. Belange des Gemeinwohls<br />
oder Interessen der Allgemeinheit571 . Es geht dann um die Zumutbarkeit einer<br />
Beeinträchtigung, was ebenfalls im Rahmen einer Interessenabwägung<br />
beurteilt werden muss572 . Ein solches Korrektiv ist auch in dem für die nationale<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> maßgeblichen Tatbestand des § 3 Absatz 1<br />
AWG zu finden, der von einer erheblichen Gefährdung der in § 7 Absatz 1<br />
AWG benannten Schutzgüter spricht.<br />
567 Reich, Gefahr-Risiko-Restrisiko, S. 32; mit Verweis auf die Beweislastproblematik:<br />
Murswiek, NVWz 1986, S. 614<br />
568 Gusy (FN 513), Rn 103 ff.<br />
569 Germann, Das Vorsorgeprinzip als vorverlagerte Gefahrenabwehr, S. 30<br />
570 Zum Schadensbegriff Reich (FN 567), S. 33 ff.<br />
571 Reich (FN 567), S. 47<br />
572 Germann (Fn 569), S. 31<br />
154
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
Weil die Gefahrenabwehr auf Schäden in der mehr oder weniger nahen Zukunft<br />
bezogen ist, müssen diese prognostiziert werden. Solche Prognosen<br />
beinhalten regelmäßig erfahrungsbezogene Entwicklungen und Tatsachen<br />
aus der Vergangenheit und Gegenwart573 . Für die Wahrscheinlichkeitsprognose<br />
ist deshalb die Lebenserfahrung maßgeblich574 . <strong>Die</strong>ser objektive Wertungsmaßstab<br />
wird normativ-subjektiv relativiert, indem man dafür nicht nur<br />
Tatsachen heranzieht, die dem präventiv Handelnden bekannt sind, sondern<br />
auch diejenigen, die ihm bekannt sein konnten. Es geht also um die Sichtweise<br />
des durchschnittlichen, objektiven Richters. Dazu gehören z.B. wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse. <strong>Die</strong>se müssen von wertungsbezogenen Handlungen<br />
abgegrenzt werden. <strong>Die</strong> Wissenschaft spielt auch im Rahmen des Risikobegriffs<br />
eine Rolle. Sie bietet objektive Ansätze zur Schadenswahrscheinlichkeit575<br />
. Eine subjektive Bewertung des Sachverhalts im Einzelfall<br />
wird damit jedoch nicht ersetzt. Hierbei sind für und gegen eine Gefahr<br />
sprechende Indizien, unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips,<br />
gegeneinander abzuwägen576 . Darauf wird später mit Blick auf die verfassungsrechtlichen<br />
Aspekte noch näher einzugehen sein.<br />
Der mit dem (unbestimmten) Gefahrenbegriff eröffnete und mit der Abwägung<br />
wahrgenommene Entscheidungsspielraum der Behörde wird demnach<br />
durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt577 . An dieser Stelle<br />
kommt das Rangverhältnis von Gefahrenabwehr auf der einen und Freiheit<br />
des von der Abwehr Betroffenen auf der anderen Seite zum Tragen. Der für<br />
die Gefahr notwendige Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts<br />
soll von der Wertigkeit des zu schützenden Rechtsgutes abhängen. Je größer<br />
und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist, umso geringer<br />
sind die Anforderungen, die an die Wahrscheinlichkeit gestellt werden<br />
können. Für den Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter soll deshalb<br />
schon die entfernte Möglichkeit eines Schadens zur Bejahung einer Gefahr<br />
führen dürfen578 . An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts können<br />
dann lediglich geringe Anforderungen gestellt werden. Es kommt also zu einer<br />
umgekehrten Proportionalität von Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit.<br />
Obwohl beispielsweise die mit anonymen Bombendrohungen<br />
verbundene Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nach aller Erfahrung<br />
äußerst gering ist und in der Regel allenfalls die nur entfernte Möglichkeit<br />
573 Gusy (FN 513), Rn 111<br />
574 Breuer, DVBl. 1978, S. 829, 833<br />
575 Reich (FN 567), S. 77<br />
576 Gusy (FN 513), Rn 116<br />
577 Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 34<br />
578 So statt aller Drews/Wacke/Vogel/Martens (FN 146), S. 224<br />
155
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
eines Schadenseintritts besteht, muss die zuständige Behörde dem nachgehen,<br />
schon wegen des damit verbundenen, wenn auch entfernten, existenziellen<br />
Risikos für das Leben Einzelner. Wenn sich die Gefahr verwirklichen<br />
sollte, wäre der eintretende Schaden so groß, dass ein Eingreifen nicht nur<br />
gerechtfertigt, sondern sogar geboten erscheint. Daraus wird geschlussfolgert,<br />
dass bei der Gefahr besonders großer Schäden zur hinreichenden<br />
Wahrscheinlichkeit in der erwähnten Faustformel auch die entfernte Möglichkeit<br />
eines Schadenseintritts gehört579 .<br />
Allerdings würde das Proportionalitätskriterium dann entwertet, wenn dem<br />
schützenswerten Rechtsgut ein zu breiter Anwendungsbereich zugewiesen<br />
wird, so dass jeder Rechtsverstoß in die Gefährdung der Rechtsordnung insgesamt<br />
münden kann. So würde praktisch jeder staatliche Eingriff gerechtfertigt.<br />
Dem ist durch die Anforderung an ein hinreichend konkret bestimmtes<br />
Rechtsgut zu begegnen, welches gefährdet erscheint580 . <strong>Die</strong>ser Gedanke<br />
ist auch für die Ratio von Exportkontrollen, die letztlich dem Schutz vieler<br />
Menschenleben dienen, von Bedeutung.<br />
bb) Gemeinschaftsrecht<br />
Auch auf EU-Ebene werden diese Abgrenzungskriterien verwendet. Im<br />
Hinblick auf Gefahrensituationen sieht z.B. die Umwelthaftungsrichtlinie<br />
(UH-RL) 581 den Begriff unmittelbare Gefahr eines Schadens vor. Er wird in<br />
Art. 2 Nr. 9 UH-RL als die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass ein Umweltschaden<br />
in naher Zukunft eintreten wird, definiert. Damit bezeichnet<br />
unmittelbare Gefahr im Sinne der Richtlinie eine Sachlage, die in naher Zukunft<br />
mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Umweltschaden führen<br />
wird. <strong>Die</strong>s entspricht der Gefahr im Sinne des deutschen Verwaltungsrechts.<br />
Den Begriff Schaden definiert der Richtliniengeber in Art. 2 Nr. 2<br />
UH-RL als eine direkt oder indirekt eintretende feststellbare nachteilige Veränderung<br />
einer natürlichen Ressource oder Beeinträchtigung der Funktion<br />
einer natürlichen Ressource, was sich ebenfalls mit dem Schadensbegriff im<br />
deutschen Recht deckt. Insgesamt gibt es daher keine wesentlichen Abweichungen<br />
der gemeinschaftsrechtlichen Betrachtung.<br />
579 BVerwG, Urteil vom 26.06.1970, NJW 1970, S. 1890, 1892<br />
580 Gusy (FN 513), Rn 117<br />
581 EG-Richtlinie 2004/35/EG „Umwelthaftung zur Vermeidung und Sanierung von<br />
Umweltschäden“, (In Kraft getreten am 21. April 2004), ABl. EG Nr. L 143 vom<br />
30.4.2004 S.56<br />
156
cc) Abgrenzung der Gefahrenschwelle<br />
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil<br />
nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge<br />
weder bejaht noch verneint werden können, begründen hingegen keine Gefahr.<br />
Es besteht allenfalls ein Gefahrenverdacht oder Besorgnispotenzial. Da<br />
es an einer Prognosegrundlage für die Schadenswahrscheinlichkeit fehlt,<br />
bietet das auf Bestandsschutz konkreter Rechtsgüter gerichtete allgemeine<br />
Gefahrenabwehrrecht keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten<br />
zu begegnen 582 . Eine andere Einschätzung ergibt sich bei Annahme des<br />
Vorsorgecharakters einer Norm. Auch im Bereich ungesicherter Erfahrungssätze<br />
steht die Gefahrenabwehr im Spannungsfeld von Interessen des Eingriffsgutes<br />
und des Schutzgutes. Je nach Gewicht der Anhaltspunkte für eine<br />
mögliche Schädigung gibt es unterschiedliche Intensitätsgrade. Sie können<br />
eine Abwehrmaßnahme aber unterhalb der Schwelle zur Feststellung der<br />
Schädigungseignung eines Zustandes oder Verhaltens nicht rechtfertigen.<br />
Für ein Überschreiten dieser Schwelle müssten lückenhafte Kausalitätsfragen<br />
sowie ungesicherte Erfahrungssätze durch eine hinreichende Begründung<br />
der Schadenswahrscheinlichkeit kompensiert werden. Bloß theoretische<br />
Möglichkeiten reichen hierfür nicht aus 583 .<br />
b) Konkrete, abstrakte und latente Gefahr<br />
Eine im konkreten Einzelfall relevante Gefahr muss keineswegs unmittelbar<br />
bevorstehen. <strong>Die</strong> Abgrenzung konkreter und abstrakter Gefahren beinhaltet<br />
keine zeitliche Komponente. Ihre Verwirklichung, also der Eintritt des<br />
Schadens, kann vielmehr möglicherweise noch Jahre auf sich warten lassen.<br />
Gleichwohl kann die Gefahr konkret sein. Das Erfordernis einer hinreichenden<br />
Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens gehört zur abstrakten<br />
genauso, wie zur konkreten Gefahr. Beide Gefahrenbegriffe stellen insoweit<br />
die gleichen Anforderungen. Der Unterschied liegt nur in der Betrachtungsweise.<br />
Bei Annahme einer abstrakten Gefahr steht für bestimmte Arten von<br />
Verhaltensweisen oder Zuständen, bei denen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit<br />
ein Schaden für die öffentliche Sicherheit eintreten wird584 . Es wird<br />
also eine auf den typischen Fall oder Geschehensablauf, aber gerade nicht<br />
eine auf den Einzelfall bezogene konkrete Gefahr angenommen585 . Solche<br />
abstrakten Gefahren sind regelmäßig Voraussetzung für ein Regelungserfor-<br />
582 BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1985, BVerwGE 72, 300, 315<br />
583 Dix, <strong>Die</strong> Gefahr im Polizeirecht, S. 76, 150<br />
584 BVerwG, Urteil vom 03.07.2002, BVerwGE 116, 347, veröff. in DVBl. 2002, 1564<br />
585 BVerwG, Urteil vom 26.06.1970, NJW 1970, S. 1890, 1892<br />
157
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
dernis mittels Rechtsverordnung. Auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts<br />
im Einzelfall kann in diesem Fall verzichtet werden.<br />
Im Bayerischen Polizeirecht findet sich auch der Begriff der allgemeinen<br />
Gefahr. Eine solche soll vorliegen, wenn bei bestimmten Lebenssachverhalten<br />
konkrete Gefahren zu erwarten sind und diese zeitlich vorgelagert, also<br />
vorbeugend abgewehrt werden sollen. In diesem Kontext werden auch Gefahrenerforschungseingriffe<br />
diskutiert, die der Aufklärung bei Gefahrenverdacht<br />
dienen586 . Um polizeiliches Tätigwerden trotz der Vorverlagerung zu<br />
rechtfertigen, sei eine explizite gesetzliche Anordnung erforderlich587 . Hierbei<br />
soll es sich trotz des unklaren Wortlautes um eine Variante des abstrakten<br />
Gefahrenbegriffs handeln588 . Grundlage der Anordnung sei eine informationelle<br />
Vorfeldbefugnis, die auf den Gefahrenverdacht und konkrete Anhaltspunkte<br />
für eine Gefahr gestützt werden muss. <strong>Die</strong> Grenzen von der<br />
prognosespezifischen (Un-)Wahrscheinlichkeit zur generellen Ungewissheit<br />
sind fließend589 . Unter dem durch die Rechtsprechung entwickelten Begriff<br />
der latenten Gefahr versteht man dagegen eine Gefahr, welche zwar bereits<br />
vorhanden und auch auf den konkreten Einzelfall bezogen ist, aber erst<br />
durch das Hinzutreten weiterer Umstände tatsächlich bemerkbar wird590 .<br />
Neben diesen Gefahrenbegriffen sind die vermeintlichen Gefahrensituationen<br />
von Bedeutung. Dabei sind Anscheinsgefahr in Form unverschuldeter<br />
Fehleinschätzungen, der Gefahrenverdacht in Folge unsicherer Anhaltspunkte<br />
und die Putativgefahr, welche bei unzureichender Sachverhaltswürdigung<br />
oder verschuldeter Fehleinschätzung besteht, zu unterscheiden591 . Hierbei ist<br />
auch vom subjektiven Gefahrenbegriff die Rede. <strong>Die</strong>ser ermöglicht ein flexibleres<br />
Handeln der Polizei und einen weitergehenden Abwägungsspielraum.<br />
Dem Erkenntnisstand des konkret handelnden Polizeibeamten wird<br />
dabei mehr Gewicht beigemessen, als dem durchschnittlichen bzw. typischen<br />
Beamten. Der Unterschied zum oben aufgezeigten objektiven Gefahrenbegriff<br />
liegt in der Frage nach der Verantwortungszuweisung für das<br />
Auseinanderfallen von Schein und Wirklichkeit. <strong>Die</strong> Vertreter des objektiven<br />
Gefahrenbegriffs sehen diese im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung<br />
durch die Gerichte. <strong>Die</strong> handelnde Behörde bzw. der Beamte tragen dafür<br />
die Verantwortung. <strong>Die</strong> andere Auffassung knüpft an die Frage einer vor-<br />
586 Hierzu Weiß, NvWZ 1997, S. 737 ff.<br />
587 Knemeyer (FN 509), Rn 89<br />
588 Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn 150, BayVerfGH, DVBl.1995, S 347, 348<br />
589 Möstl (FN 106), S. 180, 186 ff.<br />
590 OVG Münster, Beschluss vom 16.10.1956; OVGE 11, 250<br />
591 Knemeyer (FN 509), Rn 95 ff.<br />
158
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
werfbaren Verursachung des Anscheins durch den Eingriffsadressaten an,<br />
was wiederum sehr subjektive Erwägungen erfordert 592 . Es drängt sich die<br />
Frage auf, ob der verfassungsmäßig geforderte Gesetzesvorbehalt insoweit<br />
noch eingehalten wird. <strong>Die</strong> Erkennbarkeit der Eingriffsschwelle für den<br />
Bürger scheint zumindest nicht gewährleistet. <strong>Die</strong> objektive Zurechnung eines<br />
rechtswidrigen Eingriffs in die Rechtsposition Dritter muss deshalb allein<br />
auf die Rechtmäßigkeit eines Verhaltens abstellen.<br />
c) Risiko und Restrisiko<br />
Der Begriff Risiko gilt zwischenzeitlich als anerkannter Rechtsbegriff und<br />
bezeichnet die Möglichkeit des Eintritts nicht nur geringfügig nachteiliger<br />
Wirkungen auf ein geschütztes Rechtsgut, soweit diese nicht praktisch ausgeschlossen<br />
erscheinen593 . Ein Risiko wird, genauso wie die Gefahr, aus den<br />
Komponenten eines bestimmten Schadensmaßes und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
abgeleitet. Im Vergleich zur Gefahr besteht der Unterschied<br />
im Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts594 . <strong>Die</strong>ser ist entweder<br />
sehr klein oder nicht ausreichend bestimmbar. Das gilt insbesondere dann,<br />
wenn es an Erkenntnissen über den denkbaren Verlauf einer Rechtsgutgefährdung<br />
geht595 . Eine solche Entscheidungssituation kann zunächst auf empirisch<br />
ungewisse Bedingungen, d.h. auf Grund z.B. fehlender Datenerhebungen<br />
oder Erfahrungen, zurückzuführen sein. Erkenntnisdefizite können<br />
auch der Komplexität von Ursachenzusammenhängen, der notwendigen<br />
Kumulation von risikorelevanten Handlungen oder Ereignissen oder zeitlichem<br />
Entscheidungsdruck geschuldet sein, z.B. wegen der Wettbewerbssituation,<br />
des Innovationsdrucks oder sonstiger notwendiger Verfahrensbeschleunigung<br />
kommen596 . Neben der Graduierung unterscheiden sich Möglichkeit<br />
und Wahrscheinlichkeit auch mit Blick auf die Einbeziehung prognoserelevanter<br />
Umstände und der Festlegung eines Prognosezeitpunktes. Im<br />
Wahrscheinlichkeitsbereich sind alle ersichtlichen Umstände in die Abwägung<br />
einzubeziehen. Zudem muss sich der Prognosezeitpunkt möglichst nah<br />
am Schadenseintritt orientieren. Für Möglichkeit und Risiko reicht es dage-<br />
592 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 4, Rn 47 ff. und 67 ff.<br />
593 Kahl, Risikosteuerung durch Verwaltungsrecht, S. 1105, 1107<br />
594 Hansmersman, Risikovorsorge im Spannungsfeld von Gesundheitsschutz und freiem<br />
Warenverkehr, S. 9; Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip, NVwZ 1986, 161, 163<br />
595 Reich (FN 567),S.2<br />
596 Kahl (FN 593), S. 1108<br />
159
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
gen aus, dass zu irgendeinem Zeitpunkt ein Umstand erkennbar ist, der einen<br />
Schaden verursachen kann597 .<br />
Für den Risikobegriff ganz zentral ist die nur eingeschränkte Erkennbarkeit<br />
eines möglichen Schadenseintritts als Basis der Zukunftsprognose. Es kann<br />
nicht hinreichend sicher vorhergesagt werden, ob und mit welchem Verlauf<br />
ein Schaden eintreten könnte. Es wird sogar vertreten, dass ein Schadenseintritt<br />
beim Risiko absolut ungewiss ist, dieses deshalb ein völliges aliud zur<br />
Gefahr darstellt598 . An diesem Punkt scheitert auch der Gefahrenbegriff, der<br />
mit je nach Schadenshöhe entfernten Wahrscheinlichkeiten operiert. Trotz<br />
dieser Ungewissheit muss die Entscheidung über ein Eingreifen getroffen<br />
werden599 . <strong>Die</strong> zentralen Begriffe der Ungewissheit oder Unsicherheit sind<br />
zwar auch im traditionellen Sicherheitsrecht nicht fremd, sind sie doch Element<br />
jeder Prognose. Für das Risikoverwaltungsrecht kennzeichnend ist die<br />
Fokussierung auf immer komplexere und längere Kausalketten unter Vervielfachung<br />
der wahrgenommenen Dimensionen menschlichen Handelns.<br />
<strong>Die</strong> Abgrenzung von Gefahren- und Risikoprognose muss sich danach richten,<br />
ob aufgrund der Eigenart des Sachbereichs eine situative Ungewissheit<br />
besteht, die mit Lebenserfahrung kompensiert werden kann, oder aber, ob<br />
die Gefahrenabwehr wegen der vorhandenen strukturellen Ungewissheit als<br />
unzureichendes Schutzinstrument gelten muss600 . Das veränderte gesellschaftliche<br />
Bewusstsein stellt die Ungewissheit beim Risikobegriff dogmatisch<br />
in den Mittelpunkt601 . Das Risikopotenzial eines Sachverhalts wird z.B.<br />
mittels wissenschaftlicher Erkenntnisse in Form bestimmter Kriterien beurteilt.<br />
Oft findet sich die Bezugnahme einer Norm mit Risiko abwehrendem<br />
Charakter zum Stand der Wissenschaft und Technik602 . In Abgrenzung zum<br />
subjektiven Gefahrenbegriff geht es gerade nicht um subjektiv falsche Erkenntnisse,<br />
sondern objektiv unsichere Erkenntnisse.<br />
Schließlich wird der Begriff des Restrisikos verwendet. Dabei können drei<br />
Konstellationen unterschieden werden: Risiken jenseits menschlicher Wahrnehmbarkeit,<br />
Schadensmöglichkeiten mit geringer Relevanz und weitgehende<br />
Ungewissheit über drohende Schäden oder deren Verwirklichungswahrscheinlichkeit.<br />
Letztlich geht es in diesen Fällen um sozialadäquate und da-<br />
597 Albers, <strong>Die</strong> Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Strafverhütung<br />
und der Verfolgungsvorsorge, S. 36<br />
598 Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem, VerwArch 84 (1993), 484, 498<br />
599 Di Fabio, Natur und Recht, 1991, 353, 354<br />
600 Möstl (FN 106), S. 265<br />
601 Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf<br />
Jahrzehnte, S. 71<br />
602 Dazu Reich (FN 567), 76 ff.<br />
160
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
her in Kauf zu nehmende Risiken 603 . Das BVerfG hat vergleichbare Feststellungen<br />
getroffen, wonach dem Risiko Gefahrenpotenziale jenseits der Grenze<br />
zur praktischen Vernunft zugeordnet werden können. Sie sind sozialadäquat<br />
und deshalb als allgemeines Lebensrisiko hinnehmbar 604 . Hierunter fallen<br />
statistisch unwahrscheinliche Ereignisse und nach dem aktuellen Erkenntnisstand<br />
unbekannte Schadenspotenziale 605 . Das beinhaltet politische<br />
Wertungen, oft ohne brauchbare Kriterien. So spielen gesellschaftliche Werte,<br />
Risikophilosophien und auf Grund medialer Berichterstattung vermittelte<br />
sozialpsychologische Befindlichkeiten eine große Rolle 606 .<br />
d) Ergebnis<br />
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gefahren i.V.m. an Sozialadäquanz<br />
orientierten oder erkenntnisbezogene Kriterien von Risiken unterhalb<br />
der Gefahrenschwelle abgegrenzt werden. <strong>Die</strong>s gilt bis hin zur völligen Ungewissheit<br />
über das Schadenspotenzial einer Handlung.<br />
5. Das Vorsorgeprinzip<br />
a) Zusammenhang von Wissen und Sicherheit<br />
Der klassischen Gefahrenabwehr liegt der Gedanke zu Grunde, dass bestimmte<br />
Vorgänge und Zusammenhänge bei schädigenden Ereignissen eindeutig<br />
erkennbar und vorhersehbar sind. Dem Sicherheitsbedarf der Gesellschaft<br />
steht dagegen ein Mangel an Erfahrung und Kenntnis möglicher<br />
Schadensquellen gegenüber. Der Faktor Unwissen bei der Beurteilung bestimmter<br />
Kausalabläufe nimmt zu. <strong>Die</strong>s zeigt die beschriebene Dynamik des<br />
gesellschaftlichen Wandels und dessen Auswirkung auf den Sicherheitsbegriff,<br />
was u.a. auf die Beschleunigung moderner und komplexer technischer<br />
Entwicklungen zurückzuführen ist. Vor allem nach Ende des Kalten Krieges<br />
und der damit verbundenen Öffnung vieler Staaten kommt es in viel stärkerem<br />
Ausmaß zur internationalen Mobilität und Vernetzung von Unternehmen<br />
und Personen und damit zu immer vielfältigeren Folgen menschlichen<br />
Verhaltens. Komplexe Ursachenzusammenhänge werden durch die rasante<br />
Entwicklung moderner Kommunikationsmittel noch befördert. <strong>Die</strong> damit<br />
einhergehende internationale Dimension des Sicherheitsbegriffs kann nicht<br />
603 So Wahl, in: ders. (FN 300), S. 89 f.<br />
604 Vgl. BVerfGE 49, 89, 141 ff.<br />
605 S.a. Scherzberg (FN 598) S. 484, 498<br />
606 Kahl (FN 593), S. 1109<br />
161
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
ignoriert werden607 . Das Versagen der nationalen Schutzmechanismen infolge<br />
der gleichzeitigen Internationalisierung von Gefahren ist eine logische<br />
Konsequenz fehlender Kompetenzen oder Eingriffsbefugnisse im grenzüberschreitenden<br />
Verkehr, also eine direkte Folge der Globalisierung. Darauf<br />
können die betroffenen Staaten nur gemeinsam reagieren. Es kommt<br />
sonst zu einer gesellschaftlich inakzeptablen Erhöhung der Risiken infolge<br />
Nichterkennung oder verspäteter Gefahrerkennung. <strong>Die</strong> nationalen Mechanismen<br />
der Gefahrenabwehr scheitern also an den geographischen Grenzen<br />
der Nationalstaaten.<br />
<strong>Die</strong>se Entwicklungen werden beim Aspekt der äußeren Sicherheit deutlich.<br />
Während man früher von Bedrohungen durch fremde Staaten ausgehen<br />
konnte, ist die Sachlage bei einer Vielzahl der heute bestehenden Konflikte<br />
differenzierter. Auf die Einwirkung auf die innere Sicherheit von außen und<br />
den möglichen Reflex auf die äußere Sicherheit wurde eingegangen. Ethnische<br />
Konflikte oder terroristische Aktivitäten machen vor staatlichen Grenzen<br />
nicht Halt. Nichtstaatliche Akteure sind von besonderer Relevanz. Sie<br />
zielen nicht auf den Staat als politisches Gebilde, sondern auf seine Bevölkerung.<br />
<strong>Die</strong>ses Dilemma wird mit dem Begriff der asymmetrischen Bedrohung<br />
umschrieben608 . Eine erfahrungsbasierte Erkenntnis von Krisenquellen<br />
und möglichen Schäden gerät dabei an ihre Grenzen. Gerade Exportkontrollen<br />
sind hier betroffen.<br />
Aber nicht nur mit veränderten Verflechtungen innerhalb und zwischen den<br />
Gesellschaften verbundene neue Bedrohungsmuster erschweren die Ermittlung<br />
von Schadensursachen. Neben immer komplexeren Geschehensabläufen,<br />
in denen eindeutige Verursacher oft fehlen, nimmt auch die Reichweite<br />
und Größe potentieller Schäden in vielen Lebensbereichen zu. Mehr Wissen<br />
erzeugt damit mehr Unsicherheit, insbesondere gilt das für ein Wissen um<br />
das Nichtwissen. Kausalitätserwartungen müssen zwangsläufig immer häufiger<br />
enttäuscht werden. Denn bei den traditionellen Haftungsrisiken waren<br />
die Gruppe der Betroffenen, Art und Umfang der Schäden, aber auch der<br />
Zeitraum der Gefahrrealisierung besser vorhersehbar als heute. Neben diesen<br />
unbestimmten kollektiven Effekten mancher Risiken kommt es zu einer<br />
stärkeren Anonymität der Verursachung. Zwar sind die Risiken regelmäßig<br />
auf menschliches Handeln zurückzuführen, aber komplexe Abläufe behindern<br />
die rechtlichen Zurechnungsmöglichkeiten. Eine Vielzahl für sich<br />
harmloser Kleinstbeiträge kann zu Katastrophen führen. Spätestens dann ist<br />
607 Vgl. nur Calliess: <strong>Die</strong> Europäisierung der Staatsaufgabe Sicherheit, in: Müller/Schneider,<br />
<strong>Die</strong> Europäische Union im Kampf gegen den Terrorismus, S. 83, 85<br />
608 Calliess, in: Äußere Sicherheit im Wandel (FN 105), S. 24<br />
162
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
die Zuordnung von Verantwortung kaum noch möglich. Risikoverursachung<br />
und Betroffenheit können in funktional völlig unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen<br />
auftreten609 .<br />
<strong>Die</strong>se Entwicklungen stehen im Spannungsverhältnis zu den steigenden gesellschaftlichen<br />
Erwartungen an Sicherheit. <strong>Die</strong>s wird bei der geschilderten<br />
Dynamik des modernen Sicherheitsbegriffs und besonders mit dem korrespondierenden<br />
Begriff Risikogesellschaft deutlich610 . <strong>Die</strong> Grenzen zwischen<br />
Gefahr, Risiko und Restrisiko sind fließend, je nach Grad des vorhandenen<br />
Wissens und der Lebenserfahrung. Bei Vorliegen von Erkenntnisdefiziten<br />
zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und damit<br />
auch einer daraus resultierenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann eine Gefahr<br />
nicht mehr angenommen werden. Eine konkrete Gefahrenprognose ist<br />
letztlich seltener möglich. <strong>Die</strong> auf Bewahrung oder Wiederherstellung eines<br />
störungsfreien Zustands gerichtete traditionelle Gefahrenabwehr stößt deshalb<br />
an ihre Grenzen. <strong>Die</strong> bewährten Schutzinstrumente, wie Auflagen,<br />
Sanktionen oder Versicherungen, sind für die Schadenprävention oft ungeeignet.<br />
<strong>Die</strong> lange Historie der Gefahrenprävention ist vor allem durch strafrechtliche<br />
Nachsorge unter dem Stichwort Prävention durch Repression gekennzeichnet.<br />
Sie bezieht sich auf Schäden in Form realisierter Gefahren<br />
und zeigt sehr deutlich, dass die allgemeine Gefahrenabwehr für einen effektiven<br />
staatlichen Schutz und die Gewährleistung von Sicherheit zu keiner<br />
Zeit als ausreichend betrachtet wurde611 . Wo potentielle Verursacher und<br />
Kausalverläufe unsicher sind, scheitert schließlich auch das Konzept des<br />
Schadenersatzes. <strong>Die</strong>s gilt umso mehr, als für drohende Rechtsgutverletzungen<br />
finanzieller Ersatz oder gar eine Wiederherstellung der Rechtsposition<br />
nicht denkbar sind. <strong>Die</strong>s ist z.B. bei Beeinträchtigungen von Gesundheit und<br />
Leben der Fall. Es besteht also ein immenses politisches Handlungsbedürfnis,<br />
den Sorgen der Gesellschaft Rechnung zu tragen. <strong>Die</strong> Sicherheitskompetenz<br />
des Staates wird nicht mehr nur daran gemessen, ob es ihm gelingt,<br />
Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu begegnen, nachdem<br />
sie eingetreten sind, sondern auch an seiner Fähigkeit, präventiv für Sicherheit<br />
zu sorgen612 .<br />
609 Grimm, Zukunft der Verfassung, S 197 ff.<br />
610 Dazu grundlegend: Beck (FN 500), S. 26, 29 ff.<br />
611 Stoll (FN 507), S. 26<br />
612 Glaeßner, APuZ B 10-11/2002, S. 3, 10<br />
163
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
b) Der Vorsorgestaat<br />
Der Gesetzgeber erkennt das Bedürfnis, den denkbaren Schäden trotz der<br />
geschilderten Entwicklungen möglichst früh- bzw. rechtzeitig und damit<br />
wirkungsvoll zu begegnen. Erkenntnisdefizite dürfen regelmäßig nicht zu<br />
einer Handlungsunfähigkeit des Staates führen. <strong>Die</strong> Regelungen zur Gefahrenabwehr<br />
werden daher immer mehr durch Instrumente der Risikovorsorge<br />
ergänzt 613 . <strong>Die</strong> Gefahr selbst wird zum Objekt der Vorsorge. Es ist auch vom<br />
Vorsorgestaat oder präzeptoralen Staat614 die Rede. <strong>Die</strong> verwaltungsrechtliche<br />
Kontrolle mit kollektiver Wirkung tritt hier an die Stelle von Abwehransprüchen<br />
Dritter. <strong>Die</strong> am Gemeinwohl orientierten Eingriffsbefugnisse aus<br />
dem Polizei- und Ordnungsrecht werden in anderen Sicherheitsfeldern auf<br />
das Bestehen einer Risikosituation vorverlagert.<br />
Der gesellschaftlich vorausschauende Vorsorgebedarf steht im Konflikt zur<br />
erfahrungsbasierter Rechtsetzung und wissenschaftlicher Expertise. <strong>Die</strong> Ungewissheit<br />
ist nicht nur zeit- oder zukunftsbezogen, sondern auch von der<br />
verfügbaren Methodik der wissenschaftlichen Risikoanalyse abhängig615 . An<br />
die Stelle des konkreten Schutzobjektes tritt eine quellen- bzw. objektbezogene<br />
Schadensprognose, die an die Einhaltung von technisch und wissenschaftlich<br />
begründeten Parametern anknüpft616 . Insgesamt ist eine zunehmende<br />
Tendenz hin zu abstrakt-generellen Regelungsformen zu verzeichnen617<br />
. Der Begriff der Vorsorge wird in zahlreichen Sinnzusammenhängen<br />
verwendet, z.B. als Gesundheitsvorsorge und Daseinsvorsorge. Es geht regelmäßig<br />
um die frühzeitige Erkennung von Risiken, oder - positiv formuliert<br />
- um ein Sorgetragen für bestimmte existenzsichernde Umstände. Anders<br />
als bei der Vorbeugung sind potenzielle Schäden oder Nachteile nicht<br />
immer konkret bekannt. 618 . <strong>Die</strong> Vorsorge betrifft Maßnahmen, die noch vor<br />
Eintritt von Gefahrensituationen greifen. Sie ist für die Risikoprävention das<br />
Abwehrpendant zur Gefahrenprävention. Beide beinhalten eine Zukunftsprognose.<br />
<strong>Die</strong> Risikovorsorge dient der Erlangung zusätzlicher Sicherheit<br />
unterhalb der Gefahrenschwelle in Reaktion auf einen Gefahrenverdacht619 .<br />
613 Di Fabio (FN 577) S. 27 ff.<br />
614 Schmidt, DÖV, 1994, S. 749 ff.<br />
615 Zum Vorsorgeprinzip (precautionary principle) und zu im internationalen Kontext<br />
strittigen regulatorischen Ansätzen: Button, The power to protect: Trade, Health and<br />
Uncertainty in the WTO, S. 119, 131<br />
616 Reich (FN 567), S. 59<br />
617 Di Fabio (FN 577), S. 299<br />
618 Reich (FN 567), S. 9<br />
619 Papier, mit Anm. zu einem Urteil des OVG Berlin v. 17.07.1978, DVBl. 1979, 162<br />
164
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
Allerdings sei darauf verwiesen, dass ein lediglich theoretisch denkbarer<br />
Schaden für die Annahme einer Risikosituation nicht ausreicht. Eine rechtliche<br />
Risikobewertung darf nicht durch statistisch-mathematische Formeln ersetzt<br />
werden620 . <strong>Die</strong> Eintrittshäufigkeit mag Indiz für die Schadenwahrscheinlichkeit<br />
sein. Hinzu kommt die Notwendigkeit einer normativen Abwägung.<br />
<strong>Die</strong>s geschieht z.B. durch eine Gewichtung des Schadens und damit<br />
verbundene Interessen621 . Von gesellschaftspolitischer Bedeutung ist<br />
aber nicht nur die Risikoverantwortung des Staates. Auch für positive gesellschaftliche<br />
Wirkungen durch Innovation, Fortschritt und wirtschaftliche<br />
Betätigung der Betroffenen trägt der Staat Verantwortung622 . Hierbei sind<br />
die Interessen regelmäßig gegenläufig. Ein modernes Verwaltungsrecht darf<br />
nicht nur risikoorientiert, sondern muss zugleich auf Interessenausgleich gerichtet<br />
sein. Hierbei wird vom Abwägungsstaat oder von einem Gebot multipolarer<br />
Balance gesprochen. Am Ende steht die Auflösung der Chance-<br />
Risiko-Kollision623 .<br />
<strong>Die</strong> wichtigste Staatsfunktion bleibt auch bei einer vorsorgenden Gewährleistung<br />
von Sicherheit zugunsten von Individualinteressen das Aufstellen<br />
verbindlicher Regeln, die der gerichtlichen Kontrolle zugänglich sind624 .<br />
Schließlich ist auch das Vorsorgeprinzip ein Rechtsprinzip. Es ist auf Beachtung<br />
des Rechts im Ganzen angelegt. Prinzip und betroffene Konkretisierungsnorm<br />
treten in ein Gegenseitigkeitsverhältnis. Beide müssen im Rahmen<br />
der rechtstaatlichen Strukturen angewendet werden, also unter Berücksichtigung<br />
des Schutzzwecks der Norm, der als immanente Grenze fungiert.<br />
Vorrangige Rechtssätze, konkurrierende Rechtsgüter und -prinzipien bilden<br />
dagegen die äußeren Grenzen der Präventionsbefugnisse. Bei der Gesetzgebung<br />
kommt es darauf an, dass das vorgesehene Verwaltungshandeln den<br />
eingriffsrelevanten Fragen des Bestimmtheitsgrundsatzes, Vertrauens- und<br />
Bestandsschutzes, Gleichheitssatzes sowie dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
genügt. Handlungsspielräume der Exekutive müssen dabei in Gestalt von<br />
Rechtsverordnungen, Verwaltungsvorschriften oder privaten Normen so näher<br />
bestimmt werden, dass risikorelevante Erkenntnisse berücksichtigt werden<br />
können. Dazu gehört die Einbeziehung politischer Leitbilder und Programme<br />
oder technischer Regelwerke625 . Das Rechtsstaats- und Demokra-<br />
620 Dazu Dix (FN 582), S. 150, 159 mit kritischem Verweis auf OVG Lüneburg, DÖV<br />
1978, 289, 292<br />
621 Di Fabio, Jura 1996, S. 566, 568<br />
622 Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz, 2001, S. 130<br />
623 Kahl (FN 593), S. 1109 mit Verweis auf Schmidt-Preuß, DVBl. 2000, 767, 768 f.<br />
624 Stoll (FN 507), S. 270<br />
625 Kahl (FN 593), S.1112<br />
165
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
tieprinzip setzt dieser Konkretisierung auf untergesetzlicher Ebene Grenzen.<br />
Insoweit bedarf es eines Prüfungsschemas für die Anwendung des Vorsorgeprinzips,<br />
in dem bereichsspezifisch die Grenzen der Vorsorge und die tatbestandlichen<br />
Voraussetzungen konkretisiert werden 626 .<br />
c) Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht<br />
<strong>Die</strong> Ursprünge der Risikovorsorge als Handlungsgrundsatz sind vornehmlich<br />
den Entwicklungen im Umweltrecht zu verdanken. In diesem Gebiet<br />
wurde der Gesetzgeber schon frühzeitig auf das Bedürfnis der Schadensprävention<br />
aufmerksam. Gerade hier werden Probleme durch Erkenntnisdefizite<br />
und die damit verbundenen Grenzen der Gefahrenabwehr besonders deutlich.<br />
Trotz komplexer Umwelteinflüsse und menschlicher Wissenslücken<br />
über deren Wirkungen, nicht zuletzt bei der Bewertung von neuen Technologien,<br />
muss der Staat seiner Schutzfunktion gerecht werden, aber auch den<br />
technischen Fortschritt ermöglichen627 .<br />
aa) Entwicklung des Vorsorgeprinzips im internationalen Kontext<br />
Das Vorsorgeprinzip wurde Mitte der 70’er Jahre im deutschen Umweltrecht<br />
eingeführt, in der Folge dann auch in Verträge auf europäischer Ebene übernommen.<br />
Schließlich wurde seine Bedeutung mit der expliziten Regelung<br />
des Umweltschutzzieles in Art. 174 EG (Art. 130 EGV) hervorgehoben und<br />
rechtlich unterlegt. Zwischenzeitlich soll es in über 20 internationalen Verträgen<br />
zu finden sein, einschließlich der Rio-Erklärung für Umwelt und<br />
Entwicklung von 1992628 . Dabei wurde anlässlich der Beschlüsse zur nachhaltigen<br />
Entwicklung (sustainable development) bei der Konferenz der Vereinten<br />
Nationen über Umwelt und Entwicklung (UNCED) folgende Vorsorge-Definition<br />
aufgestellt: “Where there are threats of serious and irreversible<br />
damage, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for<br />
postponing cost-effective measures to prevent environmental degradation”<br />
629 . So wird trotz bestehender Erkenntnisdefizite auf eine staatliche<br />
Handlungspflicht abgestellt, wenn ernsthafte und irreversible Schäden drohen.<br />
Wenngleich die im internationalen Völkerrecht zum Vorsorgeprinzip<br />
aufgestellten Kriterien nicht in jedem Falle einheitlich ausgelegt werden, ist<br />
626 So die Forderung von Callies, in: Hendler, Jahrbuch Umwelt- und Technikrecht<br />
2006, S 89 ff., 102<br />
627 Germann (FN 569), S. 2<br />
628 Vgl. Gary E. Marchant/ Kenneth L. Mossman, Arbitrary and Capricious ,The Precautionary<br />
Principle in the European Union Courts, American Enterprise Institute Press,<br />
2004, S. 5<br />
629 Tomuschat, Völkerrecht (Textsammlung), 2001, Nr. 26<br />
166
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
z.B. das Vorliegen eines qualifizierten, über der Erheblichkeitsschwelle liegenden,<br />
Schadens umfassend anerkannt630 .<br />
Das Vorsorgeprinzip ermächtigt die Verwaltung demnach zu Rechtseingriffen,<br />
obwohl der Nutzen für das geschützte Rechtsgut (noch) nicht sicher ist.<br />
<strong>Die</strong> Verwaltungsentscheidung basiert demnach auf einer unvollständigen<br />
Daten- und Wissensbasis. Im Reflex erfolgt eine zeitliche Vorverlagerung<br />
des behördlichen Handelns, die durch das Nichtabwartenmüssen gesicherter<br />
Erkenntnisse bedingt ist631 . Eine allgemein verbindliche Definition des Vorsorgeprinzips<br />
gibt es zwar nicht, es geht bei allen Formulierungen des Prinzips<br />
darum, dass wissenschaftliche Sicherheit keine Voraussetzung für präventives<br />
Tätigwerden sein darf. In den meisten Bereichen wird dem Handelnden<br />
die Last auferlegt, die Sicherheit seines Produkts oder Handelns<br />
(Inverkehrbringen) darzulegen. Große Unterschiede gibt es bei den Anforderungen<br />
an die vorsorgeauslösende Bedrohung. <strong>Die</strong> Bandbreite reicht von<br />
threats of serious or irreversible damage bis hin zu possible risks632 . Allein<br />
diese hier beispielhaft genannten Umschreibungen für die Annahme einer<br />
ernsthaften Bedrohung und des möglichen Schadens zeigen, wie unterschiedlich<br />
die Maßstäbe dieser Vorgaben erscheinen.<br />
Das Vorsorgeprinzip gilt spätestens seit der Bezugnahme auf den mit dem<br />
Maastrichtvertrag eingeführten Umweltaspekt in Art. 130 Abs. 2 EGV und<br />
dem dort statuierten Prinzip der Verursachung und Vorbeugung auch auf der<br />
EU-Ebene als etabliert. Das EuG 1. Instanz führt zur Definition des Vorsorgeprinzips<br />
aus, dass es dann wirksam wird, wenn Unsicherheit über das Bestehen<br />
oder die Reichweite von Risiken für die menschliche Gesundheit<br />
vorhanden ist. In diesen Fällen seien staatliche Institutionen berechtigt,<br />
Maßnahmen zu ergreifen, ohne das die Verwirklichung oder Ernsthaftigkeit<br />
der Risiken schon vollständig sichtbar sein muss633 . <strong>Die</strong>se noch immer unbestimmte<br />
Definition fordert erhebliche Kritik heraus, da es an Kriterien für<br />
das Vorsorgeprinzip fehle, die über den Einzelfall hinaus Geltung beanspruchen.<br />
Eine vorhersehbare Rechtsanwendung wäre nicht möglich. Ohne eine<br />
Definition oder zumindest solche Kriterien gäbe es einen Freibrief für die<br />
Willkür, Gerichtsentscheidungen würden Verhandlungssache der Parteien634 .<br />
630 Erben, Das Vorsorgegebot im Völkerrecht, 2005, S. 43<br />
631 Prügel, Das Vorsorgeprinzip im europäischen Umweltrecht, S. 65<br />
632 Vgl. Gary E. Marchant/Kenneth L. Mossman (FN 628), S. 34<br />
633 EuG 1. Instanz, verb. RS T-74/00 u.a., Artegodan GmbH v. Commission, Slg. 2002<br />
II, 4945<br />
634 So die Darstellung von Gary E. Marchant/Kenneth L. Mossman, (FN 628), S.71<br />
167
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Mit Blick auf die bestehenden Zweifel im Umgang mit den entsprechenden<br />
Erkenntnisdefiziten und wissenschaftlichen Zusammenhänge gibt zwischenzeitlich<br />
die Mitteilung der Europäischen Kommission zur Anwendbarkeit<br />
des Vorsorgeprinzips635 sowohl für die europäische Gemeinschaftspolitik als<br />
auch die auf ihr beruhenden Politiken der Mitgliedstaaten einen gemeinsamen<br />
Rahmen vor, der mit den politischen Diskussionen auf internationaler<br />
Ebene in Übereinstimmung steht. Danach sollen bei der Anwendung des<br />
Vorsorgeprinzips folgende drei Grundsätze berücksichtigt werden:<br />
(1) Zunächst soll die Verwaltungsentscheidung auf einer möglichst umfassenden<br />
wissenschaftlichen Bewertung beruhen, in der auch das Ausmaß<br />
der wissenschaftlichen Unsicherheit ermittelt wird.<br />
(2) Vor jeder Entscheidung für oder gegen eine Tätigkeit sollten die Risiken<br />
und die möglichen Folgen einer Untätigkeit bewertet werden.<br />
(3) Wenn die Ergebnisse der wissenschaftlichen Bewertung und/oder der<br />
Risikobewertung vorliegen, sollen alle Betroffenen in die Untersuchung<br />
der Risikomanagement-Optionen einbezogen werden.<br />
Auch dieser Prüfungsrahmen zeigt eine gewisse Praxisferne, da Risiken<br />
fortschrittsimmanent sind. Andererseits geht es nicht um einen Statuserhalt,<br />
sondern um Risikoverantwortung. Schließlich werden aus den Vorgaben der<br />
Kommissionsmitteilung Eingriffsermächtigungen für Sachverhalte unterhalb<br />
der Gefahrenquelle abgeleitet. Nach den Kommissionsvorgaben erfordert<br />
dies ein Mindestmaß an Erkennbarkeit bestehender Risiken, was als widerlegbare<br />
Gefährlichkeitsvermutung interpretiert wird. Ein Handeln ins Blaue<br />
hinein darf damit zumindest nicht gerechtfertigt werden. Dabei wird die Bedeutung<br />
der Verhinderung von Erkenntnisdefiziten durch optimierte Verfahren<br />
hervorgehoben636 . Eine Abwägung negativer und positiver Folgen des<br />
Vorsorgeereignisses soll sicherstellen, dass z.B. auch die potenziellen Wohltaten<br />
einer neuen Technologie berücksichtigt werden können.<br />
bb) Das Vorsorgeprinzip in der Rechtspraxis<br />
Der umweltpolitische Aspekt des Vorsorgeprinzips findet sich im nationalen<br />
Umweltrecht wieder. Der Vorsorgegedanke ergibt sich zunächst aus der Verfassung,<br />
Art. 20a GG. <strong>Die</strong> dort normierte Staatszielbestimmung spricht die<br />
Verantwortung für kommende Generationen an. Einfachgesetzlich wurde<br />
635 Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Mitteilung der Kommission ”<strong>Die</strong><br />
Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips“ (KOM 2000-1, veröff. in Abl. EG Nr. C5-<br />
0143/2000)<br />
636 Mit eingehender Kommentierung der Kommissionsmitteilung: Prügel (FN 631)<br />
168
II. <strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit und ihre Reichweite<br />
der Vorsorgebegriff in § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG, § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG und §<br />
17 ChemG benutzt. Über den Wortlaut hinaus ist aber auch der Schutzzweck<br />
einer Norm maßgeblich. So kann und muss sich der Vorsorgegedanke aus<br />
der Zweckbestimmung im Gesetz selbst oder aber einer Verordnungsermächtigung<br />
ergeben. So reiche eine solche Zweckbestimmung in § 1<br />
BImSchG, wonach neben dem Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen<br />
dem Entstehen solcher Wirkungen auch vorzubeugen ist, für den Nachweis<br />
des Vorsorgeprinzips aus637 . Auf die Formulierung der zahlreichen Einzelvorschriften<br />
kommt es dann nicht mehr an638 . Zwischenzeitlich ist der Vorsorgegrundsatz<br />
auch auf den Gesundheits- und Verbraucherschutz übertragen<br />
worden. Dazu gehören die von der EU-Kommission im Rahmen der o.g.<br />
Mitteilung explizit erwähnten Bereiche biologischer Sicherheit und Lebensmittelsicherheit<br />
ebenso wie die bereits völkerrechtlich etablierten Standards<br />
zu sanitären Maßnahmen, die das Vorsorgeprinzip in Verbindung mit<br />
einer Risikobewertung auf der Grundlage vorhandener wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse explizit hervorheben639 .<br />
Alle bisher angesprochenen Regelungsmaterien kennzeichnen sich durch<br />
nicht vorhandene oder lückenhafte technische Daten und Erkenntnisse über<br />
Wirkungszusammenhänge bzw. Geschehensabläufe. Hinzu kommt die zeitliche<br />
Wirkung der Vorsorge, die eine Wahrscheinlichkeitsprognose wegen<br />
des Bezuges in die mitunter ferne Zukunft erschwert. <strong>Die</strong> Lebenserfahrung<br />
kann hierbei in aller Regel nicht behilflich sein. Insoweit bleiben sowohl die<br />
Gruppe der Betroffenen, Art und Umfang des Schadens, aber auch Ursachenzusammenhänge<br />
häufig undefiniert640 . So hat das Gefahrenabwehrkonzept<br />
in § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImschG den Schutz bestimmter Objekte im Blick,<br />
während im Vorsorgebereich des § 5 Abs. 1 Nr. 2 davon unabhängig auf die<br />
Verhinderung schädlicher Umweltwirkungen gerichtet ist. <strong>Die</strong>se Vorschrift<br />
stellt also auf einen allgemeinen, weniger schadensspezifischen Ansatz ab.<br />
An dieser Stelle muss auch auf die Rolle des Kausalitätsbegriffs hingewiesen<br />
werden. <strong>Die</strong> klassische juristische Methodik des Verursachungszusammenhangs<br />
muss beim Vorsorgeprinzip versagen. <strong>Die</strong> Kausalität beschreibt<br />
nicht naturwissenschaftlich bewiesene Ereignisketten, sondern trifft eine<br />
normative Bewertung des schadensrelevanten Ereignisses. Deshalb kommt<br />
637 Der Vorsorgegedanke geht hier sogar soweit, dass nicht nur schädlichen Wirkungen<br />
vorgebeugt, sondern die Umwelt sogar verbessert werden soll: Germann (FN 569), S.<br />
19,<br />
638 Reich (FN 567), S. 11, 13<br />
639 Erben (FN 630) ,S. 165<br />
640 Calliess (FN 288), S. 158, 161<br />
169
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
es bei jeder Zurechnung bestimmter Ereignisse auf ein Verhalten bestimmter<br />
Personen und dabei vor allem auf die Frage nach der Unterbrechung oder<br />
Veränderung des an sich üblichen Kausalverlaufs an. Dafür wird schließlich<br />
die Lebenserfahrung bemüht. Eine Vielzahl von kumulierten Handlungen<br />
kann aber regelmäßig so diffuse Effekte erzeugen, dass die Lebenserfahrung<br />
nicht zu Ergebnissen führt. Dennoch, auch bei der Begrenzung des Vorsorgebegriffs<br />
geht es um die Frage der Überschreitung eines Grenzwertes und<br />
die damit verbundene Ungewissheit 641 . <strong>Die</strong>se bezieht sich nicht nur auf eine<br />
unsichere Schadensquelle, sondern auch auf ein noch unbestimmtes, möglicherweise<br />
beeinträchtigtes Rechtsgut. <strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung<br />
kann deshalb kaum noch beurteilt werden. Dennoch wird die<br />
Lebenserfahrung zur Eingrenzung des Risikopotenzials einer Handlung bemüht.<br />
6. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
<strong>Die</strong> staatlichen Schutzpflichten müssen bei der Gefahrenabwehr bzw. Risikovorsorge<br />
berücksichtigt werden. Der verfassungsrechtliche Sicherheitsauftrag<br />
ist Grundlage für das Vorsorgeprinzip. <strong>Die</strong>ses Prinzip ist der dogmatische<br />
Ausgangspunkt für Risikoparameter unterhalb der Gefahrenschwelle.<br />
Eine nach dem Normzweck auf Risiken vorverlagerte Eingriffsschwelle<br />
muss die übergeordneten Rechtsprinzipien und Verfassungsfragen ebenso<br />
berücksichtigen wie die Gefahrenprävention. Bestehende Entscheidungsspielräume<br />
der Verwaltung müssen durch normkonkretisierende Anwendungsrichtlinien<br />
ausgefüllt werden.<br />
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
<strong>Die</strong> existierenden Vorsorgetatbestände orientieren sich strukturell am Gefahrenabwehrkonzept<br />
der hoheitlichen Eingriffsverwaltung, mithin am Polizeirecht.<br />
<strong>Die</strong>s spiegelt sich insbesondere in dem regelmäßig auch für Vorsorgetatbestände<br />
vorgesehenen Instrument Verbot mit Erlaubnisvorbehalt<br />
wider. Ebenfalls aus der Gefahrenprävention übernommen wurde der Zurechnungstrias<br />
Gefahr bzw. Risiko - Verursachungszusammenhang - Störerprinzip<br />
642 . Im Unterschied zur Gefahrenabwehr fehlen aber die Erfahrungs-<br />
und Kausalitätsnachweise für den Schadenseintritt.<br />
641 Ladeur, Umweltrecht der Wissensgesellschaft, zum Kausalitätsbegriff, S. 15 und zur<br />
Begrenzung des Vorsorgebegriffs, S. 102<br />
642 So Calliess (FN 288),S. 154<br />
170
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
1. Reichweite des Vorsorgetatbestandes und Verhaltenssteuerung<br />
Bei der Vorsorge werden die innere Grenze des Tatbestandes sowie die verfassungsrechtlichen<br />
Schranken des Eingriffs als äußere Grenze unterschieden<br />
643 . Sie bestimmen die Reichweite der Eingriffsbefugnis. <strong>Die</strong> innere<br />
Grenze folgt aus der konkreten Eingriffsnorm und deren Schutzzweck. <strong>Die</strong><br />
Frage der verfassungsrechtlich gebotenen Konkretisierung abstrakt formulierter<br />
Eingriffsnormen ist zu berücksichtigen, denn auch vorsorgebedingte<br />
Eingriffe müssen für die betroffenen Adressaten kalkulierbar sein. Für den<br />
Umgang mit verbleibenden Unsicherheiten spielt die Verfahrenskomponente<br />
eine gewichtige Rolle.<br />
a) Kompetenzabgrenzung, Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz<br />
Das Prinzip der Gewaltenteilung, Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz<br />
erfordern, dass die maßgeblichen Voraussetzungen der Engriffsermächtigung<br />
für die Verwaltung durch den Gesetzgeber im Wesentlichen<br />
selbst bestimmt werden. Auch aus Sicht des Bürgers, also des Handlungsverpflichteten,<br />
erscheint das Merkmal der Vorsorge in der Tendenz zu unbestimmt<br />
und damit verfassungsmäßig bedenklich. Eine aus der Verfassung<br />
legitimierte Eingriffsermächtigung kann aber nur dann abgeleitet werden,<br />
wenn die für eine Gesetzesanwendung verfügbaren Risikoparameter für den<br />
Normadressaten erkennbar sind644 . Beim Vorsorgeprinzip scheint dies<br />
grundsätzlich nicht der Fall zu sein.<br />
Schon bei der Gefahrenabwehr bestehen die beschriebenen verfassungsrechtlichen<br />
Bedenken eines zu unbestimmten Gefahrenbegriffs, der im jeweiligen<br />
Rechtsgebiet einer Konkretisierung bedarf645 . Das muss erst recht<br />
für den Risikobegriff gelten. Mit der im Gefahrenbegriff kontradiktorisch<br />
vorgenommenen Kombination der Freiheitsrechte und drohender Schäden<br />
zu einer den Eingriff begrenzenden Wahrscheinlichkeitsformel ergibt sich<br />
zunächst ein vergleichsweise hohes Maß an Orientierung, trotz des vorhandenen<br />
Wertungsspielraums. Auf Basis individueller Verantwortungszurechnung<br />
wird ein Rechtsgüterausgleich ermöglicht. Dem gegenüber erfolgt bei<br />
Anwendung des Risikobegriffs ein Ausgleich zwischen gesellschaftlichem<br />
Nutzen riskanten Verhaltens, ökonomischen Kosten und schwer abschätzba-<br />
643 Vgl. ebenda, S. 242, 253<br />
644 Dazu ausführlich Teil 2 II.2.c)<br />
645 Teil 3 II.2.d)aa)<br />
171
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
ren Schadenspotenzialen. <strong>Die</strong> mit einem Eingriff einhergehende Risikoverteilung<br />
und die oftmals schwierige Verantwortungszurechnung führen dabei<br />
zu viel komplexeren Entscheidungslagen. <strong>Die</strong> gesellschaftliche Akzeptanz<br />
und das Vertrauen in staatliche Risikoentscheidungen gelten insoweit durchaus<br />
als gefährdet 646 . Anders als bei der regelmäßig subjektbezogenen Gefahrenlage<br />
reicht eine abstrahierte Bedrohung der Gesellschaft für eine Risikobejahung<br />
aus. Bezüglich der Wahrung des Rechtstaatsprinzips und Bestimmtheitsgebotes<br />
ergeben sich damit erhebliche Bedenken, die schon bei<br />
der verfassungsrechtlichen Würdigung des Vorsorgeprinzips eine Rolle gespielt<br />
haben. Vor einem solchen Hintergrund muss die Bestimmbarkeit einer<br />
Eingriffssituation anderweitig sichergestellt werden. Es bedarf deshalb einer<br />
hinreichenden Konkretisierung der Eingriffsnormen, die das staatliche Handeln<br />
für alle Betroffenen vorhersehbar machen.<br />
b) Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften<br />
Entsprechende verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich z.B. unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe und damit verbundener Verwaltungsautonomie<br />
können durch eine hinreichende Konkretisierung der Ermächtigungsvoraussetzungen<br />
ausgeglichen werden. <strong>Die</strong> erforderlichen Kontrollmaßstäbe müssen<br />
letztlich in Abhängigkeit vom gesetzgeberischen Sicherungskonzept<br />
festgelegt werden647 . <strong>Die</strong> Reichweite des Risikobegriffs kann anhand des betroffenen<br />
Regelungsbereiches per Definition oder anhand von Kriterienkatalogen,<br />
zum Teil auch durch technische Parameter näher bestimmt werden.<br />
Grenzwerte und Typisierungen gewährleisten die Vorhersehbarkeit rechtmäßigen<br />
Handelns, so dass die Grundrechte des Betroffenen nicht zur Disposition<br />
von Behörden und Gerichten stehen648 . Eine angemessene Risikoverteilung<br />
wird auf diese Weise möglich. Typisierungen sind aber nicht zwingend.<br />
Wenngleich der Prognosecharakter der Tatbestandsbewertung bzw.<br />
Entscheidung damit nicht beseitigt wird, kann auch eine gewisse Kategorisierung<br />
von Sachverhalten zur Konkretisierung von Risiken genügen. Dabei<br />
müssen aber auch Nachbesserungspflichten im Zusammenhang mit späteren<br />
veränderten Erkenntnissen berücksichtigt werden, die dem auf dynamischen<br />
Schutz angelegten Vorsorgeprinzip gerecht werden649 .<br />
646 Di Fabio (FN 577), S. 94 und 64<br />
647 So Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 27<br />
648 Dazu auch Wahl, in ders. (FN 300), S. 130 f.<br />
649 Unter Hinweis auf organisatorische und verfahrenstechnische Mechanismen, die das<br />
BVerfG in mehreren Entscheidungen fordert: Trute, Vorsorgestrukturen, S. 105; Roßnagel,<br />
JZ 1985, 714 ff.<br />
172
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
Neben den klassischen Organisationsnormen und Interpretationsvorschriften<br />
entwickeln sich deshalb Verwaltungsvorschriften neuen Typs, die unmittelbare<br />
Auswirkungen auf die Gesetzesanwendung haben. Sie konkretisieren<br />
offene Rechtsnormen, machen diese erst vollzugsfähig. So schlussfolgert<br />
das Bundesverwaltungsgericht für in Richtlinienform erlassene allgemeine<br />
Berechnungen und technische Datensätze, dass diese wie Rechtsverordnungen<br />
eine normkonkretisierende Funktion haben und damit für die Gerichte<br />
im Gegensatz zu norminterpretierenden Vorschriften als verbindlich gelten650<br />
. Soweit also eine konzeptionelle Standardisierung von Risikokonzepten<br />
vorliegt, wäre dem Bestimmtheitsgebot und Rechtsstaatsprinzip Genüge<br />
getan651 . <strong>Die</strong>s gilt zumindest bei komplexen Materien, bei denen eine formale<br />
Normklarheit objektiv nicht mehr umsetzbar ist.<br />
Am Konzept der normkonkretisierenden Vorschriften wird allerdings auch<br />
Kritik geübt, da der vom Wesentlichkeitsgedanken geprägte Grundsatz vom<br />
Gesetzesvorbehalt eben nur dann gewahrt sei, wenn die entscheidungsrelevante<br />
Eingriffsschwelle durch das Parlament vorgegeben ist. Dem ist aber<br />
zu entgegnen, dass bei einer solchen engen Verfassungsinterpretation die<br />
Arbeit des Parlaments praktisch zum Erliegen kommen würde, da es bei<br />
komplexen Materien solche Konkretisierungen nicht mehr mit angemessenem<br />
Aufwand leisten könnte652 . Dem Gesetzesvorbehalt sowie Bestimmtheitsgrundsatz<br />
kann deshalb mit Entscheidungsleitlinien durchaus genügt<br />
werden, wenn sie die Reichweite der behördlichen Handlungsermächtigung<br />
erkennbar machen.<br />
<strong>Die</strong>se Richt- bzw. Leitlinien spielen auch für die gemeinschaftsrechtlich sowie<br />
national geltenden Prinzipen der Prüfung eines offensichtlichen Überschreitens<br />
der Entscheidungsspielräume eine Rolle. <strong>Die</strong> Verwaltung muss<br />
sich an der damit erfolgten näheren Bestimmung ihres Handlungsrahmens<br />
messen lassen. Dabei bildet die bei der Rechtsanwendung entstehende<br />
Selbstbindung ein gewichtiges Korrektiv für die Bestimmtheitsdefizite bei<br />
unbestimmten Rechtsbegriffen. Innerhalb der auf den wissenschaftlichkognitiven<br />
Bereich bezogenen Konkretisierungen steht der Exekutive ein<br />
Abwägungsvorrang zu. Dabei kommt es zu einer Synchronisierung mit den<br />
Grenzen der gerichtlichen Überprüfung bei Ermessen und Beurteilungsspielraum.<br />
Dogmatisch kann in diesen Fällen zwischen beiden nicht mehr unterschieden<br />
werden.<br />
650 BVerwG v. 19. Dezember 1985, BVerwG 7 C 65/82, in BVerwGE 72 (1986), S. 300<br />
(320) - Wyhl<br />
651 Di Fabio (FN 577S. 358<br />
652 Ebenda, S. 364<br />
173
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Mit Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse muss eine Anpassung<br />
des Risikorahmens, mithin der Eingriffsschwelle, erfolgen. <strong>Die</strong>s entspricht<br />
laut BVerfG dem Grundsatz einer bestmöglichen Risikovorsorge 653 .<br />
Im Gegensatz zum Gefahrenkonzept ist das Risikokonzept also nicht durch<br />
dauerhafte Unterscheidungen gekennzeichnet. Es beruht nicht auf Beobachtung<br />
und Beschreibung einzelner Ereignisse in Form von Regelwissen oder<br />
Erfahrung, sondern einer Gesamtbewertung von Variablen, die eine Zurechnung<br />
von Risiken und Verantwortung ermöglichen sollen 654 . <strong>Die</strong> Entscheidungsfindung<br />
wird durch evaluative Elemente unterstützt. So wird ein normativer<br />
Rahmen für die Abwägung zwischen verfassungsrechtlich geschützten<br />
Rechtsgütern gesetzt. Der Einschätzungsspielraum für die Risikobewertung<br />
wird insoweit vom Gesetzgeber vorbestimmt 655 . <strong>Die</strong>ser Ansatz wird der<br />
Erforderlichkeitskomponente des verfassungsmäßig verbürgten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />
gerecht.<br />
c) Instrumente der Verhaltenssteuerung<br />
Fehlende Kausalitätserkenntnisse werden durch rechtsstaatlich vertretbare<br />
Maßstäbe für eingriffsrelevante Gefährdungsschwellen ersetzt. Vor- und<br />
Nachteile staatlichen Tätigwerdens bzw. Nichttätigwerdens für bestimmte<br />
Gefahrensituationen müssen antizipiert werden. <strong>Die</strong> Defizite bei der Normenklarheit,<br />
die Notwendigkeit einer Abstraktion der Vorsorgeermächtigung<br />
und deren gezielt dynamische Komponente zeigen dabei aber auch die<br />
Grenzen der Vorsorge auf. Es bedarf nicht nur eines Ausgleichs durch flexible<br />
und mehrschichtige materiellrechtliche Instrumente, sondern auch verfahrensrechtlicher<br />
Ansätze656 . Moderne Verwaltungsinstrumente i.V.m. staatlicher<br />
Verhaltenssteuerung. können zu einer adäquaten Risikoverteilung beitragen.<br />
Gerade dem modernen Wissens- und Informationsmanagement unter<br />
Beteiligung von Behörden und Betroffenen, wie z.B. bei Frühwarnsystemen,<br />
kommt bei risikorelevanten Erkenntnisdefiziten eine wichtige Rolle zu. <strong>Die</strong><br />
EU-Kommission hat deshalb in ihrer o.g. Mitteilung auf eine Anwendung<br />
des Vorsorgeprinzips auf die Kompensation von Erkenntnisdefiziten durch<br />
geeignete Verfahrenskomponenten hingewiesen.<br />
Insbesondere die politische Entscheidungsverantwortung bei der Risikoprävention<br />
muss durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen in Form von Beteiligung<br />
der dafür zuständigen Institutionen bzw. Personen sichergestellt sein.<br />
653 Vgl. BVerfGE 49, 89, 139 - Kalkar<br />
654 Ladeur (FN 641), S. 117<br />
655 Hansmersmann (594), S. 25<br />
656 Murswiek, VVDStRL 48 (1990), 207, 211 ff.<br />
174
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
Bei der Risikoabwehr greifen die im Gefahrenabwehrrecht entwickelten<br />
rechtsstaatlichen Grenzen der Inanspruchnahme Privater, die mit dem klassischen<br />
Störerbegriff einhergehen, nicht mehr. Der grundsätzlich richtige<br />
Gedanke der Gefahrenzurechnung durch eine Pflichtenlage, wie sie im Polizeirecht<br />
erfolgt, muss fortentwickelt werden. Das Institut der Anscheinsgefahr<br />
scheint hierbei kaum ausreichend, da eine materielle Polizeipflichtigkeit<br />
des Betroffenen nicht bejaht werden kann. Als Störer kann nur in Anspruch<br />
genommen werden, wer tatsächlich einen Verursachungsbeitrag leistet.<br />
Sonst hat der Betroffene einen Entschädigungsanspruch. Das gilt erst recht<br />
vor dem Hintergrund der zunehmenden Tendenz, dass der Verdachtsbegriff<br />
bei unklaren Sachverhalten hinsichtlich des Vorliegens einer Gefahrensituation<br />
auch auf Situationen übertragen werden kann, bei denen der Störer völlig<br />
unklar ist657 . Letztlich bedarf es einer Erweiterung auf hypothetische<br />
kausale Beiträge bestimmter Personen, die der Vernetzung des Handelns<br />
mehrerer Akteure Rechnung tragen und im Sinne der Risikobewältigung eine<br />
Ausgleichsgemeinschaft bilden. <strong>Die</strong> Effizienz der Maßnahme ist bei solchen<br />
multipolaren Interessenlagen dennoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />
zu prüfen658 .<br />
Moderne Verwaltungsverfahren verlagern die bei der Sachverhaltsermittlung<br />
notwendige Verantwortung auf die potenziellen Risikoquellen. <strong>Die</strong>s geschieht<br />
z.B. durch Mitwirkungspflichten und andere kooperative Ansätze.<br />
Das moderne Verwaltungsrecht ist bei der Wissens- und Erkenntnisgewinnung<br />
immer stärker auf private Akteure angewiesen. Das klassische Überund<br />
Unterordnungsverhältnis wird auf diese Weise zu einer Partnerschaft<br />
transformiert. Im Bereich der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe wird<br />
vor allem im Technikrecht eine entsprechende Kopplung des Rechtssystems<br />
mit dem Wirtschaftsystem durch eine organisatorische Kooperation des<br />
Staates mit der privatwirtschaftlichen Fachexpertise vorgenommen659 . <strong>Die</strong><br />
Behörden können sich auf die Unterlagenprüfung und Plausibilitätskontrollen<br />
beschränken, die wiederum durch Amtsermittlung ergänzt werden können660<br />
.<br />
In dem Rahmen werden die Instrumente der direkten Verhaltenssteuerung,<br />
zu denen auch Genehmigungsverfahren gehören, praktikabel ausgestaltet.<br />
Im Umweltrecht stehen z.B. das Planungsrecht und damit verbundene verfahrensrechtliche<br />
Ansätze für die frühzeitige Prüfung eines Vorhabens zur<br />
657 Dazu Martensen DVBl 1996, 286, 288, 292<br />
658 Hoffmann-Riem, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 169 f.<br />
659 Bitter, DVBl. 2007, 514<br />
660 Kahl (FN 563), S. 1117<br />
175
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Verfügung. Zu den administrativen Kontrollinstrumenten gehören ebenfalls<br />
Genehmigungsverfahren und verschiedene Anzeige- und Meldepflichten,<br />
Überwachungs- und Untersagungsermächtigungen. Daneben stehen unmittelbare<br />
Handlungsanweisungen in Form von Geboten und Verboten661 . Darauf<br />
beruhende Befugnisse können erweitert, mit Bedingungen versehen, befristet<br />
und widerrufen werden. Sie ermöglichen eine kritische Einzelfallprüfung.<br />
Mittels spezifischer Vorgaben, sei es durch Auflagen oder Nebenbestimmungen,<br />
können bestimmte Verhaltensweisen des potenziellen Risikoträgers<br />
im Sinne einer adäquaten Risikoverteilung beeinflusst werden.<br />
<strong>Die</strong>se klassischen Verwaltungsinstrumente werden durch die indirekte Verhaltenssteuerung<br />
ergänzt. Dazu zählen Instrumente, die auf Kooperation setzen,<br />
z.B. durch Ausgleich, Kompensation, Zertifikate, Abgaben oder eine<br />
Haftpflicht. Aber auch die Förderung durch Vergabe oder Zuschüsse, Transparenz<br />
und Informationsrechte können auf die vorsorgende Prävention gerichtet<br />
sein. Im Rahmen der Vorsorge werden neben den staatlichen Prüfungsinstrumenten,<br />
wie z.B. der Umweltverträglichkeitsprüfung, vor allem<br />
Instrumente der Selbstregulierung genutzt. So ergänzen sich Überprüfungsmechanismen,<br />
wie Auditing durch externe Beauftragte, die Eigenüberwachung<br />
durch spezielle Beauftragte, standardisierte Qualitätssicherungsverfahren<br />
und betriebliches Risikomanagement unter Berücksichtigung der inneren<br />
Hierarchien662 . Zu diesen modernen Verwaltungsansätzen kommen<br />
allgemeine vertrauensbildende Maßnahmen durch Informations- und Kommunikationsinstrumente.<br />
Der Verwaltungskommunikation durch Information<br />
und Transparenz kommt wegen des Eingriffscharakters der Risikoprävention<br />
