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equiem<br />
ENTWURF 2<br />
Alexander Polzin
UNFASSBAR<br />
Angst<br />
fordernd<br />
trostlos<br />
geschlechts-<br />
gesichtslos<br />
singen<br />
unberührbar<br />
Familie<br />
Schicksal<br />
unerlöst<br />
Boden<br />
Bodenhaf-<br />
unver-<br />
Perspektive<br />
Leere<br />
Stamm<br />
Musik<br />
Tod<br />
Holz<br />
unvollendet<br />
Zweige<br />
unsichtbar<br />
verbrennen<br />
requiem<br />
Struktur<br />
Feuer<br />
unge-<br />
Stumpf<br />
Vergänglichkeit<br />
Engel<br />
Metall<br />
Augenhöhle<br />
Wei-<br />
Licht<br />
Koh-<br />
Moll<br />
Bronze<br />
Himmel<br />
Fahrstuhl<br />
Mes-<br />
Vögel<br />
Wurzeln<br />
FASSBAR
Transparenz<br />
requiem<br />
Transzendenz
transparente Papiere<br />
sichtbar/unsichtbar<br />
Grauschleier<br />
…<br />
Transparenz<br />
Perspektive auf- und absteigend<br />
Schwere/Leichtigkeit<br />
requiem<br />
sichtbar/unsichtbar<br />
…<br />
Graustufen<br />
Überlagerungen unten/oben<br />
Transzendenz<br />
Schwere/Leichtigkeit
equiem | Durs Grünbein<br />
2 3<br />
requiem | Durs Grünbein
equiem | Durs Grünbein<br />
Durs Grünbein<br />
Drei Legenden<br />
1<br />
Ein ehemaliges Schlachtfeld im Westen Europas nach dem letzten der großen<br />
Kriege, die Erde ist um und umgepfl ügt, es ist reichlich Gras gewachsen<br />
über die alten Schründe und Feuerschlünde. Konstante Winde haben die<br />
Granattrichter zu fl achen Kaninchenmulden zugeweht, die wechselnden Wetter die<br />
Reste der Schützengräben und Unterstände eingerissen und aufgeschüttet. Da steht,<br />
mitten in der Tiefebene, weithin sichtbar wegen seiner monumentalen Größe, ein<br />
Denkmal aus Gußeisen, Riesenskulptur eines Mannes, halb Golem, halb der Koloß<br />
von Rhodos, erstaunlicher anzuschauen als alle sieben Weltwunder zusammen. Es ist<br />
der vom Kopf auf die Füße gestellte Philosoph, das Schreckgespenst der Epoche, ein<br />
altes marxistisches Kunstwerk. Er trägt die mürrischen, eingefrorenen Gesichtszüge<br />
eines Professors in Preußens Diensten, den Walroßschnauzbart des sächsischen<br />
Wandergelehrten und das wirre Dirigentenhaar eines Frankfurter Misanthropen über<br />
der fein gewölbten Stirn des Kategorienbaumeisters aus Königsberg. Betrachtet man<br />
diesen eisernen Felsblock nur lange genug, zeigen sich an ihm die Physiognomien<br />
noch etlicher anderer Großdenker, doch mag der Eindruck auch trügen, wie es bei<br />
den ägyptischen Herrscherbildern der Fall ist, wo ein Pharao dem anderen gleicht.<br />
1Bruchstück vom Kopf eines Giganten<br />
Mehr als ein Jahrhundert lang steht er nun dort, doch die Zeit ist ihm nicht lang<br />
geworden. Er sieht noch immer unverwüstlich aus, wenn auch stark verwittert, in<br />
seiner Erscheinung liegt etwas Majestätisches. Er ist nun ein Teil der Landschaft<br />
geworden wie die grauen Betonklötze der Bunkeranlagen an der Atlantikküste.<br />
An manchem Schönwettertag ziehen Sonntagsausfl ügler durch die Gegend, mit<br />
Campingwagen und Gartengrill, die Kinder spielen um seinen Sockel Fangen,<br />
Bierfl aschen zerschellen in großer Höhe an den Kniescheiben, und allerlei Exkremente<br />
