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INFO: ZUR DISKUSSION<br />
Jugendgewalt weltweit: Fünf Unterschiede<br />
Trotz vieler Gemeinsamkeiten<br />
gibt es fünf grundlegende<br />
Unterschiede<br />
zwischen Jugendgewalt<br />
in der „Ersten“ und der<br />
„Dritten“ <strong>Welt</strong>.<br />
1. Die typischen Formen und<br />
Muster von Jugendgewalt<br />
unterscheiden sich in den entwickelten<br />
Industrieländern und<br />
den Entwicklungsländern in<br />
einigen Aspekten stark voneinander.<br />
Das betrifft zunächst<br />
<strong>die</strong> Typen von Gewalt selbst:<br />
Während alltägliche Gewalt,<br />
Kleinkriminalität, auch Jugendgangs<br />
und Bandenwesen<br />
wahrscheinlich Phänomene<br />
sind, <strong>die</strong> in unterschiedlichem<br />
Maße überall auf der <strong>Welt</strong><br />
anzutreffen sind, so ist z. B.<br />
der Einsatz von Kindersoldaten<br />
wesentlich ein Spezifikum von<br />
Bürgerkriegssituationen<br />
(Afrika, aber v. a. auch Birma).<br />
Sodann betrifft er auch <strong>die</strong> Art<br />
der Gewalt gegen Kinder und<br />
Jugendliche: Kinderarbeit,<br />
Kinderhandel und sexuelle<br />
Ausbeutung von Jugendlichen<br />
und Kindern sind in Westeuropa<br />
und Nordamerika<br />
zumindest offiziell gebannt<br />
oder sie unterliegen strengen<br />
gesetzlichen (Ausnahme-)<br />
Regelungen. Dies ist z. B. in<br />
weiten Teilen der Dritten <strong>Welt</strong><br />
nicht der Fall, der Einsatz von<br />
Kindern zur Erzielung von<br />
Familieneinkommen ist allgegenwärtig.<br />
Kulturell co<strong>die</strong>rte<br />
Formen der Gewalt wie Female<br />
Genital Mutilation (FGM) finden<br />
sich nur noch im subsaharischen<br />
Afrika; Ehrenmorde,<br />
wie sie in der arabischen <strong>Welt</strong><br />
vorkommen, gehören hierzulande<br />
seit langem der Vergangenheit<br />
an. Man ist also gut<br />
beraten, angesichts eines weiten<br />
Überschneidungsbereichs<br />
auf dem Feld der Jugendgewalt<br />
nicht den Blick <strong>für</strong> <strong>die</strong><br />
Unterschiede und Differenzen<br />
zu verlieren.<br />
2. Aus den unterschiedlichen<br />
Entwicklungsniveaus der<br />
Gesellschaften und ihrer sozioökonomischen<br />
Verfasstheit<br />
ergeben sich beträchtliche<br />
Unterschiede im Hinblick auf<br />
<strong>die</strong> Ursachen und Hintergründe<br />
von Gewalt. Faktoren<br />
wie <strong>die</strong> große soziale Ungleichheit,<br />
relative Deprivation,<br />
Armut, strukturelle Heterogenität<br />
und daraus resultierende<br />
sozialstrukturelle Verwerfungen<br />
(Marginalisierung,<br />
Exklusion) sind als Erklärungsmuster<br />
<strong>für</strong> Gewalt weit höher<br />
einzuschätzen als in den entwickelten<br />
Industrieländern, da<br />
sich aus ihnen strukturelle und<br />
v. a. dysfunktionale Benachteiligungen<br />
ergeben, <strong>die</strong> lebensweltlich<br />
als soziale Ungerechtigkeit<br />
erfahren werden.<br />
Gefühle sozialer Ungerechtigkeit<br />
sind jedoch überall auf der<br />
<strong>Welt</strong> das Movens <strong>für</strong> soziale<br />
Kämpfe und Konflikte. Nicht<br />
umsonst ist im Kontinent mit<br />
der größten sozialen Ungleichheit<br />
– Lateinamerika – zugleich<br />
auch in seiner Geschichte das<br />
Gewaltpotenzial am höchsten.<br />
3. In den meisten Ländern der<br />
Dritten <strong>Welt</strong> bestehen vollkommen<br />
unterschiedliche<br />
Handlungskontexte und<br />
Umwelten <strong>für</strong> Gewalt. Zum<br />
einen ist Gewalt als Handlungsmodus<br />
vielfach weniger<br />
geächtet als in den entwickelten<br />
Industrieländern und deshalb<br />
viel präsenter im öffentlichen<br />
Raum. Zum anderen lassen<br />
kulturelle Normierungen<br />
sie in vielen Fällen nicht als das<br />
erscheinen, was sie eigentlich<br />
ist, nämlich als Gewalt. Schließlich<br />
