incommunicado - FINAL CUT - Michel Reimon
incommunicado - FINAL CUT - Michel Reimon
incommunicado - FINAL CUT - Michel Reimon
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CC BY-SA-NC 3.0 / 2011<br />
Umschlagsbild: Juan Osborne, www.juanosborne.com<br />
www.reimon.net<br />
michel at reimon.net<br />
@michelreimon
control
John Cage sagte einmal: Wir können unseren Verstand<br />
nicht ändern, ohne die Welt zu ändern.<br />
#<br />
Ich träume von Mickey Mouse. Der schlaksige Nager<br />
flieht, stolpert und verliert den viel zu großen Kopf.<br />
Etwas brennt, die Luft ist schwarz und schmerzt bei<br />
jedem Atemzug. Vermummte Gestalten jagen mich. Ein<br />
Hund bellt.<br />
Die rote Digitalanzeige des Weckers zeigt 11:42. Mit<br />
einem Krächzen ziehe ich mich vom Sofa hoch, sinke<br />
wieder zurück, stöhne. Ein dünner, warmer Tropfen<br />
läuft meine Schläfe entlang, ich hebe mein<br />
blutverschmiertes T-Shirt vom Boden auf und presse es<br />
gegen meine Stirn. Der Raum dreht sich.<br />
Der Hund bellt noch mal und plötzlich springe ich auf<br />
die Beine. Die Polizei, Scheiße! Ich springe über den<br />
Couchtisch, stolpere gegen die Wand, öffne die Türe<br />
und – bleibe stehen. Anna liegt auf dem Bett, schlafend,
wunderschön, friedlich. Sie ist nackt. Nackt und alleine.<br />
Das Medium ist die Nachricht. Kein Ton ist im ganzen<br />
Haus zu hören. Die Polizei kommt nicht. Falscher<br />
Alarm.<br />
Ich gehe ans Bett, setze mich an die Kante, streichle über<br />
Annas Wange. Sie reagiert nicht. Der Hund bellt weiter.<br />
Zumindest das war kein Traum.<br />
Ich lege meine Hand auf ihre Hüfte, klammere mich an<br />
den hervorstehenden Beckenknochen. Meine Augen<br />
wandern über ihren Körper. Sie ist so schön. Selbst im<br />
Schlaf werden ihre Züge nicht weicher. Selbst jetzt ist sie<br />
makellos und kalt wie eine aus weißem Marmor<br />
geschlagene griechische Göttin im Victoria & Albert.<br />
Der Hund kläfft noch einmal, da öffnet Anna die<br />
Augen.<br />
Sie sieht mir ins Gesicht, kalt und direkt. Dann schlägt<br />
sie meine Hand zur Seite, dreht sich mit einem Ruck um<br />
und sagt kein Wort.<br />
Ich springe hoch. „Tut mir leid“, stammle ich, weil ich<br />
irgendetwas sagen muss, dann verlasse ich den Raum.
Ich habe tatsächlich von Mickey Mouse geträumt. Ist<br />
das überhaupt noch erlaubt?<br />
#<br />
Politik ist die Koordination von Menschen. Wenn dieser<br />
einfache Satz richtig ist, müssen neue Koordinationsmöglichkeiten<br />
zu neuen Politikformen führen. Dann<br />
muss jeder Informationsrevolution eine politische<br />
Revolution folgen.<br />
#<br />
Die Küche ist sehr stylish, sehr geräumig, viel Chrom,<br />
viel Glas, teures Holz, dazu eine lange Bar mit sechs<br />
Hockern. Der Raum ist zum riesigen Wohnzimmer hin<br />
offen, auf der großen Eckcouch schlafen Carlos und<br />
Dmitri. Ich suche eine Tasse und mache Kaffee.<br />
Der Vertrag liegt auf dem Küchentisch. Sieben Seiten,<br />
geheftet, mit ein paar Rotweinflecken. Meine Augen
leiben kurz auf den vier Unterschriften hängen, dann<br />
drehe ich ihn um.<br />
Der Hund bellt erneut.<br />
„’affee?“, fragt Carlos.<br />
„Mmm“, bestätige ich. Er dreht sich um, legt einen Arm<br />
um Dmitri und schläft weiter.<br />
Ich muss pinkeln und dabei fällt mir auf, dass die<br />
Toilette über und über mit blassroten Blutflecken<br />
bedeckt ist. Als ich die Spülung drücke, bemerke ich<br />
meinen blutigen Finderabdruck am Knopf. Ich versuche,<br />
ihn abzuwischen, aber er ist eingetrocknet.<br />
Auf dem Weg zurück in die Küche sehe ich, dass die Tür<br />
ins Arbeitszimmer einen Spalt weit offen steht.<br />
„Scheiße“, fluche ich. „Ist der Hund bei Eugene?”<br />
Carlos und Dmitri reagieren nicht. Ich setze mich<br />
widerwillig in Bewegung. Mit der Fingerspitze drücke<br />
ich die Tür vorsichtig auf.<br />
Da steht er, schaut mich an, bellt noch mal richtig<br />
drauflos.<br />
Keine Verhandlungen. Ich fasse ihn am Halsband.
„So ist’s brav“, sage ich und ziehe daran. Bereitwillig<br />
folgt mir das Tier aus dem Arbeitszimmer, quer durch<br />
die Küche, vorbei am WC. Die Tür, die ins<br />
Kinderzimmer führt, ist auch einen Spalt offen. Dort<br />
haben wir ihn gestern Abend eingesperrt. Weiß der<br />
Hund, wie Türschnallen funktionieren?<br />
Ich bringe ihn zurück. In der Tür steckt ein Schlüssel.<br />
Ich sage so etwas wie „Und jetzt bleibst du schön hier“<br />
und sperre das Tier ein.<br />
Dann gehe ich wieder ins Arbeitszimmer. Eugene liegt<br />
auf einem weißen Leintuch auf der Couch, so wie wir<br />
ihn gestern dort hingelegt haben. Der Hund scheint ihn<br />
nicht berührt zu haben. Ich beuge mich über ihn. Er ist<br />
bleich, seine Haut bekommt schon etwas Wachsartiges,<br />
aber er riecht noch nicht. Um mir die Wunde<br />
anzusehen, will ich seine Hand zur Seite legen, aber als<br />
ich den Widerstand spüre, zucke ich zurück.<br />
Also nehme ich das Handtuch, das wir über Eugenes<br />
Oberkörper gelegt haben, zwischen Daumen und
Zeigefinger und hebe es ein wenig hoch. Da ist es, ein<br />
sauber gewaschenes, ovales Loch.<br />
Die blauen Flecken, die sich gestern rund um den<br />
Einschuss gebildet haben und meiner Meinung nach<br />
davon stammen, dass die Kugel auch mindestens eine<br />
Rippe gebrochen hat, sind nun beinahe schwarz.<br />
„Und jetzt, Eugene?“ frage ich. „Was jetzt?“<br />
„Glauben Sie mir eines: Sie wollen keine politisierte<br />
Jugend. Nicht, dass Kids nicht an Politik teilhaben<br />
sollten. Aber Sie sollten sie nicht anheizen mit so einem<br />
Thema. Es gibt viele von ihnen. Oft haben sie jede<br />
Menge Freizeit. En masse können sie dem<br />
„Establishment“ ziemliche Schwierigkeiten bereiten.<br />
Glücklicherweise neigen sie dazu, faul und zynisch zu<br />
sein und selten auf die Straße oder in die Wahlzelle zu<br />
gehen. Aber es sieht aus, als würden die Armleuchter in<br />
Hollywood und der RIAA mit dem Feuer spielen – mit<br />
#
lästigen neuen Copyright-Gesetzen und anderen<br />
Restriktionen. Ich wäre vorsichtig.“<br />
Das stammt aus einem der Artikel in Eugenes<br />
Sammlung namens The Politics of Piracy. John C.<br />
Dvorak schrieb ihn schon vor langer Zeit für das PC<br />
Magazine und er hatte recht. Verdammt recht.<br />
#<br />
Neben der Couch steht Eugenes Rucksack, schmutzig<br />
und blutverschmiert. Ich weiß gar nicht, wer ihn dort<br />
abgestellt hat. Darin finde ich das Notebook, das<br />
Netzteil, eine große Flasche Wasser, eine kleine Flasche<br />
Essig, eine Regenjacke, eine Schwimmbrille. Und eine<br />
dicke Mappe. Eugenes Materialsammlung und seine<br />
Notizen. Unsere Notizen.<br />
Ich nehme sie heraus, setze mich neben Eugene auf die<br />
Couch. Die Blätter in der Mappe sind lose. Mehrseitige<br />
Artikel sind manchmal durch Büroklammern<br />
zusammengehalten, aber nicht immer. Der größte Teil
des Materials sind Ausdrucke von Texten, die wir online<br />
recherchiert haben. Ja, klar, Internetausdrucker, wir<br />
haben auch darüber gelacht. Aber wir waren so viel<br />
unterwegs, in so vielen Ländern, es war nicht immer<br />
leicht, online zu gehen. Und Eugene mochte Papier.<br />
Zwischen den Ausdrucken finden sich auch viele<br />
Fotokopien, ausgerissene Zeitungs- und Magazinartikel.<br />
Oft sind lange Passagen mit Leuchtstift markiert oder<br />
unterstrichen, an den Rändern mit Kommentaren<br />
versehen, Rufzeichen, Nummerie-rungen, Abkürzungen.<br />
Dazwischen, meist auf den Rückseiten der Ausdrucke,<br />
finden sich seitenweise handschriftliche Notizen, kaum<br />
leserlich, aber trotzdem elegant, irgendwie genau so, wie<br />
man sich die Schrift eines Philosophieprofessors vorstellt.<br />
Es sind genug Notizen für ein ganzes Buch. Eugenes<br />
Buch, das er nun nicht mehr schreiben wird.<br />
Dann finde ich, was ich suche: das aktuelle Paket.<br />
Eugene hat es erst gestern im British Museum bearbeitet.<br />
Es steckt mitten unter den anderen Unterlagen. Ein<br />
schon ziemlich abgegriffenes Blatt im A3-Format,
einmal gefaltet, dient als Hülle. Darauf ist die Fotokopie<br />
eines alten Plakates zu sehen, auf dem sich eine<br />
Menschenmasse um einen schwarzen Monolithen<br />
versammelt. Brecht oder Goebbels? hat Eugene mit<br />
einem roten Marker auf die Grafik geschrieben.<br />
Ich öffne das Notebook, hole es aus dem Ruhemodus,<br />
versuche mich ins WLAN einzuloggen, aber das ist<br />
abgesichert. Das war zu erwarten gewesen. Ich bücke<br />
mich unter den Tisch, ziehe das Netzwerkkabel aus dem<br />
PC und hänge mein Gerät an. Bingo.<br />
Meine Inbox geht über. Mehr als vierhundert E-Mails.<br />
Lebt ihr noch? steht in der obersten Betreffzeile, Alles<br />
okay? in der nächsten, Wo seid ihr? in der dritten. So<br />
geht es weiter und weiter. Zu viel zu lesen. Auf Facebook<br />
sehe ich hunderte Links zu Videos von gestern, ich<br />
wurde hunderte Male auf Fotos markiert, habe hunderte<br />
Nachrichten und Freundschaftsanfragen. Auf Twitter ist<br />
#<strong>incommunicado</strong> immer noch Trending Topic.<br />
Technorati verzeichnet weltweit über zehntausend<br />
aktuelle Blog-Einträge zum Suchbegriff
„<strong>incommunicado</strong>“. Aber auch die kommerziellen<br />
Medien lassen uns nun nicht aus den Augen: Die<br />
Google-News-Filter für „<strong>incommunicado</strong>“,<br />
„Soundinistas“ und „Eugene Jersey“ liefern seitenweise<br />
Links. Auf den meisten Nachrichtenseiten sind wir die<br />
Titelgeschichte, nytimes.com zeigt sogar ein Bild von<br />
mir mit erhobener Faust inmitten schwer bewaffneter<br />
Polizisten. Der Guardian hat dasselbe Bild. Wie konnte<br />
das passieren? fragt er. Weil ihr Arschlöcher einfach<br />
nicht vorsichtig wart, denke ich. Ihr wart gewarnt. Ich<br />
überfliege den Artikel. London im Ausnahmezustand.<br />
Straßenschlachten in Liverpool und Manchester,<br />
Demonstrationen, teilweise mit Ausschreitungen, in<br />
Paris, Berlin, Hamburg, Köln, München, Genf,<br />
Mailand, Orlando, Seattle, Berkeley, New York,<br />
Baltimore. Die Soundinistas sind noch auf der Flucht,<br />
steht da. Ich verziehe den Mund.<br />
Schließlich stehe ich auf, strecke mich, zünde mir eine<br />
Zigarette an, öffne die Balkontüre und trete ins Freie.<br />
Das grelle Licht der Mittagssonne blendet, unter mir
sind die Straßen der Stadt menschenleer. Sie werden sich<br />
wohl erst abends wieder füllen. Ich schließe die Augen<br />
und halte den Atem an. Alles wirkt ruhig, ich höre die<br />
gedämpften Geräusche einer Stadt, in der alles seinen<br />
normalen Gang geht.<br />
Das war es dann wohl.<br />
Unsere Verhaftung steht noch aus, aber das ist nur eine Frage<br />
von Stunden, maximal, dann ist diese Geschichte vorbei,<br />
zumindest für uns. Wir haben zwar die Akkus aus unseren<br />
Handys genommen, damit wir nicht zu orten sind, aber die<br />
Gegend ist videoüberwacht. Die ganze Stadt ist<br />
videoüberwacht. London hat die weltweit höchste Dichte an<br />
Überwachungskameras, zumindest was Großstädte betrifft. Es<br />
gibt wohl keinen dümmeren Ort, um eine kleine Revolution<br />
zu starten, frag nach bei Winston Smith. Sie werten jetzt wohl<br />
die Aufnahmen aus. Vermutlich sind sie schon unterwegs. Ich<br />
suche die Dachkanten der umliegenden Häuser nach<br />
Scharfschützen ab. Nichts zu sehen. Noch nicht.<br />
Plötzlich und ohne Vorwarnung fährt glühend heißer<br />
Schmerz durch meinen Nacken und dann die
Wirbelsäule nach unten, bis ins Steißbein. Mir wird<br />
schwarz vor Augen und für einen Sekundenbruchteil<br />
befürchte ich, dass durch die Prügel, die ich gestern<br />
bezogen habe, ein Wirbel verletzt wurde und mein<br />
Genick nun einfach abgebrochen ist.<br />
Querschnittlähmung und aus. Aber der Schmerz vergeht<br />
doch wieder. Ich lehne mich zurück, hole tief Luft und<br />
versuche, mich zu entspannen.<br />
Ich sollte die Zeit, die bleibt, nutzen und für Eugenes Blog<br />
einen letzten Beitrag schreiben. Sein Werk vollenden. Er hätte<br />
hier sicher Einspruch erhoben. Kein Werk wird je begonnen<br />
und je abgeschlossen, hat er mal gesagt. Ich muss zugeben, ich<br />
sehe die Dinge immer etwas weniger philosophisch.<br />
Also setze ich mich wieder an den Schreibtisch und öffne das<br />
Dokument. Ich verschränke die Finger und drücke die<br />
Handflächen durch, bis die Gelenke knacken. Es kann<br />
losgehen. Dabei bin ich merkwürdig ruhig. Wie es auch<br />
ausgeht, es ist okay. In den letzten Monaten haben wir<br />
Dinge erlebt, die für ein ganzes Leben reichen. Es war<br />
eine gute Zeit. Und wenn ich mit dem Wissen von
heute noch einmal beginnen könnte, dann würde ich<br />
nur eines anders machen: Ich wäre radikaler, von Anfang<br />
an.<br />
#<br />
Claude Shannon und Warren Weaver schrieben in Die<br />
mathematische Theorie der Kommunikation: „Das<br />
Wort Kommunikation wird hier in einem sehr<br />
umfassenden Sinn verwendet, um alle Vorgänge<br />
einzuschließen, mit denen ein Verstand den anderen<br />
beeinflussen könnte. Das inkludiert natürlich nicht nur<br />
geschriebene und gesprochene Sprache, sondern auch<br />
Musik, die bildende Kunst, das Theater, das Ballett und<br />
letztlich alle menschlichen Verhaltensweisen.“<br />
Es gilt natürlich auch für Rockkonzerte und<br />
Demonstrationen.<br />
#
Von Anfang an...<br />
Okay. Langsam. Es ging ohnehin alles schnell genug.<br />
Ich bin Journalist. Schreibe über Musik und Kino. Freier<br />
Mitarbeiter bei vier, fünf Zeitungen und Magazinen, die<br />
ich regelmäßig mit Rezensionen, Interviews und<br />
Reportagen beliefere. Belieferte. Vergangenheit. Das ist<br />
das Ergebnis davon, dass ich Eugene, Anna und die<br />
Band kennenlernte: Alles ist Vergangenheit. Also, ich<br />
war Journalist.<br />
Ich machte Urlaub in Italien, in einem winzigen<br />
Küstenort südlich von Neapel. Das kleine, aber sehr<br />
feine Hotel hatte junge Eigentümer, die mir in der<br />
Vorsaison einen kräftigen Rabatt gewährten, weil ich ihr<br />
Domizil schon ein paar Mal auf den Reiseseiten<br />
verschiedener Magazine lobend erwähnt hatte. Sechs<br />
Wochen Aufenthalt waren geplant. Ich wollte einen<br />
Roman entwickeln und die ersten paar Kapitel<br />
schreiben. Das Leben als Freiberufler hat seine Vorteile,<br />
wenn man sie zu nutzen weiß. Und ich war ganz gut im<br />
Geschäft, konnte mir das leisten. Vom Inhalt dessen,
was ich schreiben wollte, hatte ich nur grobe<br />
Vorstellungen. Genau genommen gar keine. Grundsätzlich<br />
wollte ich mich an die Maxime halten, dass man<br />
über das schreiben soll, was man kennt (wer hat das bloß<br />
gesagt?), also sollte es irgendwie um die Medienbranche<br />
gehen, um einen Rock-Journalisten, vielleicht einen, der<br />
einen Mord aufklärt, mit Frauen, Drogen, Alkohol und<br />
so.<br />
In der ersten Urlaubswoche akklimatisierte ich mich mal<br />
und ehe es mir wirklich auffiel, waren zehn Tage um<br />
und ich hatte immer noch keine präzisere Idee. Dafür<br />
hatte ich aber Ausflüge in die Umgebung gemacht, mir<br />
Pompeji und Neapel angesehen und kannte die Kellner<br />
der wenigen Bars in der Umgebung schon mit<br />
Vornamen. Mir gingen schön langsam die Ausreden aus.<br />
Ich musste zu arbeiten beginnen. Also sperrte ich mich<br />
in meinem Zimmer ein und starrte stundenlang auf die<br />
weiße erste Seite eines leeren Word-Dokuments.
Vielleicht sollte ich einfach drauflos schreiben, ein erstes<br />
Kapitel, in dem jemand einen Toten findet, und die<br />
Geschichte dann laufen lassen ...<br />
#<br />
Am Abend gingen mir die Zigaretten aus. Natürlich gab<br />
es im Hotel welche zu kaufen, auch meine Marke, aber<br />
vielleicht, dachte ich, sollte ich zur Entspannung einen<br />
Spaziergang unternehmen: Die Küste entlang, zwei, drei<br />
Kilometer, zur RockBox, einem kleinen alternativen<br />
Lokal. Da war am frühen Abend nicht viel los, da<br />
konnte ich Zigaretten kaufen, einen Espresso trinken,<br />
von der Terrasse aufs Meer starren, mich sammeln.<br />
Ich griff also meine Tasche, in der ich alles Lebensnotwendige<br />
aufbewahrte – Notizbuch, Laptop, Foto- und<br />
Videokamera –, und machte mich auf den Weg.<br />
In der RockBox war schon mehr los, als ich dachte.
„Großer Konzertabend“, sagte die junge hübsche<br />
Kellnerin. Alice hieß sie, glaube ich. „Drei Bands“, sagte<br />
sie und wandte sich desinteressiert ab.<br />
Ich tat auch desinteressiert und zündete mir eine<br />
Zigarette an. Da läutete mein Handy. Es war jemand<br />
von der Promotion-Abteilung einer großen Plattenfirma.<br />
„Hallo, wie geht es Ihnen?“, fragte sie.<br />
„Gut“, sagte ich, „ich bin auf Urlaub.“<br />
„Ach nein“, sagte sie. „Das ist ja schade“, sagte sie, „denn<br />
ich hätte so eine tolle Interviewmöglichkeit für Sie.“<br />
„Wen soll ich denn interviewen?“, fragte ich laut, so dass<br />
es auch Alice hören konnte. Und nach einer Pause:<br />
„Linkin Park? Haben die das neue Album denn endlich<br />
fertig?“<br />
„Ja“, sagte die Promotionstante, und sie klang etwas<br />
überrascht. Ich hatte nicht mal gewusst, dass die Jungs<br />
von Linkin Park an einem neuen Album gearbeitet<br />
hatten, aber das war nicht schwer zu erraten gewesen.<br />
Plattenfirmen luden nur zu großen Interviews, wenn es<br />
etwas zu verkaufen gab. Und das war immer zuerst ein
neues Album, dann ein Tourneestart und schließlich die<br />
Live-DVD. Nachdem ein Rezensionsexemplar der<br />
letzten Linkin-Park-Live-DVD in irgendeiner meiner<br />
Schubladen verstaubte, musste jetzt also wieder ein<br />
Album kommen und ein neuer Zyklus konnte beginnen.<br />
„Leider“, sagte ich, „aber ich bin in der Nähe von<br />
Neapel, und das noch einige Zeit. Wann wäre denn das<br />
Interview?“<br />
„Übermorgen“, sagte sie. Das Interview sei in London<br />
und es sei auch möglich, mich aus Italien einzufliegen.<br />
Das war gar nicht so ungewöhnlich: Die Zeit-Slots für<br />
solche Interviews mussten von den Marketingleuten<br />
unbedingt voll-gepackt werden, eine verschwendete<br />
Viertelstunde Zeit von Linkin Park ist deutlich teurer als<br />
ein paar Flugtickets quer über den Kontinent. Pervers,<br />
eigentlich.<br />
„Wie lange hätte ich Zeit?“, fragte ich.<br />
„Zwanzig Minuten“, sagte die Frau, „zusammen mit vier<br />
anderen Journalisten.“
Also nicht mal ein Einzelgespräch, dachte ich, aber sagte<br />
es nicht laut.<br />
Wenn ich wolle, könne sie ja mal die Flüge prüfen und<br />
mich dann zurückrufen.<br />
„Machen Sie das“, sagte ich.<br />
Alice tauchte wieder auf. Sie wusch ein paar Gläser und<br />
sagte kein Wort. Ich rauchte in Ruhe und wartete.<br />
„Du bist Musikjournalist?“, fragte sie schließlich.<br />
Ich nickte und ließ den Rauch aus meiner Nase strömen.<br />
„Nur ein Job.“<br />
Im Herbst, sagte Alice, wolle sie nach Mailand gehen<br />
und Journalismus studieren, die Musikszene würde sie<br />
besonders interessieren, sie wolle einmal im Leben<br />
Marilyn Manson interviewen. Sie hatte dabei leuchtende<br />
Augen. Ich verlor schlagartig das Interesse an ihr.<br />
Ich habe Marilyn Manson schon dreimal interviewt und<br />
es war immer eine ausgesprochen unspektakuläre<br />
Angelegenheit. Manson ist sehr freundlich und höflich.<br />
„Eine gute Idee“, sagte ich. „Du bist dafür sicher<br />
perfekt.“ Rock-Journalismus ist meist, wenn Leute, die
nicht schreiben können, Leute interviewen, die nicht<br />
reden können, um Leute zu erreichen, die nicht lesen<br />
können. Hat Frank Zappa mal gesagt.<br />
Die Promotions-Tante von der Plattenfirma rief nach<br />
zehn Minuten wieder an. Das ginge in Ordnung. Ich<br />
könne morgen schon fliegen und in Rom umsteigen und<br />
in London in einem sehr netten Hotel übernachten. Das<br />
sei zwar etwas teuer und sprenge ihr Budget, aber die<br />
Londoner Zentrale sei bereit, die Mehrkosten zu<br />
übernehmen.<br />
„Wunderbar“, sagte ich, „dann schicken Sie mir doch<br />
die Flugdaten per E-Mail.“<br />
„Gerne, aber da ist noch eine Kleinigkeit.“<br />
„Was denn?“, fragte ich.<br />
„Max“, sagte sie. Max wolle morgen mit mir zu Abend<br />
essen, deshalb übernehme die Zentrale auch die<br />
Hotelkosten. Sie schicke mir die Adresse des<br />
Restaurants, irgendwo in Soho. Sie sei auch schon da<br />
gewesen, eine ganz schicke Bude.
„Wunderbar“, sagte ich und legte auf. Wenn ich morgen<br />
nach London flog, dann musste ich heute wohl nicht<br />
mehr mit dem Roman beginnen.<br />
„Wann beginnt das Konzert, Alice?“<br />
„Um neun“, sagte sie.<br />
Das machte noch zwei Stunden. „Dann werde ich mich<br />
auf die Terrasse setzen“, sagte ich. „Bringst du mir ein<br />
Bier und einen Wodka raus?“<br />
„Klar!“, sagte Alice und zwinkerte mir zu.<br />
#<br />
Die erste Band war laut und anstrengend, ein paar<br />
besoffene Provinzbengel. Sie waren offensichtlich der<br />
Meinung, um Punk-Musik zu machen, reiche es,<br />
Drogen zu konsumieren und seine Instrumente nicht zu<br />
beherrschen. Wie alle, die die wahre Genialität von<br />
Malcolm McLaren nicht verstanden haben. Dem<br />
Publikum schien es trotzdem zu gefallen. Aber<br />
vermutlich war den Hunnen auf der Tanzfläche die
Musik ohnehin egal, denn sie tanzten völlig<br />
unbeeindruckt weiter, als die Band abging, der Umbau<br />
für die zweite Gruppe begann und die Musik von der<br />
Festplatte kam.<br />
Das Hüpfen und Rempeln und Mit-Pappbecherndurch-die-Gegend-Werfen<br />
nervte mich, und das sah<br />
man mir wohl an.<br />
„Gefällt’s dir nicht?“, fragte Alice.<br />
Ich zuckte mit den Achseln. „Gibt’s hier irgendwo einen<br />
ruhigen Fleck?“<br />
Sie deutete auf das Technik-Podest.<br />
„Dort stehe ich gerne, wenn ich Ruhe haben will.“<br />
Der Mann an den Reglern nahm kaum Notiz von mir,<br />
als ich mich zu ihm hinter das Mischpult schob. Einen<br />
kurzen Augenblick schien es, als wolle er protestieren,<br />
dann nickte er freundlich. „Mach’s dir bequem“, sagte<br />
er. So lernte ich Eugene kennen, einen kleinen, etwas<br />
rundlichen Mittfünfziger mit Glatze vorne,<br />
Pferdeschwanz hinten, schwarzem Ramones-T-Shirt,
zerrissenen Jeans und einer nicht ganz neuen, runden<br />
Hornbrille.<br />
Ich war, muss ich zugeben, nur begrenzt neugierig auf<br />
den Auftritt der zweiten Band. Ich dachte, es gebe<br />
bereits zu viel Musik da draußen. Es gebe zu viele<br />
Konzerte, zu viele Bands. Man kommt ja als Journalist<br />
kaum noch damit nach, die hochwertigen und<br />
topprofessionellen Produktionen zu verfolgen.<br />
Geschweige denn irgendwelche Garagenbands, von<br />
denen neunundneunzig Prozent nicht mehr als<br />
einfallslosen Lärm produzieren. So dachte ich und, ja,<br />
das war arrogant und aufgeblasen.<br />
Noch während des Aufbaus begann der Soundcheck und<br />
aus dem Soundcheck heraus das Konzert, ohne Pause,<br />
ohne eindeutigen Beginn. Wozu auch, die Hunnen<br />
tanzten schon. Plötzlich schmiegte sich eine E-Geige um<br />
ein paar spärliche Beats aus der Drum-Machine, ein<br />
orientalisches Volkslied, eine Klageweise, wahrscheinlich<br />
ewig alt, Tausendundeine Nacht in the Ministry of<br />
Sound. Der Rhythmus drückte die Nummer vorwärts,
die Hunnen grölten und tanzten und sprangen immer<br />
höher, dann setzte der Bass ein. Eine Frau spielte ihn,<br />
breitbeinig und trotzdem anmutig. Wenige haben die<br />
Erotik von Frauen am Bass begriffen, Prince ist eine der<br />
Ausnahmen, ich bin eine andere.<br />
Und offensichtlich diese Band.<br />
Ich erinnere mich genau. Wenn ich die Augen schließe,<br />
bin ich wieder dort. Ich verfalle der Bassistin in der<br />
Sekunde, wo ich sie sehe, und als Eugene die beiden<br />
Beamer einschaltet, die vorne an der Kante der Bühne<br />
stehen und Bilder an die Rückwand werfen,<br />
überlebensgroße Porträts von ihr, da ist das gar nicht<br />
mehr nötig, da ist es schon um mich geschehen.<br />
Sie tritt ans Mikro und hebt an und singt in fremden<br />
Sprachen, kraftvoll und klar, und es klingt erst wie<br />
Französisch, dann wie Arabisch, dann wieder ganz<br />
anders. Später erfahre ich: Das ist Katalanisch, die<br />
Nummer heißt „Babylon“, die Porträts im Hintergrund<br />
wechseln, sie zeigen immer schneller Menschen aus aller<br />
Welt. Das Intro entwickelt sich langsam zu einem
epetitiven Thema, zu einem repetitiven, repetitiven<br />
Thema. Der Drummer steigt ein. Dann die beiden<br />
Gitarristen. Patam! Pa-ta-ta-tam! Patam!<br />
Das Lied endet nie, das nächste beginnt unbemerkt und<br />
plötzlich, Patam!, aus dem Nichts peitscht ein<br />
Gitarrenriff in die Menge, irgendetwas, das ich kenne<br />
und nicht gleich zuordnen kann, und schon drischt das<br />
Quartett, Pa-ta-ta-tam!, eine Hymne runter, ein<br />
Hochamt, wir hören die Signale, die Hunnen singen im<br />
Chor und recken ihre Fäuste in die Luft, auf zum letzten<br />
Gefecht, sie springen und grölen und die Bassistin steht<br />
immer noch breitbeinig da, die Lippen nahe am Mikro,<br />
die letzte Strophe singt sie a cappella und sie hat uns alle<br />
gefangen.<br />
Samba. Ska. Ska-Punk.<br />
Sie singen abwechselnd, sie singen zu zweit und zu dritt,<br />
sie singen viel auf Englisch und Spanisch und<br />
Französisch, alles durcheinander, sie singen ein wenig<br />
auf Arabisch und Deutsch, und einmal klingt ein<br />
Refrain recht russisch. Die Frau am Bass singt auch eine
Strophe italienisch, und da grölt das Publikum noch<br />
lauter als sonst und springt noch höher und ein Dutzend<br />
Verrückte klettern auf die Bühne und niemand hindert<br />
sie daran. Sie springen mit ausgestreckten Armen in die<br />
Menge und lassen sich fangen und die Band lacht und<br />
spielt noch wilder und feuert die Hunnen an und die<br />
Sängerin lässt ihren Bass fallen und springt und lässt sich<br />
von hunderten Händen tragen und singt, das Funk-<br />
Mikro fest umklammert. Eugene und ich halten den<br />
Atem an, eine Unendlichkeit lang, bis das Publikum sie<br />
wieder zurückgibt, auf die Bühne, vor die Leinwand. Ein<br />
Atompilz steigt hinter ihr auf, während sie den Bass<br />
umschnallt.<br />
Eine Nummer klingt wie eine Kreuzung aus Chanson<br />
und Blues.<br />
Ich nehme meine Videokamera aus der Tasche und<br />
filme mit.<br />
Eine Nummer klingt wie eine Kreuzung aus Rockabilly<br />
und Ragga.
