Das Vorverfahren

1. Allgemeines
Das Widerspruchsverfahren nach der VwGO ist den beiden wichtigsten verwaltungsgerichtlichen Klagearten zwingend vorgeschaltet.
Man spricht daher auch vom „Vorverfahren“ (VV). Anzahl und Bedeutung dieser VV gegen belastende Verwaltungsakte
(VA) aus allen Bereichen der Verwaltung wachsen ständig. Die damit zusammenhängenden Probleme lassen sich
im Interesse aller Beteiligten nur dann zufriedenstellend lösen, wenn die während des VV zur (Selbst-)Kontrolle aufgerufenen
Amtsträger in der Lage sind, ohne vermeidbaren Zeitverlust die jeweils richtige Entscheidung zu treffen. Welcher Art diese
Entscheidung sein kann, welches ihre Voraussetzungen sind und wie sie formell aufzubauen ist – dies soll im folgenden erläutert
werden.
2. Wann fi ndet das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) statt?
Artikel 20 Abs. 3 GG normiert das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Das Rechtsstaatsgebot erfordert darüber
hinaus ein verfassungsrechtlich garantiertes Rechtsschutzsystem. In der Bundesrepublik bestehen insoweit verschiedene
Möglichkeiten: Formlose (vgl. Art. 17 GG) und formgebundene (förmliche) Rechtsbehelfe, gerichtliche (vgl. Art. 19 Abs. 4
GG) und außergerichtliche (verwaltungsinterne) Rechtsbehelfe (vgl. §§ 68 ff. VwGO).
Der Widerspruch ist ein förmlicher außergerichtlicher Rechtsbehelf – und zwar der bei weitem wichtigste und häufi gste. Er
ersetzt prinzipiell alle vor Erlass der VwGO möglichen anderen förmlichen Rechtsbehelfe (§ 77 VwGO). Mit dem Widerspruch
wird das VV eingeleitet. Da er nur vor Anfechtungs- und Verpfl ichtungsklage (letztere in der Form der Ablehnungs- oder
Weigerungsgegenklage, § 68 Abs. 2 VwGO) zwingend vorgeschrieben und damit statthaft ist) wird bisweilen begriffl ich
zwischen Anfechtungs- und Verpfl ichtungswiderspruch unterschieden.
3. Rechtsnatur und rechtliche Grundlagen des Vorverfahrens
Das Widerspruchsverfahren ist ein Rechtsbehelfsverfahren im Bereich der Verwaltung, also Teil des Verwaltungsverfahrens. Es
bereitet das gerichtliche Verfahren vor und ist insoweit in der Verwaltungsgerichtsordnung (§§ 68 – 73 VwGO) bundeseinheitlich
geregelt. Allerdings beschränkt sich die VwGO auf die Regelung einiger wesentlicher Teilfragen zur Zulässigkeit und
Begründetheit des Widerspruchs.
Wichtige Ergänzungsregelungen enthalten insbesondere die landesrechtlichen Ausführungsgesetze. Im übrigen sind Regelungslücken
auszufüllen durch analoge Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften der VwGO und durch Rückgriffe
auf das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht. Gemäß § 79 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) gehen dabei die Regelungen
der VwGO denen des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts vor.
4. Zielsetzung und praktische Bedeutung des Vorverfahrens
Wegbeschreibung für die
kommunale Praxis
Das Vorverfahren
(Widerspruchsverfahren)
VS 4
(Verwaltungsrechtsschutz)
Das VV hat drei ineinander übergreifende Funktionen:
a) Rechtsschutz für den Bürger: Er hat Gelegenheit, ohne Anrufung der Gerichte sein Ziel zu verfolgen. Dabei ist wichtig, dass
die Entscheidung in vollem Umfang, d.h. auch hinsichtlich Ermessensfragen, überprüft wird.
b) Selbstkontrolle der Verwaltung: Die Behörde kann ihren Standpunkt noch einmal überprüfen, bevor sie mit einem gerichtlichen
Streitverfahren überzogen wird.
c) Entlastung der Gerichte: Das VV hilft, unnötige Prozesse zu vermeiden; es hat gleichsam „Filterfunktion“.

Mit dieser Zielsetzung ist das VV vom Gesetzgeber als „Voraussetzung der verwaltungsgerichtlichen Klage“ (§ 68 VwGO)
eingerichtet worden. Bürger und Behörden sollen zunächst versuchen, ihre Meinungsverschiedenheiten untereinander beizulegen.
Erst wenn dies nicht gelingt, soll das Verwaltungsgericht über die Sache entscheiden. Ein erfolglos durchgeführtes VV
gehört damit in den von § 68 VwGO erfassten Fällen grundsätzlich zu den zwingenden Sachurteilsvoraussetzungen im Verwaltungsprozess.
Eine gerichtliche Klage ist als unzulässig abzuweisen, wenn nicht spätestens bis zur letzten mündlichen
Verhandlung ein Widerspruchsbescheid ergangen ist.