eine besondere verfassungsrechtliche Bedeutung zu, da die Information<br />
über Beobachtung, Vorsorge und Lenkung einzelner gesellschaftlicher<br />
Bereiche diese Tätigkeiten rechtfertigt und wegen der beschriebenen Entscheidungsspielräume<br />
nur auf diese Weise einer Kontrolle staatlichen Handelns<br />
ermöglicht wird. <strong>Die</strong> Transparenz des Verwaltungshandelns ist demnach<br />
nicht nur von der Verfassung gedeckt, sondern geboten663 . Auf die Einzelheiten<br />
der Normkonkretisierung sowie auch der Verfahrensansätze wird<br />
noch im Rahmen der Vorsorgestruktur zurückzukommen sein.<br />
d) Ergebnis<br />
Im modernen Verwaltungsrecht kommt es zunehmend zu einer Kooperation<br />
staatlicher und privater Akteure. Gerade bei der Risikovorsorge ist die effek-<br />
661 Kloepfer, Umweltrecht, § 5<br />
662 Stober, Wichtige Umweltgesetze für die Wirtschaft, Einführung, S. 17 ff.<br />
663 Pitschas, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 301<br />
176
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
tive Rechtsanwendung auf die Fachexpertise der Verwaltung und sachverständiger<br />
Dritter angewiesen. <strong>Die</strong>s kann nur durch Verwendung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe sichergestellt werden, die - den Verfassungsprinzipien des<br />
Bestimmtheitsgebotes folgend - durch materielle Konkretisierungsnormen<br />
ausgefüllt werden. In diesem Rahmen kommt der Exekutive ein Abwägungs-<br />
und Entscheidungsspielraum zu. Verbleibende Kontrolldefizite sollen<br />
durch eine angemessene formelle Verfahrensausgestaltung der direkten und<br />
indirekten Verhaltenssteuerung kompensiert werden, für die Kooperation<br />
sowie Informations- und Kommunikationsinstrumente wesentlich sind 664 .<br />
Hierbei sei auch an die Parallelen der EuGH-Rechtsprechungsansätze im<br />
Umgang mit Entscheidungsspielräumen der Verwaltung erinnert. Letztlich<br />
decken sich die zu Entscheidungsspielräumen gefundenen Ansätze mit der<br />
im Vorsorgeprinzip angelegten Verpflichtung des Gesetzgebers, über normkonkretisierende<br />
Vorschriften sowie kooperative Ansätze und Verfahrensbestimmungen<br />
eine hinreichende Berücksichtigung der Rechte des Eingriffsadressaten<br />
zu gewährleisten.<br />
2. Struktur des Vorsorgeprinzips<br />
An den soeben erörterten Vorgaben orientieren sich die strukturellen Ansätze<br />
des Vorsorgeprinzips. Zunächst müssen die im Tatbestand vorgegebenen<br />
Voraussetzungen des rechtmäßigen Verwaltungshandelns festgestellt werden.<br />
Ein der gerichtlichen Überprüfung zugänglicher Vorsorgetatbestand erfordert<br />
das Vorliegen bestimmter Sachlagen, die Vorsorgemaßnahmen denkbar<br />
erscheinen lassen. Damit gemeint ist eine Risikosituation mit potenzieller<br />
Schadenseignung, vergleichbar mit einer potenziellen Gefahrensituation,<br />
die zum Vorsorgeobjekt wird. Eine solche besorgniserregende Sachlage wird<br />
auch als Vorsorgeanlass bezeichnet. Hierbei wird zunächst die Notwendigkeit<br />
eines staatlichen Einschreitens beurteilt. Der Sachverhalt muss durch<br />
Heranziehung aller verfügbaren Informationsquellen näher ermittelt und<br />
bewertet werden, um die geeignete Rechtsfolge zu bestimmen. Das zunächst<br />
abstrakte Besorgnispotenzial erfährt damit auch eine normative Gewichtung.<br />
Dazu gehören auch technische Instrumentarien und spezifische Verfahrensansätze,<br />
um Erkenntnisdefizite und damit auch Risiken möglichst weitgehend<br />
zu minimieren. Oft ist deshalb vom sog. Risikomanagement die Rede.<br />
Erst nach Feststellung des Vorsorgeanlasses erfolgt die Interessenabwägung<br />
und die Einbeziehung der Verfassungsprinzipien, wie z.B. des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />
665 . Entsprechend wird die Frage nach den Eingriffsal-<br />
664 So im Ergebnis auch Wahl, NVwZ 1991, S. 409, 418<br />
665 Calliess (FN 288), S.211 ff.<br />
177
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
ternativen zu beurteilen sein. Schließlich ist dabei auch der Vorsorgeadressat<br />
zu bestimmen.<br />
a) Feststellung eines Vorsorgeanlasses<br />
Strittig ist, ob konkrete Anhaltspunkte für einen begründeten Gefahrenverdacht<br />
bestehen müssen666 . Das auf Vorhersehbarkeit basierende Kriterium<br />
der Wahrscheinlichkeit eines Eingriffs muss aber bei vorsorgeimmanenten<br />
Erkenntnisdefiziten versagen. Insoweit scheitert auch das Instrument des<br />
Gefahrenverdachts, wonach in Abhängigkeit von der Intensität eines möglichen<br />
Schadens ein Gefahrenerforschungseingriff möglich sein soll. Bei Ungewissheit<br />
können solche Intensitäten aber nicht bestimmt werden. Für die<br />
Vorsorgeermächtigung sind deshalb andere Kriterien notwendig. An die<br />
Stelle der Kausalitätsvermutungen treten hypothetische und theoretische Erklärungsmodelle667<br />
.<br />
Teilweise wird auch ein gewisses Besorgnispotenzial für ausreichend erachtet,<br />
wonach sich Schadensmöglichkeiten auf Grund des aktuellen Erkenntnisstandes,<br />
demzufolge bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht<br />
noch verneint werden können, nicht ausschließen lassen. <strong>Die</strong> Erwägungen<br />
dazu sollen aber zumindest (wissenschaftlich) plausibel sein. Hier müssen<br />
hinreichende, wenn auch nicht zwingend gesicherte, Anhaltpunkte für eine<br />
mögliche Schädlichkeit des Handelns unterhalb der Gefahrenschwelle vorliegen668<br />
. Theoretische Erwägungen würden damit genügen, soweit sie plausibel<br />
begründet werden und durch eine Fachexpertise gestützt sind. Auch sei<br />
ein realer Schadensbezug, also das Vorhandensein tatsächlicher Anhaltspunkte<br />
für den denkbaren Schaden erforderlich. Vorsorge darf sich nicht allein<br />
auf Spekulationen stützen669 . Es muss allerdings auf die divergierenden<br />
Ansätze zur Beschreibung und Reichweite des Vorsorgeprinzips verwiesen<br />
werden. Als Mittel zur Risikobewältigung kann es letztlich nicht auf die Erkenntnisqualität<br />
zur bestehenden Sachlage ankommen. Vielmehr müssen abstrakte<br />
Erwägungen genügen, solange sich diese von der Vorsorge „ins<br />
Blaue hinein“ abgrenzen lassen. Eine plausible wissenschaftliche Begründung<br />
reicht aus, um die generelle Schadenseignung der Sachlage darzulegen.<br />
<strong>Die</strong>s gilt inzwischen als anerkannt670 . An der Stelle spielt auch die von<br />
666 BVerwGE 69, S. 37, 43 ff. - Mannheimer Heizkraftwerk<br />
667 Wahl, in: in ders. (FN 300), S. 92 f.<br />
668 BVerwGE 72, S.300 (315 ) - Wyhl-Entscheidung; BVerwGE 92, S.185 (196)<br />
669 Trute (FN 549), S. 58 ff; Ossenbühl, NvWz 1986, 161, 164, 166<br />
670 Callies, in: Hendler, Jahrbuch Umwelt- und Technikrecht 2006, S. 89 ff., S. 105 unter<br />
Verweis auf Wahl, in: ders. (FN 300), S. 126 ff. und Scherzberg (Fn 598), S. 490<br />
ff., 485 ff. sowie Ladeur (FN 641), S. 99 ff.<br />
178
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
gesellschaftlichen Entwicklungen abhängige Reichweite des Sicherheitsbegriffs<br />
eine Rolle. <strong>Die</strong> Definition des Besorgnispotenziales muss dem Vorsorgezweck<br />
der Risikobewältigung gerecht werden können. Sie hängt also vom<br />
Schutzzweck der Norm ab. Es geht nicht um feststehende Größen, sondern<br />
die Optimierung staatlichen Handelns. Der Eingriff selbst ist damit noch<br />
nicht begründet. Nach Feststellung des Vorsorgeanlasses muss der konkrete<br />
Sachverhalt ermittelt und bewertet werden.<br />
b) Sachverhaltsermittlung und Bewertung<br />
Wie schon festgestellt, führt die zunehmende Komplexität und Vernetzung<br />
von Wissen zu höheren Risiken, dem auch das Sicherheitsrecht nur begrenzt<br />
begegnen kann. Sicherheit kann deshalb lediglich als das Bereitstellen zuverlässigen<br />
bzw. angemessenen Schutzes der Unversehrtheit von Rechten<br />
verstanden werden. Absolute Sicherheit gibt es nicht. <strong>Die</strong> Entscheidung<br />
neuer, weder eingrenzbarer noch zurechenbarer Risiken wurde bereits mit<br />
dem Begriff der Risikogesellschaft thematisiert671 . In der Folge ist aber auch<br />
eine statische Definition der Gefahrenvorsorgeschwelle oder eines Risikos<br />
nicht darstellbar. Wissensbedingter Fortschritt und damit verbundene neue<br />
Unsicherheiten geraten in Konflikt mit der juristischen Subsumtionsmethodik<br />
bestimmter Rechtsfolgen für konkrete Sachverhalte. <strong>Die</strong> verfassungsrechtlich<br />
vorgesehene Bestimmtheit gesetzlicher Eingriffsermächtigungen<br />
gerät dabei an ihre Grenzen. Insbesondere erscheint ein Festhalten an den<br />
klassischen Parametern der Gefahrenabwehr nur noch bedingt möglich.<br />
aa) Bestimmung des Schadenpotenzials - Prognose<br />
Eine Bewertung der Gefahren- bzw. Risikosituation impliziert die nähere<br />
Bestimmung des potenziellen Schadens, des potenziell Geschädigten und<br />
des Schadenverursachers. Im Gefahrenkontext wird hierbei der Störerbegriff<br />
verwendet. <strong>Die</strong> ermittelten Vorsorgetatsachen werden unter Berücksichtigung<br />
der verbleibenden Erkenntnislücken unter Gewichtung der bekannten<br />
Tatsachen und Risikoparameter sowie der Belange der Betroffenen subjektiv<br />
miteinander abgewogen und bewertet.<br />
Dabei ist eine Trennung von der Rechtsfolgenseite des Tatbestandes, also<br />
der Entscheidung über die konkret veranlasste Maßnahme, schwierig. Risikobewertung<br />
und Risikomanagement gehen ineinander über. Hier muss eine<br />
rechtsstaatlich gesicherte Antwort auf die Frage nach generell angemessenen<br />
Grenzwerten bzw. Kriterien für die staatliche Ermächtigung zu risikoorientierten<br />
Eingriffen erfolgen. Der beim Vorsorgeanlass bemühte wissenschaft-<br />
671 Aulehner (FN 524), S 294 ff., 308<br />
179
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
liche Sachverstand wird nunmehr aufgegriffen. <strong>Die</strong> politische Meinungsbildung<br />
kommt zum Tragen. Bedeutung und Stellenwert des Besorgnispotenzials<br />
müssen rational verarbeitet werden. Dabei findet regelmäßig ein wertender<br />
Vergleich der tatsächlichen Risikosituation mit der Zielvorgabe im einschlägigen<br />
Sachgebiet statt.<br />
Vom Besorgnisanlass muss die Frage nach dem zulässigen Eingriffsadressaten<br />
unterschieden werden. Wie auch bei der Gefahrensituation muss geprüft<br />
werden, wem das Risiko zuzurechnen ist. Das geschieht aber im Rahmen<br />
der Rechtsfolgenabwägung. <strong>Die</strong> generelle Schadenseignung einer Handlung<br />
spielt aber auch für den Vorsorgeanlass eine Rolle. Es müssen zudem alle<br />
existierenden Einwirkungsbereiche berücksichtigt werden, so dass für den<br />
Eingriff eine normative Gewichtung möglicherweise unterschiedlicher<br />
Schadensquellen vorgenommen werden kann672 .<br />
bb) Standardisierte Risikoschwellen<br />
<strong>Die</strong> staatliche Verpflichtung, eine rechtlich gesicherte Realisierung risikorelevanter<br />
Vorhaben unter Berücksichtigung der Interessen des Handelnden zu<br />
ermöglichen, ergibt sich aus o.g. Gründen auf Grund der bereits geschilderten<br />
Doppelfunktion der Grundrechtsgewährleistungen und der daraus abgeleiteten<br />
Schutzpflicht. Dazu zählt die Feststellung zumutbarer Gefahren und<br />
Risiken. Als Grundlage für diesen Interessenausgleich dient ein staatlich beherrschtes<br />
und möglichst weitgehend standardisiertes Kontrollsystem, was<br />
auch für das Erfordernis einer Konkretisierung der Eingriffsschwellen bedeutend<br />
ist. Der Vorsorgeanlass kann umso eher begründet und gerechtfertigt<br />
werden, je klarer das Vorsorgeziel definiert ist. Das geschieht insbesondere<br />
durch Grenzwerte und Typisierungen673 . Für die Darlegung eines überprüfbaren<br />
Bewertungsmaßstabes, sei es bezogen auf die Bejahung eines<br />
Schadens oder auf die potentielle Kausalität eines Zustandes oder einer<br />
Handlung für diesen Schaden, werden bei den etablierten Vorsorgerechtsgebieten<br />
des Umwelt- und Gesundheitsrechts regelmäßig technische Daten<br />
und Parameter bemüht. <strong>Die</strong>se sind gerade bei stoff- oder produktbezogener<br />
Risikoermittlung oft zielführend, nicht dagegen bei risikorelevanten<br />
menschlichen Verhaltensweisen. Solche können allenfalls über die aktuelle<br />
Erkenntnislage zu den betroffenen Personen sowie Erfahrungen aus der Vergangenheit<br />
reflektiert werden. Dabei wird oft der Begriff allgemeiner Lebenserfahrung<br />
bemüht. Hinzu kommt die Einbeziehung der verfassungsrechtlichen<br />
Wertschätzung des potenziellen Nutzens eines risikorelevanten<br />
672 Wahl, in: ders. (FN 300), S 133<br />
673 Vgl. Teil 3 III.1.b)<br />
180
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
Vorhabens 674 . Dazu zählen z.B. eine Gewinnerwartung des Unternehmers<br />
oder auch ein Nutzen für das Gemeinwohl. <strong>Die</strong> genannten Maßstäbe können<br />
bereits gesetzlich oder durch administrative Verwaltungsanweisungen näher<br />
bestimmt werden. Aus diesen Kategorisierungen und Typisierungen ergibt<br />
sich ein Entscheidungsprogramm, das dem verfassungsrechtlichen Gebot<br />
der Sachlichkeit und Begründung Rechnung trägt. Regelmäßigkeiten bestimmter<br />
Fallgestaltungen können berücksichtigt werden. An dieser Stelle<br />
ergibt sich auch der Zusammenhang mit der verfassungsrechtlich gebotenen<br />
Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Richtlinien für die Ausfüllung<br />
von Entscheidungsspielräumen, mithin ein Rückschluss auf die Prüfungstiefe<br />
bei der gerichtlichen Kontrolle solcher Verwaltungsentscheidungen.<br />
cc) Verfahrensansätze zur Kompensation von Erkenntnisdefiziten<br />
Beim Umgang mit wenig gesicherten Erkenntnissen und Anhaltspunkten für<br />
die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts muss neben der sachlichen<br />
Abwägung zwischen den geschützten und den zu kontrollierenden Interessen<br />
eine prozedural abgesicherte Begründung der zu treffenden Entscheidung<br />
erfolgen. Hierbei wird auch oft der Begriff der Rationalität der Entscheidungsfindung<br />
verwendet675 . Dafür zu entwickelnde Verfahren können<br />
wegen der risikoimmanenten Informationsdefizite zwar nie umfassend befriedigen.<br />
Dennoch können Art und Umfang der Risikoerkenntnis strukturell<br />
so erfasst werden, dass eine Systemtisierung von Entscheidungsoptionen<br />
ermöglicht wird.<br />
Wie soeben angedeutet, können auch verfahrensrechtliche Instrumentarien<br />
zur Ermittlung und Fortschreibung des notwendigen Risikowissens dazu<br />
beitragen, eine angemessene Bewertung des Vorsorgeanlasses durch die Behörde<br />
sicherzustellen. Das Vorsorgeprinzip beruht auf der Notwendigkeit einer<br />
Dynamisierung des Rechts. Eine gewisse Anpassungsfähigkeit und Flexibilität<br />
der Eingriffsschwelle ist die Grundlage seiner Anerkennung. Gerade<br />
bei politischen Entscheidungen kommt es auf Aktualität an, Erkenntnisse<br />
und Einschätzungslage können sich täglich ändern, auch durch externe Ereignisse.<br />
Eine Begrenzung des Prinzips erfolgt zunächst allein durch die<br />
Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Umso wichtiger erscheint die verfahrensorientierte<br />
Kompensation der Verwaltungsspielräume durch Mitwirkungsrechte<br />
und Kooperation der Beteiligten, die einen Ausgleich von Risikopräventions-<br />
und Freiheitsinteressen ermöglichen. Soziale Verantwortung,<br />
674 Stoll (FN 507), S. 329 ff<br />
675 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (Fn 128), S. 98<br />
181
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Unternehmensimage und öffentliches Interesse bieten Vorsorgeanreize, die<br />
eine gesellschaftliche Wahrnehmung der Risikoverantwortung ermöglichen,<br />
die der Staat wegen der vorhandenen Ungewissheiten nicht mehr allein<br />
wahrnehmen kann676 .<br />
Um ein Tätigwerden der Behörde bei einem gegebenen Vorsorgeanlass zu<br />
ermöglichen, muss die Verwaltung vom Vorliegen der Voraussetzungen der<br />
einschlägigen Vorsorgeregelungen Kenntnis erlangen, also auch organisatorisch<br />
auf die Risikoprävention vorbereitet sein. Sie muss alle notwendigen<br />
Maßnahmen ergreifen, um in der Zukunft denkbare Rechtsgutgefahren feststellen<br />
zu können. <strong>Die</strong> im Rahmen des Vorsorgeanlasses erfolgende Sachverhaltsermittlung<br />
muss daher durch eine umfassende, möglichst erschöpfende<br />
Informationsbeschaffung erfolgen. Dazu gehört die objektive Darlegung<br />
von vorhandenem Risikopotenzial und dessen Umfang. Risikoorientiertes<br />
Handeln entbindet nicht von der Pflicht zur Erhebung aller relevanten<br />
Informationen und Faktoren. Wegen der mit unterschiedlichen Methoden<br />
und Arbeitsweisen der Risikoerforschung verbundenen Unsicherheiten ist<br />
auf eine ausgewogene Berücksichtigung der Erkenntnisquellen und des<br />
Sachverstandes zu achten, z.B. von Verantwortlichen in anderen Behörden<br />
oder wissenschaftlichen Gutachtern, die eine potenzielle Risikoquelle feststellen<br />
können. Zu diesem Kreis müssen auch die Unternehmensvertreter<br />
gezählt werden. Sie stehen den Risikoquellen in aller Regel am nächsten.<br />
Gerade der Wissensvorsprung der Betroffenen muss genutzt werden. Hierzu<br />
fallen oft die Stichworte Eigenverantwortung, Aufzeichnungs- und Informationspflichten,<br />
Selbstkontrolle. Dazu gehören auch Aufzeichnungs- und Informationspflichten<br />
der Eingriffsadressaten677 . Dabei kann die Behörde auch<br />
von privaten Vorbeugemaßnahmen oder Standardsetzungen, z.B. Haftpflichtversicherungen<br />
und Zertifizierungssystemen, Gebrauch machen678 .<br />
Das zunehmende Gewicht kooperativer Ansätze und privater Verantwortungsübernahme<br />
wird im Übrigen auch in anderen Verwaltungsbereichen<br />
deutlich. Als Stichworte seien nur Eigenverantwortung, Audit und Verbraucherinformation<br />
genannt, die Bespiele für eine Neugewichtung der Rollenverteilung<br />
privater und staatlicher Akteure im Gewährleistungsstaat sind679 .<br />
Das Problem divergierender Anforderungen und unsicherer Beschreibung<br />
von Möglichkeiten und Zukunftserwartungen kann also auch durch die<br />
Trennung der Programm- und der Handlungsverantwortung gelöst werden.<br />
676 Schmidt-Aßmann in: ders. /Hoffmann-Riem (FN 362), S. 29 ff.<br />
677 Wahl, in: ders. (FN 300), S. 110<br />
678 Stoll (FN 507), S. 262<br />
679 Vgl. Schuppert, in: ders., Der Gewährleistungsstaat, S. 1 ff., S. 27<br />
182
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
Der vom BVerfG geforderte dynamische Schutz wäre so möglich. Einer organisatorischen<br />
individuellen Selbstkontrolle mit Stopp-Regeln und Anschlusszwang<br />
der Risikoträger stünde eine kaum praktikable Bürokratie mit<br />
umfassendem Informationsaustausch der Behörden und institutionell kontrollierten<br />
Grenzüberschreitungen gegenüber680 . <strong>Die</strong> Risikobewertung muss<br />
deshalb durch verfahrensgesteuerte Vertrauensbildung ergänzt werden und<br />
so weit wie möglich den Wissensträgern und ihren Organisationen überlassen<br />
werden. <strong>Die</strong> dabei verfolgten Risikomanagementstrategien ersetzen informationsintensive<br />
Einzelfallprüfungen durch die Formulierung von<br />
Grenzwerten und regulativen Modellen für interne Bewertungsverfahren<br />
beim Risikoträger. <strong>Die</strong>se wiederum können seitens der Behörde in Form von<br />
sog. Monitoring-Maßnahmen systematisch beobachtet werden681 .<br />
Vor dem Hintergrund der Ungewissheit und Komplexität von Risikopotenzialen<br />
werden notwendigerweise bestehende materiell-rechtliche Defizite bei<br />
abstrakten gesetzlichen Vorgaben auch durch eine umfassende öffentliche<br />
Beteiligung gesellschaftlicher Gruppierungen (Information, Anhörung) und<br />
eine hohe Verfahrenstransparenz bei der Risikobewertung ausgeglichen682 .<br />
Insoweit wird die behördliche Kontrolle gewissermaßen durch eine kollektive<br />
Selbstkontrolle unterstützt. Insgesamt führen die angesprochenen Beteiligungsinstrumente<br />
zu einem Paradigmenwechsel im behördlichen Umgang<br />
mit Prognoserisiken. Eine stärkere Einbindung der Kommunikation mit potenziellen<br />
Eingriffsadressaten und Betroffenen führt zu bestimmten (negativen)<br />
Erwartungen und damit zu einer verbesserten präventiven Selbststeuerung<br />
und Kontrolle der Kommunikationsteilnehmer. Solche mittels rechtlicher<br />
Regelungen gesteuerten Erwartungen und damit verbundene präventive<br />
Wirkungen prägen das allgemeine juristische Vorsorgeprinzip683 . Der Staat<br />
befindet sich einerseits in der Schutzpflicht, muss sich aber andererseits<br />
Dritter zur Erfüllung dieser Pflicht bedienen. Andernfalls wäre er überfordert.<br />
Hierbei helfen Information, Aufklärung, Kooperationsanreize sowie<br />
Erleichterungen bei der Durchführung behördlicher Verfahren684 .<br />
Der Selbstkontrolle von Risikoadressaten durch Kommunikation steht das<br />
Informationsmanagement der Verwaltung gegenüber. Der Begriff bezieht<br />
sich auf die zur Entscheidungsfindung für die Verwaltung verfügbaren vielfältigen<br />
Instrumente zur Informationsbeschaffung. Dabei geht es vor allem<br />
680 Ladeur (FN 641), S.85, 124, 126<br />
681 Ebenda, S.135, 229, 264f.<br />
682 Trute (FN 549), S. 86 ff.<br />
683 Luhmann, Soziale Systeme, S. 411 ff<br />
684 Zu diesem rechtsstaatlichen Dilemma, Calliess (FN 288), S.67<br />
183
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
um die Erweiterung verfügbarer Daten, mithin von Wissen 685 . Zwischen<br />
technischem Fortschritt und Wissen besteht ein Zusammenhang. Beide<br />
Komponenten wirken sich auf menschliches Handeln, aber auch das Bestehen<br />
von Gefahren und Risiken aus. An dieser Stelle wird auch die Dynamik<br />
des Vorsorgeprinzips deutlich. <strong>Die</strong> Abwesenheit von Risiko und Gefahr bedeutet<br />
nicht Sicherheit. Unter Einbeziehung von Restrisiken wäre eine Abwesenheit<br />
von Risiko kaum denkbar 686 . Risiko knüpft nicht wie die Gefahr<br />
an objektive Gesichtspunkte an, sondern an den Grad der Ungewissheit.<br />
<strong>Die</strong>s spiegelt sich in der Bewertung des Vorsorgeanlasses wider. In Abgrenzung<br />
beider Komponenten spielt also nicht nur der Zeitraum für die Prognose,<br />
sondern auch der erzielte Wissensgrad, mithin die vorrangegangene Information<br />
und Kommunikation eine gewichtige Rolle. <strong>Die</strong> Verfahren zur Risikoermittlung<br />
müssen dem wissenschaftlichen Fortschritt, aber auch der<br />
modernen Datenverarbeitung und -vernetzung der Anwender entsprechend<br />
fortgeschrieben und verbessert werden. Der Umgang mit der Wahrscheinlichkeit<br />
eines Schadenseintritts bei bestehender prognoserelevanter Ungewissheit<br />
ist näher zu bestimmen. Auch hierbei sollen operationale Ansätze in<br />
Form kognitiver, normativer und handlungsbezogener und dabei vertrauensbildender<br />
Komponenten helfen 687 . <strong>Die</strong> Risikoverantwortung von Gesetzgeber<br />
und Behörde endet also nicht beim konkreten Vorsorgeanlass. Das<br />
BVerfG bestätigt nicht nur deren Beobachtungspflicht zur frühzeitigen Gefahrerkennung,<br />
die eine spätere Einschätzungsprärogative ohne Inhaltskontrolle<br />
der Gerichte erst vertretbar erscheinen lässt. Neben der aus der Gefahrerkennung<br />
folgenden Handlungspflicht zu angemessenen Vorsorgeeingriffen<br />
tritt auch eine Nachbesserungspflicht unter Überprüfung der eventuell<br />
geänderten Sachlage zu einem späteren Zeitpunkt, mit entsprechend<br />
möglichen neuen Handlungsverpflichtungen 688 .<br />
c) Vorsorgeprinzip und Beweislast<br />
Eine trotz Anwendung aller verfügbaren Untersuchungsmethoden und Ermittlungsversuchen<br />
lückenhafte Erkenntnislage kann häufig zu einem<br />
Gleichgewicht der Argumente für und gegen einen Eingriff der Verwaltung<br />
führen. Dennoch muss eine endgültige Verantwortungszuweisung für festgestellte<br />
Risikopotenziale, mithin eine Entscheidung, erfolgen. Recht bekommen<br />
kann in diesem Fall davon abhängen, wie aus behördlicher oder richterlicher<br />
Sicht die Darlegungs- und Beweislastverteilung zwischen den Betrof-<br />
685 Steinmüller, Informationstechnologie und Gesellschaft, S. 236<br />
686 Vgl. Teil 3 I.4.c) und Verweis auf BVerfGE 49, 89, 141 ff.<br />
687 Ladeur (FN 641), S. 115 ff.<br />
688 Calliess, in: Hendler (FN 526), S. 89 ff., S. 112 f.<br />
184
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
fenen ausgestaltet ist. <strong>Die</strong> Frage der objektiven Beweislast bestimmt, wer<br />
für welche für den Normtatbestand maßgeblichen Tatsachen nachweispflichtig<br />
ist, also zu wessen Nachteil fehlende Erkenntnisse gehen. Hierbei muss<br />
zwischen dem Verwaltungsverfahren und dem Verwaltungsprozess unterschieden<br />
werden. I.V.m. der subjektiven Beweislast geht es dagegen um die<br />
Beweisführung im Prozess 689 .<br />
aa) Allgemeine Beweislastgrundsätze<br />
Zur Frage der Schadenseignung einer Sachlage gilt im Verwaltungsverfahren<br />
nach § 24 VwVfG grundsätzlich der Amtsermittlungsgrundsatz. Gleiches<br />
gilt für das verwaltungsgerichtliche Verfahren mit der Untersuchungsmaxime<br />
gem. §§ 86 und 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. <strong>Die</strong> Gerichte müssen die<br />
Schadenseignung aufklären, dazu Beweise erheben und die gefundenen Ergebnisse<br />
nach dem Maß der eigenen Überzeugung objektiv würdigen. Im<br />
Falle nichtaufklärbarer Tatsachen kommt es zu einer non-liquet-Situation.<br />
<strong>Die</strong> objektive Beweislastverteilung wird dann entscheidungserheblich. Bei<br />
der Beweislast werden tatsachenbezogene Behauptungs- bzw. Darlegungssowie<br />
verfahrensbezogene Mitwirkungslasten unterschieden. <strong>Die</strong> Beweiserhebung<br />
hängt maßgeblich von der Mitwirkung der Verfahrensbeteiligten ab,<br />
auch schon im Zuge der Behördenentscheidung. <strong>Die</strong> Reichweite der Mitwirkungspflichten<br />
relativiert o.g. Ermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsätze.<br />
Hierbei werden Auskünfte, allgemeine Nachweispflichten, besondere<br />
Nachweispflichten mit gesetzlich vorbestimmten Beweismitteln sowie Duldungs-<br />
und Ermittlungspflichten unterschieden690 . Mit Blick auf die Mitwirkungspflichten,<br />
besonders bei den Nachweispflichten, wird auch von subjektiver<br />
Beweislast oder Beweisführungslast gesprochen. <strong>Die</strong> Verteilung der<br />
Beweislast ist dem Gesetzgeber vorbehalten691 . Sie müssen ebenso wie die<br />
gesamte Rechtsnorm den Verfassungsvorgaben, insbesondere dem Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit, genügen.<br />
<strong>Die</strong> Mitwirkungspflichten werden explizit in den einschlägigen Regelungen<br />
zum Verwaltungsverfahren benannt. Mitwirkungsdefizite haben, auch im<br />
Prozess, keine zwingende negative Folge, wenn die behördliche oder richterliche<br />
Aufklärung auch durch andere Beweismittel noch möglich ist. Richterliche<br />
Ermittlung und Mitwirkungspflichten ergänzen sich letztlich, ohne<br />
dass die richterliche Aufklärungspflicht dadurch eingeschränkt wird. Eine<br />
Ausnahme bilden gesetzlich vorgesehene Nachweispflichten. Allerdings<br />
689 Vgl. Nierhaus, Beweismaß und Beweislast, S. 246<br />
690 J. Martens, JuS 1978, S. 101 ff.<br />
691 Nierhaus (FN 689), S. 201 ff., zum „Begriffschaos“: S. 246<br />
185
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
kann im Falle erheblicher Aufklärungsbehinderung oder Nichtaufklärung bei<br />
deckungsgleicher objektiver Beweislast des Betroffenen die Entscheidung<br />
dann zu seinen Lasten gehen692 . Auf die Frage der objektiven Beweislast bei<br />
Erkenntnisdefiziten, insbesondere der normativen Beweislastverteilung bis<br />
hin zu einer Beweislastumkehr durch gesetzliche Vermutungen, wird aber<br />
noch einzugehen sein. Bei der Beweislast wird nicht nur qualitativ, sondern<br />
auch quantitativ unterschieden. Das im Prozess geforderte Beweismaß richtet<br />
sich also nach dem notwendigen Grad richterlicher Überzeugung. Basis<br />
dafür ist im Rahmen der Gefahrenabwehr die Wahrscheinlichkeit eines<br />
Schadenseintritts. <strong>Die</strong> Gefahrenprognose beinhaltet immer das Fehlen absoluter<br />
Gewissheit. <strong>Die</strong>se graduelle Ungewissheit ist prognoseimmanent und<br />
wird - wie bereits bei der Abgrenzung von Gefahr und Risiko erörtert - nach<br />
ständiger Rechtsprechung je nach drohender Schadenshöhe herabgestuften<br />
Wahrscheinlichkeitsanforderungen gelöst („Je-desto-Formel“). <strong>Die</strong> richterliche<br />
Überzeugung ist deshalb allein für die Frage nach dem notwendigen<br />
Wahrscheinlichkeitsgrad eines Schadenseintritts notwendig. Nur dieser ist<br />
Beweisgegenstand, so dass es bei einer Willkürkontrolle bleibt693 . <strong>Die</strong> o.g.<br />
„Je-desto-Formel“ trifft aber keine Entscheidung über die Beweislastverteilung.<br />
Sie bestimmt nur die Höhe des Beweismaßes. Wenn es aber beim geforderten<br />
Beweismaß bzw. Wahrscheinlichkeitsgrad um die Bewertung des<br />
drohenden Schadens geht, besteht eine untrennbare Verknüpfung zum materiellen<br />
Gehalt der vom Eingriff betroffenen Rechtspositionen, mithin der<br />
verfassungsmäßig verbürgten Rechte. Deren Beachtung bzw. die Rechtfertigung<br />
der Beschränkung dieser Positionen durch die Verwaltung ist vollumfänglich<br />
der richterlichen Prüfung zugänglich694 .<br />
Allerdings gibt es auf Grund der eingeschränkten richterlichen Kontrolle bei<br />
Verwaltungsermessen oder Prognoseentscheidungen mit Beurteilungsspielraum<br />
der Verwaltung Einschränkungen. <strong>Die</strong> Beweislastfrage wird hier auf<br />
den materiell-rechtlich notwendigen Behördenhorizont eingeengt. Nach der<br />
Rechtsprechung des BVerfG am Beispiel des Verbotes mit Erlaubnisvorbehalt<br />
gem. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG spricht der bei den betroffenen Freiheitsrechten<br />
der Art. 12 und 14 GG einschlägige Gesetzesvorbehalt nicht gegen<br />
ein Ermessen der Verwaltung. Vielmehr könne ein solches aufgrund der<br />
notwendigen Sachkunde der Verwaltung durch die gesetzliche Beschränkungsregelung<br />
eingeräumt werden695 . <strong>Die</strong>s gilt besonders bei irreversiblen<br />
692 Ebenda, S. 280, 344 ff.<br />
693 Berg, <strong>Die</strong> verwaltungsrechtliche Entscheidung bei ungewissem Sachverhalt, S. 278<br />
ff.<br />
694 Vgl. oben Teil 2 II.6.b) zu Ermessensfehlerlehre und Verfassungsschranken<br />
695 BVerfGE 49, 89, 144 f. - Kalkar<br />
186
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
Folgen der Entscheidung, wie sie bei Art. 2 Abs. 2 GG in Rede stehen. Sie<br />
können durch eine spätere Meinungsbildung des Parlaments hinsichtlich einer<br />
Anpassung der Gesetzgebung nicht mehr geheilt werden. Es gelten hierbei<br />
die gleichen Argumente, wie sie bereits zur Anwendung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe erörtert worden sind, wonach der Verwaltung ebenfalls ein<br />
Entscheidungsspielraum eröffnet wird 696 . Das BVerfG stellt aber auch fest,<br />
dass die mit dem Spielraum verbundenen Regelungsdefizite auf normativer<br />
Ebene durch Verwaltung und Gerichte auszugleichen sind, also durchaus eine<br />
angemessene richterliche Kontrolldichte bestehen müsse 697 . Das Bundesverwaltungsgericht<br />
unterscheidet wohl aus diesem Grund zwischen den der<br />
vollständigen Beweiserhebung zugänglichen Basistatsachen, die sich auf<br />
Erkenntnisse aus Vergangenheit und Gegenwart beziehen sowie den zukunftsbezogenen<br />
Wertungen 698 . Nur Letztere prägen das Prognoseelement,<br />
welches als Rechtfertigung für das Bestehen eines Beurteilungsspielraumes<br />
herangezogen wird 699 . Hierbei ist auch von der Prognose im engeren Sinne<br />
die Rede. Insofern ist die richterliche Überzeugung von den vorgelegten Tatsachen<br />
zwar ebenfalls erforderlich, diese muss sich jedoch im Sinne der Ermessensfehlerlehre<br />
auf eine Willkür- bzw. im EU-Kontext auf eine offensichtliche<br />
Irrtumskontrolle beschränken.<br />
bb) Beweiserhebung bei Erkenntnisdefiziten und Modifikation der<br />
Beweislast<br />
<strong>Die</strong> Suche nach absoluter Gewissheit kann in Rechtsgebieten mit Risikobezug<br />
nicht erfolgreich sein700 . Hinsichtlich der zu erwartenden Fakten bleibt<br />
der hypothetische Kausalverlauf oft im Unklaren701 . Eine Wahrscheinlichkeitsprognose<br />
ist dann nicht möglich. Infolge der Erkenntnisdefizite kann es<br />
also bei Prognoseentscheidungen zu einer non-liquet-Situation kommen, so<br />
dass die Beweislastverteilung maßgeblich die Entscheidung mitbestimmt.<br />
<strong>Die</strong> Verteilung der Risikoverantwortlichkeit, wer also die Last des Ungewissen<br />
tragen soll, beinhaltet eine Wertung, die über die Zuweisung der Beweislasten<br />
für bestimmte Sachverhaltsfragen zur Entscheidung über die<br />
Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses erhoben wird.<br />
696 Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme<br />
von Grund- und Menschenrechten, 154, 158; s.a. Teil 2 I.2.b)<br />
697 BVerfGE 49, 89, 135<br />
698 BVerwGE 61, 176<br />
699 Vgl. Teil 2 II.3.b)<br />
700 Vgl. Ladeur (FN 641), S. 88<br />
701 Kokott (FN 696), S. 29, 34<br />
187
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Nach Auffassung des BVerfG folgt aus dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit,<br />
dass der allgemeine Freiheitsanspruch durch die öffentliche Gewalt nur soweit<br />
beschränkt werden darf, wie es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich<br />
ist. <strong>Die</strong>se Unerlässlichkeit des Eingriffs sorgt für eine grundsätzliche<br />
Beweislast des Staates, der nachweisen muss, warum die Erreichung<br />
seiner Absichten und der dabei verfolgten Zwecke auf andere Weise nicht<br />
möglich ist. Der schlichte Hinweis auf Gemeinwohlzwecke im Sinne der<br />
Grundrechtsschranken genügt deshalb nicht für eine Rechtfertigung des<br />
Eingriffs702 . Der damit verbundene Regelbeweis ist bei Erkenntnisdefiziten<br />
allerdings nicht praktikabel. Er würde zum Grundsatz „Im Zweifel für die<br />
Freiheit“ führen, also das Ziel der Risikoprävention ad absurdum führen.<br />
Wenn es um die Bewältigung von Erkenntnisdefiziten und daraus resultierenden<br />
Risikosituationen geht, spricht der Sinn und Zweck des Vorsorgeprinzips<br />
deshalb für eine Beweislastumkehr703 . <strong>Die</strong> potenzielle Risikoquelle<br />
müsste bei Beweislastumkehr das Nichtbestehen des Risikos darlegen. In<br />
der Konsequenz führte diese Annahme zum Grundsatz: „Im Zweifel für die<br />
Sicherheit“ (und gegen die Freiheit). Eine solche pauschale Lösung würde<br />
aber immer zu einem Eingriff führen und jede rechtsstaatliche Abwägung<br />
erübrigen. Der Nachweis des Nichtbestehens eines Risikos ist bei Erkenntnisdefiziten<br />
logisch ausgeschlossen. Aus diesem Grunde wird die Annahme<br />
einer vorsorgeimmanenten generellen Beweislastumkehr angezweifelt.<br />
Vielmehr werde nur der Umfang des Beweismaßes zugunsten der schützenswerten<br />
Belange tangiert. Allerdings kann das anerkannte Instrument der<br />
Beweislastumkehr in einzelnen Vorsorgebereichen durchaus explizit geregelt<br />
werden. In allen übrigen Fällen ist der Unschädlichkeitsbeweis des Risikoverantwortlichen<br />
zwar hilfreich, aber nicht allentscheidend704 .<br />
<strong>Die</strong> Normtheorie sieht die Beweislast bei demjenigen, der sich auf eine begünstigende<br />
Norm beruft705 . <strong>Die</strong>ser Ansatz verkennt aber das öffentliche Interesse<br />
an der Durchsetzung dieses dann immer benachteiligten Individualinteresses,<br />
wie es beispielsweise bei Ermöglichung des technischen Fortschritts<br />
i.Z.m. Anlagengenehmigungen der Fall sein kann. Im Übrigen stößt<br />
die Normtheorie auf ganz grundsätzliche Kritik, da sie letztlich allein auf die<br />
Erfüllbarkeit des Normzwecks abstellt und die verfassungsrechtlichen Positionen<br />
der Betroffenen gänzlich außer Acht lässt706 . <strong>Die</strong> gleiche Kritik ist am<br />
702 Vgl. BVerfGE 65, 1, 64, 19, 342, 249, 17, 306, 314<br />
703 Calliess, DVBl. 2001, S. 1725, 1732<br />
704 So im Ergebnis auch Erben (FN 530), S. 263, 265<br />
705 So in Teilen BVerwG, BVerwGE 47, 331 (339); 61, 176 (189)<br />
706 So z.B. Nierhaus (FN 689), S. 246<br />
188
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
BVerwG-Ansatz zu üben, der auf die Stellung im Prozess abstellt707 . <strong>Die</strong><br />
Beweislast würde danach von Zufälligkeiten abhängen, mithin der Frage,<br />
wer sich von einer Behördenentscheidung belastet fühlt und als Kläger auftritt708<br />
. Da die genannten Ansätze kaum befriedigen können, wird, soweit es<br />
dabei um die Risiken neuer Technologien geht, häufig der Versuch einer Bezugnahme<br />
auf die wissenschaftlichen Grenzwerte unternommen, auch unter<br />
Hinzuziehung von Risikozuschlägen oder -abschlägen. Ein einheitliches<br />
Konzept lässt sich daraus aber nicht ableiten709 .<br />
Vertreter der Sphärentheorie orientieren sich dagegen an der Beweisnähe,<br />
Verantwortungsbereichen und Einflusssphären der Betroffenen710 . <strong>Die</strong>s ermöglicht<br />
eine abgestufte bzw. differenzierte Lösung, die den unterschiedlichen<br />
Interessen bei wissenschaftlich-technisch darstellbaren Prognosen zur<br />
Schädlichkeit einer Handlung angemessen scheint. Wenn der Risikoverursacher<br />
nicht mit einem hinreichenden Wahrscheinlichkeitsgrad das Nichteintreten<br />
eines Schadens begründen kann, muss er den Vorsorgeeingriff dulden.<br />
Es wird dabei aber auch an die o.g. Ausführungen zum Beweismaß bei<br />
Prognoseentscheidungen angeknüpft. Aufgrund der notwendigen Entgegnung<br />
auf herabgesetzte Beweisanforderungen besteht damit zumindest faktisch<br />
eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung. Dabei wird auch ein Anreiz<br />
gesetzt, dass der Risikoverantwortliche die Folgen seines Tuns überprüft<br />
und dokumentiert711 .<br />
<strong>Die</strong> Berücksichtigung des Sphären- bzw. Verantwortlichkeitsgedankens ergibt<br />
sich auch aus verfassungsrechtlichen Geboten des effektiven Rechtsschutzes<br />
und des fairen Verfahrens bzw. des aus dem allgemeinen Gleichheitssatz<br />
abgeleiteten Gebotes der Waffengleichheit. <strong>Die</strong>se Lösung wird<br />
auch in der schon zuvor erwähnten Kommissionsmitteilung angeregt, wonach<br />
die Last der weiteren Gefahrenerforschung dem wirtschaftlichen Nutznießer<br />
des Handelns aufzuerlegen sei, wenn dies im Einzelfall zumutbar erscheint.<br />
Der Ansatz schafft für den Vorsorgeadressaten zudem Anreize, die<br />
Folgen seines Handelns zu hinterfragen und mit ihm verfügbaren Mitteln zu<br />
erforschen. Hierbei erfolgt eine verfahrensmäßige Rationalisierung der Erkenntnisdefizite<br />
hin zum Begriff des Risikomanagements, der sich in der<br />
materiellen Entscheidung niederschlägt. Wie beim Gefahrenbegriff wird<br />
damit im Risikobereich an (Un-) Wahrscheinlichkeiten angeknüpft, die die<br />
707 Dazu beispielhaft Urteil v. 18.04.1956, BVerwGE 3, 245 ff.<br />
708 So Dahlinger, NJW 1956, S. 2957<br />
709 Eingehend dazu Nierhaus (FN 689), S. 414 ff.<br />
710 Dazu ebenda, S. 430 ff.<br />
711 Vgl. Calliess, DVBl. 2001, 1725, 1733, das bestätigend Erben, a.a.O., S. 265<br />
189
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Grundrechte der Beteiligten im Kern schützen und einer weitergehenden<br />
Verantwortungszuweisung Grenzen setzen soll. <strong>Die</strong>s mag zwar vor dem<br />
Hintergrund von Erkenntnisdefiziten nicht befriedigen, ermöglicht aber auch<br />
bei der Beweislastfrage die notwendige Abwägung bzw. den Ausgleich aller<br />
Interessen. Letztlich kommt es zu einer Wechselwirkung von materiellem<br />
Recht für die prozessuale Beweislastfrage und insoweit wiederum zum Einfluss<br />
auf die Durchsetzbarkeit des materiellen Rechts712 . Rechtsgütergewichtung,<br />
Rechtsfolgenabwägung und Beweislast gehen daher ineinander über.<br />
Letztlich wird bei der risikoorientierten Vorsorge im Vergleich zur Gefahrenabwehr<br />
das behördliche Einschreiten unterhalb der dort etablierten<br />
Schwelle ermöglicht. Der drohende Schaden für besonders hochwertige<br />
Rechtsgüter bzw. Gemeinwohlbelange rechtfertigt im Sinne der Je-desto-<br />
Formel eine noch geringere Anforderung an die Prognose713 . Wenngleich ein<br />
Wahrscheinlichkeitsurteil aufgrund von Erkenntnisdefiziten nicht darstellbar<br />
ist, sollen ein plausibel dargelegter Verdacht bzw. die Möglichkeit eines<br />
Schadens genügen. Soweit der Behörde ein Entscheidungsspielraum zugebilligt<br />
wird, verschiebt sich die Qualität der Beweispflicht weg von einer<br />
Nachweispflicht hin zu einer Plausibilitätskontrolle der behördlichen Erwägungen,<br />
entsprechendes gilt für die Begründungsanforderungen.<br />
<strong>Die</strong>se Darlegungen sind allerdings durch den betroffenen Risikoverantwortlichen<br />
widerlegbar. Im technischen Sicherheitsrecht wird auf der Grundlage<br />
standardisierter Eingriffsschwellen regelmäßig eine gesetzliche Vermutung<br />
für das Bestehen einer Risikolage aufgestellt. Mit Hilfe von Grenzwerten<br />
oder technisch-wissenschaftlichen Regelwerken wird dadurch eine eingeschränkte<br />
Beweislastumkehr zu Lasten des Eingriffsadressaten statuiert.<br />
Hierbei handelt es sich um widerlegbare Vermutungen714 . <strong>Die</strong>s entspricht in<br />
aller Regel auch dem Sphärengedanken. <strong>Die</strong> bereits erwähnten normkonkretisierenden<br />
Vorschriften dienen also nicht nur der verfassungskonformen<br />
Präzisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, sondern nehmen auch eine entsprechende<br />
Beweislastverteilung vorweg. Auch an dieser Stelle hat die bereits<br />
erörterte Wyhl-Entscheidung des BVerfG erhebliche Bedeutung erlangt.<br />
Nach den dort getroffenen Ausführungen trägt die Exekutive nach der<br />
Normstruktur des einschlägigen Tatbestandes Verantwortung für die Risikoermittlung<br />
und -Bewertung. Sie muss sich dabei aber an die vorgegebenen<br />
Maßstäbe halten715 . Im Falle der Erkenntnisdefizite dürfte es z.B. den betroffenen<br />
Anlagenbetreiber regelmäßig schwer fallen, den Beweis des Nichtvor-<br />
712 Bestätigend Kokott (Fn 596), S. 484<br />
713 Di Fabio (FN 577), S 208 f.<br />
714 Nierhaus (FN 689), S. 390<br />
715 BVerfGE 72, 300, 316, 321<br />
190
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
handenseins eines Risikos zu erbringen. Dennoch ist dies im Sinne der o.g.<br />
Sphärentheorie möglich, wenn eine fehlerhafte Bewertung der Verwaltung<br />
nachgewiesen würde.<br />
cc) Beweislast und Verfassung<br />
Nachdem der Zusammenhang von materieller Rechtsposition und Beweislast<br />
deutlich wurde, soll noch einmal der Frage nachgegangen werden, welchen<br />
konkreten Einfluss die Verfassungsprinzipien und die jeweils betroffene<br />
Grundrechtsposition auf die Beweislast haben. Bereits bei den gesetzlichen<br />
Mitwirkungs- bzw. Nachweispflichten wurde angedeutet, dass diese,<br />
wie die gesamte Eingriffsnorm, verfassungskonform ausgestaltet werden<br />
müssen. <strong>Die</strong> Notwendigkeit der Wertung betroffener Rechtspositionen ergibt<br />
sich aufgrund der materiellen Wirkung für die objektive Beweislastverteilung<br />
als Ganzes. Wegen des Zusammenhangs des materiellen Grundrechtsschutzes<br />
und der Beweislastverteilung ist eine Wertung erforderlich, welche<br />
die Fragen des Gesetzvorbehaltes und des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs.<br />
3 und 19 Abs. 4 GG) bzw. der Verhältnismäßigkeit hinreichend berücksichtigt716<br />
. Deshalb muss auch die Beweislastfrage in die Abwägung der verfassungsmäßigen<br />
Rechtspositionen einbezogen werden. Das Bundesverfassungsgericht<br />
spricht insoweit vom Grundsatz der Waffengleichheit im Prozess<br />
und der gleichmäßigen Verteilung des Verfahrensrisikos717 . Der Handlungsspielraum<br />
der Verwaltung wird somit prozedural begrenzt.<br />
<strong>Die</strong> vergleichbare Wirkung fehlerhafter Tatsachenaufklärung und lückenhafter<br />
Sachverhaltsermittlung spricht für jeweils einschlägige Grundrechtsverletzungen.<br />
Insoweit muss der verfassungsrechtlichen Determinierung von<br />
Beweislastnormen besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden718 . Hierbei<br />
muss die Reichweite und damit auch die Wertigkeit der in Rede stehenden<br />
Rechtsgüter berücksichtigt werden. Der bei Eingriffen vorhandene Konflikt<br />
zwischen Allgemeinwohl und Individualinteresse muss nach den Vorgaben<br />
des konkret anzuwendenden Normtatbestandes gelöst werden. Es wird aber<br />
auch vertreten, dass sich aus den Freiheitsgarantien der Verfassung selbst<br />
Beweislastregeln ableiten ließen. <strong>Die</strong> Reichweite der materiellen Grundrechtsgeltung<br />
werde durch das geforderte Beweismaß bezüglich der Gefahr<br />
bestimmt. <strong>Die</strong> Abwägung, welches der betroffenen Rechte zurücktreten<br />
muss, sei deshalb für jedes Grundrecht einzeln festzustellen und müsse verfassungsmäßig<br />
interpretiert werden. Dabei käme bei Prognoseentscheidun-<br />
716 Rengeling, DVBl. 2000, 1473, 1479 mit Verweis auf Di Fabio (FN 577), S. 203 ff.<br />
717 BVerfGE 52, 131 (144 ff.)<br />
718 Nierhaus (FN 689), S. 21<br />
191
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
gen die Parallelität von Beweis- und Prognoselast zum Tragen. <strong>Die</strong> einheitliche<br />
Grundrechtsgewährleistung erfordere dabei, bei Erkenntnisdefiziten<br />
bezüglich zurückliegender Tatsachen genau die gleichen Maßstäbe anzuwenden<br />
wie bei durch zusätzliche Kausalitätsunsicherheiten geprägten Zukunftsprognosen719<br />
.<br />
<strong>Die</strong>ser Ansatz könnte im Zusammenhang mit der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
durchaus weiterführend sein. Hierbei wird, wie schon erwähnt, auf Berufsausübungsfreiheit,<br />
Eigentumsgarantie und allgemeine Handlungsfreiheit<br />
Bezug genommen. <strong>Die</strong> dabei möglicherweise vertretbaren Grundsätze zu<br />
Beweislast- und -maß können anhand der Rechtsprechung aus anderen Regelungsbereichen<br />
verdeutlicht werden. Beim Umweltrecht, respektive Atomrecht,<br />
ist wie bei der Exportkontrolle die aus den Rechtspositionen der<br />
Art. 12 und 14 GG abgeleitete Wirtschaftsfreiheit berührt. Im technischen<br />
Sicherheitsrecht sowie auch bei Exportkontrollen bezieht sich die Eingriffsermächtigung<br />
des Staates auf den Schutz des Rechts auf Leben nach Art. 2<br />
Abs. 2 GG. <strong>Die</strong> genannten Freiheiten werden dabei aufgrund von Gemeinwohlinteressen<br />
durch Gesetz beschränkt. <strong>Die</strong> Vermutung einer Risikosituation<br />
nach § 7b Abs. 2 Satz 3 AtomG und der Eingriff in die Position des Anlagenbetreibers<br />
geht aber sehr weit. <strong>Die</strong>s erscheint wegen des Schutzes des<br />
hochwertigen Rechtsgutes in Art. 2 Abs. 2 GG gerechtfertigt, auch weil es<br />
im Atomrecht eine konkrete Risikolage für das Umfeld der Anlage und die<br />
dortige Nachbarschaft gibt. Der Eingriff ist daher durchaus geeignet, erforderlich<br />
und angemessen. Gleichwohl hängt die Beweislast auch von der<br />
Klageart ab, also demjenigen der sich auf das Rechtsgut des Art 2 Abs. 2 beruft.<br />
So wurde im Fall der hier regelmäßig einschlägigen Anfechtungsklage<br />
gegen die erteilte Genehmigung bereits geprüft, ob eine Risikosituation vorliegt.<br />
Mit Genehmigungserteilung wird dies verneint. Hier muss der Anfechtungskläger<br />
diese Feststellungen entkräften720 . An dem Beispiel wird deutlich,<br />
dass die prozessuale Lage sehr wohl Einfluss auf die Beweislast hat.<br />
<strong>Die</strong>ses Ergebnis ist aber nicht Ausfluss des Grundrechtes selbst, sondern der<br />
Normstruktur und Prozesssituation. Hier geht es um die Widerlegung bereits<br />
dargelegter Tatsachen und Wertungen durch den Anlieger. <strong>Die</strong>s entspricht<br />
den Ergebnissen der Beweislastverteilung durch die Sphärentheorie und gesetzliche<br />
Vermutungen.<br />
Wenngleich Wortlaut und Struktur der grundrechtlichen Freiheitsgarantien<br />
demnach nicht generell eine Beweislastregel entnommen werden kann, bie-<br />
719 Kokott (Fn 596), S. 107, 113<br />
720 Mit dem Versuch, eine funktionale und differenzierte Durchsetzungskraft der Grundrechtsposition<br />
zu begründen: Kokott (Fn 596), S. 157<br />
192
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
ten die folgenden Beispiele aus dem Gewerbe- und Asylrecht durchaus Anhaltspunkte<br />
für die Ausstrahlungswirkung betroffener Rechtspositionen und<br />
den Zusammenhang mit der Normstruktur. Beim Genehmigungserfordernis<br />
nach § 35 GewO spielt die Berufsausübungsfreiheit in Ausgestaltung der<br />
Gewerbefreiheit eine wesentliche Rolle. Zweckmäßigkeitserwägungen, mithin<br />
vernünftige Gemeinwohlgründe, rechtfertigen nach der im Apothekenurteil<br />
begründeten Stufentheorie des BVerfG solche Berufsausübungsregelungen,<br />
wie sie sowohl bei der Gewerbegenehmigungspflicht als auch bei genehmigungspflichtigen<br />
bzw. unterbundenen Ausfuhren vorliegen721 . Anders<br />
als im Atomrecht, wird aber nach § 35 GewO über die Verwendung des unbestimmten<br />
Rechtsbegriffs der Zuverlässigkeit des Rechtsinhabers eine Inanspruchnahme<br />
der Gewerbefreiheit unter Berücksichtigung der Gemeinwohlbelange<br />
grundsätzlich ermöglicht. <strong>Die</strong> Beweislast hinsichtlich der Unzuverlässigkeit<br />
liegt regelmäßig bei der Behörde, kann aber je nach Maß der<br />
drohenden Schäden auf den Antragsteller übergehen. Um dieser Beweislastregelung<br />
auch zur Geltung zu verhelfen, müssen die Anforderungen an die<br />
behördlichen Voraussetzungen zum unbestimmten Rechtsbegriff verhältnismäßig<br />
sein722 . Für die fehlende Zuverlässigkeit benötigte gegenwartsbezogene<br />
Tatsachen ermöglichen eine pauschalierte Prognose in Form einer Gefährlichkeitsvermutung.<br />
Bezüglich einer trotz Zuverlässigkeit bestehenden<br />
Gefährdung des Gemeinwohls trifft dann die Verwaltung erst recht die Beweislast.<br />
<strong>Die</strong> Voraussetzungen des Eingriffstatbestands sind damit grundsätzlich<br />
durch die Verwaltung nachzuweisen, damit auch die betroffenen<br />
Gemeinwohlinteressen.<br />
Im menschenrechtsrelevanten Asylrecht nach Art. 16 GG geht es wie bei<br />
Exportkontrollen um die Prognose für eine Gefährdungslage außerhalb des<br />
Hoheitsbereiches der Bundesrepublik Deutschland, hier für den Asylanten<br />
im Heimatstaat. <strong>Die</strong> Besonderheit, dass die Kontrolle relevanter Tatsachen<br />
der deutschen Hoheitsgewalt entzogen sind, führt bezüglich der so genannten<br />
Auslandstatsachen zu einem abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab,<br />
so dass plausible Behauptungen für drohende Menschenrechtsverletzungen<br />
als Nachweis für ausreichend erachtet werden723 . Zwar unterscheiden sich<br />
negative Bedrohungsnachweise von den auf positive Tatsachen gerichteten<br />
Interessen des Antragstellers in der Exportkontrolle. Für die prognostizierte<br />
Verwendung von Ausfuhrlieferungen, insbesondere die dafür maßgeblichen<br />
721 BVerfGE 7, 377 ff., 403 - Apothekenurteil<br />
722 Kokott (Fn 596), S. 316<br />
723 Zusammenfassung der Rechtsprechung des BVerwG, insbesondere mit Blick auf die<br />
Notwendigkeit herabgesetzter richterlicher Überzeugungen bei einem Beweisnotstand:<br />
Bertram, DVBl. 1987, 1181 ff., 1186<br />
193
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Empfängerinformationen lässt sich aber der Rückschluss ziehen, dass zumindest<br />
außerhalb bilateraler zwischenstaatlicher Vereinbarungen die Vorlage<br />
ausländischer Nachweisdokumente, wie z.B. von Urkunden, Bildern,<br />
Zeichnungen oder auch Behördenbestätigungen, nicht verlangt werden kann.<br />
Im Ergebnis sind die grundrechtsrelevanten Züge der Beweislastverteilung<br />
unverkennbar. <strong>Die</strong> Ausgestaltung der einschlägigen Regelungen ist aber regelmäßig<br />
Ausfluss der jeweiligen Grundrechtsschranken und Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung,<br />
so auch des Über- und/oder Untermaßverbotes724 ,<br />
worauf in der Folge noch näher eingegangen wird. Systematisch stehen<br />
Grundrechtsgeltung, Gesetzesvorbehalt und Tatbestandsmäßigkeit des Verwaltungshandelns<br />
wegen der materiellen Wirkung der Beweislastfrage in einem<br />
untrennbaren Zusammenhang725 . <strong>Die</strong> bei der Prüfung des Vorsorgeanlasses<br />
verortete Beweislastfrage ist deshalb bei Risikotatbeständen und damit<br />
verbundenen Erkenntnisdefiziten von erheblicher Bedeutung. Eine abschließende<br />
Wertung der Sachverhaltsfeststellungen erfolgt aber erst bei der<br />
Rechtsfolgenabwägung.<br />
d) Ergebnis<br />
Bei Erkenntnisdefiziten ist die Beweislast für die Verwaltungsentscheidung<br />
bedeutend. Pauschale Lösungen verbieten sich, da die Interessen aller Beteiligten<br />
dann nicht berücksichtigt werden könnten. <strong>Die</strong> Beweislast wird von<br />
der Gewichtung der einschlägigen Grundrechte abhängig gemacht. <strong>Die</strong> deshalb<br />
anzuwendende Sphärentheorie geht von verschiedenen Bereichen der<br />
Risikoverantwortung aus. <strong>Die</strong> Zuweisung dieser Verantwortungsbereiche<br />
beinhaltet eine normative Abwägungskomponente.<br />
3. Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses<br />
Nachdem der grundsätzliche Handlungsbedarf des Gesetzgebers oder der<br />
Verwaltung festgestellt wurde, muss über die Ausgestaltung der Vorsorge<br />
befunden werden. Der Vorsorgeanlass bezieht sich auf das „ob“ eines Vorsorgebedarfs,<br />
nicht aber die Frage der Ausgestaltung dieser Vorsorge. <strong>Die</strong><br />
entsprechende Rechtsfolgefrage befasst sich mit den äußeren Grenzen der<br />
Risikoprävention und ergibt sich aus verfassungsrechtlichen Vorgaben. Das<br />
Vorsorgeprinzip beinhaltet aber kein Verfassungsprinzip in Form einer generellen<br />
Eingriffsermächtigung, seine Anwendung unterliegt vielmehr den<br />
724 Calliess, DVBl. 2001, 1725, 1733,<br />
725 Kokott (Fn 596), S. 143, dazu auch Calliess (FN 288), S. 234 f. und Berg (FN 693),<br />
S. 100 ff.<br />
194
III. <strong>Die</strong> rechtliche Struktur der Risikovorsorge<br />
gleichen Anforderungen und Kontrollmaßstäben wie alle anderen staatlichen<br />
Eingriffe. Dazu gehören der Aspekt des konkreten Vorsorgeziels und daraus<br />
entwickelte Konzepte. <strong>Die</strong> auf Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgebot<br />
zurückgehende Notwendigkeit einer entsprechend hinreichenden Tatbestandskonkretisierung<br />
und die damit verbundenen Entscheidungskriterien<br />
und Leitlinien wurden bereits im Rahmen der Bewertung im Vorsorgeanlass<br />
bzw. des entsprechenden Risikomanagements erörtert. Hierbei geht es um<br />
ein Schutzkonzept und Kriterien und Richtlinien für die Risikoschwelle.<br />
Daraus resultiert eine Selbstbindung der Verwaltung, welche eine längerfristige<br />
Geltung und effiziente Umsetzung des Vorsorgeziels sicherstellt. So<br />
wird die Verwaltungsentscheidung nicht vom Einzelfall abhängig gemacht726<br />
.<br />
Neben diesem Bestimmtheitsaspekt müssen die Grundrechte der Beteiligten,<br />
insbesondere die Eingriffsschranken, beachtet werden. Insoweit gelten für<br />
Vorsorgemaßnahmen die gleichen Maßstäbe wie für alle sonstigen staatlichen<br />
Rechtseingriffe, z.B. der Gleichbehandlungsgrundsatz. <strong>Die</strong> Frage der<br />
Verhältnismäßigkeit der Vorsorgemaßnahmen, insbesondere der möglichen<br />
Eingriffsalternativen, hat an der Stelle besondere Bedeutung. Anhand des<br />
Vorsorgeziels muss, neben den Aspekten des Einzelfalls, auch die Wechselwirkung<br />
mit dem Schutzkonzept der Vorsorge als Ganzes betrachtet werden.<br />
Im Genehmigungsverfahren muss festgestellt werden, welcher Eingriff gegenüber<br />
dem Antragsteller verhältnismäßig erscheint. Mit Blick auf die vorhandenen<br />
Instrumente zur Verhaltenssteuerung muss dies nicht zwingend<br />
eine Ablehnung der Genehmigung sein, sondern kann beispielsweise i.V.m.<br />
Auflagen, Bedingungen und nachträglichen Behördenkontrollen durchaus<br />
auch mit der Genehmigungserteilung einhergehen.<br />
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung muss auch der Adressat der<br />
Vorsorgemaßnahme festgestellt werden. Wie beim Gefahrenabwehrrecht<br />
auch, bedarf es bei der Risikoprävention eines Störers, dem das Risiko zuzurechnen<br />
ist. <strong>Die</strong> Zurechnung des Risikos zu bestimmten Rechtsträgern wirft<br />
um so eher Schwierigkeiten auf, je mittelbarer der drohende Schaden ist.<br />
Hinzu kommen die risikoimmanenten Erkenntnisdefizite, die auch auf die<br />
Risikoverantwortung, also den Schaden, gerichtet sein können. Vorsorgeziel<br />
und Risikobewertung müssen deshalb verknüpft werden. <strong>Die</strong> Adressatenauswahl<br />
erfolgt mittels einer wertenden Betrachtung, welcher Verursachungsbeitrag<br />
dem Schadenpotenzial am nächsten steht727 . Im Genehmigungsverfahren<br />
geht es dabei konsequenterweise um eine Wertung, ob der<br />
726 Calliess (FN 288), S. 237<br />
727 Wahl, in: ders. (FN 300), S. 134 f.<br />
195
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Risikobeitrag des Antragstellers zu missbilligen ist oder nicht. Im Rahmen<br />
der Rechtsfolgenabwägung muss aber neben der am besten geeigneten<br />
Maßnahme auch sichergestellt werden, dass es keine Alternative zum Eingriff<br />
gegenüber dem Antragsteller gibt.<br />
Welche Instrumentarien dem Ausgleich der Interessen aller Beteiligten am<br />
besten dienen können, bedarf einer weiteren Untersuchung. <strong>Die</strong>s muss insbesondere<br />
vor dem Hintergrund der über das Gemeinwohl definierten staatlichen<br />
Sicherheitsaufgabe und darauf begründeten Schutzpflichten für Dritte<br />
geschehen.<br />
4. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
<strong>Die</strong> strukturelle Prüfung von Eingriffen auf der Grundlage des Vorsorgeprinzips<br />
lässt sich wie folgt zusammenfassen. Um eine effektive Risikoprävention<br />
bzw. Vorsorge sicherzustellen, müssen die Eingriffsparameter für alle<br />
Beteiligten hinreichend deutlich sein. Unter Nutzung von Standardisierungsinstrumenten<br />
und allen verfügbaren Verfahrensoptionen zur direkten<br />
und indirekten Verhaltenssteuerung der Beteiligten erfolgt die möglichst<br />
weitgehende Sachverhaltsermittlung und Bewertung. Nach Feststellung des<br />
Vorsorgeanlasses und damit einhergehender Beweislastfragen kommt es zur<br />
Rechtsfolgenabwägung unter Gewichtung der einschlägigen Verfassungsgüter.<br />
Dabei besteht regelmäßig eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung<br />
zu Lasten des Betroffenen. <strong>Die</strong> Reichweite seiner Risikoverantwortung ist<br />
ebenfalls von der Gewichtung der einschlägigen Rechtspositionen abhängig.<br />
<strong>Die</strong> Beweislastfrage hat also wertenden Charakter. Im Rahmen der Rechtsfolgenabwägung<br />
wird, neben den insoweit zu bestimmenden Schranken der<br />
Grundrechtspositionen der Beteiligten, die Einhaltung allgemeiner Verfassungsprinzipien<br />
geprüft.<br />
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
Das Vorsorgeprinzip reflektiert auf Verwaltungsrechtsebene die Dynamik<br />
des beim Sicherheitsbegriff beschriebenen gesellschaftlichen Wandels. Vergleichbares<br />
leistet die Schutzpflicht rechtsdogmatisch auf Verfassungsebene.<br />
<strong>Die</strong> im liberalen Staatsmodell bestehende Erwartung, dass Rechtsgleichheit<br />
und Interessenausgleich durch eine umfassend gewährte Privatautonomie erfüllt<br />
werden können, muss zwangsläufig enttäuscht werden. Für die Herstellung<br />
des gesellschaftlichen Kräftegleichgewichts erfolgte schon bei der industriellen<br />
Revolution ein verstärkter Ruf nach dem Staat. Freiheiten und<br />
Eigentum wurden in der Folge wieder eingeschränkt. <strong>Die</strong>ser bereits Anfang<br />
196
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
des 19. Jahrhunderts eintretende „Klimawandel des Geistes“ wird auf die<br />
Verwirrung der Gesellschaft durch revolutionäre Umstürze zurückgeführt.<br />
Sie waren Folge der Aufklärung und des Überflusses der individuellen Unabhängigkeit<br />
728 . <strong>Die</strong>se Tendenz macht sich gegenwärtig wieder verstärkt<br />
bemerkbar, die Funktionen des Staates wandeln sich. <strong>Die</strong> Prävention greift<br />
immer weiter in die Privatsphäre der Bürger ein. Repressive Bereiche erscheinen<br />
als Auffangbecken missglückter Prävention 729 . <strong>Die</strong> gesellschaftlichen<br />
Sicherheitserwartungen werden durch die Erweiterung des Grundrechtsverständnisses<br />
so bedient, dass sie in eine Bestandsgarantie für individuelle<br />
Rechtspositionen münden. Schließlich können repressive Maßnahmen<br />
eingetretene Schäden oft nicht wieder gut machen. Indem jede auf<br />
staatliches Handeln zurückzuführende Wirkung als Eingriff interpretiert<br />
werden kann, könnten andere Freiheitsrechte zurückgedrängt werden. Es<br />
stellt sich daher die Frage, inwieweit sich aus den staatlichen Schutzpflichten<br />
subjektiv-öffentliche Ansprüche ergeben, wie diese in Relation zu den<br />
Belangen des Freiheitsgebrauchs beim Begünstigten zu gewichten sind und<br />
nach welchem Mechanismus alle Beteiligteninteressen zum Ausgleich gebracht<br />
werden können.<br />
1. Subjektiv öffentlicher Anspruch auf Sicherheit<br />
<strong>Die</strong> Staatsaufgabe Sicherheit wird mit den grundrechtlichen Schutzpflichten<br />
subjektiviert730 . Eine Symmetrie von grundrechtlichen Abwehrrechten und<br />
Schutzpflichten besteht danach noch nicht. <strong>Die</strong> Rechtmäßigkeit staatlichen<br />
Handelns wird zunächst über die Dogmatik des Eingriffsschemas festgestellt.<br />
<strong>Die</strong> Grundrechte fokussieren zunächst auf die status-quo-Erhaltung<br />
zugunsten des Eingriffsadressaten und unterliegen insoweit der gerichtlichen<br />
Kontrolle. Der Belang eines vom Freiheitsgebrauch betroffenen Dritten wird<br />
dabei nur mittelbar berücksichtigt. Er bleibt regelmäßig in der schwächeren<br />
Position. <strong>Die</strong>s ist in der faktischen Nachweispflicht begründet, warum ein<br />
bestimmtes staatliches Handeln für den eigenen Schutz erforderlich ist731 .<br />
Um dem festgestellten Doppelcharakter der Grundrechte gerecht zu werden,<br />
bedarf es der Einbeziehung ihrer Schutzdimension bei der Lösung von Konfliktfällen.<br />
Ob der festgestellten grundrechtlichen Schutzdimension die Qualität eines<br />
durchsetzbaren subjektiv-öffentlichen Rechts zugebilligt werden kann, wird<br />
728 Gerhardt, „Geist der Freiheit“, <strong>Die</strong> Welt v. 21. April 2007<br />
729 Grimm (FN 609), S. 198, 202<br />
730 Vgl. Teil 3 II.3.b)<br />
731 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538), Bd. II, § 44 Schutzpflichten, Rn 9 ff.<br />
197
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
unterschiedlich beurteilt732 . <strong>Die</strong> Abwehrfunktion der Grundrechte könne zugunsten<br />