bleiben in seiner Nähe liegen. Die Behörden haben Warnschilder aufgestellt, die auf<br />
die Baufälligkeit des Objekts hinweisen und verkünden, daß jeder in seiner Reichweite<br />
sich auf eigene Verantwortung bewege. Dies aber scheint wenig zu nützen. Der<br />
Koloss, in seiner breitbeinigen Haltung weithin sichtbar, lockt, nachdem er einmal in<br />
den Abendnachrichten zu sehen war, immer mehr Schaulustige an.<br />
Einmal kam eine Schulklasse aus Brüssel angereist, ihr Lehrer hatte im Unterricht einen<br />
Vortrag über das vergessene Standbild gehalten unter dem etwas undurchsichtigen<br />
Titel Das Ende der Illusion. Die Schüler hatten nur wenig davon behalten, nun waren<br />
sie enttäuscht beim Anblick dieses schäbigen achten Weltwunders vor dem grauen<br />
Nachmittagshimmel. Von einer Sensation konnte keine Rede sein, auch leuchtete<br />
ihnen nicht ein, welche Lebensgefahr von dem Ding ausgehen sollte, wie der Lehrer<br />
warnend bemerkt hatte. Es wurde allgemein geringschätzig taxiert, man war sich nur<br />
4 5<br />
requiem | Durs Grünbein
equiem | Durs Grünbein<br />
einig darüber, daß sein Schrottwert enorm sein müsse, geradezu ein Millionenschatz.<br />
Übermütig begannen die kräftigsten unter den jungen Helden, von den Mädchen<br />
angestachelt, das Ding zu vermessen. Über die Räuberleiter, kurzentschlossen, stieg<br />
einer nach dem anderen an den Beinen des Riesen hinauf, bis dieser mit einemmal<br />
bedrohlich zu schwanken anfi ng. Dann überstürzten sich die Ereignisse und es<br />
ging alles sehr schnell. Während die einen sich an die Hosenbeine klammerten,<br />
an die nach der damaligen Mode scharf hervortretende Bügelfalte, saßen zwei<br />
weitere Burschen bereits über der Bauchwölbung fest, Halt suchend am Relief der<br />
mächtigen Uhrkette, die dort in den meterbreiten Schlitz der Westentasche führte.<br />
Der Rest der Kinder stob nach allen Seiten davon, einige hatten die Hände über<br />
den Kopf geworfen, andere starrten offenen Mundes hinauf, wo ihre Kameraden<br />
in großer Höhe wie in einer Baumkrone gefangen saßen. Von einem unsichtbaren<br />
Sturm geschüttelt, schwankte der Gigant und neigte sich auf der Stelle. Das Metall<br />
kreischte in den Nähten, es tönte in den Hohlräumen der Gußform, hielt aber auf<br />
unheimliche Weise stand.<br />
In diesem Augenblick glich das Trumm wirklich den steinernen Sitzfi guren vor<br />
dem Totentempel des Dritten Amenophis, von denen eine, römischer Überlieferung<br />
nach, bei Sonnenaufgang ein feines Singen vernehmen ließ. Das Geräusch aber,<br />
das der Koloss von sich gab, weckte eher die Erinnerung an Schiffswerften und<br />
Schweißarbeiten auf einer Großbaustelle, als an irgendeine erkennbare Melodie.<br />
Es gehört zu den Touristenlegenden, daß einer der Zeugen Anklänge an ein<br />
einst vielgebrauchtes, internationales Arbeiterlied herausgehört haben will. Das<br />
Getöse war jedenfalls furchterregend und hatte nichts Menschliches. Der Gigant<br />
hätte ebenso leicht zerbrechen können, erste Risse liefen bereits durch die linke<br />
Schulter und über den Rücken des Gehrocks mit seiner Patina speckigen Leders.<br />
Stattdessen stand er, unverrückbar, wie eine Eins. Man war eben dabei aufzuatmen,<br />