5. Notwendigkeit und Entbehrlichkeit des Vorverfahrens
5.1 § 68 VwGO schreibt ein VV nur für zwei Klagearten vor: Für die Anfechtungsklage (§ 68 Abs. 1) und für die Ver-
pfl ichtungsklage, wenn der Antrag auf Erlass eines begünstigenden VA abgelehnt wurde(§ 68 Abs. 2). Das VV wird
i.d.R. also notwendig in den Fällen, in denen das Verwaltungsverfahren mit einem VA i.S.d. § 35 VwVfG abgeschlos-
sen wurde.
Beachte: Diese Beschränkung ist freilich nicht begriffsnotwendig, wie § 126 Abs. 3 BRRG beweist. Danach ist näm-
lich allen Klagen eines Beamten gegen seinen Dienstherrn ein Widerspruchsverfahren vorzuschalten.
5.2 Im übrigen gibt es Fälle, in denen eine behördliche Selbstkontrolle nicht (mehr) erforderlich ist, weil sie der oben
beschriebenen Zielsetzung des VV nicht (mehr) dient.
5.2.1 § 68 Abs. 1 Satz 2 VwGO trägt dieser Erkenntnis Rechnung. Er nennt mehrere Ausnahmefälle, in denen ein
Widerspruch entbehrlich, also nicht statthaft und deshalb unzulässig ist:
5.2.1.1 Wenn ein formelles Bundes- oder Landesgesetz dies bestimmt, z.B. §§ 70, 74 Abs. 1 Satz VwVfG
( § 68 Abs. 1 Satz 2 Alternative 1 VwGO ).
5.2.1.2 Bei Verwaltungsakten von obersten Bundes- oder Landesbehörden, es sei denn, dass ein Gesetz die
Nachprüfung vorschreibt (§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO). Oberste Landesbehörden sind z. B. der
Ministerpräsident, die Minister, die Präsidenten des Landtages und der Rechnungshof; oberste Bun-
desbehörden sind z.B. der Bundespräsident, der Präsident des Bundestages und die Bundesminister.
5.2.1.3 Wenn der Abhilfebescheid oder der Widerspruchsbescheid erstmals eine Beschwerde enthält
(§ 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO). Gegen die Abhilfe- oder Widerspruchsbescheide soll kein weiteres
zeitaufwendiges Widerspruchsverfahren durchgeführt werden, da insofern bereits eine Selbstkontrolle
erfolgt ist.
6. Ablauf des Vorverfahrens
6.1 Beginn:
Gemäß § 69 VwGO beginnt das VV mit der Erhebung des Widerspruchs. Das ist der Zeitpunkt, in dem er der zuständigen
Behörde zugeht. Entscheidend ist also nicht etwa, wann dem zuständigen Sachbearbeiter das Widerspruchsschreiben vorgelegt
wird.
6.2 Rechtswirkungen der Widerspruchseinlegung
6.2.1 Suspensiveffekt
Gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO hat ein Anfechtungswiderspruch grundsätzlich aufschiebende Wirkung (vgl. Wegbeschreibung
VS 5).
6.2.2 Devolutiveffekt
Von Devolutivwirkung spricht man, wenn ein Rechtsbehelf oder Rechtsmittel die Streitsache in die höhere Instanz bringt und
deren Zuständigkeit begründet – insbesondere bei Berufung und Revision, §§ 124 ff., 132 ff. VwGO.
Auch im Rahmen des VV gibt es in der Regel diesen Effekt. Im Regelfall sind nämlich Ausgangsbehörde (Abhilfebehörde) und
Widerspruchsbehörde nicht identisch. Die Widerspruchsbehörde gehört entweder zu einer anderen Verwaltungsebene, oder
sie hat zumindest die Stellung eines selbstständigen Sonderorgans innerhalb der Ausgangsbehörde.
Allerdings tritt die Devolutivwirkung gemäß §§ 72, 73 VwGO nicht automatisch und in jedem Fall ein. Sie ist nämlich abhängig
davon, dass die Ausgangsbehörde die Abhilfe verweigert. Das bedeutet, dass immer zuerst die Behörde über einen Widerspruch
entscheiden muss, die den VA erlassen hat. Geht der Widerspruch unmittelbar der Widerspruchsbehörde zu, so ist das
gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 VwGO zwar zulässig. Die Widerspruchsbehörde muss dann aber die Akten der Ausgangsbehörde
zuleiten oder sich sonst formlos mit ihr in Verbindung setzen, um ihr Gelegenheit zur Abhilfe zu geben.
6.2.3 Das Abhilfeverfahren
Auch dies ist eine unmittelbar aus der Einlegung des Widerspruchs resultierende Konsequenz. Die Ausgangsbehörde ist nämlich
nicht nur verpfl ichtet, einen Widerspruch entgegenzunehmen bzw. seine Einlegung zu beurkunden (§ 70 Abs. 1 Satz 1
Alternativ 2 VwGO), sie muss gemäß § 72 VwGO auch darüber entscheiden, ob sie ihm abzuhelfen vermag.