des Betroffenen durch die Zurechnung privaten Verhaltens an den<br />
Staat aktiviert werden. Dem Staat sei aufgrund der ihnen immanenten objektiven<br />
Wertentscheidung eine Garantenstellung zugewiesen. Voraussetzung<br />
dafür wäre allerdings, dass er ein die Grundrechte Dritter beeinträchtigendes<br />
Gebrauchmachen von Freiheiten erlaubt733 . <strong>Die</strong>se Position kommt einer subjektiven<br />
Schutzfunktion sehr nahe. Das BVerfG scheint dies zu bestätigen,<br />
denn es sieht einen Grundrechtseingriff beim Betroffenen und daraus resultierende<br />
Schutzpflichten des Staates wegen der genehmigungsbedingten<br />
Mitverantwortung734 . Allerdings müsste an dieser Stelle auch eine Rolle<br />
spielen, wie unmittelbar die Genehmigung auf eine rechtsverletzende Handlung<br />
wirkt. So dürften Bauprojekte mit Nachbarschaftsrelevanz eine andere<br />
Qualität der Beeinträchtigung haben als Gewerbegenehmigungen, die erst<br />
mittelbar zu Schäden führen können, z.B. durch die spätere Lagerung gefährlicher<br />
Produkte.<br />
Das BVerfG nennt konsequenterweise Bedingungen, die für eine Schutzpflicht<br />
erfüllt sein müssen735 . Danach können die verfassungsrechtlichen<br />
Schutzpflichten eine rechtliche Ausgestaltung von Regelungen so gebieten,<br />
dass die Gefahr von Grundrechtsverletzung eingedämmt bleibt. Ob, wann<br />
und welchen Inhaltes der Gesetzgeber tätig werden soll und darf, hänge von<br />
der Art, Nähe und dem Ausmaß der möglichen Gefahren ab, aber auch vom<br />
Rang des geschützten Rechtsgutes und den bestehenden Regelungen. In seinem<br />
C-Waffen-Beschluss geht das BVerfG dagegen, unabhängig von der<br />
Mitverantwortungsfrage, von einem subjektiv-öffentlichen Recht auf staatliches<br />
Handeln aus und bejaht eine Klagebefugnis des betroffenen Dritten.<br />
Voraussetzung sei, dass Schutzmechanismen zugunsten seines Belangs offensichtlich<br />
fehlen oder unzureichend sind736 .<br />
<strong>Die</strong>ses Ergebnis deckt sich mit der ultima-ratio-Funktion der grundrechtsbezogenen<br />
Schutzpflicht. Wenn bereits die Ermöglichung von Rechtsverletzungen<br />
durch den Staat zur Grundlage für einen Schutzanspruch privater<br />
Dritter gemacht wird, zeigen sich allerdings dogmatische Schwächen dieses<br />
732 Zur Definition subjektiver Rechte und dem Drei-Stufen-Modell betreffend Rechtsgrund,<br />
Begründung der Rechtsposition und Durchsetzbarkeit des subjektivrechtlichen<br />
Anspruchs: Alexy (FN 341), S. 163<br />
733 Di Fabio (FN 577), S. 464<br />
734 BVerfGE 53, 30, 58 - Mülheim-Kärlich<br />
735 BVerfGE 49, 24, 56 f. - Kalkar<br />
736 BVerfGE 77, 170, 214 ff.<br />
198
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
Ansatzes, die sich gerade bei bloßer Untätigkeit des Staates aufdrängen737 .<br />
Der berechtigte Grund für die Skepsis gegenüber dem Garantenansatz wird<br />
beim Genehmigungsfall wie beim Förderungsfall deutlich, also bei Veranlassung<br />
privaten Handelns durch den Staat. Hierzu soll auch der Duldungsfall<br />
zählen, wonach der Staat eine Mitverantwortung für nicht verbotene<br />
Handlungen übernimmt. Es kommt so zur Überdehnung der Eingriffsdefinition,<br />
in dem faktisch jedes private Handeln einer staatlichen Grundrechtsbeeinträchtigung<br />
gleichgesetzt wird. Hiergegen bestehen erhebliche dogmatische<br />
Bedenken738 . Der Ansatz führt zu einer umfassenden Umkehrung der<br />
Rechtfertigungslast bei Grundrechtseingriffen. Jeder Freiheitsgebrauch<br />
stünde dann faktisch unter dem Vorbehalt der Zustimmung eventuell betroffener<br />
Dritter. Auch die Zurechnung privaten Verhaltens in Kombination mit<br />
einem Eingriff, z.B. in die Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, führte zu<br />
einem kaum abgrenzbaren Schutzbereich, so dass die Effektivität der Verwaltung<br />
und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ernsthaft in Frage gestellt<br />
würde739 . <strong>Die</strong> ausufernde Subjektivierung der staatlichen Sicherheitsaufgabe<br />
ermöglicht den Export der Grundrechte Dritter in das Gemeinwohl, der die<br />
Legitimation staatlicher Eingriffe in unangemessener Weise erleichtert. Der<br />
Staat könnte sich quasi nach Belieben auf private Einzelinteressen berufen,<br />
wenn er die Freiheiten seiner Bürger einschränkt. Das System der abgestuft<br />
unter Vorbehalt stehenden Grundrechte und ihrer Schranken wäre auf diese<br />
Weise sinnentleert. <strong>Die</strong> generelle Anerkennung einer drittschützend wirkenden<br />
Schutzpflicht über die Erweiterung des Eingriffsbegriffs ist daher ebenso<br />
wie das Mitverantwortungsprinzip abzulehnen.<br />
Eine Schutzpflicht kann daher nur bejaht werden, wenn eine nicht unerhebliche<br />
Einwirkung durch einen privaten Dritten auf das Schutzgut stattfindet,<br />
also ein gegenwärtiger, drohender oder potenziell möglicher Eingriff in Rede<br />
steht, der mit dem abstrakten Besorgnispotenzial einer Risikosituation<br />
korrespondiert740 . <strong>Die</strong> dogmatische Verankerung eines subjektiv-rechtlichen<br />
Anspruchs kann daher allein in der auf staatlichen Sicherheitsgewährleistungen<br />
beruhenden Schutzpflicht begründet werden und entspricht dem<br />
Grundverständnis der dem Staat vorbehaltenen Aufgabe der Gefahrenabwehr,<br />
insbesondere, wenn es um die körperliche Unversehrtheit des Art. 2<br />
Abs. 2. GG geht und ein anderweitiger Schutz nicht erreichbar scheint741 .<br />
737 So Di Fabio ( FN 577), S. 48, s.a. Lübbe-Wolf, Grundrechte als Eingriffsabwehrrecht,<br />
S. 178 ff.<br />
738 Dazu Calliess (FN 288), S. 427<br />
739 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538) Band II, § 44 Schutzpflichten, Rn 14<br />
740 Murswiek (FN 545), S. 80 ff. , 281<br />
741 Vgl. Teil 3 IV.2.c)bb), so im Ergebnis auch Di Fabio (FN 574), S. 49<br />
199
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Der staatliche Sicherheitsauftrag bezieht sich daher nicht nur auf die objektiven<br />
Grundrechtsgewährleistungen, sondern auch auf subjektive Ansprüche<br />
der Grundrechtsträger, die einen präventiven Schutz vor drohenden Gefahren<br />
beinhalten. Damit verbunden ist ein Optimierungsgebot der Ergreifung<br />
effektivere Maßnahmen zugunsten von Freiheit und Sicherheit742 . Im Rahmen<br />
der Wesentlichkeitstheorie wird anerkannt, dass sich der Gesetzesvorbehalt<br />
auch auf private Übergriffe gegen Dritte bezieht, also durch die<br />
Schutzpflicht motivierte Eingriffe einer rechtlichen Legitimation bedürfen743<br />
. Wer sich auf die Grundrechte beruft, muss deren Abwehrcharakter<br />
ansprechen. Voraussetzung für ein solches subjektiv-öffentliches Recht ist,<br />
dass anderweitige Schutzmechanismen nicht effizient sind, Störer und Opfer<br />
nicht mit dem Staat identisch sind sowie der Störer im Inland sitzt und so<br />
der deutschen Staatsgewalt unterliegt744 . Staatliche Verantwortung bleibt<br />
demnach die ultima-ratio. <strong>Die</strong>s stellt das BVerfG sicher, indem es eine unmittelbare<br />
Klagebefugnis nur bei offensichtlich unzureichendem Schutz<br />
sieht745 . Beim Umweltrecht beispielsweise ist dieses Risikopotenzial für den<br />
Einzelnen durchaus erkennbar. Rechtsfolge ist je nach Qualität des betroffenen<br />
Rechtsgutes eine Handlungspflicht des Staates, sei es im Rahmen eines<br />
Gesetzgebungsauftrages oder bei der Nachbesserung seiner Gesetze. Hierbei<br />
hat der Gesetzgeber aber einen gewissen Gestaltungsspielraum bzw. legislatives<br />
Ermessen746 .<br />
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine drittschützende subjektivöffentliche<br />
Aktivierung der staatlichen Schutzpflichten nur beim Fehlen einfachgesetzlicher,<br />
den geschützten Belang angemessen berücksichtigende<br />
Normen sowie potenziell erheblichen Rechtsgutverletzungen angenommen<br />
werden kann. So führt z.B. der Freiheitsgebrauch bei einer Kollision mit<br />
gewichtigen Schutzpflichten, wie denen für Leib und Leben, zu einem verfassungsrechtlich<br />
verbürgten subjektiv-öffentlichen Schutzanspruch auf<br />
staatliches Handeln. Alles andere würde ihrer Funktion gegenüber der<br />
selbstverständlich anerkannten subjektiven Abwehrdimension widerspre-<br />
742 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 111 Rn 137 unter Verweis auf Alexy<br />
(FN 341), S. 71 ff.<br />
743 Ausführlich: Calliess (FN 288), S. 450 unter Verweis auf BVerfGE, insbes. BVerfGE<br />
49, 89,16 f. - Kalkar<br />
744 Isensse, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Rn 98, 117, 125, 185, Calliess (FN 288), S.<br />
462; s.a. Darstellung in Teil 3 I.1.c)<br />
745 BVerfGE 77, 170, 215 (vgl. FN 723)<br />
746 Vgl. Calliess (FN 288), S.317<br />
200
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
chen 747 . Wegen des weiten Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers bei der<br />
Umsetzung staatlicher Schutzpflichten reichen diese nicht aus, sondern müssen<br />
durch entsprechend gestärkte Verfahrensrechte kompensiert werden. Informations-<br />
und Beteiligungsrechte sowie Rechtsschutzmöglichkeiten für<br />
durch den Freiheitsgebrauch Einzelner betroffene Dritte sind hier von Bedeutung748<br />
. <strong>Die</strong> Kenntnis einer bedrohlichen Handlung ist Voraussetzung dafür,<br />
den Schutz einer Rechtsposition überhaupt geltend machen zu können.<br />
<strong>Die</strong> Gewichtung der Verfahrenskomponente kompensiert Bestimmtheitsdefizite<br />
infolge unbestimmter Rechtsbegriffe und größerer Entscheidungsspielräume<br />
der Verwaltung749 . <strong>Die</strong>s ist zwar primär auf die Sicherung der Rechtsposition<br />
des Freiheitssuchenden gerichtet, beinhaltet aber auch Entscheidungstransparenz<br />
und Kontrolle der Öffentlichkeit, so dass die Interessen<br />
Dritter angemessen gewahrt werden können.<br />
Der verfassungsrechtliche Sicherheitsauftrag begründet demnach eine staatliche<br />
Schutzpflicht, auf die sich ein privater Dritter im Einzelfall berufen<br />
kann. Das Profil der grundrechtlichen Abwehrdimension bleibt wegen der<br />
Beschränkung auf die ultima-ratio-Funktion der staatlichen Schutzpflichten<br />
erhalten, unabhängig von der Qualität staatlicher Mitwirkung. Nach welchem<br />
Schema zwischen den Grundrechtspositionen und sonstigen Belangen<br />
ein Ausgleich geschaffen werden kann, bedarf einer weitergehenden Betrachtung.<br />
2. Auflösung der Interessenkollision durch Abwägung<br />
Das System der Gefahren- und Risikoabwehr beinhaltet typischerweise eine<br />
Umsetzung des Auftrages der erörterten verfassungsrechtlichen Schutzpflichten.<br />
<strong>Die</strong> damit oberhalb des Verwaltungsrechts angesiedelte Dogmatik<br />
muss administrativ umgesetzt werden. <strong>Die</strong>s ist für die Exportkontrollen von<br />
erheblicher Bedeutung, wo vor allem das Recht auf Leben und Gesundheit,<br />
aber auch der allgemeine Sicherheitsauftrag mit den Freiheitsrechten der<br />
Handelnden kollidiert. Auf die betroffenen Grundrechte wurde im Zusammenhang<br />
mit der Außenwirtschaftsfreiheit schon hingewiesen 750 . Eine Be-<br />
747 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538) Bd. II, § 44 Schutzpflichten, Rn 24, im Ergebnis<br />
ebenso Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 111 Rn 8; Alexy (FN<br />
341), S. 418 f. und Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts,<br />
S. 237 ff.<br />
748 Calliess, in: Merten/Papier (FN 538), Bd.II, § 44 Schutzpflichten, Rn 27 ff. unter<br />
Hinweis auf BverfGE 53,30; 66,61; 82,115 sowie BVerwGE, NVwZ 1985, 745<br />
749 Vgl. Teil 2 III. 2.b)cc) und Teil 3 III.2.b)cc)<br />
750 Vgl. Teil 1 III.3.b)<br />
201
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
zugnahme auf den allgemeinen Begriff der Freiheitsbeschränkung sollte<br />
dem Untersuchungsziel im vorliegenden Abschnitt zunächst genügen.<br />
a) Verhältnismäßigkeit und Risikoverteilung<br />
Bereits anlässlich der Beweislastfrage wurde auf die notwendige Verteilung<br />
der Risikoverantwortung hingewiesen. Das bedarf einer Wertung und Interessenabwägung.<br />
Nach dem Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt entfaltet jeder<br />
Ermächtigungstatbestand eine gewisse Bindungswirkung. Dabei spielt<br />
die Anwendung untergesetzlicher Konkretisierungen eine Rolle751 . <strong>Die</strong> Darlegung<br />
einer relevanten Gefahr bzw. eines Risikos ist deshalb ebenso Voraussetzung<br />
für den rechtmäßigen Eingriff wie die Berücksichtigung der<br />
Schranken, die auf Grund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes einzuhalten<br />
sind, ganz unabhängig vom Grad der Konkretisierung. <strong>Die</strong> Gefahrenlage betrifft<br />
das Bestehen eines Schutzbedarfs, mithin einer staatlichen Handlungsverpflichtung.<br />
Auf die hierbei wegen des Demokratie- und Gewaltenteilungsgrundsatzes<br />
bestehenden Handlungsspielräume des Gesetzgebers wird<br />
noch näher einzugehen sein. Im Rahmen der Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />
wird dann geprüft, ob es beim Eingriff aus Sicht aller Beteiligteninteressen<br />
zu angemessenen Rechtsfolgen kommt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
ist Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips. Es statuiert eine<br />
Schranke für staatliche Eingriffe in Rechtspositionen des Bürgers752 . Der<br />
Grundsatz ist in allen Mitgliedstaaten der EU anerkannt und wird in den<br />
Entscheidungen des EuGH als Bestandteil des Gemeinschaftsverwaltungsrechts<br />
berücksichtigt753 .<br />
Bei staatlichen Schutzpflichten geht es dagegen um ein staatliches Unterlassen.<br />
Hier muss nicht nur ein Ausgleich der vom möglichen Eingriff betroffenen<br />
Freiheitsrechte und von Gemeinwohlbelangen erfolgen, sondern auch<br />
die Einbeziehung der Rechtspositionen Dritter754 . Es geht um die Frage einer<br />
möglichst ausgewogenen rechtsstaatlichen Verteilung individueller Schutzansprüche,<br />
ohne dabei die die Freiheit sichernde Funktion der Grundrechte<br />
zu unterwandern. Der Sicherheit wird über das Gemeinwohl Verfassungsrang<br />
eingeräumt. Soweit über die Aktivierung der Abwehrfunktion der<br />
751 Vgl. Teil 2 II.2.a)<br />
752 BVerfGE 19, 342, 248 ff.<br />
753 Zur Herleitung aus den nationalen Rechtsordnungen, den Verträgen und als allgemeines<br />
Rechtsprinzip: Schwarze (FN 198), S. 697 ff.; s.a. Teil 1 III.3.a) und Teil 2<br />
II.4.<br />
754 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 122 Rn 3 ff.; zur grundrechtsähnlichen<br />
Schutzwirkung des Verhältnismäßigkeitsprizips im Gemeinschaftsrecht vgl.<br />
Schwarze (FN 198), S. 701<br />
202
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
Grundrechte des Betroffenen eine mittelbar drittschützende Wirkung gegründet<br />
wird, stehen die einschlägigen Grundrechte den Freiheitsrechten des<br />
im Rahmen des Verfahrens Begünstigten gegenüber. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
wird schließlich eine Abwägung der betroffenen Rechtspositionen<br />
ermöglicht, die über den einschlägigen Gemeinwohlbelang regelmäßig<br />
auch den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen Rechnung trägt.<br />
Es bedarf weiterer systematischer Überlegungen, in welcher Form beide<br />
Grundrechtsdimensionen, also sowohl die subjektiv-rechtliche Abwehrfunktion<br />
der Grundrechte als auch ihre ausnahmsweise bestehende Schutzfunktion<br />
zuzüglich der einschlägigen Gemeinwohlbelange eine angemessene Gewichtung<br />
erfahren können. Bei den Entwicklungen zur Sicherheitsaufgabe<br />
des Staates, der Ausweitung der Gefahrenabwehr auf die Risikovorsorge<br />
sowie der grundrechtlichen Schutzdimension werden die Parallelen und<br />
Abhängigkeiten auf verfassungs- und verwaltungsrechtlicher Ebene deutlich.<br />
Alle drei Bereiche zielen auf ein „Zurückdrängen“ von Freiheitsrechten<br />
bei den Risikoverantwortlichen. Deren Belange müssen aber ebenso angemessen<br />
berücksichtigt werden können, wie die geschützten Belange Dritter.<br />
Deshalb wurden in den Bereichen des Risikoverwaltungsrechts spezifische<br />
Instrumente entwickelt, welche den Interessen aller Beteiligten möglichst<br />
optimal gerecht werden. <strong>Die</strong> aus dem erweiterten Sicherheitsbegriff erwachsenden<br />
Aufgaben kann der Staat mit den Strukturen des traditionellen auf<br />
Individualinteressen gerichteten Gefahrenabwehrrechts kaum noch erfüllen.<br />
<strong>Die</strong> im Polizeirecht erfolgte Bewertung von Wahrscheinlichkeiten kann vor<br />
dem Hintergrund unzureichender Erkenntnisse nicht mehr bewerkstelligt<br />
werden. Deshalb sind neue Lösungswege im Umgang mit pognostischen<br />
Unsicherheiten und Risiken erforderlich. Nur so können gegenläufige Interessen<br />
wie Innovation, Fortschritt und Freiheit sowie Sicherheit miteinander<br />
in Einklang gebracht werden755 .<br />
<strong>Die</strong> Verhältnismäßigkeitsprüfung verdient daher eine nähere Betrachtung.<br />
Durch die Einbeziehung kollektiver Belange in das Sicherheitsrecht wird der<br />
Vorrang von individuellen Freiheitsrechten erheblich relativiert. Mit der<br />
Vorverlagerung der Gefahrenprävention auf die Risikoebene wird nicht<br />
mehr das Rechtsgut des Einzelnen zum Maßstab für staatliches Eingreifen.<br />
Maßstab wird vielmehr die aufgrund von Erkenntnisdefiziten unsichere Gefährdung<br />
des Kollektivs bzw. Gemeinwohls. Damit aber droht die Gefahr<br />
einer dialogischen Grundrechtsabwägung. Dem Kollektivinteresse würde<br />
grundsätzlich der Vorrang eingeräumt, was zu einer faktischen Aufhebung<br />
755 Hoffmann-Riem (FN 622), S. 132<br />
203
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
der Freiheitsrechte führte756 . Es kommt zur Vorverlagerung der Gefahrenabwehr<br />
auf den Zeitpunkt der Gemeinwohlrelevanz, ohne dass es noch auf eine<br />
Gefahr ankommt.<br />
Unabhängig von der Reichweite des Sicherheitsbegriffs und der dahinter<br />
stehenden Belange müssen die Interessen aller Beteiligten ausgeglichen<br />
werden. Grundrechtliche Abwehransprüche des Betroffenen und Schutzansprüche<br />
des Begünstigten sind zu berücksichtigen. <strong>Die</strong>s gilt für die verfassungskonforme<br />
Ausgestaltung wie auch die administrative Umsetzung der<br />
Genehmigungspflichten, mithin das Abwägungsergebnis und dessen spätere<br />
Überprüfung durch die Gerichte. Das Spannungsverhältnis von Freiheitsgrundrechten<br />
und Sicherheitsinteressen muss mit einem geeigneten Rechtsinstrument<br />
aufgelöst werden. Bei einem solchen Interessenausgleich darf<br />
das Gemeinwohlbelang bzw. Kollektivinteresse Sicherheit nicht unangemessen<br />
überhöht werden.<br />
Freiheit und Sicherheit beinhalten – soweit man die Sicherheit auf das hinter<br />
der Schutzpflicht stehende Individualrechtsgut bezieht – im Sinne der Verfassung<br />
zunächst dogmatisch gleichwertige Rechtspositionen, die sich aus<br />
dem doppelt wirkenden staatlichen Gewaltmonopol ergeben. <strong>Die</strong> gegenläufigen,<br />
grundrechtlich geprägten Abwehrrechte und Schutzpflichten müssen<br />
miteinander in Einklang gebracht werden.<br />
b) <strong>Die</strong> klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
aa) Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit<br />
Nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz müssen staatliche Maßnahmen<br />
zunächst geeignet, also taugliches Mittel sein, den angestrebten Zweck bzw.<br />
Erfolg zu erreichen. Der Eingriff muss auch erforderlich sein. <strong>Die</strong> anzuordnende<br />
Maßnahme muss das mildeste Mittel zur wirksamen Erreichung des<br />
verfolgten Normzwecks darstellen. Dabei ist auch vom Übermaßverbot die<br />
Rede. Das beinhaltet eine bipolare Prüfung des Verhältnisses vom Staat zum<br />
Betroffenen. Das Gemeinwohl wirkt als Schranke. Schutzgüter Dritter können<br />
hierbei als verfassungsimmanente Schranke oder mittelbar über das<br />
Gemeinwohl berücksichtigt werden757 . <strong>Die</strong> nach dem Übermaßverbot zulässige<br />
geringste Beeinträchtigung des Rechtsgutes, von dem die Gefahr ausgeht,<br />
umfasst jeden Nachteil. <strong>Die</strong>ser darf nicht unverhältnismäßig zum Ein-<br />
756 Vgl. dazu Di Fabio (FN 577), S. 38, 46<br />
757 Statt aller Maurer (FN 2), § 8 Rn 55 ff.; zur Bezugsgröße, Herleitung und Relationierung<br />
der Rechtsgüter s.a. Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 23 ff., 58; Rechtsprechung:<br />
zur Erforderlichkeit vgl. BVerfGE 30, 292, 316; 53, 135, 145; 69, 209, 218 f.<br />
204
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
griffserfolg sein. <strong>Die</strong> Eingriffsschwelle beginnt deshalb oberhalb sozialadäquater<br />
Risiken. Eine Ablehnung der Erforderlichkeit kommt aber nur in Betracht,<br />
wenn es Alternativen gibt. <strong>Die</strong> einzig denkbare Maßnahme ist immer<br />
auch erforderlich.<br />
Im Rahmen der Angemessenheit, also der Verhältnismäßigkeit im engeren<br />
Sinne, geht es um ein vernünftiges Verhältnis von Erfolg und Eingriffswirkung<br />
gegenüber dem Betroffenen. Es erfolgt eine Abwägung der betroffenen<br />
Belange. Zweck und Mittel der Maßnahme werden wie die dahinter stehenden<br />
Rechtsgüter zu einander in Relation gesetzt. Schutz- und Eingriffswirkung<br />
sollen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Hierbei findet eine<br />
wertende Abwägung statt, die je nach ihrer Gewichtung alle verfassungsrechtlich<br />
verbürgten Vorgaben einbezieht758 . Das Gemeingut Sicherheit muss<br />
zugunsten des Schutzzweckes der Norm berücksichtigt werden. An der Stelle<br />
wirkt die prognosespezifische, umgekehrte Proportionalität von potenzieller<br />
Schadenhöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit. Auf der anderen Seite stehen<br />
die Interessen des Eingriffsadressaten. <strong>Die</strong> Gewichtung der Individualrechte<br />
kann dazu führen, dass der Nachteil für den Einzelnen unverhältnismäßig<br />
ist, zum Beispiel wenn dessen Existenz dadurch gefährdet ist. Auch<br />
bei Nachteilen für die Allgemeinheit kann auf die Gefahrenabwehr verzichtet<br />
werden. Hierzu gehört z.B. das Vorliegen von Bagatellfällen. In diesen<br />
Fällen könnten staatliche Eingriffe das Vertrauen in Sinn und Effizienz behördlichen<br />
Tätigwerdens erheblich in Frage stellen759 .<br />
bb) Verursachungszuweisung<br />
Neben der Verhältnismäßigkeit des Mittels muss auch die Maßnahmenrichtung,<br />
also die in Anspruch genommene Person, überprüft werden. An dieser<br />
Stelle erfolgt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Alternativenprüfung.<br />
Sie hinterfragt die Mittel und Adressaten des Eingriffs. Eine Ausnahme<br />
gilt bei spezialgesetzlichen Vorschriften, welche die Richtung der<br />
Maßnahme bereits festlegen760 . Eingriffe sind grundsätzlich nur gegenüber<br />
der Person rechtmäßig, von der die Gefahr bzw. das Risiko ausgeht. Dafür<br />
ist auch die Verantwortlichkeit des potenziellen „Störers“ zu prüfen, also<br />
desjenigen, dem die Gefahr zuzurechnen ist. Im Polizeirecht wird dieses<br />
Kriterium mit Polizeipflichtigkeit oder Verantwortlichkeit umschrieben761 .<br />
758 Vgl. Jakobs, ebenda, S. 23 ff.; Rechtsprechung: zur Angemessenheit vgl. BVerfGE<br />
30, 292, 316 f.; 46, 120, 148; 51, 193, 208<br />
759 Knemeyer (FN 509), Rn 305 und 306<br />
760 Ebenda, Rn 323 ff.<br />
761 Piertoh/Schlink/Kniesel (FN 511), § 9, S. 142 ff.<br />
205
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Sie betrifft die Zurechnung der Gefahrensituation an das Verhalten einer<br />
Person oder die von Sachen ausgehenden Wirkungen. Es erfolgt eine qualitative<br />
Wertung der Kausalität einer störenden Handlung oder entsprechender<br />
Zustände im Hinblick auf den Schaden762 . Im Polizeirecht kann nicht die aus<br />
dem Strafrecht relevante Bedingungstheorie (Haftungskette) verwendet<br />
werden, es fehlt am Verschuldenskorrektiv. Aus diesem Grunde ebenfalls<br />
unbrauchbar ist die zivilrechtliche, auf Lebenserfahrung beruhende, Adäquanztheorie.<br />
Deshalb kommt es auf die Zurechnung einer Gefahr bzw. des (später) eintretenden<br />
Schadens an. Nach dem Verursacherprinzip ist derjenige verantwortlich,<br />
der die Gefahr unmittelbar verursacht hat. Dabei werden vor allem<br />
rechtswidrige oder zumindest sozialinadäquate Verursachungsbeiträge einbezogen763<br />
. Der drohende Schaden ist demnach einer bestimmten Person zuzurechnen.<br />
<strong>Die</strong>s geschieht, wenn in dessen Einflussbereich die Gefahrengrenze<br />
überschritten wird. Der Betroffene gilt dann als für den Schaden verantwortlicher<br />
Störer, gegen den sich die Gefahrenabwehr richten muss. Sollten<br />
mehrere Störer festgestellt werden, muss unter Berücksichtigung der Effektivität<br />
des Handelns und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine<br />
Auswahl des von polizeilicher Gefahrenabwehr betroffenen Störers getroffen<br />
werden764 .<br />
Allerdings ergeben sich erhebliche rechtsstaatliche Zweifel an der Eingriffsermächtigung,<br />
wenn Erkenntnisdefizite die Ermittlung der Person des Störers<br />
erschweren. Anders als bei der Gefahrenabwehr, wo zumindest die potenzielle<br />
Gefahrenquelle in Form abstrakter Gefahren vorbestimmt ist, dürften<br />
bei der risikoorientierten Anwendung des Vorsorgeprinzips regelmäßig<br />
Zweifel an der Zurechenbarkeit von Störungen bleiben. Bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
gilt: Der Ausführer ist zwar zunächst schon normativ potenzieller<br />
„Störer“ bzw. Verantwortlicher. <strong>Die</strong> Gefahren- bzw. Risikoadäquanz<br />
der Ausfuhr muss dennoch eine Bewertung erfahren, auch bei möglichen<br />
Erkenntnisdefiziten. Umso wichtiger ist bei staatlichen Eingriffen die<br />
Gewährleistung der übrigen Verfassungsprinzipien. Mit dem Abstellen auf<br />
abstrakte Risiken kommt es zu einer Abkopplung vom gesetzlichen Unrecht765<br />
. Das führt faktisch zur generellen Beweislastumkehr, der Eingriffadressat<br />
muss die Nichtgefährlichkeit bzw. Nichtursächlichkeit seines Han-<br />
762 Zu Funktion und Subjekt der Zurechnung von Gefahrenverantwortung, Kugelmann<br />
(FN 138), S. 257 ff.<br />
763 Piertoh/Schlink/Kniesel (FN 511), § 9, S. 149 ff.<br />
764 Ebenda, § 9, S. 174 ff<br />
765 Calliess, DVBl 2003, S. 1096, 1100<br />
206
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
delns für Gefahren oder Risiken darlegen 766 . Ob eine so weit gehende Eingriffswirkung<br />
des gemeinwohlorientierten Handelns in die Grundrechte von<br />
der Verfassung wirklich gedeckt ist, erscheint fraglich, erst recht, weil bei<br />
Risiken Erkenntnisdefizite hinzutreten, die einseitig zu Lasten des Handelnden<br />
gingen. Im Zweifel wäre die Maßnahme damit nicht rechtmäßig. Wegen<br />
der bereits beschriebenen Doppelfunktion des Rechtsstaatsprinzips und Gewaltmonopols<br />
zugunsten des Ausgleichs aller beteiligten Interessen kommt<br />
es hier zu einem verstärkten Spannungsverhältnis, dem die Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
im Rahmen der Abwägung gerecht werden muss.<br />
cc) Interessen des Betroffenen und Gemeinwohl<br />
<strong>Die</strong> Grundrechte des risikorelevant Handelnden werden bei der Rechtfertigung<br />
eines Eingriffs nach dem klassischen Liberalitäts- bzw. Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
aus bipolarer Sicht des Staates geprüft. Dagegen werden die<br />
Interessen des potenziellen Opfers im Rahmen der Angemessenheitsprüfung<br />
lediglich mittelbar bei den Schranken des Grundrechts einbezogen. Der<br />
Gemeinwohlbelang Sicherheit und dahinter stehende Grundrechtspositionen<br />
kollidieren mit den Belangen des Eingriffsadressaten.<br />
<strong>Die</strong> Auflösung dieser Interessenkollision erfolgt über die Prüfung der wirksamen<br />
Eingriffsalternativen im Rahmen der Erforderlichkeit, vor allem aber<br />
bei der Abwägung. Bei ihr werden die gegenläufigen Interessen im Einzelfall<br />
möglichst umfassend optimiert. Das Optimierungsgebot wird durch die<br />
Vorrangregelung der bereits mehrfach erwähnten Je-desto–Formel konkretisiert.<br />
Damit erfolgt eine differenzierte Gewichtung der betroffenen Interessen767<br />
. <strong>Die</strong>se Erwägungen finden sich bereits in den Anforderungen des<br />
Preußischen OVG an die Wahrscheinlichkeitsprognose. <strong>Die</strong> Wertung, ob eine<br />
Gefahr besteht, bestimmt die Gesetzmäßigkeit einer Eingriffsermächtigung<br />
bei der Anwendung im Einzelfall768 . <strong>Die</strong> bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit<br />
von Eingriffen erforderliche Zweck-Mittel-Relation muss auch<br />
die Legitimationskraft des Staatszweckes der Gefahrenabwehr einbeziehen.<br />
Sie muss spiegelbildlich mit dem Begriff Sicherheitsgewähr verstanden<br />
werden. Sicherheit stellt also kein eigenständig abwägungsfähiges Rechtsgut<br />
dar. Sie wird negativ über die Gefahrenabwehr formuliert. Unter Bezugnahme<br />
auf die betroffenen Rechtsgüter bleibt der Gefahrenbegriff der zentrale<br />
Rechtfertigungsgrund für staatliche Eingriffe.<br />
766 Grimm (FN 609), S. 199<br />
767 Grundlegend zur Lösung von Kollisionsfällen und zum Abwägungsgesetz: Alexy (FN<br />
341), S. 85, 143 ff.<br />
768 Vgl. Teil 3 II.4.a)<br />
207
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Eine besondere Konstellation ergibt sich beim Spannungsverhältnis von<br />
Freiheit und Sicherheit. Beide sind neben der Menschenwürde die ranghöchsten<br />
Gemeinwohlbelange des modernen Verfassungsstaates. <strong>Die</strong>s bestätigt<br />
die Erwähnung in Art. 6 der Grundrechte-Charta der EU 769 . Wie schon<br />
bei dem Begriff Sicherheit erörtert, kam es spätestens infolge 9/11 zu einer<br />
Neujustierung beider Belange. <strong>Die</strong> Abwägung bzw. gegenseitige Optimierung<br />
der Belange wurde mit der Forderung und Umsetzung neuer staatlicher<br />
Eingriffsbefugnisse zugunsten von mehr Sicherheit verschoben. <strong>Die</strong> beschriebene<br />
Vorrangregel unterliegt also, wie der Sicherheitsbegriff selbst,<br />
einer gesellschaftlichen Dynamik. Umso vordringlicher stellt sich die Frage<br />
nach der Abwägungskompetenz sowie der organisatorischen und verfahrenstechnischen<br />
Sicherstellung rechtsstaatlicher Garantien 770 . Darauf gibt das auf<br />
bipolare Verhältnisse ausgelegte klassische Rechtfertigungsschema keine<br />
eindeutige Antwort. Bei Risikosituationen und hiermit verbundener Ungewissheit<br />
bestehen erhebliche Schwierigkeiten, die Eignung des Mittels zu<br />
bestimmen, um den Schutzzweck des Gemeinwohlbelanges zu erfüllen. Es<br />
fragt sich also, ob die adäquate Einbeziehung der Interessen aller Betroffenen<br />
deutlicher konturiert werden kann.<br />
dd) Mehrpolige Grundrechtsbeziehungen und wirksamer Grundrechtsschutz<br />
<strong>Die</strong> Verfassung gibt nicht konkret vor, wie der Staat seiner Schutzfunktion<br />
effektiv nachkommen soll. Anders als bei auf ein Unterlassen gerichteten<br />
Abwehrrechten, hat er bei Schutzpflichten regelmäßig mehrere Handlungsmöglichkeiten<br />
zur Wahl771 . Ein wirksamer Schutz des einen wird aber oft<br />
nur durch Eingriffe in die Abwehrposition des anderen möglich sein. <strong>Die</strong>s<br />
erfordert, dass Schutzrechte des durch den Freiheitsgebrauch Betroffenen<br />
über das geschilderte Dreiecksverhältnis Eingang in die multipolare Prüfung<br />
finden. Dafür wird, bezogen auf das Umweltrecht, z.B. folgende Begründung<br />
angeführt772 : <strong>Die</strong> Möglichkeit eines autonomen Selbstschutzes gegenüber<br />
dem Gefahren- oder Risikoverursacher, z.B. durch zivilrechtliche Unterlassungsansprüche,<br />
scheitert regelmäßig an den zu hohen Anspruchshürden.<br />
So scheitert ihre Durchsetzung oft an der Beweislast oder öffentlichrechtlichen<br />
Duldungspflichten .<br />
769 Abl. EG Nr. C 364/1 v. 18.12.2000<br />
770 Schuppert (FN 679), S. 46, 49 ff.<br />
771 Dazu auch Alexy (FN 341), S. 420 ff.<br />
772 Calliess (FN 288), 361 ff.<br />
208
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
Aus Sicht des Bedrohten verursacht die Komplexität der modernen öffentlich-rechtlichen<br />
Regelungen zudem Vollzugsdefizite, die eine praktische<br />
Umsetzung der normativen Schutzzwecke nur teilweise ermöglichen. <strong>Die</strong><br />
Schutznormtheorie des BVerfG, wonach nur subjektive Rechte vermittelnde<br />
Individualrechtsgüter, wie Gesundheit und Eigentum, eine Klagebefugnis<br />
eröffnen, verursacht bei einer Bedrohung von nicht im Privateigentum stehenden<br />
Kollektivgütern, wie Luft und Wasser, ein erhebliches Durchsetzungsdefizit<br />
zu Lasten der Bedrohten. <strong>Die</strong> Freiheit der Umweltnutzer gerät<br />
ins Hintertreffen. Mit Blick auf technische Sachverhalte wird dieses Defizit<br />
noch verstärkt, weil die Ursache-Wirkungs-Ketten komplex sind und eine<br />
Zurechnung schädigenden Verhaltens zum Schaden oft scheitern lassen. Das<br />
gilt in qualitativer wie vor allem auch in zeitlicher Hinsicht. Letztere Sichtweise<br />
rückt durch die perspektivisch häufig fehlende Kongruenz von demokratisch<br />
legitimierten Handlungen und der sich erst viel später in der Zukunft<br />
deutlichen Wirkung auch im Zusammenhang mit der Diskussion zur<br />
Risikogesellschaft, z.B. beim Thema Klimawandel, immer mehr in den Vordergrund.<br />
Zu diesen Aspekten kommt, dass der Staat bei der Risikoprävention<br />
mit den klassischen Machtinstrumentarien oft überfordert ist. Er kann in<br />
manchen Bereichen nicht als neutraler Interessenmakler fungieren. Sein<br />
Eingreifen hat oftmals wirtschaftliche, wachstums- und beschäftigungsfeindliche<br />
Auswirkungen. Hinzu kommen oftmals technisch bedingte Erkenntnisdefizite<br />
oder komplexe Informationsketten, deren Kontrolle häufig<br />
wegen der notwendigen Kooperation mit ausländischen Behörden schwierig<br />
ist. Das zeigt sich z.B. bei international agierenden Gruppen der organisierten<br />
Kriminalität.<br />
<strong>Die</strong> Grenzen staatlichen Handelns müssen auch in die Schutzkonzepte einbezogen<br />
werden. Wenn man auf der Grundlage der Qualität des Sicherheitsbegriffs<br />
ganz allgemein von einer Schutzpflicht des Staates für Grundfreiheiten<br />
des Bürgers ausgeht, so kann von einem Dreiecksverhältnis zwischen<br />
dem Staat, dem Vorsorge- und dem Eingriffsadressaten gesprochen<br />
werden773 . Dabei kann an die Garantiewirkung des Gewährleistungsgebotes<br />
von Art. 19 Abs. 2 GG rekurriert werden, dass sich auf die Schutzdimension<br />
der Grundrechte bezieht774 . Deshalb ist zu recht von einem doppelten Gewaltmonopol<br />
und in unmittelbarer Folge dessen von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen<br />
die Rede775 .<br />
773 Wahl/ Masing, JZ 1990, S. 553, 556; Isensee (FN 527), S. 34<br />
774 Vgl. Scherzberg, Grundrechtsschutz, und Eingriffsintensität, S. 209<br />
775 Calliess (FN 288), S. 307 ff.<br />
209
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
<strong>Die</strong> staatliche Schutzpflicht führt dazu, dass der Betroffene die Abwehr-<br />
funktion seines Rechtsgutes geltend machen kann 776 . Zwangsläufig muss der<br />
Staat die gegenläufigen Interessen ausgleichen. Ein effektiver staatlicher<br />
Schutz über das bipolare Schutzkonzept, dass sich auf nur zwei Akteure ausrichtet,<br />
erscheint wegen der regelmäßig diffusen Gemeinwohlbelange nicht<br />
ausreichend. <strong>Die</strong>s gilt zunächst, wenn es um einen bestimmten Kreis von in<br />
ihren grundrechtlichen Interessen sichtlich Betroffenen geht. Es sollte auf<br />
der Grundlage der Schutzdimension der Grundrechte ein direkter Interessenausgleich<br />
stattfinden. Anders wäre die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols<br />
nicht denkbar 777 . <strong>Die</strong>s mündet in eine Anerkennung eines<br />
mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses. <strong>Die</strong> Interessen von Freiheit,<br />
Sicherheit und Schutzpflicht werden unmittelbar in die Rechtmäßigkeitsprüfung<br />
einbezogen und zum Ausgleich gebracht.<br />
ee) Untermaßverbot und multipolare Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
Dem Gesetzgeber ist die Umsetzung und Ausgestaltung der verfassungsrechtliche<br />
Zielvorgabe vorbehalten. Nach den Vorgaben multipolarer Verfassungsrechtsverhältnisse<br />
muss er einen wirksamen Schutz des Bedrohten sicherstellen.<br />
Er hat für die Umsetzung seiner Verfassungskompetenzen und<br />
-pflichten einen breiten Gestaltungsspielraum. Das Bundesverfassungsgericht<br />
unterscheidet hierbei aber verschiedene Maßstäbe. Eine Rechtsverletzung<br />
wird zunächst nur festgestellt, wenn die staatliche Maßnahme offensichtlich<br />
ungeeignet ist, das Schutzziel zu ereichen778 . Beim Schutzpflichtkonzept<br />
wird dieser Evidenzmaßstab aber verengt. Staatliche Vorkehrungen<br />
müssen auf sorgfältigen Tatsachenermittlungen und vertretbaren Einschätzungen<br />
beruhen779 . <strong>Die</strong> Reichweite einer solchen Vertretbarkeitslehre erscheint<br />
in der Rechtsprechung des BVerfG uneinheitlich. <strong>Die</strong> Kriterien des<br />
Gerichts für die Voraussetzungen bestimmter Kontrollmaßstäbe bleiben unklar.<br />
Das BVerfG hat in seinem 2. Urteil zu Schwangerschaftsabbrüchen geurteilt,<br />
dass infolge staatlicher Schutzpflichten zumindest im Schutzbereich<br />
von Art. 2 Abs. 2 GG ein Untermaßverbot gegenüber dem Rechtsgut berücksichtigt<br />
werden müsse, was von dem staatlichen Eingriff betroffenen<br />
776 Vgl. Teil 3 I.1.c)<br />
777 Calliess, JZ 2006, 321, 328<br />
778 Näheres dazu unter Teil 3 IV.3.a)<br />
779 BVerGE 88, 203, 254 - Schwangerschaftsabbruch II; auch BVerfGE v. 17.2.1997, 1<br />
BvR 1658/96 – Elektrosmog, JZ 1997, 897; BVerfGE - Luftverschmutzung, NJW<br />
1998, 3264 , 3265; s.a. Abschnitt 2.1.2.2. zu Zulässigkeit der Verwendung unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe<br />
210
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
ist780 . Ein solches Untermaßverbot wurde in Korrespondenz zum Übermaßverbot<br />
erstmals i.Z.m. dem Schutz privater Rechte angesprochen781 und infolge<br />
des BVerfG-Urteils als Grundlage für die Gewährleistung staatlicher<br />
Mindestschutzstandards aufgegriffen782 . So soll eine Untergrenze legislativen<br />
Gestaltungsspielraums definiert werden. Ob damit eine eigenständige<br />
Qualität gegenüber der Schrankenprüfung und Abwägung im Übermaßverbot<br />
erzielt wird, ist bis heute fraglich783 . <strong>Die</strong> Befürworter des Untermaßverbotes<br />
führen, anknüpfend an die genannten Aussagen des BVerfG, aus, dass<br />
mit dem klassischen Prüfungsansatz das Übermaßverbot nur unzureichend<br />
mit der staatlichen Schutzpflicht und der Frage nach der angemessenen<br />
Wirksamkeit der Maßnahme in Einklang gebracht werde, die sich auf der<br />
Grundlage des dargelegten mehrpoligen Grundrechtsbeziehungen ergibt.<br />
<strong>Die</strong> hierbei entscheidende neue Akzentuierung bei der Rechtsvollziehung ist<br />
das Tätigwerden im Rahmen einer von Anfang an ausgleichenden Verteilungsfunktion<br />
des Staates. Aber nur im Rahmen der an die Anerkennung des<br />
Untermaßverbotes anknüpfenden mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
würden die miteinander konkurrierenden öffentlichen und privaten Interessen<br />
auf gleicher Ebene berücksichtigt784 .<br />
Alternativ dazu steht, die Erforderlichkeitsprüfung im bipolaren Schema,<br />
wonach der Staat das, was er zum Schutz des Gemeinwohls oder Dritter für<br />
erforderlich und vor allem wirksam hält, tun muss, nur eben nicht mehr als<br />
das tun darf785 . Das Wirksamkeitsgebot ähnelt damit stark dem Untermaßverbot.<br />
Beim Letzteren ändert sich aber der Blickwinkel des Schutzpflichti-<br />
780 BVerfGE v. 28.05.1993, 88, 203, 254 - Schwangerschaftsabbruch II; vgl. JZ-<br />
Sonderausgabe v.07.06.2003, BVerfGE 91, 1 29, a.A. Sondervotum BVerfGE 92, 27,<br />
358 ff.<br />
781 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP Bd. 184, (1984), 201, 228 sowie ders.,<br />
JUS 1989, 161, 163 f.; Jarass, AöR 110 (1985), S. 363, 382 ff.,<br />
782 So Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), § 111 Rn 165<br />
783 <strong>Die</strong> eigenständige Qualität herausstellend: Calliess (FN 288), S. 455 ff. unter Bezugnahme<br />
auf <strong>Die</strong>tlein, <strong>Die</strong> Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. III, (im<br />
Ergebnis ist dieser mit der Vermittlung exakter Kriterien für das Untermaßverbot aber<br />
unzufrieden) und ders., in ZG 1995, S. 131 ff.; so auch Ruffert (FN 747), S. 219;<br />
das Untermaßverbot und den zulässigen Entsheidungskorridor zum Übermaßverbot<br />
anerkennend: Cramer, Freiheitsgrundrechte - Funktionen und Strukturen, S. 310 ff.,<br />
314 ; dem Ganzen ebenfalls folgend Grimm (FN 609), S. 239, dagegen kritisch Hain,<br />
DVBl. 1993, S. 982, 983,<br />
784 Dazu mit ausführlicher Stellungnahme Calliess (FN 288), S. 460; dazu auch Maurer<br />
(FN 2), § 8 Rn 58<br />
785 Vgl. Hain (FN. 783), S. 983, zum Verständnis der Erforderlichkeitsprüfung s.a. Jakobs<br />
(FN 757), S. 66 f.<br />
211
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
gen. Während er im Rahmen der Prüfung eines milderen Mittels sich einmal<br />
für das Mittel entscheidet, das gerade noch wirksam ist, entscheidet er sich<br />
beim Untermaßverbot ganz bewusst für das aus Sicht des zu schützenden<br />
wirksamere Mittel. Im Rahmen der Gesamtabwägung können verschiedene<br />
Interessenlagen kumuliert und so eine zumutbare, angemessene Verantwortungs-<br />
bzw. Risikoverteilung vorgenommen werden. Damit ändert sich nicht<br />
das Verfassungsprinzip der Verhältnismäßigkeit selbst, sondern nur sein<br />
Leitmotiv. Danach wird nicht die Optimierung der Freiheit in den Vordergrund<br />
gestellt, sondern ein Mindestschutz der gleichzeitig aktivierten Abwehrfunktion<br />
des Betroffenen. <strong>Die</strong>s ist wegen des ohnehin bestehenden Vorrangs<br />
gesellschaftlicher Selbstregulierung und der Freiräume des Gesetzgebers<br />
infolge einer strukturell schwächeren Schutzpflicht gerechtfertigt786 .<br />
<strong>Die</strong> Schwäche der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung zeigt sich besonders<br />
deutlich, wenn es um risikoorientierte Eingriffe geht. Dort fehlen<br />
regelmäßig die Erkenntnisse, die eine Darlegung des Betroffenseins der<br />
grundrechtsbeschränkenden Belange erfordern, ganz im Sinne der Schrankensystematik<br />
der auf das Über-/ Unterordnungsverhältnis von Staat und<br />
Bürger zugeschnittenen klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung. <strong>Die</strong> mögliche<br />
Ineffizienz gesellschaftlicher Selbstregulierung im Sinne des ultimaratio-Prinzips<br />
wird nicht geprüft. Hierbei spielt die schon angesprochene<br />
Beweislastproblematik eine Rolle. <strong>Die</strong> Instrumente des regulativen Rechts<br />
stoßen bei den für die „Risikogesellschaft“ bestehenden staatlichen Verantwortungsbereichen<br />
an ihre Grenzen. Zum Vorsorgeprinzip wurde festgestellt,<br />
dass es um eine ausgewogene Risikoverteilung zwischen allen Beteiligten<br />
geht. Ohne umfassende Wertung und Gewichtung aller betroffenen Interessen<br />
ist diese Risikoverteilung allerdings nicht möglich787 . Bei der klassischen<br />
Schrankenprüfung werden die gegenläufigen Interessen im Rahmen<br />
der Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form des eingriffsrelevanten Übermaßverbotes<br />
nur gegenüber dem Handelnden berücksichtigt. Grundrechtsrelevante<br />
Eingriffe werden dagegen erst in der 2. Prüfungsstufe einbezogen. <strong>Die</strong><br />
Interessenbewertung droht also qualitativ einseitig zu sein. Der in der Verfassungssystematik<br />
angelegte, „gerecht“ verteilte Freiheitsgebrauch und der<br />
regelmäßig wertende Interessenausgleichsgedanke werden besser umgesetzt,<br />
wenn die Verhältnismäßigkeitsprüfung aus Sicht aller betroffenen subjektiven<br />
Grundrechtsbelange stattfindet. Dafür bedarf es des Untermaßverbotes.<br />
Nur soweit die o.g. Unter- und Übermaßverbote eingehalten sind, besteht in<br />
aller Regel ein gerichtlich nicht kontrollierbarer, legislativer oder exekutiver<br />
786 Vgl. Ruffert (FN 747), S. 219<br />
787 Dazu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, S. 114<br />
212
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
Einschätzungsspielraum788 . Auch die anlässlich staatlicher Schutzpflichten<br />
geäußerte Kritik i.V.m. der Beachtung der Gewaltenteilung erscheint auch<br />
aus diesem Grunde unberechtigt.<br />
<strong>Die</strong> Auffassung, dass mit dem Vorliegen von mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnissen<br />
noch keine Aussage darüber getroffen sei, dass Eingriffs-<br />
und Eingriffsabwehrbelang dogmatisch die gleiche Gewichtung erfahren<br />
müssen, also eine Gleichordnung objektiv-rechtlicher Grundrechtsdimensionen<br />
und subjektiver Abwehrdimension der Grundrechte erfolgen<br />
muss789 , wird mit den Ausführungen zur notwendigen Kompensation der<br />
Defizite einer gemeinwohl- und schrankenorientierten Betrachtung deutlich<br />
widerlegt. <strong>Die</strong> angeführte Begründung entspricht im Ergebnis aus den Ausführungen<br />
der Befürworter einer Aktivierung der subjektiv-öffentlichen Anspruchsfunktion<br />
im Rahmen grundrechtlicher Schutzpflichten. Im Übrigen<br />
zeigen diese Erwägungen zum legislativen Ermessen deutliche Parallelen<br />
zur Ermessensfehlerlehre. Auch dort geht es um die Grenzen der Ermächtigung<br />
und verfassungsrechtliche Wertungen. Das Verhältnismäßigkeitprinzip<br />
ist zentraler Maßstab für die Ermessensüberschreitung. Das damit festgesetzte<br />
Rangverhältnis betroffener Belange, die entsprechende Abwägung<br />
und Verteilung der Risikoverantwortung bestimmen den Entscheidungsspielraum<br />
der Behörde790 .<br />
c) <strong>Die</strong> Freiheitsverträglichkeitsprüfung im multipolaren Verfassungsrechtsverhältnis<br />
aa) Staatliche Handlungsverpflichtung<br />
Ob der Staat seiner Schutzpflicht genügt, muss in Abhängigkeit von der<br />
Qualität des geschützten Rechtsgutes festgestellt werden. <strong>Die</strong> bei Exportkontrollen<br />
regelmäßig im Hintergrund stehenden Rechtsgüter Leib und Leben<br />
Art. 2 Abs. 2 GG sind z.B. so elementar, dass jeder Eingriff ausreicht,<br />
um eine staatliche Handlungspflicht zu begründen. Dafür müsste allerdings<br />
eine Rechtsverletzung oder entsprechende, wenn auch nur geringfügige, Bedrohungslage<br />
festgestellt werden können. Wegen des präventiven Charakters<br />
der staatlichen Schutzpflicht, kann diese nicht von vorn herein auf Maßnahmen<br />
zur Gefahrenabwehr reduziert werden. Gefahrenabwehr und Vorsorge<br />
kommen zunächst gleichermaßen in Betracht. In Abgrenzung zu Be-<br />
788 So Brugger, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit, VVDSTRL 63101,132 unter<br />
Hinweis auf zahlreiche Urteile des BVerfG<br />
789 Wahl/Masing (FN 773), S. 558<br />
790 So auch Scherzberg (FN 676), S. 165, unter Verweis auf Schenk, Verfassungsgerichtsbarkeit,<br />
S. 46 ff.<br />
213
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
lästigungssituationen soll allerdings eine gewisse Erheblichkeit der Bedrohung<br />
vorliegen791 .<br />
Das Verfassungsziel Sicherheit steht mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
respektive der Zumutbarkeit eines Eingriffs im Widerstreit. Absolute und totalitäre<br />
Eingriffe sind weder vom Rechtsstaat gewollt noch praktikabel. Ein<br />
unvermeidliches Restrisiko muss daher hingenommen werden792 . <strong>Die</strong> Notwendigkeit<br />
einer gewissen Bedrohungsschwelle deckt sich mit den Ausführungen<br />
zur für die Aktivierung einer staatlichen Schutzpflicht bestehenden<br />
Voraussetzung einer Risikosituation793 .<br />
Falls eine Bedrohung des grundrechtlich relevanten Schutzgutes festgestellt<br />
wird, trifft den Staat zunächst eine Handlungspflicht. Er hat dann einen Auftrag,<br />
dem Schutzbedarf genügende Gesetze und Regelungen zu erlassen,<br />
auch mit Blick auf die möglicherweise geänderten Verhältnisse und Bedrohungslagen.<br />
Der Gesetzgeber hat in der Regel ein sehr weit gehendes legislatives<br />
Ermessen, wie er seiner Schutzpflicht konkret nachkommt. Auf die<br />
Reichweite der gerichtlichen Kontrolle dieses Ermessens wird noch einzugehen<br />
sein. Eine Ausnahme zu gesetzgeberischen Handlungsverpflichtungen<br />
besteht dann, wenn die betroffenen Schutzgüter bereits durch vorhandenes<br />
einfaches Recht geschützt werden. <strong>Die</strong> einfachgesetzlichen Schutznormen<br />
sind dann unter Beachtung der betroffenen Schutzgüter zu vollziehen bzw.<br />
anzuwenden. Sie müssen daher nicht nur im Rahmen der Notwendigkeit eines<br />
Eingriffes durch gesetzliche Vorgaben, sondern auch bei der auf diesen<br />
Vorgaben beruhenden Verwaltungsentscheidung Beachtung finden, zum<br />
Beispiel im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung oder der Ermessensausübung.<br />
<strong>Die</strong> Implementierung des Untermaßverbotes im Rahmen der<br />
Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgt daher auf zwei Ebenen, einmal im<br />
Rahmen der Prüfung legislativen Tätigwerdens, z.B. bei der Ausgestaltung<br />
staatlicher Beschränkungen wie Genehmigungspflichten, aber auch bei der<br />
administrativen Anwendung der Gesetze794 . <strong>Die</strong> Durchsetzung schutzgewährender<br />
Grundrechte bei der Normsetzung und Normanwendung muss daher<br />
bei der jeweiligen Rechtmäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden. Beim<br />
administrativen Handeln ist die entsprechende verfassungskonforme Normauslegung<br />
zur Reichweite der Schutzdimension zu beachten, insoweit werden<br />
die Entscheidungsspielräume der Verwaltung begrenzt795 . Schließlich<br />
791 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (FN 125), Bd. V, § 111 Rn 106 ff.<br />
792 Isensee (FN 527), S. 41<br />
793 Murswiek (FN 545), S. 62 ff.; vgl. Abschnitt 4.1.3.2.<br />
794 Im Einzelnen Calliess (FN 288), S. 600 f.<br />
795 Zur Durchsetzung der Schutzpflichten auch <strong>Die</strong>tlein (FN 783), S. 181 ff.<br />
214
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
muss auch die Rechtsprechung eine Auslegung der Schutznormen vornehmen<br />
796 .<br />
bb) Berücksichtigung staatlicher Schutzpflichten im Verfahren<br />
Den verschiedenen im multipolaren Verfassungsrechtsverhältnis bestehenden<br />
Rechtsbeziehungen muss bei der konkreten Rechtsanwendung im Genehmigungsverfahren<br />
hinreichend Rechnung getragen werden. Das betrifft<br />
die Relation im oben geschilderten Dreiecksverhältnis, also zwischen dem<br />
von der Handlung Begünstigten und dem Staat, dem Betroffenen und dem<br />
Staat sowie zwischen Begünstigten und Betroffenen untereinander.<br />
Im Verfahren muss zunächst das Verhältnis des vom Eingriff Betroffenen<br />
zum Staat und die Durchsetzbarkeit seiner grundrechtlich geschützten Belange<br />
berücksichtigt werden797 . Dabei sind Ermessens- oder Beurteilungsspielräume<br />
zu beachten. <strong>Die</strong> Ausübung der Eigentumsgarantie ebenso wie<br />
der Gebrauch der Gewerbe- und Berufsausübungsfreiheit wird regelmäßig<br />
durch öffentliche Belange oder, infolge Ausweitung der Grundrechtswirkung<br />
auf ihre Schutzdimension, durch Interessen Dritter überlagert. Das Übermaßverbot<br />
und eine Abwägung aller Belange bilden den Maßstab für die<br />
Grenzen des Eingriffs. In diesem Kontext können auch Gemeinwohlbelange<br />
zugunsten des Betroffenen eine Rolle spielen.<br />
Im Verhältnis des Begünstigten zum Staat wird bei bestehenden Durchsetzungsdefiziten<br />
zwischenzeitlich die Schutzdimension der Grundrechte anerkannt.<br />
Nur so kann eine durch das Gewaltmonopol begrenzte Verteidigungsmöglichkeit<br />
des Betroffenen kompensiert werden798 . Eine Interessenabwägung<br />
muss in diesem Lichte erfolgen. <strong>Die</strong> bestehende staatliche Handlungspflicht<br />
unterliegt dabei dem Untermaßverbot, das einen Mindeststandard<br />
des Schutzes wahren soll und ein effektives, praktisch wirksames<br />
Schutzkonzept einfordert. <strong>Die</strong> materielle Wirkung der grundrechtlichen<br />
Schutzdimension kommt so zur Geltung. Auch prozedurale Aspekte, wie eine<br />
hinreichende Information, Beteiligung und ausreichender Rechtsschutz<br />
für alle Betroffenen, sind hier zu beachten.<br />
Im Verhältnis des Gemeinwohlbelanges zum Begünstigten muss auch unter<br />
dem Aspekt des allgemeinen Sicherheitsinteresses geprüft werden, welcher<br />
Beitrag hierzu geleistet werden kann. Dazu gehören die Einbeziehung externen<br />
Sachverstandes durch die Behörden, eine Kooperation der Verwaltung<br />
796 Calliess (FN 288), S. 320<br />
797 Zur Relevanz der Verfahrensgestaltung BVerfGE 53, 30, 65 - Mülheim-Kärlich<br />
798 Vgl. Teil 3 IV.1.<br />
215
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
mit dem Begünstigten sowie organisatorische Vorkehrungen beim Begünstigten<br />
selbst (Compliance, Beauftragter), Solche Maßnahmen erleichtern den<br />
gebotenen Interessenausgleich erheblich. Das wirkt sich beim Genehmigungsverfahren<br />
auf die Entscheidung und damit verbundene Prognoserisiken<br />
aus.<br />
cc) Interessenabwägung durch die Freiheitsverträglichkeitsprüfung<br />
<strong>Die</strong> Vorgaben des Übermaßverbotes, das allein auf den Gesetzesvorbehalt<br />
und die Grundrechtsschranken des Gemeinwohls rekurriert sowie das multipolar<br />
zu prüfende Untermaßverbot haben unterschiedliche Bezugspunkte.<br />
Der Maximalstandard des Übermaßverbotes und der Minimalstandard des<br />
Untermaßverbotes müssen daher zunächst getrennt festgestellt werden. <strong>Die</strong><br />
jeweilige Reichweite von Abwehrrechten und Schutzpflichten werden in einer<br />
ersten Prüfungsstufe, bezogen auf die betroffene gesetzgeberische Eingriffsermächtigung<br />
der Verwaltung, im Rahmen einer mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
herausgearbeitet. <strong>Die</strong>s impliziert auch die Prüfung<br />
möglicher verfassungsrechtlicher Vorgaben zur Rechtmäßigkeit eines sehr<br />
weit gefassten Risiko- bzw. Gefahrenbegriffs. In einer zweiten Stufe erfolgt<br />
dann die Prüfung des konkreten Verwaltungsaktes anhand der gesetzlichen<br />
Eingriffsnorm und deren rechtmäßigen Anwendung. <strong>Die</strong> Schutzdimension<br />
der staatlichen Grundrechtsverantwortung und die Freiheiten des Bürgers<br />
sind bei der Prüfung der gesetzlichen Regelung abzuwägen.<br />
Dabei werden Unter- und Übermaßverbot, bezogen auf die jeweiligen<br />
Rechtsgüter, zunächst getrennt in ihrer Geeignetheit und Erforderlichkeit<br />
bewertet. Auf der einen Seite geht es um die Wirkung des staatlichen Handelns<br />
(Schutzfunktion), auf der anderen Seite um die Wirkung des Unterlassens<br />
staatlicher Eingriffe (Abwehrrecht). Beide ähneln sich in ihrer Struktur.<br />
Sie sind aber nicht zwingend deckungsgleich. Vielmehr kann ein Korridor<br />
rechtmäßigen Handelns entstehen, wonach mehrere Maßnahmen gleichsam<br />
verhältnismäßig gegenüber Freiheits- und Abwehrrecht erscheinen799 . Jede<br />
Maßnahme, so auch das staatliche Schutzkonzept muss zunächst mit Blick<br />
auf seine Eingriffs- und Schutzdimension geeignet und erforderlich sein.<br />
Dabei erfolgt eine Alternativenprüfung hinsichtlich des für Schutzkonzeption<br />
wie auch Eingriffswirkung möglichst effektiven, aber auch mildesten<br />
Mittels. Nicht nur der Gesetzgeber hat hier Spielräume. <strong>Die</strong> Behörde ist<br />
nicht auf eine dem Antrag entsprechende Genehmigung beschränkt, sondern<br />
kann andere Optionen prüfen. Hinzu kommen z.B. technische oder orts- und<br />
799 Zur sog. Freiheitsverträglichkeitsprüfung ausführlich: Calliess, DVBl. 2003, S.1102<br />
(im Überblick) und Calliess (FN 288), S. 460, 577 ff.<br />
216
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
zeitbedingte Modifikationen der beantragten Genehmigung. Dazu dienen<br />
Nebenbestimmungen und Auflagen. Hier deutet sich der Optimierungsgedanke<br />
und Mehrwert des Untermaßverbotes an. Im Übermaßverbot wird dagegen<br />
nur mittelbar auf die Schutzdimension des Eingriffs abgestellt. <strong>Die</strong><br />
Freiheit kann hier lediglich als verhältnismäßig beschränkungsfähig bewertet<br />
werden. Beim multipolaren Ansatz wird Gesetzgebung sowie Verwaltung<br />
dagegen im Rahmen von Über- und Untermaßverbot ein Handlungsspielraum<br />
zubilligt, wo die betroffenen Belange zum Ausgleich gebracht werden<br />
können.<br />
Bei der Alternativenprüfung kann es zu mehreren als erforderliches Mittel<br />
möglichen Handlungsoptionen kommen. In der letzten Stufe der Verhältnismäßigkeit,<br />
der Angemessenheitsprüfung, erfolgt die Gesamtabwägung<br />
zur gegenseitigen Optimierung betroffener Belange 800 . Davon ausgehend,<br />
kommt es auf dieser Stufe des multipolaren Prüfungsansatzes zu einer gewichtenden<br />
Abwägung und gegebenenfalls auch weitergehenden wechselseitigen<br />
Optimierung der betroffenen Individualrechtsgüter und Gemeinwohlbelange.<br />
Auf diese Weise wird die Angemessenheit, respektive Zumutbarkeit,<br />
des bestehenden Schutzkonzeptes bestimmt. Das Spannungsverhältnis<br />
zwischen den Verfassungsgütern muss zunächst über einen Rangvergleich<br />
miteinander zum Ausgleich gebracht werden. <strong>Die</strong> im Rahmen der<br />
Angemessenheitsprüfung stattfindende Prüfung der Mittel-Zweck-Relation<br />
ist nur über eine Wertung der dahinter stehenden bzw. vom möglichen Eingriff<br />
potenziell tangierten Rechtsgüter möglich. <strong>Die</strong> Abwägung muss sich<br />
am verfassungsrechtlichen Gewicht der abzuwägenden Interessen orientieren.<br />
Das geringer gewichtete Interesse tritt dabei regelmäßig in den Hintergrund.<br />
Ein weitergehendes multipolares Abwägen der Belange findet nur<br />
statt, wenn die betroffenen Belange gleichwertig sind.<br />
Der Rangvergleich wird nicht nur durch die Wertigkeit der Rechtsgüter,<br />
sondern auch die Mittelbarkeit der Eingriffsintensität bestimmt801 . Auch die<br />
Intensität der potenziellen Rechtsbeeinträchtigung selbst muss berücksichtigt<br />
werden, sei es i.V.m. irreparablen Schäden, einer quantitativen Schadensgewichtung<br />
sowie die Möglichkeiten zur Selbsthilfe. Letztere kann<br />
nicht nur die Schutzpflicht als Ganzes in Frage, sondern im Einzelfall auch<br />
Reichweite und Grad bestimmen. Auch der Wesensgehalt der Grundrechte<br />
800 Calliess (FN 288), S. 592 ff.; zu den Bezugsgrößen der Abwägung und dahinter stehenden<br />
Rechtsgütern vgl. Jakobs (FN 757), S. 104 ff.<br />
801 Dazu Calliess, DVBl. 2003, S 1102, 1104, zur Güterabwägung, Rangvergleich und<br />
Saldierung der betroffenen Belange vgl. Jakobs (FN 757), S. 104 ff.<br />
217
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
gewinnt hier Bedeutung802 . <strong>Die</strong> Bedeutung bzw. Wertigkeit der abzuwägenden<br />
Belange und eine Gewichtung der Eingriffsqualität gegenüber dem geschützten<br />
Rechtsgut ist Grundlage für die Frage der Eingriffsoptimierung in<br />
Form der Interessenabwägung. <strong>Die</strong> physische Sicherheit des Bürgers ist Teil<br />
der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG. Sie entfaltet deshalb besonderen<br />
Schutzcharakter und unterliegt der größtmöglichen Rechtfertigung. Eine andere<br />
Gewichtung ergibt sich demgegenüber bei ökonomischen und sozialen<br />
Aspekten. Es ist auch zu prüfen, wie mittel- oder unmittelbar der Eingriff<br />
zugunsten der Schutzfunktion gegenüber dem Bürger dient. <strong>Die</strong> Anforderungen<br />
an die Rechtfertigung des Eingriffs sollen umso höher sein, je mittelbarer<br />
das Schutzgut betroffen ist803 . An dieser Stelle werden die Parallelen<br />
zur Rechtfertigung des gefahr- und risikoorientierten Handelns deutlich.<br />
Dort sollen die Anforderungen an die Schadenswahrscheinlichkeit von der<br />
potenziellen Schadenhöhe abhängig sein.<br />
Letztlich findet bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne eine Abwägung<br />
der betroffenen Grundrechts- und Gemeinwohlbelange statt, wie sie in<br />
der verfassungsmäßigen Schrankenprüfung vorgesehen ist. <strong>Die</strong> Grenzen des<br />
Freiheitsgebrauchs und der Schutzdimension der Grundrechte werden hierbei<br />
bestimmt. Am Ende steht das Ziel einer praktischen Konkordanz der<br />
Rechtsgüter im Sinne der Vorgaben des Art. 19 Abs. 2 GG. Freiheit und<br />
Schutzdimension der Grundrechte werden zum Auslegungsmaßstab einfacher<br />
Gesetze. Faktisch entspricht das der Wechselwirkungstheorie des<br />
BVerfG. <strong>Die</strong> mit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe eröffneten<br />
abwägenden Wertungen im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes<br />
und die Abwägung im Rahmen der verfassungsrechtlichen Schrankenprüfung<br />
sind somit inhaltlich vergleichbar804 . Gleichlaufende Belange verschieben<br />
die Gewichtung im Rahmen der Abwägung, was z.B. bei gleich gerichteten<br />
Zwecken der grundrechtlichen Schutzpflicht und des Gemeinwohls<br />
möglich ist. Hierbei können auch mehrere Gemeinwohlbelange betroffen<br />
sein. Gleich gerichtete Belange können summiert werden und so ein bestimmtes,<br />
mit der staatlichen Maßnahme verfolgtes Ziel samt den dahinter<br />
stehenden Schutzgütern in der Abwägung stärken. Bezüglich der staatlichen<br />
Interessen ist zu beachten, dass es bei der Abwägung nicht nur um den staatlichen<br />
Schutzauftrag geht, sondern auch um ein Ermöglichungsrecht zu-<br />
802 Calliess (FN 288), S. 574, 481<br />
803 So auch Pitschas, DÖV 2002, 221; Stober ZRP 2001, 260 ff.; Winter, Entscheidungsbildung<br />
und Alternativen, 1997, Canaris, Jus 89, 161,163 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof<br />
(FN 125), Bd. V, § 111 Rn 4, 165 ff., Hoffmann-Riem, DVBl 1994,1381<br />
804 So im Ergebnis auch Jakobs (FN 757), S. 111<br />
218
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
gunsten des fortschrittlichen Handelns. <strong>Die</strong> genehmigungsrechtlichen Strukturen<br />
sollen einen Ausgleich grundrechtlicher Positionen ermöglichen805 .<br />
Der Gesetzgeber hat die Interessen aller Betroffenen zu berücksichtigen. Mit<br />
dem Maßstab des Über- und Untermaßverbotes kann die Wirksamkeit der<br />
Maßnahme unter Berücksichtung der insoweit entgegenstehenden Interessen<br />
auch dogmatisch umgesetzt werden806 . Sowohl die Belange potenzieller Risikoverursacher<br />
und -opfer wie auch allgemeine gesellschaftliche Belange<br />
mit Gemeinwohlcharakter sind in die Gewichtung einzustellen. Hierbei geht<br />
es um eine bessere zeitliche, räumliche und soziale Verteilung den Risikofolgen<br />
und Risikovermeidungskosten. Instrumente wie unbestimmte<br />
Rechtsbegriffe und Ermessen befähigen die Verwaltung, als Treuhänderin<br />
der Interessenoptimierung zu wirken und eine für alle Beteiligten angemessene<br />
Eingriffsalternative zu wählen807 . An der Stelle wird der Mehrwert des<br />