als ein faustgroßes Metall stück, scharfkantig wie ein Granatsplitter, vom Kopf der<br />
Riesenfi gur abplatzte und dicht neben einem der Schüler in die Erde einschlug. Lag<br />
es an der einbrechenden Dämmerung oder an dem Schrecken, mit dem man eben<br />
davongekommen war - niemand wagte es, das Absprengsel aufzuheben. Wie ein<br />
glühendes Stück Eisen blieb es an seinem Fleck liegen. Die Helden glitten still und<br />
leise von dem Ungetüm herunter, die Klasse trat den Heimweg an, ohne sich noch<br />
einmal umzusehen. In der Nacht aber, als die Ebene im Dunkel ertrank, kam Wind<br />
auf, ein wütender Wind, der durch das Loch im Kopf des Giganten wie auf einem<br />
Flaschenhals blies.<br />
CHOR DER FLÜGELMENSCHEN<br />
2<br />
Wir aber sind die Ausgeträumten, die gründlich<br />
Ausgeräumten, die mit den offenen Köpfen, den hohlen<br />
Schädelschalen, den durchschossenen Augen. Wie<br />
Engel breiten wir manchmal die Arme aus, doch nur,<br />
um sie sogleich wieder sinken zu lassen. Denn oft sind<br />
wir erschöpft, bevor wir noch mit der Arbeit begonnen<br />
haben. Die Flügel sind uns gestutzt. Wir sind, was die Engel am meisten fürchten,<br />
Wesen, die an der Erde kleben, dort wo die Sonne am heftigsten brennt. Jenseits<br />
2<br />
der<br />
Morgenfrühe, der Abenddämmerung leben wir, die Tag-undNacht-Immergleichen,<br />
die mit der juckenden Epidermis, die Überbringer der guten Nachricht.<br />
Die Nachricht lautet: es gibt keine Wirklichkeit mehr. Nicht solange es uns gibt.<br />
Und es gibt nur uns, naturwüchsige Nihilisten, anspruchslos von Geburt an, unter<br />
Lawinen von Fakten begraben, doch einverstanden, einverstanden mit jeder weiteren<br />
Reduktion. Ist es nicht angenehm, so von allem entlastet dahinzugleiten in letzter<br />
Bequemlichkeit? Der Kopf ist frei für die wirklich tyrannischen Dinge des Lebens,<br />
das Aufrechterhalten der sexuellen Betriebstemperatur, die schnelle Beschaffung von<br />
Bargeld, Benzin und Bier. Ist es nicht unendlich viel besser, Ziffer in einer Statistik<br />
zu sein, schicksallos, als von Göttern schwer behangen, an ein verzweifelndes Selbst<br />
gefesselt? 0 nein, mit solchen Schwierigkeiten geben wir uns nicht mehr ab, davon<br />
sind wir endgültig frei. Der gestirnte Himmel über uns ist nichts gegen das drollige<br />
Rumoren in unseren Därmen.<br />
Wundert euch nicht, wenn wir mitunter am Straßenrand stehenbleiben mit leerem<br />
Blick. Wir sind die durch und durch Informierten, die gleichzeitig nach allen Seiten<br />
hin Orientierten. Man sieht es uns an, daß wir alle die Katastrophen kennen, von<br />
denen die Geschichtsbücher sprechen und die Zeitungen voll sind. Für uns gibt<br />
es keine Überraschungen, wir leben in einem gleichmäßig fl ießenden, wunderbar<br />
milchigen, zuweilen metallischen Licht.<br />
Täglich sagen wir uns: wie gut, daß es uns gibt, wie gut, daß die Menschheit sich bis<br />
zu uns durchgerungen hat. Es ist alles ausgestanden und überwunden, wofür sie sich<br />
noch bis gestern geschunden haben. Wir aber sind die Davongekommenen, jene, die<br />
alles verschwommen sehen, aus einer Zukunft, die glücklich hinter uns liegt. Wir<br />
sind die durch nichts zu Entsetzenden, wenn auch ersetzbar, ersetzbar durch solche<br />