Abhilfe bedeutet, dass die Ausgangsbehörde selbst – zumindest teilweise – i.S.d. WF entscheidet. Sie erläßt dann den sogenannten
Abhilfebescheid. Dies ist ein VA, der nicht mit dem Widerspruchsbescheid identisch ist. Durch den Abhilfebescheid
wird entweder der angegriffene VA (teilweise) aufgehoben (nach Anfechtungswiderspruch) oder der beantragte VA erlassen
(nach Verpfl ichtungswiderspruch).
6.3 Beendigung des Vorverfahrens
6.3.1 Durch Entscheidung über den Widerspruch
Hilft die Ausgangsbehörde dem Widerspruch in vollem Umfang ab, dann endet das VV mit dem Zugang des Abhilfebescheids
an den WF. Entscheidet die Widerspruchsbehörde, dann beendigt der Widerspruchsbescheid, d.h. dessen Zugang an den WF,
das VV.
6.3.2 Ausser durch förmlichen Abschluss kann das VV auch auf andere Weise beendigt werden. Denkbar sind insbesondere:
6.3.2.1 Zurücknahme des Widerspruchs unter Beachtung der Form des § 70 Abs. 1 VwGO. Die Rücknahme ist
möglich bis zur Unanfechtbarkeit des Widerspruchsbescheids (OVG Lüneburg, Urteil vom 14.04.1993,
1 L 34/91, NvWZ 93, 1214).
6.3.2.2 Erledigung in der Hauptsache. Sie tritt ein, wenn der VA hinsichtlich seiner inhaltlichen Regelung gegenstandslos
geworden ist.
Beispiele:
n Ablauf der Frist bei befristeter Erlaubnis,
n Untergang des Regelungsobjekts, etwa: ein seuchenverdächtiger Hund wird überfahren.
Dann ist nach der Rechtssprechung des BVerwG Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4
VwGO möglich ( BVerwG, Urteil vom 17.10.90 – 1 C 12.88, NVWZ 91, 581; so auch BWVGH, Urteil vom
15.03.95 – 3 S 1453/93, NVWZ-RR 95, 621 ).
6.3.2.3 Vergleichsvertrag gemäß § 55 VwVfG
7. Der Widerspruchsbescheid
Hilft die Ausgangsbehörde dem Widerspruch nicht ab, so erlässt die Widerspruchsbehörde einen Widerspruchsbescheid. Er ist
zu begründen, mit Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen und zuzustellen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Darüber hinaus ist im
Widerspruchsbescheid zu bestimmen, wer die Kosten trägt (Kostengrundentscheidung, § 73 Abs. 3 Satz 3 VwGO.) Weitere
darüber hinausgehende Regelungen über Form und Inhalt enthält die VwGO nicht. Ergänzend sind daher auch hier die
allgemeinen Vorschriften zum Verwaltungsverfahren sowie das AGVwGO heranzuziehen.
Im einzelnen:
Die Widerspruchsbehörde kann den Widerspruch zurückweisen oder ihm stattgeben.
7.1 Zurückweisung erfolgt, wenn der Widerspruch unzulässig oder unbegründet ist. Nach der – umstrittenen – Recht-
sprechung des BVerwG ist die Widerspruchsbehörde aber nicht verpfl ichtet, einen verfristeten Widerspruch als un-
zulässig zurückzuweisen. Sie kann in der Regel trotz Fristversäumung nach ihrem Ermessen zur Sache entscheiden
und damit den Klageweg wiedereröffnen (BVerwG NVWZ 83, 608, NVWZ 89, 85). Gegenteilige Auffassung hierzu
vertritt das OVG RhPf für den Fall, dass Ausgangs- und Widerspruchsbehörde verschiedenen Rechtsträgern angehö-
ren (OVG RhPf, Urteil vom 12.01.93, 6 A 10374/92, KStZ 1995, 196).
7.2 Ist der Widerspruch zulässig und begründet, gibt ihm die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsbescheid statt. Das
bedeutet im einzelnen:
7.2.1 Beim Anfechtungswiderspruch muss der VA im Widerspruchsbescheid (ganz oder teilweise) aufgehoben
werden. In den Fällen des § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO ist nach heute überwiegender Rechtsmeinung
auch eine Abhilfeentscheidung möglich.
7.2.2 Beim Verpfl ichtungswiderspruch bedeutet „stattgeben“ letztlich Erlass des beantragten VA. Allerdings
scheidet eine Selbstvornahme durch die Widerspruchsbehörde aus.