Den Texten ist nicht leicht zu folgen, weil die Sprachen<br />
so schnell wechseln, aber ein paar Fetzen versteht man<br />
immer wieder und die Bilder aus dem Beamer helfen. Es<br />
geht um das Recht auf Rausch, um Arbeitslosigkeit, um<br />
muslimische Ghettos in europäischen Städten und<br />
Luxushotels an ägyptischen Stränden. Ich hatte nie<br />
verstanden, warum man Popmusik zum Sozialporno<br />
machen muss, aber auch das ist mir in diesem Moment<br />
keine Warnung. Meistens geht es ohnehin ganz banal<br />
um Liebe, Eifersucht, Verzweiflung und den ganzen<br />
Rest. Dazwischen eine Cover-Version von Wild Boys,<br />
eine von Waiting For The Man, eine von The Mercy<br />
Seat, ganz verrückt.<br />
Pa-ta-ta-tam.<br />
Flamenco. Rumba. Csardas und Roma-Musik. Punk.<br />
Manchmal langsam, meistens schnell.<br />
Eine Nummer klingt wie eine Kreuzung aus Charleston<br />
und Hardrock, das ist echt schräg, brutaler Crossover,<br />
keine halbe Sache. Ich mag das.
Die Bassistin trägt eine Army-Hose und ein weißes<br />
Unterleibchen, zum Knoten gebunden über dem<br />
schwitzenden Bauch. Ich muss nach vorne, ich muss<br />
fotografieren. Die Soundinistas singen über eine Party in<br />
Belgrad. Sie singen über Gewalt gegen Frauen und eine<br />
Modenschau in Paris.<br />
Ich kämpfe mich durch die Hunnen, remple und stoße<br />
und quetsche mich durch die Horde. Oft geht es um<br />
drei Dinge in einem Song, so als würde das alles<br />
zusammenhängen, als wären diese Dinge nur Facetten<br />
desselben Systems. Immer wieder geht es um Freiheit<br />
und Freude.<br />
Ich gelange in die erste Reihe, stütze meine Ellbogen auf<br />
die Bühne und nehme die Bassistin in den Sucher,<br />
zoome ganz nahe heran. Patam!<br />
Sie singen von Sex, Freiheit und Anarchie. Sie singen<br />
wieder von Liebe.<br />
Plötzlich ein trauriges, einsames Saxophon, dann Stille.
Die anderen Bandmitglieder gehen ab. Sie steht alleine<br />
auf der Bühne, verschwitzt, die Augen geschlossen, den<br />
Kopf gesenkt.<br />
Das Publikum schweigt, es ist ratlos.<br />
Ich werfe einen Blick auf den Techniker neben mir, aber<br />
auch er hat die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt, die<br />
Finger beider Hände verschränkt, fast, als würde er<br />
beten.<br />
Nach einer Minute greift die Frau auf der Bühne<br />
langsam nach ihrem Mikrofon und sagt leise: „Das war<br />
für meine Mutter. Sie hat heute ihren zehnten Todestag.<br />
Wir werden dich nie vergessen, Mum.“<br />
Sie wischt sich eine Träne aus dem Gesicht, dann geht<br />
sie langsam ab.<br />
Keine Zugaben. Die nächste Band ist dran.<br />
Ich drücke den Stop-Button der Videokamera.<br />
#
Ich musste sie kennenlernen und fragte Alice, ob sie<br />
mich backstage bringen könne. Sie schüttelte den Kopf.<br />
„Die machen unten am Strand ein Lagerfeuer, dort<br />
findest du sie.“<br />
„In welche Richtung?“<br />
Sie überlegte. „Ich bringe dich hin, sobald die dritte<br />
Band begonnen hat.“<br />
Fünfzehn Minuten später waren wir unterwegs. „Ein<br />
Interview – sehr gut! Die waren toll, nicht wahr? Suchen<br />
wir Eugene Jersey“, quasselte sie, während ich hinter ihr<br />
durch den Sand lief.<br />
„Wer ist das?“<br />
„Der Manager der Band. Ein lustiger Kerl. Du hast ihn<br />
am Technikpult kennengelernt.“<br />
„Ach der“, sagte ich.<br />
Wir liefen auf einen alten, roten Londoner Stockbus zu,<br />
der am Rande der Zufahrtsstraße zum Strand parkte.<br />
Davor standen drei Leute, die sich laut lachend<br />
unterhielten. Einer davon war der Tontechniker. Über
dem Ramones-T-Shirt trug er nun ein abgewetztes<br />
braunes Cord-Sakko.<br />
„Das ist Eugene Jersey, der Manager“, sagte Alice. „Und<br />
das ist ein Journalist, der gerne ein Interview mit euch<br />
machen würde.“<br />
„Oh, ein Interview!“, rief einer der anderen Männer.<br />
„Die Soundinistas auf dem Weg zum Weltruhm!“<br />
„Für welches Magazin?“, fragte Eugene.<br />
„Verschiedene“, sagte ich.<br />
„Zum Beispiel?“<br />
Ich zählte drei Namen auf. Eugene nickte und lächelte,<br />
aber ich wusste nicht, was das bedeutete, er lächelte<br />
scheinbar immer. Wenn er überrascht über diese großen<br />
Titel war, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Freunde<br />
schon. „Wow“, sagte der eine. „Ihr werdet gerade<br />
entdeckt.“<br />
„Ich möchte aber die Sängerin interviewen, nicht den<br />
Manager“, sagte ich.<br />
„Klar“, sagte er. „Schließlich hast du ja auch sie gefilmt<br />
und nicht mich.“ Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass
er wusste, dass ich das Interview niemals einem Magazin<br />
anbieten würde, und einfach aus Lust und Laune<br />
mitspielte. Eugene war ein freundlicher Mensch.<br />
„Ich muss dann mal zurück“, sagte Alice.<br />
„Komm mit“, sagte Eugene zu mir. „Wir spielen unsere<br />
Zugabe für die Fische und die Krabben. Und wir grillen<br />
ein wenig. Anna hat noch nicht viele Interviews gegeben,<br />
schon gar nicht für so große Magazine. Sie wird sich<br />
freuen. Wein und Bier haben wir auch.“<br />
Anna hieß sie also.<br />
Sie saß mit zwanzig oder fünfundzwanzig anderen um<br />
ein riesiges Lagerfeuer, eine Bongo zwischen den Beinen,<br />
und begleitete einen der Gitarristen der Band, der gerade<br />
Waiting in Vain sang. Eugene stellte uns kurz vor und<br />
ließ uns dann auch schon alleine.<br />
„Hi, tolles Konzert“, sagte ich.<br />
„Origineller Spruch“, sagte sie. „Ist dir der selbst eingefallen?“<br />
„Ja“, sagte ich.
Sie lächelte und hielt mich offensichtlich für einen ganz<br />
netten, sympathischen Idioten.<br />
„Gibst du mir ein kurzes Interview?“, fragte ich.<br />
„Hey, willst du dich nicht vorstellen?“, rief der Gitarrist.<br />
Es klang nicht unfreundlich, aber irgendwie war ich mir<br />
da doch nicht so ganz sicher.<br />
„Klar, mein Name ist ...“<br />
„Namen spielen für uns keine Rolle“, sagte er. „Musik<br />
zählt. Musik.“<br />
„Musik?“<br />
„Ja, mein Freund, Musik. Stell dich mit einem Lied<br />
vor.“<br />
„Ich singe grässlich.“<br />
„Spielst du besser Gitarre?“<br />
„Ja“, seufzte ich erleichtert. Gitarre spielen war nicht so<br />
schlimm. Für ein Lagerfeuer am Strand reichte es<br />
allemal.<br />
Der Typ machte eine schnelle Bewegung und hielt mir<br />
plötzlich sein Instrument unter die Nase. „Dann spiel so
laut, dass wir dich nicht singen hören“, sagte er. Alle<br />
lachten.<br />
Mit welchem Lied stellt man sich einer Runde vor, die<br />
man nicht kennt? Die Nummer, die ich angeblich am<br />
besten konnte, war immer schon John Lee Hookers<br />
Boom Boom. Und Eric Burdons I Was Born To Live<br />
The Blues.<br />
Die Blicke aller waren auf mich gerichtet.<br />
Burdon hat einmal eine absolut geniale Cover-Version<br />
von Ring Of Fire aufgenommen. Ich sah Anna an. Oh<br />
ja.<br />
Ich begann zu spielen, dann sang ich leise: Love …is a<br />
burning thing …<br />
Sie lachte hell auf, dann stimmte sie mit ein: … and it<br />
makes… a fiery ring …<br />
Bound … by wild desire …<br />
I fell into … a ring of fire …<br />
Spätestens an diesem Punkt, darauf kann man sich bei<br />
der Nummer verlassen, beginnt die Hälfte der Leute<br />
mitzusingen, und diesmal war es nicht anders. I fell into
a burning ring of fire … I went down, down, down, and<br />
the flames went higher … Ich entspannte mich, wurde<br />
mutiger, sang lauter: …and it burns, burns, burns …<br />
Unsere Augen fanden sich, ich zwinkerte ihr zu … the<br />
ring of fire … Sie zwinkerte zurück … the ring of fire …<br />
Zweite Strophe, Refrain, noch mal Refrain, und dann<br />
langsam und immer sachter … the ring of fire, the ring<br />
of fire, the ring of fire … Am Ende sang ich wieder<br />
alleine und ganz leise. Dann stoppte ich die Saiten.<br />
Sie klatschte, Eugene rief laut: „Bravo!“<br />
Ich fragte: „Wollt ihr eine Zugabe?“<br />
Sie zuckte mit den Achseln und grinste mich an, aber ein<br />
paar Leute riefen „Nein!“ und „Bloß nicht!“ und<br />
„Gnade!“, also gab ich die Gitarre dem Nächsten weiter.<br />
Die Aufmerksamkeit der Gruppe fiel von mir ab, ich war<br />
nun aufgenommen und nicht weiter interessant.<br />
Ich beugte mich zu Anna. „Wie war’s?“<br />
„Dein Gitarrenspiel war ganz passabel“, sagte sie.<br />
„Und sonst?“
„Du singst schrecklich und das Lied ist aber so was von<br />
abgelutscht. Das spielt jeder Zweite am Lagerfeuer.“<br />
„Peinlich?“<br />
„Kann man wohl sagen.“<br />
„Gibst du mir trotzdem noch ein Interview?“, fragte ich.<br />
„Klar“, sagte sie. „Gehen wir ein wenig zur Seite.“<br />
Wir begaben uns auf einen Spaziergang, weg vom<br />
Lagerfeuer, weg von der Bühne. Als wir zu einer felsigen<br />
Stelle kamen, kletterten wir weiter das Ufer entlang, um<br />
eine kleine Halbinsel herum. Dann setzten wir uns auf<br />
einen großen Stein und ließen die Füße ins Wasser<br />
baumeln.<br />
„Ich bin ziemlich verschwitzt“, sagte sie, und noch bevor<br />
ich etwas erwidern konnte: „Lass uns vor dem Interview<br />
noch schwimmen gehen.“<br />
Anna zog sich aus und sprang, Kopf voraus, ins Wasser.<br />
Es war eine helle Nacht, beinahe Vollmond. Ich streifte<br />
meine Hose im Sitzen ab, dann stieg ich etwas<br />
unbeholfen nach. Es war kalt, aber das störte die<br />
Durchblutung in dieser Situation nicht mehr.
Wir schwammen, scherzten, bespritzten uns gegenseitig<br />
mit Wasser. Dann steckte sie mir die Zunge in den<br />
Mund und umklammerte mich mit den Beinen. Es war<br />
gar nicht leicht, in dieser Position zurück ins Seichte zu<br />
gelangen.<br />
Ich kam zuerst, natürlich, und rollte mich zur Seite.<br />
Anna stieß mir den Ellbogen in die Rippen. „Wir sind<br />
noch nicht fertig“, sagte sie, und das war mir peinlich.<br />
Ich gab mein Bestes, und das dürfte gar nicht schlecht<br />
gewesen sein. Sie krümmte sich, erstarrte am Höhepunkt<br />
und kratzte mir blutige Fetzen aus der Haut.<br />
Eine schweigsame Minute später stand sie auf, zog sich<br />
an und ging zurück zum Lagerfeuer.<br />
Ich weiß nicht, wie lange ich unbeweglich auf dem<br />
Felsen saß. Ich fror und das Salz brannte in den<br />
Kratzwunden, aber das war mir egal. Ein Geräusch riss<br />
#
mich aus meinen Gedanken. Eugene kletterte vorsichtig<br />
über die Felsen.<br />
Er setzte sich neben mich und wir starrten eine Zeit lang<br />
auf die Wellen und die hüpfenden, silbrigen Reflexe des<br />
Mondlichtes darauf.<br />
Irgendwann sagte Eugene: „Du spielst ja ganz gut<br />
Gitarre, aber am Repertoire solltest du feilen.“<br />
„Scheint so.“<br />
„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, sagte<br />
Eugene.<br />
„Hm?“<br />
„Könntest du mit allen Bandmitgliedern Interviews<br />
machen und einen kurzen Text über sie schreiben? Wir<br />
stellen gerade unsere neue Homepage fertig und<br />
könnten so was brauchen.“<br />
„Hm“, sagte ich, ohne viel darüber nachzudenken.<br />
„Wir haben nicht viel Geld. Genau genommen haben<br />
wir dafür gar kein Geld.“<br />
„Das habe ich mir gedacht. Das ist nicht das Problem.<br />
Aber ich fliege morgen Abend nach London.“
„Oh, schade.“<br />
„Sonst gerne.“<br />
„Klar.“ Eugene holte eine Packung Marlboro aus seiner<br />
Hemdtasche, tippte gegen die Unterseite und steckte<br />
sich eine halb herausgerutschte Zigarette zwischen die<br />
Lippen. Er bot auch mir eine an.<br />
„Danke“, sagte ich, und als er mir Feuer gab, schämte<br />
ich mich ein wenig für meine Nacktheit.<br />
Vermutlich plapperte ich deswegen einfach drauflos.<br />
„Eine schöne Nacht“, sagte ich, „um die Gedanken<br />
schweifen zu lassen ...“<br />
„Und worüber denkst du nach?“<br />
„Ich würde gerne einen Roman schreiben.“<br />
„Worüber?“<br />
„Tja. Das ist die Frage. Ich habe keine Ahnung. Etwas<br />
über die Medienbranche. Vielleicht einen Krimi“, sagte<br />
ich, nahm einen Zug von der Zigarette und atmete ganz<br />
langsam wieder aus. „Oder ganz was anderes.“
„Dann lasse ich dich wohl besser wieder in Ruhe<br />
nachdenken“, sagte Eugene und stand auf. „Fliegst du<br />
von Neapel aus?“, fragte er noch.<br />
„Ja.“<br />
„Wir fahren da morgen hin. Wir könnten dich zum<br />
Flughafen bringen.“<br />
Ich würde Anna noch einmal sehen. „Das wäre nett“,<br />
sagte ich.<br />
„Und auf dem Weg dorthin ...“<br />
„... werde ich einen kurzen Text für eure Homepage<br />
schreiben. Als kleine Gegenleistung. Ich habe mein<br />
Notebook dabei, kein Problem.“<br />
#<br />
„Was will denn der da?“, fragte einer der Gitarristen, als<br />
ich am Morgen beim Bus auftauchte. Es war der<br />
Schönling der Band. Irgendwie hat jede Band ihren<br />
Schönling, ist das nicht interessant? Leute in den<br />
Zwanzigern oder Anfang Dreißig glauben ja oft, dass
diese Milchbubis ein Phänomen der Boygroup-Ära sind<br />
und rümpfen verächtlich die Nase. Aber damit liegen sie<br />
völlig falsch. Bono hat mal in einem Interview erzählt,<br />
dass Larry Mullen Jr nur deswegen bei U2 aufgenommen<br />
worden war, weil er hübsch war. Bono, the<br />
Edge und Adam Clayton waren so hässlich wie die<br />
Nacht finster, also musste für die zukünftigen weiblichen<br />
Fans noch ein Schönling her. Dass der zufällig auch ein<br />
hochgradig talentierter Drummer war, hat der Band aber<br />
vermutlich auch nicht geschadet.<br />
„Er fährt mit uns nach Neapel“, sagte Eugene, der<br />
gerade aus dem Bus stieg „Er macht Interviews mit euch.<br />
Für die Website. Du kannst gleich das Erste geben!“<br />
„Interessant“, sagte der Typ desinteressiert.<br />
Schulterlange blonde Haare, braungebrannt, sportlich.<br />
Arrogant. Ich hatte mir meine schlechte Meinung von<br />
ihm schon beim Konzert gebildet, in der Sekunde, als<br />
ich ihn auf die Bühne kommen sah. Jetzt war ich<br />
überzeugt, mich nicht getäuscht zu haben.<br />
Eugene schüttelte mir die Hand.
„Das ist Chris“, sagte er. „Chris fährt die erste<br />
Teilstrecke heute. Normalerweise darf man mit<br />
Busfahrern ja nicht sprechen, aber wir machen heute<br />
eine Ausnahme. Du kannst dich hier in die erste Reihe<br />
setzen“, sagte Eugene.<br />
Ah ja, danke. Ich musste eine Menge Müll von den<br />
Sitzen räumen, bevor ich Platz fand. Warum tust du dir<br />
das an, fragte ich mich.<br />
Es war frühmorgens, mir war kalt, ich war<br />
unausgeschlafen, der Bus stank nach einer Milliarde<br />
Zigaretten, ich hatte nicht Zähne geputzt, es gab keinen<br />
Kaffee und dieser Chris nervte schon vor dem Interview.<br />
Ich beobachtete ihn und Eugene und einen der anderen<br />
Musiker dabei, wie sie noch ein paar Dinge in den<br />
Stockbus räumten. Ich wusste natürlich, warum ich<br />
mitfuhr.<br />
Anna.<br />
Von ihr war nichts zu sehen. Sie schlief wohl.<br />
Zehn Minuten später ging es los. Chris brauchte drei<br />
oder vier Versuche, bis der Bus ansprang, dann rollten
wir los. Weg vom Strand, zunächst über einen Feldweg,<br />
hinauf zur Küstenstraße. Die anderen verkrochen sich<br />
irgendwo im oberen Stockwerk des Busses.<br />
Wir fuhren wortlos. Fünfzehn Minuten, dreißig,<br />
fünfundvierzig.<br />
„Wolltest du nicht ein Interview machen?“, fragte Chris.<br />
„Klar“, sagte ich. „Ich bin nur noch nicht fit, so früh am<br />
Morgen, du weißt schon. Aber fang mal an zu erzählen.“<br />
„Okay. Ich heiße Chris. Chris Mess. Das ist mein<br />
Künstlername. Verstehst du? Chris Mess, so wie<br />
Christmas. Ich bin zweiundzwanzig, Single, Gitarrist<br />
und ich bin aus Schweden. Stockholm. Aber dort ist es<br />
mir viel zu kalt, deswegen bin ich vor zwei Jahren<br />
abgehauen. Ich bin nach Gran Canaria und habe dort<br />
einen Winter lang als Animateur gearbeitet, dann bin ich<br />
aufs Festland rüber und wollte eigentlich per Autostopp<br />
zurück nach Schweden. Aber weit bin ich dabei nicht<br />
gekommen. In Barcelona habe ich ein Konzert der<br />
Soundinistas gesehen, bin mit Eugene ins Reden
gekommen – tja, und jetzt bin ich hier. In gewisser<br />
Weise bin ich immer noch Animateur.“<br />
Ich blickte aus dem Fenster, beobachtete die karge<br />
Vegetation und den grauen Himmel.<br />
„Hallo?“, drängte der Typ.<br />
So ein Superduperarschloch, dachte ich, und sagte dann:<br />
„Das reicht fürs Erste. Es werden ja nur ganz kurze<br />
Texte.“<br />
Ich musste lächeln und freute ich mich auf das gepflegte<br />
Abendessen mit Max.<br />
Max war mein Cousin, und fast mein Bruder.<br />
Wir saßen beim Abendessen, die ganze Familie.<br />
„Kinder, wir müssen etwas mit euch besprechen“, sagte<br />
mein Vater. Immer wenn er das sagte, gab es eine<br />
unerfreuliche Nachricht.<br />
„Euer Cousin Max“, sagte er, „wird in Zukunft bei uns<br />
wohnen.“<br />
#
Meine Geschwister plärrten sofort drauflos, aber mein<br />
Vater schüttelte den Kopf und machte eine<br />
wegwischende Geste mit der Hand.<br />
„Hört euch doch erst mal an, was euer Vater zu sagen<br />
hat“, sagte meine Mutter.<br />
„Er wird hier zu Schule gehen“, sagte mein Vater. „Max<br />
ist ein kluger und hochtalentierter Junge, er soll seinen<br />
Abschluss an einer guten Schule machen, und so etwas<br />
gibt es bei Tante Betty auf dem Land eben nicht. Also<br />
hat uns Tante Betty gebeten, ihn aufzunehmen.“<br />
„Und dann?“, fragte eine meiner Schwestern.<br />
„Und dann wird er wohl zur Universität gehen“, sagte<br />
mein Vater. „Jura, vielleicht. Aber das dauert noch Jahre<br />
bis dahin.“<br />
„Nein, das meinte ich nicht“, sagte meine Schwester.<br />
„Und wo wird er dann wohnen? Wir haben kein<br />
Zimmer mehr frei.“<br />
„Nun“, sagte mein Vater, und er sah dabei nicht meine<br />
Schwester an, sondern das erste Mal an diesem Abend
mich, „wir haben uns überlegt, dass es am besten ist,<br />
wenn ihr beide euch ein Zimmer teilt.“<br />
Mir stiegen Tränen in die Augen. „Mein Zimmer!“,<br />
schrie ich. Es hätte wie eine Frage klingen sollen.<br />
„Für ein paar Jahre ist das jetzt euer Zimmer“, sagte<br />
mein Vater.<br />
„Aber Max ist ein Superduperarschloch!“, brüllte ich aus<br />
Leibeskräften, dann warf ich meine Serviette auf den<br />
Tisch und sprang auf, ohne um Erlaubnis zu fragen, und<br />
lief in mein Zimmer. Dort wartete ich darauf, dass<br />
meine Mutter mir nachkam, aber ich wartete vergebens.<br />
Superduperarschloch. Ich glaube, ich hatte das kindische<br />
Doppel-Präfix nur erfunden, um nicht Arschloch sagen<br />
zu müssen.<br />
So sprach man nicht im Haus meiner Eltern.<br />
#
Sie stand plötzlich neben mir, stützte die Unterarme auf<br />
die Lehne des Sessels. Sie wirkte zornig und biss hektisch<br />
auf einem Kaugummi herum.<br />
„Oh“, sagte ich überrascht. „Guten Morgen. Wo<br />
kommst du denn her?“<br />
„Das sollte ich wohl dich fragen“, sagte Anna. Kein guter<br />
Morgen.<br />
„Euer Manager ...“, sagte ich.<br />
„Eugene.“<br />
„Ja. Eugene hat mich gebeten, nach Neapel mitzufahren<br />
und Interviews mit allen Bandmitgliedern zu machen.“<br />
Sie kaute weiter, ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert.<br />
„Für die Homepage“, sagte ich.<br />
„Interviews. So wie unseres gestern?“<br />
War das ein Vorwurf? Ein Scherz? Oder war es nett<br />
gemeint? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.<br />
„Und hast du schon alle anderen interviewt?“, fragte sie.<br />
„Nein.“<br />
„Na, dann mach mal“, sagte sie und setzte sich neben<br />
mich. „Das letzte Mal sind wir ja wirklich nicht weit
gekommen damit“, flüsterte sie und es klang wie eine<br />
nüchterne Tatsachenfeststellung. Ich lächelte und wusste<br />
immer noch nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war.<br />
„Anna“, sagte sie. „Vierundzwanzig Jahre, Sängerin und<br />
Bassistin.“<br />
„Kein Nachname?“, fragte ich.<br />
Sie lächelte. „Jersey.“<br />
Mein Kinn klappte nach unten. „Sag nicht ...“<br />
„Doch. Er ist mein Vater.“<br />
Ich schnitt eine Grimasse. „Er hat mich nackt gesehen.<br />
Also, du weißt schon, nach unserem ... Interview.“<br />
„Und?“<br />
„Das ist mir jetzt noch peinlicher.“<br />
Sie zuckte mit den Schultern. „Dein Problem.“<br />
„Dir ist das egal?“<br />
„Wir sind seit fast sieben Jahren die meiste Zeit<br />
gemeinsam in einem Tourbus unterwegs. Glaubst du, du<br />
bist der Erste, von dem er weiß, dass ich ihn<br />
abgeschleppt habe?“
Sie klang nicht aggressiv, sondern eher belustigt. Und sie<br />
versuchte nicht unbedingt, leise zu sein.<br />
„Okay, du bist also die Tochter des Managers“,<br />
murmelte ich. “Das ist ungewöhnlich, das ist eine gute<br />
Story ...“<br />
„Lass das!“<br />
„Was?“<br />
„Wenn du das so darstellst, als wäre ich nur in der Band,<br />
weil ich die Tochter des Managers bin, dann trete ich dir<br />
sonst wohin. Genauso gut könnte man sagen, Eugene ist<br />
nur der Manager, weil er der Vater der Leadsängerin ist.<br />
Wir sind gleichberechtigt, verstehst du?“<br />
„Voll und ganz.“<br />
„Okay.“<br />
„Nennst du ihn deswegen Eugene und nicht Vater oder<br />
Papa oder was weiß ich?“<br />
Sie zuckte die Achseln. „Nein. Vielleicht. Keine Ahnung,<br />
ich nenne ihn schon sehr lange so.“<br />
„Wie seid ihr gemeinsam in eine Band geraten? Du bist<br />
24, ihr seid seit sieben Jahren gemeinsam unterwegs ...“
„Ich bin in San Francisco geboren, habe dort mit meiner<br />
Mutter gelebt. Eugene war nicht viel zu Hause. Er hat<br />
sich in der Umweltbewegung engagiert, war ständig auf<br />
irgendwelchen Anti-Atom-Demonstrationen und<br />
Kongressen und solchen Sachen. Er war ständig im<br />
ganzen Land unterwegs, und wenn er da war, dann war<br />
das Haus voll mit Freunden meiner Eltern, lauter alte<br />
Kumpel aus der Anti-Vietnam- und der<br />
Bürgerrechtsbewegung. Ich habe ihn praktisch nie für<br />
mich gehabt. Vielleicht nenne ich ihn deshalb einfach<br />
Eugene. Und dann hatte er ja noch seinen Job an der<br />
Universität in Berkeley. Ich glaube, seine Studenten hat<br />
er mehr gesehen als mich.“<br />
„Eugene hat unterrichtet?“<br />
Sie lächelte stolz. „Eugene Jersey, Ph.D. Spezialgebiet:<br />
Politische Philosophie der Neuzeit.“<br />
„Und wie seid ihr dann hier gelandet?“ Es sollte nicht<br />
beleidigend klingen, aber mir war sofort klar, dass ich<br />
den Satz falsch betont hatte. Sie kniff die Augen<br />
warnend zusammen.
„Als Eugenes Eltern starben, erbte er ein schönes<br />
Sümmchen. Meine Eltern beschlossen, zunächst einmal<br />
eine ausgedehnte Europareise zu unternehmen. In<br />
Marseille lernten sie den Besitzer eines<br />
heruntergekommenen Jazz-Clubs in der Hafengegend<br />
kennen, der in Pension gehen wollte, aber keinen<br />
Nachfolger hatte. Sie soffen zusammen, verhandelten<br />
und zur Sperrstunde kauften meine Eltern den Club.<br />
Dort bin ich aufgewachsen, zwischen den Musikern und<br />
den Säufern, den Nutten und den Seeleuten, zwischen<br />
Franzosen und Algeriern und Marokkanern und<br />
Spaniern und Katalanen und Basken und Italienern und<br />
Korsen und, und, und ...“<br />
„Interessant“, sagte ich. „Klingt so gut, dass man es<br />
erfinden müsste, wenn es nicht wahr wäre.“<br />
Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten<br />
konnte. „Vielleicht ist es ja auch nicht wahr?“<br />
„Vielleicht. Aber ich kann’s ja dennoch schreiben.“<br />
„Tu das“, sagte sie.<br />
„Und dann?“
„Ich habe meine erste Band gegründet, als ich fünfzehn<br />
war. Meine Eltern haben uns in ihrem Club auftreten<br />
lassen. Eugene hat uns nach und nach auch Auftritte in<br />
befreundeten Clubs in anderen Städten besorgt. Er war<br />
damals schon so etwas wie unser Manager. Und dann ist<br />
meine Mutter gestorben. Ein Autounfall. Sie ist aus dem<br />
Haus gegangen, um mit einer Freundin auf den Markt<br />
zu gehen und frisches Gemüse zu kaufen, und ist nie<br />
wiedergekommen. Für mich war das natürlich ein<br />
Schock, aber ich glaube, Eugene hat noch mehr darunter<br />
gelitten. Er hat den Jazz-Club zugesperrt – einfach<br />
zugesperrt, nicht verkauft –, hat unsere sieben Sachen in<br />
unseren Lieferwagen gepackt und wir sind losgefahren.“<br />
„Und dann?“<br />
„Wir haben Live-Clubs in ganz Europa besucht.<br />
Manchmal habe ich dort gespielt, manchmal nicht. Ich<br />
bin alleine aufgetreten, als Singer/Songwriterin, ganz<br />
klassisch, nur mit akustischer Gitarre. Nach ein paar<br />
Monaten haben wir Carlos und Dmitri in einem Club in<br />
Genua kennengelernt. Sie sind nach uns aufgetreten. Sie
waren gut und nach dem Konzert haben wir uns<br />
unterhalten und es hat gefunkt. Die beiden hatten am<br />
nächsten Tag einen Auftritt in La Spezia, wir hatten frei.<br />
Sie hatten kein Auto, also haben wir sie hingebracht.“<br />
„Sie waren ohne Auto auf Tournee?“<br />
„Sie waren per Autostopp unterwegs. Jedenfalls sind wir<br />
an diesem Abend in La Spezia das erste Mal gemeinsam<br />
auf der Bühne gestanden, und ab dann ist das auch so<br />
geblieben. Das war vor sechs Jahren. Seit dem touren wir<br />
gemeinsam durch Europa. Wir drei auf der Bühne und<br />
Eugene als Manager. Meistens haben wir noch einen<br />
Gitarristen dabei, einmal für ein paar Monate auch eine<br />
Gitarristin. Lena. Hat nicht funktioniert, die war eine<br />
ziemliche Schlampe. Seit ein paar Monaten haben wir<br />
eben Chris mit an Bord. Apropos an Bord. Diesen Bus<br />
haben wir vor drei Jahren in England gekauft und selbst<br />
zu unserer Wohnung umgebaut.“<br />
„Gute Geschichte“, sagte ich.<br />
„Okay. Dann sind wir ja fertig“, sagte sie und stand<br />
abrupt auf.