wie uns. Man hat uns einmal<br />
gezeigt, daß wir nichts sind, man kann es uns wieder zeigen, es macht nichts, es<br />
ändert nichts, wir sind nichts, und so ist es gut.<br />
Wer hat gesagt, daß wir nichts sind? Unterschätzt uns nicht, unsereins wird erst<br />
stark in der Überzahl. Von uns gibt es soviele, daß es nicht ankommt auf einen mehr<br />
6 7<br />
requiem | Durs Grünbein
equiem | Durs Grünbein<br />
8<br />
oder weniger. Ob da fünf sind oder fünfhundert, die in einem U-Bahn-Schacht<br />
verschwinden, wer wollte hier Erbsen zählen? Aber die Fünfzigtausend, die sich im<br />
Sportstadion heiser schreien, sind nicht mehr zu überhören. Wir sind die Mehrheit,<br />
die überall jubelt und aufjault und anklagt und jammert, und kaum erhört, sind<br />
wir wieder zerstreut. Wir sind der Chor in der großen Technischen Komödie, der<br />
Sprechchor im Hintergrundrauschen der Zeit. Wir sind der kleinste gemeinsame<br />
Nenner, der Magnet aller Meinungsforscher, das Phantom in Großbuchstaben: der<br />
Verkehrsteilnehmer, der Raucher, der Verbraucher, der Wähler, der Nichtwähler<br />
ganz wie es beliebt. Wir können jede Gestalt annehmen und bleiben doch immer<br />
unsichtbar. Hinter den Zahlennebeln stehen wir für jede Schandtat der Soziologie<br />
bereit.<br />
Will man uns wirklich vergleichen? Also dann: Wir sind wie die Blätter des<br />
Essigbaumes im Hinterhof, nicht ganz gleichförmig, jedes ein wenig anders, doch<br />
alle unverwüstlich. Wir sind der Standard, den Mutter Natur hervorbringt, wenn<br />
sie sich langweilt beim Geschöpfemachen. Der Schwarm Motten, der euch aus dem<br />
Kleiderschrank entgegenschießt, wenn ihr zurückkehrt nach langer Reise. Den<br />
Nachtfaltern gleichen wir, die sich bei Frost an die Rinde der Bäume heften und dort<br />
erstarren. Wir selber waren es, die diesen kahlen Wald des Wirklichen hervorgebracht<br />
haben mit unserer Hände Arbeit.<br />
Vergeßt Abel, vergeßt Kain. Hier gibt es nur uns, Wesen, die auch die Bibel nur als<br />
Statisten kennt, Schattengestalten, Flattergestalten, Auswüchse unserer allernächsten<br />
Umgebung, Stadtwesen, nicht mehr Bürger, nicht mehr Plebejer und erst recht<br />
keine Bauern. Wir gehen nicht, wir stehen nicht, wir hasten. Und immer fehlt einer,<br />
immer ist einer zuviel. Von ferne könnte man uns für gefl ügelte Wesen halten, doch<br />
fl iegen wir nirgendwohin. Etwas gespenstisch Flatteriges, Flatterhaftes bemerkt an<br />
uns, wer genau hinsieht. Grinsend verbeugen wir uns vor dem Wort Individuum,<br />
ziehen ein dummes Gesicht und machen obszöne Gebärden, vor denen ein Kind sich<br />
erschrecken würde. Aber jedem, der uns zu nahe tritt, erklären wir:<br />
Es geht uns gut, geht uns gut, geht uns gut.<br />
(Nach einer Figurengruppe von Alexander Polzin) *<br />
3333<br />
3<br />
EIN ARMER SÜNDER<br />
Gestern bin ich zurückgekehrt in meine rauchdunkle Nische dort am<br />
Portal des Naumburger Doms. Ich mußte mich etwas bücken. Zuviele<br />
Jahrhunderte waren vergangen. Der kleine Raum, diese fl ache Höhlung<br />
im Kalkstein, mein Unterschlupf über dem Kranzgesims, war enger geworden in<br />
der Zeit meiner langen Abwesenheit, niedriger auch. Alles verändert sich, auch das<br />