7.3 Ob der Widerspruchsbescheid die Entscheidung der Ausgangsbehörde auch zum Nachteil des Widerspruchsführers
abändern darf (sog. Verböserung oder reformatio in peius), richtet sich nach den einschlägigen Vorschriften des
jeweiligen Falles. Die VwGO sagt hierüber nichts aus. Die Verböserung ist beispielweise in kommunalabgabenrecht-
lichen Streitverfahren zulässig (so § 3 Abs. 5 Satz 2 KAG RhPf).
7.4 Der Widerspruchsbescheid muss begründet werden (§ 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO). D.h., die Widerspruchsbehörde
muss die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe für ihre Entscheidung bekanntgeben (vgl. § 39 Abs. 1
VwVfG). Inhalt und Umfang dieser Begründung richten sich nach den Umständen des Einzelfalles. Der WF und
etwaige Drittbetroffene müssen jedenfalls die Erfolgsaussichten einer Klage aus den Gründen ermitteln können.

7.5 § 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO schreibt weiterhin eine Rechtsbehelfsbelehrung vor. Inhalt und Form ergeben sich aus § 58
Abs. 1 VwGO. Das Fehlen oder ein Mangel der Belehrung berührt allerdings nicht die Rechtmäßigkeit des Wider-
spruchsbescheids, sondern nur die Klagefrist (§ 58 Abs. 2 VwGO).
7.6 Ebenfalls von Amts wegen ist im Widerspruchsbescheid darüber zu entscheiden, wer die Kosten trägt (§ 73 Abs. 3
Satz 3 VwGO). Es handelt sich hierbei um die sogenannte Kostengrundentscheidung. In dieser ist zu bestimmen,
wer die Kosten des Verfahrens zu tragen hat. Die Entscheidung über die Höhe des Streitwertes und die Höhe der
Kosten wird nicht in der Kostengrundentscheidung, sondern im Kostenfestsetzungsbescheid getroffen. In der Kos-
tengrundentscheidung ist auch darüber zu entscheiden, ob die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig
war (§ 80 Abs. 3 Satz 2 VwVfG, § 19 AGVwGO RhPf).
7.7 Der Widerspruchsbescheid ist zuzustellen (§ 73 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Eine andere Form der Bekanntgabe ist nicht
geeignet, die Klagefrist in Lauf zu setzen (§§ 74, 57 VwGO). Die Zustellung erfolgt gemäß § 73 Abs. 3 Satz 2 VwGO
von Amts wegen nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes des Bundes, und zwar auch dann, wenn
eine Landesbehörde den Widerspruchsbescheid erlässt.
Die Zustellung kann auf verschiedene Arten erfolgen (§ 2 Abs. 1 VwZG). Die Behörde hat insofern Auswahlermessen
(§ 2 Abs. 2 VwZG).
8. Die zuständige Widerspruchsbehörde
Die Frage nach der Widerspruchsbehörde zielt darauf ab, welche Behörde den Widerspruchsbescheid zu erlassen hat. § 73
VwGO enthält insofern zwar eine Grundsatzregelung, erlaubt aber bundes- und landesgesetzliche Ausnahmen.
Der damit angesprochene Problemkreis ist mehrfach bedeutsam: Zum einen wird im Falle des § 70 Abs. 1 Satz 2 VwGO die
Frist nur gewahrt, wenn der Widerspruch bei der zuständigen Widerspruchsbehörde eingelegt wird. Ist er an die falsche
Behörde gerichtet, muss diese ihn zwar i.d.R. weiterleiten (Amtspfl icht), der damit verbundene Zeitverlust kann aber leicht zur
Verfristung führen.
Zum anderen muss der Beamte, der eine Abhilfe i.S.d. § 72 VwGO verweigert, wissen, welcher Behörde er die Akten zur Entscheidung
vorlegen soll.
Im übrigen stellt die Entscheidung einer unzuständigen Behörde einen wesentlichen Verfahrensmangel i.S.d. § 79 Abs. 2 Satz
2 VwGO dar. Die dann mögliche isolierte Anfechtung des Widerspruchsbescheids (d.h. ohne VV) führt grundsätzlich zu dessen
Aufhebung.
8.1 Rechtslage nach der VwGO
8.1.1 Zuständigkeit der nächsthöheren Behörde: Nach § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO erlässt den Widerspruchsbe-
scheid grundsätzlich die nächsthöhere Behörde. Das ist die Instanz, die der Ausgangsbehörde unmittelbar und
weisungsbefugt übergeordnet ist. Im dreistufi gen Verwaltungsaufbau des Bundes und der großen Flächenländer
sind das im Bereich der allgemeinen inneren Verwaltung die Behörden der Mittelstufe bzw. die Ministerien als
oberste Landesbehörden (Oberstufe).
8.1.2 Ausnahmen:
8.1.2.1 Zuständigkeit der Ausgangsbehörde (§ 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO): Abweichend von Nr. 1 entschei-
det die Ausgangsbehörde selbst, wenn die nächsthöhere Behörde eine oberste Bundes- oder Landes-
behörde ist. Damit sollen Staatskanzleien und Ministerien entlastet werden.