multipolaren Ansatzes deutlich: Der Wert aller kollidierenden Belange gerät<br />
stärker ins Blickfeld. Bei der klassischen Prüfung stehen dagegen der Freiheitsgebrauch<br />
und das ausnahmsweise entgegenstehende Gemeinwohl im<br />
Mittelpunkt. <strong>Die</strong>se Perspektive wird in den multipolaren Erwägungen aufgegeben.<br />
<strong>Die</strong> Rangbewertung ermöglicht, anders als die klassische Schrankenprüfung,<br />
eine dogmatische Gleichberechtigung gegenläufiger Interessen<br />
und die gegenseitige Optimierung. Unter Hinzuziehung aller Handlungsalternativen<br />
muss es weder zu einem Totaleingriff noch zu einer Totalfreiheit<br />
kommen. Je nach Grad der Gewichtung des einen Gutes kann die Akzeptanz<br />
der Nichtberücksichtigung des anderen Gutes variieren.<br />
Der Verwaltung kommt somit eine planerische Funktion zu. Erst wenn es zu<br />
einer Gleichgewichtung von schützenswerten und vom Schutzkonzept betroffenen<br />
Belangen, also einem Abwägungspatt, kommt, hat der Staat einen<br />
gerichtlich nicht mehr überprüfbaren Handlungsspielraum. Dabei können alle<br />
nach dem beschriebenen Korridor zulässigen Handlungsalternativen miteinander<br />
verglichen und gegeneinander abgewogen werden. Aufgrund des<br />
verstärkten Blickes auf das schützenswerte Drittinteresse kann die für alle<br />
optimale Handlungsalternative gewählt werden. Das Ergebnis der Entscheidung<br />
kann daher von der klassischen Erforderlichkeitsprüfung abweichen.<br />
<strong>Die</strong> Alternativenprüfung wird durch geeignete Verfahren, wie eine frühzeitige<br />
Einbindung der Beteiligten in den Kommunikationsprozess, erleichtert.<br />
805 Vgl. zur Summierung von Belangen: Calliess, DVBl 2003, S. 1096, 1103, und Calliess<br />
(FN 288), S. 580; dies bestätigend: Wahl (FN 601), S. 76<br />
806 BVerfG, NJW 1996, 651 - Bodenozon, BVerfGE 88, 203, 254 - Schwangerschaftsabbruch<br />
II<br />
807 Calliess (FN 288), S. 161, 601<br />
219
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Bedenken gegen den multipolaren Ansatz wegen der Verkomplizierung der<br />
Güterabwägung erscheinen nachvollziehbar. Sie sind allerdings der verbesserten<br />
Konturierung der Belange geschuldet. <strong>Die</strong> Befürchtung, dass die Qualität<br />
einzelner Freiheitsrechte unterschiedslos zu einer allgemeinen Freiheitsberechtigung<br />
eingeebnet werden könnte, verkennt, dass vorhandene<br />
Unsicherheiten bei der Abwägungsfrage auf das Problem der Prognose zurückzuführen<br />
sind. <strong>Die</strong>se setzt eine gewisse Flexibilität des Handelnden<br />
voraus, um die geforderten staatliche Schutzfunktion überhaupt erfüllen zu<br />
können. <strong>Die</strong> Kritik knüpft damit faktisch an der Kompetenz des Handelnden<br />
und an den Unschärfen der Gewaltenteilung an. Der Gesetzgeber hat im<br />
Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit mehr Beurteilungsspielraum als die<br />
Verwaltung, die bei der Rechtsanwendung i.V.m. unbestimmten Rechtsbegriffen<br />
oder Ermessensspielräumen an konkretisierte Leitlinien und Schutzkonzepte<br />
gebunden ist 808 .<br />
d) Ergebnis<br />
Es bleibt festzuhalten, dass gerade für das technische Sicherheitsrecht in den<br />
letzten Jahren die Einsicht gereift ist, dass es bei den betroffenen Entscheidungen<br />
nicht nur um ein Begrenzungs- und Kontrollrecht entsprechend dem<br />
staatlichen Schutzauftrag geht, sondern auch ein Ermöglichungsrecht zugunsten<br />
des fortschrittlichen Handelns. <strong>Die</strong> Belange potenzieller Risikoverursacher<br />
und Risikoopfer müssen ebenso berücksichtigt werden wie allgemeine<br />
gesellschaftliche Belange mit Gemeinwohlcharakter. Alle beteiligten<br />
Interessen können über eine multipolare Gesamtabwägung in Einklang gebracht<br />
werden. Über Auflagen und Nebenbestimmungen können dabei auch<br />
sehr konkrete Belange Dritter berücksichtigt werden, die über diffusere<br />
Staatsziele und Gemeinwohlorientierung kaum Beachtung finden könnten.<br />
<strong>Die</strong> mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung ist danach wie folgt strukturiert809<br />
:<br />
(1) Abgrenzung der betroffenen Rechtspositionen (z.B. körperliche Unversehrtheit<br />
des potenziellen Opfers sowie Handlungsfreiheit des Eingriffsadressaten)<br />
und damit verbundenes staatliches Schutzkonzept;<br />
(2) Geeignetheit und Erforderlichkeit der Maßnahme zum Schutz der<br />
Rechtsposition (Untermaßverbot);<br />
808 Zum Entscheidungsspielraum der Verwaltung im Lichte des Gesetzesvorbehaltes:<br />
Calliess (FN 288), S. 583, 586; s.a. Teil 2 II.3.<br />
809 Calliess, JZ 2006, S. 321, 329<br />
220
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
(3) Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs in eine Rechtsposition<br />
(Übermaßverbot);<br />
(4) Alternativprüfung der Maßnahmen zu 2. und 3 gegenüber der jeweils<br />
anderen Rechtsposition sowie Gesamtabwägung der kollidierenden Belange,<br />
Zumutbarkeitsprüfung (Angemessenheit).<br />
3. Gerichtliche Kontrolle der multipolaren Entscheidung<br />
Im Anschluss an das geschilderte Prüfungsschema fragt sich also, welcher<br />
Kontrollmaßstab bei der gerichtlichen Prüfung sowohl der legislativen als<br />
auch der verfahrensmäßigen Erfüllung einer staatlichen Schutzpflicht angewendet<br />
werden muss.<br />
a) Legislatives Tätigwerden<br />
Bezogen auf legislatives Tätigwerden wurde angesprochen, dass das BVerfG<br />
dem Gesetzgeber in dem Zusammenhang unter Einhaltung der Vorgaben der<br />
Wesentlichkeitstheorie grundsätzlich einen breiten Gestaltungsspielraum bei<br />
der Wahrung der betroffenen Belange zubilligt. Eine weitergehende Überprüfung<br />
scheitert nicht etwa an der Reichweite von Schutzpflichten oder<br />
dem Abwägungsvorgang selbst. Wie schon in 2. Kapitel dargelegt, ist die<br />
Begrenzung richterlicher Kontrollmaßstäbe ein genereller Ausdruck der<br />
Gewaltenteilung. Grundsätzlich besagen Gewaltenteilung, Gesetzmäßigkeitsprinzip<br />
und das Bestimmtheitsgebot, dass allein der Gesetzgeber zur<br />
Entscheidung von abwägenden, politischen Fragestellungen berechtigt sein<br />
soll, nur er trägt dem Wähler und damit der Gesellschaft gegenüber unmittelbar<br />
Verantwortung. Er ist dafür rechenschaftspflichtig810 . Es geht allein<br />
um die Frage, ob der Gesetzgeber effektiv tätig geworden ist. In welcher<br />
Form, ist wegen seines Gestaltungs- und Prognosespielraums ihm überlassen811<br />
. Zunächst ging das BVerfG von einer bloßen Evidenzkontrolle aus,<br />
wonach nur das Fehlen von Maßnahmen oder offensichtlich ungeeignete gesetzgeberische<br />
Maßnahmen zu einer Verletzung der Schutzpflicht führen812 .<br />
Einen differenzierteren Prüfungsmaßstab legt das BVerfG zu Grunde. Es unterscheidet<br />
bei der Kontrolle des Gesetzgebers zwischen Evidenz-, Vertret-<br />
810 Vgl. Teil 2 II.2.a)<br />
811 Vgl. Isensee (Fn 527), S. 53; so steht dem Gesetzgeber im allgemeinen im Rahmen<br />
von Berufsausübungsregeln ein erheblicher Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum<br />
zu: vgl. BVerfGE 39, 210 (225 f.); 77, 84 (106); 77, 308 (322) , s.a. Differenzierung<br />
in BVerfGE 7, 377, 417 – Apothekenurteil<br />
812 BVerfGE 79, 174, 254 - Straßenverkehrslärm; BVerfGE 56, 54, 89 - Fluglärm<br />
221
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
barkeits- und Inhaltskontrolle, je nach Gewichtung des betroffenen Rechtsgutes<br />
und der Komplexität der gesetzgeberischen Prognose zur gebotenen<br />
Reichweite des Eingriffs813 . Gerade infolge der Entwicklungen zur Schutzpflichtendiskussion<br />
und zur Begründung von subjektiv-öffentlichen Abwehransprüchen<br />
wurde mit der Vertretbarkeitslehre, also der Forderung vertretbarer<br />
Wertungen und Tatsachenermittlung, ein strengerer Prüfungsmaßstab<br />
entwickelt. Ist nur eine Entscheidung vertretbar, gleicht dies einer Inhaltskontrolle.<br />
Insoweit ist auch die Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens<br />
der richterlichen Überprüfung zugänglich. Aufgrund der zur Gleichgewichtung<br />
von Abwehrrecht und Schutzpflichten bereits getroffenen Aussagen<br />
muss aber auch bei der gerichtlichen Prüfung sichergestellt sein, dass<br />
der Evidenz- oder Vertretbarkeitsmaßstab für Über- und Untermaßverbot<br />
gleichermaßen, also kongruent angewendet wird814 . Eine Verdichtung der<br />
Evidenzkontrolle hin zu einer Vertretbarkeitskontrolle oder gar Inhaltskontrolle<br />
ist aber nur ganz ausnahmsweise möglich815 . Konkretisierende Anhaltspunkte<br />
zu diesen begrenzten Ausnahmen ergeben sich nach schon angeführten<br />
Entscheidungen des BVerfG aus dem jeweiligen Sachbereich selbst<br />
und der Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter816 .<br />
Eine wichtige Rolle für die Prüfungstiefe spielen auch die Schranken-<br />
Schranken der Verfassung. Der Gesetzgeber selbst unterliegt danach bei<br />
Grundrechtseingriffen Einschränkungen. Insbesondere die Wesensgehaltsgarantie<br />
der Grundrechte nach Art. 19 Abs. 2 GG bestimmt einen materiellen<br />
Mindestinhalt der Freiheitssicherung, wonach ein Kernbereich der jeweiligen<br />
Grundrechte unantastbar bleiben soll. <strong>Die</strong> Reichweite des Wesensgehaltes<br />
ist umstritten, letztlich geht es aber um die Wahrung der den Grundrechten<br />
zugewiesenen Kernfunktion817 . Neben diesen absoluten Wesensgehalt<br />
tritt der relative Wesensgehalt, der über die Güterabwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
zu sichern ist, hierbei müssen auch die grundrechtlichen<br />
Schutzpflichten beachtet werden818 . <strong>Die</strong> Kriterien des richterlichen<br />
Prüfungsmaßstabes können damit wie folgt zusammengefasst werden: <strong>Die</strong><br />
Größe der Kontrolldichte hängt vom personalen Bezug und der Wertigkeit<br />
813 Vgl. dazu schon Teil 3 IV.2.b)ee); zu den divergierenden Prüfungsmaßstäben vgl.<br />
BVerfGE 50, 290, 332 f. - Mitbestimmungsgesetz<br />
814 Zum Gebot der kongruenten Kontrolldichte von Abwehrrecht und Schutzpflicht,<br />
Calliess (FN 288), S. 463, S. 587<br />
815 So Möstl, DÖV 1998, S. 1029, 1038<br />
816 Beispielhaft BVerfGE 88, 203, 265 - Schwangerschaftsabbruch II (vgl. FN 782)<br />
817 Hinweis auf diverse BVerwGE und BVerfGE sowie Literaturauffassungen: Bleckmann,<br />
Staatsrecht II, <strong>Die</strong> Grundrechte, § 12 Rn 152<br />
818 Vgl. Zippelius/Würtenberger (FN 339), S. 191 ff.<br />
222
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
der betroffenen Rechtsgüter, der Eigenart der Materie sowie der Eingriffsintensität<br />
ab. Bei Prognose- und Abwägungsentscheidungen ist die Kontrolldichte<br />
reduziert. Hier scheidet eine Inhaltskontrolle aus 819 .<br />
b) Kontrolle der Genehmigungsentscheidung<br />
Verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe sind regelmäßig dem Eingriffsadressaten<br />
vorbehalten, im Falle des Genehmigungsverfahrens also dem Antragsteller.<br />
Zumeist fehlt es an einer drittschützenden Normqualität zugunsten eventuell<br />
betroffener Dritter. <strong>Die</strong> Voraussetzungen für entsprechende Ausnahmen<br />
wurden bereits erörtert. Der Ausweitung des Schutzgedankens wirkt im Falle<br />
der Kombination mit dem dynamischen Charakter des Vorsorgeprinzips in<br />
erheblicher Weise kompetenz- und eingriffserweiternd. <strong>Die</strong> entsprechenden<br />
Bedenken zum Präventionsstaat wurden bereits angesprochen820 . Das<br />
Rechtsstaatsprinzip und dessen gegenläufig wirkenden materiellen Grundrechtsgewährleistungen<br />
führen zwangsläufig zu einem erhöhten Spannungsverhältnis<br />
der Belange. Auch innerhalb des Rechtsstaatsprinzips kommt es<br />
zum Konflikt zwischen seinem einerseits wahrenden und andererseits dynamischen<br />
Charakter, der sich auf die Ermöglichung von gesellschaftlichen<br />
Fortschritt und Wandel bezieht. Hinzu kommt seine Auftrags- und Rechtfertigungsfunktion821<br />
. <strong>Die</strong>ser Konflikt ist bei der Kompetenzabgrenzung staatlicher<br />
Gewalten zu berücksichtigen.<br />
Grundsätzlich ist der Handlungsspielraum der Exekutive geringer als der des<br />
Gesetzgebers, da diese auch durch einfachgesetzliche Vorgaben gebunden<br />
ist. In diesem Bereich spielen auch die verfassungsrechtlich gebotenen Konkretisierungsnormen<br />
eine wichtige Rolle822 . <strong>Die</strong> hierdurch eingeschränkten<br />
strukturellen Spielräume der Verwaltung zeichnen sich durch die Abwesenheit<br />
von Ge- und Verboten aus. Dabei müssen Zwecksetzungs-, Mittelwahlund<br />
Abwägungsspielräume unterschieden werden. Daneben treten die auf<br />
unsicherer Erkenntnis basierenden Spielräume (epitemistische Spielräume),<br />
die entweder auf empirischen oder aber auch normativen Erkenntnisdefiziten<br />
beruhen können. Gerade diese Entscheidungsspielräume sind verfassungsrechtlich<br />
kontrovers. Sie werden mit dem Grundsatz der Je-desto-<br />
Formel eingeschränkt. <strong>Die</strong> zulässige Eingriffsintensität hängt danach von<br />
der Schadensgewichtung ab823 . Das Verwaltungsermessen wird durch die<br />
819 Siehe auch Schuppert, AÖR 120, 1995, S 32, 91 f.<br />
820 Vgl. Teil 3 II.<br />
821 Calliess (FN 288), S. 244, 250<br />
822 Vgl. Teil 2 III.2.b)bb)<br />
823 Alexy, VVDStRL 61/2001, S. 7, 15 ff., 28<br />
223
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Reichweite der grundrechtlichen Schutzpflichten gesteuert824 . Hierbei werden<br />
auch die Parallelen zum Prüfungsmaßstab bei Gefahrensituationen deutlich,<br />
wonach die Rechtsgutqualität und Eingriffsintensität miteinander korrelieren.<br />
Der infolge der Gefahren- und Risikobewertung bestehende Entscheidungsspielraum<br />
bzw. Abwägungsspielraum ist grundsätzlich nicht der gerichtlichen<br />
Kontrolle zugänglich. Im Zusammenhang mit unbestimmten Rechtsbegriffen,<br />
wie z.B. Ermessen, räumt der Gesetzgeber der Exekutive das<br />
Recht ein, von ihm getroffene Abwägungen zu Ende zu führen, so auch im<br />
Bereich der Risikoermittlung und -bewertung. Eine über die Verpflichtung<br />
zur ermessensfehlerfreien Entscheidung hinausgehendes Bescheidungsurteil<br />
i.S.v. § 113 Abs. V VwGO scheitert wegen der regelmäßig fehlenden<br />
Spruchreife i.V.m. der gebotenen Ermittlung von Tatsachengrundlagen, für<br />
die gerade bei komplexen Sachfragen, Zweckmäßigkeitserwägungen und<br />
politischen Einschätzungsspielräumen regelmäßig die Behördenkompetenz<br />
bemüht werden muss825 . Wegen der Prognosequalität risikoorientierter Entscheidungen<br />
trägt die Exekutive hier aus Sicht des Gesetzgebers grundsätzlich<br />
die Letztverantwortung. <strong>Die</strong> richterliche Kontrolle ist schon deshalb begrenzt,<br />
weil die Grenzen des gesetzlich Normierbaren eine grundsätzliche<br />
Teilverantwortung der Exekutive für die Risikoermittlung und -bewertung<br />
implizieren. <strong>Die</strong> vorsorgeimmanente und infolge defizitärer wissenschaftlicher<br />
Erkenntnisse praktische Unmöglichkeit präziser gesetzlicher Vorgaben<br />
führt zu einem Fehlen richterlicher Überprüfungsmaßstäbe. <strong>Die</strong> reduzierte<br />
gerichtliche Kontrolle muss sich deshalb auf den Prozess der Risikoermittlung<br />
und Einbeziehung des vorhandenen Wissens sowie die Einhaltung des<br />
Verfahrens beschränken826 . Es kann auf die zu Beurteilungsspielräumen erörterten<br />
Grundsätze verwiesen werden, wonach eine nur begrenzte richterliche<br />
Kontrolle stattzufinden hat827 . Das Gericht beschränkt sich demnach auf<br />
eine dem § 114 VwGO entsprechende Kontrolle der allgemeinen Rechtsprinzipien,<br />
insbesondere eine Willkürkontrolle.<br />
Das BVerwG spricht in dem Kontext von einem Funktionsvorbehalt der Genehmigungsbehörde828<br />
. <strong>Die</strong> richterliche Überprüfung risikosteuernder Konkretisierungsvorschriften<br />
beschränkt sich auf die zutreffende und vollständi-<br />
824 Isensee (FN 527), S. 54<br />
825 So Wahl, NVwZ 1991, S 409, 411; vgl. dazu auch Kopp, Kommentar zur VwGO, §<br />
113 Rn 195, 199<br />
826 Wahl, in: ders. (FN 300), S. 144 f.<br />
827 Vgl. Teil 2 II.3.b)cc)<br />
828 BVerwGE 106, 155, 122<br />
224
IV. Schutzanspruch und Freiheitsbeschränkung<br />
ge Sachverhaltsermittlung sowie eine zutreffende Anwendung des gesetzlichen<br />
Rahmens der Beurteilungsermächtigung829 . Überdies dürfen keine<br />
zweckfremden Erwägungen in die Beurteilung eingestellt werden. <strong>Die</strong> Gerichte<br />
sind auf die Prüfung beschränkt, dass sie willkürfrei festgelegt wurden<br />
und die Verwaltungsbehörde von einer hinreichend konservativen Abschätzung<br />
der risikorelevanten Parameter ausgehen durfte830 . Nur evidente Verstöße<br />
gegen wissenschaftliche Erkenntnisse würden zur Rechtswidrigkeit<br />
der Entscheidung führen. <strong>Die</strong>s wäre beispielsweise der Fall, wenn die bei<br />
der Entscheidung zu Grunde gelegten Studien bereits nicht mehr aktuell waren.<br />
Insoweit ist auch die Beteiligung des externen Sachverstandes beim Zustandekommen<br />
der Vorschriften von Bedeutung.<br />
Über die Verhältnismäßigkeitskontrolle eröffnen sich gleichwohl gewisse<br />
Prüfungskompetenzen zur Frage der hinnehmbaren Risiken. <strong>Die</strong>s setzt dem<br />
Handlungsspielraum der Exekutive Grenzen. Mit Blick auf die verbleibende<br />
Unbestimmtheit der gesetzlichen Regelungen wirkt schließlich auch die Information<br />
und Beteiligung der Betroffenen im Verfahren kompensierend831 ,<br />
so dass eine geringere Kontrolldichte auch aus Sicht der potenziell schutzwürdigen<br />
Belange akzeptabel erscheint.<br />
c) Ergebnis<br />
Risikoorientierte Entscheidungen mit Prognosecharakter unterliegen einer<br />
eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Wie bei den Lehren zu Ermessensfehlern<br />
und Beurteilungsspielräumen festgestellt, beschränken sich die Kontrollen<br />
auf die Einhaltung des Verfahrens sowie die Beachtung übergeordneter<br />
Rechtsprinzipien. Hierzu gehören insbesondere Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
und Willkürverbot. <strong>Die</strong> im Verhältnismäßigkeitsprinzip angelegte<br />
Interessenabwägung eröffnet dennoch erhebliche gerichtliche Prüfungskompetenzen.<br />
Gerade die im Rahmen des multipolaren Prüfungsansatzes unter<br />
Beachtung von Über- und Untermaßverbot vorgesehene Effektuierung der<br />
geeigneten und erforderlichen Schutzkonzepte ermöglicht dem Gericht eine<br />
Vertretbarkeitskontrolle der Maßnahme. Sie beinhaltet nicht nur den Normzweck,<br />
sondern auch die Optimierung der Durchsetzbarkeit betroffener Belange.<br />
Dem Entscheidungsspielraum der Verwaltung setzt dies Grenzen.<br />
829 BVerwG, Krankenhausbedarfsplan-Entscheidung, in: BVerwGE 72 (1986), 38 (54)<br />
830 BVerwG, Wyhl-Entscheidung (FN 650), S. 300 (321)<br />
831 Calliess, JZ 2006, 321, 329, siehe dazu auch schon Teil 2 III.2.b)cc)<br />
225
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
4. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
Es bleibt festzustellen, dass Risikovorsorge und Gefahrenabwehr zwei voneinander<br />
abgrenzbare Bereiche der Schadenprävention bilden. Aus dem Gefahrenabwehrstaat<br />
wird zunehmend ein Risikovorsorgestaat832 . <strong>Die</strong> mit der<br />
Vorverlagerung des staatlichen Schutzes verbundene Rechtfertigung wird<br />
mit einem verschärften sicherheitstechnischen Postulat begründet. Unzumutbare<br />
Schäden müssen trotz Ungewissheit verhindert werden. Der Grundsatz<br />
der Verhältnismäßigkeit weist die Vorsorgverpflichtung gleichzeitig in<br />
die Schranken. Hier gilt der Maßstab wissenschaftlicher und praktischer Erkenntnisse<br />
und Erfahrungen833 . <strong>Die</strong> gänzliche Vermeidung von Schäden ist<br />
aber auch mit dem Vorsorgeprinzip nicht möglich.<br />
Bei der Risikovorsorge geht es nicht nur um ein Begrenzungs- und Kontrollrecht<br />
entsprechend dem staatlichen Schutzauftrag, sondern auch ein Ermöglichungsrecht<br />
zugunsten des fortschrittlichen Handelns. Es bedarf eines<br />
Ausgleichs der beteiligten grundrechtlichen Positionen. Mit dem Maßstab<br />
des Untermaßverbotes wird ein verfassungsrechtlich gebotener Mindeststandard<br />
für das schützenswerte Interesse etabliert, der mit dem Übermaßverbot<br />
auf Seiten des Begünstigten korrespondiert. Beide Interessen müssen<br />
in dem Rahmen gegeneinander abgewogen werden. <strong>Die</strong> gerichtliche Kontrolle<br />
der Erfüllung dieser Pflichten richtet sich, bezogen auf legislatives Tätigwerden<br />
nach dem Vertretbarkeitsmaßstab, hinsichtlich administrativer<br />
Entscheidungen nach den für die Ermessensfehlerlehren entwickelten<br />
Grundsätzen. <strong>Die</strong> multipolare Verhältnismäßigkeitsprüfung und übergeordnete<br />
Verfassungs- bzw. Gemeinschaftsrechtsprinzipien beschränken bestehende<br />
Entscheidungsspielräume.<br />
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
In Teil 1 der Arbeit wurde festgestellt, dass die Eingriffsschwelle von Exportkontrollen<br />
noch näher bestimmt werden muss, insbesondere mit Blick<br />
auf die Formulierung „sachdienliche Erwägungen“ in Art. 8 Dual-use-VO<br />
und den Begriff der „Gefährdung“ in §§ 3, 7 AWG. Ob eine Zuordnung der<br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungserfordernisse zum Bereich der Gefahrenabwehr<br />
oder aber der Risikovorsorge zugeordnet werden kann, richtet<br />
sich nicht allein nach Wortlaut der Ermächtigungsnormen. <strong>Die</strong> Bestimmung<br />
der Eingriffsschwelle orientiert sich auch am Schutzzweck der Kontrollen.<br />
Der systematische Ansatz der Kontrollen bietet hierfür ebenfalls Hinweise.<br />
832 Calliess (FN 288), S. 97<br />
833 Germann (Fn 569), S. 38, 48<br />
226
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Nachdem bei der Umsetzung von <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten<br />
bisher auf den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff zurückgegriffen<br />
wird, verdienen zunächst die möglichen Parallelen zum Polizeirecht eine<br />
nähere Betrachtung. Dem gegenüber steht die ordnungsrechtliche Strukturierung<br />
der Genehmigungsverfahren, die eine Bezugnahme nicht nur auf<br />
Gefahren, sondern auch auf Risiken durchaus rechtfertigen könnten. Eine<br />
erweiterte Interpretation des Gefahrenbegriffs, d.h. eine Vorverlagerung von<br />
Abwehrmaßnahmen auf die Risikoebene könnte aufgrund der teilweise sehr<br />
offenen Formulierung der Tatbestände wie auch häufig bestehender Erkenntnisdefizite<br />
bzw. Ungewissheit möglich sein834 . <strong>Die</strong> Dynamik des Sicherheitsrechts<br />
wird nicht nur im technischen Sicherheitsrecht des Umwelt-,<br />
Gesundheits- und Verbraucherschutzes deutlich. Gerade in Bereichen des<br />
Ordnungsrechts, die in der Vergangenheit noch als spezielles Polizeirecht<br />
eingestuft wurden, gehen die gesetzlichen Normierungen inzwischen weit<br />
über die Gefahrenabwehr hinaus. Präventive Ansätze in Form von Genehmigungspflichten<br />
wurden auf die Risikovorsorge ausgeweitet. <strong>Die</strong>se Entwicklung<br />
soll den Anforderungen an die zunehmende Vernetzung, Komplexität<br />
und gegenseitige Abhängigkeit bestimmter Sachbereiche Rechnung<br />
tragen, auch im internationalen Kontext835 . <strong>Die</strong> zum Vorsorgeprinzip angestellten<br />
Überlegungen sind in diese Untersuchung einzubeziehen. Daher soll<br />
geprüft werden, welche Lehren bzw. Grundsätze für <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />
aus anderen sicherheitsrechtlichen Bereichen auf die Exportkontrollen übertragbar<br />
erscheinen.<br />
Nach einer Konkretisierung der Eingriffsschwelle sollen die verfassungsrechtlichen<br />
Grenzen des Eingriffs und die damit einhergehenden Anforderungen<br />
an die Verwaltung näher bestimmt werden.<br />
1. Risiko und Vorsorgeprinzip im Polizeirecht<br />
Mit komplexeren Waffensystemen und asymmetrischen Bedrohungen, wie<br />
dem grenzüberschreitenden Terrorismus. bestehen bei Exportkontrollen Verknüpfungen<br />
zu Fragen der äußeren und inneren Sicherheit. Das Vorsorgeprinzip<br />
und dessen Bedeutung für die vorgelagerte Gefahrenabwehr könnten<br />
also auch in diesem Bereich eine wichtige Rolle für die Umsetzung staatlicher<br />
Sicherheitsgewährleistungen spielen. <strong>Die</strong>s aber würde eine Abkehr vom<br />
Konzept der Eingriffsermächtigung aufgrund konkreter Gefahren erfordern,<br />
wie es im Polizeirecht für die Wahrung der inneren Sicherheit entwickelt<br />
834 Vgl. Teil 1 II.5.e)<br />
835 So auch Kugelmann (FN 138), S. 30 Rn 125 f.<br />
227
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
wurde. An dessen Stelle würde die umfassende Risikovorsorge treten. Zunächst<br />
muss daher untersucht werden, ob im Polizeirecht selbst eine Entwicklung<br />
hin zu einer erweiterten Auslegung des Gefahrenbegriffs festgestellt<br />
werden kann.<br />
a) Subjektivierung der Gefahr und vorbeugende Prävention im Polizeirecht<br />
Sicherheit wurde im Polizeirecht bisher in Form der Abwesenheit von Gefahren<br />
definiert. Auf den durch das Kreuzbergurteil des PrOVG geprägten<br />
klassischen Gefahrenbegriff sowie dessen Bezugspunkt, die öffentliche Sicherheit<br />
und Ordnung sowie die dahinter stehenden Individualbelange und<br />
staatlichen Institutionen, wurde bereits eingegangen. Bei der Feststellung<br />
einer Gefahrensituation kommt es insbesondere auf das Wahrscheinlichkeitskriterium<br />
an. Das erfordert einen Kausalzusammenhang zwischen<br />
Schaden und Ursache. <strong>Die</strong>ser objektive Befund wird durch einen Trend der<br />
Versubjektivierung relativiert. Ziel der Befürworter dieser Entwicklung ist<br />
es, mehr Abwägungsspielraum und flexibleres Handeln der Polizei zu ermöglichen.<br />
Hierbei wird bereits tatbestandsmäßig die Verantwortung für das<br />
Entstehen vermeintlicher Gefahren auf den Eingriffsadressaten abgewälzt836 .<br />
Ein weiterer Wandel hat sich mit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
vollzogen837 . Es bejaht eine Eingriffsbefugnis in das Recht<br />
auf informationelle Selbstbestimmung. <strong>Die</strong>ses Recht wurde zwar unter Gesetzesvorbehalt<br />
gestellt. <strong>Die</strong> Rechtfertigung eines Eingriffs in das Schutzgut<br />
ist also bei Vorliegen überwiegender Allgemeininteressen möglich. Mit Einführung<br />
informationsrechtlicher Befugnisse im Rahmen „vorbeugender<br />
Straftatenbekämpfung“ erfolgte eine Abkehr vom klassischen Gefahrenbegriff.<br />
Der Begriff der Straftatenverhütung wurde etabliert. <strong>Die</strong> Einstellung<br />
kollektiver Interessen in die Abwägung ist zwar nicht neu838 , mit dem Volkszählungsurteil<br />
aber wurde die Gemeinschaftsbezogenheit der Grundrechtsgewährleistungen<br />
erstmals einem eigenständigen Rechtsgut gleichgestellt.<br />
<strong>Die</strong> Eingriffsbefugnis wird schließlich über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit<br />
und dem daraus abzuleitenden Erfordernis hinreichender organisatorischer<br />
wie verfahrenstechnischer Vorkehrungen beschränkt839 .<br />
836 So Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 1 Rn 30, zu den Abgrenzungen des Gefahrenbegriffs<br />
vgl. Teil 3 II.4.a)<br />
837 Volkszählungsurteil, BVerfGE, 65, 1 ff.<br />
838 BVerfGE 4, 7 (15); 8, 274 (329); 27, 344 (351 f.); 50, 290 (353), 56, 37 (49)<br />
839 Volkszählungsurteil, BVerfGE, 65, 1 (44)<br />
228
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Dennoch, infolge dieser Rechtsprechung wurde auch im Polizeirecht eine<br />
Tendenz bestätigt, die Aufgaben der Gefahrenabwehr auf das Vorfeld einer<br />
Straftat auszuweiten. Nunmehr war dokumentiert, dass eine Rechtfertigung<br />
von grundrechtsrelevanten Eingriffen auch in diesem frühen Präventionsstadium<br />
möglich ist. In Verbindung mit der Zunahme organisierter Verbrechensbekämpfung<br />
entwickelten sich auch die praktischen Bedürfnisse, den<br />
Sicherheitserwartungen der Allgemeinheit zu entsprechen840 . <strong>Die</strong> Vorsorgediskussion<br />
hat zwischenzeitlich das gesamte Sicherheitsrecht erfasst. Gerade<br />
bei der Kriminalprävention sorgen organisierte und zunehmend komplexere,<br />
schwer zu identifizierende Kriminalität, grenzüberschreitende Netzwerke,<br />
die Nutzung von anonymen Kommunikationsmitteln wie Internet und Mobilfunk,<br />
aber auch die Terrorismusprävention für den Ruf nach einem „stärkeren“<br />
Staat.<br />
Dazu trägt auch die Medientransparenz bei, die zu einer stärkeren Verunsicherung<br />
der Bevölkerung führt. Aktuelles Beispiel hierfür sind die Äußerungen<br />
des Bundesinnenministers, der den Blick in die Köpfe künftiger Täter<br />
werfen und solche „Gefährder“ auf der Grundlage des Begriffs der „Gefahrengefahr“<br />
frühzeitig, auch ohne konkrete Verdachtsmomente, stoppen<br />
will. Dabei soll eine zentrale Anti-Terrror-Datei mit Daten aus den Einwohnermelderegistern<br />
oder von den Mautbrücken der Autobahnen gespeist werden841<br />
. Von dieser aus verfassungsrechtlicher Sicht höchst sensiblen Diskussion<br />
werden auch viele andere Bereiche der Kriminalität erfasst. <strong>Die</strong>se Tendenz<br />
erscheint aber wegen der soeben genannten Hürden für den Rechtsstaat<br />
gefährlich, da viele, an sich nicht risikorelevante Gruppen, durch vorgelagerte<br />
Eingriffe betroffen sind und deren Rechte zum Teil erheblich beeinträchtigt<br />
werden.<br />
<strong>Die</strong> Polizeigesetze der Länder sehen heute neben der klassischen Gefahrenabwehr<br />
auch Eingriffsbefugnisse zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten<br />
oder zur Vorbereitung künftiger Gefahrenabwehrmaßnahmen vor. Soweit<br />
hinreichende Anhaltspunkte für künftige Rechtsgutsverletzungen<br />
(durch Kriminelle) gegeben sind, wird damit beispielsweise eine verstärkte<br />
Polizeipräsenz gerechtfertigt. Hierunter fallen auch erkennungsdienstliche<br />
Maßnahmen oder das Vorhalten von Daten842 . Gerade in Bereichen der Datenerhebung<br />
und Identitätsfeststellung kommt es zu einer immer stärkeren<br />
Überschneidung von Aufgaben der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr.<br />
840 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 1 Rn 32 ff.<br />
841 Spiegel Nr. 16/ 2007, S. 25; sowie Artikel „Empörung über Schäubles Abkehr von<br />
der Unschuldsvermutung“, Spiegel-Online v. 18.04.2007<br />
842 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 5 Rn 4 ff.<br />
229
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
<strong>Die</strong>se zur polizeilichen Ermittlungstätigkeit zählenden operativen Handlungen<br />
erfolgen im Vorfeld einer konkreten Gefahr oder angesichts des Verdachts<br />
einer Straftat843 . <strong>Die</strong> soeben geschilderten Pläne zur Terrorismusbekämpfung<br />
stellen diese Voraussetzungen in Frage.<br />
Vergleichbare Diskussionen gibt es in einer Reihe von Bereichen, wie den<br />
Grenzen der telefonischen Überwachung, zu den Voraussetzungen von Versammlungsverboten<br />
oder beim generellen Datenabgleich verschiedener Sicherheitsbehörden.<br />
An der Stelle kommt es bei der traditionellen rechtsdogmatischen<br />
Begründung der Gefahrenabwehr zu einem Systembruch. Erweiterte<br />
Interpretationen der Aufgabenzuweisung, wie auch bei Befugnissen,<br />
führen zu bereichsspezifischen Ausdifferenzierungen, die von den Strukturmerkmalen<br />
des Gefahrenbegriffs abweichen844 . So wird auch von der Sicherheitsvorsorge<br />
als dritter Säule der Kriminalprävention gesprochen. Sie<br />
trete neben Gefahrenabwehr und Strafverfolgung und ist in Abgrenzung zu<br />
soziologischen und gesellschaftspolitischen Präventionstätigkeiten oder der<br />
täterbezogenen Gefahrenabwehr lediglich situationsbezogen. <strong>Die</strong> Sicherheitsvorsorge<br />
werde zur gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Das Quasimonopol<br />
der Polizei würde aufgebrochen. <strong>Die</strong> durch das BVerfG im Brokdorf<br />
Urteil845 beschriebene Funktion der Polizei als Mediator würde damit<br />
auch konzeptionell aufgegriffen und durch kooperative Ansätze ergänzt, z.B.<br />
mit Kommunen, zivilen Institutionen und der Wirtschaft erfüllt. Polizeiliches<br />
Handeln und innere Sicherheit würden aufgrund der empirischanalytischen<br />
Betrachtung, wie das soziale und technische Sicherheitsrecht,<br />
zum Risikoverwaltungsrecht846 . <strong>Die</strong>s sei über die Ermächtigung des Rates<br />
zu Maßnahmen der Kriminalitätsverhütung gem. Art. 61a EG auch auf EU-<br />
Ebene vorgesehen und wird dort in vielen Gremien, wie dem Ausschuss der<br />
Regionen und beim Europarat, thematisiert847 .<br />
Im Übrigen muss aber festgestellt werden, dass die gemeinschaftsrechtliche<br />
Dimension des Polizeirechts sich bisher auf eine mittelbare Einflussnahme<br />
aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Konformitätsvorbehalts bzw. Effektivitätsgebotes<br />
beschränkt. <strong>Die</strong> Gemeinschaftsrechtsprinzipien führen zu einer<br />
modifizierten Interpretation der Begriffe öffentliche Sicherheit und Ordnung.<br />
Gemeinschaftsrechtlich geschützte Rechtsgüter werden erfasst und<br />
843 Albers (FN 597), S. 93, 111<br />
844 Ebenda, S. 68<br />
845 BVerfGE 69, 315, 355<br />
846 Pitschas, Öffentliche Sicherheit durch Kriminalprävention und Polizeirecht im kooperativen<br />
Staat, in ders., Kriminalprävention und Neues Polizeirecht, 14, 241 ff.<br />
847 Ebenda, S.17<br />
230
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
sind im Lichte der Gemeinschaftsprinzipien zu interpretieren, z. B. mit Blick<br />
auf das Diskriminierungsverbot oder die schutzrechtliche Dimension der<br />
Grundfreiheiten. Der EuGH nimmt hier eine Interessenabwägung vor848 .<br />
<strong>Die</strong> Tendenz vorsorgender Verbote bestätigt das BVerfG in einem jüngeren<br />
Beschluss, in dem es insgesamt drei Anträge von Globalisierungskritikern<br />
gegen die Versammlungsbeschränkungen der Polizei im Rahmen einer<br />
Sperrzone beim Heiligendamm-Gipfel und deren Bestätigung durch das<br />
OVG Greifswald nicht aufgehoben hat. Zwar hat es das Vorgehen der Polizei<br />
kritisiert, aber aufgrund der nachträglich eingetretenen Entwicklungen,<br />
insbesondere der gewalttätigen Auseinandersetzungen im Vorfeld des Gipfels,<br />
mit der Absage der Versammlung keinen schweren Nachteil für die Antragsteller<br />
feststellen können849 . Allerdings stellt sich die Frage nach der<br />
Legitimität vorsorgender Polizeitätigkeit. Nur mit Mühe können die o.g.<br />
Eingriffsermächtigungen noch unter den „abstrakten“ Gefahrenbegriff gefasst<br />
werden. Sie müssen sich auf eine zumindest konkretisierbare Gruppe<br />
bestimmter Personen beziehen und eine Wahrscheinlichkeitsprognose noch<br />
möglich erscheinen lassen.<br />
<strong>Die</strong> klassischen, vom preußischen OVG geprägten Merkmale der Gefahrenabwehr<br />
sind infolge dieser Entwicklungen nicht mehr bei allen polizeilichen<br />
Eingriffsermächtigungen erkennbar. Im Rahmen moderner Verbrechensbekämpfung<br />
und neuer polizeilicher Präventivstrategien erfolgt schließlich mit<br />
der zunehmenden Gefahren- und Informationsvorsorge eine eingriffserweiternde<br />
Ausdehnung der Ermächtigungsnormen. <strong>Die</strong> dabei verwendeten Begriffe<br />
sind aus sich selbst heraus wenig verständlich, so dass eine Eingrenzung<br />
für erforderlich erachtet wird. Neben der begrifflichen Präzisierung<br />
über den „vorbeugenden“ Charakter einer Maßnahme werden funktionsund<br />
bereichsspezifische Abgrenzungsversuche unternommen. Allgemeine<br />
Umschreibungsversuche erzeugen aber neue Unschärfen. Unklar bleiben die<br />
Kriterien für die gegenüber der konkreten Gefahr erfolgende Vorverlagerung<br />
der Eingriffsschwelle. In jüngerer Zeit wurde deshalb ebenfalls diskutiert,<br />
ob nicht auch die Abwesenheit von Risiken in den modernen Sicherheitsbegriff<br />
und damit auch in das Polizeirecht zu integrieren sein sollte850 . Das<br />
BVerfG hatte im Volkszählungsurteil zunächst ohne Bezugnahme auf das<br />
Vorsorgeprinzip über konkrete organisatorische und verfahrenstechnische<br />
848 Lindner, JUS 2005, 305, 306, s.a. zu den Begriffen der öffentlichen Sicherheit und<br />
Ordnung Teil 4 II.a)aa) sowie zu den Schutzpflichten Teil 3 II.c)cc)<br />
849 BVerfG, Pressemitteilung Nr. 64/2007 vom 6. Juni 2007 zum Beschluss vom 6. Juni<br />
2007 – 1 BvR 1423/07 –<br />
850 Albers (FN 597), S.182<br />
231
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Vorgaben für die Verhältnismäßigkeit des Eingriffes versucht, dem Rechtsstaatsprinzip<br />
trotz Vorverlagerung der Gefahrenabwehr zum Erfolg zu verhelfen.<br />
Bei der Vorsorgediskussion geht es weniger um die Frage des Eingriffszeitpunktes<br />
als um die Frage einer Anerkennung bestehender Erkenntnisdefizite.<br />
Allein diese werden für die Rechtfertigung des Vorsorgebedarfs angeführt.<br />
Um dem modernen Profil der polizeilichen „Vorfeldtätigkeiten“ sowie den<br />
notwendigen konzeptionellen und kooperativen Ansätzen gerecht zu werden,<br />
müsse das Polizeirecht angepasst werden. Es wird durchaus hingenommen,<br />
dass sich die kriminalpräventive Risikovorsorge in einem Steuerungsdilemma<br />
befindet und trotz kompensatorischer Ansätze zum Risikomanagement<br />
eine rechtliche Struktur der Risikosteuerung nur bedingt möglich<br />
ist851 . Letztlich werden die am Freiheitsbegriff orientierten verfassungsrechtlichen<br />
Schwächen dieser Ansätze deutlich, so dass die überwiegende<br />
Rechtsauffassung polizeiliche Eingriffsermächtigungen zu Recht an das Vorliegen<br />
einer zumindest abstrakten Gefahr knüpft, wenngleich diese nicht auf<br />
ein bestimmtes Rechtsgut fokussiert ist. <strong>Die</strong>se ist gegeben, wenn fachkundige<br />
Stellen nach allgemeiner Lebenserfahrung eine Sachlage für möglich halten,<br />
die im Falle des Eintritts einer konkreten Gefahr gleicht. <strong>Die</strong> Möglichkeit<br />
bezieht sich auf einen vorhersehbaren Kausalablauf852 . Maßnahmen, die<br />
trotz über diese Möglichkeitsprognose hinausgehende Erkenntnisdefizite<br />
stattfinden, sind dem Risikobereich zuzuordnen.<br />
<strong>Die</strong> außenpolitischen und völkerrechtlichen Aspekte der „Gefahrenabwehr“<br />
sind für die Interpretation des modernen Polizeirechts ebenfalls von Bedeutung.<br />
<strong>Die</strong> Funktionalität des Präventionsstaates hängt nicht mehr allein von<br />
der Effizienz der polizeilichen und nachrichtendienstlichen Institutionen ab,<br />
sondern vor allem auch dem Funktionieren der internationalen Beziehungen853<br />
. Mit der Philosophie des „preemptive strikes“ sowie der infolge von<br />
9/11 ausgebauten Institutionen und Instrumente zur Terrorismusprävention<br />
verfolgen zumindest die USA das Ideal absoluter Sicherheit. Das wirkt sich<br />
auf die Entwicklungen in Europa aus. <strong>Die</strong>se Übersteigerung des Sicherheitsdogmas<br />
wurde in Teilen auch durch die terroristischen Anschläge in Europa<br />
befördert. Ergebnis ist ein erheblicher Druck auf die internationalen Institutionen,<br />
entsprechende Verfahren in den dort eingebundenen Nationalstaaten<br />
zu etablieren. <strong>Die</strong>s gilt sowohl für den Informationsaustausch wie<br />
auch eine entsprechende Handlungsfähigkeit bei im präventiven Sinne si-<br />
851 Pitschas (FN 846), S. 265<br />
852 So die von Götz geprägte Auffassung: Götz (FN 588), S. 58<br />
853 Denninger, (FN 345), S. 230<br />
232
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
cherheitsrelevanten Hinweisen. Der umfassenden staatlichen Informationsvorsorge<br />
folgt der Anspruch umfassender „Gefahrenvorsorge“, die faktisch<br />
einer polizeilichen Risikosteuerung nahe kommt 854 . <strong>Die</strong>se Tendenzen drohen<br />
die jahrelangen Bemühungen zum Schutz personenbezogener Daten, die<br />
z.B. über die Auslegung von Art. 8 EMRK oder durch den Art. 8 der EU-<br />
Grundrechte-Charta unternommen wurden, zu unterlaufen. Andererseits<br />
wird am Beispiel der Nutzung „schmutziger Bomben“ die Gefahr gesehen,<br />
dass bei der missbräuchlichen Nutzung technischer Risiken aus der Risikogesellschaft<br />
schnell eine Katastrophengesellschaft würde 855 .<br />
b) Vorsorge als bereichsübergreifendes allgemeines Rechtsprinzip<br />
Im Ergebnis der o.g. Ausführungen zum Vorsorgeprinzip lässt sich feststellen,<br />
dass die Gefahrenabwehr letztlich wie der Sicherheitsbegriff mit seinem<br />
Schutzweck der Abwesenheit von Schäden an Rechtsgütern Dritter dient.<br />
Sicherheit und Gefahr sind also zwei Seiten einer Medaille. Das Vorliegen<br />
einer Gefahr orientiert sich an der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens.<br />
Je größer der drohende Schaden, desto geringer sind die Anforderungen<br />
an die Prognose der Eintrittswahrscheinlichkeit. <strong>Die</strong>s ist aber mittels<br />
höherer Anforderungen an die Konkretisierung des gefährdeten Rechtsgutes<br />
zu kompensieren.<br />
Mit der Entwicklung des Vorsorgeprinzips und damit verbunden einer Vorverlagerung<br />
staatlicher Eingriffsermächtigungen auf Risikosituationen hat<br />
ein Aufweichen der Anforderungen an das Vorliegen einer Gefahr stattgefunden.<br />
Das Risiko wird damit neben der Gefahr zum Gegenpol der Sicherheit.<br />
<strong>Die</strong>s wird mit den erheblichen Schadensrisiken infolge moderner Entwicklungen<br />
gerechtfertigt, die nicht nur einzelne Bürger, sondern ganze Gesellschaftsgruppen<br />
oder größere geographische Räume und die dort lebenden<br />
Bürger betreffen können. Es geht dabei um ernsthafte und irreversible<br />
Schäden, die sich insbesondere auf die hochwertigen Rechtsgüter Leben und<br />
Gesundheit beziehen. <strong>Die</strong>se Situation ist in vielen Fällen auch beim polizeilichen<br />
Eingriff gegeben.<br />
<strong>Die</strong> soeben zum Polizeirecht beschriebenen Lücken bei der verwendeten<br />
sehr allgemeinen Begriffsdefinition werden bei bereichsspezifischen Regelungen,<br />
wie im Umwelt- oder Gesundheitsrecht, vermieden. <strong>Die</strong> Herausbildung<br />
eines allgemeinen Rechtsprinzips der Gefahrenvorsorge wird durch die<br />
fehlende Vergleichbarkeit dieser Rechtsgebiete erschwert856 . So wird der<br />
854 Dazu Aulehner (FN 524), S. 565 ff.<br />
855 Denninger (FN 345), S. 232, 216<br />
856 Aulehner (524), S. 48 ff., 95<br />
233
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Vorsorgebedarf im Atomrecht mit spezifischen Risiken der Kernenergie begründet.<br />
Während das Polizeirecht auf Erhalt des Bestehenden gerichtet sei,<br />
müsse bei auf Veränderung und Modernisierung angelegter Technik eine dynamische<br />
Optimierung der Schadensverhinderung ermöglicht werden. <strong>Die</strong>s<br />
beinhalte mehr als die Bewahrung des status quo857 . Eine Rechtfertigung des<br />
damit verbundenen, sehr weit gehenden Rechtsgüterschutzes ist aufgrund<br />
der im technischen Sicherheitsrecht möglichen Konkretisierung bzw. Abgrenzung<br />
des „Erlaubten“ denkbar. Über klar abgrenzbare und auch behördlich<br />
überprüfbare technische Parameter und Regelwerke kann der Rechtsanwender<br />
schon im Vorfeld seines Handelns erkennen, ob diese aus wissenschaftlicher<br />
Sicht als unbedenklich gelten kann858 . Es kommt nicht allein auf<br />
den Prognosemaßstab der allgemeinen Lebenserfahrung an, die bei moderner<br />
Technik regelmäßig nicht vorhanden ist. <strong>Die</strong> Abgrenzung von Gefahrenabwehr<br />
und Gefahren- bzw. Risikovorsorge bereitet durchaus Probleme.<br />
Wenngleich eine Abstrahierung von Einzelfällen zugunsten wissenschaftlicher<br />
Maßstäbe stattfindet, bleibt es beim Prognosecharakter der Entscheidung.<br />
Sie kann dem technischen Wandel und Fortschritt oft nur begrenzt gerecht<br />
werden. <strong>Die</strong> Reichweite des Vorsorgetatbestandes bleibt trotz der vorgenommenen<br />
Konkretisierungen unklar. Ähnlich stellt sich die Sachlage<br />
beim Immissionsschutzrecht dar. Dort sind die zulässigen Emissionen anlagebezogen.<br />
Zwar gelten sie aufgrund der Einbeziehung technischer Regelwerke<br />
(TA Luft) als hinreichend bestimmt. Dennoch, technische Fragen unterliegen<br />
dem Wandel, was die Behördenentscheidung im Einzelfall schwierig<br />
gestalten kann.<br />
Allen Bereichen des technischen Sicherheitsrechts gemein ist die Abkehr<br />
von einer erfahrungs- und vergangenheitsbezogenen Betrachtung möglicher<br />
Entwicklungen, wie sie bei der Gefahrenabwehr erfolgt. Im Rahmen der Gefahrenvorsorge<br />
wird bei der Prognose auf zeitlich in die Zukunft vorverlagerte<br />
Hypothesen abgestellt. Damit erhöht sich das Prognoserisiko erheblich859<br />
. <strong>Die</strong> systematische Unterscheidung der Vorsorge zur Gefahrenabwehr<br />
ist wegen ihrer unterschiedlichen Wirkung wichtig. Im Gegensatz zur<br />
Gefahrenabwehr entfaltet die Vorsorge grundsätzlich keinen drittschützenden<br />
Charakter. Der gesetzgeberische Schutzzweck muss norm- und bereichsspezifisch<br />
bestimmt werden. Auch bei der Absolutheit des Eingriffs<br />
werden unterschiedliche Anforderungen gestellt. <strong>Die</strong> Gefahrenabwehr ist<br />
kategorisch geboten. Gefahrenvorsorge steht dagegen unter dem Vorbehalt<br />
857 Marburger, Atomrechtliche Schadensvorsorge, S. 64 f.<br />
858 Hierzu Aulehner (FN 524), S. 111<br />
859 Ebenda, S. 119, 127<br />
234
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
der technischen Machbarkeit und wirtschaftlichen Zumutbarkeit bzw. Verhältnismäßigkeit<br />
von Aufwand und Nutzen. Ihr Ziel ist es, Schutzbarrieren<br />
möglichst niedrig aufzubauen 860 . Es gibt insoweit also eine erhöhte Zumutbarkeitsschwelle<br />
gegenüber dem Adressaten. Unsicherheiten bei der Bestimmung<br />
der Eingriffsschwelle können mit Typisierungen und Schätzungen<br />
ebenso kompensiert werden, wie durch verfahrenstechnische Vorkehrungen<br />
und Mitwirkungsrechte des Adressaten. <strong>Die</strong> Bezugspunkte der Abwägung<br />
von Gefahrenabwehr und Vorsorgedimension sind also unterschiedlich. Ein<br />
kooperatives Polizeirecht müsste die aus dem staatlichen Gewaltmonopol<br />
folgenden Verantwortungszuweisungen ignorieren. <strong>Die</strong>se Erwägungen sprechen<br />
gegen ein allgemein gültiges Vorsorgeprinzip, dass auf das Polizeirecht<br />
übertragbar wäre.<br />
c) Spezifisch im Polizeirecht angelegtes Vorsorgeprinzip<br />
aa) Eingriffsadressat und Störerprinzip<br />
Bei der Betrachtung eines risikospezifischen Vorsorgebedarfs muss berücksichtigt<br />
werden, dass jede menschliche Handlung die natürlichen Lebensgrundlagen<br />
verändert. Sie leistet damit potenziell einen Beitrag für die Gefährdung<br />
der Sicherheit. So ist z.B. die Belastung der Umwelt Nebenfolge<br />
wirtschaftlichen Handelns. Allerdings zeichnet sich das technische Sicherheitsrecht<br />
dadurch aus, dass der Anlagenhersteller oder Genforscher selbst<br />
wesentlich zur Umwelt- oder Gesundheitsgefährdung beiträgt. Insoweit<br />
wird eine wesentliche Schadensursache vom Adressaten selbst gesetzt, was<br />
einen mit dem Genehmigungserfordernis verbundenen Eingriff rechtfertigen<br />
kann. <strong>Die</strong>se Aspekte spielen im Polizeirecht kaum eine Rolle, da dort weniger<br />
die z.B. bei Genehmigungen immanente gestaltende Wirkung des Staates,<br />
als die absolute Unterbindung von Rechtsgutsverletzungen durch Verhinderung<br />
oder Verbot bestimmter Handlungen im Vordergrund steht. <strong>Die</strong>s<br />
bestätigt die Kritik zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips im Polizeirecht.<br />
<strong>Die</strong> Schutzpflichtendiskussion unterscheidet sich diametral vom Störerprinzip<br />
der klassischen polizeilichen Gefahrenabwehr. Hier schreitet der Staat<br />
aus Gründen des Gemeinwohls gegen den Störer ein, ohne dass er selbst zuvor<br />
eine Ursache für die Störung gesetzt haben muss. Im Polizeirecht richten<br />
sich die Eingriffsbefugnisse grundsätzlich gegen „jedermann“. Ziel polizeilicher<br />
Maßnahmen ist vor allem die allgemeine Gefahrenabwehr. Sie erfolgt<br />
direkt im Vollzugsdienst vor Ort, anders als bei spezifisch bekannten Gefahrenquellen,<br />
wo ordnungs- und polizeibehördliche Kontrollen „vom Schreib-<br />
860 Marburger, (FN 857), S. 75<br />
235
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
tisch aus“ erfolgen können. Es geht um den unmittelbaren Schutz des Bürgers<br />
vor der Begehung von Straftaten, ganz unabhängig von der Person des<br />
möglichen Täters. Gefahrenabwehr und Strafverfolgung können allerdings<br />
in Teilen auch ineinander übergehen 861 . Anders als der auf eine Genehmigung<br />
angewiesene Unternehmer, gibt sich der polizeipflichtige Störer nicht<br />
freiwillig in polizeiliche „Obhut“. Adressatenkreis ist die Gesamtbevölkerung,<br />
da letztlich jeder zum Gefährder werden kann. Da aber mit der vorsorgeimmanenten<br />
Beweislastumkehr das „nichtgefährliche Tun“ zur Ausnahme<br />
wird, ist die Angemessenheit eines Grundrechtseingriffes kaum widerlegbar.<br />
Ohne gesetzliche Konkretisierung des potenziellen Störers würden die Freiheitsrechte<br />
dem willkürlichen Zugriff der Exekutive anheim gestellt. Schon<br />
die für eine Gefahrenermittlung notwendigen Vorfeldaktivitäten, wie die Telefon-<br />
und Videoüberwachung, verwischen die Grenzen von Gefahrenabwehr<br />
und Strafverfolgung 862 . Sie sind nur wegen äußerst restriktiven Vorgaben<br />
verfassungsgemäß. Wenngleich gerade bei polizeilichen Vorfeldmaßnahmen<br />
zur Vorbereitung der künftigen Strafverfolgung die Grenzen zwischen<br />
abstrakter Gefahr und Risiko zu verwischen scheinen 863 . Eine gezielte<br />
Anwendung des Vorsorgeprinzips im Polizeirecht über die „abstrakte Gefahrenabwehr“<br />
hinaus würde die rechtsstaatlichen Probleme erheblich verschärfen.<br />
<strong>Die</strong> Bürger könnten in letzter Konsequenz nicht mehr ihre Interessen<br />
wahrnehmen, ihr Grundrechtsschutz wäre faktisch aufgehoben.<br />
bb) Aufgabenabgrenzung der Polizei zu anderen Behörden<br />
<strong>Die</strong> föderal bedingte terminologische Vielfalt der Aufgabenbeschreibung<br />
macht eine Zuständigkeitsabgrenzung der Ordnungs- und Polizeibehörden<br />
nicht leicht. <strong>Die</strong> aus dem Gewerbe- und Baupolizeirecht herausgebildeten<br />
ordnungsrechtlichen Präventionsaufgaben zeigen, dass es hierbei eher um<br />
projekt- und ortsbezogene, regelmäßig auftretende Fallgruppen gefahrengeneigten<br />
Handelns geht, denen im Verordnungswege, z.B. mit Genehmigungsverfahren,<br />
begegnet werden kann864 . <strong>Die</strong> verwaltungsmäßige Sicherheitsgewährleistung<br />
beim allgemeinen und besonderen Ordnungsrecht<br />
kennzeichnet sich durch eine reguläre Funktionswahrnehmung und gestalte-<br />
861 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), S. 24 ff., 31<br />
862 Dazu kritisch: Calliess, DVBl. 2003, 1096, 1100,<br />
863 <strong>Die</strong>sen Eindruck vermittelt Terminologie von Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), §<br />
1, S. 15 unter Verweis auf §§ 4 Rn 13 und 5 Rn 1 ff: zur Begriffsabgrenzung vgl. Teil<br />
4 I.4.b)<br />
864 So Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 2, S. 35 ; zum geschichtlichen Hintergrund<br />
der Trennung von Aufgaben der aktiven polizeilichen Gefahrenabwehr und des eher<br />
disziplinierenden Handelns der Ordnungsbehörden: ebenda, § 1 S. 5<br />
236
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
rische Elemente. Sie konzentriert sich auf eine allgemeine Überwachung der<br />
Einhaltung öffentlich-rechtlicher Vorschriften. Hierbei kommt auch dem<br />
Vorsorgegedanken eine Funktion zu, der über den Kern der Gefahrenabwehr<br />
hinausgeht865 . Das Argument der Notwendigkeit „moderner“ sicherheitsrechtlicher<br />
Ansätze bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität wirft<br />
auch die Frage auf, ob hierfür nicht andere staatliche Institutionen zuständig<br />
bzw. befähigt sind. <strong>Die</strong> Justiz ist für die Strafverfolgung zuständig. <strong>Die</strong> Polizei<br />
wird hier im Rahmen der Strafprozessordnung hilfsweise ermittelnd tätig.<br />
Bei der Gefahrenabwehr beschränkt sich ihre Aufgabe auf die Abwehr<br />
bestimmten Störungs- und Schadenspotenzials in konkreten Situationen oder<br />
abstrahierten Situationen bestimmten Typs. <strong>Die</strong> dazu im Vorfeld bestehende<br />
Aufgabe, systematisch alle sicherheitsrelevanten Beobachtungen durchzuführen,<br />
obliegt dagegen den Nachrichtendiensten866 . Neben dem Bundesamt<br />
für Verfassungsschutz (BfV) und den entsprechenden Landesämtern ist mit<br />
Blick auf die Informationsbeschaffung mit Auslandsbezug der Bundesnachrichtendienst<br />
zuständig. <strong>Die</strong>se Institutionen sollen regelmäßig im Vorfeld<br />
von Gefahrenlagen tätig werden. Sie müssen sich dabei an die im<br />
BVerfSchG und BNDG beschriebenen Voraussetzungen halten. Während die<br />
Verfassungsschutzbehörden nach § 3 BVerfSchG zur Sammlung und Auswertung<br />
von inlandsbezogenen Informationen befugt sind, sammelt der<br />
BND nach § 1 Abs. 2 BNDG Erkenntnisse von außen- und sicherheitspolitischer<br />
Bedeutung im Ausland und wertet sie aus. <strong>Die</strong> Befugnisse werden in<br />
einem Auftrags- und Interessenkatalog der Bundesregierung konkretisiert867 .<br />
Er umfasst u.a. transnationale Bedrohungen wie Terrorismus, organisierte<br />
Kriminalität oder die Proliferationsbekämpfung868 .<br />
Bei auf Informationsbeschaffung beruhenden polizeilichen Präventionsstrategien<br />
scheint die Gefahr von Kompetenzüberschneidungen bzw. -<br />
überschreitungen durchaus zu bestehen. So wird z.B. die Ansicht vertreten,<br />
dass die Ausdehnung der polizeilichen Vorfeldkompetenzen bis hin zum<br />
Einsatz verdeckter Ermittler das Trennungsgebot zu den Kompetenzen der<br />
Nachrichtendienste in Frage stellt. <strong>Die</strong> Debatte um die Notwendigkeit der<br />
Neujustierung rechtsstaatlicher Instrumente und der Gewaltenteilung flammt<br />
im Zuge der Terrorismusbekämpfung immer verstärkter auf869 . Rechtsstaatliche<br />
Bedingungen und Kontrollinstrumentarien erscheinen bei diesen Ent-<br />
865 Möstl (FN 106), S. 401 f.<br />
866 Pieroth /Schlink/ Kniesel (FN 104), § 2 S. 28 f.<br />
867 Rose-Stahl, Recht der Nachrichtendienste, S. 115<br />
868 Der Bundesnachrichtendienst, Hrsg. BND, 2002, S. 39, 48<br />
869 Müller, Im Niemandsland? Verwaltungsrichter diskutieren über Terrorismusbekämpfung,<br />
FAZ vom 12. Mai 2007<br />
237
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
wicklungen durchaus gefährdet870 . Ihre Relevanz für bisherige Rechtsstrukturen<br />
und das möglicherweise bestehende Erfordernis dogmatischer Weiterentwicklungen<br />
sei am Beispiel des Verfassungsschutzes verdeutlicht. So darf<br />
der Verfassungsschutz nach § 4 Abs. 1b) BVerfSchG nur bei politisch motiviertem<br />
Verhalten bestimmter Gruppen tätig werden, die öffentliche Gebietskörperschaften<br />
und Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich<br />
beeinträchtigen. Es muss also eine Gefahr für den Bestand der demokratischen<br />
Grundordnung und die Sicherheit des Landes im Sinne der Kompetenznorm<br />
des Art. 73 Nr. 10b) GG gegeben sein. Hierunter fallen gegen den<br />
Staat gerichtete terroristische Aktivitäten und organisierte Kriminalität. <strong>Die</strong>se<br />
sind nicht auf politische Ziele gerichtet, sondern primär durch ökonomische<br />
Interessen motiviert. Bei mafiösen Handlungsfeldern, wie Waffen- und<br />
Drogenhandel, PKW-<strong>Die</strong>bstahl oder Prostitution und Menschenhandel, aber<br />
auch bei lebensbedrohlichen Einzelverbrechen, wie Raub, Mord und Entführung<br />
besteht nicht unbedingt ein staatstragendes Ausmaß der drohenden<br />
Gewalt. Ein solches aber ist für den Tätigkeitsbereich des Verfassungsschutzes<br />
vorgesehen.<br />
<strong>Die</strong> Datenerhebung und -sammlung ist nur in einem begrenzten Rahmen<br />
möglich. Es wird an der Stelle deutlich, dass die Verfassung im Zusammenhang<br />
mit der Informationserhebung der „vorgelagerten Gefahrenabwehr“<br />
sehr enge Grenzen setzt. Sie müssen wegen der Kollision mit dem Recht auf<br />
informationelle Selbstbestimmung gerechtfertigt sein. <strong>Die</strong>s wird auf der<br />
Grundlage von Art. 2 Abs. 1 GG im Bundesdatenschutzgesetz geregelt. Der<br />
Verfassungsschutz darf in den Fall ausnahmsweise, und anders als die Polizei,<br />
im „Geheimen“ operieren. <strong>Die</strong> Abgrenzung der Zuständigkeiten ist deshalb<br />
wichtig.<br />
<strong>Die</strong> wesentlichen Unterschiede zwischen Polizei und Verfassungsschutzaufgaben<br />
liegen zunächst bei den Gesetzgebungskompetenzen. Der Bund hat<br />
nur ausnahmsweise nach Art. 73 Nr. 10 GG polizeirechtliche Zuständigkeiten<br />
bei der Zusammenarbeit von Bund und Ländern im Bereich der Kriminalpolizei<br />
sowie der internationalen Verbrechensbekämpfung. Für die Strafverfolgung<br />
ist nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 der Bund zuständig. <strong>Die</strong> Nachrichtendienste<br />
unterfallen nach Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG ebenfalls der Bundeskompetenz.<br />
Dogmatisch werden die Kompetenzen und Aufgaben beider Institutionen<br />
ebenfalls klar abgegrenzt. <strong>Die</strong> Polizei soll Gefahren abwehren<br />
oder wird im repressiven Bereich der Straftatenerforschung auf einen konkreten<br />
Verdacht hin tätig (§§ 160, 161, 163 StPO). Beide müssen miteinander<br />
im Zusammenhang stehen. Es wird eine gewisse Gefahrennähe bzw.<br />
870 Albers (FN 597), S. 211<br />
238
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Verdichtung des Gefahrenverdachts gefordert. So sind präventive Personenkontrollen<br />
und Identitätsfeststellungen regelmäßig ereignisabhängig und<br />
damit als Ergänzung zu repressiven Kontrollen zu verstehen, wie sie z.B.<br />
über § 111 StPO möglich sind. Hingegen ist der Verfassungsschutz nicht an<br />
konkrete Verdachtsmomente gebunden und darf Strategien zur Verdachtsgewinnung<br />
entwickeln. Zudem bezieht sich die polizeiliche Eingriffsbefugnis<br />
auf Störer bzw. Individuen, während der Verfassungsschutz auch Personenzusammenschlüsse,<br />
Organisationen und Strukturen zum Untersuchungsgegenstand<br />
hat. <strong>Die</strong> Eingriffe selbst unterfallen bei der Polizei dem Legalitätsprinzip.<br />
Der Eingriff ist bei gegebenen Voraussetzungen also verpflichtend:<br />
Dem entgegen kann der Verfassungsschutz nach dem Opportunitätsprinzip<br />
selbst über sein Eingreifen entscheiden.<br />
All diese Unterschiede werden mit dem Trennungsprinzip, also einem Verbot<br />
verfassungsschützender Tätigkeit im polizeilichen Aufgabenbereich<br />
nach § 8 Abs. 3 BVerfSchG herausgehoben871 . Das wird vor allem mit der<br />
Gewährleistung des Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG begründet872 .<br />
<strong>Die</strong>ser wäre beim Tätigwerden im „Geheimen“ faktisch unterbunden, was<br />
für das so genannte polizeiliche Transparenzgebot spricht. Beim Trennungsgebot<br />
geht es also maßgeblich um die Wahrung von Fragen der informationellen<br />
Selbstbestimmung und Datenschutzrechten, deren Restriktion besonderen<br />
Voraussetzungen unterliegt, die im allgemeinen polizeilichen Aufgabenbereich<br />
nicht erfüllt sind873 . Für die Frage der Kompetenzverteilung sind<br />
nicht nur institutionelle und sachliche Unterscheidungen der Rechtsgrundlagen<br />
von Bedeutung. Das Trennungsprinzip beruht auf der verfassungsrechtlich<br />
unterschiedlichen Zwecksetzung der Aufgabentrennung von Polizei und<br />
Nachrichtendiensten. <strong>Die</strong> Polizei soll nur ausnahmsweise im „Geheimen“<br />
handeln dürfen. Das hat seinen Ursprung in der Historie der Geheimen<br />
Staatspolizei (Gestapo) des Dritten Reiches874 . Es wird ausdrücklich im<br />
BVerfSchG erwähnt, in dem es nach § 2 Abs. 1 eine organisatorische Verknüpfung<br />
verbietet und dem BfV nach § 8 Abs. 3 versagt, polizeiliche Befugnisse<br />
auszuüben. Wenngleich umgekehrt die Informationserhebung durch<br />
die Polizei nicht gänzlich ausgeschlossen wird875 . Auf die Frage der polizei-<br />
871 Zu Historie und verfassungsrechtlichen Grundlagen: Baumann, Vernetzte Terrorismusbekämpfung<br />
oder Trennungsgebot?, DVBl. 2005, 798<br />
872 Zur Abgrenzung ausführlich: Denninger (FN 345), S. 144 ff.<br />
873 Zu den Grenzen der Zusammenarbeit von BVerfSch und Polizei: Baumann (FN 871),<br />
DVBl. 2005, 798, 804<br />
874 Zur historischen Begründung im Polizeibrief der alliierten Militärgouverneure vom<br />
8. und 14. April 1998: Gusy, Gebot der Trennung, S 46<br />
875 Vgl. BVerfGE 65, 1, 44 - Volkszählungsurteil<br />
239
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
lichen Zuständigkeit der Gefahrenerforschung wurde schon eingegangen.<br />
Auch hier spielt die Abgrenzung von Gefahr und Gefahrenverdacht eine<br />
Rolle876 . Der planmäßige Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel ist ihr<br />
grundsätzlich versagt und nur unter besonderen Vorraussetzungen möglich877<br />
. <strong>Die</strong> Aufgabe der Gefahrenvorsorge ist damit nur sehr begrenzt wahrnehmbar.<br />
Das Polizeirechtsprinzip eines offenen bzw. transparenten Handelns spricht<br />
im Ergebnis gegen eine Ausweitung der Aufgaben auf vorsorgende Informationserhebung<br />
oder gar freiheitsbeschränkende Maßnahmen. Am Begriff der<br />
(abstrakten) Gefahr sollte festgehalten werden. <strong>Die</strong> Aufgabenzuweisung für<br />
den Verfassungsschutz kann gleichwohl modernen Bedrohungslagen angepasst<br />
und explizit auf organisierte Kriminalität erweitert werden878 . Im Zusammenhang<br />
mit der Terrorismusprävention wurde insoweit reagiert und mit<br />
§ 8 Abs. 5 ff. BVerfSchG, eine verbesserte Koordination der Nachrichtendienste<br />
mit der Polizei bei der Fahndung ermöglicht. Damit erfolgt eine<br />
Gewichtsverschiebung zugunsten der Prävention.<br />
Vom Trennungsprinzip abweichend, kommt es auch beim Bundeskriminalamt<br />
zu einer zunehmenden Aufgabenausweitung. Sie umfasst präventive<br />
Maßnahmen zur Gefahrenabwehr. Seine Aufgabe ist dann die zentrale Verbrechensbekämpfung<br />
und Koordinierung kriminalpolizeilicher Analysen<br />
(Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG sowie §§ 1 und 2 BKAG). Ausnahmsweise nach § 9<br />
BKAG bestehende präventive Zuständigkeiten im Zusammenhang mit Personenschutzprogrammen<br />
wurden zuletzt mit dem neuen Art. 73 Abs. 1 Nr.<br />
9a GG ergänzt. Er regelt die Kompetenzen für die Abwehr terroristischer<br />
Gefahren. <strong>Die</strong> traditionelle Trennung von repressiven und präventiven Aufgaben<br />
wird weiter aufgeweicht879 . Dennoch bleibt es beim Trennungsprinzip,<br />
eine generelle Aufgabenerweiterung auf den risikopräventiven Bereich<br />
würde dem widersprechen.<br />
cc) Vorliegen von Erkenntnisdefiziten und Bestimmung der Eingriffsschwelle<br />
Im technischen Sicherheitsrecht ist regelmäßig von ungesicherten Erkenntnissen<br />
auszugehen, bezogen auf die Schadensopfer bzw. den Kreis betroffener<br />
Rechtsgutinhaber. Bei Immissionen und sonstigen gesundheitsschädlichen<br />
