Oscar Niemeyer - MIR @ mirage by matthias thelen
Oscar Niemeyer - MIR @ mirage by matthias thelen
Oscar Niemeyer - MIR @ mirage by matthias thelen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Niemeyer</strong> und seiner Architektur ein weiterführender Erkenntnisgewinn? Oder<br />
trübe ich durch ein solches Unternehmen nicht meinen Blick? „Der Splitter in<br />
deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas“ 17 , klingt mir beim Kauen<br />
dieser Fragen eine philosophische Sentenz in den Ohren und gesteht mir zu,<br />
dem Anspruch einer allgemein gültigen Kritik nicht zwingend Genüge tun zu<br />
müssen. So vernachlässige ich bewusst die Methoden und Klassifizierungen<br />
wissenschaftlicher Theorie, hoffe durch eine -wenn auch prekäre- emphatische<br />
Seismographie an die Gründe zu rühren, welche jedem und damit auch einem<br />
architektonischen Schaffen vorgängig sind. Ins Ausschlagen geraten meine<br />
Sensoren, überdenke ich den Stellenwert von Eros -des allgemeinen Lebenstrieb-<br />
und Thanatos -des Todestriebs- in „Leben“ und Denken, <strong>Niemeyer</strong>s und<br />
Fabers. Dieser irritiert durch eine technokratische Sterilität, eine a-erotische,<br />
maskuline Frigidität, Eigenschaften, die in ihm zur literarisch-figürlichen<br />
Zuspitzung kulminieren. Max Frisch -selbst Dipl. Ing. Architektur- hat diese<br />
Züge dem Ingenieur Faber gewiss berufsbedingt zugerichtet, aber „[...] sicher<br />
hat auch unsereiner, ohne es zu merken, eine déformation professionelle.“ 18 . Die<br />
Frage nach derlei Gestimmtheit berührt ein Allgemeines, betrifft in unterschiedlichen<br />
Graden, jenseits von Beruf und Berufung Einzelner, das Gros moderner<br />
Gesellschaften und geht uns damit, jenseits fachspezifischer Diskurse, alle an.<br />
Wir sind betroffen und wir erleben dies durch unser eigenes nach Maßgabe der<br />
planlosen Pläne unserer Welt strukturiert und texturiert Sein. Im Falle <strong>Oscar</strong><br />
<strong>Niemeyer</strong>s erstaunen daher weniger seine Entwürfe und Bauten. Verblüffend<br />
erscheint seine persönliche Tektonik, sein Verhältnis zu den Höhen und Tiefen<br />
des Lebens, seine vermeintliche Unberührtheit vom „beschädigten Leben“.<br />
Diese hier eingestandene Verwunderung markiert den wesentlichen Impuls zu<br />
meinen Überlegungen. Den Architekturen <strong>Niemeyer</strong>s wurde in den Jahren<br />
anerkennend oder verurteilend ausgiebig Aufmerksamkeit geschenkt. Brasilia<br />
etwa, feierte man hier emphatisch als wegweisend für ein demokratisches Bauen,<br />
dort verpönte man die Planstadt als „Strafkolonie im Niemandsland“, als<br />
„missratenes Retorten-Ba<strong>by</strong>.“ 19 Es läge nahe, an diese Diskursfäden<br />
anzuknüpfen, das Für und Wider von Raumqualität, funktionaler Entmischung,<br />
der autogerechten Stadt, und dergleichen weiter zu erörtern. Mir gerieten<br />
jedoch durch die Wahl und Art meiner Lektüren andere Aspekte in den Fokus<br />
meiner Erwägungen. Im Hinblick auf Brasilia fällt mir etwa ein Augenzeugenbericht<br />
des Anthropologen Claude Lévi-Strauss aus den 1930ern ins Auge, eine<br />
kurze Darstellung der Stadtgründung Goiânias, der Hauptstadt des Bundesstaates<br />
Goiás, etwa 200 km vom Standort des heutigen Brasilia entfernt. „Man<br />
brauchte ein freies Feld, eine tabula rasa, um das gigantische Unternehmen, von<br />
dem man träumte, durchzuführen zu können. Ein solches fand sich hundert<br />
Kilometer im Osten in Form eines Plateaus. [...] Keine Eisenbahn, keine<br />
Straße führte dorthin, lediglich ein paar Wege für Ochsenkarren. Diesem<br />
Gelände entsprechend wurde ein symbolisches Viereck von hundert Quadratkilometern<br />
auf der Landkarte eingezeichnet. [...] Da keine natürlichen<br />
Hindernisse der Architektur Einhalt gebot, konnte man an der Stelle<br />
arbeiten wie auf einem Reißbrett. Der Plan der Stadt wurde direkt auf den<br />
5<br />
@mir-age.net / web: www.mir-age.net