8.1.2.2 Die Ausgangsbehörde hat in Selbstverwaltungsangelegenheiten entschieden (§ 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3
VwGO). Dann gibt es keine nächsthöhere Behörde, da es sich um weisungsfreie Aufgaben des eigenen
Wirkungskreises handelt (vgl. § 2 Abs. 1 GemO RhPf; § 2 Abs. 1 LKrO RhPf).
8.2 Im übrigen sind die Länder ermächtigt, abweichende Regelungen zu erlassen. Von der Ermächtigung haben die
Länder zum Teil Gebrauch gemacht (vgl. § 6 AGVwGO RhPf).
8.3 Schließlich sind vorrangige spezialgesetzliche Regelungen zu beachten, z.B. § 126 Abs. 3 Nr. 2 BRRG, § 126 GemO
RhPf.
9. Zulässigkeit des Widerspruchs
9.1 Auslegung des Rechtsbehelfsbegehrens
Wie die Klage ist der Widerspruch nicht schon allein deswegen erfolgreich, weil er in der Sache begründet ist. Er muss darüber
hinaus auch verfahrensrechtlich (prozessual) zulässig sein. Die damit angesprochenen Sachentscheidungsvoraussetzungen
gelten allerdings nicht für formlose Rechtsbehelfe (Gegenvorstellung, Dienst-, Fachaufsichtsbeschwerde). Da andererseits an
die Widerspruchsschrift kaum inhaltliche Anforderungen gestellt werden, kann es im Einzelfall unklar sein, welchen Rechtsbehelf
der Bürger einlegen will.
Dann müssen Art des Rechtsbehelfs und Umfang des Antrags (z.B. ob nicht lediglich Teilanfechtung) durch Rückfrage bei dem
Betroffenen ermittelt werden. Ist eine solche Kontaktnahme nicht oder kaum möglich, muss das Rechtsbehelfsbegehren im
Wege der sach- und interessengerechten Auslegung ermittelt werden (§§ 133, 157 BGB).

Als Faustregel mag dann gelten: Wendet sich der Bürger gegen einen VA und sind Frist und Form des § 70 VwGO gewahrt,
dann ist von dem für ihn günstigsten Rechtsbehelf auszugehen. Das ist wegen § 80 Abs. 1 VwGO und der nachfolgenden
Klagemöglichkeit der Widerspruch.
9.2 Die einzelnen Sachentscheidungsvoraussetzungen
Die Zulässigkeit des Widerspruchs müssen Abhilfe- bzw. Widerspruchsbehörde vor der Begründetheit prüfen. Die dabei zu
beachtenden Punkte wurden zum Teil schon erörtert.
An dieser Stelle sollen die wichtigsten, in der Praxis relevanten Voraussetzungen zusammenfassend dargestellt werden. Sie
werden jedoch – soweit nicht ohnehin schon eingehend erläutert – nur kurz besprochen. Das gilt insbesondere für jene Erfordernisse,
die (wie z.B. §§ 40 Abs. 1, 61, 62 VwGO) nicht nur speziell für das VV gelten.
9.2.1 Der Verwaltungsrechtsweg muss gegeben sein (Vgl. Wegbeschreibung VS 3). Es empfi ehlt sich hierbei folgende
Prüfungsfolge:
n Gibt es eine Rechtsvorschrift, die die konkrete Streitigkeit den allgemeinen Verwaltungsgerichten ausdrücklich zur
Entscheidung zuweist (z. B. § 126 BRRG) ? = sog. aufdrängende Sonderzuweisung.
Anmerkung: Gibt es eine spezialgesetzliche Zuweisungsnorm, so erübrigt sich die Prüfung des § 40 Abs. 1 VwGO.
n Existiert eine spezielle Zuweisungsbestimmung nicht, so ist § 40 Abs. 1 VwGO als verwaltungsgerichtliche Generalklausel
analog zu prüfen:
n Es muss eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne einer verwaltungsgerichtlichen Streitigkeit gegeben sein.
n Negativ: Die Streitigkeit darf nicht verfassungsrechtlicher Art sein.
Anmerkung: Verfassungsrechtliche Streitigkeiten kommen zu den Verfassungsgerichten.
(Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichte der Länder)
n Die Streitigkeit darf nicht durch Bundes- oder Landesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen
sein (z. B. § 40 Abs. 2 VwGO, § 33 FGO, § 217 BauGB, § 51 SGG, Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG, Art. 34 Satz 3
GG, § 23 EGGVG) = sog. abdrängende Sonderzuweisung
9.2.2 Der Widerspruch muß statthaft sein (vgl. § 68 i.V.m. § 42 Abs. 1 VwGO).
Es ist hierbei zwischen dem Anfechtungs- und dem Verpfl ichtungswiderspruch zu unterscheiden.
a) Ein Anfechtungswiderspruch liegt vor, wenn der Widerspruchsführer die Aufhebung eines Verwaltungsaktes im
Sinne des § 35 VwVfG begehrt (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 1 Alternative 1 VwGO).