Härteste, sogar dieser Fels in der Brandung, der schöne gotische Stein. Wirklich, ich<br />
bin allzu lang fortgewesen, ein halbes Jahrtausend würde ich sagen, ein Viertel der<br />
Spanne bis zu ihm, mit dem alles anfi ng. Aber auch er ist schließlich zurückgekehrt,<br />
sagt man. Gleich nach dem großen Reichstag zu Worms hab ich mich aus dem Staub<br />
gemacht. Jetzt kommt es mir vor, als sei alles nur ein paar verbummelte Wochen<br />
her. Wie geht das zu? Ist es Vergeßlichkeit, wie sie den Menschen ein Leben lang<br />
zuverlässig begleitet, diese Pest, die sich nie ausrotten läßt? Ist es die reißende<br />
Strömung der Zeit, in die wir gelegentlich ausspucken mit unseren großen leeren<br />
Worten, die schon der Prediger schilt? Ich habe sagen hören, alle zweihundert Jahre<br />
vergißt die Menschheit, was sie einmal gewußt hat und fangt wieder von vorn an.<br />
Nicht mit diesen Worten vielleicht, aber dem Sinn nach. Das Leben mag angenehmer,<br />
bequemer werden, raffi nierter die Phantasien, tückischer auch und verheerender die<br />
Waffen, die Moral aber tritt auf der Stelle, nicht wahr. Ich weiß, wovon ich rede, ich,<br />
der ich einer der ärmsten Sünder war damals. Heute bin ich nurmehr ein Bündel<br />
Reue, senil und gebrechlich. Mit mir ist es aus, das sieht jedes Kind. Der mich schuf,<br />
hat einen Namen, den Meister des Moribunden nennen sie ihn, es ist Kirchenlatein<br />
- ich aber bin namenlos. Seht meine eingefallenen Wangen, die schlaffen Lider, das<br />
zerbrochene Nasenbein. Der Steinmetz hat mir ein wenig Haut gegönnt über dem<br />
Totenschädel, aber nur um die Falten umso schärfer hervorzuheben. Der Steinmetz,<br />
sage ich, und meine doch meinen Bestatter. Nur den Nacken ließ er mir unversehrt,<br />
so zart wie im Leben, ein Polster für Frauenliebe und Frauenhand. Wenn der Wind<br />
in den Nischen wühlt, spüre ich wieder den Griff des Henkers genau dort. Das einzig<br />
Tolle an mir ist mein Zottelhaar, das unter der Kappe hervorquillt, dieser Filzkappe,<br />
wie sie die fröhlichen Zecher trugen zu meiner Zeit. Mein Hemd ist zerrissen und<br />
hängt in Fetzen herab, und warum? Alles nur, um meinen ausgemergelten Leib<br />
vorzuführen, diesen hohlen Brustkorb, das Quentchen phtisische Physis, das man<br />
von Übeltätern wie mir erwartet. Nur meine Rute, meine Rute blieb verborgen unter<br />
dem Büßergewand. Ein Schweißtuch würde mir gut tun, ich hätte es redlich verdient.<br />
Aber nein, das bekommt nur, wer schweigend leidet und sich zusammenreißt, nicht<br />
so ein Schwätzer wie ich.<br />
Aber sprechen muß ich, denn sehen kann ich nicht mehr. Meine leeren Augäpfel, von<br />
Wind und Wetter ausgewaschen, sollen Eindruck machen auf euch. Er war blind,<br />
besagen sie, er war die ganze Zeit blind, auch wenn er alles sah bis auf das kleinste<br />
Hungerblümchen zu seinen Füßen, den Spatz auf dem Dach und hinter sieben Hügeln<br />
den Galgen. Denn er sah nichts voraus, sagen sie, und er sah niemals in sich hinein.<br />
requiem | Durs Grünbein<br />
9
equiem | Durs Grünbein<br />
10<br />
Mein Blick, nein, dieses blicklose Starren, ach, sprechen wir nicht mehr davon. Jetzt<br />