Wirkungen sind die möglichen Opfer regional begrenzt. Grundlage<br />
876 Vgl. Teil3 I.4.b)<br />
877 Rose-Stahl (FN 867), S. 87<br />
878 So Denninger (FN 345), S. 149<br />
879 Tams, DÖV 2007, S. 367 ff.<br />
240
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
hierfür ist der Nachbarschaftsbegriff. Im Polizeirecht erscheint die Schadensrichtung<br />
besser ermittelbar. Selbst bei organisierter Kriminalität oder<br />
terroristischen Bedrohungen ist das spätere Opfer oder Eingriffsgut erkennbar.<br />
Es ist durch konkrete Absichten des „Störers“ vorbestimmt. <strong>Die</strong> Erkenntnisunsicherheit<br />
rechtfertigt dagegen die niedrigere Eingriffsschwelle.<br />
Dafür muss es zu einem den Adressateninteressen genügenden Korrektiv<br />
kommen. So können die Verfassung und das Rechtsstaatsprinzip hier noch<br />
ihre Wirkung entfalten880 . Für „vorsorgende“ gesetzliche Eingriffsbefugnisse<br />
bedarf es deshalb einer möglichst weitgehenden Konkretisierung des Vorsorgetatbestandes<br />
und der damit verbundenen Kriterien, also einer standardisierten<br />
Eingriffsschwelle.<br />
<strong>Die</strong> Möglichkeit der zukunftsbezogenen, abstrakten Betrachtung vorhandener<br />
Daten ist im Polizeirecht nicht ersichtlich. <strong>Die</strong>s würde bedeuten, dass<br />
man bestimmte Täterprofile erstellt und pauschal mit Verhaltensweisen von<br />
Personen in den oder mit Nähe zu einschlägigen Milieus abgleicht. Eine solche<br />
Standardisierung des „guten“ bzw. „schlechten Menschen“ würde die<br />
Psychoanalyse zum Maßstab des polizeilichen Eingriffs machen. Und im<br />
Zweifel würde gegen die Freiheit entschieden. <strong>Die</strong>s ginge in die Richtung<br />
der im Film Minority Report gezeigten Vision der Verbrechensbekämpfung<br />
durch hellseherische Fähigkeiten881 . Wissenschaftliche Maßstäbe und mittels<br />
Fachexpertise gesicherte Untersuchungen für die Prognose technischer Reaktionen<br />
liegen hier gerade nicht vor. Der Unterschied zum „freien menschlichen<br />
Willen“ als wesentlichen Bestandteil der Menschenwürde wäre aufgehoben.<br />
Das beschriebene Korrektiv für die Ausfüllung und Konkretisierung<br />
des Vorsorgetatbestandes ist also nicht ersichtlich. Eine mit dem Vorsorgeprinzip<br />
verbundene, zu umfangreiche Ausweitung der Eingriffsschwelle<br />
würde die Abwehrfunktion der Grundrechte außer Kraft setzen. <strong>Die</strong> Interpretation,<br />
dass im modernen Polizeirecht entgegen dem Normtext Elemente<br />
des Risikoverwaltungsrechts als eigenständige neue Aufgabe anzuerkennen<br />
sind882 , verkennen die rechtsstaatlichen Defizite der Risikovorsorge. <strong>Die</strong>se<br />
Marginalisierung der Freiheitsrechte würde durch Verfahren, Transparenz<br />
und Kontrolle nur unzureichend kompensiert.<br />
dd) Kooperative Ansätze und Rationalisierung des Verfahrens<br />
Auf die verfassungsrechtlich mit dem Gewaltmonopol verbundenen Beschränkungen<br />
kooperativer Ansätze im modernen Verwaltungsverfahren<br />
880 Calliess (FN 288, zum Dilemma des Rechtsstaates, S. 67<br />
881 Calliess, DVBl. 2001, S. 1100<br />
882 Albers (FN 597), S. 361 ff.<br />
241
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
wurde eingegangen. Das Gewaltmonopol ist allein dem Staat zugewiesen.<br />
Eine Mitverantwortung Dritter oder gar entsprechende Kooperationsansätze<br />
des Vorsorgedenkens würde dem widersprechen. Unter diesem Blickwinkel<br />
wird z.B. die rechtliche Zukunft von Sicherheitspartnerschaften, bei denen<br />
der Staat mit privaten Wachdiensten kooperiert, erheblich kritisiert. Es<br />
kommt zu einer aus rechtsstaatlicher Sicht höchst problematischen Entformalisierung<br />
polizeilichen Handelns. <strong>Die</strong> Grenzen des Gewaltmonopols würden<br />
hier nicht deutlich genug berücksichtigt, müssten zumindest stärkeren<br />
Eingang in die Kooperationsvereinbarungen finden883 . Ausgehend von den<br />
Schwierigkeiten bei der Prognose menschlichen Verhaltens erscheinen die<br />
im technischen Sicherheitsrecht entwickelten „prozeduralen“ Verfahrensansätze<br />
in vielen Fällen nicht hinreichend effizient. <strong>Die</strong> Einschaltung externen<br />
Sachverstandes (z.B. in Gremien) zur Beurteilung der geplanten „Handlungen“<br />
oder Instrumente der Selbstkontrolle, wie z.B. betriebsinternes Controlling<br />
und die Zuverlässigkeitszertifizierung, muss daher für die im klassischen<br />
Polizeirecht notwendigen Bekämpfung von Straftaten äußerst skeptisch<br />
gesehen werden.<br />
Klassische polizeiliche und sicherheitsrechtliche Verwaltungsstrukturen sind<br />
mit den moderneren präventiven Ansätzen überfordert. Es müssen andere<br />
Wege gefunden werden, den gesellschaftlichen Erwartungen an das Sicherheitsgefühl<br />
gerecht zu werden. <strong>Die</strong> innere Sicherheit muss daher noch stärker<br />
in den Fokus der öffentlichen Ordnung rücken. <strong>Die</strong> präventive Sicherheitsgewährleistung<br />
durch Ordnungsbehörden ist für die Kooperation mit<br />
Dritten besser geeignet als das Polizeirecht. Der Staat kann sich aus der umfassenden<br />
Sicherheitsgewährleistung vor Ort durchaus zurückziehen, nicht<br />
aber aus dem Bereich der konkreten Gefahrenabwehr und Sicherheitsgarantie884<br />
. Auf diese Weise kann die beschriebene Skepsis zu rechtsstaatlichen<br />
Defiziten bei der Risikovorsorge durch die Polizei dogmatisch aufgriffen<br />
werden. Es bleibt daher festzuhalten: <strong>Die</strong> kaum praktikable Konkretisierung<br />
der Eingriffsschwellen und die beschriebene Zurechnungsproblematik im<br />
weniger technisch als durch menschliches Handeln geprägten Polizeirecht,<br />
vor allem die damit verbundene Beeinträchtigung rechtstaatlicher Gewährleistungen,<br />
lassen eine Vorsorgebefugnis der Polizei schwerlich rechtfertigen.<br />
Darüber hinaus sind kooperative Verfahrensansätze im Vorsorgebereich<br />
nur begrenzt tauglich.<br />
883 Rixen, DVBl. 2007, S 221, 230<br />
884 Knemeyer, DVBl. 2007, S. 787<br />
242
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
d) Ergebnis<br />
In Anbetracht der heutigen gesellschaftlichen Erwartungen wird dem Vorsorgeprinzip<br />
im Polizeirecht zurecht wenig Platz eingeräumt. Eine Ausweitung<br />
des Präventionsgedankens ist weder allgemein noch in spezifischen polizeirechtlichen<br />
Aufgabenzuweisungen und Organisationsstrukturen angelegt.<br />
Im Vergleich zum technischen Sicherheitsrecht ist der polizeiliche<br />
Vollzugsdienst regelmäßig auf zuvor einen nicht spezifizierten Adressatenkreis<br />
gerichtet. Eine grundrechts- und interessengerechte Wahrnehmung der<br />
Verfahrensrechte ist bei polizeilichen Eingriffen nicht effektiv und damit<br />
auch nicht möglich. Es geht deshalb zu Recht um die Hürde des Vorliegens<br />
konkreter oder abstrakter Gefahren, wenngleich die Grenzen zwischen<br />
Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Informationsbeschaffung im Vorfeld<br />
zu verschwimmen scheinen. Das Trennungsgebot ist nach wie vor gültig und<br />
Grundlage einer angemessenen Aufgabenverteilung zwischen Polizei und<br />
Nachrichtendiensten. Eine Kooperation der Institutionen ist deshalb nicht<br />
ausgeschlossen. Um die Abwehrfunktion der Grundrechte zu erhalten, bleibt<br />
die Gefahr unabdingbare Voraussetzung polizeilicher Eingriffe, was nicht<br />
zuletzt durch die Skepsis des Einsatzes vorsorgeorientierter Kooperationsansätze<br />
und Informationsmanagements unter Einbeziehung privater Stellen<br />
deutlich wird. Das staatliche Gewaltmonopol setzt den Ansätzen der Risikovorsorge<br />
eindeutige Grenzen.<br />
2. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf Exportkontrollen<br />
<strong>Die</strong> nationalen <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungstatbestände stellen<br />
auf eine „Gefährdung“ bestimmter Belange ab. So liegt es nahe, die Gefahr<br />
zum Maßstab für die Entscheidung der Behörde zu machen. <strong>Die</strong> Entwicklungen<br />
im technischen Sicherheitsrecht und im Polizeirecht zeigen aber,<br />
dass die staatlichen Schutzpflichten zunehmend durch eine erweiternde Interpretation<br />
der Gefahrenschwelle verwirklicht werden. Das gilt nicht zuletzt<br />
beim Vorliegen von Erkenntnisdefiziten. Technische Innovation bei der<br />
Kommunikation erschwert ebenso staatliche Kontrollen wie die stärkere<br />
geographische Vernetzung von Menschen und Unternehmen. Der Risikoprävention<br />
kommt daher gesteigerte Bedeutung zu. <strong>Die</strong> Anwendung des<br />
Vorsorgeprinzips auf <strong>exportkontrollrechtliche</strong> Regelungsbereiche erscheint<br />
daher nicht ausgeschlossen.<br />
Vor dem Hintergrund der Ziele, aber auch der verfügbaren Informationen im<br />
Zeitpunkt von Exportkontrollen müssen die zur Abgrenzung von Gefahren<br />
und Risiken entwickelten Rechtsprinzipien angewandt werden. <strong>Die</strong>s ermöglicht<br />
eine Wertung, welcher Eingriffschwelle es bedarf, um den Auftrag des<br />
243
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Gesetzgebers umzusetzen. <strong>Die</strong> Bedingungen des Vorsorgeprinzips müssen<br />
für die einschlägigen Genehmigungstatbestände geprüft werden. <strong>Die</strong>s betrifft<br />
auch die Frage nach dem geeigneten Instrumentarium, welches den mit<br />
dem Vorsorgeprinzip einhergehenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen<br />
für die betroffenen Schutzgüter zur Geltung verhilft.<br />
a) Wortlaut und Schutzzweck der Genehmigungstatbestände<br />
<strong>Die</strong> Verwendung des Begriffs der „nicht unwesentlichen Gefährdung“ in § 3<br />
AWG gilt als Beleg für das traditionelle Präventionsverständnis des Gesetzgebers<br />
bei Exportkontrollen. Art. 8 der Dual-use-VO bietet dagegen keine<br />
näheren Anhaltspunkte hierzu. Gleichwohl wird die Anknüpfung an die<br />
„klassische Gefahrenabwehr“ bisher in der Exportkontrollliteratur nahezu<br />
uneingeschränkt geteilt. Danach soll bei der Frage nach einer Gefahr für die<br />
mit den hier untersuchten Genehmigungspflichten geschützten Belange die<br />
im Polizeirecht mit Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung bemühte<br />
Wahrscheinlichkeitsprognose hinsichtlich eines bevorstehenden<br />
Schadens angewendet werden885 .<br />
aa) Allgemeine Abgrenzungsfragen<br />
Bei Fragen der Zurechnung einer Gefahr bzw. eines Risikos, mithin der Störerauswahl,<br />
bestehen bei Exportkontrollen Unterschiede zur allgemeinen<br />
Gefahrenabwehr, wie sie im klassischen Polizeirecht anzutreffen ist. Bei der<br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> handelt es sich um eine<br />
Spezialbefugnis der Exportkontrollbehörde zur Gefahrenabwehr, die sich<br />
nur gegen bestimmte Adressaten, die Exporteure, richtet. Damit ist nicht<br />
„jedermann“ betroffen, wie es im klassischen Polizeirecht der Fall ist. Im<br />
Zusammenhang mit der Aufgabenabgrenzung von Polizei- und Ordnungsbehörden<br />
wurde bereits darauf hingewiesen, dass Letztere regelmäßig bei<br />
typischen, für eine Vielzahl von Fällen einschlägigen Gefahrensituationen<br />
zuständig sind. <strong>Die</strong>sen Gefahren kann im Verordnungswege, z.B. durch<br />
Verwaltungsverfahren in Form von Meldepflichten oder Genehmigungsanordnungen<br />
begegnet werden. Zudem ergeben sich damit auch gestalterische<br />
Ansätze, die für den gebotenen Interessenausgleich sorgen können, z.B.<br />
durch Auflagen oder Bedingungen bei der Genehmigung bestimmter Handlungen.<br />
In der Literatur wird durchaus gesehen, dass die Gefahrenbegriffe<br />
im Polizei - und Exportkontrollrecht nicht zwingend identisch sind. <strong>Die</strong>se<br />
Tatsache und kompetenzrechtliche Abgrenzungsfragen sprechen gegen eine<br />
unmittelbare Übertragung auf die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung. <strong>Die</strong><br />
885 Vgl. Teil1 II.5.e)<br />
244
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Begriffsmerkmale in Zusammenhang mit dem hypothetischen Ereignisverlauf<br />
sind dagegen vergleichbar886 .<br />
Bei dem Versuch einer näheren Bestimmung der Gefahrenschwelle und des<br />
Bezugspunktes der Gefährdung fällt auf, dass die gesetzlichen Eingriffsermächtigungen,<br />
anders als auf individuelle Rechtsgüter bezogenes polizeiliches<br />
Handeln, den Kollektivbelang Sicherheit als Maßstab der drohenden<br />
Rechtsgutsverletzung vorsieht. <strong>Die</strong>ser Ansatz ist mit ordnungsrechtlichen<br />
Verfahren vergleichbar, bei denen sich das Behördenhandeln zwar ebenfalls<br />
auf den Schutz von Individualbelangen richtet, sich aber nicht zwingend gegen<br />
eine konkrete oder konkretisierbare Störung bestimmter Rechtsgüter im<br />
Sofortvollzug vor Ort wendet. Gleichwohl hat die Ordnungsbehörde regelmäßig<br />
eine bestimmte oder bestimmbare Gruppe Betroffener im Blick. Dazu<br />
gehören z.B. im Gewerberecht die Anwohner Umfeld und die Kunden eines<br />
Gewerbebetriebes, im Baurecht die Nachbarn. Der präventive Ansatz gegenüber<br />
typischen Gefahrensituationen und eine formalisierte Prüfung des<br />
Einzelfalls stellen aber im Ergebnis häufig auf den Gemeinwohlbelang der<br />
öffentlichen Sicherheit und Ordnung ab. Daher lässt sich zunächst konstatieren,<br />
dass die Gefahrenprävention im Ordnungsrecht traditionell den gleichen<br />
Maßstäben unterliegt. Ob die darüber hinaus für bestimmte Bereiche des<br />
technischen Sicherheitsrechts entwickelten Vorsorgeansätze auch für Exportkontrollen<br />
greifen, richtet sich nach dem Wortlaut, Normzweck und systematischen<br />
Ansatz der Exportkontrollen.<br />
bb) Struktureller Normansatz und Sicherheit als Bezugspunkt der<br />
Prognose<br />
Das mit der Ausfuhr potenziell gefährdete Rechtsgut muss konkret bestimmbar<br />
sein, um den wahrscheinlichen Kausalverlauf nach der Ausfuhr<br />
überhaupt bewerten zu können. Inwieweit der Vergleich mit der polizeirechtlichen<br />
Gefahrenprognose tatsächlich trägt, erfordert einen Blick auf die<br />
jeweils geschützten Rechtsgüter.<br />
Es wurde bereits dargelegt, dass die Gefahrenabwehr im Polizei- und Ordnungsrecht<br />
unter Bezugnahme auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung<br />
auf Individualinteressen gerichtet ist, wenngleich dabei auf die Wahrung der<br />
Rechtsordnung als Ganzes abgestellt wird. Dagegen wird bei den Exportkontrollen<br />
im nationalen Kontext in § 7 AWG der eher allgemeine Begriff<br />
der Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland verwendet. <strong>Die</strong>ser<br />
erscheint schon nach dem Wortlaut wesentlich weiter, denn Interessen<br />
886 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 14<br />
245
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
können auch bei (noch) gegebener Sicherheit berührt bzw. beeinträchtigt<br />
sein. Wie schon festgestellt, hinter dem Begriff der Sicherheitsinteressen<br />
stehen die innere und äußere Sicherheit des Landes. Dazu kommt die militärische<br />
Versorgungssicherheit. <strong>Die</strong> Bezugnahme auf die Sicherheitsinteressen<br />
wurde erst mit dem 11. Änderungsgesetz des AWG eingeführt887 . <strong>Die</strong> Änderung<br />
des Wortlautes wurde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich mit<br />
dem Bedürfnis der Sicherheitsvorsorge beschrieben. So müssten die bisher<br />
im Tatbestand verwendeten Begriff innere Sicherheit, z.B. die Gefahr von<br />
Bürgerkrieg, und äußere Sicherheit, z.B. die Gefahr eines Kriegs, ergänzt<br />
werden. <strong>Die</strong> Erweiterung auf alle sicherheitspolitischen Interessen erfolgte<br />
in Anpassung an das Begriffsverständnis der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit<br />
nach den Art. 58 und 296 EG sowie Art. XXI GATT. Auch Art. 51<br />
VN-Charta umfasst die militärische Versorgungssicherheit, mithin eine Reihe<br />
von Vorsorgemaßnahmen. Sie setzen bereits bei der verteidigungspolitischen<br />
Kooperation im EG- und Nato-Kontext an888 .<br />
<strong>Die</strong> in der Aufzählung der Beschränkungsermächtigungen in § 7 Abs. 2<br />
AWG ergänzte Nr. 5 zur Kontrolle des Erwerbs von Rüstungsunternehmen<br />
wurde mit § 52 AWV in Form einer Meldeverpflichtung der Unternehmen<br />
und mit Untersagungsmöglichkeit der Bundesregierung umgesetzt. Es fällt<br />
auf, dass dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dadurch Rechnung getragen<br />
wurde, dass auf eine generelle Genehmigungspflicht verzichtet wurde.<br />
In Anbetracht des aus sicherheitspolitischer Sicht sehr weitgehenden und<br />
frühzeitigen Eingriffs in das Wirtschaftsgeschehen wird deutlich, dass sich<br />
der Gesetzgeber mit der Modifikation des Sicherheitsbegriffs hin zum Interessenbegriff<br />
von der klassischen individualrechtsgutsbezogenen Gefahrenabwehr<br />
entfernt hat. Man mag zu den aufgezeigten Erörterungen bei der<br />
Kontrolle der Veräußerung von sicherheitsrelevanten Unternehmen der Auffassung<br />
sein, dass dies keine Auswirkungen auf den Bereich der eigentlichen<br />
Exportkontrollen habe, also die Anwendung der Genehmigungstatbestände<br />
der §§ 5 AWG ff. und der Art. 3 und 4 Dual-use-VO. Dem ist aber zu entgegnen,<br />
dass sich die mit dem 11. AWG-Änderungsgesetz eingeführte Änderung<br />
des Sicherheitsbegriffs auf den gesamten Eingriffsermächtigungstatbestand<br />
bezieht und nicht etwa nur auf bestimmte Katalogbeispiele von Beschränkungen<br />
nach § 7 Abs. 2 AWG. Strukturell richten sich somit alle Ausfuhrbeschränkungen,<br />
die auf § 7 AWG gestützt werden, am Kriterium der<br />
Sicherheitsinteressen aus.<br />
887 11. Gesetz zur Änderung des AWG, BGBl. I 2004, S. 1859<br />
888 vgl. Teil 1 II.5.b)bb)<br />
246
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Überdies muss auch noch einmal auf die Formulierungen in § 7 Abs. 1 Nr. 2<br />
und 3 AWG verwiesen werden. Mit dem Begriff des Verhütens werden Parallelen<br />
zur Entwicklung des Vorsorgeprinzips zum Umweltrecht deutlich.<br />
Dort wird er für Risikovorsorgetatbestände verwendet. Der Wortlaut spricht<br />
ebenso wie das Gewährleisten in Abs. 1 Nr. 1 für die Risikoschwelle als Anknüpfungspunkt<br />
der Beschränkungen des § 7 AWG889 . Mit der genannten<br />
Rechtsänderung erfolgt demnach nicht einmal zwingend eine Neuausrichtung<br />
der Exportkontrolle, sondern nur eine Klarstellung für die sehr weitgehende<br />
Vorverlagerung der Risikoprävention auf den Zeitpunkt organisatorischer<br />
Maßnahmen zur mittel- und langfristigen Gestaltung der Verteidigungspolitik.<br />
Sie ist Bestandteil der (äußeren) Sicherheitspolitik.<br />
Der Wortlaut des § 7 AWG lässt nach den vorgenannten Erwägungen nicht<br />
unbedingt auf die Notwendigkeit der Anwendung des polizeirechtlichen Gefahrenbegriffs<br />
schließen. Vielmehr steht die Formulierung der dort beschriebenen<br />
Eingriffszwecke ein Stück weit im Widerspruch zur in § 3 AWG vorgegebenen<br />
Gefährdung. <strong>Die</strong> Betrachtung des Normzweckes hat daher erhebliche<br />
Bedeutung. Insbesondere die hinter den Beschränkungstatbeständen<br />
stehenden internationalen Verpflichtungen sowie die Konkretisierungen der<br />
vom Gesetzgeber beabsichtigten Rechtsfolgen im Rahmen der exportkontrollpolitischen<br />
Grundsätze der Bundesregierung müssen hierbei beachtet<br />
werden. <strong>Die</strong> Frage der hinreichend inhaltlichen Bestimmtheit des § 7 AWG<br />
wurde schon bei der Untersuchung des Begriffs der auswärtigen Beziehungen<br />
angesprochen.<br />
Der in der Exportkontrollliteratur bisher angeführte Verweis auf den polizeilichen<br />
Gefahrenbegriff geht vor allem auf Armin von Bogdandy zurück890 .<br />
Der bestätigt, dass der außenwirtschaftlichen Genehmigungspflicht das<br />
Grundverständnis des BVerfG zu Grunde gelegt wurde, welches mit dem<br />
Kriterium einer abstrakten Gefährlichkeit argumentierte. <strong>Die</strong>ses aber würde<br />
durch die Konturen des zwischenzeitlich entwickelten Vorsorgeprinzips zunehmend<br />
aufgelöst891 . Wenn er im Zusammenhang mit außenpolitischen Aspekten,<br />
dem BVerwG892 folgend, von einer Risikobewertung spricht und<br />
sich mit der Forderung einer Kompensation fehlender gerichtlicher Kontrol-<br />
889 So i.E. letztlich auch Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 Rn 10 sowie § 7<br />
Rn 9 und 17<br />
890 Vgl. Teil 1 II.5.e) zum Begriff der Gefahr und Teil 2 III.2. zu Fragen der Reichweite<br />
des Beurteilungsspielraumes und der Kompensation von Kontrolldefiziten<br />
891 V. Bogdandy (FN 4), S. 67 mit Hinweis auf BVerfGE 20, 150, 154<br />
892 BVerwGE 72, 300, 316 Bezug nehmend auf BVerfGE 49, 89 ( in beiden Entscheidungen<br />
geht es um Genehmigungen nach dem AtomG und Strahlenschutzerwägungen)<br />
247
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
len bei administrativen Beurteilungsspielräumen auf die Grundsätze zur Risikobewertung<br />
aus dem Umweltrecht stützt893 , so erkennt inzwischen auch<br />
er die erweiterte Dimension des <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Gefahrenbegriffs<br />
an. Eine risikoorientierte Interpretation der Gefährdungsschwelle scheint<br />
ihm zufolge möglich.<br />
Auch in der Dual-use-VO ist - wie schon mehrfach angedeutet - der Gefahrenbegriff<br />
zur Definition der Eingriffsschwelle nicht zwingend angelegt. Er<br />
könnte zwar dort in Art. 8 unter den Begriff der sachdienlichen Erwägungen<br />
subsumiert werden. <strong>Die</strong>se beziehen sich auf die internationalen Verpflichtungen<br />
der Mitgliedstaaten und die nationale Außen- und Sicherheitspolitik.<br />
Sie sollen für die Entscheidung von Relevanz sein. Der mit den Formulierungen<br />
der Art. 8 und 9 Dual-use-VO konstatierte Entscheidungsspielraum<br />
der Behörde trifft allerdings keine Aussage darüber, dass es auf die Sicherheit<br />
der Erkenntnis oder bestimmte Überzeugung der Behörde vom Bestehen<br />
der Gefahr ankommt. Das Behördenermessen steht allenfalls unter dem<br />
Vorbehalt der allgemeinen Verfassungsprinzipien, insbesondere der Verhältnismäßigkeit.<br />
<strong>Die</strong>se fordert per se schon eine Eignung und Erforderlichkeit<br />
der Maßnahme zur Erfüllung von sicherheitsrelevanten Schutzpflichten. Ob<br />
es dafür überhaupt einer Gefahr bedarf, bestimmt sich daher allein nach dem<br />
Normzweck, der anhand der hinter den Regelungen stehenden internationalen<br />
Verpflichtungen näher bestimmt werden muss. Da sich die geschützten<br />
Belange der Dual-use-VO mit denen des § 7 AWG. decken, bedarf es hierzu<br />
keiner gesonderten Ausführungen894 .<br />
cc) Bezugnahme auf Sicherheit als Kollektivbelang<br />
Es lässt sich festhalten, dass mit Blick auf die geschützten Belange in § 7<br />
AWG wie auch in Art. 8 Dual-use-VO keine Bezugnahme auf konkrete<br />
Rechtsgutsverletzungen erfolgt. Es geht um bestimmte Ausprägungen des<br />
Staatsziels Sicherheit und damit zusammenhängende internationale Verpflichtungen.<br />
<strong>Die</strong>sem wird ein kollektiv wirkender Gemeinwohlcharakter<br />
zugeschrieben, nicht aber ein unmittelbar verfassungsrechtlich geschützter<br />
subjektiv-öffentlicher Rechtsanspruch. <strong>Die</strong> Schutzaufgabe Sicherheit wird<br />
dagegen über eventuell betroffene Grundrechte vermittelt.<br />
<strong>Die</strong> Reichweite der unbestimmten Rechtsbegriffe Sicherheitsinteressen bzw.<br />
sicherheitspolitische Überlegungen muss über den Schutzzweck der Genehmigungspflichten<br />
näher bestimmt werden. Nicht zuletzt, weil es mit der<br />
893 V. Bogdandy (FN 4), S. 77<br />
894 Vgl. Teil 2 II.4. zum Entscheidungsspielraum und Teil 1 II.5.d) zum Vergelich der<br />
Genehmigungskriterien bzw. geschützten Belange<br />
248
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
faktischen Bezugnahme des Eingriffstatbestandes auf das Sicherheitsempfinden<br />
der Gesellschaft nicht mehr um die Gefahr für individuell geschützte<br />
Rechtspositionen im klassischen Sinne geht, wird auch in der Exportkontrolle<br />
die hinreichende Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm des § 7 AWG<br />
und die Forderung nach besseren Normkonkretisierungen thematisiert895 .<br />
Mit dem Bezugspunkt der Prognose zum Kollektivgut der Sicherheitsinteressen<br />
macht der Gesetzgeber deutlich, dass die Verwaltung nicht erst bei<br />
konkreten Gefahren für Leib und Leben der Bürger, sei es in Deutschland<br />
oder anderswo, handeln soll. Es besteht vielmehr ein Indiz für die Vorverlagerung<br />
der Gefahrenabwehr hin zu einer Gefahrenvorsorge. Anders kann der<br />
Staat seinen Schutzpflichten kaum effektiv nachkommen. Beim Versuch einer<br />
näheren Bestimmung der Gefahrenschwelle und des Bezugspunktes der<br />
Gefährdung orientiert sich die gesetzliche Eingriffsermächtigung allein am<br />
Kollektivbelang Sicherheit, der als Maßstab der drohenden Rechtsgutsverletzung<br />
vorgesehen ist. In ordnungsrechtlichen Verfahren wendet sich das<br />
Behördenhandeln dagegen regelmäßig gegen bestimmbare Gruppen oder eine<br />
konkretisierbare Störung bestimmter Rechtsgüter.<br />
<strong>Die</strong> Quantifizierung der mit § 7 AWG und Art. 8 Dual-use-VO geschützten<br />
Adressatenkreise erscheint kaum möglich896 . <strong>Die</strong> internationalen Verpflichtungen<br />
der Bundesrepublik und die Zielrichtung der Exportkontrollen hinsichtlich<br />
weltweit stabiler Verhältnisse, also der Verhinderung von mit konventionellen<br />
Waffen ausgefochtenen Konflikten sowie die weltweite Verhinderung<br />
des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen dürfte die gesamte<br />
Weltbevölkerung einbeziehen. Das gilt erst recht für die Schutzzwecke Völkerfrieden<br />
und Menschenrechtserwägungen. <strong>Die</strong> effektive Gefahrenabwehr<br />
ist so im klassischen Sinne nicht möglich. <strong>Die</strong> Verwaltung muss bereits<br />
frühzeitig handeln können, wenn Gemeinwohlbelange tangiert sind. Von<br />
Bogdandy hat dazu angeführt, dass es bei der näheren Bestimmung der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Gefährdungsschwelle auf eine Abgrenzung zu Restrisiken<br />
ankommen muss und deshalb eine Wahrscheinlichkeitsprognose notwendig<br />
sei. Sie müsse sich auf die potenzielle Schädigung eines hochwertigen<br />
Rechtsguts beziehen. Er hat damit nicht auf die Sicherheit rekurriert,<br />
sondern die schon im Zusammenhang mit der Risikovorsorge und der<br />
Schutzpflichtendiskussion angeführten Urteile des BVerfG. Beide stellen auf<br />
die Individualrechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit ab, die nach<br />
Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem effektiven Schutzpflichtgebot als<br />
895 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 7 Rn 18; s.a. Ausführungen zum Grad<br />
der Normbestimmtheit Teil2 II.3.b)bb)<br />
896 Vgl. Teil2 II.5.b)ee)<br />
249
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Prüfungsmaßstab für die Rechtfertigung eines Eingriffs dienen müssten897 .<br />
<strong>Die</strong>se besonders gewichtigen Schutzgüter seien in der Exportkontrolle wie<br />
im allgemeinen Ordnungsrecht maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die<br />
Wahrscheinlichkeitsprognose898 .<br />
Dem ist zuzustimmen, allerdings muss bei der Frage der Wahrscheinlichkeitsbestimmung<br />
die Konsequenz bestehender Erkenntnisdefizite berücksichtigt<br />
werden. Eine potenzielle Gefährdung der Individualrechtsgüter ist<br />
für die Exportkontrollbehörde allenfalls mit großer Unsicherheit vorhersehbar,<br />
es kann diesbezüglich also kaum mit der für die Gefahrenprognose<br />
maßgeblichen Wahrscheinlichkeit operiert werden. Sinn und Zweck der Exportkontrollen<br />
ist es, schon ansatzweise zu lebensbedrohlichen Umständen<br />
führende Ereignisse zu verhindern. In zeitlicher Hinsicht wie auch mit Blick<br />
auf die Kausalitätsketten bis hin zu konkreten Rechtsgutsverletzungen<br />
scheint es nicht allein um die absehbare Entwicklung zu gehen. Vielmehr<br />
müssen grundsätzliche, systembedingte Ungewissheiten gemeistert werden.<br />
Dazu gehören z.B. Zerstörungspotenzial und Verwendung des Gutes, aber<br />
auch die politischen Folgen fehlerhafter Prognosen. In die Prognose sind<br />
daher alle durch eine Ausfuhr möglichen Risiken einzubeziehen. Nicht nur<br />
die Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern auch die Aussagesicherheit der<br />
prognoserelevanten hypothetischen Tatsachen muss in die Abwägung eingestellt<br />
werden. <strong>Die</strong>ser Befund spricht dafür, von Risikoentscheidungen der<br />
Exportkontrollbehörde zu sprechen899 .<br />
<strong>Die</strong> Abgrenzung von Gefahr und Risikosituationen und das dafür wesentliche<br />
Element des Unwissens wurden eingehend erörtert. <strong>Die</strong> Frage der Erkenntnisdefizite<br />
bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en muss noch näher untersucht<br />
werden. Im Ergebnis wird bei der Anwendung der §§ 3 und 7 AWG also in<br />
Wahrung der Schutzfunktion explizit der status positivus der Grundrechte<br />
angesprochen. Letztlich steht diese Interpretation zur allgemeinen Funktion<br />
von Exportkontrollen nicht im Widerspruch. Hierauf wird im Anschluss<br />
noch näher eingegangen. Trotz Verwendung der o.a. Begriffe scheint die<br />
Auslegung des Wortlautes der Norm in diesem Gesamtzusammenhang zum<br />
Risikobegriff zu führen.<br />
897 V. Bogdany (FN 4), S. 70, unter Bezugnahme auf BVerfGE 53, 30, 57 - Mühlheim-<br />
Kärlich und 56 , 54, 73 ff. - Luftverkehrslärm<br />
898 Pietsch, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7) § 1 AWG Rn 13<br />
899 So Karpenstein (FN 41), S. 232<br />
250
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
dd) Konkretisierung des Normzwecks<br />
<strong>Die</strong> Ziele von Exportkontrollen, ihr geschichtlicher Hintergrund sowie die<br />
Sicherheitsgewährleistungen des Staates wurden mehrfach angesprochen900 .<br />
Für den Schutzzweck einschlägiger Genehmigungsvorbehalte erscheint vor<br />
allem für den konventionellen Dual-use-Güter-Bereich ein Aspekt sehr<br />
wichtig. Der Zweck von Exportkontrollen hat sich nach Ende des kalten<br />
Krieges nachhaltig verändert, was auch bei der Bewertung von Einzelfällen<br />
zu berücksichtigen ist. <strong>Die</strong> Dimension des gerade seit Anfang der 90er Jahre<br />
beschleunigten gesellschaftspolitischen Wandels und die Auswirkungen auf<br />
die Sicherheitserwartungen an den Staat sind für die Entwicklung der Exportkontrollen<br />
von erheblicher Bedeutung. <strong>Die</strong> noch dem Cocom-Regime<br />
eigene West-Ost-Richtung und Front-Betrachtung mit Fokus auf die Wahrung<br />
von Technologievorsprüngen wurde im Wassenaar-Regime aufgegeben901<br />
.<br />
Auch die Strukturen und Verfahren der Exportkontrollen passen sich der zunehmenden<br />
globalen Vernetzung von Logistik und Wissen an. <strong>Die</strong> weltweite<br />
Proliferation und Waffenbeschaffung steht heute mehr denn je im Mittelpunkt,<br />
erst recht durch die von Staaten losgelöste asymmetrische Bedrohung<br />
durch terroristische Aktivitäten. Hinzu kommt der wissenschaftliche und<br />
wirtschaftliche Fortschritt, was auch das technische Waffenpotenzial und die<br />
Zugangsmöglichkeiten erheblich verbessert hat. Damit werden Erkenntnisdefizite<br />
und so die Risiken deutlich größer. <strong>Die</strong> Frage nach für Exportkontrollen<br />
kritischen Wahrscheinlichkeiten in Form von Standards für risikoorientierte<br />
„de minimis“ oder „unreasonable risk“-Abwägungen beinhaltet daher<br />
zurecht die These, dass sich Exportkontrollen am Risikobegriff orientieren<br />
müssen902 . Bei den Exportkontollregimes stehen heute Fragen in Zusammenhang<br />
mit möglichen Erkenntnis- und Kontrolldefiziten regelmäßig<br />
auf der Agenda. Sie beschäftigen sich nicht mehr nur mit Listenfragen, sondern<br />
auch mit der Kontrolleffizienz. Dazu gehören Themen wie die Kontrolle<br />
unverkörperter Technologietransfers oder die Endverbleibsicherung. Beim<br />
Waffenbrokering ergeben sich besondere extraterritoriale Herausforderungen<br />
durch grenzüberschreitend agierende Händlerringe. Noch komplexer<br />
werden die Anforderungen an die Kontrollen bei staatenunabhängigen Terrorismusgefahren903<br />
. <strong>Die</strong>se Erwägungen bestätigen, dass sich inzwischen<br />
900 Vgl. Teile 1. I. und 3 I.<br />
901 Vgl. Teil 1 II.3.d)dd)<br />
902 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 101<br />
903 Zu den künftigen internationalen Herausforderungen: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9),<br />
J. S. 258<br />
251
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
auch die Gremien auf völkerrechtlicher Ebene mit risikoorientierten Fragen<br />
befassen. <strong>Die</strong>ser Befund ist wesentlich für den Normzweck, der nicht zuletzt<br />
durch die internationalen und zumindest politisch verbindlichen Vorgaben<br />
bestimmt wird. <strong>Die</strong> Erwägungen zum Normzweck und die Tatsache regelmäßig<br />
bestehender Ungewissheiten im Zeitpunkt der Entscheidung über<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en bestätigen also die Risikoorientierung der Exportkontrollen.<br />
Im technischen Sicherheitsrecht erscheint die Sachlage ähnlich, wenngleich<br />
bei Exportkontrollen über die technischen Fragen hinaus die verhaltensrelevanten<br />
Prognoseelemente mehr im Vordergrund zu stehen scheinen. Auch<br />
wenn im technischen Sicherheitsrecht, vor allem im Umweltrecht häufig<br />
konkrete Dritte - z.B. der Nachbar – im Fokus der Sicherheit stehen. Dahinter<br />
stehen regelmäßig schützenswerte Gesellschaftsgruppen, die sich nicht<br />
auf eine konkrete Zahl von Individuen beschränken. Auch bei Exportkontrollen<br />
geht um den Schutz ganzer Gesellschaftsgruppen, also einen im Zeitpunkt<br />
der Genehmigungserteilung noch unbestimmten Adressatenkreis. Insoweit<br />
sind beide Bereiche vergleichbar, der Vorsorgeansatz also auch bei<br />
Exportkontrollen möglich.<br />
Es bleibt festzuhalten, dass der Schutzzweck der Genehmigungsvorbehalte<br />
eine Reihe von Anhaltspunkten dafür bietet, dass Exportkontrollen Risikovorsorgecharakter<br />
haben. Letztlich muss aber die Abgrenzung von Gefahr<br />
und Risiko anhand der Frage bestehender Ungewissheit entschieden werden.<br />
<strong>Die</strong> Prüfungskriterien bei Genehmigungsentscheidungen sollen deshalb<br />
noch einmal im Einzelnen auf ihren Prognosegehalt hin untersucht werden.<br />
ee) Abgrenzung von Gefahr und Risiko im Kontext von Ungewissheit<br />
Nicht nur von Bogdandy nimmt Bezug auf die Termini der Risikovorsorge<br />
und zieht so einen Vergleich zum Umweltrecht. Anhaltspunkte, dass es sich<br />
bei der Frage nach der Gefährdung im Sinne der §§ 3, 7 AWG und bei den<br />
Kriterien der Dual-use-VO um Festlegungen für eine Risikoschwelle handelt,<br />
sieht auch Karpenstein. Bei den Genehmigungstatbeständen und den<br />
damit verbundenen Verfahren und Kriterien spricht er von einer Ermittlung<br />
des Exportrisikos. Aufgrund des weit gezogenen Bereichs der Ungewissheit<br />
im Rahmen der politischen Prognose müsse von Risikoentscheidungen gesprochen<br />
werden. Objektiv zu bewerten sei das Zerstörungspotenzial der betroffenen<br />
Technologie, subjektiv das Nichtwissen um die Endverwendung<br />
im Einzelfall sowie ein möglicher Missbrauch904 . Wenn also in der Exportkontrollliteratur<br />
vom „Risikomanagement“ gesprochen wird und damit ver-<br />
904 Karpenstein (FN 41), S. 233, 243<br />
252
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
bundene Ungewissheiten sowie kompensatorische Verfahrenskomponenten<br />
thematisiert werden, wird zutreffend von einem Bedürfnis für die weitergehende<br />
inhaltliche Präzisierung der Wahrscheinlichkeitskriterien bei der<br />
Prognoseentscheidung und möglichst weitgehend strukturierten Eingriffsschwellen<br />
ausgegangen. Der mit der Ermessensfehlerlehre vorgegebene<br />
Entscheidungsrahmen löst keines der Probleme, die sich aufgrund der Ungewissheit<br />
bei den Prognoseelementen ergeben. Gleichzeitig dürfen sich an<br />
Erkenntnisdefiziten orientierende Rechtsinstitute, wie der Gefahrenverdacht,<br />
Besorgnisverdacht oder Risikoverdacht, nicht zu einer grenzenlosen Ausdehnung<br />
der Prävention führen905 .<br />
<strong>Die</strong>se Analyse wird durch die systematischen Ansätze zur Unterscheidung<br />
konkreter und abstrakter Gefahren sowie Risiken bestätigt. <strong>Die</strong> Kontrollermächtigung<br />
nimmt quantitativ wie qualitativ erhebliche Ungewissheiten von<br />
Ausfuhrfolgen in Kauf. Sie gehen über bei Gefahrenprognosen ohnehin vorhandene<br />
Unsicherheiten der Zukunftsentwicklung hinaus. <strong>Die</strong> Kausalitätsprognose<br />
zwischen Ausfuhrhandlung und potenziellem Schaden, also die<br />
Wahrscheinlichkeitsprognose, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten. Im Polizeirecht<br />
wird das unter dem Aspekt der Zurechnung eines Schadens und<br />
der Störereigenschaft behandelt. Grundsätzlich mag es zwar einleuchten,<br />
dass ein Missbrauch von Ausfuhrgütern in Form gewalttätiger Handlungen<br />
letztlich immer die körperliche Unversehrtheit oder das Leben eines Einzelnen<br />
oder einer Gruppe von Rechtsgutträgern gefährden kann. Eine entsprechende<br />
Ereigniskette von der Ausfuhr hin zum Schaden kann allerdings allenfalls<br />
abstrakt vorgezeichnet werden. Eine konkrete Gefahr für ein individualisiertes<br />
Schutzinteresse bestimmter Personen im Sinne der allgemeinen<br />
Eingriffsbefugnisse im Polizeirecht ist kaum darstellbar. Vertritt man die<br />
Ansicht, dass bei der Bestimmbarkeit des potenziellen Schadens auch bei<br />
kollektiven Interessen auf das Vorliegen von hinreichenden Erkenntnissen<br />
zum möglichen „Gewaltopfer“ abzustellen ist, fehlt es in aller Regel an einem<br />
Gefahrenbezug bzw. Schaden. <strong>Die</strong>se Komponente der Ungewissheit<br />
bestätigt die These, dass von einem Risikobezug von Exportkontrollen und<br />
damit auch der Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips ausgegangen werden<br />
kann.<br />
Zu einem anderen Ergebnis kommt man nur, wenn man auf die in den Genehmigungstatbeständen<br />
geschützten kollektiven Interessen, also Sicherheit,<br />
Völkerfriede und auswärtige Belange abstellt. <strong>Die</strong>se staatlichen Interessen<br />
dienen der Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten im Zusammenhang<br />
mit dem Gewaltmonopol. Wenn man sie als eigenständige, auf die Allge-<br />
905 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 101<br />
253
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
meinheit bezogene Rechtsgüter bzw. als Teil der verfassungsmäßig verbürgten<br />
Gemeinwohlbelange begreift, könnte ein konkret bestimmbarer Schaden<br />
angenommen werden, wenn Anhaltspunkte für eine bestimmte kausale Entwicklung<br />
vorliegen. Aber auch das scheint in der Praxis nicht immer möglich.<br />
Wie schon bei Auslegung des Sicherheitsbegriffs erörtert, steigen die<br />
Erwartungen an die Prävention. Gleichzeitg wird sie aufgrund der zunehmenden<br />
internationalen und völkerrechtlichen Dimension der Sicherheit und<br />
in der Folge durch die notwendige behörden- und länderübergreifender Kooperation<br />
immer schwieriger. Der Staat muss daher auch bei Erkenntisdefiziten<br />
handlungsfähig bleiben.<br />
<strong>Die</strong> These, dass die Gefahrenabwehr zur Risikovorsorge verlagert wird, weil<br />
die Krisenprävention und damit die Staatsaufgabe Sicherheit im Lichte des<br />
völkerrechtlichen Gewaltmonopols internationalisiert wird906 , erscheint deshalb<br />
gerade für Exportkontrollen zutreffend. Wegen des regelmäßig erheblichen<br />
Zeitablaufs zwischen der Ausfuhr von Dual-use-Gütern und ihrer konkreten<br />
Verwendung sowie einem möglichen missbräuchlichen Einsatz der<br />
damit hergestellten Waffen sind konkrete Auswirkungen einer Ausfuhr und<br />
die außenpolitischen Folgen kaum vorhersehbar. Eine Vielzahl verschiedener<br />
Staaten, Regierungen oder Organisationen wie auch private Kreise müssen<br />
im Kontext des internationalen Sicherheitsgeflechts, auswärtiger Beziehungen<br />
oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker berücksichtigt<br />
werden. Für die Gefahrenabwehr bei Exportkontrollen bleibt da kaum<br />
Raum907 . <strong>Die</strong> im nationalen Recht vorgenommene Kombination des Begriffs<br />
Gefährdung mit dem Bezugspunkt Sicherheit bzw. Sicherheitsinteressen<br />
gem. §§ 3 und 7 AWG deutet nicht auf eine Absicht des Gesetzgebers hin,<br />
möglichst konkrete Szenarien zum Gegenstand <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Instrumentarien<br />
zu machen. <strong>Die</strong> Kombination des Gefahrenbegriffs mit den<br />
geschützten Kollektivinteressen lässt demnach Raum für die Annahme risikoimmanenter<br />
Erkenntnisdefizite in Zusammenhang mit der Bedrohung einzelner<br />
Belange. <strong>Die</strong> in der Dual-use-VO verwendete, vergleichsweise offene,<br />
Formulierung in Form von sachdienlichen Erwägungen und Überlegungen<br />
spricht erst recht eine solche Annahme.<br />
<strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeitsschwelle des traditionellen Gefahrenbegriffs wäre<br />
bei der Endverwendungsprognose von Dual-use-Gütern dann unterschritten,<br />
wenn Eingriffsbefugnisse der Verwaltung trotz möglicher Erkenntnisdefizite<br />
bestehen sollen. Sie würden auf diese Weise ausgeweitet. Man könnte dabei<br />
zwar auch vom Vorliegen abstrakter Gefahren ausgehen. <strong>Die</strong>se kennzeich-<br />
906 Calliess, Äußere Sicherheit im Wandel (FN 105), S. 24 und 27<br />
907 So auch schon Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 3 Rn 10<br />
254
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
nen sich durch eine fehlende Individualisierung der Gefahr, wie sie bei Exportkontrollen<br />
der Fall ist. Da bei einer Gefahr ein Schaden zumindest hinreichend<br />
wahrscheinlich sein muss, reichen die beschriebenen Ungewissheiten<br />
hierfür aber gerade nicht aus. Der Gefahrenverdacht und damit die schon<br />
erwähnten Denkansätze zum subjektiven Gefahrenbegriff liegen hier näher.<br />
<strong>Die</strong> Gründe für die Ablehnung dieser Rechtsfigur und die Abgrenzung zum<br />
Risiko wurden angesprochen. Im Ergebnis führen deshalb allein die Thesen<br />
zum Risikobegriff und Vorsorgeprinzip zu einer Ausweitung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten,<br />
frühzeitig und unterhalb der klassischen Gefahrenschwelle.<br />
ff) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von Rüstungsgütern<br />
<strong>Die</strong> mittels Wahrscheinlichkeitsgrad prognostizierte kausale Verknüpfung<br />
zwischen Ausfuhr und einem möglichen Schaden erscheint beim grundsätzlich<br />
bekannten Empfänger von Rüstungsgütern noch darstellbar. Klassische<br />
Instrumente der Gefahrenabwehr wären daher eher praktikabel. Bei der Lieferung<br />
von Rüstungsgütern ist die Absicht militärischer Verwendung produktspezifisch<br />
und damit eindeutig geklärt. <strong>Die</strong> konkrete Verwendungsprognose<br />
bezieht sich lediglich auf den Empfänger der Ware. Um die angegebene<br />
Endverwender sicherzustellen, werden regelmäßig staatliche Zertifikate<br />
und Empfangsbestätigungen gefordert. Eine Missbrauchsgefahr reduziert<br />
sich auf das Verhalten des bekannten Empfängers oder aber auf Umgehungslieferungen.<br />
Letztere geht vom Empfänger aus. Insoweit könnte man<br />
konstatieren, dass aus der Person des Empfängers ein hinreichend konkreter<br />
Geschehensablauf zum potenziellen Missbrauch einer Lieferung und damit<br />
verbundenen Schäden abgeleitet werden kann. Für Rüstungsgüter erscheint<br />
demnach eine Wahrscheinlichkeitsprognose im Sinne der klassischen Gefahrenabwehr<br />
möglich. Eine andere Beurteilung könnte sich bei einer denkbaren<br />
Fehleinschätzung des späteren Handelns des Empfängers ergeben, der<br />
die Ware entgegen seinen Angaben, vielleicht sogar seiner ursprünglichen<br />
Absichten, an einen gewaltbereiten potenziellen Aggressor weiterveräußert.<br />
Aber nicht nur die Schwäche von Verhaltenprognosen, auch die Vielfalt<br />
möglicher tatsächlicher und politischer Folgen bei Fehleinschätzungen,<br />
sprechen für die Möglichkeit, dass ein Schadens nicht immer mit der gebotenen<br />
Wahrscheinlichkeit eingeschätzt werden kann. Das Argument wird gestützt,<br />
wenn man die den Normzweck konkretisierenden Vorgaben der exportkontrollpolitischen<br />
Grundsätze einbezieht. Gerade gegenüber nicht im<br />
Verteidigungsbündnis kooperierenden Drittländern sind möglichst restriktive<br />
Genehmigungspolitiken vorgesehen, verbunden mit stringenten Vorgaben<br />
und einer Reihe von Sicherheitsvoraussetzungen im Drittland, wie z.B. effektive<br />
Exportkontrollen und Kriminalpräventionsmechanismen. Danach<br />
255
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
soll jede auch nur annähernde Gefährdung der Sicherheit ausgeschlossen<br />
sein. Auch Erkenntnisdefizite, also die Unmöglichkeit einer Wahrscheinlichkeitsbestimmung,<br />
könnten für eine negative Entscheidung sprechen. Es<br />
kommt dann auch bei Rüstungsexporten zu einer Risikoabwägung.<br />
gg) Erkenntnisdefizite bei der Lieferung von Dual-use-Gütern<br />
Noch eindeutiger erscheint die Sachlage bei Dual-use-Gütern. <strong>Die</strong> Darlegung<br />
konkreter oder auch abstrakter (auf bestimmte Gruppen bezogene) Gefahren<br />
müsste sowohl aus technischer Sicht, wie auch mit Blick auf den<br />
Empfänger und dessen Verhalten, möglich sein. <strong>Die</strong> Realitätsnähe der Optionen<br />
ziviler und waffenrelevanter Endverwendung muss in der Prognose<br />
herausgearbeitet werden. Unwissen kann sich dabei auf sehr verschiedene<br />
Prognoseelemente beziehen. Schließlich sind die Gefährdungskriterien bei<br />
der betreffenden Lieferung von vielen Faktoren abhängig908 . Zwar müsse<br />
sich die Endverwendungsprognose auf möglichst vollständig ermittelte Tatsachen<br />
berufen, ein gewisser Grad an Unwissen wird aber hinzunehmen sein<br />
und muss durch ergänzende verfahrenstechnische Instrumentarien überwunden<br />
werden909 .<br />
Zunächst muss festgestellt werden, in welchen Bereichen der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Sachverhaltsermittlung Erkenntnisdefizite schwerpunktmäßig<br />
eine Rolle spielen. <strong>Die</strong> Genehmigungskriterien und entsprechende politische<br />
Leitlinien können nur zu einer angemessenen Entscheidungsfindung führen,<br />
wenn der Sachverhalt hinreichende Anhaltspunkte für die Anwendung bestimmter<br />
Genehmigungstatbestände liefert. Auf die einzelnen Prüfungsschritte<br />
der Exportkontrollbehörde zur Sachverhaltsermittlung wurde bereits<br />
im Rahmen der Rechtsqualität einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />
eingegangen.<br />
Im ersten Schritt des Genehmigungsverfahrens wird die Qualifikation des<br />
Antragstellers geprüft. Nach AWG wie Dual-use-VO wird eine Genehmigung<br />
von seiner Zuverlässigkeit abhängig gemacht. Er muss aus bisherigen<br />
Verfahren als zuverlässig bekannt sein, in dem er die Einhaltung der Exportkontrollvorschriften<br />
in der Vergangenheit gewährleistet hat. Das Zuverlässigkeitszertifikat<br />
erwirbt er sich unter bestimmten Voraussetzungen, die u.a.<br />
auch firmeninterne Kontrollen sowie eine besondere persönliche Verantwortung<br />
und Letztentscheidungsbefugnis durch verlässliche Ausfuhrverantwortliche<br />
beinhalten. Im Falle der Unzuverlässigkeit oder eines Verdachts hierzu<br />
erfolgt nach den politischen Grundsätzen der Bundesregierung eine Ausset-<br />
908 So auch Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 398<br />
909 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 97 ff.<br />
256
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
zung des Verfahrens oder eine Ablehnung910 . Durch dieses Verfahren soll<br />
auch eine gewisse Kooperation mit der Behörde, hinreichende Information<br />
und Fortbildung sowie Sensitivität der Unternehmen für die sicherheitspolitische<br />
Relevanz der Kontrollen und damit die Wahrnehmung der Eigenverantwortung<br />
der Unternehmen mittels innerbetrieblicher Organisation gefördert<br />
werden911 . Bei zuverlässigen Unternehmen kann die Behörde davon<br />
ausgehen, dass die Antragsangaben gewissenhaft und nach bester Kenntnis<br />
gemacht werden. Somit bestehen zunächst Indizien, dass Missbräuche nicht<br />
nahe liegen. Erst durch bessere Behördenerkenntnisse würde dies relativiert.<br />
Faktisch kommt es zu einer Beweislastumkehr für die Frage der zivilen<br />
Endverwendung des Dual-use-Gutes. In diesem Prüfschritt sind Erkenntnisdefizite<br />
an sich nicht von Relevanz. <strong>Die</strong> Zuverlässigkeit hat keinen Prognosecharakter,<br />
sondern basiert auf der Bewertung zurückliegender Erfahrungen<br />
zum Antragsteller. Unwissen spielt dabei also keine unmittelbare Rolle.<br />
In der Folge wird die Glaubhaftigkeit der behaupteten zivilen oder sonstigen<br />
Endverwendung geprüft. Dabei werden technische Eignung, die Art der<br />
Ausfuhr und des Gutes, der konkret geplante Einsatzbereich und dessen Nähe<br />
bzw. Bezug zu missbilligten Verwendungen, der geplante Endverbleib<br />
sowie eine Überprüfung des Empfängers bzw. im Fall der Weitergabe an<br />
Dritte des tatsächlichen Endverwenders einbezogen. Im Grundsatz gilt, dass<br />
die zivile Endverwendung, sofern es auf sie ankommt, schlüssig und plausibel<br />
dargestellt sein muss912 . Dem entgegenstehende Anhaltspunkte, die eine<br />
Missbrauchsprognose der Behörde rechtfertigen könnten, ist bei den Verwendungstatbeständen<br />
im Gegensatz zu Genehmigungspflichten bei Gütern<br />
der Ausfuhrliste auch Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Genehmigungspflicht<br />
besteht913 . Aber alle mit dem Verwendungszweck einhergehenden<br />
Prognosemerkmale bergen die Gefahr von Erkenntnisdefiziten.<br />
Erstes Element der möglichen Ungewissheit kann die technische Eignung<br />
des Ausfuhrgutes sein. Hierzu müssen von Fachexperten in Zusammenarbeit<br />
mit den Antragstellern möglichst konkrete naturwissenschaftliche Aussagen<br />
erstellt werden. Dabei geht es um die Qualifikation der Ware für die Güterlisten.<br />
<strong>Die</strong> technische Analyse des betroffenen Gutes erfolgt aber auch mit<br />
der Frage nach der Eignung des Gutes für den angegebenen Verwendungs-<br />
910 Zum Ganzen: Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 344 f., 357 f., s.a. Bekanntmachung der<br />
Bundesregierung vom 25.07.2001 und des BAFA vom 01.08.2001 unter:<br />
www.bafa.de<br />
911 Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 22<br />
912 Zu den einzelnen Kriterien: Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 398<br />
913 Zu den Grundlagen der Bewertung: Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 74<br />
257
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
zweck. Rückschlüsse auf Verwendungsoptionen können aber im Einzelfall<br />
durchaus schwierig sein, so dass damit auch Unsicherheitsfaktoren verbunden<br />
sein können. Soweit es sich um gelistete Güter handelt, deuten die technischen<br />
Parameter auf eine implizite Risikoschwelle hin. <strong>Die</strong> Güter der<br />
meist aus den Exportkontrollregimes stammenden Listenpositionen gelten<br />
als militärisch oder im Bereich der Produktion von Massenvernichtungswaffen<br />
als besonders sensibel. Bei diesen Gütern kommt es deshalb besonders<br />
auf die tatsächliche Verwendung an. <strong>Die</strong> zivile Endverwendung muss sichergestellt<br />
sein. Faktisch erfolgt hierbei eine Beweislastverteilung zu Ungunsten<br />
des Antragstellers, da er die geplanten Einsatzzwecke der Lieferung<br />
plausibel darstellen muss914 . Das gilt erst recht, wenn der Empfänger einen<br />
missbrauchsrelevanten Hintergrund hat. Hierbei kommen auch die Angaben<br />
des Empfängers und dessen Glaubwürdigkeit ins Spiel.<br />
Bei nicht gelisteten Gütern, die wegen der möglichen Endverwendung antragspflichtig<br />
sind, besteht eine technisch bedingte Gefährdungsvermutung<br />
zunächst nicht. Es kommt allein auf die tatsächliche Endverwendung an.<br />
Nur wenn der Behörde entsprechende Kenntnisse einer militärischen Relevanz<br />
des beabsichtigten Einsatzes vorliegen, kann es zu einer Ablehnung<br />
kommen. <strong>Die</strong> soeben behauptete Beweislastumkehr für die zivile Endverwendung<br />
zu Lasten des Antragstellers dürfte wegen des Fehlens der mit der<br />
Listung verbundenen technischen Gefährdungsvermutung demnach zunächst<br />
nicht greifen. <strong>Die</strong>s geht auf die Korrelation des Gefährdungspotenzials<br />
der Lieferung zu den Anforderungen an einen Rechtseingriff zurück. Danach<br />
soll die Höhe des Gefährdungspotenzials in die Anforderung einer hinreichenden<br />
Spezifizierung der Wahrscheinlichkeitsprognose eingestellt werden915<br />
. <strong>Die</strong>ser Ansatz mag zwar die Komponente Unwissen und deren Auswirkung<br />
auf die Wahrscheinlichkeitsbetrachtung verkennen, entspricht aber<br />
strukturell durchaus der auch im Risikobereich gesehenen Verhältnismäßigkeitsbetrachtung<br />
in Abhängigkeit von der Risikonähe eines Verhaltens oder<br />
Zustandes916 . Mit Blick auf die technischen Eigenschaften der Dual-use-<br />
Güter könnten Erkenntnisdefizite verbleiben, wenn die vorhandene Fachexpertise<br />
nicht ausreicht. <strong>Die</strong>se könnte bei Neuentwicklungen durchaus der<br />
Fall sein, dürfte aufgrund der im BAFA vorhandenen Erfahrungen aber nur<br />
in Ausnahmefällen tatsächlich technisch begründet sein. Regelmäßig dürften<br />
sich die Unsicherheiten auf das tatsächliche Verhalten des späteren Nutzers<br />
beziehen.<br />
914 So auch Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 Rn 11<br />
915 Hinweise auf Exportkontrollliteratur dazu in Teil 1 II.5.e)<br />
916 hierzu Teil 3 III.2.<br />
258
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Zweites Element der Ungewissheit ist die Spezifikation des Empfängers und<br />
damit die Plausibilität der Endverwendungsangaben. Hierbei geht es nicht<br />
um technische Fragen, sondern um die konkreten Einsatzgebiete und Tätigkeitsfelder<br />
des Empfängers. <strong>Die</strong> Bewertung erfolgt mit Hilfe der vorhandenen<br />
Erkenntnisse des BAFA oder, je nach Empfängerland und Warenbezug,<br />
auch mit Hilfe nachrichtendienstlicher Recherchen. Dabei bezieht die Genehmigungsbehörde<br />
Informationen über die Gesellschafter des Unternehmens,<br />
seinen Kundenkreis und sonstige Geschäftsbeziehungen ein. So kann<br />
sie Rückschlüsse auf die tatsächlichen Verwendungsabsichten ziehen. Auch<br />
die mögliche Weitergabe an Dritte und die Kontrolle der Güter im Empfängerstaat<br />
werden berücksichtigt.<br />
Gerade bei Auslandstatsachen ergeben sich regelmäßig große Unsicherheiten.<br />
<strong>Die</strong> Qualität der Erkenntnisdefizite geht schnell über die bestehende<br />
Lebens- bzw. Behördenerfahrung hinaus. <strong>Die</strong> Beziehungsgeflechte der Wirtschaft<br />
sind hierfür oftmals zu komplex. Besonders die spätere Verwendung<br />
bzw. ihr Ort sind bei bestimmten Empfängerregionen kaum vorhersehbar.<br />
<strong>Die</strong> im Zeitpunkt der Ausfuhr geplanten Zwecke können nicht dauerhaft sichergestellt<br />
werden. Bei Dual-use-Gütern sind diese im Nachgang oft kaum<br />
nachzuprüfen, der konkrete Einsatz kann sich auch nachträglich ergeben. Es<br />
handelt sich teilweise nur um Rohmaterial, Zwischenprodukte oder Komponenten<br />
von Gütern oder Anlagen. Wofür die daraus hergestellten Produkte<br />
verwendet werden, ist im Zeitpunkt der Ausfuhr nicht immer bekannt bzw.<br />
vorhersehbar. Kundenkreise unterliegen dem Geschäftsgeheimnis und können<br />
sich ändern. Anhaltspunkte für einen späteren Missbrauch der Ware bieten<br />
nur allgemeine Informationen über den Empfänger und natürlich dessen<br />
Ansässigkeit in bestimmten Staaten oder Regionen. Der Grad der Ungewissheit<br />
für die zivile Verwendung kann also erheblich variieren. Erkenntnisdefizite<br />
im Sinne der Gefahren-/Risikoabgrenzung treten daher nahezu<br />
zwingend auf. <strong>Die</strong> Sachverhaltsermittlung stößt an ihre Grenzen. Hinsichtlich<br />
des Warenempfängers bleiben manchmal ohnehin nur die geäußerten<br />
und gegebenenfalls auch plausiblen Absichten als Entscheidungsgrundlage.<br />
Hier knüpft die Notwendigkeit der Behördenkooperation an, um die Informationsbeschaffung<br />
möglichst effektiv zu gestalten.<br />
Drittes Element der Unsicherheit ist die Prognose zu den politischen Auswirkungen<br />
eines möglicherweise stattfindenden Missbrauchs. <strong>Die</strong>ser hängt<br />
von vielen Einzelfaktoren ab, wie z.B. Schadenshöhe, Schadensopfer, Höhe<br />
des Ursachenbeitrages oder Versagen nationaler Kontrollen. Dennoch muss<br />
die Kontrollbehörde unter Abwägung der eigenen Prognosen und der Inte-<br />
259
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
ressen des Ausführers eine Entscheidung treffen 917 . Oft ist im Zeitpunkt der<br />
Ausfuhr noch nicht klar, welche Folgen sich für die geschützten Belange,<br />
geschweige denn politischen Implikationen im Sinne des § 7 AWG bzw. Art<br />
8 Dual-use-VO daraus ergeben könnten. Schließlich führt bei Dual-use-<br />
Gütern erst die Produktion unter Nutzung der Komponenten oder Zuhilfenahme<br />
der Betriebsmittel oder Herstellungsausrüstung mit Dual-use-<br />
Charakter zu einer Waffe. Wer diese später in den Händen hält oder gar konkret<br />
einsetzt, ist zumeist ungewiss. An dieser Stelle geht es um mittelbare<br />
Wirkungen einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>. Es müssen Vermutungen angestellt<br />
werden, die nicht immer von spezifischen Hinweisen gedeckt sind. Bei der<br />
Zahl vorhandener Ungewissheiten kann nicht mehr vom Überschreiten einer<br />
Gefahrenschwelle die Rede sein. In der Gesamtabwägung gibt es dennoch<br />
regelmäßig Gründe, die ein Eingreifen der Behörde, also die Genehmigungsversagung,<br />
für notwendig erachten lassen. Exportkontrollen für Dualuse-Güter<br />
können deshalb als Vorsorgemaßnahme im Sinne der Risikoprävention<br />
eingestuft werden. Hinzu kommt, dass bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />
wegen der hohen denkbaren Schäden die Anwendung des Vorsorgeprinzips<br />
nach o.g. Grundsätzen gerechtfertigt erscheint, zumindest bei Anhaltspunkten<br />
für die Möglichkeit der Nutzung der kontrollierten Güter für einen kriegerischen<br />
Einsatz oder sonstige missbräuchliche Handlungen.<br />
hh) Zusammenfassende Wertung des Risikobezugs von Exportkontrollen<br />
Rüstungsgüter und Dual-use-Güter müssen bezüglich der Erkenntnislage im<br />
Ergebnis unterschiedlich beurteilt werden. Auf Dual-use-Güter bezogene<br />
Exportkontrollen weisen sehr starke Bezüge zum Bild der Risikogesellschaft<br />
auf. Wissenschaft und Technologie haben bisher nicht abschätzbare Risiken<br />
und ebenso wenige absehbare Schadenspotenziale für unsere Gesellschaft<br />
geschaffen. Hoch entwickelte Waffensysteme basieren letztlich auf einem<br />
allgemein hohen (auch zivilen) Forschungs- und Entwicklungsstandard. Ein<br />
prägnantes Beispiel hierfür ist die Atomtechnologie, die nicht nur für friedliche<br />
Zwecke, sondern durch entsprechende zusätzliche Prozesse und Entwicklungen<br />
(z.B. Urananreicherung, Raketentechnologie) bis hin zur Herstellung<br />
einer Atombombe genutzt werden kann. <strong>Die</strong> dafür erforderlichen<br />
Technologien sowie Materiale haben Dual-use-Charakter. Ähnliches gilt bei<br />
Anlagen und Technik für andere Massenvernichtungswaffen. Aber auch für<br />
konventionelle Rüstungsgüter geeignete Dual-use-Güter tragen wesentlich<br />
zur Waffenherstellung bei und haben insoweit mittelbar ein großes Destabi-<br />
917 Zu den drei Komponenten der Ungewissheit: Karpenstein (FN 41), S. 233<br />
260
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
lisierungs- und Vernichtungspotenzial, das über die quantitativ beschränkbaren<br />
Waffenlieferungen durchaus hinausgehen kann. Bei Dual-use-Gütern ist<br />
dennoch zu unterscheiden. Einerseits basieren Genehmigungspflichten für<br />
gelistete Güter auf technischen Parametern, die in gewissem Maße kategorisieren,<br />
was als militärisch relevant bzw. trotz Dual-use-Charakter als besonders<br />
sensibel gilt. <strong>Die</strong>s schlägt auch auf die im Vergleich höheren Anforderungen<br />
einer Genehmigungsfähigkeit von Lieferungen bzw. Beweislastfragen<br />
durch. Hinzu kommt aber immer die empfängerabhängige Verwendungsprognose,<br />
die allein von menschlichem Handeln abhängt. Daneben<br />
stehen schließlich Genehmigungspflichten für nicht gelistete Güter, bei denen<br />
es ausschließlich auf die Verwendung und damit menschliches Verhalten<br />
ankommt. Das ist gerade bei asymmetrischen Bedrohungen wichtig, wie sie<br />
z.B. durch den Terrorismus gegeben sind. <strong>Die</strong>ses Kriterium ist letztlich für<br />
die Genehmigungsfähigkeit aller Lieferungen gleichermaßen bedeutsam, sei<br />
es für Rüstungsgüter, gelistete oder ungelistete Dual-use-Güter. Hier sind<br />
Missbräuche soweit wie möglich zu unterbinden. Das Endverwendungskriterium<br />
ist schwerlich bestimmten Kategorien zugänglich.<br />
Für Rüstungsgüter spielen vor allem das zweite und noch viel stärker das<br />
dritte Element der Ungewissheit, das Empfängerverhalten und politische<br />
Szenarien des Missbrauchs eine Rolle. Insgesamt dürften schon aufgrund<br />
des Normzwecks bei geringsten Zweifeln der Sicherstellung der angegebenen<br />
Verwendungszwecke negative Entscheidungen gewollt sein. Unsicherheit<br />
wirkt also eher als Präventionskriterium, so dass man hier sogar erst<br />
recht von einem Risikovorsorgecharakter der Genehmigungspflichten ausgehen<br />
könnte.<br />
In allen Kontrollbereichen bestehen demnach regelmäßig Erkenntnisdefizite.<br />
<strong>Die</strong> damit festgestellten Ungewissheiten und die Vielfalt der möglichen Folgewirkungen<br />
sprechen auch bei der Ausfuhrentscheidung für Dual-use-<br />
Güter für die Qualität eines Risikotatbestandes. <strong>Die</strong>ser Befund gilt für nationale<br />
und gemeinschaftsrechtliche Tatbestände gleichermaßen. Im Ergebnis<br />
spricht daher vieles für den Risikovorsorgecharakter der Exportkontrollen.<br />
Auf die hinreichend Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutsverletzung kann im<br />
Zeitpunkt einer Genehmigung aufgrund der regelmäßig bestehenden Ungewissheiten<br />
kaum abgestellt werden. Ihr Bezugspunkt und Zweck widersprechen<br />
dem Verständnis der Gefahrenprävention.<br />
b) Normkonkretisierung und standardisierte Eingriffsschwellen<br />
<strong>Die</strong> hinreichend inhaltliche Bestimmtheit der gesetzlichen Genehmigungsvorgaben<br />
muss mit den Kriterien von im Risikobereich erweiterten Eingriffsbefugnissen<br />
in Einklang gebracht werden. Es gelten die allgemeinen<br />
261
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