Beachte: Der VA muss nach § 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG äußerlich wirksam (existent) geworden sein.
b) Ein Verpfl ichtungswiderspruch ist gegeben, wenn der Widerspruchsführer den Erlass eines beantragten von der
Behörde aber abgelehnten VA begehrt (vgl. § 68 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 1 Alternative 2 VwGO).
9.2.3 Der Widerspruchsführer muss nach § 42 Abs. 2 VwGO analog widerspruchsbefugt sein. Das ist der Fall, wenn der
Widerspruchsführer geltend machen kann, durch den VA oder seine Ablehnung in seinen Rechten verletzt zu sein.
Beachte: Die Rechtsverletzung muss schlüssig vorgetragen werden, d.h. bei Unterstellung der Richtigkeit der Ausführungen
des Widerspruchsführers muss eine Rechtsverletzung vorliegen.
Unter Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO sind nur subjektive öffentliche – nicht private – Rechtspositionen zu
verstehen. Die wichtigste Gruppe der subj. öff. Rechte bilden die Grundrechte der Artikel 1 bis 19 GG.
Rechte nach § 42 Abs. 2 VwGO sind daneben alle sich aus öffentlich-rechtlichen Rechtsnormen herleitende rechtlich
geschützte Interessen. Man bezeichnet Rechtsnormen, die derartige Rechtspositionen gewähren, als Schutzbereichsnormen.
Nicht zu den Rechten im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO gehören bloße Rechtsrefl exe. Dies sind Refl exauswirkungen
von Rechten, die nicht im Individualinteresse, sondern ausschließlich oder überwiegend im Interesse der Allgemeinheit
erlassen worden sind.
Die Widerspruchsbefugnis kann unter Heranziehung folgender Theorien gelöst werden:
n Der Adressatentheorie. Danach ist widerspruchsbefugt, wer Adressat eines belastenden VA ist. Hinter der Adressatentheorie
steht das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Artikel 2 Abs. 1 GG. Es besteht die
Vermutung, dass derjenige, der Adressat eines belastenden (Eingriffs-) VA ist, in seinem allgemeinen Freiheitsrecht
eingeschränkt wird.
n Der Möglichkeits- oder Wahrscheinlichkeitstheorie. Nach dieser Theorie ist widerspruchsbefugt, wer schlüssig
geltend machen kann, durch einen VA oder dessen Ablehnung möglicherweise in seinen subjektiven öffentlichen
Rechten oder rechtlich geschützten Interessen betroffen zu sein. Eine solche Rechtsverletzung ist nicht gegeben,
wenn sie bei vernünftiger Betrachtung als ausgeschlossen erscheint.
9.2.4 Der Widerspruch muss innerhalb der vorgeschriebenen Fristen eingelegt werden.
Es sind drei Fristengruppen zu unterscheiden:
a) Die Monatsfrist nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Sie beginnt, wenn dem VA oder der Ablehnungsentscheidung
eine ordnungsgemäße Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt war, mit der Bekanntgabe des VA oder der Ablehnungs-
entscheidung. Die Fristberechnung erfolgt gemäß § 79 VwVfG nach § 31 Abs. 1 VwVfG i.V.m. den §§ 187 ff.
BGB, soweit nicht die Absätze 2 bis 5 des § 31 VwVfG etwas anderes bestimmen.

Nach § 187 BGB bleibt bei der Berechnung der Frist der Tag der Bekanntgabe außer Betracht. Nach § 188 Abs. 2
Alternative 1 BGB endet die Monatsfrist aber mit Ablauf desjenigen Tages des letzten Monats, welcher durch seine
Benennung oder seine Zahl dem Tage entspricht, in den das Bekanntgabeereignis fällt.
Beachte: Fristauslösendes Ereignis ist die Bekanntgabe des VA oder der Ablehnungsentscheidung. Die Bestimmung
des Fristendes – nur diese Frage ist bei der Lösung eines praktischen Falles relevant – knüpft an den Bekanntgabezeitpunkt
an.
Fehlt bei einer nach Monaten bestimmten Frist in dem letzten Monat der für ihren Ablauf maßgebende Tag, so
endigt die Frist nach § 188 Abs. 3 BGB mit dem Ablauf des letzten Tages dieses Monats. Fällt das Ende der Frist auf
einen Sonnabend, Sonntag oder Feiertag, so tritt an die Stelle dieses Tages der nächste Werktag (§ 193 BGB).
Beispiel: Bekanntgabe des belastenden VAs am Mittwoch, den 3. September 2003.