sind vielerorts <strong>die</strong> sozialen<br />
Verhältnisse durch <strong>die</strong> allgemeine<br />
Verfügbarkeit von Waffen<br />
und entsprechende Begleitideologien<br />
im Hinblick auf<br />
deren Benutzung sehr viel<br />
unfriedlicher. Last but not<br />
least haben sich in einigen Ländern<br />
regelrechte Gewaltkulturen<br />
heraus gebildet, in<br />
denen der Einsatz von Gewalt<br />
als mehr oder weniger normal<br />
oder unausweichlich hingenommen<br />
wird. Es gilt also<br />
immer auch nach den spezifischen<br />
Kontexten zu fragen,<br />
wenn es darum geht, <strong>die</strong><br />
Gewalt von Jugendlichen zu<br />
verstehen.<br />
4. Die meisten Entwicklungsländer<br />
haben nicht solche<br />
Grade an Zivilität erreicht wie<br />
etwa <strong>die</strong> westeuropäischen<br />
Länder. Durch <strong>die</strong> Art ihrer<br />
Geschichte mit Eroberung,<br />
Ausbeutung und Kolonialismus<br />
und den daraus resultierenden<br />
deformierten Staatsbildungsprozessen<br />
ist es vielerorts<br />
nicht zu einer flächendeckenden<br />
Durchsetzung des staatlichen<br />
Gewaltmonopols<br />
gekommen. Durch <strong>die</strong> fragmentierte<br />
Staatlichkeit, deren<br />
Reichweite sich häufig lediglich<br />
auf begrenzte Gebiete des<br />
nationalen Territoriums<br />
erstreckte, hatten lokale oder<br />
regionale Herrscher eine relativ<br />
starke Stellung. Parastaatliche<br />
Parallelordnungen und<br />
unklare Rechtsräume waren<br />
<strong>die</strong> Folge.<br />
Auch <strong>die</strong> Durchgriffsbefugnisse<br />
und Durchgriffsmöglichkeiten<br />
seitens des Staates auf<br />
Gewaltakteure waren vielerorts<br />
begrenzt, da ihm nicht nur<br />
effektiv <strong>die</strong> Mittel dazu fehlen,<br />
Staatlichkeit überall zu<br />
gewährleisten, sondern er<br />
auch nicht <strong>für</strong> den ausreichenden<br />
Schutz seiner Bürger<br />
sorgen kann. Unter den Bedingungen<br />
fragiler Staatlichkeit<br />
oder angesichts zerfallender<br />
Staaten verliert der Staat als<br />
Zentralinstanz schnell seine<br />
Legitimität und es entstehen<br />
Gewaltordnungen, <strong>die</strong> nach<br />
eigenen Gesetzen funktionieren<br />
und sich als überaus<br />
lebensfähig heraus gestellt<br />
haben.<br />
5. Der Einsatz von Gewalt zeitigt<br />
in vielen Entwicklungsländern<br />
dramatischere Folgen als<br />
in den hochindustrialisierten<br />
Staaten. Häufig wird hier<br />
Gewalt rücksichtsloser, brutaler<br />
und unkontrollierter eingesetzt<br />
als dort. Der Gewalteinsatz<br />
wirkt in besonderem<br />
Maße unproportional, weil<br />
man bereits <strong>für</strong> vergleichsweise<br />
kleine Ziele bereit ist,<br />
Menschenleben in Kauf zu<br />
nehmen. Häufig entsteht<br />
zudem durch <strong>die</strong> Art der<br />
Gewalt der Eindruck, dass ein<br />
Menschenleben insgesamt<br />
wenig zählt.<br />
Dies trifft im übrigen auch<br />
auf den Einsatz staatlicher<br />
Gewalt – sei sie legitim oder<br />
illegitim – zu. Insbesondere in<br />
den vielen Diktaturen und<br />
Gewaltherrschaften zeichnen<br />
sich <strong>die</strong> Staaten durch eine<br />
besondere Rücksichtslosigkeit<br />
gegenüber realen oder perzipierten<br />
Feinden aus. Da es<br />
zudem kaum Programme <strong>für</strong><br />
<strong>die</strong> Opfer von Gewalt oder <strong>die</strong><br />
Reintegration von Gewalttätern<br />
gibt, belasten <strong>die</strong><br />
Gewalterfahrungen in der<br />
Regel in hohem Maße das<br />
zukünftige Zusammenleben<br />
der Menschen.<br />
Peter Imbusch: Jugendgewalt<br />
in Entwicklungsländern. GTZ,<br />
Eschborn 2008, S. 26 ff.<br />
„<strong>Brot</strong> <strong>für</strong> <strong>die</strong> <strong>Welt</strong>“ • Global Lernen, 20081<br />
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