ist da nurmehr ein Loch, kaum stecknadelgroß, ein schwarzes Bohrloch im Stein,<br />
in dem die Nässe versickert. Keine Tränen, nur Regenbäche, kein Schweiß, nur die<br />
ewige Luftfeuchtigkeit. In all den Jahren nur dieser Balsam aus Himmelsschleusen,<br />
und das Geheul des Windes, der sich um arme Sünder nicht schert.<br />
Ich war der ewige Unbekannte unter den Taugenichtsen. Selbst die faulsten und<br />
gottvergessensten der Steinmetze setzten einen wie mich immer ganz an den Rand,<br />
weit weg vom Erlöser, so weit es nur ging. Aber dort, in der Menge der Gaffer<br />
war ich immer ganz vorn, und bei den Schaulustigen unten war ich der heimliche<br />
Favorit. Die Falschspieler, die Mörder und Beutelschneider und selbst die armen<br />
Hexen, sie alle erkannten sich in mir wieder. Wenn es galt, einem Verurteilten das<br />
letzte Stöhnen abzulauschen, ich war dabei. Ich stand in der ersten Reihe, wenn dem<br />
Delinquenten beim Vierteilen die Muskeln rissen und ihn die letzten Zuckungen<br />
überkamen. Ich war es, der zärtlich über das Rad strich, das der Großmeister dann<br />
bei den Speichen packte und hinaufstemmte, um dem Sträfling Arme und Beine zu<br />
brechen. Und immer war ich fort, kaum war das Schauspiel beendet. Man konnte nie<br />
wissen, woran man war mit diesem launischen Volk. Gleich fiel es dem ersten ein,<br />
daß ein Unrecht geschehen war, und schon schrie die Meute nach Vergeltung. Dann<br />
half nur noch ein Sprung in die Büsche, nur weg vom Marktplatz und hinaus vor<br />
die Stadtmauern. Ein Heuschreckensatz, und man war wieder am Rande, wo man<br />
davonschleichen konnte, wenn die Stimmung umschlug. Das Draußen, das Draußen<br />
ist meine Zuflucht, dort bin ich sicher. Mein Unterschlupf ist die schwindelnde<br />
Höhe, die Nische hinterm Akanthusblatt. 0 ich war gern der Verlorene Sohn, außer<br />
Reichweite der buckligen Familie. Ich fühlte mich prächtig als Schwarzes Schaf,<br />
fern der Weidezäune und Schlachtbänke. Was mich betrifft, war ich ein williger<br />
Sünder. Hinein ins Vergnügen und heraus aus dem Verderben, so hieß es für mich<br />
alle Tage, und wenn es zuletzt andersherum kam, so war das nicht meine Schuld.<br />
Habe ich etwas von meiner Größe gesagt, auch nur ein Sterbenswort? Es ist<br />
so eng hier. Schrecklich verrenkt stehe ich da, in einer Haltung, die Anatomen<br />
für menschenunmöglich hielten, wenn ich sie ihnen nicht vorführen würde.<br />
Mein Schlüsselbein ist zerdrückt, meine Füße sind geschwollen, die Knie<br />
eingeknickt wie die eines sterbenden Gauls. Tiefgebeugt stehe ich da und habe den<br />
ganzen Domplatz vor Augen. Ich fühle mich riesig, denkt euch, dabei bin ich nur<br />
wenige Zentimeter groß. Doch das täuscht, und ihr könnt es von unten her, den<br />
Kopf in den Nacken gelegt, kaum beurteilen. Da ist manches, was euch entgeht. Im<br />
Grunde könnt ihr euch kaum erinnern, seit wann ich hier oben schon eingepfercht<br />
bin, ob ich immer dort stand oder eines Tages verschwunden war, und sei es für<br />
ein Jahrhundert. Denn dies ist der wahre Trost, mein einziger, größter - zu wissen,<br />
ich bin ganz allein, und man wird mich nicht kennen. Niemand wird je erkannt.<br />
Es gibt nichts zu büßen, nichts zu bereuen. Und so ziehe ich, armer Sünder, mich<br />