Erwägungen für die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe. Bei so umfassenden<br />
Entscheidungsspielräumen der Verwaltung, wie sie bei der Risikoprävention<br />
bestehen, werden erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung<br />
von Eingriffen gestellt. Der angemessene Umgang der Verwaltung mit<br />
ihren weit reichenden Befugnissen soll vor allem durch die Vorgabe verbindlicher<br />
Leitlinien zur Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe Gefahr<br />
bzw. Risiko sichergestellt werden. Nur so ist eine hinreichende richterliche<br />
Kontrolle gewährleistet.<br />
Infolge der Ausweitung staatlicher Eingriffsbefugnisse ergeben sich große<br />
Schwierigkeiten bei der Grenzziehung zwischen Handeln im Sinne der Ermächtigungsnorm<br />
und Willkür. Erkenntnisunsicherheiten sind risikoimmanent.<br />
Aus diesem Grunde erfolgt regelmäßig eine Anknüpfung der Eingriffstatbestände<br />
an Erfahrungssätze und Leitlinien, die insbesondere wissenschaftlich-technische<br />
Parameter aufgreifen. <strong>Die</strong>se Standardisierung der Eingriffsschwelle<br />
berücksichtigt das Bestimmtheitsgebot. <strong>Die</strong> Zumutbarkeitsschwelle<br />
für den Eingriffsadressaten <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r Maßnahmen<br />
muss daher näher definiert werden. Neben der Konkretisierung der Risikoparameter<br />
bedarf es eines Mindeststandards der gerichtlichen Überprüfung<br />
des Verwaltungshandelns. Er enthält vor allem die Willkürkontrolle und das<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip.<br />
Im Zusammenhang mit dem Begriff der auswärtigen Beziehungen wurde<br />
erörtert, dass aufgrund des Schutzzweckes eine Bezugnahme zu den sicherheitsorientierten<br />
Beschränkungsvarianten des § 7 Abs. 2 AWG keine Verletzung<br />
des Bestimmtheitsgebotes Art. 80 Abs.1 S. 2 AWG vorliegt. Im Übrigen<br />
wurde festgestellt, dass die Genehmigungsleitlinien aus den internationalen<br />
Kontrollregimes oder sonstige internationale Vereinbarungen, auf die<br />
auch ein Genehmigungskriterium des Art. 8 Dual-use-VO explizit verweist,<br />
in Form der exportkontrollpolitischen Grundsätze der Bundesregierung und<br />
des VK-EU umgesetzt wurden. <strong>Die</strong>se Grundsätze dienen als normkonkretisierende<br />
Vorgaben und führen zu einer Selbstbindung der Verwaltung.<br />
Wenngleich ihre Ausgestaltung in der Literatur nach wie vor als zu unbestimmt<br />
kritisiert wird918 , erfolgt eine gewisse Kompensation mangelnder Bestimmtheit.<br />
Das BVerfG sieht dies nicht anders. Es hält die Vorschrift von §<br />
7 Abs.1 AWG auch mit Blick auf die auswärtigen Belange nach Nr. 3 für<br />
918 Im Rahmen der rechtlichen Analyse von „dubiosen“ Rechtsinstrumenten werden die<br />
politischen Grundsätze als zu vage angesprochen: Hohmann (FN 89), S. 338 ff., 349,<br />
s.a. zum Transparenzproblem interner Erlasse Karpenstein (FN 41), S. 243<br />
262
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
hinreichend bestimmt und von Verfassung wegen nicht zu beanstanden919 .<br />
Es wurde schon darauf hingewiesen, dass diese Auslegung dem Schutzzweck<br />
des AWG geschuldet ist. Sie erfolgt anhand der Inhaltsbestimmung<br />
von § 2 Abs.1 i.V.m. dem Katalog der Sicherheitszwecke des § 7 Abs. 2<br />
AWG. Zweck und Ausmaß der Norm sind den § 2 Abs. 1 und 2 sowie § 3<br />
AWG zu entnehmen. Letzter stellt auf eine nicht nur unwesentliche Gefährdung<br />
der Schutzzwecke des § 7 Abs. 1 AWG ab.<br />
<strong>Die</strong> Exportkontrollregimes sehen Genehmigungsleitlinien vor, wonach z.B.<br />
im Zusammenhang mit Massenvernichtungswaffen und Trägertechnologie<br />
keine Ausfuhren erfolgen sollen, wenn das Zielland im Verdacht steht, entsprechende<br />
Waffenprogramme zu haben oder das Empfängerland selbst keine<br />
angemessenen Exortkontrollstandards hat. Beim Wassenaar-Regime geht<br />
es um die konventionelle Aufrüstung, die vornehmlich im Zusammenhang<br />
mit destabilisierenden Zuständen in Empfängerland oder -region verhindert<br />
werden soll. In allen Regimes, vor allem im Rüstungsgüter- und Waffenbereich<br />
des Wassenaar-Regimes, aber auch bei biologischen Waffen und Chemiewaffen<br />
spielen auch Menschenrechtskriterien eine Rolle, also mögliche<br />
Hinweise auf eine missbräuchliche Verwendung von Lieferungen zu repressiven<br />
Zwecken920 .<br />
In den VK-EU sowie den Grundsätzen der Bundesregierung werden diese<br />
Leitlinien sowie andere internationale Verpflichtungen, z.B. die Kleinwaffenkonvention<br />
der OECD, bestätigt. Dort wird z.B. differenziert, ob Lieferungen<br />
in Länder, die dem Verteidigungsbündnis der Nato angehören, erfolgen,<br />
oder aber in instabile Regionen. Im Dual-use-Bereich haben diese<br />
Grundsätze Reflexwirkung. <strong>Die</strong> politischen Grundsätze begrenzen also den<br />
Entscheidungsspielraum. Auf ihre Rechtsnatur wurde bereits eingegangen,<br />
ein normkonkretisierender Charakter wird ihnen wegen der Einflussnahme<br />
durch das Parlament durchaus zugestanden921 . Hinzu kommt die Selbstbindungswirkung<br />
durch die allgemeine Anerkennung der Grundsätze infolge<br />
ihrer Veröffentlichung922 .<br />
Zusätzliche Anhaltspunkte für die nationale Genehmigungspolitik ergeben<br />
sich bei den nationalen Genehmigungspflichten für Lieferungen gem. § 5c<br />
AWV in Regionen der Länderliste K oder bei nuklearrelevanten Lieferungen<br />
gem. § 5d AWV, der bestimmte Länder aufzählt. Für sie gelten besonders re-<br />
919 Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 Rn 30, unter Verweis auf BVerfGE (FN 115),<br />
NJW 1992 S. 2624 und BVerfGE 1991, 148, 163 – Samarra, vgl. Teil 1 II.5.b)dd)<br />
920 Vgl. Teil 2 II.3.c)<br />
921 Vgl. Teil 2 II.5.f)aa)<br />
922 So Karpenstein (FN 41), S. 208<br />
263
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
striktive Maßstäbe, die letztlich auch und erst recht für die Lieferung von<br />
gelisteten Gütern gelten923 . Schließlich ergeben sich auch über die in den<br />
Rüstungsexportberichten der Bundesregierung veröffentlichten genehmigten<br />
Lieferungen Anhaltspunkte, welche aktuellen Politiken die Bundesrepublik<br />
gegenüber bestimmten Ländern verfolgt. <strong>Die</strong>s erlaubt im erst-recht-Schluss<br />
ebenfalls Rückschlüsse auf die Belieferungsfähigkeit einzelner Staaten mit<br />
Dual-use-Gütern924 .<br />
<strong>Die</strong> Eingriffsschwelle der unwesentlichen Gefährdung gem. § 3 AWG oder<br />
hinreichender Überlegungen nach Art. 8 Dual-use-VO wird über die Anwendungserlasse<br />
des BAFA konkretisiert. Sie beziehen sich auf die Spezifizierung<br />
der nach § 17 AWV verlangten Endverbleibsdokumente oder der<br />
Tatbestandsmerkmale verwendungsbezogener Genehmigungspflichten. Der<br />
Anwendungsbereich dieser Vorschriften ist auf bestimmte Bezüge der Verwendung<br />
im Zusammenhang mit der Waffenproduktion oder zivilen nuklearen<br />
Programmen beschränkt, z.B. auf Herstellungsausrüstung oder Betriebsmittel925<br />
. <strong>Die</strong> für eine hinreichende Bestimmung von Risikoschwellen<br />
gestellten Anforderungen an normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften<br />
werden hiermit zumindest aus technischer Sicht erfüllt.<br />
<strong>Die</strong> Behördenerlasse sowie die politischen, auf die Genehmigungskriterien<br />
gerichteten Entscheidungsleitlinien sind für Exportkontrollen prägend und<br />
bieten einen Anhaltspunkt dafür, dass es sich hierbei ebenso um Spezifizierungen<br />
der Risikoschwelle handelt. Ob diese für die nähere Bestimmung der<br />
Beschränkungstatbestände ausreichen, wird manchmal bezweifelt. <strong>Die</strong>s beruht<br />
u.a. auf einer fehlenden parlamentarischen Kontrolle wie das bei<br />
Rechtsverordnungen nach §§ 26, 27 AWG der Fall ist926 . Insgesamt wird<br />
deutlich, dass neben den Genehmigungskriterien auch die Genehmigungsleitlinien<br />
relativ vage bleiben und nicht etwa auf bestimmte konkrete Liefernetzwerke<br />
oder im Missbrauchsverdacht stehende wirtschaftliche Beziehungen<br />
abstellen, sondern wie die Leitlinien der Exportkontrollregime auch,<br />
allgemein auf Spannungs- oder Konfliktpotenziale verweisen. Das gilt zumindest,<br />
wenn es um Lieferungen an Empfänger in Staaten geht, die nicht<br />
Mitglieder des Verteidigungsbündnisses NATO sind oder vergleichbare Kooperationen<br />
mit der Bundesrepublik verfolgen. An der Unbestimmtheit der<br />
923 Vgl. Teil 2 II.5.f)<br />
924 Hierzu Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 46 ff.<br />
925 Vgl. BAFA-Erlasse, in: Haddex, Bd IV, 702, 720, 721<br />
926 Siehe dazu Teil 2 II.3.b)bb); siehe dazu auch FN 918, insbesondere mit der Forderung<br />
einer Höherzonung, also Normierung der Erlasse zur Zuverlässigkeit und Verwaltungssanktionen<br />
sowie der Allgemeingenehmigungen: Hohmann (FN 89), S. 530<br />
264
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Grundsätze gibt es daher Kritik. Der Vertrauensschutzgedanke und das Erfordernis<br />
angemessener Risikoverteilung gebieten die Möglichkeit der verfassungsgerichtlichen<br />
Kontrolle. Bei solchen unbestimmten, einseitig zu<br />
Lasten der Wirtschaft gehenden Wertungsmaßstäben, erscheine diese nicht<br />
möglich 927 . Für die Wahrscheinlichkeitsprognose zur Gefährdung bestimmter<br />
Rechtsgüter fehlen Hinweise, die auf vom Gesetzgeber missbilligte, bestimmte<br />
Kausalketten und Bedrohungsszenarien abstellen. <strong>Die</strong>ser scheint<br />
darauf Wert zu legen, Bedrohungslagen schon generell im Ansatz unterbinden<br />
zu wollen. <strong>Die</strong>s entspricht aber letztlich auch dem Schutzzweck von<br />
Exportkontrollen. Es kann nicht auf konkret vorhersehbare Vorgänge ankommen.<br />
Dafür sind die Beziehungsgeflechte der Wirtschaftswelt zu komplex,<br />
zumal sich auch die Verhaltensweisen einzelner Staaten oder Empfänger<br />
nur an Erfahrungen messen lassen und konkrete Entwicklungen oder Politiken<br />
mit gewissem Unsicherheitsgrad in die Prognose eingestellt werden<br />
müssen. <strong>Die</strong> weitgehenden Spielräume der Verwaltung zeigen sich auch in<br />
der Ermächtigung für Verfahrenserleichterungen nach Art. 6 Dual-use-VO<br />
und § 1 Abs. 2 AWV. <strong>Die</strong> o.g. formale Kritik ist demnach unberechtigt.<br />
Nach dem Normzweck genügen die vorliegenden Richtlinien und die dadurch<br />
vermittelten Genehmigungskriterien für eine dem Vorsorgeprinzip<br />
entsprechende Standardisierung der Risikoschwelle. Auch die verfassungsrechtlichen<br />
Anforderungen an die Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />
sind damit erfüllt. Eine Verbesserung der Normbestimmtheit durch möglichst<br />
klare Entscheidungsgrundlagen im Sinne möglichst effektiver kooperativer<br />
Ansätze der Exportkontrollen ist gleichwohl wünschenswert 928 .<br />
c) Sicherstellung der beabsichtigten Endverwendung im Verfahren<br />
aa) Aufklärung zur Minimierung von Erkenntnisdefiziten und<br />
Transparenzgebot<br />
Bei der Aufklärung der möglicherweise bestehenden, von den Antragsangaben<br />
abweichenden, Verwendungsabsichten des Empfängers der Ausfuhrgüter<br />
wird regelmäßig nicht nur auf die behördeninternen Erkenntnisse aus zurückliegenden<br />
Antragsverfahren zurückgegriffen. Es wird auch mit Drittbehörden<br />
kooperiert. Hierbei sind, soweit es um den Verdacht strafbarer illegaler<br />
Lieferungen geht, der Zoll und das Zollkriminalamt von Bedeutung. In<br />
dem Kontext werden an Vorfeldermittlungen bei der Planung von Straftaten<br />
im Außenwirtschaftverkehr, wie telefonische Überwachungsmaßnahmen,<br />
927 Zur Kritik an den AWG-Kriterien, insbesondere § 7 Abs.1 Nr. 3, und der Normkonkretisierung<br />
durch die politischen Grundsätze: Hohmann, (FN 89), S. 348 f.<br />
928 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 236<br />
265
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
erhebliche Zulässigkeitsanforderungen gestellt, insbesondere an die Bestimmtheit<br />
der Norm und ihren konkreten Bezug zu Straftaten929 .<br />
In aller Regel besteht bei Genehmigungsverfahren aber kein Straftatverdacht.<br />
Soweit im Einzelfall erforderlich, werden Erkenntnisse aus der Aufklärung<br />
durch den Bundesnachrichtendienst (BND) herangezogen. Der<br />
BND erhebt sachverhaltsrelevante Informationen im Ausland und kann z.B.<br />
Auskünfte über die aktuelle sicherheitspolitische Lage in den von der Ausfuhr<br />
betroffenen Regionen oder Ländern machen, vor allem aber auch seine<br />
Erkenntnisse zum Empfänger selbst beitragen. <strong>Die</strong> spezifische Erfahrung bei<br />
der Bewertung von Auslandstatsachen und entsprechende Empfängerbeurteilungen<br />
sind für die Plausibilität der schon vorliegenden Behördenerkenntnisse<br />
von großem Gewicht. Zu dem der Auslandsaufklärung zu Grunde<br />
liegenden BND-Gesetz und der Abgrenzung der informationellen Tätigkeit<br />
der Nachrichtendienste, die regelmäßig weit im Vorfeld von Gefahren stattfindet,<br />
auch zur Abgrenzung der polizeilichen Gefahrenabwehr, wurde bereits<br />
Stellung genommen. Bei der Exportkontrolle geht es ganz wesentlich<br />
um Informationsbeschaffung für die Endverwendungsprognose. Nachrichtendienstliche<br />
Erkenntnisse werden mit Bezug auf außen und sicherheitspolitische<br />
Bedrohungen verwertet. <strong>Die</strong> Aufgaben des BND und der Exportkontrolle<br />
ergänzen sich. Das Trennungsgebot ist daher nicht unmittelbar von<br />
Relevanz. Es geht nicht um geheime Ermittlungen des BAFA, sondern um<br />
Behördenkooperation anlässlich von Genehmigungsverfahren. Nur im Einzelfall<br />
wird auf nachrichtendienstliche Erkenntnisse zurückgegriffen. <strong>Die</strong><br />
Informationserhebung erfolgt anlassbezogen. Ein Eingriff gegenüber jedermann<br />
erfolgt gerade nicht, ebenso wenig eine generalpräventive Beobachtung<br />
aller denkbaren Wirtschaftsteilnehmer im Ausland. Für beide Bereiche,<br />
BND und Exportkontrollfragen, ist der Bund zuständig, so dass sich auch<br />
aus föderalen Gesichtspunkten keine Kompetenzprobleme ergeben.<br />
Demnach erscheint ein Blick auf das für das Trennungsgebot im Sinne des<br />
Polizeirechts maßgebliche Transparenzgebot und daraus resultierende Bedenken<br />
für geheime präventive Ermittlungstätigkeit geboten. Grundsätzlich<br />
gilt das Transparenzgebot auch für Ordnungsbehörden, wie die Exportkontrollbehörden.<br />
<strong>Die</strong> hierbei wesentlichen Erwägungen zur Begründung von<br />
Grundrechtseingriffen sprechen grundsätzlich für eine Notwendigkeit der<br />
Offenlegung von eingriffsrelevanten Informationen sowie getroffenen Ab-<br />
929 Der bloße Verweis auf auswärtige Belange sei unbestimmt, BVerfGE 110, 33, 67 sowie<br />
in der Folge eine Neuregelung zum Zollfahndungsdienstgesetz, Fassung vom<br />
16.8.2002, zuletzt geändert durch Gesetz zur Änderung des Zollfahndungsdienstgesetzes<br />
und anderer Gesetze vom 12.6.2007, BGBl. 2007, 1037<br />
266
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
wägungen. Wie bei den Regelungen nach dem BVerfSchG und BNDG deutlich<br />
wird, darf nur in Einzelfällen davon abgewichen werden930 . <strong>Die</strong> geheime<br />
Aufklärung soll nur ausnahmsweise erfolgen.<br />
<strong>Die</strong> aufklärungsorientierte Zusammenarbeit mit Exportkontrollbehörden<br />
bewegt sich deshalb im Spannungsfeld von Transparenzgebot bei ablehnenden<br />
Genehmigungsentscheidungen und damit erfolgenden Grundrechtseingriffen<br />
sowie der Vertraulichkeit der behördeninternen Informationserhebung<br />
durch den BND. Es kommt zum Konflikt der Eingriffsqualität und<br />
richterlichen Kontrolldefiziten infolge weit reichender Verwaltungsautonomie,<br />
also zwischen dem Geheimhaltungsinteressen der <strong>Die</strong>nste und Transparenz<br />
der Entscheidungsgründe931 . Dem Transparenzgebot wird dann nicht<br />
genügt, wenn es auf der Grundlage geheimdienstlicher Informationen zu<br />
Ablehnungen kommt und die geheimen Entscheidungsgründe nicht benannt<br />
werden. Bestehende Unsicherheiten, ob und inwieweit in den Fällen zumindest<br />
im Prozess Akteneinsicht gewährt werden muss, sind aber nicht für die<br />
Frage exportkontrollspezifischer Präventionsansätze relevant. Sie sind nicht<br />
Gegenstand dieser Untersuchung.<br />
Das Tätigwerden des BND und die Vorfeldaufklärung der beteiligten Behörden<br />
führen nicht immer zum Erfolg. <strong>Die</strong> Qualität verbleibender Erkenntnisdefizite<br />
zum Empfänger und dessen tatsächlichen Absichten müssen deshalb<br />
ebenso in die Prognose eingestellt werden wie die prognoseimmanente<br />
Möglichkeit späterer Änderungen des vermuteten Kausalverlaufs, z.B. bei<br />
den Absichten des Endverwenders. Hierzu gehören z.B. Widerverkäufe an<br />
Kunden im Empfängerland oder gar in Drittländer. <strong>Die</strong> Kontrollsysteme im<br />
Empfängerstaat, insbesondere die dortigen Sicherheitsvorkehrungen, sind<br />
von erheblicher Bedeutung. Es muss regelmäßig davon ausgegangen werden,<br />
dass in Einzelfällen gerade wegen fehlender gesicherter ziviler Endverwendung<br />
ein Eingriff in die Ausfuhrfreiheit erfolgen soll. In der Gesamtbetrachtung<br />
erscheint bei Exportkontrollen auch mit Blick auf die nachrichtendienstliche<br />
Dimension der Informationsvorsorge ein Vorsorgecharakter<br />
gegeben.<br />
bb) Rationalisierung des Verfahrens und kooperative Ansätze<br />
<strong>Die</strong> Endverwendungsprognose ist durch wertende Elemente geprägt. <strong>Die</strong> organisatorische<br />
Mitverantwortung der ausführenden Unternehmen wird dabei<br />
930 Vgl. Teil 3 V.1.c)bb)<br />
931 Mit Kritik an der Intransparenz der Ablehnungsmotive sowie Normkonkretisierung,<br />
aber auch an der adäquaten Aufgabenverteilung der Gewalten: Hohmann (FN 89), S.<br />
338, 348 f.<br />
267
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
berücksichtigt. Das wird durch die erst Anfang der neunziger Jahre eingeführte<br />
Überprüfung der Zuverlässigkeit des Antragstellers gewährleistet.<br />
Auch andere, aus dem technischen Sicherheitsrecht bekannte Verfahrensansätze<br />
finden sich heute bei Exportkontrollen wieder. Dazu gehört die Kooperation<br />
bzw. Kommunikation zwischen Behörde und Unternehmen mittels<br />
Aufklärungsmaßnahmen, Schulungen und Kontrollen in den Unternehmen932<br />
. Das geht bis zur Überwachung des gesamten Exportvorgangs und<br />
nachträgliche Kontrollen. Dafür werden die klassischen Verwaltungsinstrumente,<br />
z.B. Nebenbestimmungen, genutzt. Sie können im Zeitpunkt der<br />
Ausfuhr bestehende Unsicherheitsfaktoren kompensieren, indem z.B. Widerrufsvorbehalte<br />
oder Auflagen zu Wareneingangsbescheinigungen, Meldepflichten,<br />
die Vorlage von Besuchsprotokollen und technischen Protokollen<br />
zur Inbetriebnahme in die Entscheidung einbezogen werden933 .<br />
Daneben steht die Kooperation zwischen Liefer- und Empfängerstaat, soweit<br />
dieser i.Z.m. Verpflichtungserklärungen wie End-User-Certificates oder<br />
Verifikationsmaßnahmen bereit ist 934 . Dokumentationspflichten werden mit<br />
Einverständnis des Empfängerstaates, z.B. auch ex-post-Kontrollen vor Ort,<br />
oft mit dem Begriff der „onside-inspections“ beschrieben, ergänzt935 . Sie<br />
können die Verwendung der Ausfuhrgüter zwar nicht mehr unmittelbar beeinflussen,<br />
aber politischen Druck erzeugen und künftige Lieferungen<br />
präkludieren. <strong>Die</strong>se mittelbar präventiv wirkenden Aufklärungs- und Transparenzwirkungen<br />
können auch durch die internationale Zusammenarbeit<br />
zwischen Behörden oder mit Nichtregierungsorganisationen erzielt werden.<br />
An der Stelle wird die Bedeutung von Offenlegungspflichten und Transparenzanforderungen<br />
für die Exportkontrollen deutlich. Erst die entsprechende<br />
Anpassung der organisatorischen Strukturen der Verwaltung rechtfertigt im<br />
Rahmen der Gewaltenteilung die Verwaltungsautonomie936 . Auf die Verfassungsrelevanz<br />
der Verwaltungstransparenz wurde bereits eingegangen. <strong>Die</strong><br />
Zusammenführung der risikoorientierten Folgenabschätzung unter Abwägung<br />
aller Interessen, die umfassende Informationsbeschaffung und Kommunikationen<br />
sowie flankierende Maßnahmen zur Risikominimierung werden<br />
auch als Risikomanagement bezeichnet.<br />
932 Zur Reduktion von Risiken durch Kommunikation: Karpenstein (FN 41), S. 247<br />
933 Haddex (FN 4), Teil 6 Rn 418<br />
934 Zur Reduktion von Risiken durch Kooperation: Karpenstein (FN 41), S. 248<br />
935 Zum Ansatz von pos-shipment-Kontrollen Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 82<br />
936 Vgl. dazu schon Teil 3 III.2.b)cc) sowie zur Rechtfertigung Schmidt-Aßmann und Pitschas,<br />
in: Schmidt-Aßmann /Hoffmann-Riem (FN 362), S. 55 und 295 ff.<br />
268
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
d) Vergleich der Exportkontrollen zum technischen Sicherheitsrecht<br />
Der Bezugspunkt der möglichen Schadensverursachung ist bei Exportkontrollen<br />
sowohl mit dem Umwelt- und Gesundheitsrecht als auch dem Polizeirecht<br />
vergleichbar.<br />
Unter Einbeziehung der Erwägungen zum Kollektivgutschutz und Normzweck<br />
der Exportkontrollen, ebenso wie der Komponente Ungewissheit und<br />
den genannten Standardisierungs- und Rationalisierungsansätzen im Verfahren,<br />
besteht eine deutlich stärkere Nähe des Exportkontrollrechts zum technischen<br />
Sicherheitsrecht im Umwelt-, Verbraucher- bzw. Gesundheitsrecht,<br />
als zum Polizeirecht. <strong>Die</strong> Vergleichbarkeit des geschützten Adressatenkreises<br />
wurde bereits bei der Untersuchung des Normzwecks erwähnt. Es<br />
kommt zu einem ebenfalls vergleichbaren Konflikt zwischen technischem<br />
Fortschritt und dessen Risiken. Das wird vor allem bei gelisteten Gütern<br />
deutlich, noch deutlicher im Bereich der Atomtechnologie. Zivile und militärische<br />
Zwecke machen hier zunächst keinen Unterschied. Das Umweltund<br />
Gesundheitsrecht knüpfen beim Vorsorgegedanken an einen Ersatz von<br />
Erkenntnisdefiziten durch technisch-wissenschaftliche Parameter an. <strong>Die</strong> so<br />
entwickelten Standards gelten neben dem hohen Schadenspotenzial als<br />
maßgeblicher Rechtfertigungsgrund für die Zulässigkeit der Vorverlagerung<br />
staatlicher Eingriffe auf Risikosituationen. Zumindest im Dual-use-Güter-<br />
Bereich haben die technische Eignung und die konkrete technischen (zivile)<br />
Verwendung eine ebenso maßgebliche Bedeutung wie im technischen Sicherheitsrecht,<br />
wenngleich die geplante Verwendung von Produkten oder<br />
Anlagen selbst dort nicht unsicher ist.<br />
Bei Exportkontrollen sorgt aber nicht nur die technische Entwicklung, sondern<br />
auch der Forschritt gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Freiheiten<br />
für erhöhte Risiken. <strong>Die</strong> Gewährleistung freien Welthandels und die damit<br />
zunehmende Verflechtung sind Ausdruck z.B. der völkerrechtlichen WTO-<br />
Verpflichtungen der Bundesrepublik sowie die grundrechtlich abgesicherten<br />
Außenwirtschaftsfreiheit. <strong>Die</strong> in Art. XXI GATT vorgesehene Ausnahme nationaler<br />
Sicherheitsinteressen stellt lediglich sicher, dass diese mit dem Interesse<br />
am freien Welthandel abzuwägen sind. Der Welthandel ist letztlich<br />
fortwährenden Änderungen unterworfen, ebenso wie der technologische<br />
Fortschritt. Er unterliegt deshalb einem Abwägungs- und Optimierungsgebot,<br />
wie es vor allem mit dem Vorsorgeprinzip umgesetzt wird. Exportkontrollen<br />
haben insoweit planungsähnlichen Charakter und sind z.B. mit umweltrechtlichen<br />
Genehmigungsverfahren vergleichbar.<br />
An die Nutzung der Freiheiten anknüpfend wird das menschliche Verhalten<br />
relevant. Das Fehlen einer Option zur Standardisierung menschlichen Ver-<br />
269
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
haltens spricht zunächst gegen die Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf<br />
Exportkontrollen. Beim technischen Ansatz der Ausfuhrlisten lassen sich<br />
zwar teilweise Parallelen zu technischen Regelwerken im Umweltrecht ziehen.<br />
Mit den Listen wird aber noch keine Risikobewertung im Einzelfall getroffen.<br />
Wie im Polizeirecht geht es bei der Bewertung der Ausfuhr vor allem<br />
um (potenzielle) Bedrohungen durch menschliches Verhalten. Vor allem<br />
bei ungelisteten Gütern ist allein dieses Kriterium entscheidungserheblich.<br />
Andererseits zeigt sich beim Blick auf den Normzweck, dass genau die mit<br />
der Verhaltensdimension verbundenen Unsicherheiten in den politischen<br />
Leitgedanken und Entscheidungsrichtlinien aufgegriffen werden. Je größer<br />
die Unsicherheitsfaktoren und Missbrauchswahrscheinlichkeiten aus der politischen<br />
Einschätzung des Empfängerumfeldes heraus erscheinen, um so<br />
mehr spricht für Konfliktvermeidung und verfassungsmäßige Rechtfertigung<br />
abgesenkter Eingriffsschwellen. Anders als beim polizeilichen Vollzug<br />
und der Abwehr von Gefahrenverhalten vor Ort, geht es um langfristige<br />
Entwicklungen und Tendenzen bestimmter Verhaltensmuster, die politisch<br />
missbilligt werden. <strong>Die</strong>se sind auch typisier- bzw. kategorisierbar, sowohl<br />
durch Erfahrungen der Vergangenheit als auch aktuelle Erkenntnisse, z.B.<br />
zur Lage im von der Lieferung betroffenen Land. <strong>Die</strong> Ansätze der Exportkonterollen<br />
zu entscheidungsleitenden Vorgaben und Verwaltungsrichtlinien<br />
bestätigen dies937 . Darauf wird im Rahmen der verfassungsrechtlichen Betrachtung<br />
noch zurückzukommen sein. Insgesamt zeigt sich, dass den Exportkontrollen<br />
Erkenntnisdefizite zu künftigen Entwicklungen immanent<br />
sind und diese durch entsprechende Kontrollinstrumentarien kompenisert<br />
werden, das spricht für ihre Risikoorientierung.<br />
Bei den Instrumenten der Exportkontrolle fällt auf, dass es bei den Genehmigungsverfahren<br />
zu einer Einbindung der privaten Akteure kommt. Dem<br />
Ausführer wird erhebliche Mitverantwortung zugewiesen. Sein Handeln<br />
wird so maßgeblich beeinflusst. Im Umgang mit den zunächst unbestimmten,<br />
„dynamischen“ Eingriffsmaßstäben sind daher die bereits zum Umweltrecht<br />
geschilderten verfahrensorientierten Kompensationsmechanismen<br />
vorgesehen. Dazu gehören u.a. die kommunikativen bzw. kooperativen Ansätze.<br />
Instrumente wie die Zuverlässigkeit, die Benennung eines Ausfuhrverantwortlichen<br />
oder sonstige auf den Genehmigungsadressaten verlagerten<br />
organisatorischen Anforderungen, z.B. interne Controllingmaßnahmen,<br />
helfen letztlich, Risiken zu erkennen und auch zu vermeiden938 . <strong>Die</strong>se Verfahrensansätze<br />
bestätigen die Nähe der Exportkontrollen zum technischen<br />
937 Vgl. dazu Teil 1 II.5.f)<br />
938 Vgl. Ansätze der Exportkontrolle: BAFA, Praxis der Exportkontrolle, 2006<br />
270
V. Exportkontrollen im System des Sicherheitsrechts<br />
Sicherheitsrecht. Sie helfen die Vorverlagerung der Prävention auf die Risikovorsorge<br />
kompensieren. Im Ergebnis gibt es hinreichend systematische<br />
Gründe für den risikopräventiven Charakter von Exportkontrollen.<br />
Im Umgang mit Ungewissheiten und bei der Vielfalt möglicher Folgewirkungen<br />
der Ausfuhrentscheidung lässt sich letztlich die These der Notwendigkeit<br />
einer konkreten Gefährdung im Sinne des klassischen Gefahrenbegriffs<br />
mit Bezug auf die in § 7 AWG oder Art. 8 Dual-use-VO benannten<br />
Rechtsgüter nicht mehr halten. Das gilt auch und gerade im Kontext der<br />
rechtlichen Fortentwicklung der Kontrollansätze und die zurückliegenden<br />
poltischen Entwicklungen. Allein der in § 3 AWG verwendete Gefährdungsbegriff<br />
suggeriert die Anwendbarkeit der klassischen Gefahrendefinition und<br />
eine damit verbundene Wahrscheinlichkeitsprognose bei Eingriffen in die<br />
Außenwirtschaftsfreiheit. <strong>Die</strong>se scheint unter Zugrundlegung der Beschränkungszwecke<br />
und der vorgenannten Erwägungen praktisch nur selten erfüllbar.<br />
Aus rechtspolitischer Sicht sollte § 3 AWG daher angepasst werden und<br />
für die Erteilung der Genehmigung darauf abstellen, dass kein oder ein nur<br />
unwesentlicher Schaden für die in § 7 AWG angeführten Belange droht. An<br />
der Normstruktur, insbesondere am Beurteilungsspielraum der Behörde zu<br />
Bewertung des Genehmigungsanspruchs, ändert sich damit nichts.<br />
3. Übertragbarkeit des Vorsorgeprinzips auf die Europäische<br />
Regelungsebene<br />
<strong>Die</strong> für das Vorsorgeprinzip spezifischen Anwendungsprinzipien wurden<br />
schwerpunktmäßig für das nationale Recht erörtert. Das Prinzip selbst ist,<br />
wie zum Umweltrecht festgestellt, auch auf EU-Ebene anerkannt. Über das<br />
Umweltrecht hinaus hat der EuGH allerdings keine dem Bundesverfassungsrecht<br />
vergleichbaren Entscheidungen getroffen, die auf bestimmte<br />
Wirkungen des Gemeinschaftsrechts in diesem Bereich schließen lassen.<br />
Mit Blick auf das Fehlen spezifischer Vorgaben im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
ist das Prinzip des Anwendungsvorrangs nicht von unmittelbarer<br />
Bedeutung. Allerdings müssen mittelbar die übergeordneten Prinzipien berücksichtigt<br />
werden, wie sie der EuGH z.B. bei aus den Grundfreiheiten, bei<br />
aus Grundrechten resultierenden Schutzpflichten oder zum Behördenermessen<br />
herausgearbeitet hat 939 . <strong>Die</strong> für das nationale Sicherheitsrecht angesprochenen<br />
Systemfragen können auf die Anwendung der EU-Genehmigungstatbestände<br />
übertragen werden, auch wegen der Kompetenzen der Mitglied-<br />
939 Zum gemeinschaftsrechtlichen Begriff der öffentlichen Sicherheit vgl. Teil 3 II.1.<br />
und zur Ermessensfehlerlehre Teil 2.II.6.b)<br />
271
Teil 3: <strong>Die</strong> Prognoseentscheidung<br />
staaten im Bereich öffentliche Sicherheit und Ordnung. Wie erwähnt, bieten<br />
Formulierungen wie „Erwägungen“ und „Überlegungen“ in den Tatbeständen<br />
der Dual-use-VO hinreichend Spielraum für den Risikoansatz der Exportkontrollen.<br />
VI. Schlussfolgerungen aus Teil 3<br />
In der Gesamtschau sprechen Schutzzweck und System der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Genehmigungen für die Anwendung des Risikobegriffs. Bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Entscheidungen geht es ganz zentral um den Kollektivbelang<br />
Sicherheit. <strong>Die</strong> staatliche Eingriffsermächtigung bezieht sich auf<br />
einen Zeitpunkt vor dem Eintreten einer Gefahr für konkrete Individualrechtsgüter.<br />
<strong>Die</strong> Eingriffsvoraussetzung einer konkreten oder abstrakten Gefahr<br />
wäre lediglich über die Ausdehnung des Gefahrenbegriffs hin zu einem<br />
subjektiven Gefahrenverdacht haltbar. <strong>Die</strong>se Rechtsfigur wird aber mit guten<br />
Gründen abgelehnt 940 . Eine im Sinne der Risikovorsorge erweiterte Interpretation<br />
der Beschränkungen bei Dual-use-Gütern nach § 7 AWG sowie<br />
Art. 8 Dual-use-VO erscheint vor allem wegen der Dimension regelmäßig<br />
bestehender Ungewissheiten geboten. Bei der Prognose einer Gefährdung<br />
der Sicherheit bzw. sonstiger geschützter Kollektivgüter im Zeitpunkt der<br />
Ausfuhr betroffener Güter müssen Erkenntnisdefizite regelmäßig in Kauf<br />
genommen werden. Normzweck und Systematik sprechen dafür, dass die<br />
Schadenprävention in diesem Fall nicht nur möglich erscheint, sondern geboten<br />
ist. <strong>Die</strong> Risikodimension der Eingriffsermächtigung wird bei Exportkontrollen<br />
durch Ansätze zur Risikotypisierung und kooperativ ausgestaltete<br />
Verfahrensansätze bestätigt, die anderen Bereichen des Risikoverwaltungsrechts<br />
ähneln. Es kann letztlich festgehalten werden, dass den heutigen Exportkontrollen<br />
ein vom traditionellen Sicherheits- und Polizeirechtsverständnis<br />
abweichendes Vorsorgeelement innewohnt und deshalb auf die im<br />
Umwelt-, Atom und Verbraucherrecht entwickelten Instrumentarien zurückgegriffen<br />
werden kann. In der Konsequenz müssen die bereits geschilderten<br />
grundsätzlichen Anforderungen an den Vorsorgeanlass und seine Bewertung<br />
i.V.m. den Genehmigungspflichten und -entscheidungen für Ausfuhrbeschränkungen<br />
spezifiziert werden. Dazu gehören Fragen der Sachverhaltsfeststellung,<br />
Beweislast und Interessenabwägung. Im Rahmen der Rechtsfolge<br />
des Vorsorgeansatzes bedarf es eines Ausgleichs der betroffenen<br />
Schutzgüter und der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Hierbei muss insbesondere<br />
die Reichweite der Schutzdimension von Individualrechtspositionen Dritter<br />
untersucht werden.<br />
940 Vgl. Teil 3 III.1.a)<br />
272
I. Standortbestimmung<br />
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge<br />
bei Exportkontrollen<br />
I. Standortbestimmung<br />
Nach den bisher herausgearbeiteten Grundsätzen zur Reichweite der Verwaltungsautonomie<br />
im Zusammenhang mit Prognoseentscheidungen unterliegt<br />
die Verwaltung der begrenzten richterlichen Kontrolle. <strong>Die</strong> richtet sich nach<br />
den bereits festgestellten Kriterien, die sich vor allem auf die Einhaltung<br />
verfassungsrechtlicher Prinzipien und Grundrechte beziehen. <strong>Die</strong> Dynamik<br />
des Sicherheitsbegriffs erzeugt eine Dynamik staatlicher Schutzpflichten,<br />
die im Verfassungskontext die Frage nach dem Interessenausgleich betroffener<br />
Grundrechtspositionen und Gemeinwohlbelange aufwerfen. Es wurde<br />
festgestellt, dass bei Vorsorgetatbeständen im Rahmen des Vorsorgeanlasses<br />
eine hinreichende Sachverhaltsermittlung hinsichtlich der entscheidungsrelevanten<br />
Tatsachen zu erfolgen hat. Hierbei müssen Anhaltspunkte für eine<br />
mögliche Besorgnis der Schädigung bestimmter Rechtsgüter vorliegen. Im<br />
Zusammenhang mit der Rechtsfolge erfolgt dann eine Bewertung dieser Besorgnis,<br />
unter Abwägung aller beteiligten Interessen. Das letzte Kapitel der<br />
Arbeit widmet sich dieser Abwägung, so dass für die Rechtmäßigkeitskontrolle<br />
der Gerichte alle maßgeblichen Prüfungskriterien vollständig erörtert<br />
und in Form eines vorsorgeorientierten Prüfungsschemas zur Rechtmäßigkeit<br />
von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen zusammengefasst werden<br />
können.<br />
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
Für die Prüfung der verfassungsrechtlichen Legitimation von Freiheitsbeschränkungen<br />
stellen sich nicht nur Fragen hinsichtlich der Beachtung von<br />
Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgrundsatz 941 . <strong>Die</strong> systemprägende<br />
Kompensation der Verwaltungsautonomie erfolgt durch die Einhaltung der<br />
Grenzen der Verwaltungsautonomie, die im verwaltungsgerichtlichen<br />
Rechtsschutz geprüft werden. Berücksichtigt wird hierbei der grundrechtlich<br />
vermittelte Schutz der Interessen aller Betroffenen. Das erfordert zunächst<br />
eine Bestimmung der relevanten Schutzgüter bzw. der potenziellen Risiko-<br />
941 Kadelbach, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (FN 362), S. 233<br />
273
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
opfer sowie eine Schrankenprüfung und Abwägung. <strong>Die</strong>se erfolgt nach dem<br />
klassischen Ansatz über die im jeweiligen Grundrecht einschlägige Schranke<br />
in Form des Gemeinwohlinteresses. Alternativ wird im Rahmen des Vorsorgegedankens<br />
zwischenzeitlich die multipolare Prüfung unter Einbeziehung<br />
staatlich geschützter Individualrechtsgüter vorgenommen942 .<br />
<strong>Die</strong> Notwendigkeit einer verfassungsgemäßen Inhaltsbestimmung bei der<br />
Reichweite von Art. 14 GG wird auch in der Exportkontrollliteratur deutlich<br />
angemahnt. Statt einer einseitigen Risikoaufbürdung zu Lasten der Wirtschaft,<br />
müsse eine Risikosphärenabgrenzung erfolgen. Auch Vertrauensschutzgedanken,<br />
besonders bei langfristigen Projekten und Kundenbeziehungen<br />
der Betroffenen, müssten einbezogen werden943 . Ob der klassische<br />
Interessenausgleich durch die grundrechtliche Schranken- und Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
diesem Anliegen Rechnung trägt oder die multipolare<br />
Prüfung auch für Exportkontrollen herangezogen werden kann, soll im Folgenden<br />
herausgearbeitet werden.<br />
1. Bestehen eines Vorsorgeanlasses, Bestimmtheit der Norm<br />
und Beweislast<br />
Nach der Struktur des Vorsorgeprinzips sind risikoorientierte Eingriffe<br />
rechtmäßig, wenn ein Vorsorgeanlass besteht und dieser verhältnismäßig ist.<br />
Ersteres muss mit einer gewissen Besorgnis zur Schädigung bestimmter<br />
Rechtsgüter bejaht werden. Dabei müssen anlässlich der Sachverhaltsermittlung<br />
konkrete Anhaltspunkte festgestellt werden. Mit Blick auf Exportkontrollen<br />
bei Dual-use-Gütern dürfte wegen des zweifelsohne gewichtigen Bezugs<br />
entsprechender Warenlieferungen zur Herstellung von Waffen oder<br />
Waffenkomponenten eine Besorgnis hinsichtlich möglicher Rechtsgutsgefährdungen<br />
unstrittig sein. Der Vorsorgeanlass als solcher ist demnach, soweit<br />
es um die Einführung von Genehmigungspflichten geht, vorhanden.<br />
Für die Rechtmäßigkeitskontrolle kommt es auf die Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />
an, der neben der angemessenen Beweislastverteilung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
des Eingriffs erfordert. <strong>Die</strong>s ist nur möglich, wenn<br />
die Eingriffsermächtigung selbst den Verfassungsanforderungen der Bestimmtheit<br />
genügt, da sonst eine angemessene Rechtmäßigkeitskontrolle<br />
nicht möglich wäre.<br />
942 Vgl. Teil 3 IV.3.b)<br />
943 Mit Kritik am materiellen Rechtsschutz: Hohmann (FN 89), S. 468<br />
274
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
a) Bestimmtheitsgebot und Verfahrenskompensation<br />
Schon mehrfach angesprochene Fragen zur Reichweite der Verwaltungsautonomie<br />
und zur Abgrenzung legislativer, administrativer und judikativer<br />
Kompetenzen sowie deren Auswirkung auf die Einhaltung der verfassungsrechtlichen<br />
Vorgaben gelten auch im Kontext des Vorsorgeprinzips944 . Der<br />
Gesetzgeber muss insbesondere bei grundrechtlich relevanten Eingriffen<br />
selbst den Umfang und Inhalt des Eingriffs hinreichend deutlich regeln. Gesetze<br />
und Verordnungsermächtigungen müssen in Übereinstimmung mit Art.<br />
80 Abs. 1 S. 2 GG dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Das dabei im Sicherheitsrecht<br />
gerade mit Blick auf den Gefahrenbegriff geforderte Mindestmaß<br />
an Bestimmtheit ist für die Rechtmäßigkeit der Genehmigungspflichten<br />
erheblich945 . Für die verfassungsmäßige Prüfung von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />
steht insoweit die Verwendung des unbestimmten<br />
Rechtsbegriffes sicherheits- und außenpolitischer Belange im Mittelpunkt.<br />
<strong>Die</strong> normzweckorientierte Auslegung des Kataloges in § 7 Abs. 2<br />
AWG sowie normkonkretisierende Vorschriften oder Regelwerke ermöglichen<br />
die verfassungskonforme Anwendung der Eingriffsermächtigung946 .<br />
Sie wird zur Grundlage einer angemessenen Bewertung des Sachverhalts<br />
bzw. Vorsorgeanlasses. Der Umfang gerichtlicher Prüfung wird hierdurch<br />
mitbestimmt. Hinzu tritt die Kompensation mit Verfahrenselementen, z.B.<br />
erhöhten Begründungs- und Mitwirkungspflichten, die der gesteigerten Bedeutung<br />
nichtstaatlicher Kontrolle durch die Öffentlichkeit gerecht werden<br />
und die fehlende gerichtliche Prüfungstiefe kompensieren947 . Insgesamt<br />
rechtfertigen diese Anforderungen eine herabgesetzte Eingriffsschwelle bei<br />
der Risikoprävention. Eine hinreichende Sachverhaltsermittlung, Verfahrensrechte<br />
und Entscheidungsbegründung haben bei risikoorientierten Exportkontrollen<br />
eine exponierte Stellung. Ihre Einhaltung muss im Einzelfall<br />
durch die Gerichte überprüft werden.<br />
b) Normstruktur und angemessene Beweislastverteilung<br />
<strong>Die</strong> materielle Eingriffswirkung der Genehmigungspflichten hängt nicht nur<br />
von ihren konkreten Tatbestandsmerkmalen ab, sondern vor allem von der<br />
Frage, zu wessen Lasten bei abgeschlossener Sachverhaltsermittlung<br />
944 Vgl. zur Kompetenzabgrenzung allgemein in Teil 2 II.2.a) und beim Vorsorgetatbestand<br />
in Teil 3 III.3a)<br />
945 Vgl. dazu Teil 3 II.2.a)aa)<br />
946 Zur Bestimmtheit des Begriffs außen- und sicherheitspolitischer Belange vgl. Teil 1<br />
II.5.b)dd) und zur Rolle der exportkontrollpolitischen Grundsätze und Erlasse vgl.<br />
Teil 1 II.5.f)cc)<br />
947 Zur Rolle der Verfahrensfragen und Entscheidungstransparenz Teil 3 V.2.c)<br />
275
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
verbleibende Erkenntnisdefizite gehen. <strong>Die</strong>s muss auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />
des konkreten Eingriffs, insbesondere bei der Zumutbarkeit<br />
bzw. Angemessenheit einer Genehmigungsversagung berücksichtigt werden.<br />
Es wurde schon festgestellt, dass es nach dem Zweck der Exportkontrollen<br />
trotz Ungewissheit oder gerade deswegen zu einer Risikobejahung und damit<br />
auch zu präventiven Eingriffserfordernissen kommen kann. <strong>Die</strong>s ist für<br />
die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast von erheblicher, wenn nicht<br />
entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich gilt auch bei Exportkontrollen die<br />
Untersuchungsmaxime des § 24 VwVfG. Das Gericht kann sich aber neben<br />
den Beweismitteln nach § 26 VwVfG auch auf Auskunftspflichten des Antragstellers<br />
berufen, was § 44 AWG explizit regelt948 . Es wurde angedeutet,<br />
dass das Vorsorgeprinzip im Kontext der Bestimmung des Vorsorgeanlasses<br />
eine Beweislastumkehr impliziert, die nach dem Muster einer widerlegbaren<br />
Gefährlichkeitsvermutung wirken kann949 . <strong>Die</strong> Reichweite dieser Gefährlichkeitsvermutung<br />
muss für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände noch näher<br />
bestimmt werden.<br />
<strong>Die</strong> geschilderten Prinzipien zur Beweislastverteilung und das Beweismaß<br />
stellen im Wesentlichen auf die Verantwortung bzw. betroffene Sphäre der<br />
Verfahrensbeteiligten ab. Aber auch die normative Durchsetzungskraft der<br />
materiellen Rechtspositionen ist von Bedeutung, so dass Beweislast und<br />
Abwägung der betroffenen Rechtspositionen in untrennbarem Zusammenhang<br />
stehen. Eine grundsätzliche Gefährlichkeitsvermutung würde beim Bestehen<br />
eines Vorsorgeanlasses zur Annahme eines entscheidungserheblichen<br />
Risikos zu Ungunsten des Antragstellers führen. <strong>Die</strong> Durchsetzungskraft der<br />
Außenwirtschaftsfreiheit ist bei den Genehmigungspflichten strukturell unterschiedlich<br />
angelegt. Zu den Interessen der Antragsteller beim technischen<br />
Sicherheitsrecht lassen sich durchaus Parallelen ziehen. Sie erlauben im Ergebnis<br />
folgende Rückschlüsse. <strong>Die</strong> <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>statbestände knüpfen<br />
ebenfalls an die Zuverlässigkeit eines Antragstellers an. Auf die Wirkungen<br />
der Zuverlässigkeit als zunächst bestehende Ungefährlichkeitsvermutung<br />
wurde bereits eingegangen950 . <strong>Die</strong> relativ hohen Beweislasthürden für<br />
ein nicht bestehendes Risiko, wie sie im Atomrecht wegen der erheblichen<br />
Risiken verlangt werden, dürften auf eine technische Gefährdungsvermutung<br />
bei gelisteten Gütern schließen lassen. Erkenntnisdefizite über die gesicherte<br />
zivile Verwendung würden in diesen Fällen zu Lasten des Antragstellers<br />
gehen.<br />
948 Vgl. Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), Teil 3 § 3 AWG Rn 11c<br />
949 So Calliess, DVBl. 2001, S. 1725 (insbes. 1732 f.), s.a. Teil 3 III.2.c)bb)<br />
950 Vgl. Teil 3 V.2.a)gg)<br />
276
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
Der nach der Untersuchungsmaxime erforderliche Anfangsverdacht für eine<br />
gesetzlich missbilligte Sachlage wird bereits mit der Aufnahme des Dualuse-Gutes<br />
in die Kontrolllisten begründet, so dass für die Genehmigungspflicht<br />
weitergehende Darlegungslasten der Behörde für einen Missbrauch<br />
nicht bestehen müssen951 . <strong>Die</strong>s wird auch durch den EuGH bestätigt, der für<br />
den Bereich gelisteter Dual-use-Güter entschieden hat, dass vom Ausführer<br />
der volle Nachweis einer zivilen Endnutzung verlangt werden kann952 . <strong>Die</strong>se<br />
Rechtsprechung des EuGH bezog sich zwar auf nationale deutsche Normen.<br />
Es gibt aber keine Argumente gegen die Anwendung dieses Grundsatzes<br />
auch auf Entscheidungen nach der Dual-use-VO. Dem hatte sich auch das<br />
VG Frankfurt angeschlossen953 . Es bestätigt, dass bei gelisteten Gütern gem.<br />
Art. 3 i.V.m. Anhang I der Dual-use-VO die Beweislast der zivilen Verwendung<br />
eines Dual-use-Gutes beim Ausführer liegt954 . <strong>Die</strong> Beweislast, dass das<br />
jeweilige Gut unter den Anhang I der Dual-use-VO fällt, also gelistet ist,<br />
liegt jedoch bei der Behörde955 . <strong>Die</strong>se Beweisregeln gelten auch für Genehmigungspflichten<br />
aufgrund nationaler Listenpositionen.<br />
Um dem Risikovorsorgekonzept entsprechend Erkenntnisdefizite zu bewältigen,<br />
kommt es bei Prognoseentscheidungen zu herabgesetzten Beweisanforderungen.<br />
Faktisch besteht eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung.<br />
Dagegen spricht auch nicht der Wortlaut des § 3 Abs.1 AWG. Er sieht eine<br />
Genehmigungserteilung vor, wenn keine oder nur eine unwesentliche Gefährdung<br />
der Rechtsgüter des § 7 AWG gegeben ist. Bei Erkenntnisdefiziten<br />
ist diese positive Feststellung für den Antragsteller nur schwerlich möglich956<br />
. <strong>Die</strong> Beweislast geht also zu seinen Lasten, wenn er die zivile Verwendung<br />
des gelisteten Gutes nicht darlegen kann. <strong>Die</strong>s lässt sich rechtfertigen,<br />
weil er durch seine produktspezifische Expertise und Kundennähe dazu<br />
am besten in der Lage ist. <strong>Die</strong> Beweislastverteilung entspricht dem Gedanken<br />
zur adäquaten Risikoverteilung bzw. Sphärentheorie. <strong>Die</strong> Mitwirkungspflichten<br />
nach § 44 AWG erscheinen im Zusammenwirken mit den<br />
Genehmigungstatbeständen bei gelisteten Gütern angemessen. Im Einzelfall<br />
ist damit ein Vorsorgeanlass gegeben.<br />
951 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 246<br />
952 EuGH, Urteile vom 17.10.1995, Rs.C 84/94 (Leifer), Slg. 1995 I S. 3189, Rn 46 und<br />
Rs 70/94 - Werner, Slg 1995, I 3231, Rn 12 (FN 27)<br />
953 VG Frankfurt, Urteil vom 23.5.96 - Az E 3661/93 (3)<br />
954 Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128),S. 91<br />
955 V. Bogdandy (FN 4), S. 77; Verwaltungsgericht Frankfurt, Urteil vom 25.01.1996 -<br />
Az.1E 121/93 (3), nicht veröff.<br />
956 So Sauer, in: Hohmann/John (FN 26) § 3 Teil 3 Rn 11 R unter Verweis auf Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich<br />
(FN 21), § 3 AWG Rn 17<br />
277
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
Dagegen benötigt die Behörde bei ungelisteten Gütern Anhaltspunkte für einen<br />
missbräuchlichen Verwendungszusammenhang957 . Das OLG Köln<br />
schlussfolgert diese Beweislastverteilung aus dem Tatbestand des § 5c<br />
AWV, der auf ein „bestimmt sein (können)“ zu rüstungstechnischen Verwendungen<br />
abstellt958 . Danach muss die Behörde den Beweis für die Verwendungsabsicht<br />
des Empfängers antreten. Mit Einführung des Wortes<br />
„können“ in den Tatbestand hat sich die Nachweispflicht allerdings etwas<br />
relativiert, so dass Anhaltspunkte für die konkrete Verwendung genügen<br />
müssen. Bei den Verwendungstatbeständen der Dual-use-VO ist die Normstruktur<br />
identisch. Danach genügen bei den Verwendungstatbeständen Anhaltspunkte<br />
dafür, dass die Güter im Massenvernichtungsbereich bzw. Trägerbereich<br />
oder im konventionellen Rüstungsgüterbereich bestimmt sein<br />
können. In beiden Fällen ist dann auch der Vorsorgeanlass im Einzelfall zu<br />
bejahen. Es genügt für die Behörde, die Möglichkeit eines Missbrauchs<br />
plausibel darzulegen. <strong>Die</strong>se geringen Anforderungen seien wegen des besonderen<br />
Proliferationsrisikos gerechtfertigt, das mit Art. 4 Abs.1 Dual-use-<br />
VO unterbunden werden soll959 . Ähnliche Schlüsse lassen sich auch aus den<br />
Art. 4 Abs. 2 Dual-use-VO, § 5c AWV sowie § 5d AWV ziehen, die für besonders<br />
sensitive Empfängerländer gelten. Das genügt für die Feststellung<br />
der Genehmigungspflicht. Es kommt nicht darauf an, ob die Güter tatsächlich<br />
für diese Zwecke verwendet werden960 . <strong>Die</strong> Gefahr darf nicht nur hypothetisch<br />
sein. Ausreichende Indizien können z.B. i.V.m. dem empfängerspezifischen<br />
Produktionsspektrum oder sonstigen Indizien für einen militärischen<br />
Bezug der Lieferung oder Zusammenhänge zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen<br />
dargelegt werden. Der Antragsteller müsste Anhaltspunkte<br />
dafür entkräften.<br />
Voll nachweispflichtig bliebe die Behörde dafür, dass die auszuführenden<br />
Güter geeignet sind, die genannten Zwecke zu gefährden. Bei den spezifischen<br />
Anforderungen der einzelnen Tatbestände an die Qualität objektiver<br />
Indizien könnte nach dem Normzweck eine weitergehende Differenzierung<br />
geboten sein. So ist das staatliche Interesse einer Risikobewältigung bei der<br />
Lieferung von Dual-use-Gütern in Bezug auf Massenvernichtungswaffen<br />
deutlich stärker als z.B. bei Bezügen zu einer Pistolenproduktion, die im internationalen<br />
Kontext zumindest nicht generell missbilligt wird. Dabei muss<br />
957 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 79<br />
958 OLG Köln, Urt. v. 20.01.2000 – Rs 7U84/99, NVWz 2000, 594, 595<br />
959 Karpenstein, in: Hohman/John, Rn 22 zu Art. 9<br />
960 Vgl. Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 86 und 90 unter Verweis<br />
auf VG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.12.96, Az.: I E 3838/93<br />
278
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
eine Gewichtung im Einzelfall stattfinden961 . Starre Beweislastregeln sind<br />
ebenso wenig opportun wie eine generelle dogmatische Regel, dass Zweifel<br />
am Bestehen einer Gefährdung im Sinne des § 3 AWG zu Lasten der Behörde<br />
gingen. Das entspricht auch dem Verständnis angemessener Risikoverteilung,<br />
dessen Wertung dem Verhältnismäßigkeitskriterium entliehen ist962 .<br />
Der Beurteilungsspielraum risikoorientierter Exportkontrollen erfordert eine<br />
entsprechende Interpretation des Gefährdungsmerkmals, so dass die Beweislastfrage<br />
im Einzelfall gewichtet und bewertet werden muss963 . Mit Blick<br />
auf die in der Ausfuhrkontrolle sehr hochrangigen schützenswerten Rechtsgüter<br />
kann auch nicht das Prinzip „im Zweifel für die Außenwirtschaftsfreiheit“<br />
gelten964 . Solche pauschalen Prinzipien wären mit dem Erfordernis der<br />
Einzelabwägung sowie der Ausdifferenzierung von je nach Liefergegenstand<br />
und/oder Missbrauchspotenzial unterschiedlichen Gefährdungslagen in<br />
der Tat nicht vereinbar. Es bedarf daher des Rückgriffs auf ein politisches<br />
Bewertungssystem zur Ausfüllung des Gesetzesbegriffs wie es mit den<br />
schon mehrfach erwähnten Anwendungsrichtlinien gegeben ist. Für die (zivile)<br />
Verwendungsprognose reicht es aus, wenn der Antragsteller für eine<br />
plausible und schlüssige Darlegung sorgt.<br />
Im Ergebnis ist es für die Legitimation des Eingriffs erforderlich, Umstände<br />
darzulegen, wonach exportkontrollrechtlich geschützte Belange berührt<br />
sind. Das gilt ganz unabhängig von dem Erfordernis einer Gefahr oder eines<br />
Risikos. <strong>Die</strong> Behörde muss ihre eventuell anderweitige Auffassung plausibel<br />
mit Nachweisen unterlegen und muss auf nach den politischen Grundsätzen<br />
missbilligte Verwendungen Bezug nehmen. <strong>Die</strong>s kann aber auch typisierend<br />
geschehen, wie es über erstellte Länderprofile und Firmenlisten der Fall ist.<br />
Sie standardisieren die bestehende Erkenntnislage. Dagegen können Widersprüche<br />
bei den Antragsangaben, fehlende Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit<br />
der Behauptungen auf ein Missbrauchsrisiko hindeuten. In dem Fall<br />
würden Erkenntnisdefizite entstehen, deren Wirkungen der zu Lasten des<br />
Antragstellers gehen.<br />
Bei ungelisteten Gütern sind die Anforderungen an die Begründung einer<br />
Missbrauchsgefahr höher, denn grundsätzlich ist ihr Risikobezug deutlich<br />
geringer als bei gelisteten Gütern. Im Rahmen der Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />
müssen bei sämtlichen Genehmigungspflichten die Kriterien betreffend<br />
der Technologie des Liefergutes, der vertraglichen Gestaltung, des Aus-<br />
961 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 77<br />
962 Vgl. Teil 3 IV.2.c)cc)<br />
963 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 246<br />
964 Simonsen, in: Wolffgang/Simonsen (Fn 7), Bd 2, § 1 AWG Rn 17<br />
279
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
führers sowie des Empfängers berücksichtigt werden 965 . So wäre z.B. relevant,<br />
ob der Empfänger in einem militärischen Zusammenhang steht (Konzernverbund)<br />
oder gar selbst militärische Produktionsbereiche hat. Eine wesentliche<br />
Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Länderbezug einer Lieferung,<br />
da z.B. im konventionellen Rüstungsbereich hinnehmbare Restrisiken<br />
in Krisenregionen (wie beispielsweise Nahost) deutlich niedriger sind<br />
als z.B. bei Lieferungen nach Mexiko. Soweit die konkrete zivile Endverwendung<br />
ausreichend dargelegt ist, erfordert die Ablehnung eine zusätzliche<br />
Begründung. <strong>Die</strong> Behörde muss erklären, welche staatlichen Interessen bzw.<br />
Verpflichtungen von der Lieferung berührt sind, z.B. infolge von Vereinbarungen<br />
des Regimes oder Abkommen. Von besonderer Problematik ist insoweit<br />
die Anwendung rein nationaler Sonderregelungen, da der Rückgriff auf<br />
diese Vereinbarungen nicht möglich ist und allgemeine Wirkungen der auswärtigen<br />
Belange in Rechnung gestellt werden müssen. <strong>Die</strong> Begründung<br />
hieran muss also umso fundierter sein.<br />
c) Ergebnis<br />
<strong>Die</strong> Frage der Beweislastverteilung ist bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />
grundlegend für die Verteilung der Risikoverantwortung. Nach den<br />
Grundsätzen des Vorsorgeprinzips werden dabei die Risikosphären der Beteiligten<br />
unterschieden. <strong>Die</strong>s beinhaltet eine wertende Betrachtung, die auch<br />
auf die Rechtsgütergewichtung im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
zielt. Hierbei spielen Listung der Güter und Zuverlässigkeitsfragen eine Rolle,<br />
aber auch die Intensität der Bedrohung. Liegen Anhaltspunkte für eine<br />
verwendungsbezogene Besorgnis vor, trägt der Antragsteller für die zivile<br />
Verwendung des Liefergutes die Beweislast.<br />
2. Verhältnismäßigkeit der Genehmigungserfordernisse<br />
a) Exportkontrollrelevante Grundrechte und ihre Schranken<br />
<strong>Die</strong> im AWG wie auch auf EG-Ebene verbürgte Außenwirtschaftsfreiheit<br />
wird über die Grundrechtsgewährleistungen der Handlungsfreiheit, Eigentums-<br />
und Berufsfreiheit in die Rechtmäßigkeitsprüfung des Eingriffs eingestellt966<br />
. Bei der Prüfung von Genehmigungsentscheidungen kommt die<br />
Einhaltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes hinzu967 . <strong>Die</strong> Schranken der<br />
965 Vgl. Karpenstein (FN 41), S. 244<br />
966 Vgl. hierzu schon Teil 2 III.3.b)<br />
967 Zur gemeinschaftsrechtlichen Anerkennung Teil 2 II.3.b) und zum nationalen Verfassungsverständis<br />
Teil 2 I.5.b)aa)<br />
280
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
benannten Grundrechte sind im Grundgesetz ausdrücklich benannt oder allgemein<br />
beschrieben. Letztes erfolgt durch Bezugnahme auf öffentliche Interessen.<br />
An dieser Stelle spielt die Rechtsprechung des BVerfG eine wichtige<br />
Rolle. So wird die notwendige Gemeinwohlqualität der Beschränkung spezifiziert<br />
968 oder die Wechselwirkung der betroffenen Grundrechte bei der Beschränkung<br />
durch allgemeine Gesetze herausstellt 969 . Schließlich muss jeder<br />
Grundrechtseingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen<br />
970 . Zu den folgenden exportkontrollrelevanten Grundrechten bestehen<br />
auf nationaler wie gemeinschaftsrechtlicher Ebene Gewährleistungen, deren<br />
Beschränkungen durch Genehmigungspflichten bzw. die Ablehnung einer<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> einer Rechtfertigung bedürfen.<br />
aa) Gleichbehandlungsgrundsatz und Willkürverbot<br />
Bei der Durchsetzungskraft der Außenwirtschaftsfreiheit kommt neben den<br />
Grundrechten auch der aus wirtschaftspolitischer Sicht bedeutende Gleichbehandlungsgrundsatz<br />
zum Tragen. <strong>Die</strong> selbst bestimmte und eigenverantwortliche<br />
wirtschaftliche Betätigung hängt im Wesentlichen von einer Neutralität<br />
im Wettbewerb ab, die der Staat nicht durch einseitige und benachteiligende<br />
Eingriffe beeinträchtigen darf. 971 Nach Art. 3 GG dürfen natürliche<br />
und juristische Personen des Privatrechts dann eine Ungleichbehandlung erfahren,<br />
wenn dafür ein sachlicher Grund besteht. Gleiche Sachverhalte sollen<br />
deshalb grundsätzlich auch gleich behandelt werden. Negativ gesprochen<br />
geht es um das Verbot der willkürlichen Ungleichbehandlung972 . <strong>Die</strong>s<br />
gilt unabhängig von der Nationalität des Betroffenen, so dass auch Ausländer<br />
geschützt sind. <strong>Die</strong> Nationalität darf kein Differenzierungsgrund sein973 .<br />
Ein ausreichender Differenzierungsgrund bestehe aber bei Typisierung und<br />
Generalisierung von verschiedenen Sachverhaltkonstellationen974 . <strong>Die</strong>se<br />
Gattungsbildung in Form der Typisierung von Lebenssachverhalten erleichtert<br />
die Rechtsanwendung und ist zulässig, solange dadurch allenfalls für<br />
kleine Personenkreise Härten entstehen und Ungerechtigkeiten nur mit gro-<br />
968 Siehe z.B. die Drei-Stufen-Theorie zu Art.12 GG beim Apothekenurteil, BVerfGE 7,<br />
377, 405<br />
969 So BVerfGE 7, 198, 204 ff. - Lüth<br />
970 Dazu Bleckmann (FN 817), § 12 Rn 77 ff., Rn 111<br />
971 So auch Epping (FN 26), S. 67, 153 ff.<br />
972 Rüfener, in: Dolzer/Vogel/Graßhof (FN 282), Art. 3 Abs.1 Rn 15 ff.<br />
973 Ebenda, Art. 3 Abs.1 Rn 135<br />
974 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), vor §§ 5 ff., Rn 43<br />
281
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
ßer Schwierigkeit vermeidbar sind 975 . Das allgemeine Diskriminierungsverbot<br />
nach Art. 12 EG sowie die entsprechenden Ausgestaltungen bei den einzelnen<br />
Freiheiten sind auch auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene Grundlage<br />
für eine umfassende Anerkennung des Willkürverbotes 976 . <strong>Die</strong> geschilderten<br />
Grundsätze sind demnach bei Genehmigungsentscheidungen im EU-<br />
Kontext wie auch nach dem AWG zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere,<br />
wenn eine Selbstbindung der Verwaltung stattgefunden hat 977 , beispielsweise<br />
über Anwendungsrichtlinien und Normkonkretisierungen oder<br />
schlichte Präzedenzentscheidungen.<br />
bb) Handlungsfreiheit<br />
<strong>Die</strong> allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG gilt gegenüber jedermann,<br />
natürlichen sowie juristischen Personen des Privatrechts978 . Sie gilt als Auffanggrundrecht<br />
und kann durch einfaches Gesetz beschränkt werden. Der<br />
sehr weit gefasste Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG führt durch die verfassungsmäßig<br />
bestimmte Schrankenbestimmung zu einem relativ geringen<br />
Schutzgrad979 . Über das Verhältnismäßigkeitsprinzip unterliegen diese Beschränkungen<br />
aber ebenfalls Rechtfertigungsanforderungen. Sie bestehen in<br />
Abhängigkeit von der Qualität und Äußerungsform der Handlungsfreiheit980 .<br />
Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene gibt es kein dem deutschen Auffanggrundrecht<br />
des Art. 2 Abs. 1 GG vergleichbares Grundrecht. Das wird durch<br />
eine entsprechend weitere Fassung der Schutzbereiche spezifischer Grundrechte<br />
kompensiert981 . Dennoch erkennt auch der EuGH die allgemeine<br />
Handlungsfreiheit als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts an982 .<br />
Ebenso wie nach dem Grundgesetz bedürfen damit alle Eingriffe der öffentlichen<br />
Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung natürlicher oder juristischer<br />
Personen einer Rechtsgrundlage. Das Willkürverbot darf nicht verletzt<br />
werden und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein983 .<br />
975 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs.1 GG<br />
Rn 23<br />
976 V. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I Art. 3 Abs. 1 Rn 1 ff.<br />
977 Dazu Teil 2 II.3.b)bb)<br />
978 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (FN 975), Bd. 1, Art. 2 Abs.1 Rn 42<br />
979 Ebenda, Bd. 1, Art. 2 Abs.1 Rn 21 ff.<br />
980 So BVerfG in BVerfGE 17, 306, 314<br />
981 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (FN 3) Bd. I, nach Art 6 EUV, Rn 75<br />
982 So z.B. EuGH verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst / Kommission, Slg. 1989, 2859,<br />
2924; EuGH verb. Rs. 133 bis 136/85, Rau / Balm, Slg. 1987, 2289, 2338; EuGH,<br />
verb. Rs. 97 bis 99/87, Dow Chemical Ibérica u.a. /Kommission, Slg. 1989, 3165, Rn<br />
16<br />
983 EuGH verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst / Kommission, Slg. 1989, 2859, 2924<br />
282
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
cc) Berufsausübungsfreiheit und unternehmerische Freiheit<br />
Art. 12 GG wird als wesentlicher Anknüpfungspunkt des Schutzes wirtschaftlicher<br />
Betätigung und damit auch der Außenwirtschaftsfreiheit gesehen984<br />
. <strong>Die</strong> im Rahmen von Art. 12 GG geschützte Berufsausübungsfreiheit<br />
erfasst nach herrschender Lehre auch die unternehmerische Freiheit und<br />
freie Gewerbeausübung985 . Zum geschützten Adressatenkreis gehören nur<br />
Deutsche und im bestimmten Umfang EU-Ausländer sowie inländische Personen<br />
des privaten Rechts. <strong>Die</strong> Bestimmung des Schutzbereichs erfolgt nach<br />
der gesicherten Rechtsprechung des BVerfG i.V.m. der Abgrenzung von<br />
Fragen der Berufsausübung und Berufswahl. Nach der Drei-Stufen-Lehre<br />
sind im Rahmen der Schrankenprüfung abgestufte Verhältnismäßigkeitsanforderungen<br />
zu berücksichtigen986 . Dabei erfolgt eine Gewichtung der Eingriffsintensität<br />
und entsprechend verfolgter Gemeinwohlbelange. Berufsausübungsbeschränkungen<br />
im Sinne der ersten Stufe, wie sie regelmäßig<br />
in Verbindung mit der Versagung von Ausfuhren in Rede stehen, müssen<br />
nach dieser Rechtsprechung durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls<br />