„Warte, eines noch ...“, sagte ich und versuchte, schnell<br />
eine Frage zu finden, die nicht allzu banal war. „Wie<br />
stellst du dir deine Zukunft vor?“<br />
Volltreffer.<br />
Sie dachte eine Sekunde nach. „Ich glaube, das reicht<br />
fürs Erste“, sagte sie. „Es werden ja nur ganz kurze<br />
Texte.“<br />
„Max zieht bei uns ein“, hatte mein Vater gesagt, aber<br />
ich sah das anders. Max zog nicht bei uns ein, sondern<br />
bei mir.<br />
Wir kauften ein Stockbett für mein Zimmer. Ich wollte<br />
unbedingt das obere Bett. Unbedingt. Ich hätte mich<br />
erdrückt gefühlt, wenn Max die ganze Nacht im Bett<br />
über mir geschlafen hätte. Max war nur zwei Monate<br />
älter, aber über einen Kopf größer und doppelt so<br />
schwer. Es hätte mich wahnsinnig gemacht.<br />
#
Wir kauften das Bett eine Woche, bevor Max einzog. Ich<br />
drängte meinen Vater jeden Abend, es<br />
zusammenzubauen. Ich hatte es eilig, mein altes Bett aus<br />
dem Zimmer zu räumen, das neue aufzubauen und das<br />
obere Bett zu besetzen.<br />
Aber mein Vater war ein viel beschäftigter Mann und<br />
abends war er immer zu müde. „Morgen machen wir<br />
das, versprochen“, sagte er. Er sagte das am Dienstag<br />
und am Mittwoch und am Donnertag und am Freitag.<br />
Am Samstag erwarteten wir Tante Betty und Max zum<br />
Abendessen. Dann war es zu spät.<br />
Am Samstag weckte ich meinen Vater das erste und<br />
einzige Mal in meinem Leben. Er war immer ein<br />
arbeitsamer Frühaufsteher, ich bin wohl ein<br />
hoffnungsloser Morgenmuffel. Aber an diesem Tag war<br />
es anders. Ich konnte nicht früh genug mit der Arbeit<br />
beginnen.<br />
Wir zerlegten mein altes Bett, schleppen es in den Keller,<br />
legten die Teile des neuen Betts griffbereit in meinem<br />
Zimmer auf und machten uns an die Arbeit. Ich habe
niemals zuvor so konzentriert mit meinem Vater<br />
zusammengearbeitet und ich glaube, das erfüllte ihn mit<br />
ein wenig Freude.<br />
„Mittagessen ist fertig!“, rief meine Mutter plötzlich.<br />
„Wir kommen gleich!“, antwortete mein Vater. „Eine<br />
Schraube noch.“<br />
Er ließ mich diese letzte Schraube reindrehen, und dann<br />
machten wir einen Schritt zurück und betrachteten<br />
unser Werk. Vater und Sohn. Ich fühlte mich ihm nicht<br />
oft verbunden.<br />
„Nach dem Essen holen wir die Matratzen“, sagte er.<br />
„Und die Bettwäsche“, sagte ich. „Ich werde mein Bett<br />
gleich beziehen.“<br />
„Warte damit noch“, sagte mein Vater. „Max ist der<br />
Gast. Er sollte sich aussuchen, ob er oben oder unten<br />
schlafen möchte.“<br />
Dann drehte er sich um und ging essen. Ich trottete<br />
hinterher und sprach bei Tisch kein Wort, aber das fiel<br />
niemandem auf.
Der Nachmittag war schrecklich. So ein Nachmittag,<br />
wie man ihn eben oft hat, wenn man sich eine<br />
unglückliche Jugend einbildet. In meiner Erinnerung<br />
war es bewölkt und düster, Herbstendzeitstimmung.<br />
Tatsächlich war es Ende August, das Wetter wird wohl<br />
herrlich gewesen sein.<br />
Max und Tante Betty kamen pünktlich um sechs Uhr.<br />
Allgemeine Begrüßung, nur ich stand ein wenig abseits.<br />
Mein Vater sagte: „Bringen wir zuerst Max’ Sachen auf<br />
sein neues Zimmer. Er wird neugierig sein.“<br />
So gingen wir alle in mein ehemaliges Zimmer, das für<br />
meinen Vater nun offensichtlich schon Max gehörte.<br />
„Welches Bett willst du?“, fragte er. „Das obere oder das<br />
untere?“<br />
Ich hielt den Atem an. Max überlegte.<br />
Dann sah er mich an. „Das ist dein Zimmer, oder?“<br />
Ich nickte.<br />
„Jetzt ist es euer Zimmer, Max“, sagte mein Vater.<br />
„Welches Bett willst du?“, fragte Max.
„Du bist der Gast, du darfst dir eines aussuchen“, hörte<br />
ich mich sagen, und nach einer Sekunde Pause ergänzte<br />
ich: „... hat mein Vater gesagt.“<br />
Max lächelte. Ich dachte, er genoss diesen Sieg. Aber<br />
dann sagte er: „Hey Mann, es ist dein Zimmer. Wo<br />
willst du schlafen?“<br />
Ich habe es noch im Ohr, dieses „Hey Mann“, das cool<br />
klingen sollte. Es klang auch cool. Ich warf einen Blick<br />
auf meinen Vater. Er zeigte keine Reaktion. „Oben“,<br />
sagte ich.<br />
„Gut“, sagte Max und legte seinen Koffer auf das untere<br />
Bett. Dann hielt er mir die Hand hin. „Auf gute<br />
Partnerschaft.“<br />
Der obere Stock des Autobusses war zweigeteilt. Hinten<br />
befanden sich die Schlafplätze. Sie waren mit<br />
blickdichten Vorhängen versehen, aber offensichtlich<br />
#
gab es acht Kojen. Vier links, vier rechts des Ganges,<br />
angeordnet wie Stockbetten. Stockbetten!<br />
In der vorderen Hälfte des Raumes standen zwei Sofas,<br />
und die Wände und die Frontseite waren mit Regalen<br />
verkleidet, in die bis in den letzten Millimeter Bücher<br />
und Zeitschriften gestopft waren. Obwohl es mitten am<br />
Tag war, war der Raum düster, denn alle Fenster waren<br />
entweder mit Vorhängen verhängt oder von den Regalen<br />
verstellt. Nur zwei rote Lavalampen und Annas Leselicht<br />
sorgten dafür, dass ich überhaupt etwas sehen konnte.<br />
Anna lag in einer der Kojen, las in einem Magazin und<br />
schenkte mir keine Beachtung, Carlos lümmelte auf<br />
einem Sofa, hatte die Augen geschlossen und trug<br />
Kopfhörer.<br />
Ich legte den Kopf schief und ließ die Augen über die<br />
Bücher wandern. Im ersten Regal fand ich viel von<br />
Stephen King und Dean Koontz, aber auch Grisham<br />
und seine Trittbrettfahrer.<br />
Dann, im zweiten Regal viel Marx, Engels und<br />
Gramsci, Bakunin, Proudhon und Kropotkin, einiges
von Kant und Locke und Adam Smith, dazwischen<br />
Sartre, Foucault und Bordieu und Adorno/Horkheimer.<br />
Ich schmunzelte. In der Schule und beim Studium hatte<br />
ich über die meisten dieser Autoren zumindest ein wenig<br />
Sekundärliteratur gelesen, hier standen sie nun im<br />
Original auf Deutsch, Englisch, Französisch und<br />
Italienisch, und von den Russen gab es englische<br />
Übersetzungen. Ich nahm Adam Smith aus dem Regal.<br />
Der Wohlstand der Nationen. Das hatte ich zu lesen<br />
versucht, aber nach den ersten Kapiteln über die<br />
Arbeitsteilung hatte ich es gelangweilt bleiben lassen und<br />
es bei einer Zusammenfassung belassen. Es war mir nie<br />
abgegangen und soweit ich wusste, hatte Max sein<br />
Wirtschaftsstudium abgeschlossen, ohne es je gelesen zu<br />
haben. Ich stellte das Buch wieder zurück.<br />
Im nächsten Regal fanden sich Freud und Jung,<br />
Dawkins und Dennett, McLuhan und Watzlawick.<br />
Darunter dann antike Klassiker: Aristoteles, Platon,<br />
Epikur, Seneca, Cicero, Marc Aurel, Augustinus, aber<br />
auch Homer, Herodot und Plinius.
Auf der gegenüberliegenden Seite waren die Regale mit<br />
Sachbüchern und prächtigen Bildbänden vollgestopft.<br />
Werke über die Kunstgeschichte der Antike, des<br />
Mittelalters und der italienischen Renaissance standen<br />
neben Biografien von Dante, Galilei und Victor Hugo,<br />
dazu Monografien über historische Themen wie die<br />
Geschichte des Ackerbaus, der Schrift, des Seehandels,<br />
des Buchdrucks, der Ölmalerei und der Astronomie und<br />
Grundlagenwerke zur babylonischen und griechischen<br />
Kultur, der französischen und der industriellen<br />
Revolution, über Humanismus, Liberalismus,<br />
Sozialismus und, und, und ...<br />
„Das gehört alles Eugene“, sagte Carlos, der die Augen<br />
geöffnet und die Kopfhörer abgenommen hatte. „Nur<br />
das eine Regal dort, das teilen uns wir anderen.“ Er<br />
deutete auf die King- und Grisham-Abteilung.<br />
„Verstehe“, sagte ich.<br />
#
Es lief gar nicht so schlecht, das mit Max und mir,<br />
zumindest phasenweise. Er bemühte sich, das muss man<br />
anerkennen, und nachträglich betrachtet war ich in der<br />
ersten Zeit wohl wirklich kein einfacher Mitbewohner.<br />
Aber wir bekamen es halbwegs auf die Reihe. Okay, dass<br />
Max eindeutig stärker war und mir kräftig mit der Faust<br />
in die Magengrube schlug, wann immer er es für<br />
geboten hielt, mag auch dazu beigetragen haben, dass ich<br />
meinen offenen Widerstand gegen seine Anwesenheit<br />
bald aufgab. Wir rauften uns also im wahrsten Sinne des<br />
Wortes zusammen. Und nach einiger Zeit gab es auch<br />
Momente, da fand ich Max cool. Als er in meinem<br />
Zimmer einzog, war er ein fetter, dummer Bauernjunge.<br />
Doch er entwickelte sich, und das schnell. Er las Hesse<br />
und Hemingway und Bukowski und alle die anderen<br />
Pubertätsklassiker, die meine Eltern im Regal hatten. Er<br />
nahm ab. Seine Garderobe änderte sich, Stück für Stück,<br />
und nach einem Jahr war er richtig hip. Wenig später<br />
brachte er die ersten Freundinnen mit nach Hause.
Dann stritten wir um unser Zimmer und manchmal<br />
warf er mich einfach raus.<br />
Wir gründeten unsere erste Band mit Freunden,<br />
nachdem wir gemeinsam einen Videofilm angesehen<br />
hatten. Zurück in die Zukunft. Michael J. Fox an der<br />
roten E-Gitarre. Der Abschluss-Ball. Rock ’n’ Roll. Wir<br />
losten um die Instrumente und Max zog den Zettel, auf<br />
dem „Lead Guitar“ stand. Ich könnte wetten, er hat<br />
nachgeholfen. Jedenfalls kamen wir heim und ich wollte<br />
meinen Eltern von der Band erzählen, aber ich musste<br />
zuvor noch aufs Klo und während ich pinkelte, war er<br />
schneller und schilderte unseren zukünftigen Erfolg mit<br />
leuchtenden Augen. Mein Vater rief Tante Betty an und<br />
wenige Tage später kauften sie gemeinsam zwei<br />
Gitarren. Eine rote, so wie im Film, für Max und eine<br />
weiße für mich. Da waren wir 15.<br />
Als ich das erste Mal auf der Bühne stand, hatte ich noch<br />
nie live ein Konzert gesehen. Ich kannte nur Zurück in<br />
die Zukunft, wir hatten inzwischen auch eine VHS-<br />
Kassette, kopiert von einem Freund. Der Abschlussball
war unsere Lieblingsszene, wir sahen sie tausend Mal,<br />
immer und immer wieder. So hatte ein Konzert zu sein.<br />
Johnny B. Goode. Max war Marty, er sang und spielte<br />
die Leadgitarre. Er tobte über die Bühne. Er wälzte sich<br />
am Boden. Er trat gegen die Verstärker. Die Mädchen<br />
kreischten. Ich stand daneben und zupfte die<br />
Rhythmusgitarre.<br />
Ehrlich gesagt: Ich war auch weniger musikalisch als<br />
Max. Er komponierte unsere Nummern, spielte mir<br />
meinen Part vor und ich lernte ihn auswendig. Das<br />
funktionierte ganz gut.<br />
Aber Max schrieb schreckliche Texte. Einmal stritten wir<br />
und er warf mir vor, beschissen zu spielen, und weil ich<br />
nicht wusste, was ich ihm vorwerfen konnte, schrie ich:<br />
„Und du schreibst Scheißtexte!“<br />
„Ach so?“ brüllte er zurück. „Dann schreib doch mal<br />
einen besseren, Klugscheißer!“<br />
Das tat ich. Ich schrieb die ganze Nacht und brachte<br />
meinen Text am nächsten Tag zur Probe mit, in<br />
dreifacher Abschrift.
Max las ihn und sagte: „Na ja, das ist aber auch nicht<br />
besser, Kleiner.“<br />
„Doch“, sagte Stijn, unser Drummer. „Sein Text ist<br />
besser.“<br />
Und Tom, der Bassist, stimmte ihm zu. „Der Kleine soll<br />
ab jetzt die Lyrics schreiben“, sagten sie, und so war es<br />
dann auch.<br />
#<br />
Carlos erinnerte mich an Iggy Pop. Gleiches Alter,<br />
ähnlich strähniges langes Haar, ein drahtiger,<br />
dunkelbrauner Körper, dem man den jahrzehntelangen<br />
Missbrauch deutlich ansieht. Nur Carlos' Gesicht wirkte<br />
etwas verbrauchter als das von Iggy, sein Drei-Tages-<br />
Bart noch struppiger, seine Tattoos noch verwaschener.<br />
Er hat die letzten dreißig Jahre als fahrender Musiker auf<br />
der Straße verbracht, in Fußgängerzonen und U-Bahn-<br />
Stationen gespielt, in Telefonzellen und Parks, auf<br />
Bahnhöfen und Stränden übernachtet, die meiste Zeit
irgendwo zwischen Lissabon und Kalkutta, manchmal<br />
auch darüber hinaus.<br />
1987 trifft er in Leipzig Dmitri, der ist Russe, KPdSU-<br />
Mitglied, desillusioniert und schwul. Er arbeitet seit fast<br />
fünfzehn Jahren als Buchhalter in der<br />
Außenhandelsstelle eines russischen Staatsunternehmens<br />
und geht Tag für Tag brav seiner Arbeit nach. Aber<br />
abends gibt es einen anderen Dmitri, der durch die<br />
verrauchten Hinterzimmer der Leipziger Szene streift,<br />
Schlagzeug in einer Rockband spielt, Abenteuer sucht.<br />
Was wie der Beginn eines Spionage-Romans klingt<br />
(leider keine Story für mich, denke ich in diesem<br />
Moment, zu viel Politik und zu wenig Musik),<br />
entwickelt sich „nur“ zu einer Liebesgeschichte. Carlos<br />
und Dmitri lernen sich auf einem Konzert kennen und<br />
bleiben zusammen.<br />
Carlos reist nun hauptsächlich durch Osteuropa, die<br />
Behörden lassen ihn in Ruhe, sie haben gerade andere<br />
Sorgen. Er trifft Dmitri in Ungarn, in Rumänien und<br />
natürlich immer wieder in der DDR. 1989, als die
Mauer fällt, kündigt Dmitri seinen Job, tritt aus der<br />
Partei aus und geht mit Carlos auf Reisen, wieder von<br />
Lissabon bis nach Kalkutta und manchmal darüber<br />
hinaus.<br />
Irgendwann treten die beiden in Genua auf, nach einer<br />
beeindruckenden jungen Sängerin mit rotbraunem Haar<br />
und ...<br />
Hier brach ich das Interview ab und stand auf. „Ich setze<br />
mich jetzt besser runter und schreibe die Texte. Sonst<br />
werde ich nicht fertig, bis wir ankommen.“<br />
#<br />
Dann ging die Schulzeit zu Ende. Im Sommer danach<br />
gingen wir mit unserer Band auf eine kleine Tournee,<br />
die wir in den Monaten zuvor organisiert hatten. Es war<br />
ein Fiasko. Bisher waren wir immer vor Freunden<br />
aufgetreten oder zumindest an Orten, an denen wir viele<br />
Bekannte mobilisieren konnten. Und die jubelten, weil<br />
sie uns mochten. Vor völlig fremdem Publikum merkten
wir erst, wie hart der Job auf der Bühne wirklich sein<br />
kann.<br />
Als die Minitournee nach zwei Wochen vorbei war, löste<br />
die Band sich auf. Wir saßen nebeneinander an der Bar<br />
eines Irish Pub, das damals unser Stammlokal war. Max<br />
hatte was mit der Tochter des Wirten.<br />
„Das wird nichts“, sagte Tom, der Bassist.<br />
„Nein, das wird nichts“, sagte Stijn, der Drummer. „Für<br />
mich ist es vorbei.“<br />
„Was soll das heißen?“, fragte Max.<br />
„Ich beginne im Herbst mit einem<br />
Finanzwirtschaftsstudium.“<br />
„Finanzwirtschaft?“<br />
„Yep. Und ihr solltet euch auch was suchen. Seht der<br />
Wahrheit ins Auge: Wir werden keine Stars.“<br />
„Informatik“, sagte Tom.<br />
Ich verdrehte die Augen „Informatik?“<br />
„Klar, das ist eine Zukunftsbranche.“<br />
„Aha.“<br />
„Das ist nicht dein Ernst?“, fragte Max.
Tom nickte langsam „Doch.“ Dann trank er sein Bier<br />
aus und zahlte. „Ich verliere hier nur noch Zeit. Und ihr<br />
solltet auch gehen. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.<br />
Das ist doch etwas Schönes.“<br />
Max und ich blickten ihn verwirrt an, aber auch Stijn<br />
trank sein Bier aus. Dann umarmten wir uns alle noch<br />
einmal und die beiden gingen ihrer Wege.<br />
„Und jetzt?“ fragte ich.<br />
„Noch zwei Bier“, sagte Max. Und nach einer langen,<br />
langen Pause: „Weißt du was, sie haben recht.“<br />
„Scheiße“, sagte ich, aber ich wusste, dass es wahr war.<br />
„Ich will aber kein Buchhalter werden“, murmelte ich<br />
trotzig.<br />
„Ich studiere Betriebswirtschaft“, sagte Max und nahm<br />
einen Schluck vom Bier. „Und dann gehe ich ins<br />
Musikmanagement.“<br />
„Ist nicht dein Ernst?“<br />
„Klar.“<br />
Ich stöhnte.
„Überleg mal. Papsch geht davon aus, dass wir beide<br />
Jura studieren.“ Er nannte meinen Vater schon lange<br />
Papsch. „Aber damit kommen wir nie in die<br />
Musikbranche. Oder willst du das Kleingedruckte in den<br />
Verträgen schreiben?“<br />
Ich stöhnte noch mal.<br />
„Also: ab ins Management“ sagte Max.<br />
„Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagte ich.<br />
„Keineswegs. Ich sehe eine strahlende Zukunft. Hey<br />
Mann, neben dir sitzt der nächste Richard Branson.“<br />
„Branson hat kein Betriebswirtschaftsstudium“, sagte<br />
ich.<br />
„Woher willst du das wissen?“, fragte Max.<br />
„Weil ich eine Menge über ihn gelesen habe.“<br />
„Weißt du, das ist dein Fehler: Du liest zu viel. Man<br />
sollte sein eigenes Leben führen.“<br />
„Danke für diese Weisheit.“<br />
„Bitte.“<br />
Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatten wir unser<br />
erstes brav-bürgerliches Mittagessen mit der ganzen
Familie, und ich glaube, meine Eltern waren heilfroh,<br />
dass unsere Existenz als Rockmusiker ein Jugendkapitel<br />
war, das nun geschlossen werden sollte. Mein Vater war<br />
zwar skeptisch, als wir gestanden, nicht Jura studieren zu<br />
wollen, aber Max schaffte es schnell, ihn zu überzeugen.<br />
Dass wir ausgerechnet in die Musikbranche wollten, ließ<br />
er unerwähnt. Damit war es entschieden: Wir studierten<br />
Betriebswirtschaft.<br />
Etwa zwei Jahre lang ging das auch gut, wir waren mit<br />
viel Einsatz dahinter und lieferten uns ein Match um die<br />
besseren Noten. Dann ergatterte Max ein Praktikum bei<br />
einem Plattenlabel von Universal Music. Er machte sich<br />
Freunde und bekam eine Halbtagsstelle angeboten, die<br />
kaufmännische Betreuung der A&R-Abteilung. Das<br />
steht für Artist & Repertoire, also die Talenteschmiede.<br />
Als ein Praktikum in der Marketing-Abteilung frei<br />
wurde, holte er mich nach.<br />
Ich bekam danach zwar keine Stelle angeboten, hatte<br />
aber erste Kontakte zu Musikjournalisten in praktisch<br />
allen Redaktionen geknüpft. Das Schreiben von
Presseaussendungen hatte mir Spaß gemacht und ich<br />
war auch nicht völlig talentfrei. Nach und nach<br />
schlitterte ich so in den Musikjournalismus. Ohne dass<br />
mein Vater davon wusste, begann ich für Zeitschriften<br />
zu schreiben. Es war zu Beginn ein wenig zäh, aber wenn<br />
man billig genug ist, bekommt man in jeder Redaktion<br />
den Fuß in die Tür.<br />
Bei meinem Studium ging immer weniger weiter,<br />
während Max immer noch ausgezeichnete Noten<br />
lieferte. Mein Vater begann an mir herumzunörgeln und<br />
mir Max als Vorbild unter die Nase zu halten, und da<br />
wurde mir klar, dass unser Wettlauf um die besseren<br />
Noten auch immer ein Wettlauf um die Anerkennung<br />
meines Vaters gewesen war. Als ich das erkannte, war der<br />
Ofen aus.<br />
Ich habe mein Studium nie wirklich abgebrochen. Ich<br />
machte irgendwann einfach nicht mehr weiter. Als mein<br />
Vater merkte, dass ich den ganzen Tag damit verbrachte,<br />
über Musiker und andere Drogenkonsumenten zu<br />
schreiben, strich er mir die finanzielle Unterstützung,
und von da an lebte ich als freier Journalist. Zu unser<br />
aller Überraschung ging das gar nicht so schlecht. Ich<br />
zog zu Hause aus und reduzierte den Kontakt zu meiner<br />
Familie auf ein Minimum.<br />
Max machte sein Studium fertig, natürlich mit<br />
Auszeichnung. Er schmiss eine riesige Party und lud<br />
mich dazu ein. Ich musste kommen, denn er wollte, dass<br />
unsere Band noch einmal auftrat, zur Feier des Tages.<br />
Tom hatte sein Studium auch bereits abgeschlossen und<br />
Stijn war auf dem besten Weg dazu. Mir bedeutete das<br />
nichts. Ich betreute inzwischen das Ressort Musik und<br />
Film für eine überregionale Tageszeitung und führte<br />
Interviews und schrieb Reportagen für ein paar ganz<br />
renommierte Magazine. Ich war weiter gekommen als sie<br />
alle zusammen.<br />
Max hatte ein kleines Kellerlokal gemietet, mit einer<br />
Bühne und einer recht ordentlichen Musikanlage, und<br />
wir rockten los. Der Saal tobte und wieder hatten alle<br />
Frauen nur Augen für Max, während ich dastand und an<br />
den Saiten zupfte. Wir spielten sieben oder acht
Nummern und dann das letzte Mal in unserem Leben<br />
gemeinsam Johnny B. Goode. Dann kam eine andere<br />
Band. An der Bar hatte Max wenig später eine aparte<br />
Rothaarige in der Linken und ein kaltes Bier in der<br />
Rechten, als er mich fragte: „Wie gefällt dir die Band?“<br />
„Wer? Wir?“<br />
„Nicht wir. Die da!“ Er deutete auf die Typen auf der<br />
Bühne.<br />
„Ganz nett“, sagte ich. „Die neuen Hoffnungsträger von<br />
Universal?“<br />
„Nein, Freunde von mir. Hey Mann, kannst du nicht<br />
mal einen Artikel über die Jungs schreiben?“<br />
„Wir schreiben nicht über Hobby-Bands. Die brauchen<br />
schon einen Plattenvertrag und eine neue Scheibe in den<br />
Läden.“<br />
„Haben sie ja, Kleiner“, sagte Max. „Ich habe mein<br />
eigenes Label gegründet und sie unter Vertrag<br />
genommen. MuchMoreMegaMusic. Das erste Album<br />
erscheint im nächsten Monat. Mein erstes Album.“<br />
Mein Mund klappte auf.
„Na, wie steht's mit dem Artikel?“, fragte er.<br />
#<br />
„Na, wie steht's mit den Artikeln?“ fragte Eugene, als er<br />
sich neben mich setzte.<br />
Ich arbeitete auf seinem Notebook und schrieb gerade<br />
den letzten Satz. „Fertig“, sagte ich.<br />
„Perfektes Timing. Wir sind nämlich schon am<br />
Flughafengelände und in zwei Minuten da.“<br />
Ich lächelte. „Ich verpasse nur selten eine Deadline.<br />
Willst du die Texte lesen?“<br />
Er schüttelte den Kopf. „Da habe ich volles Vertrauen zu<br />
dir.“<br />
Ich klappte das Notebook zu und schnappte meinen<br />
Rucksack. „Na dann“, sagte ich.<br />
Dmitri, der am Steuer saß, stoppte den Bus vor dem<br />
Abflug-Terminal. Anna war nicht zu sehen, sie hatte sich<br />
in ihre Koje zurückgezogen.
Ich schüttelte Eugene die Hand, nickte Dmitri zu und<br />
stieg aus.<br />
„Danke“, sagte Eugene nochmal. Dmitri schloss die Tür<br />
und fuhr los. Ich stand da und sah dem Bus nach, bis er<br />
aus meinem Blickfeld verschwand. Dann nahm ich<br />
meine Tickets und den Reisepass und machte mich auf<br />
die Suche nach dem Check-in- Schalter.<br />
#<br />
Max' Plattenlabel lief von Anfang an gut. Nach einem<br />
Jahr verlegte er seine Firma nach London und mietete<br />
eine kleine Wohnung am Stadtrand. Er stellte zwei oder<br />
drei Leute an, trieb sich nachts auf den Partys der<br />
Musik- und Medienbranche herum und arbeitete<br />
tagsüber hart.<br />
Er schlief nicht sehr viel in dieser Zeit. Alle paar Monate,<br />
wenn ich für ein Interview in London war, gingen wir<br />
essen. Er sah jedes Mal fertiger aus. Komplett
überarbeitet. Aber irgendwie auch zufrieden und stolz<br />
auf das, was er tat.<br />
Und dann, vor zwei Jahren, zog er das große Los. Eine<br />
seiner Bands schaffte es zuerst in die UK Charts und<br />
dann in die Top 10 praktisch aller Länder auf dem<br />
Kontinent. In fünf oder sechs Ländern rangierten sie<br />
wochenlang auf Platz eins. In den USA fiel die Platte<br />
zwar durch, aber Chartplatzierungen in Australien,<br />
Neuseeland, Japan, Thailand und auf den Philippinen<br />
positionierten MuchMoreMegaMusic international.<br />
Daraufhin kaufte einer der großen Medienkonzerne das<br />
Label. Max bekam einen Lastwagen voll Geld und eine<br />
Position im mittleren Management der Mutterfirma.<br />
Selbst in einer sterbenden Branche ist das ein großartiger<br />
Deal.<br />
#<br />
Ich kam am späten Abend in Heathrow an und fuhr mit<br />
der Tube direkt zum Leicester Square. Das Hotel, das
die Promotionstante gebucht hatte, lag in einer<br />
Seitengasse des Platzes. Klein, aber fein, und angesichts<br />
der Location sicher nicht ganz billig.<br />
„Wird das Interview morgen hier stattfinden?“, fragte ich<br />
den adretten jungen Mann an der Rezeption beim<br />
Einchecken.<br />
„Ich verstehe nicht ganz, Sir“, sagte er. „Welches<br />
Interview?“<br />
„Schon gut, vergessen Sie’s. Offensichtlich wurde das<br />
anderswo arrangiert. Gibt es im Zimmer einen<br />
Internetzugang für mein Notebook?“<br />
Er schaute mich an, als käme ich von hinter dem Mond.<br />
„Selbstverständlich, Sir.“<br />
Ich beschloss, ihm kein Trinkgeld zukommen zu lassen.<br />
„Okay, dann erledigen Sie bitte alle Formalitäten,<br />
während ich schon mal hochgehe. Ich unterschreibe den<br />
Papierkram, wenn ich wieder runterkomme“, sagte ich,<br />
und bevor er Einspruch erheben konnte, fügte ich hinzu:<br />
„Sie brauchen mich nicht aufs Zimmer zu begleiten, ich
habe ja praktisch kein Gepäck. Verraten Sie mir einfach<br />
die Nummer und geben Sie mir den Schlüssel.“<br />
„Zweihundertdrei“, sagte er. „Das ist im zweiten Stock.“<br />
„Danke.“<br />
Das Zimmer hatte ein großes Badezimmer, das ich gut<br />
brauchen konnte, ein riesiges Bett und einen winzigen<br />
Schreibtisch. Auf Letzterem stellte ich mein Notebook<br />
ab, startete den Browser und surfte das erste Mal auf die<br />
Website der Soundinistas. Ich redete mir ein, dass ich<br />
nur nachsehen wollte, ob Eugene schon meine Texte<br />
hochgeladen hatte, aber in Wirklichkeit wollte ich Fotos<br />
sehen. Fotos von Anna.<br />
Die Seite war recht simpel aufgebaut: Ein Tourneeplan,<br />
ein paar Fotos, vier oder fünf Lieder als mp3-Dateien<br />
zum Downloaden und ein praktisch leeres Weblog.<br />
Mehr war noch nicht drauf. Die Fotos waren sowohl<br />
technisch als auch fotografisch von niedriger Qualität,<br />
Anna war auf den meisten Bildern nicht mehr als ein<br />
kleiner Batzen Pixel.