zufrieden zurück in den Stein.<br />
Altar hinstrebt - der Titel »Requiem« deutet es an. Eine Kunst der flackernden Materialität und der Sorge vor der vernichtenden Wirkung des Feuers. In den Zeiten des Bildersturms<br />
geben die Arbeiten der Holzbildhauer besonders herzzerreißende Fackeln ab.<br />
der andere die große ruhende Form aus geraden Flächen und Rundungen etabliert, wuchs hier unter der Hand eine neue Primitivität und Armutskunst heran, die gleich<br />
weit von »Negerplastik« entfernt ist wie von der armen Christus-Schnitzerei der Frühgotik. Es ist eine Kunst, die auf dem Hackklotz entsteht und wie von selbst zum<br />
wie es der Strandwanderer manchmal zu seinen Füßen findet. Die moderne Holzskulptur seit ihrer Wiedergeburt im Expressionismus ist gewissermaßen der Dritte Weg in einer Ästhetik<br />
des Plastischen nach Rodin und Maillol. Während der eine die unruhige, auf Erregung gegründete Fließform seiner vulkanischen Bronzen erfindet,<br />
ist es der Baumquerschnitt, der die Gesamtmaße bestimmt, die kleine Gruppe wurde mit Axt und Stechbeitel aus einem einzigen Stamm herausgeschält. Ansonsten bildet sie in<br />
Maserung und lebendiger, vegetabi lischer Form getreu die Eigenschaften des Holzes ab. Etwas Zerbrechliches liegt in ihr, aber auch die Witterungsbeständigkeit von Treibholz,<br />
Diese kurze Chorpartie im Mittelteil ist allein eine Ausgeburt meiner satirischen Phantasie. Sie hat mit Alexander Polzins Holzskulptur »Requiem«, einer Gruppe von fünf<br />
humanoiden Gestalten mit flügelartigen Armen, nur das Stichwort gemeinsam. Aufgenommen ist darin lediglich die Idee der formalen Begrenzung: in Polzins Arbeit<br />
Anmerkung<br />
requiem | Durs Grünbein<br />
11
equiem | Durs Grünbein<br />
12 13<br />
requiem | Durs Grünbein
Requiem<br />
16<br />
Sagen sie kannten sie die?<br />
Was wollen die wollten die hier?<br />
Sagen sie haben die – waren das nicht – die wollten wohl – aber doch nicht hier oder?<br />
Nicht auszudenken wenn die wieder – hatten wir das nicht schon einmal irgendwann?<br />
Wenn die etwa – fürchten muß man sich und die kinder verstecken vor denen sowas aber auch<br />
nein nein nein<br />
weg weg weg<br />
Vögel<br />
tauchen hier auf<br />
ungerufen<br />
und sagen nichts<br />
requiem | Bettina Motikat Requiem<br />
fl ogen nur so dahin<br />
mit ihren augen und diesen stummen<br />
mündern<br />
Was sie nicht sagen gar nichts geredet haben die?<br />
Kein einziges wort<br />
Und mein kind hat geträumt<br />
Da kamen so leute mit langen traurigen fl ügeln<br />
Die konnten nicht fl iegen die fl ügel hingen nur so herunter<br />
Bis an die erde sagt mein kind<br />
Und diese leute liefen durch eine menge von menschen die starrten sie an<br />
Und ich dachte immerfort sagt das kind fl iegt doch endlich auf fl iegt doch bloß endlich weg<br />
Aber die blieben unten mit ihren hängenden fl ügeln die konnten nicht fl iegen sagt mein kind<br />
Und dann ist es aufgewacht<br />
Soweit kommt das also noch dass unsere kinder wegen denen schlecht träumen man müsste<br />
also sagen sagen sie doch sollte man nicht wieder?<br />
Bettina Bettina Bettina Motikat Motikat Motikat<br />
requiem | Bettina Motikat<br />
17