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selbe wie Schopenhauers Erklärung, er bestehe in willkürlicher<br />
Verleugnung und endlich gänzlicher Verdrängung<br />
der Wahrheit. Eine Selbstentzweiung im Inneren, infolge<br />
welcher die Bindung zwischen Herz, Gehirn und<br />
Sinnlichkeit, die Seele, nicht zustande kommt, so daß der<br />
betreffende Mensch nur noch Maske, nicht mehr Person ist.<br />
Es ist die vollständigste Absonderung von Gott und der<br />
Menschheit, die man sich denken kann: der Mensch ist ein<br />
isoliertes Selbst, das immer mehr verzwergen und endlich<br />
ganz verschwinden muß. Der Wahnsinnige ist demnach der<br />
größte Sünder.<br />
Vielleicht hast du auch schon über die Sünde wider den<br />
Heiligen Geist nachgedacht, die einzige, die, wie die Schrift<br />
lehrt, nicht vergeben werden kann. Nun heißt ja Sündenvergebung<br />
nichts anderes als Gewinnung des inneren<br />
Friedens, innerer Übereinstimmung. Jede Sünde und jeder<br />
Irrtum kann dadurch aufgehoben werden, daß der Sünder<br />
und der Irrende sein Unrecht und die Wahrheit einsieht;<br />
sieht er aber die Wahrheit ein und lehnt sie doch ab, so<br />
befindet er sich in einem inneren Widerstreit, der so lange<br />
dauert, wie der Widerspruch gegen die Wahrheit dauert.<br />
Daß es eine Sünde gibt, die nicht vergeben werden kann,<br />
heißt eigentlich, daß es unheilbaren Wahnsinn gibt. Die<br />
Sage erzählt, daß der Adler, das einzige Geschöpf, das in<br />
die Sonne sehen kann, die echte Art seiner Jungen dadurch<br />
erprobt, daß er ihre Augen dem Sonnenlicht aussetzt; können<br />
sie es nicht ertragen, so tötet er sie. Der blendende<br />
Strahl der göttlichen Wahrheit erleuchtet den götterhaften<br />
Menschen; dem gottlosen geht er tödlich durchs Herz.<br />
Am deutlichsten wird <strong>Luthers</strong> Auffassung, wenn man<br />
zusieht, wie er praktisch verfuhr, wenn er mit Geisteskranken<br />
zu tun hatte. Erfahrung hatte er genug an<br />
sich selbst gewonnen; du wirst wissen, daß er zeitlebens<br />
an Melancholie und Anfechtungen, wie er es nannte, litt.<br />
Die Krankheit der Melancholie kam im Zeitalter <strong>Luthers</strong><br />
häufig vor, so daß man sie für seine und die nachfolgende<br />
Zeit geradezu charakteristisch nennen kann. Sie wurde<br />
aufgefaßt als ein Kampf zwischen Gott und dem Teufel,<br />
der sich auf dem Schlachtfelde des menschlichen Inneren<br />
entspinnt. Er beginnt mit Zweifel, einer leisen, tastenden<br />
Hemmung, und endet, falls der Teufel siegt, mit Verzweiflung.<br />
Die Auffassung des Selbstmörders als eines von Gott<br />
abgefallenen Menschen hat sich bis in unsere Zeit hinein<br />
erhalten. Diesen Kampf, der unter völligem Bewußtsein<br />
des Menschen vor sich geht, nannte Luther Anfechtungen;<br />
unter Melancholie verstand er eigentlich jenen Zustand des<br />
weitesten Auseinandertretens der kämpfenden Kräfte, der<br />
jede Entladung der Kraft unmöglich macht: ein Zustand<br />
gänzlicher Unproduktivtät, den man lebendigen Tod nennen<br />
kann.<br />
Zum Beginnen, zum Vollenden<br />
Zirkel, Blei und Winkelwage;<br />
Alles stockt und starrt in Händen,<br />
Leuchtet nicht der Stern dem Tage.<br />
Dieser Vers Goethes klingt wie eine, wenn auch etwas<br />
schwächliche Unterschrift zu Dürers Melancholie: das<br />
Werkzeug, das unwillkürliche Gehirn, ist da, aber der Geist<br />
ergreift es nicht. Das ängstliche Harren der Kreatur wartet