Ich startete das Mailprogramm. Zweiunddreißig Mails<br />
in den letzten drei Tagen, und das obwohl ich im<br />
Urlaub war.<br />
Ich überflog die Betreffzeilen im Posteingang. Etliche<br />
Newsletter und Presseaussendungen von Plattenfirmen,<br />
Filmverleihen und Buchverlagen. Ich öffnete keine<br />
davon.<br />
Eine private Party-Einladung, die war schnell gelesen<br />
und vergessen.<br />
Sieben berufliche Party-Einladungen. Gelesen.<br />
Vier weitergeleitete Scherz-Mails. Ungelesen gelöscht.<br />
Ein Chefredakteur, der fragte, ob ich mir binnen einer<br />
Woche eine Story über JLo aus den Fingern saugen<br />
könne, er habe gutes Bildmaterial preiswert angeboten<br />
bekommen. Nein, bin im Urlaub. Nächstes Mal gern.<br />
Ein Chef vom Dienst, der fragte, ob ich den neuen<br />
DreamWorks-Film rezensieren wolle. Er würde mich<br />
voranmelden. Das ist seit Jahren notwendig, weil die<br />
Journalisten-Screenings nicht mehr frei zugänglich sind.
Wegen der Angst vor Mitschnitten und Raubkopien.<br />
Nein, bin im Urlaub. Nächstes Mal gern.<br />
Ein anderer Chefredakteur, der sich für die sechs<br />
Vorschläge für Künstlerporträts bedankte, die ich ihm<br />
hatte zukommen lassen. Zwei gefielen ihm, die hätte er<br />
gerne nächsten bzw. übernächsten Monat im Heft.<br />
Lieber Sowieso, diese Vorschläge habe ich dir doch<br />
schon vor einem halben Jahr geschickt; die neuen Alben<br />
dieser Leute sind inzwischen längst erschienen und bis<br />
nächsten bzw. übernächsten Monat ein alter Hut; alle<br />
anderen Magazine sind jetzt voll mit diesen Typen und<br />
außerdem bin ich derzeit im Urlaub.<br />
Die Mail der Promotionstante. Das Linkin-Park-<br />
Interview würde in einem Hotel hier in der Nähe<br />
stattfinden, das eindeutig noch zwei Klassen über dem<br />
meinen lag. Ich schrieb mir die Adresse des Restaurants<br />
auf, wo Max mich treffen wollte, und suchte mit Google<br />
danach. Laut dem Lageplan auf der Homepage befand es<br />
sich nur wenige Gehminuten entfernt, zwei-,<br />
dreihundert Yards nördlich des Leicester Square.
Celebrity engagements and record deals are celebrated<br />
here, stand in einer Restaurant-Kritik. Klang viel<br />
versprechend. The waiting list for a table can run to a<br />
couple of months which doesn`t make for a very<br />
spontaneous evening out, stand da auch. Aber das galt<br />
offensichtlich nicht für Max. Zugegeben, nun war ich<br />
neugierig.<br />
Dann noch eine Mail, in der ein Knochenmarkspender<br />
für ein achtjähriges Mädchen gesucht wurde und alle<br />
Menschen mit der Blutgruppe AB positiv aufgefordert<br />
wurden, sich für eine Eignungsprüfung bei einem<br />
Krankenhaus in Riga zu melden, dazu eine lange Liste<br />
von Mailadressen mir völlig unbekannten Personen und<br />
die Zusicherung von jemand namens Oleg, dass das kein<br />
Hoax sei und er das Mädchen persönlich kenne und die<br />
Zeit dränge. Gelöscht.<br />
Ich warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, dass<br />
meine Zeit nicht so drängte und noch genug da war für<br />
Duschen, Haarewaschen und Zähneputzen. Ich zog<br />
mich aus, drehte das Wasser heiß auf und dachte dabei
plötzlich an Anna, an unseren Sex im Meer und an ihren<br />
verschwitzen, durchtrainierten Bauch.<br />
Ich stieg noch mal aus der Dusche, ging ins Zimmer und<br />
kramte die Videokamera aus meinem Rucksack. Dann<br />
schloss ich sie ans Notebook an und übertrug den Inhalt<br />
der Kassette auf die Festplatte, während ich duschte und<br />
den gestrigen Abend in Gedanken ein zweites Mal<br />
durchlebte.<br />
#<br />
Ich war einige Minuten zu früh im The Ivy. Das Lokal<br />
lag noch näher, als ich gedacht hatte. Ein Kellner führte<br />
mich an den reservierten Tisch. Amy Lee, die Sängerin<br />
von Evanesence, saß am Nebentisch. Ich erkannte sie<br />
sofort, denn ich hatte sie etwa eín Jahr zuvor interviewt.<br />
Es war ein sehr angenehmes Gespräch gewesen, wir<br />
hatten sogar ein wenig geschäkert. Und jetzt saßen wir<br />
hier mitten in London an zwei benachbarten Tischen.<br />
Wie klein doch die Welt ist.
Ich starrte hin, sie warf mir einen flüchtigen Blick zu,<br />
ich nickte und lächelte, aber in dieser Sekunde sah Amy<br />
wieder weg. Peinlich. Sollte ich aufstehen und<br />
rübergehen? Sie saß mit zwei Anzugträgern am Tisch.<br />
Wenn ich rüberging und sie mich nicht erkannte,<br />
konnte das noch tausend Mal peinlicher als gerade eben<br />
werden. Ich entschloss mich, in die andere Richtung zu<br />
blicken.<br />
Das Publikum bestand aus den üblichen Verdächtigen:<br />
Die große uniformierte Masse Yuppies, ein paar<br />
gelangweilte Kinder wohlhabender Eltern, ein paar<br />
Neureiche, die typische Dekoration aus Models und<br />
Werbeagentur-Assistentinnen, das Beiwerk aus Makeup-Artisten,<br />
Stylisten und Friseuren, ein paar von den<br />
unvermeidlichen Japanern, ein paar amerikanische<br />
Touristen, ein paar Deutsche, ein paar Russen und<br />
hinten im Eck Colin Farrell mit einer ganz sicher<br />
bezaubernden Blondine, von der ich allerdings nur den<br />
einwandfreien Rücken sah.
Ich blickte wieder zu Amy, aber sie war in ihr Gespräch<br />
mit den beiden Anzugträgern vertieft. Vielleicht sollte<br />
ich doch rübergehen und sie ansprechen. Wenn sie mich<br />
abblitzen ließ, bevor Max kam, hätte ich nicht allzu viel<br />
verloren. Aber wenn sie mich erkannte und sich mit mir<br />
unterhielt, nur kurz, gerade lang genug, damit Max es<br />
vielleicht noch sehen konnte ... Komm, riskier es, dachte<br />
ich.<br />
Der Kellner kam dazwischen, weil an meinen Tisch. Er<br />
sagte mit näselnder Stimme, Max’ Büro habe angerufen<br />
und gesagt, dass er sich ein wenig verspäte, es täte Max<br />
leid und ich solle schon mal anfangen.<br />
„Nein, danke“, sagte ich. „Ich warte.“<br />
„Wünschen Sie etwas zu trinken, Sir?“<br />
„Ja, ein Glas Wein, bitte.“<br />
Der Kellner gab mir eine Karte, aber ich war zu faul zu<br />
suchen. „Einen roten. Irgendeinen. Und sie brauchen<br />
nicht zu geizen.“ Max würde die Rechnung zahlen.
„Sehr wohl“, nuschelte der Kellner. Er versuchte, es sich<br />
nicht anmerken zu lassen, aber ich bin sicher, dass er<br />
innerlich die Nase rümpfte. Falls das irgendwie geht.<br />
Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch, blickte<br />
nach links, blickte nach rechts, beobachtete Colin<br />
möglichst unauffällig, beobachtete Amy möglichst<br />
unauffällig, starrte zu den Russen und begutachtete die<br />
Werbeagentur-Assistentinnen. Der Kellner brachte den<br />
Wein. Ich nippte daran.<br />
Amy sah auf und lächelte. Ich lächelte zurück. Der<br />
Kellner ging an ihren Tisch. Oh, sie hatte ihn gemeint.<br />
Mir wurde heiß und ich wurde ganz sicher rot. Ich<br />
bückte mich nach meinem unter dem Stuhl stehenden<br />
Rucksack und tat so, als würde ich irgendetwas darin<br />
suchen. Schließlich nahm ich mein Notebook heraus.<br />
Ich nippte am Glas und startete das Video-Programm.<br />
Anna erschien auf der Bühne. Einen Moment überlegte<br />
ich, ob ich die Lautstärke so weit raufschrauben sollte,<br />
dass auch Amy die Musik hörte. Vielleicht ...
„Sir, können Sie das ein wenig leiser stellen?“, nuschelte<br />
der Kellner.<br />
„Klar“, sagte ich. „Und bringen Sie mir noch ein Glas<br />
Wein. Vom selben. War ganz gut.“<br />
„Sehr wohl, Sir.“<br />
So ein Superduperarschloch. Ich fischte meine<br />
Kopfhörer aus dem Rucksack.<br />
Max glitt zehn Minuten später auf den Sessel neben mir.<br />
Er lächelte mich an, klopfte mir auf die Schulter und sah<br />
einfach gut aus. Gut und beneidenswert. Ich konnte<br />
nichts machen: Ich hasste und ich liebte ihn.<br />
Ich nahm die Kopfhörer ab.<br />
„Hey Mann, was ist denn das für ein Provinzband-<br />
Video“, fragte er.<br />
„Das sind ...“<br />
„Wie geht’s dir?“<br />
„Okay. Ich hab Urlaub.“<br />
„Oh Gott, ich wünschte, ich könnte mir auch mal<br />
wieder Urlaub leisten. Nur drei Tage irgendwo am<br />
Meer. Wie lange hast du Urlaub?“
„Sechs Wochen“, sagte ich und bemühte mich, es cool<br />
klingen zu lassen, aber ich spürte schon die Unsicherheit<br />
in meiner Stimme.<br />
„Wow, dass du dich so lange vor der Arbeit drücken<br />
kannst. Gehst du niemandem ab?“ Wie ein Schlag in die<br />
Rippen. Mir blieb die Luft weg, während Max unbeirrt<br />
weitersprach: „Ich würde das ja auch gerne machen, aber<br />
zurzeit ist das nicht drin. Ich stecke bis über beide<br />
Ohren in Arbeit. Ein neues Projekt, das ich entwickelt<br />
habe. Ich bin hier wohl für längere Zeit<br />
unabkömmlich.”<br />
Neuer Rekord. Diesmal hatte er es schon in weniger als<br />
einer Minute geschafft, dass ich mich als Loser fühlte.<br />
„Niemand ist unabkömmlich“, sagte ich schwach.<br />
„Hey Mann, lass uns nicht von der Arbeit reden“, sagte<br />
er, und es klang wie: Da kannst du ohnehin nicht<br />
mithalten. „Erzähl mir lieber von deinem Privatleben.“<br />
Da gab’s auch nicht viel zu erzählen. Ich war solo und<br />
klapperte abends mehrmals pro Woche<br />
Plattenpräsentationen, Vernissagen und Premierenfeiern
ab, besoff mich dort mit billigem Sekt und versuchte,<br />
Backgroundsängerinnen oder Nachwuchsmodels<br />
abzuschleppen. Immer öfter ging ich auch auf<br />
Produktpräsentationen (das neueste Nokia, der neueste<br />
Mercedes, das neueste Sony Vaio), weil da der Schampus<br />
teurer und die Mädchen billiger waren. Da gab’s meist<br />
eine nicht zu üppige Marketingassistentin, die sich recht<br />
leicht in ein Gespräch über ihre Chancen als Model<br />
verwickeln und nebenbei abfüllen ließ. Wenn man dabei<br />
schnell genug war, dachte sie erst wieder an ihren<br />
Verlobten – meist ein daheim vor dem Fernseher<br />
wartender Bankkaufmann –, wenn alles vorbei war. Die<br />
Trefferquote war ganz gut. Aber war das Ganze gut<br />
genug für Max?<br />
„Da entwickelt sich grad was“, sagte ich.<br />
„Ach ja? Schön! Erzähl!“ Er schien ehrlich interessiert zu<br />
sein.<br />
Jetzt musste ich nachlegen. Ich nickte zum Notebook.<br />
Das Video vom Konzert lief noch.<br />
Anna.
Max nickte bedächtig. Sie schien ihn nicht vom Hocker<br />
zu reißen. Aber man konnte auch kaum etwas erkennen.<br />
„Warte“, sagte ich. „Das ist in einem dunklen Keller<br />
gefilmt.“<br />
Ich suchte die Stelle mit der Schweigeminute. Da hatte<br />
ich eine Großaufnahme von Anna gemacht, von der<br />
Stirn bis zum Busen. Sie hatte die Augen geschlossen<br />
und lauschte der Stille, ihr Brustkorb hob und senkte<br />
sich. Ich stoppte das Video.<br />
„Hübsch“, sagte Max. „Sehr hübsch, wirklich. Und wie<br />
weit seid ihr?“<br />
„Na ja, es ist ... also ... wir sind noch nicht ... aber wir<br />
haben schon ...“<br />
„Verstehe.“ Er lächelte.<br />
„Sie tourt derzeit durch Italien.“<br />
„Deshalb hast du sechs Wochen Urlaub genommen“,<br />
sagte Max und nickte verstehend.<br />
„Genau“, sagte ich. Es war eine Lüge, aber es war auch<br />
eine gute Erklärung. Plötzlich war ich kein Loser mehr.<br />
Nur noch Hals über Kopf verliebt.
Der Lackaffe trat an unseren Tisch.<br />
Wir bestellten etwas zu essen und eine Flasche Wein.<br />
Max schien von meiner Wahl nicht ganz überzeugt und<br />
fragte mich, ob ich mit einem anderen einverstanden sei.<br />
„Of course“, sagte ich.<br />
„Of course“, äffte mich der Kellner nach. Aber vielleicht<br />
bildete ich mir das nur ein.<br />
„Was tut sich sonst zu Hause?“, fragte Max.<br />
„Alles gut“, sagte ich. „Alle sind wohlauf.“<br />
„Ich weiß, ich habe erst in der Vorwoche mit Papsch<br />
telefoniert. Er hat mich angerufen.“<br />
Es verwirrte mich immer noch, wenn Max meine Eltern<br />
Mamsch und Papsch nannte. Es machte mich<br />
eifersüchtig. Wann hatte mein Vater mich das letzte Mal<br />
angerufen? Ich wohnte zwar in derselben Stadt, aber ich<br />
sah ihn nur selten.<br />
„Wie geht’s der ganzen Bande?“<br />
Die ganze Bande, das waren unsere Freunde aus<br />
Jugendtagen. Max meinte damit alle, einfach alle, mit<br />
denen wir je zu tun gehabt hatten. Vor allem
interessierten ihn immer seine Ex-freundinnen. Keine<br />
Ahnung, warum.<br />
„Keine Ahnung.“ Das antwortete ich immer. Natürlich<br />
wusste ich über die meisten bestens Bescheid. Zwei<br />
waren derzeit schwanger, eine machte ein<br />
Auslandssemester in Tokio und die kleine blonde<br />
Fionnuala arbeitete immer noch im Irish Pub ihres<br />
Vaters. Sie war inzwischen ziemlich fett und angeblich<br />
würde sie den Laden bald übernehmen. Ich wusste das<br />
alles. Aber das zuzugeben bedeutete auch, immer noch<br />
dort herumzuhängen, wo ich herkam, während Max in<br />
London lebte und im selben Lokal zu Abend aß wie<br />
Amy Lee von Evanesence. Ich war froh, dass er Amy<br />
nicht auch noch kannte.<br />
„Keine Ahnung“, sagte ich noch einmal.<br />
„Irgendwann komme ich mal für eine Woche heim und<br />
besuche alle“, sagte Max. „Ein kleiner Nostalgie-<br />
Urlaub.“<br />
„Ach, Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie mal<br />
war“, sagte ich und Max lachte.
Das Essen wurde serviert. Der Lackaffe öffnete die<br />
Weinflasche, ließ Max am Korken schnuppern und<br />
schenkte uns dann ein.<br />
„Aber ich kann demnächst ohnehin keinen Urlaub<br />
machen“, sagte Max, während er kaute.<br />
Das hatte er schon erwähnt. Ich hatte keine Lust, ihn<br />
nach dem Warum zu fragen. „Wie steht es um dein<br />
Privatleben?“<br />
„Großartig“, sagte er.<br />
Was auch sonst, dachte ich.<br />
„Ich bin bis über beide Ohren verliebt. Sie heißt Joanna<br />
und wir sind seit etwas mehr als einem halben Jahr ein<br />
Paar. Sie ist perfekt und würden wir nicht<br />
zusammenarbeiten, wäre sie schon bei mir eingezogen.<br />
Wir müssen etwas auf die Firmenpolitik achten, du<br />
verstehst? Willst du ein Foto sehen?“<br />
Habe ich eine Wahl?, dachte ich und sagte: „Klar, zeig<br />
her!“<br />
Er fischte sein Portemonnaie aus dem Sakko und holte<br />
ein Foto hervor. Sie war schwarzhaarig, blauäugig und
umwerfend. Aufgesteckte Haare, Perlenkette, teure<br />
Armbanduhr. Eine Frau mit Klasse – und wohl auch<br />
Anspruch. Sie kostete ihn sicher ein Vermögen.<br />
„Wow“, sagte ich. „Wo hast du die denn her?“<br />
„Sie ist Anwältin, spezialisiert auf Copyright und<br />
Patentrecht. Intellectual Property, wie man so schön<br />
sagt. Eine der absoluten Kapazitäten auf diesem Gebiet,<br />
obwohl sie noch keine dreißig ist. Sie arbeitet für unsere<br />
Firma.“<br />
„Ah“, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst<br />
sagen sollte. Anwältin. Spezialistin. Kapazität. Vielleicht<br />
kostete nicht sie ihn ein Vermögen, sondern umgekehrt.<br />
Mein Vater würde sie lieben, dachte ich, sagte aber<br />
nichts.<br />
„Sie wird mich zum ganz großen Zaster führen“, sagte<br />
Max.<br />
„Willst du sie heiraten?“<br />
Er lachte und schenkte uns Wein nach. „Das vermutlich<br />
auch. Aber wir haben gemeinsam ein neues Business-<br />
Modell entwickelt. Vorigen Monat haben wir es oben
präsentiert. Ganz oben. Dem Vorstand der Holding.<br />
Und eine Woche später haben sie uns eingeladen, es<br />
auch dem Aufsichtsrat zu präsentieren.“ Er strahlte übers<br />
ganze Gesicht. „Noch eine Woche später ist das<br />
Startsignal gekommen.“<br />
„Das Startsignal?“<br />
„Die Firma gründet ein neues Tochterunternehmen.<br />
Joanna und ich werden Geschäftsführer. Sie kümmert<br />
sich um das rechtliche Zeug, ich um alles, was mit der<br />
Musik zu tun hat. Und wir sind gewinnbeteiligt. Wir<br />
werden reich, Mann! Nicht nur so ein bisschen, sondern<br />
richtig reich. Ich rede nicht von Jaguar und Penthouse,<br />
ich rede von Yacht und Finca, verstehst du?“<br />
„Ich will dich ja nicht von deiner Wolke runterholen,<br />
Mann“, log ich, „aber falls es dir nicht aufgefallen ist:<br />
Dem Musikbiz geht’s beschissen.“<br />
„Das stimmt. Aber genau das ist unsere Chance.“<br />
„Was ist an eurem Label denn so anders?“<br />
Er nahm einen Schluck vom Roten. „Es ist kein Label.<br />
Nicht im klassischen Sinn. Hör zu, ich kann dir nicht
mehr verraten, wir brauchen noch ein paar Tage<br />
Vorbereitung, bevor wir an die Öffentlichkeit gehen.“<br />
„Also alles top-secret. Und das in dieser Branche …“<br />
„Ich weiß, ich weiß. Ich würde es dir ja auch wirklich<br />
gern verraten, aber ich darf noch nicht. Derzeit werden<br />
gerade tausende Verträge geändert. Eher sogar<br />
hunderttausende. Und da übertreibe ich nicht.<br />
Deswegen ist Joanna auch nicht hier. Sie hätte gerne<br />
jemanden von meiner Familie kennengelernt, aber<br />
zurzeit arbeitet sie Tag und Nacht durch.“<br />
„Und du machst frei.“<br />
„Ich arbeite auch seit Wochen durch. Tagsüber im alten<br />
Job, nachts an der neuen Idee. Das ist mein erster freier<br />
Abend seit Ewigkeiten. Hey Mann, ich wollte dich<br />
sehen“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. „Das<br />
ist meine letzte Woche bei meinem alten Label, die letzte<br />
Woche, in der ich Zugriff auf die Promotion-Abteilung<br />
hatte und anordnen konnte, dich verdammt noch mal<br />
aus Italien einzufliegen. Ab nächster Woche habe ich<br />
keine Promotionstanten mehr zur Verfügung.“
„Keine Promotions?“<br />
„Keine Promotions. Bis auf ein kleines Eröffnungsfest,<br />
aber das zählt nicht.“<br />
„Das klingt ungewöhnlich.“<br />
„Es ist ungewöhnlich. Und irgendwie werden mir all die<br />
kleinen Vorteile, die eine Promotion-Abteilung nebenbei<br />
bietet, auch fehlen. Aber der Aufsichtsrat will das Projekt<br />
lieber ohne viel Aufsehen abwickeln.“<br />
„Das entspricht ja ganz deinem Charakter“, sagte ich mit<br />
einem sarkastischen Unterton.<br />
Max verzog das Gesicht. „Ja, nicht wahr? Unsere Idee<br />
wird dennoch einschlagen wie eine Bombe. Und in<br />
einem Jahr fliege ich dich einfach auf eigene Kosten ein,<br />
wann immer ich dich sehen will. Und dann bringe ich<br />
dich in einem noch besseren Hotel unter, im besten<br />
Hotel der Stadt bringe ich dich dann unter!“<br />
„Danke, ich wohne nicht schlecht“, sagte ich. „Und ich<br />
kann mir das Flugticket auch selbst leisten, wenn ich<br />
dich sehen will.“<br />
„Natürlich kannst du das“, sagte er.
„Komm, verrate es mir“, sagte ich.<br />
Er zögerte, setzte zu einer Erklärung an, zögerte noch<br />
mal, schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht ...“<br />
„Ich muss aufs Klo“, sagte ich. Er würde reden, wenn er<br />
die Zeit dazu bekam.<br />
Aus dem Film π:<br />
„This is insanity, Max!“<br />
“Or what if it’s genius?”<br />
#<br />
#<br />
Als ich zurückkam, hatte Max die Kopfhörerknöpfe in<br />
den Ohren stecken und betrachtete das Video. Ich nahm<br />
Platz. Er zwinkerte mir zu. Anna sang, die Hunnen<br />
hüpften.