Frist beginnt somit am Donnerstag, den 4. September 2003
Monatsfrist endet am Freitag, den 3. Oktober 2003
Aber: 3. Oktober 2003 = gesetzlicher Feiertag
4. Oktober 2003 = Sonnabend
5. Oktober 2003 = Sonntag
Ergebnis: Monatsfrist endet am Montag, 6. Oktober 2003, 24.00 Uhr
b) Die Jahresfrist nach § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO. Sie kommt in Betracht, wenn dem VA oder der
Ablehnung eine Rechtsbehelfsbelehrung nicht beigefügt worden war oder wenn diese zwar erteilt, aber unrichtig ist.
Nach § 58 VwGO beginnt in einem solchen Falle die Rechtsbehelfsfrist nicht zu laufen. Gleichwohl knüpft § 58 Abs.
2 Satz 1 VwGO für die Berechnung der Jahresfrist an die Zustellung, Eröffnung oder Verkündung des VA oder der
Ablehnung an, so dass insofern das gleiche gilt wie bei der Berechnung der Monatsfrist.
Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist unrichtig, wenn sie
n den Anforderungen des § 58 Abs. 1 VwGO nicht genügt oder
n zwar die Mindesterfordernisse des § 58 Abs. 2 VwGO enthält, aber Zusätze enthält, die sich nach objektiver
Betrachtung für Widerspruchsführer generell beschwerend auswirken können.
Beachte: Unerheblich ist, ob sich der konkrete Widerspruchsführer beschwert fühlt.
c) Kein Fristenlauf fi ndet in folgenden Fällen statt:
n Eine Frist beginnt dem jeweiligen Beschwerdeführer (Widerspruchsführer) gegenüber grundsätzlich solange nicht
zu laufen, wie ihm der VA oder die Ablehnung nicht oder nicht wirksam bekannt gegeben worden ist. Die Bekanntgabe
kann durch Zustellung, Eröffnung, Verkündung oder in anderer Weise erfolgen, es sei denn, kraft
Gesetzes ist eine förmliche Bekanntgabeform vorgeschrieben.
n Die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO läuft solange nicht ab, als die Einlegung des Widerspruchs vor Ablauf der
Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Nach Ende der höheren Gewalt räumt § 58 Abs. 2 Satz 2 VwGO
i.V.m. § 60 Abs. 2 VwGO dem Betroffenen eine Nachfrist (Überlegungsfrist) von zwei Wochen ein. Für die Berechnung
dieser Zweiwochenfrist gelten die für die Monatsfrist dargelegten Gesichtspunkte.
n Die Jahresfrist läuft ferner nicht ab, wenn dem Beschwerten zwar eine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung erteilt
worden ist, diese ihrem Inhalt nach aber dahingehend ist, dass ein Rechtsbehelf nicht gegeben sei (vgl. § 58 Abs.
2 VwGO).
Beachte: Ob ein solcher (qualifi ziert unrichtiger) Rechtsbehelf vorliegt, ist durch Auslegung der Rechtsbehelfsbelehrung
zu ermitteln.
Ist ein Fall der Fristversäumung gegeben, so ist in einem praktischen Fall stets zu prüfen, ob nicht eine Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand nach § 70 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 60 VwGO in Betracht kommt, wenn Anhaltspunkte
dafür gegeben sind.
9.2.5 Nach § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist der Widerspruch schriftlich oder zur Niederschrift zu erheben (Form).
9.2.6 Der Widerspruch ist nach § 70 Abs. 1 Sätze 1 und 2 VwGO bei der richtigen Behörde einzulegen. Richtige Einlegungsbehörde
ist die Behörde, die den VA erlassen hat oder die den Antrag auf Vornahme des VA abgelehnt hat
(erlassende Behörde). Darüber hinaus kann der Widerspruch nach § 70 Abs. 1 Satz 2 VwGO auch bei der Behörde
eingelegt werden, die den Widerspruchsbescheid zu erlassen hat (Widerspruchsbehörde).
Welche Behörden Widerspruchsbehörden sind, ergibt sich aus § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 VwGO i.V.m. dem
AGVwGO oder aus Spezialgesetz (vgl. Nr. 8).
9.2.7 Der Widerspruchsführer muss rechtsschutzbedürftig sein (Rechtsschutzinteresse).
Das Rechtsschutzbedürfnis ist ausdrücklich nicht geregelt. Es ist eine allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung, die sich
aus dem allgemeinen Rechtsschutzgewährleistungsrecht des Artikels 19 Abs. 4 GG ergibt. Es handelt sich hierbei um
eine sogenannte negative Zulässigkeitsvoraussetzung, d.h. das Rechtsschutzinteresse des Widerspruchsführers wird
grundsätzlich als gegeben vermutet. Eine Prüfung dieser Frage ist daher nur notwendig, wenn sich Anhaltspunkte
ergeben, die darauf hindeuten, dass das Rechtsschutzbedürfnis fehlen könnte. Das Rechtsschutzinteresse fehlt nur,
wenn es für den Widerspruchsführer einen schnelleren, billigeren oder effektiveren Rechtsschutz gibt oder wenn der
Rechtsbehelfsführer den ihm zustehenden Rechtsschutz offensichtlich missbraucht (Rechtsmissbrauch).