gerechtfertigt sein. Nur bei als subjektive oder objektive Berufswahlbeschränkung<br />
einzustufenden Maßnahmen sind die Anforderungen höher.<br />
Nachdem die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik zu den Gemeinwohlgründen<br />
gehören, sind diese durchaus geeignet, den Schutzbereich nach<br />
Art. 12 GG einzuschränken. <strong>Die</strong> Erforderlichkeits- und Angemessenheitsprüfung<br />
muss dann über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs im Einzelfall entscheiden.<br />
In der Rechtsprechung des EuGH ist die Berufsfreiheit ebenfalls geschützt987<br />
. Sie ist in Art. 14 der Grundrechte-Charta als Jedermann-<br />
Grundrecht formuliert. Neben der freien Berufsausübung wird auch die unternehmerische<br />
Freiheit erfasst. <strong>Die</strong> wirtschaftliche Betätigung und Handelsfreiheit<br />
wird als spezifische Ausprägung der freien Persönlichkeitsentfaltung<br />
in den Geltungsbereich der Berufsfreiheit einbezogen988 . Hinzu kommt die<br />
freie wirtschaftliche Betätigung und die Wettbewerbsfreiheit989 . Ihre explizite<br />
Aufnahme in Art. 16 der Grundrechte-Charta geht vor allem auf das An-<br />
984 Epping (FN 26), S. 68, vgl. Abschnitt 1.3.3.2.<br />
985 Mannsen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (FN 975), Bd. 1, Art. 12 Abs.1 Rn 68<br />
986 BVerfGE 7, 377, 378 - Apothekenurteil<br />
987 St. Rspr. des EuGH seit Rs 4/73 – Nold, Slg. I 1974, 491, 507 f.; vgl. nur Rs 44/79 –<br />
Hauer, Slg. 1979, 3227, 3750 und Rs C 177/90 – Kühn, Slg.1992 I, 35, 63 f, Rs<br />
306/93 – SMW Winzersekt GmbH, Slg. 1994, 5555, 5581<br />
988 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 137 ff.<br />
989 Epping (FN 26), S. 577 unter Verweis auf EuGH Rs 11/70, Internationale Handelsgesellschaft,<br />
Slg. 1970, 1125,1134<br />
283
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
liegen zurück, im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit der EU den sozialen<br />
Grundrechten einen Kontrapunkt entgegenzusetzen990 . <strong>Die</strong>se Ausführungen<br />
zeigen, dass auch auf Gemeinschaftsebene der Konflikt zwischen den Freiheitsrechten<br />
einerseits und den sozialstaatlichen Gewährleistungen andererseits<br />
deutlich anerkannt wird. <strong>Die</strong>s ist bei der Rechtfertigung der Beschränkungen<br />
zu berücksichtigen. Bestandteil des Gemeinschaftsgrundrechts der<br />
Berufsfreiheit ist auch die Ausfuhrfreiheit, die ihren sekundärrechtlichen<br />
Ausdruck in Art. 1 VO (EWG) Nr. 2603/69 (EG-Ausfuhr-VO) gefunden hat.<br />
Sie umfasst das Recht, grundsätzlich alle Waren in Drittstaaten zu verbringen<br />
und mit drittländischen Unternehmen Handel zu treiben991 . Das geht aus<br />
Art. 11 der EG-Ausfuhr-VO hervor. Er zielt auf die Gleichbehandlung von<br />
Außen- und Binnenhandel992 .<br />
<strong>Die</strong> Schranken des Rechts der freien Berufsausübung werden im Rahmen<br />
seiner sozialen Funktion gesehen, so dass Einschränkungen durch das öffentliche<br />
Interesse bzw. dem Gemeinwohl dienende Gemeinschaftsziele gerechtfertigt<br />
sind993 . Mit jedem Eingriff in die Berufsfreiheit muss also ein<br />
dem Gemeinwohl dienendes Ziel verfolgt werden. Im Hinblick darauf darf<br />
die Beschränkung nicht unverhältnismäßig und nicht untragbar sein. Der<br />
Wesensgehalt dürfe nicht angetastet werden994 . <strong>Die</strong> Kriterien dieses Wesensgehalts<br />
sind allerdings nicht eindeutig. Der EuGH lehnt es grundsätzlich ab,<br />
dem individuellen Interesse den Vorrang vor dem hoheitlichen Regelungsinteresse<br />
einzuräumen. Auch dieses Grundrecht steht somit unter einem allgemeinen<br />
Gemeinschaftsvorbehalt, so dass der Prüfung der Verhältnismäßigkeit<br />
die entscheidende Bedeutung zukommt995 . Wenngleich eine dem<br />
deutschen Verfassungsverständnis immanente strenge Differenzierung von<br />
Eigentums- und Berufsfreiheit seitens des EuGH nicht vorgenommen wird,<br />
so ergeben sich in der Sache, zumindest beim Prüfungsschema und der gemeinwohlorientierten<br />
Rechtfertigung, kaum Abweichungen zur Reichweite<br />
von Art. 12 und 14 GG. Es muss dennoch berücksichtigt werden, dass er<br />
diese Gemeinwohlziele weit gefasst versteht und den Behörden einen großen<br />
Einschätzungsspielraum zugesteht996 .<br />
990 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. I, nach Art. 6 EUV, Rn 141<br />
991 Ehlers/Pünder, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, E 15, 3. Teil Rn 27<br />
992 Hohmann (FN 89), S. 468<br />
993 Entspr. der Rspr. zur Eigentumsgarantie: EuGH, Rs 4/73 - Nold, Slg. 1974, 491, 506<br />
ff.<br />
994 EuGH, Rs. 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, 2268<br />
995 Mit diversen Literaturhinweisen Epping (FN 26), S. 584 f.<br />
996 Ebenda, S.580, 585 unter besonderem Verweis auf EuGH Rs. 11/70, Internationale<br />
Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125,1135<br />
284
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
dd) Eigentumsgarantie<br />
Gegenüber Art. 12 GG wird der Eigentumsgarantie im Rahmen der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
eine zum Teil geringere Bedeutung zugemessen. Allerdings<br />
stellt sich im Kern auch im Außenwirtschaftsrecht die Frage, ob nicht<br />
doch bis zu einem gewissen Grade auch das Vermögen und die Nutzung des<br />
Eigentums zur Vermögenserwirtschaftung geschützt sind. <strong>Die</strong>se Diskussion<br />
steht im Zusammenhang mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten<br />
Gewerbebetrieb und führt zu der Frage, ob mit dem abgelehnten Ausfuhrantrag<br />
auch Eigentumspositionen des Antragstellers berührt werden. Das wird<br />
regelmäßig negativ beantwortet, da die Genehmigung die Qualität einer einseitigen<br />
staatlichen Gewährung ohne Gegenleistung des Antragstellers habe,<br />
also nicht auf dessen eigener Leistung beruhe. Bloße Geschäftschancen sind<br />
im Rahmen von Art. 14 GG aber nicht geschützt997 . Soweit es um Eingriffe<br />
in die Erwerbs- und Leistungsfähigkeit, also den Erwerb des Betroffenen<br />
und nicht um das Erworbene, gehe, sei regelmäßig Art. 12 GG betroffen998 .<br />
Im Außenwirtschaftsrecht bzw. bei Exportkontrollen stehen auch Forderungen<br />
in Rede, die durchaus den Charakter einer erworbenen Rechtsposition<br />
haben und somit dem Schutzbereich von Art. 14 GG unterfallen, z.B. wenn<br />
sie schuldrechtlich begründet sind und aus abgeschlossenen Kaufverträgen<br />
entstammen. Auf das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb<br />
kommt es dann nicht an999 . <strong>Die</strong> Abgrenzung von Art. 12 und 14 GG<br />
richtet sich letztlich danach, ob ein Rechtsgeschäft bereits vor dem Genehmigungsantrag<br />
getätigt wurde oder sich lediglich in Anbahnung befindet.<br />
<strong>Die</strong> Frage, ob den Antragsteller im Falle eines Schadens in Anbetracht der<br />
möglichen Kenntnis an der Genehmigungspflicht eine Mitschuld trifft, weil<br />
er sich z.B. kein vertragliches Rücktrittsrecht vorbehalten hat, ist allenfalls<br />
für die Entschädigungspflicht von Bedeutung. Beide Rechtsgüter können<br />
demnach für die Abwägung eines rechtmäßigen Eingriffs einschlägig sein.<br />
Soweit es um abgeschlossene Verträge geht, die einen Vermögenswert und<br />
damit ein Ergebnis eigener Leistung darstellt, ist Art. 14 GG maßgeblich.<br />
Bezogen auf die Durchführung des Geschäftes, das einen Teil der Berufsausübung<br />
darstellt, gilt Art. 121000 . Nach Art. 14 GG kann jede natürliche<br />
und juristische Person des Privatrechts Grundrechtsträger sein. Der Schutz-<br />
997 Zum Ganzen, Epping (FN 26), S. 73 ff., S 98,<br />
998 Mit vielen Hinweisen zur Rechtsprechung und Schrifttum: ebenda, S. 104<br />
999 Hinweis des OLG Köln im Zusammenhang mit einer verhinderten Ausfuhr nach<br />
Libyen, Urt. v. 20.01.2000 – Rs 7U84/99, veröff. in NVWz 2000, 594 und unter<br />
Verweis auf BVerfGE 45, 142, 179 sowie 68, 193, 222<br />
1000 Mit Blick auf Art. 14 GG: v. Bogdandy (FN 4), S. 87, unter Verweis auf BVerfGE<br />
16, 94, 112 und 18, 392, 397<br />
285
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
bereich des Eigentums wird durch die Rechtsverordnung als Ganzes näher<br />
bestimmt1001 . Nach h.L. und Rechtsprechung des BVerwG wird dabei auch<br />
das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb umfasst1002 .<br />
Eine Rechtfertigung von Eigentumsbeeinträchtigungen ist je nach der Unterscheidung<br />
von Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art 14 Abs. 1<br />
S. 2 sowie Enteignungsqualität des Eingriffs nach Art. 14 Abs. 3 möglich.<br />
Erstere werden im Wege einer Abwägung der Individualinteressen und der<br />
Gemeinschaftsbelange bestimmt und sind von dem sozialen Bezug des Eigentums<br />
abhängig1003 . Das wird aus der in Art. 14 Abs. 2 GG erwähnten Sozialbindung<br />
des Eigentums abgeleitet. Gründe des Gemeinwohls sind geeignet,<br />
den Eingriff zu rechtfertigen. Im Rahmen des Übermaßverbotes sind<br />
Inhalts- und Schrankenbestimmungen als enteignungsgleicher Eingriff nicht<br />
gerechtfertigt, wenn es sich um ein Sonderopfer des Eingriffsadressaten<br />
handelt. <strong>Die</strong> als sachspezifische Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips<br />
in Art. 14 Abs.1 S. 2 GG entwickelte Rechtsprechung zur Sonderopfertheorie<br />
geht auf das Reichsgericht zurück. BGH und BVerwG konkretisieren<br />
hierbei die Abgrenzung der Inhalts- und Schrankenbestimmung zur Enteignung<br />
nach dem Prinzip der materiellen Lastengleichheit1004 .<br />
Auch auf EU-Ebene erfolgt ein Schutz des Eigentums. Es steht grundsätzlich<br />
jeder Person zu1005 . Das nach Art. 17 der Grundrechte-Charta verbürgte<br />
Recht wurde in der Rechtsprechung des EuGH zunächst aus der Schutzposition<br />
eines berechtigten Vertrauens und dem Grundsatz wohl erworbener<br />
Rechte entwickelt. <strong>Die</strong>ser Ansatz wird zwischenzeitlich explizit anerkannt1006<br />
. In drei Stufen werden das Bestehen einer Nutzungsbeschränkung,<br />
die Erforderlichkeit hinsichtlich des Schutzes eines berechtigten Allgemeininteresses<br />
sowie die zweckorientierte Einschränkung und Angemessenheit<br />
der Maßnahme geprüft. Der Wesensgehalt des Eigentums wäre nur im Kern<br />
geschützt1007 . <strong>Die</strong> Durchsetzungskraft der Außenwirtschaftsfreiheit wäre da-<br />
1001 BVerfGE 58, 300, 336 - Naßauskieselungsbeschluss<br />
1002 Hocke/Berwald/Maurer/Friedrich (FN 21), §§ 5 ff. Rn 21, zur Einbeziehung von<br />
Vermögen: BVerfGE 74, 129, 148<br />
1003 BVerfGE 50, 290, 340<br />
1004 Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (FN 975), Bd. 1, Art. 14 Rn 258 ff.<br />
1005 St. EuGH-Rspr. seit EuGH Rs 44/79, Slg. 1979, 3727, 3745 – Hauer; vgl. nur verb.<br />
Rs 41, 121, 796/79 – Testa u.a., Slg. 1980, 1979, 1997, Rs 306/93 – SMW Winzersekt<br />
GmbH, Slg. 1994, 5555, 5581<br />
1006 Siehe EuGH Rs 4/73 – Nold, Slg. I 1974, 491, 507 f.; Rs 78/70 - Deutsche Grammophon,<br />
Slg. 1971, 487, 499ff; und grundlegend Rs 44/79 - Hauer , Slg. 1979,<br />
3727, 3745<br />
1007 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, nach Art. 6 EUV, Rn 147<br />
286
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
nach eher gering. Wie bei der Berufsfreiheit gilt allerdings ein umfassender<br />
Vorbehalt der Gemeinschaftsinteressen. Sie haben nach der EuGH-<br />
Rechtsprechung regelmäßig sehr starke Durchsetzungskraft. Wegen der im<br />
innergemeinschaftsrechtlichen Handel geltenden Grundfreiheiten dürfte der<br />
Außenwirtschaftsfreiheit daher eine stärkere Gewichtung zukommen1008 .<br />
Im Vergleich des EU-Standards mit dem Grundgesetz scheint es zumindest<br />
mit Blick auf die zulässigen gemeinwohlorientierten Inhalts- und Schrankenbestimmungen<br />
nicht zu Abweichungen zu kommen. Auf Fragen der Einschädigungspflichtigkeit<br />
bestimmter Eingriffe soll an dieser Stelle nicht eingegangen<br />
werden.<br />
ee) Zusammenfassung<br />
Im Ergebnis bleibt u.a festzuhalten, dass im Rahmen der Außenwirtschafsfreiheit<br />
vor allem Art. 12 GG und, je nach Sachverhalt, Art. 14 GG eine gewichtige<br />
Rolle für die Rechtmäßigkeit von Eingriffen spielen. Eine Einschränkung<br />
ist bei beiden Grundrechten regelmäßig aus Gemeinwohlgründen<br />
möglich. Auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene sind die Grundrechtsgewährleistungen<br />
ebenfalls zu berücksichtigen. Allerdings scheinen die Beschränkungsmöglichkeiten<br />
durch Gemeinschaftsinteressen aufgrund der<br />
EuGH-Rechtsprechung eher weit gefasst. Maßgeblich bleibt, ob die an sich<br />
begründeten Grundrechtsbeschränkungen verhältnismäßig sind. <strong>Die</strong>ser<br />
Grundsatz gilt auch im Gemeinschaftsrecht1009 . Hierbei spielt das Untermaßverbot<br />
eine Rolle. Es legt dem Gesetzgeber bei Wahrnehmung seiner<br />
staatlichen Pflichten ein Mindestmaß auf, um diese überhaupt erfüllen zu<br />
können.<br />
b) Bestimmung der betroffenen Schutzgüter bzw. potenziellen Risikoopfer<br />
aa) Bezug der Abwägung beim Schutz des Kollektivrechtsgutes Sicherheit<br />
Im Rahmen der Erörterungen zum Begriff der Sicherheit und der dahinter<br />
stehenden Staatszielbestimmungen sowie der Schutzpflichtendiskussion<br />
wurde deutlich, dass hinter dem Kollektivrechtsgut Sicherheit konkrete Individualinteressen<br />
einer unbestimmten Anzahl von Grundrechtsträgern stehen.<br />
Faktisch werden damit die Interessen des Art. 2 Abs. 2 GG in die Güterabwägung<br />
eingestellt, was auch in der Exportkontrollliteratur so gesehen<br />
1008 Dazu eingehend Epping (FN 26), S. 595<br />
1009 Vgl. Teil 2 III.3.a)<br />
287
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
wird 1010 . Mit dem gem. § 7 Abs. 1 Nr. 3 AWG und Art. 8 auch nach der Dual-use-VO<br />
möglichen Rückgriff auf auswärtige Belange des Art. 32 GG<br />
lässt sich über den Gemeinwohlbelang hinaus kaum ein dem Freiheitsgebrauch<br />
gegenläufiges Verfassungsgut entwickeln. Eine Güterabwägung<br />
und die Herstellung praktischer Konkordanz stößt damit auf Schwierigkeiten<br />
1011 . Wegen der verfassungskonformen Auslegung dieser Belange im Sinne<br />
sicherheitsrelevanter Ereignisse kann das aber überwunden werden. <strong>Die</strong><br />
schlichte Abwägung kollektiver Rechtsgüter als Grundlage der staatlichen<br />
Eingriffsermächtigungen würde zu einer Entdifferenzierung der gegenüberstehenden<br />
Verfassungsbelange führen. Es käme zu einer kollektiven Überhöhung<br />
einzelner Rechtsgüter, so dass praktisch jeder Eingriff gerechtfertigt<br />
würde. Dem muss mit einer hinreichenden Individualisierung und Bestimmung<br />
des geschützten Rechtsgutes begegnet werden 1012 . Wenn es im Kontext<br />
des Sicherheitsrechts um staatliche Schutzpflichten geht, können die insoweit<br />
drohenden Abwägungsschwierigkeiten auch überwunden werden.<br />
bb) Rechte des Betroffenen in Verbindung mit dem Recht auf Leben,<br />
körperliche Unversehrtheit und Gesundheit<br />
Auf die Gewährleistungen der nach Art. 2 Abs. 2 GG verbürgten Schutzgüter<br />
des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit und ihren grundlegenden<br />
Bezug auf Art. 1 Abs. 1 GG wurde bereits eingehend im Rahmen der<br />
näheren Bestimmung des Staatsziels Sicherheit und der damit aufgeworfenen<br />
Schutzpflichtdiskussion eingegangen1013 . Nach Art. 6 der Grundrechte-<br />
Charta findet die Sicherheit ebenfalls dahingehend Erwähnung, dass sie im<br />
Zusammenhang mit dem Recht auf Freiheit wesentlich ist. Der Sicherheitsbegriff,<br />
der auch in Art. 5 EMRK verwendet wird, wird nach der Rechtsprechung<br />
des EuGH lediglich mit dem Verständnis der Rechtssicherheit belegt.<br />
Es geht aber um den Schutz vor staatlicher Willkür, nicht um grundrechtliche<br />
Gewährleistungen1014 . Dennoch erkennt der EuGH über die Gemeinschaftsziele<br />
und Verkehrsfreiheiten auch staatliche Schutzpflichten an1015 .<br />
1010 Vgl. Teil 3 V.2.a)cc), vgl. dort auch von Bogdandy, der selbst die BVerfGE zu 2<br />
Abs. 1 GG zitiert<br />
1011 So Hohmann (FN 89), S. 522, 529<br />
1012 Vgl. Teil 3 I.4.a)aa)<br />
1013 Vgl. Teil 3 IV.2.c)bb)<br />
1014 Pernice/Mayer, in:Grabitz/Hilf (FN 3), Bd. III, nach Art 6 EUV, Rn 83<br />
1015 Zu den Schutzpflichten auf Gemeinschaftsebene vgl. Teil 4 II.3.c)<br />
288
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
c) Abwägung der Belange im Rahmen der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
und der multipolare Prüfungsansatz<br />
aa) Klassischer Prüfungsansatz<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht wie auch die Genehmigungsversagung bedeuten<br />
einen Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit des Betroffenen. Nach dem<br />
klassischen Liberalitätsprinzip darf die Außenwirtschaftsfreiheit des Ausführers<br />
im Rahmen der verfassungsrechtlich anerkannten Schranken beschränkt<br />
werden. Der Eingriff muss darüber hinaus verhältnismäßig sein. Beides<br />
muss anhand der o.g. hinter der Außenwirtschaftsfreiheit stehenden Grundrechte<br />
und des gesetzgeberischen Willens geprüft werden, welche öffentlichen<br />
Interessen die Behörde verfolgt. Zu diesem Zweck greift das BVerfG<br />
regelmäßig auf die Gesetzesmaterialien, wie die Gesetzesbegründung, zurück.<br />
Dabei kommt es unter Beachtung des objektiven Normzweckes darauf<br />
an, ob der Eingriff für die Erreichung des Zweckes geeignet, erforderlich<br />
und angemessen erscheint1016 . Im Rahmen der Erforderlichkeit erfolgt eine<br />
Alternativenprüfung zum wirksamsten Mittel, das in möglichst geringem<br />
Unfang das betroffene Grundrecht beeinträchtigt. Hierbei hat der Gesetzgeber<br />
einen gewissen Beurteilungsspielraum. Auf dieses legislative Ermessen<br />
wurde bereits eingegangen. Es findet seine Grenzen im Wesensgehalt der<br />
Grundrechte, der nach der Rechtsprechung des BVerfG im Sinne des Art. 19<br />
Abs. 2 GG unantastbar ist1017 .<br />
Das AWG kann die Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG als einfaches<br />
Gesetz beschränken. Mit dem staatlichen Sicherheitsinteresse dürfte auch<br />
der gemeinwohlorientierte Beschränkungsansatz im Sinne der Art. 12 und<br />
14 GG gegeben sein. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht ist verfassungsrechtlich<br />
dann legitimiert, wenn eine Rechtfertigung mit Verweis auf die Gewährleistung<br />
der staatlichen Sicherheitsinteressen durch hinreichende Gemeinwohlgründe<br />
gegeben und ein milderes Mittel nicht erkennbar ist. Aufgrund der<br />
Bezugnahme zu den hochwertigen Rechtsgütern Leben und körperliche Unversehrtheit<br />
kann es dahinstehen, ob es sich um die Berufsausübung begrenzende<br />
hinreichende Gemeinwohlgründe handelt oder einen Gemeinwohlgrund<br />
im Sinne der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Art. 14 Abs. 1 S.<br />
2 GG. In beiden Alternativen wäre eine Grundrechtsbeschränkung zunächst<br />
begründet. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der notwendigen<br />
Relationierung des Gemeinwohlinteresses Sicherheit gegenüber der<br />
Ausfuhrfreiheit wird dann das Übermaßverbot geprüft. Allerdings kommt es<br />
1016 Bleckmann (FN 817), § 12 Rn 122<br />
1017 Vgl. Teil 3 IV.3.a)<br />
289
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
dabei zum schon erwähnten Defizit einer hinreichenden Wahrung des Mindestmaßes<br />
an Schutzerfordernissen gegenüber den vom festgestellten Risiko<br />
bedrohten Rechtsgutinhabern. Den entsprechenden staatlichen Schutzpflichten<br />
will der multipolare Prüfungsansatz durch ein Untermaßverbot gerecht<br />
werden.<br />
bb) Begründung zum multipolaren Prüfungsansatz<br />
<strong>Die</strong> Risikovorsorge ist über das Umweltrecht hinaus für das gesamte Sicherheitsrecht,<br />
besonders aber auch Exportkontrollen relevant. <strong>Die</strong> Übertragung<br />
des umweltrechtlich erprobten Vorsorgeprinzips in das allgemeine Sicherheitsrecht<br />
ist von besonderer rechtsstaatlicher Brisanz, weil damit eine<br />
Erweiterung der staatlichen Eingriffsbefugnisse erfolgt, indem der zulässige<br />
Eingriffszeitpunkt vorverlagert wird 1018 . Je enger der Begriff der Gefahr bestimmt<br />
wird, desto weniger wird der von einem staatlichen Eingriff betroffene<br />
Bürger in seiner Freiheit beschränkt, desto freiheitlicher ist also der<br />
Rechtsstaat1019 . Für die Risikoprävention gilt die umgekehrte Tendenz. Zudem<br />
ist auf Grund von Erkenntnisdefiziten im Risikostadium regelmäßig die<br />
Frage nach der Zurechenbarkeit bzw. nach dem Störer offen. Das „neue“<br />
präventive Sicherheitsrecht droht deshalb, sich von seinem Bezug auf gesetzliches<br />
Unrecht zu lösen und zur Vermeidung generell unerwünschter Situationen<br />
eingesetzt zu werden.<br />
Aus rechtsstaatlicher Sicht hoch bedenklich ist, dass der Bürger den Staat<br />
nicht mehr durch legales Verhalten auf Distanz halten kann. Im Verhältnis<br />
Bürger - Staat wird auf diese Weise faktisch eine Beweislastumkehr eingeführt,<br />
in der das Risiko zur Normalität wird und die Nichtgefährlichkeit zur<br />
Ausnahme, die der Bürger für seine Person beweisen muss1020 . Hinzu<br />
kommt, dass auch die Exportkontrollen auf Ergebnisse eines frühzeitigen Informations-<br />
und Wissenserwerbs sowie deren systematische Auswertung angewiesen<br />
ist, lange bevor es zu Rechtsgutverletzungen kommt. Maßgebliche<br />
Konsequenz des Vorsorgeprinzips ist ein Spannungsverhältnis zum Rechtsstaatsprinzip,<br />
das in materieller Hinsicht die Gewährleistung von Freiheit<br />
mittels der abwehrrechtlichen Funktion der Grundrechte umfasst 1021 . <strong>Die</strong><br />
Über- und Untermaßprüfung nach den Grundsätzen zum multipolaren Abwägen<br />
berücksichtigt die gebotene Reichweite der Durchsetzbarkeit von<br />
Gemeinwohlbelangen und der betroffenen Grundrechte umfassender als die<br />
1018 Ausführlich hierzu Calliess (FN 288), S. 154 ff.<br />
1019 Hierzu Di Fabio, Jura 1996, S. 566 (568).<br />
1020 Grimm, (FN 609), S. 199; Prantl, Verdächtig: der starke Staat und die Politik der inneren<br />
Unsicherheit, , S. 9; Denninger, KJ 2002, S. 467 (472).<br />
1021 Calliess (FN 288), S. 604<br />
290
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
klassische bipolare Prüfung. <strong>Die</strong> damit verbundene Schärfung der betroffenen<br />
Rechtspositionen kann auch für die angemessene Risikoverteilung bei<br />
Exportkontrollen fruchtbar gemacht werden.<br />
Im Rahmen der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten müsste<br />
demnach über die Gemeinwohlbelange der auswärtigen Beziehungen, äußere<br />
und innere Sicherheit hinaus geprüft werden, ob mit Blick auf Art. 2 Abs.<br />
2 GG die „Weltbevölkerung“ oder bestimmte Gruppen und Bürger „hinreichend“<br />
geschützt werden. Zweck der multipolaren Prüfung ist die Schärfung<br />
des Schutzinteresses über die Prüfung des Untermaßverbotes1022 . Eine solche<br />
konkrete Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung zum Schutz betroffener<br />
Rechtsgüter ist allerdings nur möglich, wenn sie zumindest individualisierbar<br />
erscheinen. Im Zeitpunkt der Ausfuhr bzw. Behördenentscheidung<br />
über deren Genehmigung ist regelmäßig noch nicht klar, wer später<br />
konkret von einer missbräuchlichen Verwendung betroffen ist bzw. auf wen<br />
die Waffe gerichtet sein wird. <strong>Die</strong> individuelle Sicherheit potenziell betroffener<br />
Bürger scheint also nur schwerlich in die Abwägung eingestellt werden<br />
zu können.<br />
cc) Grundrechtsgeltung und Schutzadressat<br />
In der Exportkontrolle geht es, anders als im technischen Sicherheitsrecht,<br />
nicht um ortsbezogene Risiken. So ist der umweltrechtliche Nachbarbegriff,<br />
wie er bei der Zulassung von technischen Anlagen eine Rolle spielt, für die<br />
Prognose der Risikoszenarien infolge von Ausfuhren ohne Bedeutung. <strong>Die</strong><br />
Endverwendungsprognose bei Dual-use-Gütern bezieht sich vielmehr auf<br />
die Produktion von Waffen und daraus resultierende Missbrauchspotenziale.<br />
Wo der zu missbilligende Waffeneinsatz stattfinden und welche konkreten<br />
Individuen hierdurch bedroht werden könnten, ist in aller Regel nicht vorhersehbar.<br />
Anders als bei technischen Reaktionen oder Immissionen ist dies<br />
Teil der Ungewissheit bei der Risikoabwägung. Es können Ausländer oder<br />
Inländer betroffen sein. Zunächst ist es unwahrscheinlich, dass mit deutschen<br />
Komponenten hergestellte Waffen gerade gegen deutsche Staatsbürger<br />
eingesetzt werden. Sie dürften nur im Einzelfall bei Erkenntnissen über<br />
konkret geplante Angriffe auf bzw. in Deutschland Prognoserelevanz haben,<br />
z.B. bei terroristischen Anschlägen. Da es bei der Sicherheitsdimension von<br />
Exportkontrollen überwiegend auf Risiken für Rechtsgüter in Regionen außerhalb<br />
des Geltungsbereiches des Grundgesetzes geht, können diese nur in<br />
die Abwägung eingestellt werden, wenn sie als Jedermann-Grundrechte, unabhängig<br />
vom Territorium der Bundesrepublik, ihre Wirkung entfalten kön-<br />
1022 Vgl. Teil 3 IV.<br />
291
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
nen. Im Ausland lebende Bürger müssen sich darauf berufen können. Zumindest<br />
im Falle des vornehmlich in Rede stehenden Art. 2 Abs. 2 GG ist<br />
dies der Fall, erst recht bei der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG. Entsprechend<br />
kann und muss die verfassungsrechtliche Interessenabwägung<br />
unabhängig vom konkreten Ort der Risikorealisierung erfolgen.<br />
Wenngleich Art. 2 Abs. 2 GG ein Jedermann-Grundrecht ist, könnte sich die<br />
im Rahmen der Schutzpflichtendiskussion angeführte Garantenstellung des<br />
Staates gegenüber Ausländern so relativieren, da diese nicht zum Staatsvolk<br />
gehören und bei diesen die über den Staatszweck und das Gewaltmonopol<br />
bestehende Schutzdimension des Art. 2 Abs. 2 GG in Frage gestellt wird. Im<br />
Rahmen der Dual-use-VO wird zudem ausdrücklich auf die nationalen Sicherheitsinteressen<br />
verwiesen. Demnach könnte man zwar eine gewisse<br />
Mitverantwortung für alle EU-Bürger unterstellen. <strong>Die</strong> Wirkungen für Drittstaatenangehörige<br />
wären dann aber schwächer ausgeprägt. Dagegen spricht<br />
auch nicht der Aspekt der einschlägigen äußeren Sicherheit, ebenso wenig<br />
wie die völkerrechtlichen Vereinbarungen zugunsten des Friedenserhaltes,<br />
zur Ächtung von Massenvernichtungswaffen oder einer Unterbindung von<br />
Waffenproduktionen bzw. zur restriktiven Handhabung von Ausfuhren in<br />
Spannungsgebiete. <strong>Die</strong>se Aspekte sind über den Gemeinwohlbelang der äußeren<br />
Sicherheit und Friedenspflicht mitumfasst, so dass es keines weiteren<br />
Schutzes bedürfte.<br />
Mit Bezug auf die hiermit ebenfalls beschriebenen öffentlichen Interessen<br />
fremder Staaten, die gerade im Bereich der Außenwirtschaftsfreiheit von erheblicher<br />
Bedeutung sind, sei auch noch einmal auf die breite Einschätzungsprärogative<br />
der Verwaltung hingewiesen, was sie als öffentliches Interesse<br />
wertet. Dabei können mit Bezug auf den Schutz von Ausländern die<br />
guten Beziehungen zu Nachbarstaaten ebenso angeführt werden, wie die<br />
Erwartung, dass im Drittstaat ein genauso weit reichender Schutz deutscher<br />
Interessen stattfindet1023 . Hinzu kommt die Verteidigungskraft in Kooperationen<br />
wie der NATO oder das Völkergewohnheitsrecht, wonach über Art. 25<br />
GG die Interessen fremder Staaten zu berücksichtigen sind1024 . Unter diesem<br />
Aspekt ist zumindest ein Gemeinwohlinteresse am Schutz ausländischer<br />
Rechtsgüter zu bejahen. Der Mehrwert einer im Sinne der Mehrpoligkeitsprüfung<br />
gebotenen individualisierten Risikoprüfung ist deshalb zunächst<br />
nicht erkennbar.<br />
1023 Vgl. Teil 2 II.5.b)dd)<br />
1024 Vgl. Bleckmann (FN 817), § 12 Rn 116 ff.; s.a. Teil 2 III.2.<br />
292
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
dd) Individualisierung der geschützten Rechtsgüter<br />
Anders als z.B. im Bereich des technischen Sicherheitsrechts, wie dem<br />
Umweltrecht, beim Arzneimittelrecht oder der Gentechnik, kann man die<br />
Auswirkungen auf den Adressaten einer neuen Entwicklung nicht abstrahieren<br />
und wenigstens eine bestimmte Gruppe von Bürgern eingrenzen. Im<br />
Umweltrecht geht es vornehmlich auch um den Schutz von Nachbarn bzw.<br />
sonstige Anwohner, die in der Region der örtlich gebundenen Anlage bekannt<br />
sind. Hier wird erneut das Dilemma der ortsungebundenen Risikoprävention<br />
von Exportkontrollen deutlich. Es ist regelmäßig völlig ungewiss,<br />
wo sich Risiken aus missbrauchsanfälligen Dual-use-Lieferungen realisieren<br />
könnten. <strong>Die</strong> Tendenz zu globalen Sicherheitspartnerschaften wird hier bestätigt.<br />
<strong>Die</strong> Verknüpfung von innerer und äußerer Sicherheit ist für erfolgreiche<br />
Präventionsmaßnahmen unabdingbar.<br />
Eine Konkretisierung des Sicherheitszieles zugunsten bestimmter Regionen<br />
oder gar Personengruppen ist mit dem offenen Ansatz der Exportkontrollen<br />
zur weltweiten Verhinderung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen<br />
oder konventionellen Waffen, hier mit der Einschränkung der Nichtbelieferung<br />
instabiler Regionen, weder gewollt noch möglich. Hier unterscheiden<br />
sich die Schutzzwecke von Exportkontrollen und technischem Sicherheitsrecht<br />
erheblich. Es wurde festgestellt, dass die Schutzdimension von Art. 2<br />
Abs. 2 GG gegenüber Ausländern tendenziell nicht aktiviert werden kann,<br />
wenn man dabei auf das staatliche Gewaltmonopol und nationale Interessen<br />
abstellt. Wegen der Sicherheitspartnerschaften und auswärtigen Bezüge der<br />
Exportkontrollen tritt demnach der Gemeinwohlbelang der äußeren Sicherheit<br />
wie auch der staatlichen Friedenspflicht in den Vordergrund. <strong>Die</strong> hinter<br />
der dogmatischen Begründung der Mehrpoligkeitsprüfung stehende Notwendigkeit<br />
einer schutzpflichtorientierten individualisierten Risikoprüfung<br />
scheint deshalb bei Exportkontrollen nicht gegeben.<br />
<strong>Die</strong> allein auf Gemeinwohlfragen fokussierende klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
gewichtet die Freiheit stärker, als dies in der multipolaren<br />
Prüfung der Fall ist. Dort tritt das Abwehrrecht auf die gleiche Stufe wie die<br />
Schutzpflicht des Staates1025 . Vor dem Hintergrund der Schutzpflichtendiskussion,<br />
die zunächst vor allem auf Inländer im Einflussgebiet des Grundgesetzes<br />
bezogen ist, sollte eine angemessene Berücksichtigung der Grundrechtsdimension<br />
der Exportkontrollen auch bei Ausländern möglich sein.<br />
Wenngleich dies nicht in der Schärfe des nachbarschaftsorientierten Umweltrechts<br />
möglich ist, sollten sich EU-Ausländer mit Blick auf den Schutz<br />
1025 Vgl. Teil 3 IV2.a)aa)<br />
293
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
der Menschenwürde, des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit und<br />
auf das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot berufen können, alle<br />
Übrigen auf die Gleichbehandlung gem. Art. 3 GG. Im Rahmen von Interessenabwägung<br />
und Untermaßverbot muss die bestehende staatliche Handlungsverpflichtung<br />
deshalb nicht nur gegenüber deutschen Staatsangehörigen<br />
und auf deutschem Territorium lebenden Bürgern, sondern auch gegenüber<br />
nicht ansässigen Ausländern einbezogen werden. Nur so ist ein einheitlicher<br />
Mindestschutzstandard sichergestellt, der das Vorliegen eines effektiven,<br />
praktisch wirksamen Schutzkonzeptes einfordert. Hierbei muss auf ein<br />
hypothetisches Individualrechtsgut im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG abgestellt<br />
werden, welches neben den Gemeinwohlbelangen von § 7 Abs.1 AWG<br />
bzw. Art. 8 Dual-use-VO steht. Das Prüfungsschema der multipolaren Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
ist auf diesem Wege auch für Exportkontrollen<br />
anwendbar.<br />
ee) Verhältnismäßigkeitsprüfung der einschlägigen Genehmigungserfordernisse<br />
Zunächst muss eine Abgrenzung der Prüfung der Eingriffe durch Genehmigungspflicht<br />
und Entscheidung selbst erfolgen. Vorliegend soll es um die<br />
Rechtmäßigkeit bzw. Verhältnismäßigkeit der Genehmigungspflichten gehen.<br />
Eine generelle Differenzierung zwischen den Genehmigungspflichten<br />
nach der Dual-use-VO und der AWV muss nicht vorgenommen werden.<br />
Fragen der Listung und konkrete Verwendungsbezüge werden bei der Güterabwägung<br />
noch einmal anzusprechen sein. Der Vorsorgeanlass bzw. eine<br />
Besorgnis im Sinne der Risikoprävention dürfte unstreitig gegeben sein, da<br />
die unkontrollierte Ausfuhr von Waren und Technologien aller Art zu einem<br />
unbeschränkten Zugang interessierter Staaten und Gruppen an waffenrelevantes<br />
Material, an Maschinen oder Know How zur Herstellung bestimmter<br />
Waffen befähigt, mit entsprechenden Wirkungen auf das weltweite Gewaltpotenzial.<br />
Eine erhöhte Bedrohungslage für die Zivilgesellschaft und Individuen<br />
wäre zwangsläufig gegeben. Im Rahmen der Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />
muss, unter Berücksichtigung der einschlägigen Grundrechtspositionen<br />
der Außenwirtschaftsfreiheit auf der einen sowie der Individualbelange<br />
des Art. 2 Abs. 2 GG und der sicherheitsorientierten Gemeinwohlbelange<br />
auf der anderen Seite, geprüft werden, ob die existierenden Genehmigungspflichten<br />
verhältnismäßig bzw. alternative Schutzkonzepte angemessen erscheinen.<br />
294
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
(1) Mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis<br />
<strong>Die</strong> im Zusammenhang mit grundrechtlichen Schutzpflichten erfolgte Anerkennung<br />
mehrpoliger Verfassungsverhältnisse erfordert eine Prüfung nicht<br />
nur des abwehrrechtlichen Übermaßverbotes, sondern auch des schutzrechtlichen<br />
Untermaßverbotes. Es wurde festgestellt, dass eine angemessene Verantwortungszuweisung<br />
bei der Risikoprävention unter Berücksichtigung aller<br />
beteiligten Rechtspositionen und der Gemeinwohlbelange vor allem dadurch<br />
gewährleistet werden kann, dass im Rahmen der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
eine angemessene Gewichtung und wechselseitige<br />
Optimierung der Belange stattfindet und insoweit auch für Exportkontrollen<br />
die Einhaltung des verfassungsrechtlich gebotenen Mindeststandards zur Erfüllung<br />
des Normzwecks gerichtlich übergeprüft werden kann.<br />
Das mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis bezieht sich bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
auf den staatlichen Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit<br />
des Betroffenen durch die Genehmigungspflicht sowie auf den<br />
grundrechtlichen Schutzanspruch des Bürgers, der durch die Ausfuhr sensitiver<br />
Dual-use-Güter in seinem Leben oder in seiner körperlichen Unversehrtheit<br />
gem. Art. 2 Abs. 2 GG bedroht sein könnte. Hinzu treten die Gemeinwohlbelange<br />
in Form der Sicherheitsinteressen des Staates und auswärtiger<br />
Belange. <strong>Die</strong> so kollidierenden Verfassungspositionen müssen in einer<br />
mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung gegeneinander abgewogen werden.<br />
So könnte zunächst geprüft werden, ob die verfassungsrechtlich angestrebte<br />
Herstellung praktischer Konkordanz zwischen diesen Rechtspositionen<br />
bei den bestehenden Genehmigungspflichten gewährleistet werden<br />
kann. Sich daraus ergebende Erwägungen müssen auch bei der administrativen<br />
Umsetzung berücksichtigt werden.<br />
Im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle der Genehmigungspflichten ist die<br />
Reichweite legislativen Ermessens und somit der Vertretbarkeitsmaßstab<br />
einzubeziehen1026 . <strong>Die</strong> Überprüfung der Genehmigungspflichten beschränkt<br />
sich auf das Vorliegen eines Schutzkonzeptes, die Eignung und Erforderlichkeit<br />
der danach vorgesehenen Maßnahmen (1. und 2.Stufe der Verhältnismäßigkeit)<br />
sowie eine Prüfung der Angemessenheit respektive Zumutbarkeit<br />
im Rahmen einer Interessenabwägung (3. Stufe der Verhältnismäßigkeit)<br />
1027 . Dabei sind die möglichen Handlungsalternativen zu bewerten.<br />
Damit der Eingriff die angestrebte optimale Wirkung erzielen kann, wird<br />
zunächst die Bedeutung bzw. Wertigkeit der abzuwägenden Belange ermit-<br />
1026 Siehe Teil 3 IV.3.a)<br />
1027 Calliess (FN 288), S. 460, dazu ausführlich Teil 3 IV.<br />
295
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
telt und dann eine Gewichtung vorgenommen. <strong>Die</strong> Mittelbarkeit der Handlung<br />
des Betroffenen für das Risiko erhöht die Anforderungen an einen Eingriff<br />
1028 .<br />
(2) Genehmigungserfordernis als geeignetes Schutzkonzept<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht ist ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt,<br />
das die Außenwirtschaftsfreiheit beschränkt. <strong>Die</strong>se ist von vornherein nicht<br />
uneingeschränkt gewährleistet. Vielmehr sind gem. § 1 Abs. 1 S. 2 AWG<br />
Beschränkungen explizit zulässig. Sie sind auch verfassungsgemäß, wenn<br />
sie zugunsten eines oder mehrerer gegenläufiger Verfassungsgüter erfolgen<br />
1029 . <strong>Die</strong> Beschränkung der Ausfuhr von Dual-use-Gütern, die für die<br />
Herstellung von Massenvernichtungswaffen, Trägertechnologie und konventionellen<br />
Waffen relevant sind, wird mit sicherheits- und außenpolitischen<br />
Gründen gerechtfertigt. Hinter den sicherheitsorientierten staatlichen<br />
Schutzinteressen steht die physische Sicherheit der Bürger, konkretisiert<br />
durch die grundrechtliche Schutzdimension des Art. 2 Abs. 2 GG. Er stellt<br />
ein gewichtiges Verfassungsgut dar, das für die Entfaltung der Menschenwürde<br />
sowie aller anderen Grundrechte unabdingbar und daher in besonderer<br />
Weise zu schützen ist. Genehmigungspflichten erscheinen als präventive<br />
Kontrollmaßnahme zur Verhinderung von missbrauchsrelevanten Lieferungen<br />
i.Z.m. der Waffenherstellung geeignet, einen Beitrag zum Schutz der betroffenen<br />
Rechtsgüter des vom staatlichen Eingriff Begünstigten zu leisten.<br />
Letztlich ist das Schutzkonzept der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflicht<br />
auch geeignet, im Rahmen des Übermaßverbotes in die Belange<br />
des betroffenen Ausführers einzugreifen.<br />
(3) Erforderlichkeit des Schutzkonzeptes - Alternativenprüfung und<br />
Entscheidungskorridor<br />
Bedenken könnten hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Genehmigungspflicht<br />
bestehen. Als milderes Mittel käme aus freiheitlicher Sicht eine Reihe<br />
von Alternativen in Betracht. Neben einer Selbstregulierung der Unternehmen<br />
könnten z.B. monetäre Fehlanreize, Meldepflichten bzw. Anzeigepflichten,<br />
flankiert mit strafrechtlichen Sanktionen oder gar einem Vetorecht<br />
der Behörde in Frage kommen. Auch weiter gehende Ausnahmen von den<br />
Genehmigungspflichten, als sie bisher in § 19 AWV geregelt sind, erscheinen<br />
denkbar. Aus schutzrechtlicher Sicht muss nach dem Untermaßverbot<br />
1028 Zum gesamten Komplex siehe Teil 3 IV.2.c)cc) mit grundlegenden Ausführungen<br />
von Calliess (FN 288), 592 ff.<br />
1029 Siehe dazu Hohmann (FN 89), S. 6.<br />
296
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
geprüft werden, ob es effektivere, aber gleichsam milde Eingriffsalternativen<br />
des Staates gibt.<br />
Zur Möglichkeit der Selbstregulierung ließe sich sagen, dass es ohnehin zu<br />
den allgemeinen ethischen Standards der Wirtschaftsunternehmen gehört,<br />
dass sie die Verantwortung hinsichtlich der Risiken und Folgen ihrer Unternehmungen<br />
tragen. Sie sind auf Grund der Wahrnehmung ihrer unternehmerischen<br />
Freiheit verantwortlich und dürfen von ihr nur beschränkt Gebrauch<br />
machen. Erforderlichkeit bedeutet aber auch, dass das mildere Mittel der<br />
Selbstregulierung gleichsam geeignet bzw. wirksam sein muss wie die Genehmigungspflichten.<br />
Da die Unternehmerfreiheit keinesfalls das Recht gibt,<br />
sich bei seiner Tätigkeit über die Rechte seiner Mitbürger auf Leben oder<br />
Gesundheit oder Allgemeinbelange hinwegzusetzen, kann einer reinen<br />
Selbstregulierung durch Selbstverantwortung nicht schlechthin Vorrang zukommen<br />
1030 . Der Schutz der gegenläufigen Verfassungsgüter erscheint gerade<br />
beim hoch gewichteten Gut der physischen Sicherheit wegen der regelmäßig<br />
ambivalenten Eigenverantwortlichkeit des Unternehmers kaum geeignet.<br />
<strong>Die</strong>ser muss seine Wettbewerbsinteressen verfolgen. Ebenso scheint<br />
es wegen oftmals komplexer Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen<br />
im Unternehmen gewagt, auf eine funktionierende Selbstregulierung zu<br />
setzen. Monetäre Interessen könnten im Einzelfall zu dominant werden.<br />
Würde die Selbstregulierung dagegen als Rechtspflicht formuliert, findet<br />
wegen der notwendigen Sanktionen gegen den erfolglosen Unternehmer<br />
wiederum ein Eingriff in Art. 12 bzw. 14 GG statt, so dass man nicht mehr<br />
von einem milderen Mittel sprechen könnte. Daher kann die Selbstregulierung<br />
kaum als milderes, gleich wirksames Mittel zur staatlichen Genehmigungspflicht<br />
bezeichnet werden.<br />
Ebenso könnten monetäre Mechanismen wie Sonderzölle vorzugswürdig<br />
sein. Doch sie wären gleichsam nicht geeignet, die Schutzziele der Exportkontrollen<br />
durchzusetzen. <strong>Die</strong>se könnten in die Gewinnorientierung des Unternehmers<br />
einkalkuliert werden und wären dann kaum noch effizient. Hinsichtlich<br />
der ebenfalls vorgeschlagenen Melde- und Anzeigeverfahren unter<br />
Flankierung mit strafrechtlichen Bestimmungen und gut ausgestatteten<br />
Strafverfolgungsbehörden1031 sowie einem Vetorecht der Behörde, wie es<br />
jüngst bei der Kontrolle der Veräußerung von Anteilen an Rüstungsunternehmen<br />
eingeführt wurde1032 , bestehen ebenfalls Bedenken. Aus sicherheits-<br />
1030 BVerfGE 47, 327, 368 ff..<br />
1031 Mit ausführlichen Literaturhinweisen zur Problematik der Verhaltenssteuerung<br />
durch den Staat: v. Bogdandy (Fn 4), S. 96 ff.<br />
1032 Vgl. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), D. Rn 156 ff.<br />
297
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
politischer Sicht dürften diese kaum ausreichen. Es gibt nicht zuletzt aufgrund<br />
der drohenden Verfahrensmasse empirische Zweifel an der Effizienz<br />
der Ausfuhrkontrollen. Schon heute ist die Anzahl der Genehmigungsverfahren<br />
hoch1033 . Bei Meldeverfahren würde die Bürokratie keinesfalls entlastet.<br />
Aus Sicht des Betroffenen droht eher mehr Rechtsunsicherheit, da durch<br />
Unklarheiten über die Reichweite der Informationspflichten und die dann<br />
wiederum möglichen Vetomaßnahmen noch größere Verfahrenshürden drohen.<br />
<strong>Die</strong> Hemmung des Fristenlaufes und die mögliche Anforderung weiterer<br />
Nachweise und Unterlagen beim Betroffenen für die Sachbewertung wären<br />
kein milderes Mittel. Würde das Verfahren weniger strikt angewendet,<br />
bestünde die Gefahr einer unangemessenen Vernachlässigung der Schutzpflichten,<br />
was die Einhaltung des Untermaßverbotes in Frage stellte.<br />
Als weitere Alternative könnten stringentere Ausnahmen bzw. Befreiungen<br />
von den heutigen Genehmigungspflichten als die bisherigen Regelungen des<br />
§ 19 AWV angeführt werden1034 . <strong>Die</strong>s könnte z.B. über Zertifizierungen bestimmter<br />
Lieferziele, Ausführer oder auch mengen- oder wertmäßige Begrenzungen<br />
bzw. „de minimis“-Ansätze erfolgen. Solche Ausnahmeregelungen<br />
bestehen bisher bei den rein nationalen Vorschriften der §§ 5 ff. AWV,<br />
regelmäßig mit Wertgrenzen von 2500 Euro1035 . Vergleichbare Effekte werden<br />
auch über die Instrumente der Allgemeingenehmigung erzielt, die mit<br />
eben diesen Kriterien Verfahrenserleichterungen vorsehen. Das führt faktisch<br />
zu Anzeigepflichten über die Art und Menge der Ausfuhren in die betroffenen<br />
Gebiete. <strong>Die</strong> Behörde ist auf Informationen zur Quantität der in<br />
Anspruch genommenen Genehmigungen beschränkt1036 . Voraussetzung dafür<br />
ist die Zuverlässigkeit des Ausführers.<br />
Es könnte durchaus noch einmal näher untersucht werden, inwieweit die bestehenden<br />
Instrumentarien zur Modifikation der Genehmigungspflichten<br />
bzw. der Genehmigungsverfahren ihre Möglichkeiten für bestimmte Einzelfallgruppen<br />
ausschöpfen. Ihre verhältnismäßige Ausgestaltung müsste anhand<br />
der Einzelfallpraxis unter Prüfung der Rechtmäßigkeit der Genehmigungsentscheidungen<br />
selbst festgestellt werden, wenn auch mit Blick auf<br />
bestimmte Fallgruppen. <strong>Die</strong>s bedarf aber empirischer Untersuchungen und<br />
Abwägungen, die den Rahmen dieser Untersuchung verlassen1037 . Der sys-<br />
1033 Ebenda, G. Rn 84 ff.<br />
1034 Ebenda, F. Rn 95 ff.<br />
1035 Vgl. Teil 2 II.6.<br />
1036 Vgl. zur Regulierung von Exportrisiken: Karpenstein (FN 41), S. 232 ff.<br />
1037 So wird die weitere Prüfung von de minimis- und unreasonable risk-Ansätzen auch<br />
behördenseits für notwendig erachtet: vgl. Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/<br />
Lechleitner, (Fn 128) S. 77, S. 98 ff.<br />
298
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
tematische Ansatz bestehender Genehmigungspflichten und Modifikationen<br />
erscheint in der Gesamtschau als mildestes wirksames bzw. erforderliches<br />
Mittel des Eingriffs im Sinne des Übermaßverbotes.<br />
Abschließend sei auch das Untermaßverbot erwähnt. Hier könnte die Möglichkeit<br />
von Verboten in Betracht gezogen werden. Da diese aber in viel<br />
stärkerem Maße in die Außenwirtschaftsfreiheit eingreifen, wäre das nur<br />
denkbar, wenn die Genehmigungspflichten nicht den staatlichen Schutzpflichten<br />
genügen. Hierfür gibt es aber keine Anhaltspunkte, schon gar nicht<br />
im Sinne der Vertretbarkeitskontrolle des BVerfG.<br />
Bei Vorliegen einer Gefährdungslage erscheinen präventive Kontrollen<br />
durch Genehmigungsvorbehalte also durchaus erforderlich, um die Verbreitung<br />
von Dual-use-Gütern, die zur Entwicklung, Herstellung oder Verwendung<br />
missbrauchsrelevanter Güter bzw. Waffen dienen, angemessen unterbinden<br />
zu können. <strong>Die</strong> Unterscheidung zwischen ungelisteten und gelisteten<br />
Gütern erscheint bei dieser Wertung nicht geboten. Sie alle bedürfen im<br />
Rahmen des Vorsorgeansatzes einer effektiven Kontrolle zugunsten politischer<br />
Wertungen im Einzelfall, für die der Staat die Alleinverantwortung<br />
trägt. <strong>Die</strong> Differenzierung der jeweiligen Missbrauchsrelevanz bestimmter<br />
Güter und Liefermengen wird aber dann bei der entsprechenden Einzelfallentscheidung<br />
in Betracht zu ziehen sein. <strong>Die</strong> Genehmigungspflichten selbst<br />
liegen innerhalb des zulässigen Rahmens der gesetzgeberischen Beschränkung<br />
der Außenwirtschaftsfreiheit1038 . <strong>Die</strong>s gilt für das Übermaßverbot wie<br />
auch das Untermaßverbot.<br />
(4) Interessenabwägung und zumutbarer Eingriff<br />
Genehmigungspflichten müssen angemessen und zumutbar sein. <strong>Die</strong>s ist<br />
nach der mehrpoligen Verhältnismäßigkeitsprüfung zunächst dann der Fall,<br />
wenn das betroffene Schutzgut bzw. die Gemeinwohlbelange grundsätzlich<br />
höher als die Außenwirtschaftsfreiheit zu gewichten sind. Nur wenn ein<br />
Abwägungspatt vorliegt, also eine Gleichgewichtung der Belange erfolgt,<br />
bedarf es im weiteren Verfahren ihrer Optimierung. Dabei sollen Alternativen,<br />
die für den Normzweck gleichermaßen geeignet und erforderlich erscheinen,<br />
noch einmal nach ihrer für alle Beteiligten optimalen Wirkung geprüft<br />
werden können1039 .<br />
1038 So im Ergebnis auch Sauer, in: Hohmann /John (FN 26), § 7 AWG Rn 6, vgl. auch<br />
BVerfGE, NJW 1995, S. 1337 ff.<br />
1039 Vgl. Teil 3 IV.2.c)bb)<br />
299
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
Das multipolare Prüfungsschema entfaltet hier seinen Mehrwert. Es ermöglicht<br />
wie in anderen Vorsorgebereichen, wie z.B. dem Umwelt- und Technikrecht,<br />
planungsähnliche Entscheidungen und Alternativenabwägungen. Dazu<br />
gehört die Kooperation von Behörden und Unternehmen sowie auch<br />
Drittbetroffenen1040 . Bei einzig auf Lieferung bzw. Ausfuhr gerichteten Exportkontrollen<br />
kommt dieser Mehrwert nur bedingt zum Tragen. <strong>Die</strong> Genehmigungspflicht<br />
ist einzig geeignete und erforderliche Eingriffsalternative.<br />
Sie ist allenfalls im Rahmen der näheren, einzelfallbezogenen Ausgestaltung<br />
von Kriterien, Befreiungen und Verfahrenserleichterungen variabel.<br />
Auch die im Rahmen der Genehmigungsentscheidung selbst denkbaren Modifikationen,<br />
z.B. i.V.m. Sicherungsmaßnahmen, die u.a. in Form von Auflagen<br />
oder Nebenbestimmungen denkbar sind, haben keinen Einfluss auf die<br />
Frage der verfassungsmäßigen Bewertung der Genehmigungspflichten. Sie<br />
geben lediglich den legislativen Rahmen für die Einzelfallentscheidung vor.<br />
Mangels Alternativen entscheidet demnach die Rechtsgüterabwägung über<br />
die Zumutbarkeit der Maßnahme. Steht der Eingriffserfolg nicht außer Verhältnis<br />
zum Mittel, ist er zumutbar.<br />
Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung kommt es letztlich, wie bei der<br />
klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung auch, auf die gewichtende Wertung<br />
der Außenwirtschaftsfreiheit, das dahinter stehende volkswirtschaftliche Interesse<br />
sowie die Risikonähe der Ausfuhr i.V.m. Sicherheitsinteressen und<br />
potenziell gefährdeten Individuen an. Auf Seiten des Ausführers müssen unternehmerische<br />
Interessen eingestellt werden. Dazu gehören z.B. Umsatzund<br />
Gewinneinbußen, Beschäftigungswirkungen, eine mögliche Insolvenzgefahr,<br />
Innovationsinteressen und Marktpräsenz im Wettbewerb. Ebenfalls<br />
eine Rolle spielen die volkswirtschaftlichen Gemeinwohlinteressen des<br />
Staates, die gerade bei einer Exportnation wie Deutschland bestehen.<br />
Schließlich haben Ausfuhren und damit einhergehende Exporterfolge auch<br />
eine gewisse volkswirtschaftliche Relevanz. Sie tragen z.B. maßgeblich zu<br />
Beschäftigung und Steuereinnahmen bei. <strong>Die</strong>s wurde mit § 3 Abs. 1 S. 2<br />
AWG sogar explizit herausgestellt, da bei Feststellung eines solchen Belanges<br />
auch die erhebliche Rechtsgutsgefährdung i.S.v. § 7 Abs. 1 AWG zurückgestellt<br />
werden kann1041 . Wegen der erörterten Abwägungsdogmatik<br />
kann diese Regelung aber allenfalls deklaratorisch verstanden werden, da<br />
dieser Anknüpfungspunkt auch im Rahmen der Wertung der „Gefährdungsintensität“<br />
des § 3 Abs. 1 S. 1 AWG und dort erforderlicher Abwägung im<br />
1040 Zur legislativen Ausgestaltung und administrativen Umsetzung des Optionenermessens<br />
der Behörde vgl. Calliess (FN 288), S. 597 ff.<br />
1041 Vgl. Teil 1 II.5.b)aa)<br />
300
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
Wege der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden muss. Auf<br />
Seiten der geschützten Belange stehen Art. 2 Abs. 2 GG zugunsten des<br />
hypothetisch von einem Waffeneinsatz betroffenen Individuums sowie die<br />
Sicherheit des Staates. <strong>Die</strong> i.V.m. der Risikovorsorge angestrebte Optimierung<br />
der betroffenen Belange muss vor allem anhand der Einzelfallabwägung<br />
erfolgen. Das Genehmigungsverfahren selbst ist hierfür das geeignetere<br />
Instrument, als abstrakte gesetzliche Vorgaben.<br />
Ein Überwiegen der Außenwirtschaftsfreiheit muss wegen der o.g. Gewichtung<br />
des Schutzgutes i.S.v. Art. 2 Abs. 2 GG verneint werden. Demnach wären<br />
Eingriffe in die über die grundrechtliche Abwehrdimension verbürgte<br />
Freiheit potenzieller „Störer“ mit dem Schutzargument leicht zu rechtfertigen.<br />
Ein Abwägungsspielraum für rechtmäßige Maßnahmen des Staates bestünde<br />
dann nicht, so dass die Interessenabwägung selbst schon entfallen<br />
könnte. Es muss aber berücksichtigt werden, dass es bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />
eher selten um eine konkrete Gefahr für die physische Sicherheit<br />
Dritter geht. Vielmehr erhöhen die Ausfuhren der Dual-use-Güter regelmäßig<br />
zunächst nur die Möglichkeit eines Missbrauchs sensitiver Güter und<br />
Technologien. Folgen für die körperliche Unversehrtheit und das Leben von<br />
Menschen ergeben sich erst durch einen Missbrauch der hergestellten Waffen.<br />
Der damit verbundene hypothetische Geschehensablauf beruht auf vielen<br />
Ungewissheiten. Das spricht für die Zuordnung der Exportkontrollen in<br />
den Bereich der Risikovorsorge. <strong>Die</strong> Genehmigungspflichten dienen der<br />
physischen Sicherheit eher mittelbar. Sie scheinen von der konkreten Konfliktsituation<br />
zwischen Sicherheit und Freiheit so weit entfernt, dass sie der<br />
bloßen Gemeinwohlqualität nahe kommen und sich der Abwägungsspielraum<br />
des Staates im Rahmen der Ausgestaltung und Handhabung von Exportkontrollen<br />
erheblich erweitern muss. <strong>Die</strong> Anforderungen an eine Rechtfertigung<br />
des Eingriffs sind umso höher, je mittelbarer das Schutzgut betroffen<br />
ist1042 . Eine Übergewichtung der Außenwirtschaftsfreiheit ist durchaus<br />
möglich, wenn das Bedrohungsszenario, wie bei der Ausfuhr von Dual-use-<br />
Gütern üblich, sehr hypothetisch und vage ist.<br />
Allerdings muss eine Differenzierung der Risikointensität stattfinden, die<br />
sich nach dem möglichen Waffenmissbrauch richtet. <strong>Die</strong>s ist nicht abstraktgenerell<br />
im Genehmigungstatbestand möglich, sondern muss im Einzelfall<br />
bewertet werden. Auf die Elemente des Risikobezugs, also der Erkenntnisdefizite<br />
bei Dual-use-Güter-Kontrollen wurde bereits eingegangen. Dabei<br />
ganz maßgeblich sind neben der technischen Eignung vor allem Endverbleib<br />
1042 Siehe Teil 3 IV.2.c)cc)<br />
301
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
und Endverwendung der gelieferten Ware oder Technologie1043 . Bezogen auf<br />
den konkret denkbaren Missbrauch wären z.B. nicht quantifizierbare Bedrohungen,<br />
bei denen es um Gesellschaftsgruppen, ganze Regionen oder gar<br />
Staaten geht, wie das z.B. durch Massenvernichtungswaffen möglich ist,<br />
und die Bedrohung allenfalls einzelner Rechtsgutträger, z.B. durch Schusswaffen,<br />
zu unterscheiden. Auch kommt es auf die Bewertung des Adressaten<br />
und dessen möglicher Absichten an. So ist der Gebrauch durch staatliche<br />
Behörden u.U. weniger sensitiv zu bewerten als die Gefahr der Unterstützung<br />
krimineller oder terroristischer Handlungen. Bei der Interessengewichtung<br />
im Einzelfall sind aber nicht nur schützenswerte Individuen bzw. Bürger<br />
und das staatliche Sicherheitsinteresse, sondern auch das staatliche Gemeinwohlinteresse<br />
an der Freiheitsausübung einzubeziehen.<br />
Der Gesetzgeber deutet explizit an, dass er nicht jede Rechtsgütergefährdung<br />
zur Grundlage einer Genehmigungspflicht machen will. Nach § 3<br />
AWG führt nur eine über die Wesentlichkeitsschwelle hinausgehende Gefährdung<br />
zu Eingriffsermächtigungen. Nach § 7 AWG müssen die wesentlichen<br />
Sicherheitsinteressen des Staates berührt, die auswärtigen Belange erheblich<br />
betroffen sein. Auf diese Weise wird die Bedeutung der verhältnismäßigen<br />
Ausgestaltung der Genehmigungspflichten hervorgehoben, so dass<br />
nicht jeder Bagatellfall zur Freiheitsbeschränkung führen darf bzw. nicht jedes<br />
auch nur mittelbare staatliche Interesse an der Vermeidung von Risiken<br />
dazu ermächtigen soll. Der Grundsatz gilt auch in der Gemeinschaftsordnung1044<br />
, ohne dass dies in der Dual-use-VO explizit erwähnt wäre.<br />
Wenngleich damit nicht fallspezifisch festgelegt wird, wann diese Erheblichkeit<br />
bzw. Wesentlichkeit gegeben sein soll, müssen diese gesetzgeberischen<br />
Vorgaben in geeigneter Form umgesetzt werden. <strong>Die</strong>s ist beispielsweise<br />
mit den schon erwähnten Wertgrenzen nationaler Genehmigungspflichten<br />
und Allgemeingenehmigungen geschehen, muss aber ebenfalls im<br />
Einzelfall berücksichtigt werden, z.B. bei Ausfuhren, die den Wertgrenzen<br />
nahe liegen oder mit Sachverhalten i.S.v. Ausnahmeregelungen vergleichbar<br />
sind. Trotz der Betroffenheit der physischen Sicherheit der Bürger muss daher<br />
eine Abwägung der kollidierenden Verfassungsgüter erfolgen. Falls im<br />
Einzelfall keiner der betroffenen Belange vorzugswürdig erscheint, ist es allein<br />
Sache der Kontrollbehörde, die konkret betroffenen Interessen bei der<br />
Zumutbarkeit zu bewerten.<br />
Um eine angemessene Verteilung der Risikoverantwortung sicherzustellen,<br />
können die Möglichkeiten einer verfahrenstechnischen Differenzierung des<br />
1043 Zu den Elementen der Risikoprognose vgl. Teil 3 V.2.a)ff)<br />
1044 Vgl. Teil 1 III.3.a)<br />
302
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
Präventivschutzes bemüht werden. So kann die Genehmigungserteilung z.B.<br />
durch anerkannte Verwaltungsinstrumente, wie die schon erwähnten Auflagen<br />
und Nebenbestimmungen modifiziert werden. Gleichzeitig wird mit der<br />
nach § 3 Abs. 2 AWG und Art. 8 Dual-use-VO eingestellte Zuverlässigkeitsprüfung<br />
ein Mindestmaß an Risikoverantwortung des Ausführers festgelegt<br />
werden, was zugunsten des Untermaßverbotes gegenüber den betroffenen<br />
Dritten wirkt. So wird im Rahmen der Genehmigungspflichten eine angemessene<br />
Interessenverteilung ermöglicht 1045 . Das Bestehen der Genehmigungspflichten<br />
als solche erscheint nach den genannten Aspekten zumutbar.<br />
Damit kommt es auf die Frage der gerichtlichen Prüfungstiefe in Form der<br />
Evidenz- oder Vertretbarkeitskontrolle nicht mehr an.<br />
(5) Typisierungen des zumutbaren Eingriffs<br />
Der angemessene Ausgleich zwischen den Schutzpflichten des Staates und<br />
den Abwehrrechten der Betroffenen im Sinne des mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses<br />
muss im Rahmen der administrativen Entscheidung erfolgen.<br />
Dazu gehören objektive (technische Eignung) und subjektive Maßstäbe<br />
(Verwendung und politisches Umfeld), aber auch die konkreten politischen<br />
Verpflichtungen der Bundesregierung. Soweit Letztere unverhältnismäßig<br />
aus Sicht der Freiheitsbelange erscheinen, könnte die Bundesrepublik<br />
Deutschland auch verpflichtet werden, auf eine Änderung internationaler<br />
Vereinbarungen hinzuwirken, wie dies z.B. bei Listenfragen der Fall sein<br />
könnte1046 .<br />
Der administrative Entscheidungsspielraum wird durch typisierende Vorgaben,<br />
objektive Kriterien und Regeln beschränkt. Darauf wurde i.Z.m. den<br />
Risikovorsorgestrukturen, aber auch i.V.m. der Rechtmäßigkeit unbestimmter<br />
Rechtsbegriffe und Ermessensspielräume bereits hingewiesen. Solche<br />
Verwaltungsvorschriften mit einem normkonkretisierenden Charakter gibt es<br />
auch bei Exportkontrollen1047 . Sie gewährleisten eine ausgewogene Risikoverteilung.<br />
Bestimmtheitsdefizite, die angemessene Beweislastverteilung<br />
und Verhältnismäßigkeitskontrolle werden letztlich bei der Anwendung dieser<br />
Vorschriften zusammengeführt. Nur die Einhaltung dieses Rahmens ist<br />
der gerichtlichen Kontrolle zugänglich. Bei der Typisierung in Form von<br />
normkonkretisierenden Vorgaben müssen Risikodimension und Vorsorgeanlass<br />
bestimmter Fallgruppen in Rechnung gestellt werden. Dabei wird auf<br />
1045 S.a. Teil 3 IV.2c)cc), inbes. FN 807<br />
1046 zu den Prognoseelementen vgl. Teil 3 V.2.a)g); zu diesen Genehmigungsaspekten<br />
eingehend: Karpenstein (FN 41), S. 237 f.<br />
1047 Vgl. Teil 3 V.2.b)<br />
303
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
das konkrete Liefergut und dessen Verwendungsmöglichkeiten abgestellt.<br />
Auch hier kann nach den Bezügen zu Massenvernichtungswaffen und konventionellen<br />
Gütern unterschieden werden. Erstere führen regelmäßig zu<br />
weniger hinnehmbaren Risiken. Je weniger nahe liegend oder nützlich die<br />
Ausfuhr für die in Rede stehende missbräuchliche Verwendung ist bzw. je<br />
mehr unüblich, fern liegender oder unvernünftig ein solcher Missbrauch erscheint,<br />
desto eher sollten Genehmigungen erteilt werden. Bei gelisteten Gütern<br />
scheint die Ablehnung aber eher geboten, als bei an sich nicht sensitiven<br />
gelisteten Gütern. <strong>Die</strong>se Differenzierung führt vor allem bei der Beweislast<br />
zu Abweichungen. <strong>Die</strong>ses Ergebnis deckt sich mit einer Höhergewichtung<br />
des abstrakten Gefährdungsgrades und der der Risikonähe gelisteter Güter<br />
im Rahmen der Interessenabwägung. Hinzu kommen aber auch andere<br />
Komponenten, die Hinweise auf die konkret geplante Verwendung des Liefergutes<br />
geben. <strong>Die</strong> vorhandenen Richtlinien und Typisierungen müssen<br />
auch die internationalen Entwicklungen berücksichtigen. Das gilt sowohl bei<br />
der Technik als auch bei der Handelspolitik. Hierzu gehört z.B. die Frage, ob<br />
konkrete Waren im Empfängerland oder anderweitig erhältlich sind, eventuell<br />
sogar als so genannte Massenware. Entsprechende Kriterien für eine „kritische“<br />
Wahrscheinlichkeit werden durch die schon erwähnten Grundsätze<br />
und Erlasse nur bedingt angeboten. So erscheint die Erlasslage bei bestehenden<br />
Genehmigungspflichten durchaus noch fortentwicklungsfähig. <strong>Die</strong>s<br />
wurde auch bei der Erforderlichkeit von Eingriffen i.Z.m. Risiken minderer<br />
Bedeutung wie z.B. de minimis-Risiken schon angedeutet1048 .<br />
Eine fortdauernde Entwicklung und Anpassung bestehender Typisierungen<br />
wird nicht nur dem Ziel der effektiven Risikoprävention gerecht. Glaubwürdige<br />
und verbindliche Typisierungen führen auch zu mehr Rechtssicherheit<br />
im Sinne der verfassungskonformen Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe<br />
und mit Blick auf die verfahrenstechnisch auf kooperative Risikominimierung<br />
angelegten Exportkontrollen letztlich auch zu mehr Vertrauen der<br />
Ausführer in das staatliche Handeln. Das kann die Effizienz der Kontrollen<br />
insgesamt steigern helfen. Gerade wegen des behördlichen Entscheidungsspielraums<br />
besteht ein erhebliches Interesse an Offenlegung der Prozesse.<br />
Auch die Exportkontrollen müssen die für risikopräventive Maßnahmen<br />
notwendige Akzeptanz durch die Öffentlichkeit und alle Beteiligten soweit<br />
wie möglich fördern1049 . Zur auch in den Exportkontrollen geforderten Ver-<br />
1048 Vgl. Ladeur (FN 641), S. 146 und Simonsen (FN 1037); s.a.Teil 1 II.5.f)cc)<br />
1049 Zum Transparenzgebot vgl. Teil 3 V.2.c)aa); so sieht Karpenstein (FN 41), S. 243<br />
wegen der ungenügenden Ausgestaltung der politischen Grundsätze und vieler nur<br />
interner Behördenerlasse einen Verstoß gegen die OSZE-Verpflichtung transparenter<br />