Er lächelte. „Eine Punk-Coverversion von Walking On<br />
Sunshine, wie originell.“ Es klang sarkastisch. „Das ist<br />
gut, damit werde ich in Zukunft mein Geld machen.“<br />
„Mit Konzertvideos?“<br />
Er schüttelte den Kopf. „Na gut, ich erzähle dir grob,<br />
worum es geht. Aber du musst schwören, es für dich zu<br />
behalten.“<br />
„Ich kann schweigen wie ein Journalist.“<br />
„Wehe“, drohte er.<br />
Ich sagte: „Okay, wir reden off records. Vertrauliches<br />
Hintergrundgespräch.“<br />
„Damit habe ich auch schon schlechte Erfahrungen<br />
gemacht“, seufzte er.<br />
Ich war fertig mit dem Essen und schob den Teller weg.<br />
Max tat dasselbe. Ich bot ihm eine Zigarette an. „Kann<br />
ich dich bestechen?“<br />
„Klar.“ Er zückte ein Feuerzeug, wir sogen ein paar Züge<br />
ein. Dann sagte er: „George Harrison hat uns auf die<br />
Idee gebracht.“<br />
„Du kanntest George Harrison?“
„Nein. Joanna hat ihn mal auf einer Party getroffen, aber<br />
sie kannte ihn auch nicht wirklich. Sie behauptet, er<br />
wollte sie ins Bett kriegen. Aber das behauptet sie von<br />
jedem Musiker, den sie mal auf einer Party getroffen hat.<br />
Sogar von Mick Jagger.“<br />
„Völlig unglaubwürdig“, befand ich.<br />
Er lächelte. „Eben. Aber darum geht’s nicht. Du kennst<br />
Harrisons Song My Sweet Lord.“<br />
Das war eine Feststellung. Jeder kennt den Song.<br />
„Kennst du auch die Geschichte mit dem Prozess um<br />
dieses Lied?“<br />
„Ich kann mich dunkel erinnern“, sagte ich. „Harrison<br />
hat Teile des Songs abgeschrieben, oder?“<br />
„Nicht ganz. My Sweet Lord erschien auf Harrisons<br />
berühmtestem Soloalbum, nämlich ...“<br />
„All Things Must Pass.“<br />
„Richtig. Ein ziemlich dummer Titel für ein<br />
Meisterwerk, das die Ewigkeit überdauern wird. Es ist<br />
einfach grandios.“
„Und das erste Dreifach-Album der Geschichte“, sagte<br />
ich.<br />
„Tatsächlich? Das wusste ich gar nicht.“<br />
„Tja, als Musikjournalist ...“<br />
„Jedenfalls wurde aus dem Album die Nummer My<br />
Sweet Lord als Single ausgekoppelt.“<br />
„Seine erste Solo-Single. Der erste Nummer-1-Hit eines<br />
Ex-Beatle in den USA. Ein riesiger Erfolg.“<br />
„Das war 1970.“<br />
„Ein wenig vor unserer Zeit“, sagte ich.<br />
„Und dann wurde er geklagt.“<br />
„Von den Rubettes, glaube ich.“<br />
Max schüttelte den Kopf. „Von den Chiffons. Genauer<br />
gesagt: von ihrem Manager und Produzenten Ronald<br />
Mack. Die Chiffons hatten 1962 einen Hit namens He’s<br />
So Fine.“<br />
„Genau, das war’s“, sagte ich und summte den Refrain.<br />
„Ich wusste, ich hab die Geschichte schon mal gehört.<br />
Die Ähnlichkeit zwischen den Songs ist ja auch wirklich<br />
offensichtlich.“ Ich summte den Refrain noch einmal,
diesmal etwas schneller, und schon war ich mitten in<br />
Harrisons Hindu-Gospel.<br />
„Richtig. Die Nummern sind nicht identisch, aber sehr,<br />
sehr ähnlich. Das Original hat zwei Motive, die je<br />
viermal auf-einander folgen. Bei Harrison folgt das<br />
zweite Motiv nur dreimal. Er hat statt der vierten<br />
Wiederholung eine Übergangspassage angehängt.“<br />
Max holte einen Kugelschreiber aus seinem Jackett und<br />
schrieb auf die Serviette:<br />
He’s So Fine: A-A-A-A-B-B-B-B<br />
My Sweet Lord: A-A-A-A-B-B-B-P<br />
Er zog den jeweils letzten Buchstaben, das sich<br />
unterscheidende musikalische Motiv, mit dem<br />
Kugelschreiber mehrfach nach. „Wenn du beide Songs<br />
parallel zueinander hörst und darauf achtest, dann ist<br />
dieser kleine Unterschied plötzlich ganz eindeutig.“<br />
„Und Harrison verlor dennoch den Prozess?“
„Ja, er verlor ihn. Aber dass er verloren hat, wäre noch<br />
nicht wichtig. Warum er verloren hat, das ist<br />
bemerkenswert. Harrison hat im Prozess behauptet, er<br />
habe den Song nicht gestohlen. Er habe mit seiner Band<br />
nach Konzerten gejammt und dabei sei die Melodie<br />
plötzlich aufgetaucht. Der alte George sagte, man habe<br />
damit herumexperimentiert, wieder und wieder, immer<br />
wieder. Dabei muss sich auch diese Passage<br />
eingeschlichen haben. Er sagte, während der<br />
Experimente habe er gesungen, was ihm eben gerade<br />
einfiel.“<br />
„Das war nicht gerade viel“, sagte ich, und sang leise:<br />
„My sweet Lord, hm, my Lord, hm, my Lord ...“<br />
„Nun, der Richter hat Harrison geglaubt, dass er den<br />
Song nicht bewusst gestohlen hat. Er ging stattdessen<br />
davon aus, dass Harrison die Melodie unbewusst kopiert<br />
hatte. Die Chiffons waren mit ihrer Version zur selben<br />
Zeit in der Hitparade, als sich die Beatles gerade auf dem<br />
Weg nach oben befanden. Die Beatles müssen das Lied<br />
gekannt haben. George Harrison muss das Lied gekannt
haben. Und Jahre später, beim Jammen mit seiner neuen<br />
Band, hat es sich eingeschlichen. So sah es zumindest der<br />
Richter.“<br />
„Und?“<br />
„Der Richter entschied, dass auch unbewusste<br />
Verletzungen von Copyrights nicht straffrei sind, und<br />
verurteilte Harrison. Dieser musste dem Produzenten<br />
der Chiffons den größten Teil der Einnahmen abtreten.“<br />
„Unbewusste Verletzungen? Und was ist, wenn jemand<br />
zufällig ein ähnliches Lied komponiert?“<br />
„Das ist nebensächlich. Was zählt: Dieses Urteil ist ein<br />
Präzedenzfall. Alle Gerichte in Amerika halten sich<br />
daran, wenn sie ähnliche Fälle zu verhandeln haben, und<br />
Amerika ist der größte Musikmarkt der Welt. Auch<br />
unabsichtliche Coverversionen verletzen das Copyright<br />
des Originals, das ist das Wichtige. Mittlerweile setzt<br />
sich diese Rechtsauslegung auch schon in Europa<br />
durch.“
„Und was hat das jetzt mit deiner Geschäftsidee zu tun?<br />
Willst du Komponisten eine Versicherung gegen<br />
unbewusstes Stehlen von Oldie-Melodien anbieten?“<br />
„Ganz im Gegenteil: Wir werden ihnen Rechnungen<br />
schicken!“, sagte Max und nahm genüsslich einen letzten<br />
Zug von seiner Zigarette, bevor er sie ausdämpfte.<br />
„Ich verstehe nicht.“<br />
Max blickte sich um, vergewisserte sich, dass niemand<br />
uns zuhörte, und beugte sich dann nach vorne.<br />
„Schwöre, dass du das niemandem weitererzählst“,<br />
flüsterte er.<br />
Ich beugte mich auch näher zu ihm. „Ich schwöre.“ Das<br />
kostete ja nichts.<br />
„Es ist ein dreistufiger Business-Plan. So etwas wie ein<br />
Welteroberungsplan, aber auf musikalischem Terrain.<br />
Wir reißen uns alles unter den Nagel.“<br />
„Was ‚alles’?“<br />
„Alles. Rock. Pop. Reggae. Hip-Hop. Was immer du<br />
willst. Die gesamte Musik der Zukunft.“<br />
„Klingt gut“, sagte ich. „Und wie macht ihr das?“
Max blickte sich noch mal um. Seine Augen bewegten<br />
sich unstet, strahlten Nervosität und Aufregung aus,<br />
auch wenn er mich fixierte.<br />
„Kennst du dich mit dem Copyright aus?“, fragte er.<br />
„Mit der gesetzlichen Grundlage?“<br />
„Kaum.“<br />
„Also, dann eine ganz einfache Einführung. Jedes Land<br />
hat seine eigene rechtliche Regelung. Vor allem zwischen<br />
Europa und den USA gibt’s noch Unterschiede, aber die<br />
werden immer kleiner, weil die Musik- und die<br />
Filmindustrie seit Jahren auf Vereinheitlichungen<br />
drängen. Unser Geschäftsmodell funktioniert in<br />
Nordamerika genauso wie in der EU und Australien und<br />
Südamerika. Wir brauchen nur jeweils spezielle<br />
Verträge. Frag mich nicht nach den Details, wie auch<br />
immer, das Copyright ist nicht ein einziges Recht,<br />
sondern ein ganzes Bündel von Rechten. Man müsste im<br />
Plural davon reden: die Copyrights. Wenn du die Rechte<br />
an einem Musikstück hast, dann kannst du es auf eine
CD pressen, live damit auftreten, es dem Soundtrack<br />
eines Filmes beifügen und so weiter.<br />
Das Gesetz verbietet allen anderen, diese Dinge zu tun.<br />
Daher kannst du dieses Bündel von Rechten an sie<br />
verkaufen, abtreten oder sie lizenzieren. Eines dieser<br />
Rechte, die das Copyright umfasst, ist das Recht,<br />
derivative Arbeiten herzustellen.“<br />
„deri...was?“<br />
„Das Werk zu modifizieren. Damit herumzuspielen, es<br />
zu ändern und weiterzuentwickeln.“<br />
„Also es zu covern.“<br />
„Genau. Oder zu sampeln. Oder zu remixen. Letztlich<br />
sind das alles ähnliche Prozesse. Etwas Altes wird Teil<br />
von etwas Neuem. Darum geht’s in der ganzen<br />
Popkultur.“<br />
„Coverversionen sind ein gutes Geschäft“, sagte ich.<br />
„Ja, Coverversionen sind sehr einträglich – und kurze<br />
Samples noch viel mehr. Die Hitparaden sind voll<br />
damit. Und das ist unser erster Schritt zur<br />
Weltherrschaft“, sagte Max. „Wir übernehmen und
verwalten von allen Songs unseres Konzerns das Recht,<br />
Covers und Samples zu produzieren oder zu lizenzieren.<br />
Alle anderen Teile des Copyrights bleiben bei den Labels<br />
oder den Künstlern oder wer immer auch der<br />
Eigentümer ist. Sie können weiterhin ihre Oldies auf<br />
Best-of-Alben sammeln, sie in Werbespots verwenden,<br />
zum Download freigeben ... was auch immer. Diese<br />
Rechte bleiben bei ihnen. Nur eines wird von uns<br />
verwaltet: das Recht, derivative Arbeiten herzustellen.<br />
Wir kümmern uns darum zentral für alle Labels des<br />
Konzerns.“<br />
„Klingt nach einer Menge Material, das ihr da<br />
verwaltet“, sagte ich.<br />
„Zur Firma gehören inzwischen beinahe zweihundert<br />
Labels. Wir schätzen, dass mehr als 65.000 Bands und<br />
Künstler seit den Sechzigern für diese Labels gearbeitet<br />
haben, aber so genau wissen wir das noch nicht. Und wir<br />
haben zurzeit gar keine Vorstellung davon, wie viele<br />
Songs das ganze Repertoire umfasst.“
„Kein Wunder, dass Joanna nicht hier ist, das klingt<br />
tatsächlich nach einer Menge Papierarbeit.“<br />
„Es ist halb so schlimm. Zum Glück müssen wir das<br />
nicht Lied für Lied machen. Joanna hat einen<br />
Mustervertrag entworfen und bei den meisten Labels<br />
reicht das, um alles in Bausch und Bogen zu<br />
übernehmen. Verhandlungen können wir uns sparen,<br />
weil die Labels dem Konzern gehören und die<br />
Anweisung von ganz oben kommt. Wir sind schon fast<br />
fertig. Joanna und ihr Team kümmern sich nur noch um<br />
ein paar besonders heikle Fälle, wo die Rechte ungeklärt<br />
sind. Die Büroräume werden bereits hergerichtet, eine<br />
Personalagentur wählt schon die Mitarbeiter für die<br />
meisten Standardaufgaben aus. Sekretärinnen,<br />
Sachbearbeiter ... vieles von dem, was zu tun sein wird,<br />
ist ja ganz biedere Arbeit ohne den Glamour des<br />
Showbiz.“<br />
„Okay“, sagte ich lang gezogen. „Klingt in meinen<br />
Ohren durchaus nach einem interessanten Projekt. Ich<br />
weiß nicht, ob sich damit viel Geld machen lässt – aber
zwei hoch bezahlte Geschäftsführerposten sind sicher<br />
drinnen.“<br />
„Psst, nicht so laut“, zischte Max. „Das ist ja nur der<br />
erste Schritt. Der zweite folgt in ein paar Tagen, sobald<br />
wir offiziell unsere Arbeit aufgenommen haben. Dann<br />
gibt’s eine Pressekonferenz und eine Launch-Party, auf<br />
der jede Menge Oldies aus unserem Repertoire gespielt<br />
werden. Die ganze Branche wird da sein. Die Europäer<br />
und die Amerikaner. Und am nächsten Tag, noch bevor<br />
sie nüchtern sind, werden wir ihnen allen anbieten, sich<br />
an unserem Modell zu beteiligen. Wir werden in den<br />
nächsten Monaten mit dem Scheckheft durch die<br />
Gegend laufen und die Sample-Rechte von<br />
hunderttausenden Songs kaufen. Von kleinen Labels,<br />
von großen Labels, von Sixties-Pop und Eighties-Rock,<br />
und, und, und. Einfach von allem. Wir haben auch ein<br />
Geschäftsmodell für die entwickelt, die dieses Recht<br />
nicht verkaufen wollen. Die können ihre Songs für eine<br />
Gebühr bei uns einbringen. Sie behalten alle Rechte und
wir verwalten nur dieses eine Recht, um das es uns<br />
geht.“<br />
„Eine zentrale Verwaltungsstelle für Coverversionen und<br />
Samples“, fasste ich zusammen. „Klingt ganz okay. Aber<br />
nach Weltherrschaft klingt das noch nicht.“<br />
Max rieb sich die Hände. „Weil du die Konsequenzen<br />
nicht durchschaust, Kleiner. Es geht um weit mehr als<br />
ein paar Cent dafür, dass jemand Walking On Sunshine<br />
covern darf.“<br />
„Und was wären die Konsequenzen?“<br />
Max deutete auf mein Notebook.<br />
Anna.<br />
Max griff zur Maus und bewegte den Regler, der die<br />
aktuelle Stelle des Videos anzeigte. Er schob ihn herum,<br />
suchte etwas. Am Ende der Aufnahme klickte er auf<br />
Play. „Was macht das Mädchen da?“, fragte er.<br />
„Sie hält eine Schweigeminute. Es war der Todestag<br />
ihrer …“<br />
„Nein“, sagte Max. „Weißt du, was sie macht? Sie<br />
verletzt unsere Rechte.“
„Sie verletzt eure Rechte? Aber sie macht doch gar<br />
nichts!“<br />
„Oh doch, sie macht etwas. Sie macht Stille.“<br />
„Das verstehe ich nicht.“<br />
„Du kennst John Cage.“ Das war wieder eine<br />
Feststellung.<br />
„Schon mal gehört. Der hat Klavier- und Percussion-<br />
Stücke gemacht, oder?“<br />
„Ein Experimentalmusiker. Blütezeit in den Fünfzigern,<br />
glaube ich. Vielleicht auch früher. Er war bei einem<br />
unserer Labels unter Vertrag. Ein großer Künstler, aber<br />
wenn ich raten müsste, würde ich sagen: miserable<br />
Verkaufszahlen.“<br />
„Was hat das mit Anna zu tun?“<br />
„Anna heißt sie also ... Cage hat ein Stück namens 4’33’’<br />
komponiert. Er nannte es zumindest eine Komposition,<br />
aber eigentlich war es eine Performance. Dabei geht ein<br />
Pianist auf die Bühne, setzt sich ans Klavier und spielt<br />
keinen einzigen Ton. Vier Minuten dreiunddreißig
Sekunden lang herrscht Stille. Dann ist das Stück<br />
vorbei.“<br />
„Kunst“, sagte ich.<br />
„Idiotisch“, sagte Max. „Aber wir haben die Rechte<br />
daran. Und wenn du mich fragst, dann ist das, was deine<br />
Kleine da macht, eine Coverversion.“<br />
„Das ist idiotisch“, sagte ich.<br />
Max zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ihre<br />
Performance ist doch eindeutig ähnlich zu dem Stück,<br />
das Cage komponiert hat. Da es eine Schweigeminute<br />
war, ist ihre Version eben etwas kürzer, aber ansonsten<br />
ist alles gleich. Ein derivatives Werk. Da hat Harrison<br />
bei My Sweet Lord das Original noch mehr verändert als<br />
sie bei diesem Auftritt.“<br />
Ich schnaubte. „Sie hat sogar den Text unverändert<br />
gelassen. Welch Skandal.“<br />
„Ja, nicht wahr?“ Er lehnte sich selbstzufrieden zurück<br />
und schmunzelte. „Wir werden Coverversionen<br />
entdecken, wohin wir auch blicken. Die Kassen werden
so klingeln, dass wir mit dem Geldzählen nicht<br />
nachkommen werden.“<br />
„Kein Richter der Welt würde euch recht geben“, sagte<br />
ich.<br />
Max lachte, und dabei blieb er nicht so leise wie bisher.<br />
„Oh doch“, sagte er. „Was für einen Anwalt könnten<br />
diese Leute sich schon leisten? Joanna baut eine<br />
Rechtsabteilung auf, in der ein paar hundert Anwälte<br />
und Rechtsassistenten arbeiten werden. Spezialisten, die<br />
tagaus, tagein an nichts anderem arbeiten als an<br />
Copyright-Fällen. Die nehmen deine kleine Anna und<br />
ihre Spaghetti-Punks auseinander, ohne dass die wissen,<br />
wie ihnen geschieht.“<br />
„Das sind keine Italiener“, sagte ich. „Und außerdem,<br />
das ist vollkommen lächerlich.“<br />
„Reg dich ab. Solange sie diese Schweigeminute nicht ins<br />
Internet stellt oder auf eine CD presst, ist uns völlig egal,<br />
was dein Mädchen auf der Bühne macht. Wir haben im<br />
Moment Besseres zu tun als irgendeiner kleinen, durch<br />
die Provinz tingelnden Band nachzuschnüffeln, um ein
paar Dollar rauszupressen. Aber es wäre durchaus ein<br />
interessanter Musterprozess. Ich glaube, Joanna hätte da<br />
ihre Freude dran.“<br />
Ich war sauer auf Max, mehr als sonst. Erstens, weil ich<br />
irgendwie das Gefühl hatte, Anna verteidigen zu müssen.<br />
Aber da war, zweitens, noch etwas anderes: Ich konnte<br />
mir vorstellen, dass Max reich wurde. Nicht dass ich<br />
schon an seinen Plan glaubte, aber ich begriff, dass er<br />
einen fett dotierten Managervertrag erhalten hatte. Und<br />
vielleicht noch ein paar hunderttausend für das Konzept.<br />
Der bloße Gedanke daran nervte mich.<br />
Da sagte er: „Wir werden hunderte Leute beschäftigen,<br />
die nichts anderes tun müssen als Musik hören. Das<br />
wird meine Abteilung sein. Alles, was irgendwo auf der<br />
Welt auf CD oder im Internet veröffentlicht wird,<br />
werden wir uns anhören. Alles. Wir suchen nicht nur<br />
nach offensichtlichen Coverversionen, sondern auch<br />
nach Teilen, sogar nach Spurenelementen. Dieselbe<br />
Bassline, ein Gitarrenriff, ein sich wiederholendes Motiv,<br />
ein verwandter Text ... Wenn wir Ähnlichkeiten mit
einem Werk entdecken, dessen Rechte wir verwalten,<br />
dann schicken wir den Nachahmern einen Lizenzvertrag<br />
und eine Rechnung. Das geht ganz formlos.“<br />
„Und wenn die Empfänger nicht zahlen, dann kommt<br />
Joannas Abteilung ins Spiel?“<br />
„Exakt. Dann werden wir klagen. Aber glaube mir, die<br />
meisten werden freiwillig zahlen.“<br />
Ich verstand. „Ihr werdet schon bei der kleinsten<br />
Ähnlichkeit eine Rechnung schicken und mit eurer<br />
ganzen Armee von Rechtsanwälten drohen.“<br />
„Genau. Wenn wir etwas entdecken, das auch nur<br />
vielleicht unsere Rechte berührt, werden wir schon aktiv.<br />
Im Zweifelsfall für uns. Wenn es jemand auf einen<br />
Prozess ankommen lassen will, können wir unsere<br />
Chancen ja noch einmal bewerten, bevor wir wirklich<br />
klagen. Was zählt, ist die Masse. Wir werden darin<br />
perfekt sein, kleine, unscheinbare Zitate zu entdecken.<br />
Vier, fünf identische Noten werden da schon reichen.<br />
Und vergiss nicht das Harrison-Urteil: Es reicht, wenn
die Ähnlichkeit unbewusst entstand. Wir müssen keine<br />
Absicht nachweisen können.“<br />
„Ihr werdet schlechte Presse haben, man wird sagen, ihr<br />
bringt die Songwriter um.“<br />
„Also erstens sind wir schlechte Presse gewöhnt und<br />
zweitens: Jeder ist frei, etwas völlig Neues zu schaffen.“<br />
„Popmusik lebt von Zitaten, das weißt du. Du hast es<br />
vorhin selbst gesagt.“<br />
„Ja, und deshalb ist es nur fair, die Urheber dieser Zitate<br />
auch zu entlohnen.“<br />
„Ihr seid nicht die Urheber.“<br />
„Wir verwalten die Rechte der Urheber. Das kommt auf<br />
das- selbe raus.“<br />
„Ihr bringt die kleinen Labels um. Die haben aber die<br />
Sympathie der Massen.“<br />
„Bullshit. Hätten sie die Sympathie der Massen, wären<br />
sie keine kleinen Labels. Außerdem bringen wir sie nicht<br />
um. Unsere Gebühren werden sehr niedrig sein. Wer<br />
zahlt, ohne vor Gericht zu ziehen, wird sich’s leisten<br />
können. Es wird sogar einen Sondertarif für
Hobbybands ohne Plattenvertrag geben. Wer sich<br />
freiwillig bei uns meldet und um eine Lizenz ansucht,<br />
bekommt noch mal einen kräftigen Rabatt.“<br />
„Warum sollte sich jemand freiwillig melden?“<br />
„Weil wir ihn ohnehin finden würden. Wir werden<br />
Computerprogramme entwickeln, die eine Erstanalyse<br />
durchführen. Wir werden Suchmaschinen entwickeln,<br />
die automatisch Webseiten abklappern und<br />
Tauschbörsen durchforsten. Wir werden die Peer-topeer-Netze<br />
anzapfen. Wir werden überall im Netz<br />
Aufnahmen von Bands sammeln, die noch nicht mal<br />
einen Plattenvertrag haben. Wir werden diese<br />
Aufnahmen analysieren und bewerten und den Bands<br />
Rechnungen schicken. Das ist genial, oder? Sie<br />
bekommen keinen Plattenvertrag – und wir verdienen<br />
trotzdem an ihnen.“<br />
Ich war sprachlos.<br />
„Das ändert langfristig vielleicht sogar das<br />
Geschäftsmodell von Musikkonzernen“, fuhr Max fort.<br />
„Wir kassieren nicht mehr bei den Konsumenten,
sondern bei den Bands. Wir werden uns nicht mehr<br />
damit aufhalten, die illegalen Downloads zu bekämpfen.<br />
Das ist ohnehin ein Guerillakrieg, für den wir viel zu<br />
schwerfällig sind.“<br />
„Diesen Kampf hat die Musikindustrie ohnehin schon<br />
verloren.“<br />
„Richtig. Das wissen auch meine Chefs. Deswegen<br />
waren sie so schnell bereit, für unser Projekt grünes<br />
Licht zu geben. Das Tolle an unserem System ist, dass<br />
die Bands sich nicht vor uns verstecken können. Wer<br />
Erfolg haben will, muss in die Öffentlichkeit. Und wer<br />
in der Öffentlichkeit steht, braucht einen Namen, an<br />
den man eine Rechnung adressieren kann. Das Internet<br />
mag Anonymität gewährleisten, aber das Geschäft tut<br />
das nicht.“<br />
Kurzes Schweigen. Ich blickte mich im Lokal um. Colin<br />
und der schöne Rücken waren gegangen. Du gehörst<br />
nicht in diese Welt, du bist zu naiv dafür, dachte ich.<br />
„In Zukunft ist es uns völlig egal, ob sich die CDs einer<br />
Band verkaufen oder die Konzerte gut besucht sind“,
fuhr Max fort. „Jede Band muss sich selbst vermarkten<br />
und wir verrechnen Lizenzgebühren. Zunächst ist das<br />
ein niedriges Fixum, das sich jeder leisten kann. Erst<br />
wenn ein gewisser finanzieller Erfolg eintritt, tritt ein<br />
gestaffelter Prozentsatz in Kraft. Je größer der Erfolg,<br />
desto höher unsere Beteiligung. Damit haben die Bands<br />
kein Risiko, wenn der Erfolg ausbleibt, und wir<br />
verpassen keinen Superhit. Eine Win-win-Situation.“<br />
„Davon bin ich überzeugt.“<br />
„Wenn wir nur genug Material in unseren Archiven<br />
haben, dann werden wir immer eine Möglichkeit finden,<br />
unseren Anteil einzuklagen.“ Er machte eine Pause.<br />
„Aber das ist noch nicht alles ...“<br />
„Was noch?“<br />
„Das Beste am ganzen Konzept ist ein Trick, den Joanna<br />
sich hat einfallen lassen. Wenn jemand eine Lizenz bei<br />
uns erwirbt, darf er die damit geschaffenen neuen Songs<br />
verwenden, vermarkten und verkaufen, wie immer er<br />
will. Wir nehmen darauf keinen Einfluss. Das ganze
Bündel an Copyrights an dem neuen Werk gehört den<br />
Lizenznehmern. Bis auf eine Ausnahme.“<br />
„Das Recht, derivative Arbeiten zu machen?“, riet ich.<br />
„Genau. Mit ihrem Werk dürfen die Künstler machen,<br />
was sie wollen. Aber das Recht, es erneut zu verändern,<br />
zu zitieren, weiterzuentwickeln – dieses Recht bleibt bei<br />
uns. Und das gilt nicht nur für die Teile ihres Songs, die<br />
sie lizenzieren mussten, sondern für den ganzen Song.“<br />
„Ihr verleibt euch damit auch alle neuen Ideen dieses<br />
Songs ein.“<br />
„Ja. Schritt für Schritt verleiben wir uns alle neuen Ideen<br />
ein.“<br />
„Ihr werdet wachsen wie ein Geschwür“, sagte ich.<br />
Max musste lachen. „Verstehst du jetzt das Potenzial?“<br />
Ich kam gar nicht zu einer Antwort. Max fuhr gleich<br />
fort: „Deshalb haben wir vom Aufsichtsrat freie Hand,<br />
mit allen großen Medienkonzernen zu verhandeln. Mehr<br />
noch, wir haben den Auftrag dazu. Wir sollen shoppen<br />
gehen. Geld spielt kaum eine Rolle. Wir wollen so<br />
schnell wie möglich die Coverrechte aller Songs der
letzten sechzig Jahre verwalten, angefangen mit Bill<br />
Haley bis hin zu Lady Gaga. Einfach alles. Denn wenn<br />
uns die alten Songs gehören, dann gehören uns auch die<br />
neuen. Dann haben wir die Kontrolle, dann gehört uns<br />
der Musikmarkt der Zukunft. Dann gehört uns die<br />
Musik an sich. Das ist Stufe drei: Weltherrschaft.“<br />
„Du bist wahnsinnig“, sagte ich nun.<br />
„Ein wenig“, kokettierte er. Er griff zum Glas und<br />
prostete mir zu. „Auf den alten George Harrison und<br />
seine Hindu-Götter.“<br />
„Es wird immer wieder völlige Neukompositionen<br />
geben“, wagte ich einen letzten Einwand.<br />
„Ganz sicher sogar“, sagte Max und nahm einen<br />
kräftigen Schluck. „Aber wir werden genug Geld<br />
verdienen, um die paar Fälle einfach aufzukaufen.“<br />
„Wenn willst du schon wieder aufkaufen?“, fragte Amy<br />
Lee und glitt auf den Sessel neben Max.<br />
„Amy! Ich hab dich gar nicht gesehen“, sagte Max und<br />
küsste sie auf die Wange. Ich war kaum noch überrascht.<br />
„Immer nur Business im Kopf, hm?“, sagte sie.
„Ach wo. Das hier ist Privatleben. Ein Familientreffen.<br />
Darf ich dir meinen Cousin vorstellen ...“, sagte er.<br />
„Wir kennen uns schon“, sagte ich.<br />
Amy runzelte fragend die Stirn.<br />
„Ich bin Musikjournalist. Wir haben vor ein paar<br />
Monaten ein Interview gemacht, für Backstage“, sagte<br />
ich.<br />
„Oh ja, ich erinnere mich“, sagte sie, aber es war offensichtlich,<br />
dass sie log.<br />
„Was machst du heute noch?“, fragte Max.<br />
„Wir gehen auf eine Party“, sagte Amy und deutete auf<br />
die beiden Anzugträger. „Komm doch mit. Und bring<br />
Joanna mit!“<br />
„Die Arme muss die ganze Nacht arbeiten“, sagte Max.<br />
„Aber ich habe frei und ich könnte ein wenig Spaß<br />
brauchen. Warum nicht? Würdest du mich<br />
entschuldigen?“, fragte er mich.<br />
Würdest du mich gefälligst mitnehmen, du Superduperarschloch?!,<br />
dachte ich, und sagte: „Ja klar, kein
Problem. Ich trinke noch in Ruhe aus und muss dann<br />
ohnehin früh ins Bett.“<br />
„Okay“, sagte er und stand auf. Er streckte mir die Hand<br />
entgegen und ich schüttelte sie.<br />
„Bestell dir ruhig noch ein Glas. Ich sag dem Kellner, er<br />
soll mir die Rechnung schicken. War schön, dich<br />
wiederzusehen!“, sagte er.<br />
Ich lächelte. Du mich auch.<br />
#<br />
Courtney Love does the math, Salon.com: Irgendwann<br />
fanden die Plattenfirmen heraus, dass es sehr viel<br />
profitabler ist, die Distributionskanäle zu kontrollieren,<br />
als in die Künstler zu investieren. Und weil es zu diesen<br />
Firmen keine echte Alternative gab, konnten Künstler<br />
auch nirgends anders hingehen [...] Schrankenwärter zu<br />
sein war hochprofitabel, aber nun sind wir in einer Welt<br />
ohne Schranken. Das Internet erlaubt den Künstlern,<br />
direkt mit ihrem Publikum zu kommunizieren. [...] Wie
kann eine Firma in einer Welt, in der wir alles haben<br />
können, was wir wollen, wann immer wir wollen,<br />
Gewinne generieren? Durch Filter.<br />
#<br />
Am nächsten Morgen spulte ich das Interview mit<br />
Linkin Park lustlos ab und eilte dann quer durch Soho<br />
zur Oxford Street. In einer großen Buchhandlung suchte<br />
ich zunächst die Regale mit juristischen Büchern ab. Ich<br />
fand ein paar zum Thema Copyright, aber nichts, das<br />
für Normalsterbliche verständlich schien. Also fragte ich<br />
eine Angestellte.<br />
Sie beugte sich über ihren Computer, tippte ein wenig<br />
herum, und sagte dann: „Wir haben einiges im Haus,<br />
aber leider über die ganze Buchhandlung verteilt. Ich<br />
schreibe Ihnen die Regalnummern auf. Sie müssen in die<br />
Wirtschaftsabteilung, zu den Computer-Büchern, zur<br />
Kunsttheorie und zu den politischen Büchern.“<br />
Ich sah sie verwirrt an. „Politische Bücher?“
Sie zuckte desinteressiert mit den Achseln und hielt mir<br />
den Zettel hin.<br />
„Dann mache ich mich also mal auf die Suche“,<br />
murmelte ich.<br />
Ich fand tatsächlich drei Bücher, die mir interessant<br />
erschienen, und kaufte alle drei. Dann ging ich über die<br />
Oxford Street ins Internet-Café im Virgin Mega Store,<br />
checkte meine Mails und ging auf die Seite der<br />
Soundinistas. Da stand ein neuer Blog-Eintrag: „Wir<br />
haben die Seite erweitert, ab jetzt könnt ihr auch ein<br />
paar vernünftige Fotos von uns sehen und über jeden<br />
auch ein paar Zeilen lesen. Damit ihr wisst, wer da in<br />
eure Stadt kommt, um euch einzuheizen!“<br />
Das wars. Drei Zeilen. Kein Wort über mich, kein Wort<br />
des Dankes. Ich klickte auf den Link, der das „Profil<br />
Anna“ versprach. Mein kurzer Text. Drei Bilder. Drei<br />
schlechte Bilder. Und trotzdem war sie so schön, dass es<br />
mir beinahe weh tat. Kein Zweifel, ich war verliebt. Eine<br />
kindische und wunderschöne Urlaubsliebe …
Ich hätte dieses Gefühl still genießen können, vielleicht<br />
ein wenig leiden, dann darüber hinwegkommen und<br />
eine schöne Erinnerung für ein paar Jahre im Herzen<br />
behalten, bis sie ganz langsam verblasste.<br />
Aber ich entschied mich anders.<br />
#<br />
Ein paar Stunden später. Ein Flughafen und Bruce<br />
Willis.<br />
Der Flug aus London kam auf die Minute pünktlich in<br />
Rom an. Ich hatte eine Stunde Aufenthalt und bereits<br />
meine Bordkarte für den Anschluss nach Neapel. Und<br />
ich spielte mit dem Gedanken, sie verfallen zu lassen.<br />
Die Soundinistas spielten heute Abend in Rom, ich<br />
wusste das, weil es auf ihrer Website stand. Ich versuchte<br />
mir einzureden, dass ich dagegen ankämpfte, aber ich<br />
wusste schon, dass ich nachgeben würde.<br />
Ich blätterte in einem der Bücher, die ich am Vormittag<br />
gekauft hatte, und las ein bisschen hier, ein bisschen da,
ziemlich unkonzentriert. Meine Augen fanden die Worte<br />
Twelve Monkeys. Einer meiner absoluten<br />
Lieblingsfilme. Und eine meiner ersten Filmrezensionen.<br />
„Wenn Sie in Zukunft alle Filme so unreflektiert in den<br />
Himmel loben, werfe ich sie raus“, hatte der<br />
Chefredakteur danach gedroht. „Und ich habe die<br />
Hälfte des Textes gestrichen. Schreiben Sie über den<br />
Film, den Sie sehen, und nicht über alte Schinken.“<br />
Ich hatte einen langen Absatz über Vertigo in die<br />
Rezension gepackt, denn Twelve Monkeys spielt an<br />
mehreren Stellen auf Hitchcocks Film an: Die<br />
Titelsequenz ist beinahe identisch, zwischendurch hört<br />
man einmal Filmmusik aus Vertigo, die<br />
Hauptdarstellerin (Kim Novak bzw. Madeleine Stowe)<br />
verkleidet sich als Blondine, James Stewart leidet unter<br />
Höhenangst und Bruce Willis hängt auf einen Stuhl<br />
geschnallt in luftiger Höhe, und gegen Ende sitzen<br />
Madeleine Stowe und Bruce Willis sogar vor einem<br />
Fernseher und sehen sich das Hitchcock-Movie an.
