Stückauszug «Als meine Mutter eine Tochter war » von Ivna Zic ...
Stückauszug «Als meine Mutter eine Tochter war » von Ivna Zic ...
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<strong>Stückauszug</strong> <strong>«Als</strong> <strong>m<strong>eine</strong></strong> <strong>Mutter</strong> <strong>eine</strong> <strong>Tochter</strong> <strong>war</strong> <strong>»</strong> <strong>von</strong> <strong>Ivna</strong> <strong>Zic</strong><br />
EIN CHOR<br />
Weil wir schön sind<br />
Weil wir jung sind<br />
Weil wir uns nicht kennen und trotzdem verglichen werden<br />
Weil wir gutes Geld verdienen<br />
Weil wir uns gekonnt ausdrücken<br />
Weil wir die besten Voraussetzungen mit uns bringen<br />
Sowie <strong>eine</strong>n globalen Erkenntniswert<br />
Weil wir mindestens zwei Sprachen sprechen, anderen Kulturen gegenüber offen,<br />
tolerant, verständnisvoll, interessiert sind<br />
Weil wir grösstenteils akademisch, manchmal kreativ, meistens politisch und selten<br />
rechts sind<br />
Weil wir es geschafft haben<br />
Weil wir Deutschland sind<br />
Weil wir euer Erfolgserlebnis sind<br />
Weil wir Vorzeigemenschen sind<br />
Weil wir gut gelungen sind<br />
Weil wir der neue Schick sind<br />
Weil wir Quote sind<br />
Weil man es nicht hört<br />
Weil man es fast nicht sieht<br />
Weil man es nicht bemerkt<br />
Weil wir uns anpassen und trotzdem individuell bleiben<br />
Weil wir schnell, schön und klug sind<br />
mehrsprachig, tolerant, verständnisvoll, interessiert, zivilisiert und qualifiziert<br />
Weil wir über Ausländer lästern dürfen<br />
Über die schlecht integrierten, die gewalttätigen<br />
Vor allem über jene, die kein Deutsch gelernt haben<br />
Und manchmal sogar über die Abgeschobenen<br />
Weil wir es geschafft haben<br />
Auch wir kommen auch aus <strong>eine</strong>m Krisengebiet
Auch wir kommen auch aus der Armut<br />
Auch wir kennen den Sozialismus<br />
Oder die Diktatur<br />
ENA 1 Mir nicht.<br />
EIN CHOR<br />
Auch uns hätte <strong>eine</strong> Bombe auf den Kopf fallen können!<br />
Auch wir wären fast mal verhungert hinter dem Eisernen Vorhang<br />
ENA 1 ICH NICHT!<br />
Pause.<br />
ENA 1 Uns allen hätte k<strong>eine</strong> Bombe auf den Kopf fallen können. Wir <strong>war</strong>en gar nicht da.<br />
Wir kennen das nur aus dem Fernseher oder aus den Ferien: Sommerferien,<br />
Weihnachtsferien und Herbstferien. Wir <strong>war</strong>en 3 oder höchstens 5 Jahre alt. Wir<br />
haben nicht dort, sondern hier begonnen. Wir haben es gern getan, wir haben es<br />
nicht für eure Statistik getan, ehrlich gesagt haben wir nicht gewusst, dass wir Teil<br />
<strong>eine</strong>r Statistik sind, ehrlich gesagt hat mich k<strong>eine</strong>r gefragt, ehrlich gesagt wollte ich<br />
mich einfach zu Recht finden, <strong>eine</strong>n Platz finden, so etwas wie Zuhause finden.<br />
Mein Name ist Ena Ščukanec. Herkunft ist <strong>eine</strong> Sprache, die ich spreche, aber ein<br />
Land, in dem ich nie gewohnt habe, Zukunft ist -<br />
***<br />
ENA 1 Wären Enas Eltern nicht nach Deutschland gezogen, hätte sie im Alter <strong>von</strong> 4 Jahren<br />
<strong>eine</strong>n Krieg erlebt. Sie wäre bestimmt einige Male im Keller ihres Plattenbaus in<br />
<strong>eine</strong>m eigentlich ruhigen Viertel am Rand der Stadt gelandet. Sie würde wissen,<br />
wie Bombenangriffe klingen und wie Granatsplitter aussehen.<br />
ENA 2 Sie hätte ihre Grundschulzeit in <strong>eine</strong>r Klasse mit etwa 40 Kindern verbracht und ab<br />
der 6. Klasse Deutsch als Fremdsprache gelernt.<br />
ENA 3 Sie hätte ziemlich sicher mit 14 schon geraucht.<br />
ENA 2 Sie hätte jeden Sonntag nach der Messe bei ihrer Grossmutter, die nur drei Strassen<br />
weiter gewohnt hätte, zu Mittag gegessen.<br />
ENA 1 Und diese Grossmutter hätte nach der Schule oft auf ihre Schwester und sie<br />
aufgepasst und mit ihnen die Hausaufgaben gemacht.<br />
ENA 3 Anstatt <strong>eine</strong>s Austauschjahres in Amerika hätte sie mit 16 ihren ersten Freund<br />
gehabt und angefangen, jeden Tag mit ihren Freundinnen und ihrem neuen Freund<br />
im Viertel in den Café rumzuhängen.
ENA 2 Sie hätte sich nie die Frage gestellt, in welcher Sprache sie eigentlich träumt.<br />
ENA 3 Sie hätte nie darüber nachgedacht, was der Begriff „Heimat“ für sie bedeutet.<br />
ENA 1 Sie hätte nach dem Abi sofort ein Studium angefangen. Zwischenjahre sind Dort<br />
unbekannt.<br />
ENA 3 Sie hätte Deutsch als Fremdsprache studiert.<br />
ENA 2 Sie hätte Englische Literatur in Kombination mit Geschichte studiert.<br />
ENA 1 Danach wäre sie Lehrerin an <strong>eine</strong>m Gymnasium geworden.<br />
ENA 3 Die ökonomische Lage ist eindeutig zu schlecht für künstlerische Berufe.<br />
ENA 1 Die Menschen sind pragmatischer.<br />
ENA 2 Und doch irgendwie melancholischer.<br />
ENA 3 Sie würde mit 25 Jahren immer noch zuhause wohnen<br />
ENA 1 und <strong>von</strong> der <strong>Mutter</strong> vorgekochtes Essen in den Skiurlaub nach Frankreich<br />
mitnehmen.<br />
ENA 3 Wahrscheinlich würde sie demnächst heiraten. Bisher wäre sie auf mindestens drei<br />
Hochzeiten ihrer alten Schulfreunde gewesen.<br />
ENA 2 Heute Abend würde sie wahrscheinlich mit ihren Freunden aus dem Viertel in der<br />
Kneipe um die Ecke sitzen, beim dicken Stjepan, billigen Weisswein trinken und<br />
den Sommer an der Küste planen. Sie würden sich jeden Abend dort treffen und es<br />
wäre ihnen nie langweilig.<br />
ENA 3 Ihr Sohn würde Hrvoje heissen. Oder Franjo.<br />
ENA 2 Weil wir das nicht kennen.<br />
ENA 3 Mein Sohn wird Hannes heissen.<br />
ENA 2 Weil Erinnern nichts bringt.<br />
ENA 1 Wenn du dich hättest entscheiden können, wie hättest du gewählt?<br />
ENA 3 Und am liebsten noch Müller.<br />
ENA 1 Wenn du stolz sein müsstest, auch welches Land wäre das?