Vorgaben<br />
304
II. Verfassungsmäßigkeit vorsorgeorientierter <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten<br />
fahrensrationalisierung gehören nicht nur die Kooperation mit den Unternehmen,<br />
sondern auch Transparenz und konstruktive Kommunikation mit<br />
allen Beteiligten. Durch die Möglichkeit des Rückgriffs auf möglichst ausdifferenzierte<br />
Kriterien oder Richtlinien stehen den Exportkontrollbehörden<br />
damit auch eine Entscheidungshilfe und Grundlage für die Selbstkontrolle<br />
der Verwaltung zur Verfügung. Eine angemessene Berücksichtigung aller<br />
kollidierenden Interessen wird so erheblich erleichtert. Andererseits findet<br />
diese Ausdifferenzierung in der notwendigen Anpassungsfähigkeit auf veränderte<br />
politische Entwicklungen ihre Grenzen.<br />
Eine konkrete Bewertung der bestehenden Richtlinien muss sich an der<br />
Rechtmäßigkeit im Einzelfall orientieren. Eine innerhalb der geforderten<br />
Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und Zumutbarkeitsschwellen<br />
erfolgende Einzelfallbewertung bewegt sich aber im Rahmen der Zweckmäßigkeitskontrolle<br />
dieser Richtlinien, zu der die Gerichte nicht befugt sind.<br />
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine Abwägung zwischen Außenwirtschaftsfreiheit<br />
und den Schutzpflichten des Staates im Bereich der<br />
<strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten abstrakt nicht möglich erscheint. Es muss<br />
daher im konkreten Einzelfall versucht werden, einen angemessenen Ausgleich<br />
zu finden, um allen Rechtsgütern optimale Wirkung zu verschaffen.<br />
(6) Zwischenergebnis<br />
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Sicherheit<br />
der Bundesrepublik können einen Eingriff in die hinter der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
stehenden Grundrechte des Art. 12 bzw. 14 GG rechtfertigen.<br />
Dabei handelt es sich um Gemeinwohlgründe im Sinne der Schranken des<br />
Art. 12 und 14 GG. <strong>Die</strong>se sind einem Einzelinteresse aber nicht per se übergeordnet1050<br />
. Sie müssen bei der einzelfallorientierten Prüfung auf der<br />
Grundlage der Genehmigungspflicht einer angemessenen Abwägung und<br />
Risikoverteilung zugeführt werden. Typisierungen und Richtlinien begrenzen<br />
hierbei die administrativen Spielräume. Das Schutzkonzept der Genehmigungspflicht<br />
erscheint dagegen bei Berücksichtigung bestehender Alternativen<br />
als geeignetes, mildestes und damit erforderliches sowie zumutbares<br />
Mittel eines Eingriffs in die Außenwirtschaftsfreiheit. Das Über- wie Untermaßverbot<br />
wird gewahrt.<br />
1050 So aber Sauer, in: Hohmann/John (FN 26), § 7 Rn 6, unter Verweis auf die Begründung<br />
des AWG, s.a. BVerfG in NJW 1995, S. 1537 f. und VG Frankfurt v. 23.9 1999,<br />
Az. 1 E 2005/97, S.14 (nicht veröff.)<br />
305
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
d) Ergebnis<br />
<strong>Die</strong> Genehmigungspflichten der Dual-use-VO und der AWV sind verhältnismäßig,<br />
damit rechtmäßig. Es müsste geprüft werden, ob die bestehenden<br />
Anwendungsrichtlinien und Verfahrenserleichterungen bei der bestehenden<br />
Genehmigungspraxis bestimmte Einzelfallgruppen unangemessen<br />
benachteiligen. Über möglichst umfassende Typisierungen kann die Verhältnismäßigkeit<br />
bestimmter Fallgruppen sichergestellt werden, was eine<br />
Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle ermöglicht, der Normenklarheit<br />
dient und auch die Behörden entlastet. So wird im Sinne effektiven Risikomanagements<br />
die umfassende Prüfung der wirklich sensitiven Fallkonstellationen<br />
gewährleistet1051 .<br />
3. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
Auch unter dem Aspekt der Risikoprävention sind die Genehmigungspflichten<br />
nach AWG/AWV und Dual-use-VO verfassungsgemäß. Zweifeln an der<br />
Erfüllung des Bestimmtheitsgebotes wird mit den bestehenden Kooperationsansätzen<br />
und Verfahrensvorschriften der Behörden begegnet. Bei verfassungskonformer<br />
Auslegung des § 7 Abs. 1 AWG im Lichte der Sicherheitszwecke<br />
des § 7 Abs. 2 kommt man auch bei auswärtigen Belangen zu einer<br />
hinreichenden Bestimmung der Reichweite des Eingriffs. Zweifel an Fragen<br />
der Transparenz von Entscheidungsgründen, insbesondere wenn es um Auslandstatsachen<br />
geht, müssen im Einzelfall aufgegriffen werden. Das Spannungsverhältnis<br />
von Offenlegungs- und Geheimhaltungspflichten sollte vor<br />
dem Hintergrund der weit reichenden Eingriffswirkung <strong>exportkontrollrechtliche</strong>r<br />
Risikoprävention eine Interessenabwägung ermöglichen, die den Belangen<br />
des Ausführers möglichst umfassend genügt. Bei Verfahren und Förderung<br />
der Normenklarheit sowie Rechtssicherheit durch die Anwendungsrichtlinien<br />
besteht zwar noch immer in gewisser Optimierungsbedarf. <strong>Die</strong><br />
<strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten erscheinen aber mit Blick<br />
auf die Verhältnismäßigkeit damit verbundener Eingriffe rechtmäßig.<br />
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei<br />
der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
<strong>Die</strong> Genehmigungspflicht dient der Prävention abstrakter Risiken und führt<br />
nur nach der konkreten Risikobewertung zu einem endgültigen Eingriff in<br />
die Außenwirtschaftsfreiheit. Nachdem die Verfassungsmäßigkeit der Ge-<br />
1051 Vgl. Forderungen aus der Praxis s.a. Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), J. Rn 7<br />
306
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
nehmigungspflichten festgestellt wurde, können die Prüfungskriterien der<br />
Gerichte im Zusammenhang mit risikoorientierten <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />
herausgearbeitet bzw. anhand der schon erörterten Grundsätze<br />
zu Ermessens- und Vorsorgeentscheidungen zusammengefasst werden.<br />
Im Rahmen der Rechtsfolgeprüfung müssen bei der verfassungskonformen<br />
Auslegung der Entscheidung vor allem beide Über- und Untermaßverbot<br />
sowie die Interessenabwägung im Einzelfall berücksichtigt werden.<br />
<strong>Die</strong> angemessene Risikoverteilung muss unter Ausschöpfung der im Rahmen<br />
der Genehmigungsentscheidung verfügbaren Alternativen und unter<br />
Einbeziehung aller verfügbaren Sicherungsmittel und Nebenbestimmungen<br />
geschehen. Nur so wird die mit dem multipolaren Schema beabsichtigte Optimierung<br />
der Belange möglich. Im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung<br />
sind die schon zu den Genehmigungspflichten und Typisierungserwägungen<br />
angeführten Kriterien zur Risikonähe der Ausfuhr, der weltweiten<br />
Zugänglichkeit der Ware oder auch eventuelle risikominimierende Wert- und<br />
Qualitätsmerkmale heranzuziehen. <strong>Die</strong> Anwendungserlasse der Behörde<br />
spielen dafür ebenso wie die Genehmigungspraxis eine wichtige Rolle. Neben<br />
dem ausführerbezogenen Zuverlässigkeitsmerkmal ist die empfängerbezogene<br />
Differenzierung nach den politischen Risiken von wesentlicher Bedeutung.<br />
<strong>Die</strong> politischen Grundsätze der Bundesregierung, der VK-EU und<br />
die internationalen Regimeempfehlungen bieten Anhaltspunkte für die mit<br />
den entsprechenden Sachverhaltsfeststellungen verbundenen Beweislastfragen<br />
und die Risikoverteilung. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
ist aber nur zu prüfen, ob Ermessensfehler vorliegen und Willkürverbot sowie<br />
Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt sind. Hierbei müssen aus gemeinschaftsrechtlicher<br />
Sicht evidente Verstöße gegeben sein.<br />
1. Ermessensfehlerlehren und begrenzter Prüfungsrahmen<br />
a) Abgrenzung nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Prüfungstiefe<br />
In Kapitel 2 wurde herausgearbeitet, dass die Exportkontrollbehörde bei der<br />
Genehmigungsversagung i.V.m. dem Prognosecharakter der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
einen gewissen Entscheidungsspielraum hat, der einer nur begrenzten<br />
richterlichen Kontrolle unterliegt. Für das Gemeinschaftsverfahrensrecht<br />
sind die europäischen Verfahrensgrundsätze für die Ausübung des<br />
„Ermessens“ anzuwenden. Es kommt wegen der Zweigleisigkeit des Verfahrensrechts<br />
zu formal unterschiedlichen Prüfungsmaßstäben bei der Erteilung<br />
von <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en im Rahmen von AWG und Dual-use-VO.<br />
307
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
Es wurde aber auch festgestellt, dass der unterschiedliche Verfahrensansatz<br />
zur gerichtlichen Kontrolldichte bei der nationalen Ermessensfehlerlehre<br />
und bei der Evidenzlehre des EuGH im Ergebnis nicht zu unterschiedlichen<br />
Entscheidungen führen dürfte, da sich der Beurteilungsspielraum der Verwaltung<br />
im Sinne des § 3 Abs. 1 AWG ebenso auf die Sachverhaltsfeststellung<br />
und -bewertung erstreckt wie das Ermessen nach EG-Recht. <strong>Die</strong> gerichtliche<br />
Kontrolldichte der Behördenentscheidungen erscheint im Ergebnis<br />
nahezu identisch 1052 . Sie fällt bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung dogmatisch<br />
allein aufgrund der Evidenzlehre auseinander, was aber im Rahmen der<br />
Interessenabwägung in beiden Rechtskreisen vergleichbare Wertungen ermöglicht<br />
1053 . <strong>Die</strong>ses Ergebnis drängt sich umso mehr auf, wenn es bei einer<br />
konkreten Rechtsanwendung der jeweils einschlägigen Genehmigungskriterien<br />
letztlich immer auf die Gefahrenprognose ankommt, die bei jeder <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />
zentrales Tatbestandselement ist und erheblich<br />
durch Wertungen geprägt wird 1054 . <strong>Die</strong> inhaltlichen Anforderungen im<br />
nationalen Recht wie auch Gemeinschaftsrecht unterscheiden sich deshalb<br />
nicht. In beiden Fällen muss auf die zur Risikovorsorge entwickelten Prüfungsansätze<br />
der Gerichte zurückgegriffen werden. <strong>Die</strong> damit verbundenen<br />
sicherheitsorientierten Kriterien sind weitestgehend den Mitgliedstaaten<br />
vorbehalten, auch und gerade bei Exportkontrollen nach der Dual-use-VO.<br />
Auf dieser Grundlage ergeben sich bei der Rechtsanwendung - soweit alle<br />
Tatbestandselemente erfüllt sind - praktisch keine relevanten Unterschiede.<br />
Im Folgenden sollen die im Rahmen der Genehmigungsentscheidung relevanten<br />
Prüfungsschritte festgehalten werden, die einer gerichtlichen Kontrolle<br />
nach beiden Rechtskreisen zugänglich sind.<br />
b) Prüfungsschema unter Einbeziehung von Ermessensfehlerlehren<br />
und Vorsorgestrukturen<br />
<strong>Die</strong> nationale Ermessensfehlerlehre beschränkt sich auf die Prüfung der Kriterien<br />
einer Ermessensüberschreitung, des Ermessensnichtgebrauchs und des<br />
Ermessensfehlgebrauchs. Mit Blick auf Beurteilungsspielräume erfolgt eine<br />
entsprechende Anwendung. <strong>Die</strong> Prüfung der Gerichte beschränkt sich auf<br />
die formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung respektive Einhaltung der<br />
Vorschriften zu Zuständigkeit, Verfahren und Form. Dabei werden vor allem<br />
die zutreffende und vollständige Sachverhaltsermittlung, die Gelegenheiten<br />
zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte des Betroffenen sowie die Einhaltung<br />
des Begründungserfordernisses geprüft. Im Rahmen der materiellen<br />
1052 Vgl. Teile 2 II.6.a) und 2 II.b)cc)<br />
1053 <strong>Die</strong>s bestätigt Simonsen, in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 77, 96<br />
1054 Kadelbach (FN 194), S. 453<br />
308
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
Rechtmäßigkeit erfolgt eine beschränkte Inhaltskontrolle, die sich auf eine<br />
Bestimmung des Ermessensrahmens, der Ermessensfehler und dabei vor allem<br />
en Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip<br />
beschränkt. Der EuGH fasst die offensichtliche Unangemessenheit einer<br />
Maßnahme neben Verfahrensfehlern, Verstößen gegen die Normenklarheit<br />
und Willkür unter den Aspekt des Ermessensmissbrauchs1055 .<br />
Bei Bestimmung der Reichweite des Ermessens erfolgt eine verfassungskonforme<br />
Auslegung des Genehmigungstatbestandes, u.a. mit Blick auf den<br />
Gefahrenbegriff. <strong>Die</strong> normzweckorientierte Selbstbindung der Verwaltung<br />
infolge der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffes bzw. Typisierung<br />
der Ermessenssachverhalte durch Richtlinien muss hierbei berücksichtigt<br />
werden. Schließlich sind die vorhandenen Richtlinien unter Beachtung<br />
des Gleichbehandlungsgrundsatzes anzuwenden. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit<br />
des Eingriffs erfolgt eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung<br />
von Grundrechtseingriffen und Beweislastfragen.<br />
Der Vergleich der Kontrolle von Entscheidungsspielräumen zu den für die<br />
Risikoprävention entwickelten Prüfungsanforderungen zeigt, dass es dort<br />
ebenfalls um eine entsprechend beschränkte Inhaltskontrolle der Entscheidung<br />
geht. <strong>Die</strong> Bestimmung des Vorsorgeanlasses beantwortet die Frage, ob<br />
sich die Behörde überhaupt im Rahmen des eröffneten Entscheidungs- bzw.<br />
Ermessensspielraumes bewegt. Ermessensüberschreitung und -missbrauch<br />
werden bei der verfassungskonformen, am Normzweck orientierten Auslegung<br />
des Tatbestandes, berücksichtigt. Darüber hinaus findet eine Vorsorgebewertung,<br />
bezogen auf die Rechtsfolge des Vorsorgeanlasses, statt. Hierbei<br />
werden sonstige Punkte, wie Gleichbehandlungsgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsprinzip,<br />
überprüft. Letzteres sollte idealerweise im Rahmen einer<br />
multipolaren Interessenabwägung stattfinden. Folgende Prüfungsschritte erscheinen<br />
für die inhaltliche Überprüfung administrativer Risikoentscheidungen<br />
wie der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> allgemeingültig. Wegen des multipolaren<br />
Ansatzes und der bei Exportkontrollen gebotenen Integration gemeinschaftsrechtlicher<br />
Begriffe soll hier von Abwägungsspielräumen gesprochen werden,<br />
die bei Ausfuhrentscheidungen zu beachtet werden müssen:<br />
I. Darlegung risikorelevanter Tatsachen (Vorsorgeanlass/ Beweislast):<br />
(1) Objektive Anhaltspunkte für eine sicherheitsrelevante Gefährdungslage?<br />
(2) Non liquet-Situation und Interessengewichtung i.V.m. Beweislast?<br />
1055 Vgl. Teil 2 II.4.<br />
309
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
II. Bewertung der Gefährdungslage durch Abwägung (Rechtsfolge):<br />
(1) Abwägungsrahmen: Bestimmtheit der Norm und Normkonkretisierung<br />
(Risikoparameter), verfassungskonforme Auslegung und Normzweck:<br />
Ist das festgestellte Gefährdungsrisiko vom Genehmigungstatbestand<br />
erfasst? Hinweise auf Abwägungsmissbrauch, -überschreitung?<br />
(2) Abwägungsvorgang: Anwendung normkonkretisierender Richtlinien:<br />
Ist die risikorelevante Handlung von den Richtlinien erfasst (Gleichbehandlungsgrundsatz)<br />
und ist die Rechtsanwendung verhältnismäßig?<br />
Eignung, Erforderlichkeit, Zumutbarkeit des Eingriffs (Interessengewichtung,<br />
Abwägungspatt), Abwägungsüberschreitung bzw. -disproportionalität?<br />
2. Formelle Rechtmäßigkeit der Entscheidung<br />
Im Rahmen der formellen Anforderungen an die Genehmigungsentscheidung<br />
werden die schon erörterten Punkte zur Behördenzuständigkeit, zur<br />
Einhaltung der Verfahrensvorschriften und zur Form der Entscheidung, insbesondere<br />
zur Einhaltung der Begründungspflicht der Behörde, geprüft.<br />
Letztere ist vor allem von Bedeutung, weil sie wesentliche Grundlage dafür<br />
ist, dass eine gerichtliche Inhaltskontrolle überhaupt stattfinden kann. Es<br />
wurde bereits festgestellt, dass bei Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen<br />
Genehmigungstatbestände im Anwendungsbereich der Dual-use-VO die<br />
gemeinschaftsrechtliche Verfahrensvorschriften gegenüber mitgliedsstaatlichen<br />
Vorschriften Anwendungsvorrang genießen. <strong>Die</strong>s führt bei <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Verfahren dazu, dass das nationale verfassungsrechtliche<br />
Erwägungen, allgemeine Vorgaben nach dem VwVfG und besondere Verfahrensregelungen<br />
nach dem AWG und der AWV zurückzutreten haben.<br />
Voraussetzung dafür ist, dass gemeinschaftsrechtliche Prinzipien oder Regelungen<br />
entgegenstehen. <strong>Die</strong> Zuordnung des im Einzelfall einschlägigen Verfahrensrechts<br />
richtet sich nach dem eröffneten Rechtskreis.<br />
3. Materielle Rechtmäßigkeit der Entscheidung im Kontext<br />
von Entscheidungsspielraum und Vorsorgeprinzip<br />
Nicht nur formelle Rechtmäßigkeitsanforderungen, wie die Einhaltung von<br />
Verfahrensgrundsätzen sowie Transparenz- und Begründungspflichten, sind<br />
der gerichtlichen Prüfung zugänglich. Nach den o.g. Erwägungen ergeben<br />
sich bei der inhaltlichen Kontrolle der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen<br />
die folgenden Prüfungsschritte. Im Rahmen des Vorsorgeanlasses wird geprüft,<br />
ob eine hinreichende Tatsachenermittlung stattgefunden hat und wer<br />
310
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
die Beweislast für einzelne Tatsachen trägt. Bei der Bewertung des Vorsorgeanlasses<br />
wird der Abwägungsrahmen festgestellt. Es erfolgt eine beschränkte<br />
Prüfung des Abwägungsvorgangs.<br />
a) Vorsorgeanlass - administrative Risikoermittlung bei der Exportkontrolle<br />
Es wurde bereits konstatiert, dass eine Suche nach absoluter Gewissheit in<br />
Rechtsgebieten mit Risikobezug nicht erfolgreich sein kann. Auch die Wissenschaft<br />
kann die handlungsorientierte Rolle von Erfahrung nicht ersetzen.<br />
Bei Exportkontrollen scheiden wissenschaftliche Quellen insoweit aus, als<br />
es vor allem um Verhaltensprognosen zu den subjektiven Verwendungsabsichten<br />
möglicher Empfänger oder Endverwender eines risikorelevanten<br />
Liefergutes geht. Hier helfen allenfalls statistische Erfahrungssätze mit<br />
Blick auf die Vergangenheit. Das verbleibende Prognoserisiko wird durch<br />
Effizienzregeln für die Erkenntnis- und Informationsgewinnung sowie entscheidungsorientierte<br />
Verfahren minimiert. Eine angemessene Risikoverteilung<br />
erfolgt nach den Verantwortungsbereichen aller Beteiligten.<br />
Wie soeben festgestellt, bedarf es konkreter tatsächlicher Anhaltspunkte und<br />
nicht nur theoretischer Spekulationen, um das staatliche Handeln von einer<br />
Vorsorge ins Blaue hinein abzugrenzen. Um ein für den Vorsorgeanlass notwendiges<br />
Besorgnispotenzial annehmen zu können, muss mit Blick auf Dual-use-Güter<br />
eine Ermittlung des Exportrisikos erfolgen, das sich nach dem<br />
der Ausfuhrware inhärenten Missbrauchspotenzial bzw. der Qualität eines<br />
möglichen Missbrauchsbeitrages richtet. Damit kommt es ganz wesentlich<br />
auf die technische Eignung des Gutes für bestimmte sensitive Zwecke an,<br />
die bei gelisteten Dual-use-Gütern produktspezifisch ist, bei ungelisteten<br />
Dual-use-Gütern durch weitere Anhaltspunkte zur voraussichtlich missbräuchlichen<br />
Verwendung bejaht werden muss, z.B. durch ein militärisches<br />
Umfeld, bestimmte regionale Einflüsse oder konkrete Kundenkontakte des<br />
Empfängers. <strong>Die</strong>se Erwägungen zum Vorsorgeanlass decken sich letztlich<br />
mit der Struktur der <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n Genehmigungspflichten. Sie<br />
führen bei gelisteten Gütern immer zu einem Vorsorgeanlass, sprich einer<br />
Genehmigungspflicht. Bei ungelisteten Dual-use-Gütern wird über dies über<br />
die Voraussetzung des „bestimmt sein können“ für gesetzlich missbilligte<br />
Verwendungszwecke statuiert, dass der Behörde Anhaltspunkte zu entsprechenden<br />
missbräuchlichen Verwendungsabsichten vorliegen müssen.<br />
Letztlich geht es beim Vorsorgeanlass aber nur um eine Art begründeten Anfangsverdacht,<br />
der faktisch eine widerlegbare Gefährlichkeitsvermutung<br />
darstellt. Es obliegt dem Ausführer, das Tätigkeitsfeld des Empfängers und<br />
zivile Verwendungsabsichten zu prüfen und darzulegen. Andererseits ist die<br />
311
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
Bewertung der generellen Gefährdungslage im Ausland nicht mehr in der<br />
Risikosphäre des Ausführers. Auch diese kann aber auf Empfängerabsichten<br />
Hinweise geben. Insoweit muss bei der Interessenabwägung auch die Frage<br />
verortet werden, wem welche Tatsachennachweise zumutbar sind. <strong>Die</strong>s ist<br />
entscheidungserheblich, denn eine positive Behördenfeststellung zum<br />
Nichtbestehen einer Gefährdung nach § 3 Abs.1 S. 1 AWG ist wegen der regelmäßig<br />
vorhandenen Erkenntnisdefizite ebenso wenig denkbar wie die sichere<br />
Feststellung der Gefährdung1056 .<br />
<strong>Die</strong> nach der Beweislast notwendigen Behördenerkenntnisse müssen ebenso<br />
wie die zur Verwaltungsentscheidung führenden Erwägungen gem. § 39<br />
VwVfG schriftlich begründet werden. Entsprechend dem Vorsorgeanlass<br />
muss die Behörde hinreichend konkrete Gesichtspunkte dazu darlegen, warum<br />
eine positive Entscheidung nicht möglich sei, also die maßgeblichen<br />
Kriterien dafür angeben1057 . Unter Berücksichtigung der politischen Realitäten<br />
müssen dabei auch die politischen Folgen einer Entscheidung in die Prüfung<br />
einbezogen werden1058 . Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass<br />
eine Verweigerung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> mit dem allgemeinen Hinweis<br />
auf auswärtige Interessen möglich wäre. Schließlich muss auch insoweit eine<br />
hinreichende Begründung der Freiheitsbeschränkung, sprich ihre sachliche<br />
Rechtfertigung erfolgen. Im exportkontrollpolitischen Kontext spielt dafür<br />
der Zusammenhang von äußerer und innerer Sicherheit, inklusive der<br />
darauf bezogenen internationalen Zusammenarbeit eine Rolle. Mit auswärtigen<br />
Belangen verbunden ist der potenzielle Anlass einer Missbilligung des<br />
Handelns der Bundesrepublik Deutschland. Ein Bezug auf eine Gefährdung<br />
der öffentlichen Sicherheit muss also gegeben sein und in einem nachvollziehbaren<br />
Zusammenhang zur verwehrten Ausfuhr gebracht werden1059 . Dabei<br />
muss auch auf die zur verfahrensorientierten Kompensation von Erkenntnisdefiziten<br />
entwickelten kooperativen Maßnahmen, unter Einbeziehung<br />
aller Beteiligten, zurückgegriffen werden, so dass eine möglichst effektive<br />
Sachverhaltsermittlung gewährleistet ist.<br />
1056 Zu den Erkenntnisdefiziten bei der Dual-use-Güter-Kontrolle vgl. Teil 3 V.2.a)gg)<br />
1057 <strong>Die</strong>s bestätigend Ehrlich, in: Wolffgang/Simonsen (FN 7), § 7 AWG Rn 14, s.a. Simonsen,<br />
in: Ehlers/Wolffgang/Lechleitner (FN 128), S. 91; zum Ganzen eingehend<br />
Teil 4 II.1.b).<br />
1058 Vgl. Teile 1 II.5.b)dd) zur Einschätzungsprärogative bei politischen Entscheidungen<br />
und ihren Grenzen<br />
1059 Vgl. Teil 1 II.5.b)dd)<br />
312
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
b) Bewertung des Vorsorgeanlasses und Einhaltung des Abwägungsrahmens<br />
Mit dem Vorsorgeanlass ist nunmehr als Ausgangspunkt des Vorsorgeprinzips<br />
festgestellt, dass ein staatliches Tätigwerden gerechtfertigt erscheint,<br />
nicht aber wie die Vorsorge im Einzelfall ausgestaltet werden sollte. Mit den<br />
Genehmigungspflichten ist hierzu lediglich ein Rahmen vorgegeben, der im<br />
Einzelfall ausgefüllt werden muss. Dabei müssen aber die bereits zur<br />
Rechtmäßigkeit der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>spflichten getroffenen Feststellungen<br />
einbezogen werden.<br />
aa) Ermessensgrenzen und Abwägungsrahmen<br />
Jede Wertung enthält auch eine Gewichtung und Abwägung der betroffenen<br />
Interessen. Das wurde bereits mit der Wahrscheinlichkeitsformel des Preußischen<br />
OVG zum Gefahrenbegriff deutlich, aber auch mit den Erwägungen<br />
zur Risikoverteilung nach dem Vorsorgeprinzip. <strong>Die</strong> Abwägung erfolgt<br />
schließlich mit der Rangfolgebestimmung und Interessenabwägung zwischen<br />
einzelnen, u.U. einander entgegenstehenden Verfassungsbelangen im<br />
Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der Rahmen für den damit beschriebenen<br />
Abwägungsvorgang wird durch den Normzweck, vor allem aber<br />
durch die zu beachtenden übergeordneten Rechtsprinzipien bestimmt. Damit<br />
sind auch die wesentlichen Grenzen für den Entscheidungsspielraum der<br />
Verwaltung beschrieben, der neben dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durch<br />
den Gleichbehandlungsgrundsatz beschränkt wird1060 . Deshalb soll vorliegend<br />
nicht nur von den Ermessensgrenzen, sondern von einem Abwägungsrahmen<br />
und Abwägungsvorgang die Rede sein.<br />
Bei der Inhaltskontrolle konkreter Verwaltungsentscheidungen müssen insbesondere<br />
die Bindungswirkungen des Normzweckes beachtet werden. Deshalb<br />
muss die zuständige Genehmigungsbehörde den Nachweis sachdienlicher, also<br />
dem Normzweck entsprechenden Erwägungen, führen und darlegen, weshalb<br />
sie zu einer Ablehnungsentscheidung kommt. <strong>Die</strong>s gilt besonders mit Blick auf<br />
die Rechtfertigung von Eingriffen unter der Voraussetzung einer Gefährdung<br />
der im Rahmen von § 7 AWG und Art. 8 Dual-use-VO geschützten Belange,<br />
die dem Schutzkonzept der Exportkontrollen entsprechen. <strong>Die</strong> Grenzen der<br />
richterlichen Nachprüfung dieser Rechtfertigungsgründe finden sich in den<br />
mit der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe eröffneten Entscheidungsspielräumen<br />
der Verwaltung, die politische Wertungen und Prognosen<br />
beinhalten. Im Rahmen der unter Kapitel 1 herausgearbeiteten verfassungs-<br />
1060 So auch Ehrlich, in: Bieneck (FN 4), § 16 Rn 45<br />
313
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
konformen Auslegung der Norm bedarf es aber der Relevanz von Menschenrechtsverletzungen<br />
oder einer Gefährdung der Sicherheitsinteressen im<br />
Sinne der den Exportkontrollen zu Grunde liegenden Staatsziele1061 .<br />
Anlässlich einer rechtlichen Überprüfung der Verwaltungsentscheidung<br />
müssen im Zusammenhang mit dem Normzweck vor allem die i.V.m. dem<br />
Bestimmtheitsgebot notwendigen Konkretisierungen in Form von Anwendungsrichtlinien<br />
nachvollziehbar auf den Einzelfall übertragen werden. An<br />
der Stelle sind die Gerichte auch nach den Ermessensfehlerlehren zur Prüfung<br />
befugt. Dazu gehört z.B. die zutreffende Anwendung internationaler<br />
Verpflichtungen anhand des ermittelten Sachverhaltes, z.B. i.V.m. einer<br />
MTCR-Regimevorgabe zum Umgang mit gelisteten Gütern1062 . <strong>Die</strong> o.g.<br />
Entscheidungsleitlinien bzw. Standards unterliegen, wie die Einzelentscheidung,<br />
dem Verhältnismäßigkeitserfordernis und sind Grundlage der Willkürkontrolle.<br />
Im Rahmen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung muss z.B.<br />
eine willkürfreie Anwendung der politischen Grundsätze der Bundesregierung<br />
oder des VK-EU darstellbar sein. Der Ermessensrahmen der Behörde<br />
würde andernfalls überschritten. Dabei könnte auch von einer Überschreitung<br />
des Abwägungsrahmens die Rede sein. Sofern eine nicht dem Normzweck<br />
entsprechende Rechtsanwendung erfolgt, wäre auch die Terminologie<br />
des Abwägungsmissbrauchs sachgerecht.<br />
bb) Betroffene Belange und Abwägungsvorgang<br />
<strong>Die</strong> mit den Richtlinien zur Anwendung der Genehmigungstatbestände festgestellten<br />
Risikoparameter, sei es technischer Art, verhaltens- bzw. empfängerorientiert<br />
oder politischer Art, müssen ebenso verhältnismäßig sein wie<br />
der Eingriff im Einzelfall1063 . Insoweit erfolgt eine Prüfung der administrativen<br />
Entscheidung selbst, insbesondere die schon erwähnte Alternativenprüfung<br />
zur Genehmigungsversagung. In die Interessenabwägung müssen alle<br />
betroffenen Belange eingestellt werden, sonst kommt es zu einem rechtswidrigen<br />
Abwägungsdefizit, im Extremfall zum Abwägungsfall. <strong>Die</strong> dritte<br />
Variante des Abwägungsfehlers besteht mit der fehlerhaften Interessengewichtung,<br />
sozusagen eine Abwägungsdisproportionalität. <strong>Die</strong> hiermit verbundenen<br />
Anforderungen sollen im Rahmen der bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />
vorliegenden multipolaren Interessenlage i.V.m. Belangen von Verfassungsrang<br />
noch einmal näher geprüft werden.<br />
1061 Vgl. FN 1054<br />
1062 Vgl. Teil 1 II.3.c)bb)<br />
1063 Vgl. Teil 4 II.2.c)ee)(4)<br />
314
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
Mit einer Verweigerung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>, die wie ein Außenhandelsverbot<br />
wirkt, ist regelmäßig ein Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit,<br />
in concreto z.B. der Berufsausübungsfreiheit, verbunden. <strong>Die</strong>se muss zunächst<br />
durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls im Sinne sicherheitsorientierter<br />
Staatsziele gerechtfertigt werden. <strong>Die</strong> Behörde muss konkrete Anhaltspunkte<br />
für einen drohenden Widerspruch zu Gemeinwohlbelangen oder<br />
zur Schutzpflicht des Staates aufzeigen, die in Form der Gefährdung Dritter<br />
aktiviert wird. <strong>Die</strong> betroffenen Grundrechtsbelange müssen bei der Auslegung<br />
der Kriterien zur Erteilung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> und der damit<br />
einhergehenden Interessenabwägung berücksichtigt werden. Nach dem Untermaßverbot<br />
darf es aber ebenso wenig zu einer unangemessenen Risikoverantwortung<br />
im Sinne der Duldung von Eingriffen durch Dritte kommen,<br />
wie zu einer Nichtbeachtung des Übermaßverbotes zu Ungunsten der Ausführer.<br />
Dabei müssen im Rahmen der Geeignetheits-, Erforderlichkeits- und<br />
Angemessenheitsprüfung alle Alternativen zur Genehmigungsverweigerung<br />
geprüft werden.<br />
Anlässlich der Alternativenprüfung ist zu fragen, ob eine Genehmigungserteilung<br />
mit Nebenbestimmungen oder anderen flankierenden Sicherungsmaßnahmen<br />
den Interessen der Beteiligten angemessen zur Geltung verhelfen<br />
kann. Mögliche Sicherungsfaktoren für eine zivile Endverwendung, die<br />
mögliche Risiken minimieren helfen, können z.B. multilaterale oder zwischenstaatliche<br />
Sicherungsabkommen, personelle Überwachungsmaßnahmen,<br />
Wartungsverträge und technische Lösungen sein1064 . Alle im Sinne der<br />
Erforderlichkeitsprüfung denkbaren Maßnahmen bilden den für die Verwaltung<br />
zulässigen Entscheidungskorridor.<br />
<strong>Die</strong> mit der Risikobewertung verbundenen Sachfragen müssen durch möglichst<br />
konkrete Erkenntnisse belegt sein, da erst die Tatsachen selbst überhaupt<br />
eine Risikoprognose bzw. -bewertung ermöglichen. Dabei wird die<br />
Qualität der vorhandenen Erkenntnisse ebenfalls in die Interessenabwägung<br />
eingestellt. Auch an dieser Stelle findet eine wertende Risiko- bzw. Verantwortungsverteilung<br />
statt, die wegen der regelmäßig bestehenden Erkenntnisdefizite<br />
bereits i.Z.m. Beweislastfragen einer Rolle spielt1065 . Hierbei<br />
muss auch das Zuverlässigkeitskriterium bzw. das Funktionieren der Risikomanagementstrukturen<br />
in den Unternehmen in die Abwägung eingestellt<br />
werden. Eingriffswirkung und Schutzbeitrag der Ablehnung müssen in ei-<br />
1064 Siehe dazu Weith/Wegner/Ehrlich (FN 9), G. Rn 74<br />
1065 Zur Beweislast vgl. Teile 3 III.2.c)bb) und 4.II.1.; zur Ermittlung des Exportrisikos<br />
s.a. Karpenstein ( FN 41), S. 243 ff., zu Beweislast und Beweismaß als Teil der politischen<br />
Wertung ebenda, S. 246<br />
315
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
nem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Nur dann ist der Eingriff<br />
auch zumutbar. Unter Einbeziehung der Darlegungs- und Beweislast erfolgt<br />
eine Bewertung vorhandener Tatsachen unter Berücksichtigung bestehender<br />
Erkenntnisdefizite1066 . In diesem Lichte erfolgt anlässlich der Angemessenheitsprüfung<br />
die Gewichtung der betroffenen Belange. Gleichlaufende Belange<br />
wie Sicherheit und auswärtige Interessen sowie hypothetisch betroffene<br />
Individualbelange i.S.d. Art. 2 Abs. 2 GG werden der Ausfuhrfreiheit und<br />
dem entsprechenden volkswirtschaftlichen Interesse gegenübergestellt.<br />
Vor allem die Missbrauchspotenziale der Lieferung müssen für den Einzelfall<br />
in die Abwägung eingestellt werden. Dabei sind die Prognoseelemente<br />
zur Sensitivität des Gutes, der möglichen Endverwendung, des Empfängers<br />
oder seinen Kunden, das Zugriffsrisiko durch bestimmte Personen oder<br />
Gruppen sowie auch der Geschäftsumstände einzubeziehen, aber z.B. auch<br />
die Frage nach dem weltweit bestehenden Risikopotenzial durch bestimmte<br />
Waffen, zu deren Herstellung die in Rede stehende Lieferung von Dual-use-<br />
Gütern beiträgt und inwieweit sich diese auf das bestehende Risiko auswirkt.<br />
<strong>Die</strong>se Wertung wird auch durch die internationalen Entwicklungen in<br />
technischer wie handelspolitischer Sicht entscheidend mitbestimmt. In bestimmten<br />
Regionen können z.B. auch unilaterale Politiken, Diktaturen,<br />
Staatsterrorismus oder aktive Terrorgruppen auf ein erhöhtes Missbrauchsrisiko<br />
hinweisen. Auch die Gefahr von Umgehungslieferungen kann aufgrund<br />
bestimmter Hinweise besonders hoch sein und muss berücksichtigt werden.<br />
An dieser Stelle ist die internationale Behördenkooperation von großer Bedeutung.<br />
Dabei müssen aber die Grenzen der geheimen Aufklärung i.V.m.<br />
dem Trennungsgebot beachtet werden1067 .<br />
Dabei ist die nach der Erkenntnislage absehbare Mittelbarkeit der Risikorealisierung<br />
einzubeziehen. Sie ist Grundlage der dem Vorsorgeprinzip immanenten,<br />
adäquaten Risikoverteilung. Auf die Elemente zur Risikonähe der<br />
Ausfuhr, den konkreten Waffenbezug der Dual-use-Lieferung sowie die Erheblichkeit<br />
bzw. Wesentlichkeit der Risikolage wurde anlässlich der Prüfung<br />
der Genehmigungspflichten schon detailliert eingegangen1068 . Je mittelbarer<br />
der Risikobezug ist, umso höher sind die Anforderung an die Rechtfertigung1069<br />
. Demnach müssen im Rahmen der Abwägung bei der Gewichtung<br />
der betroffenen Rechtspositionen anhand des Einzelfalls Differenzierungen<br />
1066 Zur Beweislast vgl. Teil 3 III.2.c)bb) und zu Beweislast im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
Bleckmann (FN 391), S. 25 ff, 41<br />
1067 Vgl. Teil 3 V.1.b)cc)<br />
1068 Vgl. Teil 4 II.2.c)ee)(4)<br />
1069 Vgl. auch Calliess, DVBl 2003, 1101, 1104<br />
316
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
bei der Risikonähe gemacht werden, die dazu führen können, dass entweder<br />
die Schutzdimension der Belange Dritter und das Gemeinwohlinteresse der<br />
Sicherheit übergewichtet werden müssen, so z.B. bei gelisteten oder auch<br />
ungelisteten Dual-use-Gütern mit Bezug zu Massenvernichtungswaffen.<br />
Umgekehrt aber muss z.B. bei Lieferungen von geringem Wert bzw. Bagatellfällen<br />
ebenso die Außenwirtschaftsfreiheit in den Vordergrund treten<br />
können wie bei weltweit erhältlicher Massenware. Bei ihnen scheint die<br />
hypothetische Kausalität eines Risikobeitrages fraglich. Solche Erwägungen<br />
müssen auch bei der Festlegung von Richtlinien wie z.B. den Voraussetzungen<br />
für Verfahrenserleichterungen oder Typisierungen für die Genehmigungserteilung,<br />
berücksichtigt werden. Letztlich führen die Gewichtungen<br />
und Wertungen zu einer Entscheidung, welche Belange vorzugswürdig erscheinen.<br />
Erscheint die Genehmigungsverweigerung wegen der fehlenden<br />
Risikonähe einer Ausfuhr unangemessen, ist die Entscheidung rechtswidrig.<br />
Wird dagegen eine Gleichgewichtung der betroffenen Belange festgestellt,<br />
kommt eine Ablehnung des Genehmigungsantrages zunächst nicht in Betracht.<br />
Vielmehr muss eine Optimierung der Belange stattfinden, die wiederum<br />
die im Rahmen des Unter- und Übermaßverbotes für erforderlich gehaltenen<br />
Alternativen, wie z.B. bestimmte Sicherungsmaßnahmen, in die<br />
Abwägung einstellt. Erst wenn aufgrund bestehender Erkenntnisdefizite eine<br />
Risikominimierung ohne Negativentscheid nicht denkbar erscheint, wäre<br />
dieser zumutbar. Im Falle des Abwägungspatts erfolgt eine über die Erforderlichkeitsprüfung<br />
hinausgehende Optimierung der Handlungsalternativen,<br />
die der gerichtlichen Kontrolle nicht zugänglich ist. Geprüft wird dann allenfalls<br />
die Frage, ob die Behörde von dem Optionsermessen Gebrauch gemacht<br />
und ihre Entscheidung begründet hat1070 . Nur wenn die Behörde ihren<br />
Abwägungsspielraum und damit einhergehende Optimierungsverpflichtungen<br />
verkannt hat, liegt ein Rechtsfehler in Form des Abwägungsausfalls vor,<br />
der im Übrigen auch aus EuGH-Sicht justiziabel ist. <strong>Die</strong> Beweislast für einen<br />
Rechtsfehler liegt beim Antragsteller, wenn die Behörde sachliche<br />
Gründe für ihre Entscheidung und damit einhergehende Abwägungen vorgelegt<br />
hat. In diesem Fall wird zugunsten der Verwaltung vermutet, dass die<br />
Entscheidung sachdienlich und angemessen war1071 .<br />
In aller Regel dürfte aber bereits die Interessengewichtung zu einer sachgerechten<br />
bzw. angemessenen Entscheidung führen. <strong>Die</strong> Genehmigungsentscheidung<br />
erscheint hiernach rechtmäßig, wenn sich die gewählte Alternati-<br />
1070 Zur Behörde als Treuhänderin des Optimierungsgebotes vgl. Calliess (FN 288), S.<br />
601, s.a. Teile 3 IV.2.c)cc) und 4 II.2.c)ee)(4)<br />
1071 Vgl. Teil 2 II.4.a) dort vor allem Bleckmann (FN 391), S. 38, 41<br />
317
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
ve im Rahmen des zulässigen Entscheidungskorridors bewegt und die Interessengewichtung<br />
der Behörde nachvollziehbar ist. Bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en<br />
geht es insoweit um die Frage, ob alle im Rahmen von Sicherungsmaßnahmen,<br />
Auflagen und Nebenbestimmungen denkbaren Entscheidungsalternativen<br />
geprüft wurden, sofern diese im Rahmen des Über- und Untermaßverbotes<br />
als geeignet und Erfolg versprechendes mildestes Mittel ersichtlich<br />
sind.<br />
Es lässt sich demnach festhalten, dass im Rahmen der Alternativenprüfung<br />
und Interessengewichtung eine differenzierte Einzelbetrachtung erfolgt, die<br />
auf die konkret vorliegende Risikonähe der Lieferung abstellt und entsprechende<br />
Rechtsfolgen für oder gegen die Außenwirtschaftsfreiheit vorsieht.<br />
Eine generelle Versagung der Genehmigungserteilung mit dem Argument<br />
entgegenstehender Sicherheitsinteressen bzw. Belange Dritter würde gegen<br />
das Verhältnismäßigkeitsgebot und die entsprechende Interessenabwägung<br />
verstoßen. Bei der Entscheidungsbegründung müssen die mit der Bewertung<br />
verbundenen Erwägungen der Behörde neben den konkreten Anhaltspunkten<br />
für den Vorsorgeanlass Erwähnung finden. Dazu gehört die Bewertung des<br />
Risikos missbräuchlicher Verwendung ebenso wie die Gewichtung der entgegenstehenden<br />
Belange. Hinzu kommt die Begründung, warum eine Genehmigung<br />
mit die Lieferung begleitenden Sicherungsmaßnahmen als unangemessen<br />
erachtet wird. Insbesondere müssen das Über- und Untermaßverbot<br />
sowie die grundrechtliche Schutzdimension hypothetisch betroffener<br />
Bürger im In- und Ausland in die Abwägung einbezogen werden. <strong>Die</strong> maßgeblichen<br />
Erwägungen für die Risikoverteilung sind trotz des behördlichen<br />
Entscheidungsspielraumes zu benennen.<br />
c) Ergebnis<br />
<strong>Die</strong> Rechtmäßigkeit der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung bestimmt sich<br />
nach einer zutreffenden Anwendung des Abwägungsrahmens inklusive der<br />
verfassungskonformen Auslegung der Norm sowie eines hinreichend begründeten<br />
Abwägungsvorgangs, der die Grundsätze der Gleichbehandlung<br />
und Verhältnismäßigkeit wahrt. <strong>Die</strong> hiermit verbundenen Erwägungen<br />
bestimmen die angemessene Risikoverteilung und sind der gerichtlichen<br />
Prüfung zugänglich.<br />
4. Fehlerfolgen: Nichtigkeit oder Aufhebung der Entscheidung<br />
<strong>Die</strong> Behörde wird nach § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO wegen des regelmäßig<br />
fortbestehenden Entscheidungsspielraumes zu einer ermessenfehlerfreien<br />
Entscheidung unter zutreffender Gewichtung der Außenwirtschaftsfreiheit<br />
318
III. Gerichtliche Kontrolle der Prognoseentscheidung bei der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
verpflichtet. Eine Ausnahme der direkten Gerichtsentscheidung könnte allenfalls<br />
infolge Ermessenreduzierung möglich sein1072 . <strong>Die</strong> vom Ausführer<br />
angestrebte positive Genehmigungsentscheidung würde dann theoretisch<br />
möglich sein. Wegen des politischen Entscheidungsspielraums der Behörde<br />
dürfte dies aber in der Praxis nur selten der Fall sein. Das Gericht muss sich<br />
an identischen Sachlagen orientieren. <strong>Die</strong>se sollten in größtmöglicher zeitlicher<br />
Nähe zur Entscheidung stehen, um relevante Veränderungen der Sachlage<br />
auszuschließen. <strong>Die</strong> Möglichkeit einer Geltendmachung positiver, also<br />
genehmigter Präzedenzentscheidungen für die Genehmigung im Einzelfall,<br />
z.B. bei Konkurrenten, dürfte der Antragsteller also nur selten darlegen können.<br />
Darüber hinaus verbleibt es bei der Einschätzungsprärogative der Verwaltungsbehörde,<br />
die der gerichtlichen Prüfung nicht zugänglich ist.<br />
Bei den Fehlerfolgen kommt es bei der Aufhebung rechtswidriger Verwaltungsakte<br />
bzw. der auch denkbaren Nichtigkeit auf nationaler wie gemeinschaftsrechtlicher<br />
Ebene regelmäßig zu vergleichbaren Ergebnissen. Dem<br />
Klägerbegehren einer Genehmigung kann nur im Ausnahmefall genüge getan<br />
werden. Das Vorrangprinzip zugunsten von Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
und dem übergeordneten Rechtsprinzipien wirkt sich insbesondere bei<br />
der Frage nach einer möglichen Heilung von Verfahrensfehlern aus. Im<br />
Lichte der gemeinschaftsverwaltungsrechtlichen Prinzipien könnte eine ungenügende<br />
Begründung der Entscheidung zur Nichtigkeitsfeststellung führen,<br />
so dass nach dem nationalen Verfahrensrecht zumindest die Aufhebung<br />
der Entscheidung erfolgen muss. <strong>Die</strong> noch im Gerichtsverfahren mögliche<br />
Heilung im Sinne des § 45 Abs. 2 VwVfG wäre wegen des Vorrangprinzips<br />
eingeschränkt. Faktisch aber wäre dies bei der dann erforderlichen Neuprüfung<br />
des Klägerbegehrens möglich1073 .<br />
5. Zusammenfassung der Ergebnisse<br />
Auch im Rahmen der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung erfolgt eine richterliche<br />
Kontrolle. Sie bezieht sich insbesondere auf die Einhaltung der Verfahren<br />
und Formfragen, aber auch die rechtlichen Grenzen der Entscheidungsspielräume,<br />
die bei Risikoprognosen i.V.m. den hypothetischen Folgen<br />
einer Ausfuhr von Dual-use-Gütern gegeben sind. Neben dem Bestehen eines<br />
Vorsorgenlasses stellt das Gericht bei der Rechtsfolgekontrolle fest, ob<br />
die bestehenden normkonkretisierenden Richtlinien zutreffend angewendet<br />
1072 Vgl. Teil 3 IV.3.b)<br />
1073 Zum Ganzen vgl. Teil 2 III.3.<br />
319
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
wurden, ein Verstoß gegen das Willkürverbot vorliegen könnte und die Einhaltung<br />
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewährleistet ist.<br />
Im Rahmen des multipolaren Prüfungsansatzes, wie er für das Vorsorgeprinzip<br />
entwickelt wurde, lässt sich feststellen, ob zur Ablehnung der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong><br />
aus Sicht der schützenswerten Belange, wie der Ausfuhrfreiheit,<br />
Alternativen bestehen. In einem weiteren Schritt erfolgt eine Gewichtung<br />
aller involvierten Belange und Interessen, so dass die Zumutbarkeit der<br />
Maßnahme bestätigt bzw. widerlegt werden kann. Im Ausnahmefall mehrerer,<br />
nach der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung zulässiger Maßnahmen,<br />
könnte im Falle eines Abwägungspatts auch geprüft werden, ob die<br />
Behörde den aufgrund der fehlenden Übergewichtung eines bestimmten Belanges<br />
wiedereröffneten Spielraum zur Optimierung aller Belange bei der<br />
Entscheidung beachtet hat. War die Entscheidung rechtswidrig, erfolgt regelmäßig<br />
eine Aufhebung nach § 113 VwGO bzw. 46 VwVfG. <strong>Die</strong>s gilt im<br />
nationalen Recht wie auch nach dem Gemeinschaftsverwaltungsrecht.<br />
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre<br />
<strong>Die</strong> Kriterien für eine den rechtsstaatlichen Grundsätzen genügende Kontrolle<br />
der Verwaltung durch die Gerichte wurden bereits im Zusammenhang<br />
mit Fragen der Qualität einer <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung angesprochen.<br />
Der nach dem nationalen wie auch im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
bestehende Entscheidungsspielraum der Exportkontrollbehörden wird aus<br />
den unbestimmten Rechtsbegriffen der Gefahr, Sicherheit und Sicherheitsinteressen<br />
abgeleitet. Bei der Rechtsanwendung im Einzelfall, also einer Genehmigungsentscheidung<br />
bei Dual-use-Lieferungen, ist die verfassungskonforme<br />
Auslegung der Rechtsbegriffe ebenso von Bedeutung wie die die Bestimmtheitsdefizite<br />
kompensierenden Verfahrenselemente. Mit einer hinreichenden<br />
Transparenz der Entscheidungsmaßstäbe und entsprechender Entscheidungsbegründung<br />
sollen die Betroffenen wie auch Gerichte in die Lage<br />
versetzt werden, Rechtsfehler korrigieren zu können. Insoweit gelten nationale<br />
bzw. gemeinschaftsrechtliche Maßstäbe der Ermessensfehlerlehre.<br />
<strong>Die</strong> Kontrollstandards für verfassungsrechtlich legitimierte Exportkontrollen<br />
können auch durch die aus dem Umwelt- und Technikrecht heraus entwickelten<br />
Grundsätze zur Risikovorsorge bestimmt werden. <strong>Die</strong> Struktur des<br />
Vorsorgeprinzips sorgt für eine angemessene Risikoverteilung, die auf verfassungsrechtlicher<br />
Ebene durch eine multipolare Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />
implementiert werden kann, deren wesentliches Element die Abwägung<br />
aller beteiligten Belange ist. <strong>Die</strong> Erkenntnisse zur Anwendbarkeit ge-<br />
320
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre<br />
meinschaftsrechtlichen Ermessens, zu den geltenden Maßstäben der gerichtlichen<br />
Überprüfung und vor allem zu den Rückwirkungen des Vorsorgeprinzips<br />
bei der Auslegung des tatbestandlichen Gefahrenbegriffs können unter<br />
dem Stichwort einer genehmigungsspezifischen Abwägungsfehlerlehre zusammengefasst<br />
werden. Hierbei sind alle behördlicherseits zu prüfenden<br />
Tatsachen- und Rechtsfragen sowie die Beweislast zu berücksichtigen.<br />
Aus den in dieser Untersuchung dargelegten Prinzipien kann für administrative<br />
Eingriffe in die Außenwirtschaftsfreiheit folgendes Prüfungsschema abgeleitet<br />
werden:<br />
1. Auswirkungen der Entscheidungsprärogative<br />
a) Berücksichtigung geltender Verfassungsprinzipien: v.a Einhaltung des<br />
Bestimmtheitsgrundsatzes i.V.m. Normkonkretisierung<br />
b) Beschränkter Maßstab gerichtlicher Kontrolle: nationale Entscheidungsfehlerlehre/Evidenzkontrolle<br />
des EuGH<br />
2. Formelle Rechtmäßigkeit<br />
a) Zuständigkeit: Prüfung der BAFA-Kompetenzen, eröffneter Rechtskreis<br />
b) Verfahren: Sachverhaltsermittlung, Verteidigungs- bzw. Anhörungsrechte,<br />
Verfahrensmissbrauch (Abwägungsfehlgebrauch)<br />
c) Form: Begründung des Eingriffs<br />
3. Feststellung eines Vorsorgeanlasses:<br />
Eröffnung des Verwaltungsverfahrens bei konkreten Anhaltspunkten<br />
für ein Ausfuhrrisiko: empfänger-, verwendungs-, und warenbezogene<br />
Qualität der Gefährdung (z.B. Listung, mögliche militärische Verwendung<br />
in bestimmten Empfängerländern); Beweislastfragen<br />
4. Bewertung des Vorsorgeanlasses: Abwägungsfehlerlehre<br />
a) Abwägungsrahmen<br />
Feststellung betroffener Belange: Außenwirtschaftsfreiheit, geschützte<br />
Individualbelange, Gemeinwohlgüter bzw. Staatsziele<br />
Feststellung des Abwägungsrahmens: Normzweck, Richtlinien<br />
b) Abwägungsvorgang<br />
Abwägungsausfall: Verkennung eines Entscheidungsspielraumes<br />
bzw. Abwägungserfordernisses<br />
321
Teil 4: Verfassungsmäßige Rechtfertigung der Risikovorsorge bei Exportkontrollen<br />
322<br />
Abwägungsdefizit (Abwägungsfehlgebrauch)<br />
- Abwägungsmissbrauch: Umgehung des Normzwecks<br />
- Heranziehungsdefizit: Einstellung sachfremder Belange, Verkennung<br />
des Normzwecks, verbotene Zweckverfolgung, Tatsachenfehler,<br />
Nichtbeachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes<br />
Einstellung aller relevanten Belange bzw. Freiheiten: Außenwirtschaftsfreiheit<br />
und betroffene Grundrechte (Handlungs- und<br />
Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, Unternehmerposition - wirtschaftlicher<br />
Wert - Unternehmergewinn/Kosten in Abgrenzung<br />
zur bloßen Gewinnchance), Gemeinwohl<br />
c) Abwägungsüberschreitung bzw. –disproportionalität<br />
Maßstab der Verhältnismäßigkeit, multipolare Prüfung<br />
Übermaßverbot<br />
- Geeignetheit: Hypothese des Risikos trotz Ablehnungsentscheidung,<br />
z.B. Argument bereits beim Empfänger vorhandener<br />
Kapazitäten<br />
- Erforderlichkeit: Handlungsalternativen mit vergleichbarer<br />
Wirkung, z.B. Genehmigung mit Nebenbestimmungen<br />
Untermaßverbot<br />
- Geeignetheit: Hypothese der Ablehnungs- oder Genehmigungsentscheidung<br />
- Erforderlichkeit: Abwägung nach Intensität der Gefährdung,<br />
erhöhte Gefahr z.B. bei Relevanz für MVW<br />
Angemessenheitsprüfung / Verhältnismäßigkeit i.e.S.<br />
- Übermaßverbot und Untermaßverbot als Korridor der Entscheidung,<br />
Alternativenprüfung<br />
- Zumutbarkeit der Genehmigungsverweigerung: Beweislastfragen,<br />
Gewichtung der Belange und Angemessenheitsprüfung<br />
bei Abwägungspatt<br />
- Eingriffsrechtfertigung: Gewichtung betroffener Belange und<br />
Risikonähe; Risiko der Gefahrenverwirklichung in Relation<br />
zum drohenden Schaden, Einbeziehung offensichtlich geringer<br />
Bedeutung der Gründe (vgl. Bagatellfälle), Vertrauensschutz
IV. Schlussfolgerungen aus Teil 4 – <strong>Die</strong> Abwägungsfehlerlehre<br />
Abwägungsreduzierung<br />
Anwendung der Richtlinien bzw. Erlasse, Selbstbindung der Verwaltung<br />
durch Antizipierung der Entscheidung Art. 3 GG, abweichende<br />
Zusage<br />
5. Fehlerfolgen: Aufhebung oder Nichtigkeit der Entscheidung, Beachtung<br />
des Anwendungsvorrangs, Evidenzlehre des EuGH<br />
323
Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge durch Exportkontrollen<br />
324
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />
Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge<br />
durch Exportkontrollen<br />
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />
1. Exportkontrollen dienen maßgeblich der Gewährleistung innerer und äußerer<br />
Sicherheit und damit zusammenhängenden Staatszielen. Das beinhaltet<br />
auch die Wahrung der Menschenrechte. Auf dieser Grundlage<br />
können Eingriffe in die Außenwirtschaftsfreiheit gerechtfertigt werden.<br />
Über den internationalen Aspekt multilateraler friedenssichernder Vereinbarungen<br />
hinaus wird die außenpolitische Dimension der nationalen<br />
Sicherheitsinteressen einbezogen. <strong>Die</strong> auswärtigen Interessen der Bundesrepublik<br />
Deutschland berechtigen zu einem Eingriff in die Außenwirtschaftsfreiheit,<br />
wenn diese mit Sicherheitsaspekten in Zusammenhang<br />
stehen.<br />
2. Mit der <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung erfolgt eine Prognoseentscheidung.<br />
Sie basiert gem. §§ 3 und 7 AWG auf einer Gefährdung bestimmter<br />
Belange. Dabei hat die Genehmigungsbehörde einen Beurteilungsspielraum.<br />
Soweit die Entscheidung im Rahmen der Überlegungen<br />
des Art. 8 i.V.m. 9 Dual-use-VO erfolgt, besteht ein Ermessen im Sinne<br />
des Gemeinschaftsverwaltungsrechts. Im Gemeinschaftsverwaltungsrecht<br />
erfolgt keine dogmatische Unterscheidung von Beurteilungsspielräumen<br />
und Ermessen, wie es nach den im nationalen Verwaltungsrecht<br />
entwickelten Grundsätzen der Fall ist. Deshalb erscheint der allgemeine<br />
Begriff des Entscheidungsspielraums besser geeignet, die Reichweite der<br />
Verwaltungsautonomie zu bestimmen.<br />
3. <strong>Die</strong> gerichtliche Prüfungstiefe bei administrativen Entscheidungsspielräumen<br />
ist nach der nationalen Ermessensfehlerlehre, entsprechend anwendbar<br />
auf Beurteilungsspielräume, sowie nach der Evidenzlehre des<br />
EuGH weitgehend vergleichbar. Für formelle Rechtmäßigkeitsfragen bestehende<br />
Verfahrensfehlervorschriften des VwVfG finden im Gemeinschaftsrecht<br />
keine Entsprechung. Ebenso wie bei der materiellen Inhaltskontrolle<br />
stellt der EuGH nur bei evidenten Rechtsfehlern einen Verstoß<br />
gegen die Rechtsordnung fest. <strong>Die</strong> möglicherweise differierende Fehlerfolge<br />
der Nichtigkeit oder Aufhebung der Entscheidung hat wegen des<br />
auf eine Genehmigung gerichteten Klägerbegehrens keine Praxisrelevanz.<br />
Nach der nationalen Ermessensfehlerlehre erfolgt eine begrenzte<br />
materielle Rechtmäßigkeitskontrolle, ebenso wie bei der Evidenzlehre<br />
des EuGH. In beiden Fällen erfolgt eine Gewichtung der betroffenen<br />
325
Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge durch Exportkontrollen<br />
Rechtsgüter. Wesentliches Element beider Lehren ist eine Wertung und<br />
Interessenabwägung. Sie ist für den Bestand der Verwaltungsentscheidung<br />
maßgeblich. Für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>en kommt es nach Dualuse-VO<br />
und AWV zu einer vergleichbaren gerichtlichen Prüfungstiefe.<br />
4. Zentraler Anknüpfungspunkt für die <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidung<br />
ist die Prognose der Rechtsgutsgefährdung. Unter Einbeziehung allgemeiner<br />
sicherheitsrechtlicher Entwicklungen ist von einer erheblichen<br />
Qualität bzw. Quantität der regelmäßig bestehenden Erkenntnisdefizite<br />
auszugehen. <strong>Die</strong>se Tatsache führt im Lichte des Normzwecks von Exportkontrollen<br />
und der Formulierungen in den Eingriffsermächtigungen<br />
des AWG und der Dual-use-VO zu dem Schluss, dass es dabei um Maßnahmen<br />
der Risikoprävention geht. Im Kontext der Prognoseentscheidung<br />
erscheint es daher kaum mehr vertretbar, auf die Wahrscheinlichkeitsrelation<br />
des klassischen Gefahrenbegriffs abzustellen und damit auf<br />
das Vorliegen einer konkreten oder abstrakten Gefahr für bestimmte<br />
Rechtsgüter. Vielmehr sind die im Rahmen des Vorsorgeprinzips entwickelten<br />
Ansätze zur Risikoprävention und angemessenen Risikoverteilung<br />
anwendbar. Bestätigt wird dieser Befund durch mit dem technischen<br />
Sicherheitsrecht vergleichbare systematische Ansätze, z.B. kooperativer<br />
Art. Rechtspolitisch scheint es in der Konsequenz geboten, die<br />
Beschränkungsermächtigung des § 3 AWG anzupassen. Angesichts der<br />
zurückliegenden Fortentwicklung des Kontrollsystems erscheint eine<br />
Formulierung sachgerechter, die darauf abstellt, ob kein oder ein nur unwesentlicher<br />
Schaden für gem. § 7 AWG geschützte Belange droht. An<br />
der Normstruktur, insbesondere am Beurteilungsspielraum der Behörde<br />
zur Bewertung des Genehmigungsanspruchs, ändert sich damit nichts.<br />
<strong>Die</strong> Dual-use-VO deckt nach dem aktuellen Wortlaut auch eine Ermächtigung<br />
der Behörde zur Risikovorsorge ab.<br />
5. Nach der Struktur des Vorsorgeprinzips berechtigt, anders als bei Gefahren,<br />
bereits die Darlegung einer Besorgnis zu einem risikopräventiven<br />
Eingriff. Über die Beweislastregeln wird hier bereits die grundsätzliche<br />
Risikoverantwortung zugewiesen. Das beinhaltet eine wertende Betrachtung,<br />
die z.B. bei Dual-use-Gütern je nach Sensitivität unterschiedliche<br />
Ergebnisse haben kann. <strong>Die</strong> Rechtsfolge wird im Rahmen der Bewertung<br />
des Vorsorgeanlasses bestimmt. <strong>Die</strong> Grenzen des bestehenden Entscheidungsspielraumes<br />
(Abwägungsrahmen) enthalten die Wahrung des<br />
Gleichheitsgrundsatzes und die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, nach<br />
der gemeinschaftsrechtlichen wie der nationalen Lehre. Dabei werden alle<br />
betroffenen Interessen in die Abwägung eingestellt: die Freiheiten des<br />
Handelnden ebenso wie die Grundrechtsschranken des Gemeinwohls<br />
326
Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse<br />
und die aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG abzuleitenden Schutzpflichten<br />
des Staates für die Grundrechtsbelange Dritter, mithin deren<br />
Leben und körperliche Unversehrtheit.<br />
6. In Anerkennung einer drittschützenden Wirkung der grundrechtlichen<br />
Schutzdimension besteht ein multipolares Verfassungsrechtsverhältnis.<br />
Der daraus abgeleitete multipolare Prüfungsansatz hilft, die bei der Risikovorsorge<br />
erfolgende Vorverlagerung staatlicher Eingriffe kompensieren.<br />
Betroffene Interessen werden stärker konturiert und berücksichtigt.<br />
Abweichend von der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung wird nicht<br />
nur das Übermaßverbot zugunsten des vom Eingriff Betroffenen, sondern<br />
auch das Untermaßverbot zu Gunsten des durch den Eingriff geschützten<br />
Dritten bzw. Begünstigten in die Prüfung einbezogen. So ist<br />
die staatliche Schutzpflicht effektiv erfüllbar. Geeignetheit und Erforderlichkeit<br />
eines staatlichen Eingriffs sind in zwei Richtungen zu prüfen,<br />
mit Blick auf die Freiheitsdimension des Betroffenen sowie die Schutzdimension<br />
von Grundrechten Dritter, die durch den Eingriff begünstigt<br />
werden sollen. Über- und Untermaßverbot werden im Rahmen der Angemessenheitsprüfung<br />
miteinander in Einklang gebracht. Es wird eine<br />
dem Gefahrenbegriff ähnliche Interessenabwägung bzw. -gewichtung<br />
vorgenommen, die nicht nur die Rechtsgutsqualität des bedrohten Interesses,<br />
sondern auch die Risikonähe der Handlung in die Frage der angemessenen<br />
Risikoverteilung einstellt.<br />
7. Schutzgüter des Art. 2 Abs. 2 GG sowie das staatliche Sicherheitsinteresse<br />
dürfen trotz ihrer hohen Wertigkeit nicht automatisch stärker gewichtet<br />
werden als die Außenwirtschaftsfreiheit. Sonst würde in Anbetracht<br />
der risikoorientierten Eingriffsermächtigung bei Exportkontrollen jedes<br />
Risiko die Freiheit beschränken. <strong>Die</strong>s stünde in Widerspruch zur eigentlich<br />
im Vordergrund stehenden Abwehrdimension der Grundrechte, die<br />
so faktisch zugunsten der nur als ultima-ratio anerkannten Schutzdimension<br />
aufgehoben würde. Der Freiheitsbegriff wäre dann Makulatur. Für<br />
die Abwägung gilt deshalb: Je mittelbarer die potenziell gefährdeten<br />
Rechtsgüter durch die beim staatlichen Eingriff in Rede stehende Handlung<br />
Risiken ausgesetzt sind, umso höher muss die Gewichtung der Freiheitsposition,<br />
mithin der Außenwirtschaftsfreiheit, sein. Somit sind die<br />
Anforderungen an den Eingriff von der Risikonähe einer Ausfuhr abhängig.<br />
<strong>Die</strong> damit einhergehende Vermeidung einer pauschalen Übergewichtung<br />
einzelner Belange entspricht dem Verständnis des Vorsorgeprinzips<br />
zur gewichtenden Risikoverteilung. <strong>Die</strong> fehlende Risikonähe einer Ausfuhr<br />
kann durchaus, im Einzelfall muss sie sogar gegen die geschützten<br />
Belange und damit auch eine Genehmigungsversagung sprechen.<br />
327
Teil 5: Schlussbetrachtung – Grundlagen der Risikovorsorge durch Exportkontrollen<br />
8. <strong>Die</strong> Gewichtung der beteiligten Interessen bestimmt die Angemessenheit<br />
des Eingriffsmittels. An dieser Stelle sind alle beteiligten Interessen,<br />
auch die Gemeinwohlbelange einzubeziehen. <strong>Die</strong> <strong>exportkontrollrechtliche</strong>n<br />
Genehmigungspflichten sind in dieser Hinsicht die geeignete, mildeste<br />
und wirksamste Eingriffsalternative. Sie erscheinen gegenüber den<br />
Beteiligten zumutbar und stehen im Einklang mit Verfassung und Gemeinschaftsrecht.<br />
Erst die Prüfung der Genehmigungsfähigkeit eines Antrages<br />
im Einzelfall ermöglicht die angemessene Risikoverteilung. Hierzu<br />
gehört die Prüfung der konkret in Rede stehenden Eingriffsalternativen,<br />
eine Bewertung der Risikonähe der Ausfuhr, die Eingriffsintensität<br />
sowie die Erheblichkeit einer Gefährdung. Dazu gehört auch die Effektuierung<br />
aller Interessen i.V.m. der Optimierungsverpflichtung der Verwaltung<br />
bei mehreren verfügbaren Eingriffsalternativen. <strong>Die</strong> nach der Erforderlichkeitsprüfung<br />
zulässigen Handlungsoptionen bestimmen dabei den<br />
Entscheidungsspielraum der Genehmigungsbehörde. Bei der multipolaren<br />
Alternativenprüfung werden nicht nut die geschützten Interessen<br />
stärker einbezogen. Auch können die bestehenden Handlungsalternativen<br />
effektiver auf ihre optimale Wirkung zugunsten aller Beteiligten geprüft<br />
werden. Ein stückweit wird die Genehmigungsbehörde damit planend tätig.<br />
<strong>Die</strong>s spielt bei <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong>sentscheidungen z.B. i.V.m. der<br />
Feststellung geeigneter Nebenbestimmungen und Sicherungsmaßnahmen<br />
eine Rolle. Eine <strong>Ausfuhrgenehmigung</strong> kann somit trotz einer Risikobesorgnis<br />
verhältnismäßig sein. Der multipolare Prüfungsansatz deckt sich<br />
hier mit dem Vorsorgeprinzip. Er hilft, die damit verbundene Vorverlagerung<br />
des Eingriffs auf Risiken zu kompensieren. Er bietet einen Rahmen<br />
für den gebotenen Interessenausgleich und verschafft Sicherheitsbelangen<br />
wie der Außenwirtschaftsfreiheit gleichermaßen Geltung.<br />
9. In der Gesamtschau kann konstatiert werden, dass unter Berücksichtigung<br />
der Risikodimension von Dual-use-Ausfuhren und der dabei betroffenen<br />
Belange von Verfassungsrang nicht nur eine formelle Rechtmäßigkeitskontrolle<br />
der Gerichte erfolgt - trotz der prognoseorientierten<br />
Entscheidungsspielräume der Behörde. Bei der materiellen Rechtmäßigkeit<br />
muss eine umfassende Kontrolle der Wahrung gewichtiger Verfassungs-,<br />
gegebenenfalls auch Gemeinschaftsrechtsprinzipien stattfinden.<br />
<strong>Die</strong> Grundsätze der nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Ermessensfehlerlehren<br />
müssen mit der Struktur des Vorsorgeprinzips bei der Risikoprävention<br />
zusammengeführt werden. Für Exportkontrollen können<br />
die Ansätze einer multipolaren Verhältnismäßigkeitsprüfung genutzt<br />
werden. Damit wird die angemessene Risikoverteilung unter Gewichtung<br />
aller beteiligten Belange sichergestellt.<br />
328