Außerdem kommt diese eine Szene aus Vertigo auch in<br />
dem französischen Kultfilm La Jetée vor – und das ist bis<br />
heute der beste Endzeit-Science-Fiction-Film, den es<br />
gibt, er hat seit Anfang der 1960er-Jahre das ganze<br />
Genre geprägt. Twelve Monkeys wäre ohne La Jetée gar<br />
nicht vorstellbar. Mehr als das: Twelve Monkeys ist<br />
eigentlich nur ein Remake von La Jetée. Das mag ein<br />
durchschnittlicher Kinogeher nicht wissen und nicht zu<br />
wissen brauchen, aber ich als Popkulturfreak und<br />
angehender Journalist wusste es und ich konnte nicht<br />
anders, als in meinem Artikel darauf hinzuweisen.<br />
„Halten Sie Ihre Eitelkeit im Zaum“, sagte der<br />
Chefredakteur.<br />
Nun las ich in diesem Buch, dass Twelve Monkeys vier<br />
Wochen, nachdem der Film in Amerika angelaufen war,<br />
vorübergehend von den Spielplänen genommen werden<br />
musste. Das war mir neu, ich wurde neugierig.<br />
In einer der Szenen von Twelve Monkeys kam ein Stuhl<br />
vor. Dieser Stuhl diente keiner besonderen Aufgabe und<br />
erfüllte keine wichtige Funktion in der Szene. Er stand
einfach im Raum. An sich nichts Ungewöhnliches für<br />
einen Stuhl, sollte man meinen. Allerdings ging einige<br />
Wochen nach dem Filmstart ein Designer ins Kino,<br />
jemand, der unter anderem auch Möbel entwarf. Dieser<br />
Jemand sah den Stuhl im Hintergrund, und dieser Stuhl<br />
erinnerte ihn an ein Modell, das er selbst einmal<br />
entworfen hatte. Was er auf der Leinwand sah, entsprach<br />
nicht hundertprozentig seinem Entwurf, war nicht das<br />
exakt gleiche Modell, aber doch ein ähnliches. Das, so<br />
befand der Designer, sei Ideendiebstahl. Er klagte die<br />
Filmfirma. Wenn sie die Szene mit dem Stuhl weiter<br />
verwenden wolle, müsse sie ihm eine Abfindung für<br />
seine Rechte zahlen. Der Designer erwirkte eine<br />
einstweilige Verfügung und der Film durfte nicht mehr<br />
gezeigt werden. Achtundzwanzig Tage, nachdem Twelve<br />
Monkeys angelaufen war, musste die Millionen-Dollar-<br />
Produktion für einige Zeit vom Spielplan, bis die<br />
rechtliche Situation geklärt war.<br />
Ich schlug das Buch zu und pfiff durch die Zähne. Max’<br />
Plan erschien gar nicht mehr abstrus.
Dann packte ich das Buch wieder in meine Tasche und<br />
verließ das Terminal. Ich nahm ein Taxi und fuhr in die<br />
Stadt.<br />
#<br />
Wenn die Natur es so eingerichtet hat, dass ein Ding<br />
sich weniger für ausschließliches Eigentum eignet als alle<br />
anderen Dinge, so ist es die Handlung des<br />
Denkvermögens, die wir Idee nennen. Ein Einzelner<br />
mag sie allein besitzen, solange er sie für sich behält,<br />
doch sobald sie preisgegeben wird, drängt sie sich in den<br />
Besitz eines jeden und der Empfänger kann sich ihrer<br />
nicht wieder entledigen. Zu ihrem eigentümlichen<br />
Charakter gehört es ferner, dass niemand weniger besitzt,<br />
weil alle anderen die Idee ebenfalls besitzen.<br />
Das hat Thomas Jefferson mal geschrieben und ich habe<br />
es jetzt abgeschrieben. Jefferson wird es egal sein.<br />
#
Sie stand vor dem Backstage-Eingang und rauchte. „Was<br />
tust du denn hier?“, fauchte sie, noch bevor ich etwas<br />
sagen konnte.<br />
„Äh...“, stammelte ich.<br />
„Rückst du uns jetzt gar nicht mehr von der Pelle? Oder<br />
verfolgst du mich? Nur weil wir es einmal getrieben<br />
haben?“, fragte sie. „Bist du ein Perverser?“<br />
„Nein“, sagte ich. „Nein. Sicher nicht, da kannst du<br />
beruhigt sein.“<br />
„Ich bin ruhig.“ Sie blies Rauch aus ihrer Nase und<br />
selbst dabei war sie wunderschön. Sie sagte nichts mehr,<br />
also drückte ich mich an ihr vorbei und betrat das Lokal.<br />
Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt noch hier tat.<br />
„Was tust du denn hier?“, fragte Eugene.<br />
Tja.<br />
„Ich dachte mir, ich schau noch mal vorbei“, sagte ich.<br />
Und dann hatte ich eine schlechte Idee und sagte: „Ich<br />
muss dir etwas erzählen, das ich in London erlebt habe.“
„Ach ja?“ Er schraubte an der Unterseite des Mischpults<br />
herum. „Schieß los.“<br />
Also erzählte ich ihm vom Abendessen mit Max und von<br />
Harrisons Prozess und davon, dass die Schweigeminute<br />
für seine tote Frau eine Coverversion einer John-Cage-<br />
Nummer war und eigentlich die Rechte einer<br />
Plattenfirma verletzte. Ich erzählte das alles nur, weil ich<br />
ja irgendwas erzählen musste, weil ich einen Grund<br />
brauchte, hier zu sein. Ich erzählte ihm von den<br />
zigtausenden Interpreten, die Max schon unter Vertrag<br />
nahm, und von den Verhandlungen mit den anderen<br />
Labels und von der dritten Stufe der Weltherrschaft.<br />
Natürlich, ich hatte Max versprochen, es nicht<br />
weiterzuerzählen, aber was konnte schon passieren, hier<br />
in einem kleinen, verrauchten Kellerlokal mitten in<br />
Rom?<br />
Eugene hörte zu und schraubte an dem Mischpult<br />
herum und sagte hin und wieder Dinge wie: „Ach ja?“<br />
und „Ist ja interessant“ und „Nicht im Ernst, oder?“
Schließlich sagte er: „Ich habe zwei John-Cage-CDs im<br />
Bus. Ich glaube, 4’33’’' ist auch drauf.“<br />
Er verschwand kurz und kam eine Minute später wieder,<br />
winkte lächelnd mit der Silberscheibe und legte sie in<br />
den CD-Player. Er suchte den richtigen Track und<br />
drückte Play.<br />
Stille. Nichts.<br />
„Wirklich große Kunst“, sagte er, und ich wusste nicht,<br />
ob er es ernst meinte.<br />
„Shit“, sagte ich, „und wegen so was wollen sie euch<br />
verklagen …“ Das stimmte so natürlich nicht. Ich weiß<br />
nicht, warum ich es sagte. Vielleicht wollte ich mein<br />
Erlebnis in London einfach interessanter machen.<br />
„Bitte? Was wollen diese Arschlöcher?“<br />
„Euch verklagen …“, stammelte ich, dann setzte ich<br />
auch schon zum Rückzug an, weil ich nicht<br />
weiterwusste: „Natürlich nur, wenn ihr die<br />
Schweigeminute veröffentlicht, sonst ist es ihnen<br />
natürlich egal.“
Eugene lachte. „Sag diesem Krawatten-Heini, er kann<br />
mich am Arsch lecken!“<br />
„Okay“, sagte ich. „Ich richte es ihm aus.“<br />
„Das ist ja das Allerletzte. Das Allerletzte“, murmelte er.<br />
Dmitri stürmte in den Raum. „Eugene, kommst du<br />
mal?“ rief er.<br />
„Was ist los?“<br />
„Komm einfach mit!“<br />
Eugene setzte sich in Bewegung, ich wollte hinterher<br />
(antrainierte journalistische Neugier!), aber Dmitri<br />
schüttelte den Kopf. „Sorry, du nicht, das geht nur die<br />
Band was an.“<br />
„Okay“, murmelte ich. Die beiden liefen los und ich<br />
stand ziemlich verloren da.<br />
Also ging ich an die Bar und trank ein Bier und wartete.<br />
Und las weiter in dem Buch: „Gedichtbände, Comics,<br />
Hollywood-Filme ... Vielleicht sind ja manche der<br />
Meinung, dass das alles kein wirklich wichtiges<br />
politisches Thema sei. Nun, wie wäre es damit: Ganz<br />
zweifellos war die amerikanische Bürgerrechtsbewegung
eine der wichtigsten politischen Entwicklungen der<br />
letzten Jahrzehnte. Martin Luther King und seine<br />
Mitstreiter haben in den Sechzigern viele Rechte<br />
erkämpft, die heute – nicht nur in Amerika – als<br />
Selbstverständlichkeiten gelten. Als so selbstverständlich,<br />
dass man ihrer Verteidigung vielleicht zu wenig<br />
Aufmerksamkeit und Wachsamkeit schenkt. Aber unser<br />
Verständnis von Demokratie und von<br />
Minderheitenrechten ist heute ein anderes, ein besseres,<br />
als noch vor fünf Jahrzehnten. Die<br />
Bürgerrechtsbewegung hat Freiheit für uns alle<br />
erkämpft, ob schwarz oder weiß oder himmelblau,<br />
schwul oder lesbisch oder trans oder hetero, links oder<br />
rechts, Christ, Jude, Moslem oder Atheist.<br />
Es gibt einen Dokumentarfilm, der die ganze Geschichte<br />
der Bewegung, von Rosa Parks’ Busfahrt in<br />
Montgomery bis zu Kings Ermordung in Memphis, in<br />
einer 16-stündigen Collage aus Interviews und<br />
Originalaufnahmen erzählt: Eyes On The Prize, 1986<br />
produziert von Henry Hampton. Eine außer-
gewöhnliche journalistische Leistung, die von den<br />
meisten Zeitzeugen als wichtigste Arbeit zu dem Thema<br />
bezeichnet wird. Die jungen Menschen von heute, sagen<br />
sie, müssen wissen, was damals geschehen ist. Sie müssen<br />
sehen, dass man die Welt ändern kann. MLK darf nicht<br />
vergessen werden.<br />
Es gibt natürlich gute Bücher darüber, auch detaillierte<br />
akademische Abhandlungen. Aber Lesen, das ist eine<br />
Betätigung der Mittelschicht. Gerade jene Jugendlichen,<br />
die am dringendsten über Kings Kampf Bescheid wissen<br />
sollten, lesen wenig. Ihr Medium ist der Film, das Video,<br />
das Fernsehen. Eyes On The Prize könnte im TV oder<br />
auf DVD eine ganze Generation lehren, wie man um<br />
seine Rechte kämpft.<br />
Könnte.<br />
Denn Eyes On The Prize ist nicht mehr so einfach<br />
erhältlich. Die Dokumentation besteht aus vielen<br />
Stunden Film und auch Fotos, die Copyright-geschützt<br />
sind und Nachrichtenagenturen oder Fernsehsendern<br />
gehören. Aus Kostengründen konnte Henry Hampton
nur zeitlich begrenzte Lizenzen erwerben – und die sind<br />
nun abgelaufen. Darunter ist eine Filmaufnahme, die ein<br />
kleines Geburtstagsfest für MLK zeigt. Seine Freunde<br />
und Mitstreiter singen Happy Birthday. Das war im<br />
Januar 1968. Drei Monate später war King tot. Die<br />
Aufnahme wurde privat gemacht, das Fest war privat<br />
und im kleinen Kreis, man sollte meinen, ihre<br />
Wiedergabe in Eyes On The Prize wäre kein Problem.<br />
Aber dem ist nicht so: Das Lied Happy Birthday<br />
unterliegt dem amerikanischen Copyright.<br />
Es wurde schon 1893 von zwei Schwestern geschrieben<br />
(eine davon hörte auf den schönen Namen Patty Smith<br />
Hill), aber erst 1935 von ihrer dritten Schwester und<br />
einem Musikverlag zum Copyright angemeldet.<br />
Also wird der Song nun bis mindestens 2030 geschützt<br />
sein. Jedes Mal, wenn Happy Birthday in einem Film<br />
erklingt, klingeln im Hintergrund die Kassen. Wird die<br />
Szene im Film Eyes On The Prize belassen, werden bei<br />
einer Neuauflage Lizenzzahlungen fällig.
Nun könnte man auf diese eine Szene natürlich<br />
verzichten, aber Eyes On The Prize ist<br />
demokratiepolitisch und pädagogisch so wertvoll, weil in<br />
den 16 Stunden mehr Originalmaterial verarbeitet ist als<br />
in jedem anderen Bericht. Genau das macht aber den<br />
Lizenzerwerb auch so teuer. Unterm Strich ist es für<br />
einen kleinen Vertrieb schlicht und einfach nicht<br />
leistbar, alle (oder ausreichend viele) Lizenzen zu<br />
erneuern und eine DVD-Edition aufzulegen. Und die<br />
großen Konzerne, die es sich leisten könnten, haben<br />
daran kein Interesse. Es wäre kein Geschäft.<br />
Falls Sie Interesse haben: Es gibt noch eine Möglichkeit,<br />
an den Film heranzukommen. Bei eBay gehen die alten<br />
VHS-Editionen mittlerweile um vierstellige<br />
Dollarbeträge weg – aber die Käufer stammen wohl<br />
wieder nicht aus jener sozialen Schicht, für die der Film<br />
am wichtigsten wäre. Meist sind es gut verdienende<br />
Sammler, die ein Stück Filmgeschichte erwerben und in<br />
den Schrank stellen.
Copyrights sind gesetzliche Bestimmungen darüber, wie<br />
Information verteilt wird und wer wie darüber verfügen<br />
kann. Sie sind ein politisches Kontrollinstrument.“<br />
Ich klappte das Buch zu.<br />
#<br />
Als Eugene zwei Stunden später wieder auftauchte,<br />
wirkte er erschöpft. Er setzte sich grußlos neben mich.<br />
Ich bot ihm eine Zigarette an, dann Feuer.<br />
Er nahm beides und bestellte einen Whisky. „Nein,<br />
zwei“, sagte er und deutete auf mich. Dann saßen wir<br />
lange nebeneinander und tranken wortlos. Die nächste<br />
Runde ging auf mich, dann noch eine auf ihn.<br />
Schließlich kamen Carlos und Dmitri und setzten sich<br />
neben uns.<br />
„Ist er weg?“, fragte Eugene.<br />
„Ja“, sagte Carlos. „Er ist weg. Noch vier Whiskys bitte.“<br />
Ich wollte nicht fragen, also blickte ich einfach geradeaus<br />
und tat teilnahmslos.
„Wir haben Chris aus der Band geworfen“, sagte Eugene<br />
schließlich.<br />
„Oh“, sagte ich. „Warum?“<br />
Schweigen. Ich bereute die Frage. Es ging mich nichts<br />
an.<br />
„Wir trinken eine Menge“, sagte Eugene schließlich<br />
leise. „Wir kiffen viel. Und manchmal koksen wir auch.<br />
Aber harte Sachen, das geht nicht. Das geht einfach<br />
nicht. Er kannte die Regeln und musste gehen. So ist<br />
das.“<br />
Ich nickte, als würde ich verstehen. Werdet ihr das<br />
Konzert heute zu dritt spielen?“<br />
„Klar“, sagte Eugene. „Das geht schon.“<br />
„Bin gespannt“, sagte ich.<br />
Die Whiskys kamen. Carlos und Dmitri kippten ihre ex<br />
runter.<br />
„Noch vier“, sagte ich zur Kellnerin. „Und habt ihr auch<br />
Gästezimmer für heute Nacht?“<br />
Sie schüttelte den Kopf.
„Du kannst bei uns im Bus schlafen“, sagte Eugene.<br />
„Wir haben jetzt ja eine Koje frei.“<br />
Ich dachte am Anna. Sie würde wütend sein.<br />
„Okay!“, sagte ich.<br />
#<br />
Anna war nicht wütend. Sie bekam nicht einmal mit,<br />
dass ich da war. Sie riss sich nach dem Konzert einen<br />
langhaarigen Italiener mit schmalen Hüften, breiten<br />
Schultern und zu viel Gel in den Haaren auf und<br />
verschwand mit ihm.<br />
Ich versoff mich mit Carlos, Dmitri und Eugene,<br />
zweieinhalb Flaschen Wodka, ein paar Bier und ein paar<br />
Red Bull. Wir saßen auf den Sofas im oberen Stock des<br />
Busses und diskutierten über die Unmöglichkeit,<br />
aktuelle Rockmusik in zwanzig Jahren am Lagerfeuer<br />
spielen zu können. Wir klimperten dazu auf Gitarren<br />
herum, und als wir zur Erkenntnis gelangten, dass James
Blunt uns in Zukunft an jedem Lagerfeuer der Welt<br />
bedrohen würde, öffneten wir noch eine Flasche Wodka.<br />
„Erzähl die Geschichte aus London“, sagte Eugene. „Die<br />
mit John Cage.“<br />
Wir waren alle schon sehr betrunken, wir lallten, hatten<br />
Schwierigkeiten, unsere Pappbecher festzuhalten, Carlos<br />
machte mit der Zigarette ein Brandloch ins Sofa und wir<br />
fanden das lustig. In so einer Stimmung waren wir, als<br />
ich die Geschichte von Max’ Welteroberungsplan<br />
erzählte.<br />
Ich musste natürlich ein wenig lügen, konnte ja schlecht<br />
erzählen, dass ich ihm das Konzertvideo gezeigt hatte,<br />
weil ich Anna so geil fand. Nein, ich sagte, dass ich die<br />
Soundinistas so gut fand, dass ich sie einem Plattenboss<br />
zeigen wollte. „Nett von dir“, sagte Dmitri. „Aber ich<br />
finde, es ist ein Skandal, dass die uns eine<br />
Schweigeminute verbieten wollen.“<br />
„Könnten sie das?“, fragte Carlos.
„Kann ich mir kaum vorstellen“, sagte Eugene. „Aber<br />
wenn die mit hundert Anwälten anrücken, was würden<br />
wir dann tun?“<br />
Carlos nippte an seinem Wodka. „Den Schwanz<br />
einziehen.“<br />
„Genau.“<br />
Dmitiri hob den Zeigefinger: „Die Gedanken der herrschenden<br />
Klasse sind in jeder Epoche herrschende<br />
Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende<br />
materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre<br />
herrschende geistige Macht.“<br />
Ich drehte meinen Kopf zu ihm.<br />
„Marx und Engels. Aus Die deutsche Ideologie. Du<br />
weißt, ich war Parteimitglied.“<br />
Ich lachte, griff nach der Gitarre und spielte<br />
Guantanamera, das schien mir irgendwie passend.<br />
Yo soy un hombre sincero ... Die anderen begannen,<br />
leise mitzusingen.<br />
Dann, plötzlich, stand Eugene auf. „Eigentlich habe ich<br />
da keine Lust dauf“, sagte er, leicht schwankend.
„Worauf?“, fragte Carlos.<br />
„Den Schwanz einzuziehen, aber Solidaritätslieder zu<br />
singen.“<br />
„Äh...“, sagte ich.<br />
„Stimmt, Genosse“, sagte Dmitri und salutierte.<br />
„Ich meine es ernst“, sagte Eugene. „Ich meine, wie tief<br />
würde ich sinken, wenn ich mir von einem<br />
Krawattenmenschen eine Schweigeminute für meine<br />
tote Frau verbieten lasse?“<br />
„Das ist ja nur theoretisch“, sagte ich.<br />
„Nein, das ist gar nicht theoretisch“, sagte Eugene. „Das<br />
ist alles andere als theoretisch. Das ist eine höchst<br />
praktische Frage. Eine zutiefst philosophische Frage.“<br />
„Oje“, sagte Dmitri. „Bring dich in Deckung, jetzt geht<br />
es los.“<br />
„Was geht los?“, fragte ich.<br />
„Der Herr Professor hält einen Vortrag.“<br />
„Stimmt nicht“, sagte Eugene. „Ich werde keinen<br />
Vortrag halten. Aber ich habe gerade eine Idee, die<br />
unseren jungen Freund hier interessieren wird.“
„Wir gehen schlafen“, sagte Carlos und stand auf.<br />
„Stimmt“, sagte Dmitri. „Ist ja auch wirklich schon spät.<br />
Gute Nacht!“<br />
Und damit ließen die beiden uns alleine.<br />
„Prost“, sagte ich und nahm noch einen tiefen Schluck<br />
vom Wodka.<br />
#<br />
Mein Telefon läutete.<br />
„Hey, Mann!“, sagte die Stimme am anderen Ende.<br />
„Hi, Max“, krächzte ich, noch nicht ganz nüchtern.<br />
„Bist du gut wieder in Italien angekommen?“<br />
„Mhm.“<br />
„Was ist mit der Band? Du weißt schon, das Mädchen in<br />
dem Video. Hast du sie wiedergesehen?“<br />
„Mhm.“<br />
„Gut. Sehr gut. Ich muss mir dir reden.“<br />
„Max, es ist früh am Morgen.“
„Es ist zehn Uhr in Italien.“<br />
„Sage ich ja.“<br />
„Hör zu“, sagte er. „Es ist wichtig. Ich habe Joanna<br />
gestern von dir erzählt, von unserem Abendessen und<br />
von dem Video. Und sie hatte eine Idee. Eine verrückte<br />
Idee, wenn du sie das erste Mal hörst, aber letztlich eine<br />
geniale Idee. Joanna ist wirklich ein Genie.“<br />
Er sprach schnell und das verstärkte meine<br />
Kopfschmerzen nur.<br />
„Max, kannst du mir das nicht in einer Stunde<br />
erzählen?“<br />
„Zuerst habe ich ihr gesagt, sie spinnt, aber nun habe ich<br />
es die ganze Nacht sickern lassen und ich glaube<br />
wirklich, es ist eine sensationelle Idee. Wir sollten<br />
darüber reden.“<br />
„Okay. Wir sind schon dabei, Max. Was willst du?“<br />
„Der Punkt ist der: Du hast es ja selbst gesagt, Volvox<br />
wird irrsinnig schlechte Presse bekommen, wenn wir das<br />
erste Mal jemanden klagen. Wir bringen die Songwriter
um, et cetera, et cetera. Das wird alles über uns<br />
hereinbrechen.“<br />
„Das habe ich gesagt“, sagte ich.<br />
„Okay, ja, und ich dachte: Da müssen wir durch, das<br />
gehört eben zum Geschäft. Nur hat mich Joanna gefragt:<br />
Was wäre, wenn ich diesen Vorgang beeinflussen<br />
könnte?“<br />
„Ich verstehe nicht.“<br />
„Du weißt ja, ich werde keine Promotion-Abteilung<br />
haben. Da habe ich jahrelang all diese wunderbaren<br />
Medienkontakte aufgebaut, und jetzt weiß ich nicht, was<br />
ich damit tun soll.“<br />
„Ich verstehe immer noch nicht.“<br />
„Volvox könnte tatsächlich die Soundinistas klagen,<br />
meint Joanna. Wir machen ein bisschen Medienzirkus,<br />
eine Presseaussendung hier, ein Interview da, du weißt<br />
schon, um die Berichte zu kanalisieren. Ich nehme eine<br />
gute PR-Agentur, die das Krisenmanagement steuert.<br />
Dann sieht der Vorstand auch, dass ich besser doch eine<br />
eigene Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit brauche. Und
nach ein paar Wochen schließen wir eine Vereinbarung,<br />
bei der alle Seiten gut aussteigen. Die Soundinistas<br />
kriegen einen Plattenvertrag, oder zumindest einen<br />
Vorvertrag bei einem unserer Labels, und erzählen den<br />
Reportern, wie nett die Leute von Volvox eigentlich<br />
sind. Wir stellen sie drei Tage ins Studio, das kostet<br />
nicht viel, vielleicht bringen wir auch eine CD mit fünf-,<br />
sechstausend Stück Auflage auf den Markt.<br />
Meinetwegen sogar mit einem kleinen Marketingbudget.<br />
Nach einem Monat ist die Sache ausgestanden und kein<br />
Hahn kräht mehr danach. Wenn Volvox dann beginnt,<br />
ernsthaft zu arbeiten, interessiert das keine Sau mehr.<br />
Der Neuigkeitswert ist weg.“<br />
„Max …“, sagte ich.<br />
„Ja?“<br />
„Du und Joanna, ihr seid krank.“<br />
„Nein. Nur konsequent. Wenn man eine gute Idee hat,<br />
muss man sie umsetzen. Das hier ist eine gute Idee. Und<br />
ich brauche dich, um das einzufädeln. Was sagst du?“<br />
„Ich bin müde, ich habe Kopfweh.“
„Das ist keine Antwort. Ja oder nein.“<br />
„Nein. Mach deine Spielchen alleine, ich hab keine Lust<br />
drauf.“ Ich legte grußlos auf, wie sie es in den<br />
amerikanischen Filmen immer machen.<br />
Ich wälzte mich noch ein paar Mal hin und her, konnte<br />
aber nicht mehr einschlafen. Es war inzwischen zu heiß<br />
im Bus.<br />
Hatte Max den Soundinistas tatsächlich einen<br />
Plattenvertrag angeboten? Oder hatte ich da etwas<br />
missverstanden?<br />
Ich beschloss, aufzustehen.<br />
Eugene lag auf dem Sofa und las in einem der Bücher,<br />
die ich in London gekauft hatte.<br />
„Guten Morgen“, sagte ich. „Schon wieder fit?“<br />
Er reagierte nicht auf die Frage. „Interessante Bücher<br />
hast du da“, sagte er stattdessen. „Hast du das Kapitel<br />
über Mickey Mouse schon gelesen?“<br />
#
„Mickey Mouse?“<br />
Zuerst der Anruf von Max und jetzt das. Ich wusste<br />
nicht, was ich darauf sagen sollte, und schwieg.<br />
„Ein Wahnsinn, findest du nicht?“, fragte Eugene. „Das<br />
kann man doch nicht einfach so hinnehmen.“<br />
„Vermutlich nicht. Aber ich habe einen Kater.“<br />
„Oh“, sagte er. „Möchtest du einen Kaffee?“<br />
„Gerne.“<br />
Er legte das Buch weg. „Komm mit“, sagte er und erhob<br />
sich. Ich folgte ihm in das untere Stockwerk des Busses.<br />
In der kleinen Kochnische stand eine Espressomaschine.<br />
„Milch?“, fragte er.<br />
„Nein, schwarz.“<br />
„Fliegst du heute nach Neapel zurück?“<br />
„Ich werde wohl den Zug nehmen“, sagte ich.<br />
„Wie lange hast du noch Urlaub?“, fragte er.<br />
„Etwas weniger als fünf Wochen.“<br />
„Das ist ja ganz schön.“<br />
„Ja. Aber ich fürchte, ich werde die meiste Zeit mit<br />
schlechtem Gewissen vor meinem Notebook sitzen und
mit dem Roman nicht weiterkommen. Danke übrigens<br />
für deine Vor-schläge gestern, das war echt spannend.“<br />
„Aber nicht wirklich etwas für dich?“<br />
„Ich weiß nicht. Ich werde darüber nachdenken. Aber<br />
ich verstehe so überhaupt nichts vom Mittelalter ... mal<br />
sehen. Ich muss mich jetzt mal mit Disziplin an den<br />
Schreibtisch zwingen, dann wird sich schon etwas<br />
ergeben.“<br />
„Vielleicht hätte ich eine bessere Idee.“<br />
„Schon wieder?“, fragte ich schmunzelnd.<br />
Er blieb ernst. „Du könntest für ein paar Wochen bei<br />
uns in der Band einsteigen. Als Gitarrist.“<br />
Ich runzelte die Stirn. Wenn ich jetzt mit allem<br />
gerechnet hätte, damit nicht.<br />
„Du hast das Konzert gestern gehört. Das hat nicht<br />
geklappt. Wir brauchen noch einen Gitarristen.“<br />
„Ja, schon. Aber ...“<br />
„Nur bis wir einen Ersatz für Chris gefunden haben. Das<br />
wird nicht länger als zwei, drei Wochen dauern. Das<br />
wird der coolste Urlaub deines Lebens.“
„Ich bin nicht so gut ...“<br />
„Ich könnte es ohnehin nicht alleine entscheiden. Die<br />
Band muss darüber abstimmen. Aber da sehe ich kein<br />
Problem. Ich habe dich am Lagerfeuer gehört. Du bist<br />
gut genug, wir hatten schon schlechtere Gitarristen.<br />
Vergiss nicht, wir machen Punk für Betrunkene. Wir<br />
sind keine dieser superperfekten Bands, die du sonst<br />
interviewst. Wir wollen Spaß an der Sache haben.<br />
Probier es aus. Wer weiß, vielleicht willst du nach einer<br />
Woche gar nicht mehr, dass wir uns einen anderen<br />
Gitarristen suchen ...“<br />
Ich dachte an Anna. Ich dachte an den einsamen<br />
Schreibtisch im Hotelzimmer in Neapel.<br />
Und dann dachte ich daran, dass Max mir am Telefon<br />
einen Plattendeal für die Band angeboten hatte, in der<br />
Eugene mir nun einen Platz als Gitarrist anbot.<br />
Wenn die Chance da ist, muss man sie nehmen. Nicht<br />
zweimal fragen, sondern zugreifen.<br />
Aber konnte ich Eugene klarmachen, dass er sich von<br />
Max verklagen lassen sollte, das jedoch alles nur Fake
war und wir danach einen Plattenvertrag bekommen<br />
würden? Klang das glaubwürdig? Er hielt immer noch<br />
mein Buch in den Händen. Würde er mit der<br />
Großindustrie überhaupt zusammenarbeiten wollen?<br />
Musste er das alles überhaupt wissen?<br />
„Okay“, sagte ich. „Ich bin dabei!“<br />
#<br />
Damit die anderen sich ungestört über mich unterhalten<br />
und abstimmen konnten, unternahm ich einen<br />
Spaziergang. Ich rechnete mit den Stimmen der drei<br />
Männer und vielleicht einer Gegenstimme von Anna,<br />
war mir also sicher, als provisorisches Bandmitglied<br />
aufgenommen zu werden.<br />
Ich setzte mich in ein Café mit WLAN-Zugang und lud<br />
das Video von dem Konzert in der RockBox in<br />
mehreren Teilen bei YouTube hoch. Darunter war auch<br />
der Teil mit der Schweigeminute. Ich nannte das File<br />
<strong>incommunicado</strong>.mpg.