9.2.8. Der Widerspruchsführer muss ferner die Beteiligungsfähigkeit besitzen. Nach § 11 VwVfG, der über § 79 VwVfG
anwendbar ist, sind beteiligungsfähig:
n natürliche und juristische Personen,
n Vereinigungen, aber nur, soweit ihnen sein subjektiv-öffentliches Recht oder rechtlich geschütztes Interesse
zustehen kann und
n Behörden.
Merke: Die Beteiligungsfähigkeit entspricht weitgehend der Rechtsfähigkeit, d.h. wer ganz oder teilweise rechtsfähig
ist, ist auch beteiligungsfähig.
9.2.9 Der Widerspruchsführer muss sodann handlungsfähig sein (§ 79 VwVfG i.V.m. § 12 VwVfG).
10. Begründetheit des Widerspruchs
10.1 Maßstäbe für die Begründetheit
Sie ergeben sich aus analoger Anwendung des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO (beim Anfechtungswiderspruch) oder des
§ 113 Abs. 5 Satz 1 (beim Verpfl ichtungswiderspruch). Daraus folgt: Der Widerspruch ist i.S.d. § 72 begründet,
a) soweit der angefochtene VA – bzw. die Ablehnung des beantragten VA – rechtswidrig ist und den Wf in seinen
Rechten verletzt;
b) im Bereich der Ermessensverwaltung auch dann, wenn die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind
oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht
wurde und der WF insofern in seinen Rechten verletzt ist. Stellt die Widerspruchsbehörde einen Ermessensfehler
fest, so kann sie diesen Fehler durch eigene Ermessensentscheidungen beseitigen. Sie kann den Beurteilungsfehler
der Erlassbehörde durch eine eigene, fehlerfreie Beurteilung heilen. Sie kann ihr Ermessen an die Stelle des Ermessens
der Erlassbehörde setzen mit der Folge, dass letztlich nur noch ihre Ermessenserwägung maßgeblich ist
(BVerwG, Urteil vom 17.5.83, 1 C 163.80, NVWZ 84, 111). In diesem Fall wäre der Widerspruch dann unbegründet.
Dies gilt allerdings nicht, wenn dies gesetzlich ausgeschlossen ist, so zum Beispiel, wenn der VA von einer
kommunalen Gebietskörperschaft oder einer der Aufsicht einer solchen Gebietskörperschaft unterstehenden
Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts in einer Selbstverwaltungsangelegenheit erlassen
wurde (§ 6 Abs. 2 AGVWGO RhPf). In diesem Fall beschränkt sich die Prüfung durch die Widerspruchsbehörde
nur auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung. Andernfalls würde dies zu einer Beschränkung des Selbstverwaltungsrechts
führen (Ausnahme: Erlassbehörde und Widerspruchsbehörde sind identisch).
10.1.1 Rechtswidrig ist ein VA, wenn das im Zeitpunkt seines Erlasses geltende Recht unrichtig angewandt wurde oder
wenn die Entscheidung von einem unrichtigen Sachverhalt ausgeht. Dabei sind die Heilungsmöglichkeiten des § 45
VwVfG zu beachten!
10.1.2 Maßgebend für die Beurteilung der Begründetheit ist i.d.R. die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des
Widerspruchsbescheides (BVerwG, Urteil vom 3.4.87, 4 C 30.85, NVWZ 88, 250). Tatsächliche oder rechtliche
Änderungen, die während des VV eintreten, sind deshalb von der Widerspruchsbehörde grundsätzlich zu berück-
sichtigen.
10.2 Umfang der Prüfungsbefugnis
Die Kontrollbefugnis der Widerspruchsbehörde geht – dem Zweck des VV entsprechend – weiter als die der Verwaltungsgerichte.
Anders als der Richter kann die Widerspruchsbehörde (abgesehen von Selbstverwaltungsangelegenheiten) die Ermessenserwägungen
der Ausgangsbehörde uneingeschränkt nachprüfen und ggf. durch eigene Überlegungen ersetzen.
Demgemäß kann die Ausgangsbehörde während des VV auch beliebig neue Gründe für ihre Entscheidung nennen, ohne den
Beschränkungen zu unterliegen, die an sich für das „Nachschieben von Gründen“ bestehen.
Schließlich kann und muss die Widerspruchsbehörde den streitigen VA unter allen relevanten Gesichtspunkten überprüfen.
Sie ist nicht etwa auf die Gründe beschränkt, die von der Ausgangsbehörde herangezogen wurden.
Das vorliegende Faltblatt ist Teil einer Loseblattsammlung, die laufend ergänzt wird. Die systematische Übersicht und weitere Faltblätter erhalten Sie auf Anfrage.
Stand: April 2007