Den Link postete ich bei Facebook und schickte ihn<br />
Max per Mail. Als ich zum Bus zurückkam, stießen<br />
Eugene, Dmitri, Carlos und ich auf meine<br />
Mitgliedschaft bei den Soundinistas an.<br />
Anna zog sich schmollend in ihre Koje zurück.<br />
#<br />
Am Anfang von Twelve Monkeys hört man Bruce Willis<br />
flüstern: „Jose, psst! Jose, was ist los?“<br />
„Schlechte Nachrichten, Mann.“<br />
„Freiwillige?“<br />
„Ja, und sie haben deinen Namen gerufen!“<br />
Betretenes Schweigen, dann sagt Jose: „Hey, vielleicht<br />
begnadigen sie dich.“<br />
Und Bruce Willis antwortet sarkastisch: „Ja, deswegen<br />
kommt auch keiner der Freiwilligen zurück. Sie werden<br />
alle begnadigt.“
alternate
Ich übte drei Tage lang, fast rund um die Uhr. Während<br />
ich aß, lernte ich die Playlist auswendig, ich summte<br />
Melodien, während ich am Klo saß, und ich träumte<br />
von Akkorden. Wenn ich nicht übte, dann hörte ich mir<br />
die Soundinistas auf CD an oder verfolgte das<br />
allabendliche Konzert gemeinsam mit Eugene. Ich half<br />
beim Aufbauen und Abbauen. Carlos und Dmitri<br />
nahmen sich vor den Konzerten immer zwei, drei<br />
Stunden Zeit für mich, dann übten wir gemeinsam.<br />
Anna blieb im Bus.<br />
Als ich am vierten Abend zehn Minuten vor dem<br />
Konzert meinen Platz bei Eugene einnehmen wollte,<br />
schüttelte er den Kopf. „Du bist so weit. Rauf auf die<br />
Bühne.“<br />
Muss ich erwähnen, dass ich so ziemlich alles falsch<br />
machte, was man nur falsch machen kann? Aus<br />
fachmännisch-handwerklicher Perspektive war es eine<br />
ziemliche peinliche Performance. Aber den betrunkenen<br />
Hunnen im Publikum war das egal.
Und obwohl ich heiße Ohren hatte und Anna mich bei<br />
jedem Fehler mit tödlichen Blicken strafte, war es<br />
saugeil, endlich wieder auf der Bühne zu stehen. Und<br />
das ohne Max. Für die Mädchen im Publikum waren<br />
weder Carlos noch Dmitri noch Anna interessant. Die<br />
blickten auf mich. Nur auf mich. Das war keine<br />
schlechte Erfahrung.<br />
Das war ganz und gar keine schlechte Erfahrung.<br />
#<br />
Am nächsten Morgen erhielt ich eine E-Mail von Max.<br />
Um genau zu sein: Ich erhielt eine Benachrichtigung von<br />
der Rechtabteilung eines Unternehmens namens Volvox<br />
Corporation. Unterschrieben war sie von einer gewissen<br />
Joanna McCormick. Max’ Freundin Joanna. Sie schrieb<br />
sehr förmlich, durchaus höflich, und wies uns darauf<br />
hin, dass wir die Rechte des Unternehmens an einem<br />
Musikstück mit dem Namen 4’33’’ verletzen würden.<br />
Sie bot uns an, eine Lizenz zur Nutzung dieses Stückes
zu erwerben, erläuterte uns die zahlreichen Vorteile ihres<br />
Angebots und wies darauf hin, dass wir unsere Version<br />
aus dem Netz nehmen sollten, solange die Lizenzfrage<br />
nicht geklärt sei. Widrigenfalls müsse die Volvox<br />
Corporation uns nämlich klagen. Den Streitwert für die<br />
illegale Nutzung des oben genannten Musikstückes<br />
würde die Volvox Corporation auf eine Million britische<br />
Pfund ansetzen.<br />
Ich las die Mail vor, dann nahm Eugene das Notebook<br />
auf seinen Schoß und las sie selbst. Er schüttelte den<br />
Kopf.<br />
„Trocken wie die Sahara“, sagte er. „Du kennst sie?“<br />
„Joanna? Nein, nicht persönlich. Aber Max ist ein guter<br />
Freund von mir. Er meint das nicht ernst.“<br />
„Bist du dir sicher?“<br />
„Ganz sicher.“<br />
„Dann sollten wir ihm jetzt eine nette Mail schreiben,<br />
uns entschuldigen und das Video aus dem Netz nehmen.<br />
Und ihn bitten, uns keine Anwaltskosten zu<br />
verrechnen“, sagte Eugene.
„Ja, das sollten wir vermutlich tun“, sagte ich langsam.<br />
Ich überlegte, ob und wie ich ihm von meinem Deal mit<br />
Max erzählen konnte. Sollte. Wollte. „Max lässt sicher<br />
mit sich reden. Wenn wir den Link löschen, wird er die<br />
Sache vergessen. Er ist ein netter Kerl, auch wenn er es<br />
oft ganz gut versteckt.“<br />
„Na dann. Greif zum Telefon.“<br />
„Andererseits: Du wolltest ja nicht den Schwanz<br />
einziehen“, sagte ich.<br />
Eugene nickte. „Nein. Aber eine Million Pfund ist eine<br />
Menge Geld.“<br />
„Kannst du dich noch an die Geschichte erinnern, die<br />
du mir vorgelesen hast? Mit Happy Birthday und dem<br />
Film über Martin Luther King?“<br />
„Klar“, sagte er.<br />
„Da hast du danach gesagt, das könne man so nicht<br />
hinnehmen.“<br />
„Ich weiß. Aber darum geht’s hier nicht.“<br />
„Nicht um MLK, aber um das Andenken an deine<br />
Frau.“ Das war gemein, ich weiß.
Er schwieg und sah mich fragend an. „Wir sollten den<br />
Schwanz nicht einziehen. Wir sollten Max trotzen.<br />
Zumindest eine Zeit lang. Ich will das, weil ich mich<br />
von ihm nicht herumschubsen lassen möchte. Und du<br />
solltest es aus Respekt vor deiner Frau wollen.“<br />
„Und was sollen wir machen?“<br />
„Den Kampf aufnehmen. Aber nicht vor Gericht“, sagte<br />
ich. „Da können wir nur verlieren.“<br />
„Das glaube ich sofort. Wenn wahr ist, was dieser Max<br />
dir erzählt hat, dann beschäftigt Volvox ein paar<br />
Dutzend oder vielleicht auch ein paar hundert Anwälte.“<br />
„Vermutlich würde ihnen schon ein einziger guter<br />
Anwalt reichen, denn wir können uns gar keinen<br />
leisten“, sagte ich. „Wir hätten schon Mühe, einen<br />
drittklassigen Paragraphenreiter zu bezahlen. Also lassen<br />
wir uns gar nicht darauf ein. Wir ignorieren ihre Klage.<br />
Wir legen uns gar keinen Anwalt zu.“<br />
„Toller Plan“, sagte Eugene und lachte. „Gar nicht<br />
kompliziert.“<br />
Ich blieb ernst. „Das ist natürlich noch nicht alles.“
„Dachte ich mir.“<br />
„Wir werden dort kämpfen, wo es Max weh tut. Bei den<br />
Sympathien der Menschen. Dort sind wir stärker.<br />
Verstehst du? David gegen Goliath. Rosa Parks gegen<br />
die fetten weißen Männer. Gandhi gegen das britische<br />
Imperium. Die kleine Punk-Band gegen den großen<br />
Medienkonzern. Wir werden einen Feldzug starten, für<br />
freie Musik, freie Kunst, freie Rede.“<br />
„Freies Schweigen.“<br />
„Ja, auch das. Sie haben das Recht zu schweigen. Wäre<br />
das kein guter Slogan?“<br />
„Doch.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr. „Ich weiß<br />
nicht.“<br />
„Er ist ein wirklich guter Freund“, sagte ich. „Wir<br />
können jederzeit die Notbremse ziehen, da bin ich mir<br />
sicher. Für ihn ist es nicht mehr als ein Spiel, um mir zu<br />
zeigen, dass er der Chef ist. Und ich will mir das nicht so<br />
einfach gefallen lassen. Ich will den Schwanz nicht schon<br />
vorher einziehen. Ich will, dass er uns bittet, aufzuhören.<br />
Er soll Bitte sagen.“
„Wie willst du das erreichen?“, fragte Eugene.<br />
„Mit Marx.“<br />
„Marx?“, fragte er, und sein Blick wanderte zu seinem<br />
Bücherregal.<br />
„Nicht Karl. Groucho. Hast du die Geschichte über ihn<br />
gelesen?“, fragte ich und zog eines der Bücher, die ich in<br />
London gekauft hatte, aus meiner Tasche.<br />
Eugene schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht.“<br />
„Er hat mal einen ähnlichen Brief bekommen wie wir<br />
gerade. Von den Warner Brothers.“<br />
„Und?“<br />
„Groucho drehte damals einen Film namens Eine Nacht<br />
in Casablanca. Das war ein paar Jahre nach dem großen<br />
Erfolg von Casablanca mit Bergman und Bogart und bei<br />
Warner sahen ein paar findige Anwälte die<br />
Namensrechte verletzt. Sie schrieben den Marx Brothers<br />
einen Brief und drohten mit Klage. Aber Groucho gab<br />
ihnen eine ziemlich witzige Antwort: Er wundere sich,<br />
dass Warners Rechte an einem Wort wie Casablanca<br />
haben können, wenn dieser Name doch seit
Jahrhunderten einer marokkanischen Stadt gehöre.<br />
Dann fragte er, ob etwa jener Ferdinando Balboa<br />
Warner, der Casablanca im Jahre 1471 entdeckte,<br />
während er eine Abkürzung nach Burbank suchte, ein<br />
Urahn der Warner Brothers sei. Groucho fragte die<br />
Warner-Anwälte, wie ein Kinobesucher die beiden Filme<br />
je verwechseln sollte, und behauptete, die meisten Leute<br />
würden problemlos seinen blonden Bruder Harpo von<br />
Ingrid Bergman unterscheiden können.“<br />
„Das will ich meinen“, murmelte Eugene.<br />
„Groucho schrieb: Ich bin mir nicht sicher, ob ich den<br />
Unterschied erkennen würde, aber ich würde es auf<br />
jeden Fall gerne ausprobieren!“, las ich vor. „Und dann<br />
schlug er zurück: Er drohte den Warner Brothers mit<br />
einer Klage, weil die Marx Brothers doch schon viel<br />
länger Brüder waren. Er wies Harry Warner darauf hin,<br />
dass er schon viele andere Harrys in seinem Leben<br />
getroffen habe, und er fragte Jack Warner, ob er sich<br />
nicht vor einer Klage von Jack the Ripper fürchte.“
„So gehört sich das wohl“, sagte Eugene und lächelte.<br />
„Wie ist diese Geschichte ausgegangen?“<br />
„Es gab einen längeren Briefwechsel und Grouchos Antworten<br />
waren immer völliger Nonsens. Irgendwann<br />
haben die Warner-Leute einfach aufgegeben.“<br />
„Nette Geschichte“, brummte Eugene.<br />
„Ja, nicht wahr?“ sagte ich. „Wir sollten etwas Ähnliches<br />
machen. Den Irrsinn dieses Systems einfach offenlegen.<br />
Aber nicht in einem stillen Briefwechsel, sondern in den<br />
Medien. Wir nutzen die Medien gegen die<br />
Medienindustrie.“<br />
Eugene überlegte fast eine Minute lang schweigend.<br />
Dann tippte er etwas.<br />
„Was schreibst du da?“, fragte ich.<br />
„Noch mal: Bist du dir ganz sicher, dass wir jederzeit die<br />
Notbremse ziehen können? Wird Max die Klage<br />
zurückziehen, wenn wir ihn darum bitten?“<br />
Ich nickte. „Mein Wort drauf. Versprochen.“
Er bewegte den Finger über das Touchpad des<br />
Notebooks. Ich versuchte, den Text zu lesen, und sah<br />
gerade noch, wie er auf den „Senden“-Button klickte.<br />
Dann stand er auf und ging auf die Toilette.<br />
Ich öffnete die gerade gesendete Mail wieder. Sie enthielt<br />
nur zwei Worte.<br />
Fuck you!<br />
Das hatte nicht ganz Groucho Marx’ Qualität.<br />
#<br />
Wir mussten den anderen natürlich von der Klage<br />
erzählen, das übernahm Eugene. Carlos und Dmitri<br />
sahen recht bestürzt aus, aber Anna flippte vollkommen<br />
aus. „Eine Million Pfund? Ja seid ihr denn alle<br />
vollkommen wahnsinnig?“, schrie sie. „Nehmt das Video<br />
sofort aus dem Internet!“<br />
„Beruhige dich“, sagte ich. „Erstens geht das nicht. Wir<br />
können es nicht entfernen. Zweitens wird es vielleicht<br />
schon weiterverbreitet. Es unterliegt nicht mehr unserer
Kontrolle.“ Ich sagte nicht dazu, dass ich das Video erst<br />
kurz zuvor selbst in verschiedene Tauschbörsen und auf<br />
ein paar weitere Video-seiten gestellt hatte. Stattdessen<br />
sagte ich: „Ich werde mit Max reden, wir kriegen das<br />
schon hin.“<br />
Sie warf mir einen Blick zu, der wohl „Du Vollidiot“<br />
heißen sollte. Aber sie sagte kein Wort.<br />
In dieser Nacht, in meiner Koje im Stockbus, konnte ich<br />
nicht schlafen. Dieser Raum, weniger als zwei<br />
Kubikmeter, würde nun für längere Zeit mein Zuhause<br />
sein. Plötzlich kam mir der ganze Plan völlig idiotisch<br />
vor. Fahr heim, schreib ein paar Artikel, vergiss das<br />
Ganze, dachte ich. Dann hörte ich, wie sich Anna in<br />
ihrer Koje bewegte, und wieder änderte ich meine<br />
Meinung.<br />
Ich holte mein Notebook hervor und schrieb eine<br />
Presseaussendung. Sie sollte nicht lang werden, aber ich<br />
feilte an jedem Wort, denn Anna würde sie ins<br />
Italienische übersetzen, hatten wir beschlossen.
Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Vorhang an<br />
meinem Fenster schienen, war ich fertig und endlich<br />
müde. Doch kaum dass ich den Polster über meinen<br />
Kopf legte, hielt der Bus auch schon.<br />
„Wir sind da!“, brüllte Carlos, der am Steuer saß.<br />
Ich hörte keine Reaktion der anderen und schlief auch<br />
gleich ein.<br />
#<br />
Am späten Vormittag des nächsten Tages suchte ich mir<br />
ein nettes kleines Café in unmittelbarer Nähe. Ein<br />
Aufkleber neben der Tür verhieß kabellosen<br />
Internetzugang.<br />
Am Nebentisch saß ein Pärchen. Mitte zwanzig, sehr<br />
wohlhabend, sehr stylish. Sie war wunderschön, trug ein<br />
kurzes schwarzes Kostüm, zehn Zentimeter hohe Absätze<br />
und eine Handtasche im klassischen LV-Design. Er trug<br />
einen Anzug, teure Lederschuhe und das Handy immer<br />
am Ohr. Er erinnerte mich an Max. Und sie, sie
erinnerte mich an Joanna, obwohl ich Max’ Freundin<br />
noch nie gesehen hatte.<br />
Ich holte mein Notebook aus dem Rucksack und startete<br />
es. Weniger als zwei Dutzend Menschen hatten sich das<br />
YouTube-Video angesehen, niemand hatte es auf<br />
Facebook weiterverbreitet. In der nächsten Stunde<br />
suchte ich die Websites von rund zwei Dutzend<br />
Musikmagazinen auf, kopierte mir die E-Mail-Adressen<br />
der Redakteure und verschickte unsere<br />
Presseaussendung.<br />
Der Betreff lautete: Das Recht zu schweigen!<br />
#<br />
Eugene und ich lasen viel über Urheberrechte und<br />
Zensur, nicht nur die drei Bücher, die ich gekauft hatte,<br />
sondern auch viel Material aus dem Internet. Es schien<br />
da eine ganz beachtliche Szene von Menschen zu geben,<br />
die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzten.<br />
Wir kippten richtig rein in die Thematik, vor allem
Eugene konnte sich kaum losreißen. Die Geschichte, die<br />
ihn am meisten ärgerte, war die mit Mickey Mouse.<br />
„Mickey Mouse ist ein Feind der amerikanischen<br />
Verfassung“, sagte Eugene. „Und das ist immerhin eines<br />
der wichtigsten Dokumente der Menschheit.“ Ich muss<br />
zugeben, was die Amerikaner immer mit ihrer<br />
Verfassung haben, konnte ich noch nie so ganz<br />
nachvollziehen. Vielleicht interessierte ich mich einfach<br />
zu wenig für Politik. Aber irgendwie verstand ich Eugene<br />
trotzdem, ich konnte Sonny Bono auch nie leiden. Bill<br />
Clinton dagegen eigentlich schon.<br />
Man muss die Sache so erzählen: Es gibt da in den USA<br />
einen Mann mit dem schönen Namen Eric Eldred, der<br />
entwickelte in den Neunzigern ein ungewöhnliches Hobby.<br />
Er fertigte von Meisterwerken der Weltliteratur digitale<br />
Versionen an, versah die Texte mit Anmerkungen, Bildern<br />
und Hyperlinks und lud sie ins Web hoch, kostenlos und<br />
frei zugänglich. Lobenswert. Natürlich konnte Eldred nur<br />
mit Klassikern so verfahren, mit Werken, deren
Urheberrecht abgelaufen war, deren Nutzung also der Allgemeinheit<br />
frei zugänglich war.<br />
In diesem Zusammenhang, um noch einen Haken zu<br />
schlagen, lernte ich das schöne Wort Allmende kennen.<br />
Gemeingut. Im Mittelalter war die Allmende die öffentliche<br />
Weide eines Dorfes, freier Grund und Boden, der<br />
niemandem gehörte und daher allen, auf dem jeder sein<br />
Vieh grasen lassen konnte und von dem niemand einen<br />
anderen vertreiben durfte. Keine Zäune, keine Hecken,<br />
keine Mauern. Der Begriff wird auch im Zusammenhang<br />
mit dem Copyright verwendet: Läuft die Schutzfrist eines<br />
Werkes aus, gelangt es in den öffentlichen Bereich, in die<br />
Allmende, es wird Gemeingut, es gehört niemandem und<br />
daher allen, jeder darf es nutzen und niemand darf von der<br />
Nutzung ausgeschlossen werden.<br />
Zurück zu Eldred. 1998 freute er sich darauf, die Gedichtsammlung<br />
New Hampshire des vierfachen Pulitzerpreis-<br />
Trägers Robert Frost online zu stellen. Der Band erschien<br />
erstmals 1923, das Copyright hatte eine Laufzeit von 75<br />
Jahren und zum Jahreswechsel würde das Werk somit in die
Allmende gelangen. Doch dann machte ihm jemand einen<br />
Strich durch die Rechnung: niemand Geringerer als der<br />
Präsident der Vereinigten Staaten. Wenige Wochen vor<br />
Jahresende unterschrieb Präsident Bill Clinton eine<br />
Gesetzesänderung, die die Laufzeit des US-Copyrights auf<br />
95 Jahre ausdehnte: den Sonny Bono Copyright Term<br />
Extension Act.<br />
Sonny Bono, das war der Exmann von Cher, ein Sänger<br />
und Musikproduzent (I Got You Babe), später ein<br />
republikanischer Politiker und treuer Lobbyist für die<br />
Medienindustrie in Washington. Er hatte die Copyright-<br />
Verlängerung so weit vorangetrieben, dass der Präsident –<br />
der ja auch keine schlechten Kontakte zu Hollywood und<br />
dem Musikbiz hatte – nur noch unterschreiben musste.<br />
Hinter der Gesetzesänderung, so munkelte man, stand<br />
vor allem die Disney Corporation.<br />
#
Wenn wir in den nächsten Tagen an Tankstellen oder<br />
an Raststationen hielten, dann blieb ich oft alleine im<br />
Bus sitzen. Ich blätterte in einem Buch, tat so, als würde<br />
ich lesen, machte es mir bequem und achtete darauf,<br />
Anna immer im Blick zu haben. Es waren, abgesehen<br />
von den Auftritten, die einzigen Momente, in denen ich<br />
meinen Blick minutenlang über sie schweifen lassen<br />
konnte, ohne Entdeckung fürchten zu müssen.<br />
Ich beobachtete sie, wie sie mit Carlos vertraute<br />
Zwiegespräche führte und scherzte, wie sie Dmitri den<br />
verspannten Nacken massierte, wie sie sich mit Eugene<br />
eine Zigarette oder einen Schokoriegel teilte.<br />
Unser Verhältnis war etwas kompliziert. Zunächst hoffte<br />
ich, es stürze sie in ein gewisses hormonelles<br />
Ungleichgewicht, dass ich nun immer um sie war.<br />
Immerhin hatten wir uns am Strand geliebt und sie<br />
musste sicher jedes Mal daran denken, wenn sie mich<br />
sah. Sie zickte wirklich herum.<br />
Ziemlich schnell wurde mir aber klar, dass ich nur eine<br />
Nummer auf einer langen Liste war. Anna hatte einen
eachtlichen Männerverschleiß. Drei-, viermal pro<br />
Woche verschwand sie nach einem Konzert und kam<br />
erst nach einer Stunde wieder. Niemand in der Band<br />
redete darüber. Erst nach ein paar Tagen fiel mir auf,<br />
dass sie nie allein verschwand, aber immer allein<br />
zurückkam. Die anderen Typen sah sie nie wieder. Mich<br />
aber jeden Tag. Ich war für sie wohl so etwas wie ein<br />
Betriebsunfall.<br />
Als Eugene in Campobasso den anderen klargemacht<br />
hatte, dass ich nun ein Mitglied der Band war, hatte sie<br />
mich nur kalt und wortlos angestarrt. Ich war mir nicht<br />
sicher, ob das eine Warnung sein sollte oder einfach<br />
Ausdruck ihrer Nervosität war. Danach sprach sie<br />
jedenfalls eine Woche lang kein normales Wort mit mir.<br />
Nach einer Woche sagte sie in einer Raststation: „Gibst<br />
du mir den Salzstreuer?“ Ihr Ton war ruppig. Ich gab ihr<br />
den Streuer. Das würde schon werden.<br />
#
Das mag alles kompliziert und verworren klingen:<br />
Eldred, Frost, Bono, Clinton, Disney. Aber die Sache ist<br />
die: 1923 erschien nicht nur besagter Gedichtband,<br />
sondern es war auch das Jahr, in dem der Tonfilm<br />
erfunden wurde und die große Zeit Hollywoods<br />
anbrach. Ohne die Copyright-Verlängerung wären nun<br />
Jahr für Jahr Klassiker der Filmgeschichte in die<br />
Allmende gelangt, die großen Studios hätten ihre<br />
exklusiven Nutzungsrechte verloren. Und das war eine<br />
Gefahr, vor allem für Disney: Steamboat Willie, der<br />
erste Film mit Mickey Mouse, lief 1928 in den Kinos<br />
an. Der Schutz von Mickey Mouse als Figur hing an<br />
diesem Datum. Ein Markenwert in Milliardenhöhe<br />
drohte ein allgemeines, frei zugängliches Kulturgut zu<br />
werden.<br />
Die Verteidigung ihrer Besitztümer gelang den großen<br />
Hollywood-Studios schon zum zweiten Mal: 1923 lag<br />
die Copyright-Laufzeit bei nur 56 Jahren. Ab 1979<br />
hätten also Filme frei zugänglich werden sollen. Doch<br />
im Jahr davor wurde das Gesetz geändert und der Schutz
auf 75 Jahre ausgedehnt. Und als diese Galgenfrist<br />
ablief, dehnten Clinton und Bono den Schutz auf 95<br />
Jahre aus. Deshalb wird ihr Gesetz inoffiziell auch<br />
Mickey Mouse Protection Act genannt.<br />
„Wo wird das enden?“, fragte Eugene. Er zeigte mir<br />
einen Artikel im Internet, wonach die amerikanische<br />
Verfassung unendliche Schutzfristen verbietet, aber<br />
Industrievertreter in Washington schon dafür warben,<br />
die Laufzeit auf Unendlich minus einen Tag<br />
auszudehnen.<br />
„Unsere kulturelles Erbe wird privatisiert“, sagte Eugene.<br />
„Die Grenze ist das Jahr 1923. Alles ab diesem Datum<br />
Geschaffene soll auf ewig im Privatbesitz großer<br />
Konzerne bleiben.“<br />
Und das, so recherchierte ich, galt nicht nur für die<br />
USA. In Europa sind die Gesetze kaum weniger streng,<br />
die Lobbys nicht weniger mächtig. Ich ärgerte mich<br />
nicht weniger als Eugene.<br />
Immer noch verworren?
Ich kann es auch einfach ausdrücken: Das ist zum<br />
Kotzen.<br />
#<br />
Mein Handy läutete. Ich warf einen Blick aufs Display<br />
und zögerte. Dann gab ich mir einen Ruck.<br />
„Hi“, sagte ich.<br />
„Hey Mann, sorry, dass ich erst jetzt dazu komme, dich<br />
anzurufen. Hier ist einfach so viel los, ich habe so viel<br />
um die Ohren, das kannst du dir überhaupt nicht<br />
vorstellen. Seit unserem Abendessen habe ich nicht eine<br />
freie Minute gehabt. Joanna und ich haben seit einem<br />
Monat nicht ... du weißt schon“, quasselte Max drauflos.<br />
„Es ist echt die Hölle.“<br />
„Das freut mich zu hören“, sagte ich.<br />
„Was?“<br />
„Dass es so gut läuft. Das tut es doch?“<br />
„Danke. Ja, es läuft fantastisch. Absolut großartig.“ Er<br />
klang aufgedreht, oder besser: überdreht. „Ich soll dir
jedenfalls schöne Grüße von Joanna ausrichten. Die<br />
Klage läuft. Und wenn sie dich persönlich kennenlernt,<br />
tritt sie dir in die Eier, soll ich dir sagen.“<br />
„Bitte, was?“<br />
„Das ist noch eine harmlose Strafe. Ich habe hart für<br />
dich verhandelt und ihr ein neues Cabrio versprochen.<br />
Du schuldest mir was. Und bitte schreib ihr keine Mails<br />
mehr.“<br />
Jetzt verstand ich. „Max! Verdammt. Diese Mail, in der<br />
‚Fuck You’ stand, die war nicht von mir. Ich meine, es<br />
war meine Mailadresse, aber ich habe das nicht<br />
abgeschickt“<br />
„Ja klar, das würde ich an deiner Stelle jetzt auch<br />
behaupten.“<br />
„Nein, wirklich. Es war so, dass ...“<br />
„Vergiss es. Ich habe ihr gesagt, du wolltest das<br />
möglichst glaubwürdig gestalten und dein sprachliches<br />
Talent sei limitiert. Ich habe ihr ein Cabrio geschenkt.<br />
Die Sache ist gegessen.“<br />
„Uff“, sagte ich. „Da schulde ich dir eine Kleinigkeit.“
„Nicht der Rede wert. Außerdem wollte ich das Cabrio<br />
ja ohnehin. Joanna wäre sicher dagegen gewesen, aber<br />
wenn ich es ihr zur Entschuldigung schenke, ist das<br />
natürlich etwas anderes, du verstehst?“ Er lachte kehlig.<br />
„Na, dann schuldest ja eigentlich du mir was“, sagte ich.<br />
„So weit kommt’s noch.“<br />
„Klar. Das nächste Mal nimmst du mich mit auf eine<br />
Party mit Amy Lee.“<br />
„Okay, okay“, er lachte wieder, „schon klar. Abgemacht.<br />
Wenn du das nächste Mal nach London kommst,<br />
schmeiße ich eine Party und lade Amy ein. Vielleicht<br />
kann ich euch ja verkuppeln ... Was ist eigentlich aus<br />
deinem Punk-Mädchen geworden? Immer noch die<br />
große Liebe?“<br />
„Aus die Maus“, sagte ich.<br />
„Oh.“<br />
„Nicht der Rede wert.“<br />
„Verstehe. Und wie läuft es sonst? Erste<br />
Zeitungsberichte?“
„Nein, ich habe noch keinen gelesen. Aber ich bin jetzt<br />
der Gitarrist der Band.“<br />
„Ist nicht wahr.“<br />
„Doch. Glaub mir, du hast immer mein Talent<br />
verkannt. Ich bin eine richtige Rampensau. Du wirst uns<br />
am Ende noch einen richtigen Plattenvertrag anbieten,<br />
mit garantierter Millionenauflage, und du wirst auf<br />
Knien darum betteln, dass wir unterschreiben.“<br />
„Ja, klar – warte mal.“ Max wechselte ein paar Worte<br />
mit jemand anderem. „Ich muss jetzt Schluss machen,<br />
wichtiger Besuch. Ich melde mich wieder. Und<br />
kümmere dich darum, dass in irgendeiner kleinen<br />
italienischen Zeitung die ersten Berichte erscheinen.<br />
Den Rest erledige ich dann. Kannst du das?“ Er legte<br />
auf, ohne auf eine Antwort zu warten.<br />
Das Leben auf Tournee ist anders als alles andere. Du<br />
fühlst dich selbst so intensiv wie nie zuvor, während die<br />
#
Welt rundherum verschwimmt. Du spielst in Avezzano,<br />
du spielst in Pescara, du spielst in L’Aqulia und in Terni<br />
und Spoleto und Ascoli. Du fährst eine Küstenstraße<br />
entlang, und eine Bergstraße und eine Landstraße und<br />
dann wieder eine Küstenstraße. Du schläfst im Bus und<br />
auf einem Parkplatz und in einem besetzten Haus, du<br />
fährst und wirst gefahren, du isst in einer Raststation, du<br />
isst während der Fahrt, du kaufst Obst auf einem Markt<br />
von einem Mann, den du nie wieder siehst, du trinkst<br />
vor dem Konzert ein paar Biere, du trinkst nach dem<br />
Konzert eine Flasche Grappa, du kiffst, du bekommst<br />
das Frühstück am Nachmittag und das Abendessen um<br />
vier Uhr morgens, die Sonne geht auf, die Sonne geht<br />
unter, du schläfst im Bus, du fährst über eine<br />
Landstraße, die du schon zu kennen glaubst, und du<br />
weißt nicht mehr, ob du heute schon gegessen hast und<br />
in welcher Stadt du morgen sein wirst. Hinter dir<br />
klimpert jemand auf der Gitarre, im oberen Stock spielt<br />
jemand Bongo, Anna summt eine Melodie, du spürst<br />
jede Bodenwelle, du hast keinen Platz für die Beine, die
Sonne geht über den Bergen auf, die Sonne geht über<br />
dem Meer auf, du riechst einen Schokoriegel, du riechst<br />
Ciabatta, du presst deine Nase gegen das Fenster und<br />
beobachtest die namenlosen Menschen, die<br />
vorbeizufliegen scheinen. Du beobachtest das Leben in<br />
den Städten, du beobachtest das Leben in den Dörfern,<br />
du spielst in Civitanova, du spielst in Ancona, du spielst<br />
in Rimini, du spielst in einer Stadt, deren Namen du<br />
nicht kennst. Du spielst in Arezzo. Du freust dich auf<br />
das Konzert in Florenz, weil Florenz eine<br />
außergewöhnlich schöne Stadt sein soll, und dein<br />
Rücken tut weh und du brauchst eine Pause. Der Bus<br />
rollt in die Stadt, du blickst aus dem Fenster, du siehst<br />
die Männer in den Autos und die Frauen auf den<br />
Mopeds und die alten Menschen an den Busstationen,<br />
du siehst die kleinen Geschäfte, das Kopfsteinpflaster,<br />
die alten Häuser, du siehst den Hafen und am Abend<br />
spielst du in der Altstadt. Ein wenig fragst du dich, ob es<br />
wichtig ist, dass Florenz eine wunderschöne Stadt ist.<br />
Denn du hast nichts mitbekommen von Avezzano und
Terni und Ascoli und Rimini, du hast nichts gesehen als<br />
verrauchte Keller und betrunkene Hunnen und kleine<br />
Schnappschüsse von namenlosen Männern in ihren<br />
Autos und namenlosen Frauen auf ihren Mopeds und<br />
nichts hat dir gefehlt. Vermutlich ist es also egal, dass<br />
Florenz eine schöne Stadt ist.<br />
#<br />
Ich glaube, jeder der Filme mag und gerne schreibt, hat<br />
sich mal mit dem Gedanken getragen, ein Drehbuch zu<br />
verfassen. Und wenn’s nur kurz war. Wenn ich mich im<br />
Kreis meiner Ex-kollegen so umhöre, war das jedenfalls<br />
so und ich war da nicht anders. Anyway, einmal habe ich<br />
mir auch ein Buch zu dem Thema gekauft, The<br />
Screenwriter’s Bible. Und darin wurde auch die Frage<br />
behandelt, wie man eigentlich zu einer guten Idee für<br />
eine gute Geschichte kommt. Ich zitiere: Stehle!<br />
Shakespeare hat’s getan. Bist du größer, als er es war?<br />
Suche in den Klassikern nach Ideen für Geschichten und
Figuren. Kreativität heißt nicht, etwas aus dem Nichts<br />
zu erschaffen, sondern einen neuen Dreh bei einer alten<br />
Idee finden. Neue Kombinationen aus alten Mustern zu<br />
erzeugen. Die große Schöpfkelle in einen kleinen<br />
Suppenlöffel zu verwandeln. Kreativität heißt,<br />
herkömmliche Denkmuster zu durchbrechen und neue<br />
Verbindungen zu finden. Gutenberg hat eine<br />
Weinpresse und einen Münzstempel genommen und die<br />
erste Druckerpresse entwickelt.<br />
Walt Disney hat mit Mickey Mouse auch erst Erfolg<br />
gehabt, als er Ideen zusammenkopiert hat. Seine ersten<br />
beiden Mickey-Filme sind gefloppt, er hat nicht mal<br />
einen Vertrieb gefunden. Dann hat er einen neuen Dreh<br />
für eine bekannte Geschichte gefunden: Steamboat Bill,<br />
Jr., über die Abenteuer eines Mississippi-Kapitäns, war<br />
einer der erfolgreichsten Stummfilme von Buster<br />
Keaton. Walt nahm diese Geschichte, den neuen<br />
Tonfilm als Medium und seine Maus, mischte das alles<br />
und heraus kam Steamboat Willie.
Von da an wurde dieses Erfolgsrezept jahrzehntelang<br />
immer neu aufbereitet. Ob Snow White, Cinderella oder<br />
Arielle, ob Aladdin, Pocahontas oder Mulan, Disney<br />
und seine Nachfolger bedienten sich ausgiebig in der<br />
Schatzkiste guter alter Geschichten. Mit Der Glöckner<br />
von Notre Dame verfilmte das Unternehmen ein Buch<br />
von Victor Hugo; natürlich zu einem Zeitpunkt, als es<br />
schon längst Copyright-frei zugänglich war. Auch von<br />
Lewis Carroll (Alice im Wunderland), Robert Stevenson<br />
(Die Schatzinsel), Rudyard Kipling (Das Dschungelbuch),<br />
Jules Verne (20.000 Meilen unter dem Meer),<br />
Carlo Collodi (Pinocchio) und anderen ließ sich Disney<br />
gerne nach Ablauf der Schutzfrist inspirieren. Ich wollte<br />
das alles mit Eugene diskutieren. Ich hatte recherchiert,<br />
ich sprach, er hörte zu und schwieg und dachte nach.<br />
„Mickey ist inzwischen ein Teil unserer Kultur, meiner<br />
Kultur“, sagte ich. „Mickey sollte schon längst ein freies<br />
Kulturgut sein.“<br />
#
Du bist dauernd unterwegs. Du lehnst den Kopf gegen<br />
das Fenster, richtest den Blick gedankenverloren auf den<br />
Horizont, lässt dich durch die Welt tragen, und wenn<br />
dir danach ist, singst du vor dich hin oder summst eine<br />
einfache Melodie, und mit etwas Glück wird ein Song<br />
daraus, vielleicht sogar ein Klassiker. I am the passenger,<br />
and I ride and I ride and I ride … la la la la la-la-la la, la<br />
la la la la-la-la la …<br />
Vielleicht gehen Autoren deswegen weniger gern auf<br />
Tournee als Musiker: Man kann während der Fahrt<br />
keine langen Texte schreiben. Du schließt die Augen, du<br />
hörst das Brummen des Motors, du spürst jede<br />
Bodenwelle und jedes Schlagloch. Du hast keinen Platz<br />
für deine Beine, dein Rücken tut weh, du bist müde und<br />
ungewaschen und du wünschst dir, dass die Fahrt ewig<br />
so weitergeht. Hinter dir klimpert jemand auf einer<br />
Gitarre, du fühlst den Blues und du hörst im Geist die<br />
Stimme von B.B. King.
Well, the rocks is my pillow<br />
The cold ground is my bed<br />
The highway is my home so I might as well be dead<br />
Der Kerl war hart im Nehmen. The rocks is my pillow,<br />
das hat was. Und B.B. King glaubt man das auch.<br />
Authentizität heißt das Zauberwort.<br />
Später hat zum Beispiel Jon Bon Jovi einen ähnlichen<br />
Text geschrieben. Aber der ist ein weißes<br />
Mittelstandskind, das seine erste Gitarre vermutlich zu<br />
Weihnachten bekommen hat. Der brauchte schon einen<br />
Mantel, um am Boden schlafen zu können.<br />
I got an old coat for a pillow<br />
And the earth was last night’s bed<br />
I don’t know where I’m going, only God knows where I’ve<br />
been<br />
Es gibt eben keine Originale. Nur Zitate und<br />
Mutationen. Kopien und Kombinationen.
Wiederholungen von Wiederholungen. Auf wessen<br />
Schultern B.B. King wohl stand, als er seine Lyrics<br />
schrieb?<br />
Mein Handy läutete. Ich warf einen Blick aufs Display<br />
und zögerte.<br />
„Willst du nicht abheben?“, fragte Eugene.<br />
„Es ist Max.“<br />
„Oh, na dann erst recht.“<br />
„Hi“, sagte ich.<br />
„Hi. Ich wollte nur fragen: Wie läuft’s?“<br />
„Geht so.“<br />
„Das reicht nicht. Wir warten hier auf die ersten<br />
Medienberichte.“<br />
„Oh ja. Ja.“<br />
„Was soll das heißen?“<br />
„Mmmm.“<br />
„Bist du nicht alleine?“<br />
#
„Genau.“<br />
„Das heißt, du kannst nicht reden.“<br />
„Jetzt verstehen wir uns“, sagte ich.<br />
„Okay, dann komm nach London.“<br />
„Einfach so?“<br />
„Klar, ist doch kein Problem, hast du gesagt. Du kannst<br />
es dir doch problemlos leisten.“<br />
„Klar, jederzeit“, sagte ich.<br />
„Na sehr gut, dann siehst du auch Papsch. Er hat mich<br />
angerufen und sich selbst auf einen Kurzurlaub nach<br />
London eingeladen. Ich dachte, du hättest vielleicht<br />
auch Lust darauf“, sagte Max.<br />
„Wann?“<br />
„Übermorgen.“<br />
„Geht nicht.“<br />
„Aha.“ Pause. „Gibt’s dafür auch eine Begründung?“<br />
Weil das mein Vater ist, der mich seit ungefähr<br />
zweitausendfünfhundertundzwölf Jahren nicht mehr<br />
angerufen hat und der mich noch nie gefragt hat, ob wir<br />
uns mal sehen, deswegen!!!, dachte ich und sagte: „Du
weißt ja, die Tournee, ich bin jetzt Gitarrist, ich kann da<br />
nicht einfach weg.“<br />
Max lachte nur. „Dann sorge dafür, dass irgendwo ein<br />
Bericht über die Klage erscheint.“<br />
„Keine Sorge, wenn sich bis morgen nichts tut, rufe ich<br />
einfach eine der Redaktionen an, für die ich arbeite. Es<br />
gibt genug Leute, die mir einen Gefallen schulden“,<br />
sagte ich.<br />
„Das kommt nicht in Frage, hörst du. Das ist viel zu<br />
durchsichtig. Es muss echt sein, und völlig unverdächtig.<br />
Streng dich an!“<br />
Ich tat so, als käme mir gerade etwas dazwischen und<br />
legte wieder auf.<br />
In der Erinnerung ist die Zeit auf Tournee wie ein Tanz<br />
unter dem Stroboskop. Es reihen sich ganz kurze,<br />
abgehackte Szenen aneinander, dazwischen fehlt immer<br />
wieder etwas, der Übergang von einer Szene zur<br />
#
nächsten liegt im Dunkeln. Ich kann mich nicht mehr<br />
an alle Straßen, alle Raststationen, alle Konzerte, alle<br />
Mahlzeiten, alle Liebhaber von Anna erinnern. Und ich<br />
muss zugeben, dass mir auch bei Vorfällen, an die ich<br />
mich erinnern kann, die Chronologie vielleicht schon<br />
durcheinandergerät.<br />
Es gibt Szenen, an die kann ich mich erinnern, aber ich<br />
kann sie zeitlich und räumlich nicht mehr genau<br />
zuordnen, wobei zeitlich und räumlich auf Tournee<br />
ohnehin gleichbedeutend ist. Wüsste ich, in welcher<br />
Stadt sich diese Vorfälle ereignet haben, könnte ich auch<br />
auf den Tag genau sagen, wann es war, und umgekehrt.<br />
Es sind nicht die großen, wichtigen Dinge, die so schwer<br />
zuordenbar sind, sondern kleine Alltagsgeschichten. Ein<br />
paar Wortfetzen manchmal nur, ein Lächeln oder ein<br />
Blick aus dem Fenster.<br />
Oder Carlos, wie er da liegt, in seiner Koje, bleich wie<br />
der Tod, erschöpft. Dmitri sitzt hinter ihm, Carlos hat<br />
seinen Kopf auf Dmitris Schoß liegen, die Augen<br />
geschlossen. Ich habe mich gerade mit Anna am Steuer
des Busses abgewechselt, komme die Stufen nach oben,<br />
nicke den beiden zu, aber sie reagieren nicht. Dmitri<br />
streichelt Carlos das Gesicht, flüstert etwas, der starrt vor<br />
sich hin, ich lege mich in meine Koje und ziehe den<br />
Vorhang zu.<br />
„Du solltest zum Arzt gehen“, höre ich Dmitri sagen.<br />
Carlos brummt mürrisch.<br />
Ende der Stroboskop-Szene.<br />
Oder: Ich bin mit Anna in einer Stadt unterwegs. Ich<br />
sehe noch den Platz, über den wir gegangen sind, vor<br />
meinem geistigen Auge. Das Café, die Imbissbude, in<br />
der ich Ciabatta mit Salami gekauft habe, und eine Cola,<br />
und ein großer, alter Bau, das Rathaus oder so was. Im<br />
Erdgeschoß war eine Reihe kleiner Geschäfte, darunter<br />
auch ein Plattenladen. Besser gesagt: ein CD-Geschäft.<br />
Wir sind rein und haben ein wenig gestöbert.<br />
Anna hat enge Jeans getragen, und ein trägerloses,<br />
bauchfreies Top, man hat ihr Nabelpiercing gesehen und<br />
sie hat die Haare offen getragen.
Ich habe in sieben oder acht CDs reingehört und fand<br />
einige davon auch gut, aber dann bin ich damit nicht zur<br />
Kassa. Ich habe sie alle wieder zurückgestellt, jede<br />
einzelne fein säuberlich an den Platz, von wo ich sie<br />
genommen hatte.<br />
Ich hatte keine Lust, die Umsätze der Industrie zu<br />
steigern.<br />
#<br />
Und wieder eine Raststation. Anna tankte den Bus.<br />
Selbst dabei machte sie eine gute Figur. Ich suchte mir<br />
einen Platz in der Sonne, von dem aus ich sie<br />
beobachten konnte, und zündete mir eine Zigarette an.<br />
Mein Telefon läutete. Keine Nummer auf dem Display.<br />
„Hallo“, sagte er.<br />
„Hallo, Papsch.“<br />
„Wie geht es dir?“<br />
„Ja, danke. Geht so.“<br />
Schweigen.
Dann er: „Wie ist dein Urlaub?“<br />
„Hm, ungewöhnlich. Das lässt sich nicht in ein paar<br />
Worten beschreiben.“<br />
„Ach so?“<br />
„Das erzähle ich dir am besten, wenn ich wieder zu<br />
Hause bin.“<br />
„Weil du gerade davon sprichst ...“<br />
„Wovon?“<br />
„Ich habe gerade mit Max telefoniert. Er wollte uns<br />
eigentlich beide nach London einladen, aber jetzt hat er<br />
mir erzählt, du könntest nicht kommen.“<br />
„Das ... ist richtig.“<br />
„Weil du mit einer Rock-Band auf Tournee durch<br />
Italien bist.“<br />
„Das ist auch richtig. Grundsätzlich.“<br />
„Was heißt hier grundsätzlich?“<br />
„Na ja, erstens sind wir eine Punk-Band. Zweitens sind<br />
wir derzeit in Italien, aber wir sind nicht auf Tournee<br />
durch Italien.“<br />
„Nicht?“
„Nein. Wir sind auf Tournee durch ganz Europa.“<br />
„Das klingt ja ganz aufregend, aber ...“<br />
„Ich weiß, was du sagen willst, Papsch.“<br />
„Das glaube ich nicht.“<br />
„Na dann schieß los.“<br />
„Wie lange hast du Urlaub?“ fragte er. Ich verzog den<br />
Mund. Haben wir das nicht vor meiner Abreise dreimal<br />
diskutiert?<br />
„Sechs Wochen, das weißt du genau.“<br />
„Und sind die nicht bald um?“<br />
„Doch.“<br />
„Und dann?“<br />
„Werde ich bei der Band bleiben und weiter Musik<br />
machen.“<br />
Schweigen, diesmal lange, unangenehm lange.<br />
„Ich habe in meinem ganzen Leben niemals sechs<br />
Wochen am Stück Urlaub gemacht. Meinst du nicht,<br />
dass es damit genug wäre?“<br />
„Siehst du?“<br />
„Was?“
„Ich wusste, dass du das sagen wirst.“<br />
„Ich will ja nur ...“<br />
„Papsch. Hör zu. Ich lenke unseren Tourbus ...“<br />
„Was?“<br />
Ich atmete tief durch. „Wir sind eine kleine Band, wir<br />
haben nicht viel Geld. Wir können uns keine Roadies<br />
und kein Personal leisten. Wir machen alles selbst. Also:<br />
Ich lenke derzeit das Fahrzeug. Genau genommen sind<br />
wir gerade bei einer Raststation, haben getankt und eine<br />
Rauchpause eingelegt. Jetzt geht es weiter. Die anderen<br />
sind schon eingestiegen, sie warten auf mich. Verstehst<br />
du?“<br />
„Also ...“<br />
„Jetzt ist keine Zeit für also. Ich rufe dich später wieder<br />
an.“<br />
Ich legte auf. Dann, nach ein paar Sekunden, begann ich<br />
langsam zu lächeln. Noch nie zuvor hatte ich meinen<br />
Vater am Telefon einfach abgewürgt.<br />
#
Wir spielten in Perugia vor sechzig Leuten. Ich schickte<br />
noch eine Presseaussendung. Wir spielten in Siena vor<br />
vierzig Leuten. Wir spielten im Totem Rock Club in<br />
Pisa vor etwa siebzig Leuten. Am nächsten Tag, einem<br />
Dienstag, kurvten Eugene und ich durch die Stadt, bis<br />
wir einen Netzzugang gefunden hatten. Keine relevanten<br />
E-Mails. Ich ging zu Google News und suchte nach dem<br />
Begriff „Soundinistas“. Kein Treffer. Nichts. Niente.<br />
Nada.<br />
Am Abend spielten wir im Mondunito Pub in Pistoia<br />
vor etwa fünfzig Leuten. Die Stimmung war<br />
hervorragend, aber die meisten Gäste kamen erst nach<br />
unserem Konzert. Also blieben wir und feierten und<br />
versoffen die gesamte Gage. Der Wirt liebte uns. Wirte<br />
liebten uns oft.<br />
Der Laden machte um vier Uhr morgens dicht. In<br />
Pistoia hat man die Pistolen erfunden, daher heißen<br />
diese Scheißdinger auch so. Das wusste nicht mal<br />
Eugene. Das verriet uns der Wirt. Er hatte wohl die
Blicke bemerkt, die wir seinem Barmann nachwarfen, als<br />
Anna mit ihm verschwand.<br />
Hinter dem verwaisten Tresen stand ein Computer, der<br />
für die Musik im Laden sorgte, seit der DJ Schluss<br />
gemacht hatte. Während der Besitzer die Abrechnung<br />
kontrollierte, erlaubte er Eugene und mir, ins Internet<br />
einzusteigen.<br />
Keine relevanten Mails. Kein Treffer bei<br />
news.google.com.<br />
Wir waren enttäuscht.<br />
„Sag mal, durchsucht der nur die englischen Websites?“,<br />
fragte Eugene.<br />
„Keine Ahnung. Gibt’s Google News auch in<br />
Italienisch?“ Ich versuchte es unter news.google.it.<br />
Tatsächlich, die Seite existierte. Ich gab den Suchbegriff<br />
ein.<br />
Bingo. Ein Treffer.<br />
Ich klickte auf den Link.<br />
Die Website gehörte zu einem Musikmagazin. Der<br />
Artikel war kurz. Der Redakteur hatte einen Vorspann
geschrieben, aber ansonsten unsere Presseaussendung<br />
beinahe unverändert übernommen. Immerhin. Eugene<br />
und ich lachten laut und gaben uns High Five.<br />
Der Wirt blickte auf und wir erzählten ihm von unserem<br />
kleinen Glück und er kam rüber und las den Artikel.<br />
Dann ließ er eine temperamentvolle Schimpfkanonade<br />
auf die Arschlöcher in der Musikindustrie los, die jede<br />
gute Kunst zunichte machen würden. Ich verstand nur<br />
die Hälfte, aber der Sinn war klar. Er holte eine Flasche<br />
ausgezeichneten Whisky und wir diskutierten, bis sie<br />
beinahe leer war.<br />
Zwischendurch stahl ich mich noch mal an den<br />
Computer und tat so, als würde ich den Artikel noch<br />
einmal lesen, aber stattdessen schickte ich den Link an<br />
Max. Auftrag ausgeführt, schrieb ich dazu.<br />
Gegen halb sieben kam Anna zurück, ohne den<br />
Barkeeper. Sie war verschwitzt und trank einen<br />
doppelten Whisky auf einen Zug. Ich war plötzlich<br />
schlecht drauf. Wir machten Schluss und gingen zum<br />
Bus.
Am Mittwochabend spielten wir im Keller des Barone<br />
Rosso in Prato, wieder vor etwa siebzig Leuten. Das<br />
Publikum war nicht ganz das richtige. Während der<br />
Schweigeminute hörte ich auch einen Buhruf. Diese<br />
sechzig Sekunden Stille gehörten inzwischen fix zum<br />
Programm, aber man konnte nicht behaupten, dass das<br />
Publikum darauf stand.<br />
„Wir müssen das mit der Schweigeminute verbessern“,<br />
sagte ich nach dem Konzert zu Anna.<br />
Sie wirkte desinteressiert, streichelte mit dem Zeigefinger<br />
nachdenklich über den Hals einer Bierflasche.<br />
Eugene saß neben ihr. „Was willst du da verbessern?“,<br />
fragte er.<br />
„Die Schweigeminute ist unser Trumpf. Wir müssen sie<br />
besser nutzen. Anna sollte davor immer erklären, was es<br />
damit auf sich hat.“<br />
„Ich sage doch immer dazu, für wen diese Minute ist!“,<br />
protestierte sie.<br />
„Bei allem Respekt vor deiner Mutter: Wichtig ist, dass<br />
uns deswegen eine halbe Armee von Anwälten im
Nacken sitzt, dass die große, böse, geldgeile<br />
Plattenindustrie uns am Arsch hat. Auch wenn sie’s<br />
nicht vermuten, wir sind hier die Guten, und das sollen<br />
die Leute wissen.“<br />
„Meinst du, das interessiert wen?“, fragte sie.<br />
Ich sagte: „Wenn wir nicht dieser Meinung wären,<br />
hätten wir das alles gar nicht ...“<br />
Eugene fiel mir ins Wort. „Er hat recht. Wir sind hier<br />
die Guten. Wir sind Dissidenten. Die Welt liebt<br />
Dissidenten. Warum sollen wir das verschweigen?“<br />
„Ich mache sogar Pressearbeit dazu, da ist es doch<br />
wirklich nicht verkehrt, das auch noch beim Konzert zu<br />
betonen“, sagte ich.<br />
Anna. „Du machst Pressearbeit? Das behauptest du, aber<br />
ich habe davon noch nichts mitbekommen. Wo sind<br />
denn die Artikel? Wo?“<br />
Die Antwort bekam sie am nächsten Morgen. Google<br />
News Italien verzeichnete drei Treffer. Dieselbe<br />
Geschichte, offensichtlich vom ersten Eintrag<br />
abgeschrieben und minimal verändert.
Ich schickte Max die Links und präsentierte Anna stolz<br />
die Ausdrucke. Sie nahm sie mit einem Achselzucken zur<br />
Kenntnis. Aber am Abend, als wir im Kellergewölbe des<br />
Avalon Pub in Siena auftraten, erzählte sie dem<br />
Publikum von der Klage. Wieder Buhrufe, aber nun für<br />
die Plattenindustrie. Und als sie die Schweigeminute<br />
hielt, schwieg auch das Publikum.<br />
Am Freitag zeigte Google News Italia sieben Treffer. Die<br />
meisten waren Variationen unserer Presseaussendung,<br />
aber ein Blogger aus Neapel, der uns offenbar vor<br />
einigen Wochen live gesehen hatte, schrieb auf seiner<br />
Website einen sehr langen Artikel. Unter der offiziellen<br />
Mailadresse der Band erhielten wir zwei Solidaritäts-E-<br />
Mails, offensichtlich von einem Anarchisten und einem<br />
Kommunisten verfasst. Zumindest schlussfolgerte das<br />
Eugene aus einigen Bemerkungen, ich kannte mich da<br />
nicht so aus.<br />
Ich suchte mir die Telefonnummern einiger Zeitungen<br />
aus dem Web und während wir im Bus saßen,<br />
telefonierte ich sie durch. Ich hätte nie gedacht, dass es
so mühsam sein kann, sich auf Englisch mit Popkultur-<br />
Redakteuren zu unterhalten. Ich hatte keinen Erfolg,<br />
niemanden interessierte die Geschichte. Wir spielten ein<br />
Konzert in Piombino. Süßer Name, langweiliges Kaff. Es<br />
war Wochenende und das Publikum bestand aus nicht<br />
Mal zwei Dutzend Leuten. Danach besoffen wir uns<br />
brachial.<br />
„Vielleicht war die Idee doch nicht so gut“, sagte<br />
Eugene.<br />
„Vielleicht“, sagte ich.<br />
„Welche Idee?“, fragte Carlos, der sich zwischen uns an<br />
die Bar stellte.<br />
Ich zögerte und Eugene sagte: „Den Grappa zu<br />
versuchen. Er ist etwas zu mild. Wir sollten auf Whisky<br />
umsteigen.“<br />
Thomas L. Friedman, NY Times: Wenn ich Zugriff auf<br />
Google habe, kann ich alles finden. Und mit einem<br />
#
drahtlosen Netz bedeutet das, dass ich alles immer und<br />
überall finden kann. Deshalb sage ich, dass Google,<br />
zusammen mit Wi-Fi, ein wenig wie Gott ist. Gott ist<br />
drahtlos, Gott ist überall und Gott sieht und weiß alles.<br />
#<br />
Gegen Mittag läutete mein Handy. Ich schreckte hoch,<br />
schlug mit dem Kopf gegen die Decke meiner Koje und<br />
fand das Telefon nicht schnell genug. Das Läuten hörte<br />
wieder auf. Als ich das verdammte Ding endlich am<br />
Boden meines Rucksacks fand, war mir die Nummer<br />
nicht bekannt. Ich rief zurück und landete in der<br />
Redaktion einer großen Tageszeitung.<br />
Der Typ am anderen Ende der Leitung hatte von<br />
irgendwoher von unserer Presseaussendung erfahren. Er<br />
stellte ein paar Fragen, ich gab ein paar Antworten. Ich<br />
bat ihn, auch die nächsten Konzerttermine zu erwähnen.<br />
Er versprach das zu tun, wenn Platz sei.
Am nächsten Tag kauften wir die Zeitung, aber die<br />
Nachricht war nicht mehr als eine Kurznotiz. Immerhin<br />
war das Konzert am selben Abend in Livorno erwähnt.<br />
Statt der üblichen 50 bis 70 Leute kamen auch<br />
tatsächlich 75 zum Konzert. War das schon Max’<br />
helfende Hand im Hintergrund gewesen? Na dann Gute<br />
Nacht.<br />
„Deine Medienarbeit ist scheiße“, zischte Anna, während<br />
sie auf die Bühne stieg.<br />
Danach spielten wir in Carrara, da kamen sogar nur 30<br />
zahlende Besucher. Google News meldete seit drei<br />
Tagen keinen neuen Artikel. Kein Mensch hatte das<br />
YouTube-Video angesehen, keinerlei Reaktion auf<br />
Facebook.<br />
Von Max hörte ich keinen Ton und er hatte auch die<br />
Mails nicht beantwortet, als ich ihm die Links geschickt<br />
hatte. Ließ er mich hängen?<br />
Ich legte für uns einen twitter-Account an, postete den<br />
Link zum Video und investierte dann fast zwei Stunden,<br />
um den Accounts von Popjournalisten und -magazinen
und Musikern zu folgen, in der Hoffnung, ihr Interesse<br />
zu wecken.<br />
#<br />
Manchmal glaubst du, das ganze Leben auf Tournee ist<br />
nicht wirklich. So viele Orte, so viele Menschen, so viel<br />
Alkohol. Manchmal glaubst du, du sitzt vor einer<br />
Leinwand und das alles ist nur ein Film.<br />
Jemand kreuzt durch die Welt. Mal nach Westen, mal<br />
nach Osten, nach Süden und nach Norden. Er sitzt den<br />
ganzen Tag im Bus und starrt aus dem Fenster und lebt<br />
seinen Traum, aber immer öfter fragt er sich, welchen<br />
Scheiß er da träumt. Sein Rücken ist ein Desaster und<br />
die letzten zehntausend Kilometer haben sein Steißbein<br />
wund gerieben. Er fühlt sich, als wäre er hundertfünfzig<br />
Jahre alt.<br />
Dieser Jemand schleppt jeden Abend die Instrumente in<br />
einen Keller, atmet stundenlang verrauchte Luft,<br />
betrinkt sich, nimmt alle Drogen, die er finden kann.
Dann verkriecht er sich in den Bus oder pennt dort, wo<br />
er gerade umfällt. Hin und wieder kriegt er davor noch<br />
mit, dass die Frau, die er liebt, einen anderen abschleppt,<br />
und er trinkt dann besonders viel Alkohol und denkt,<br />
aber hey, das ist Rock ’n’ Roll, und es ist ohnehin stets<br />
jemand, den sie nie wieder sehen wird.<br />
#<br />
Wir lagen im Bus in unseren Kojen, auf der Fahrt von A<br />
nach B, und lasen. Plötzlich blickte Eugene auf und<br />
sagte: „Ich habe eine Idee für dich. Eine Idee für ein<br />
Buch, falls du noch eines schreiben willst.“<br />
„Oh“, sagte ich überrascht. „Lass hören.“<br />
„Du brauchst etwas mit einer Meta-Ebene. Etwas mit<br />
einer Aussage.“<br />
„Aha. Ich dachte, ich möchte einfach nur eine<br />
spannende Geschichte erzählen ...“<br />
„Nein.“<br />
„Nein?“
„Nein. Sieh es doch so: Wenn du schon zigtausende<br />
Stunden in so ein Projekt steckst, kann es auch einen<br />
tieferen Sinn haben, oder?“<br />
„Klingt überzeugend. Da gibt’s nur ein Problem.“<br />
„Und das wäre?“<br />
„Ich habe nichts von Bedeutung zu sagen.“<br />
„Das stimmt doch nicht“, sagte Eugene. „Du hast etwas<br />
zu sagen. Du machst dir Sorgen um die Freiheit der<br />
Kunst. Um das Recht auf Zugang zu Information. Um<br />
die Zukunft.“<br />
Ich glaube, ich machte ein ziemlich überraschtes Gesicht<br />
in diesem Moment. „Ah ja. Das tue ich?“<br />
„Natürlich. Du hast in London zu diesem<br />
Krawattenmenschen doch gesagt, was er vorhabe, sei<br />
kultureller Darmkrebs. Oder hast du das nicht gesagt?“<br />
„Doch, doch.“<br />
„Eben. Und du hast recht. Unsere ganze Kultur, nicht<br />
nur die Kunst, sondern auch die Philosophie und die<br />
Wissenschaft und sogar die Wirtschaft beruhen darauf,
dass wir eine Idee, die jemand vor uns hatte, nehmen<br />
und verbessern. Das sind derivative Werke.“<br />
„Ja, schon ...“<br />
„Hör zu: eine italienische Stadt im Hochmittelalter,<br />
Florenz oder Bologna, vielleicht auch Siena. Die Stadt<br />
brodelt, ganz Norditalien ist in einen seit Generationen<br />
andauernden Konflikt verwickelt, Kaisertreue und<br />
Papsttreue schneiden sich bei Nacht und Nebel<br />
gegenseitig die Kehle durch, führen gegeneinander<br />
Kriege, zetteln Revolutionen und Gegenrevolutionen an,<br />
suchen Verbündete und schließen Geheimverträge.<br />
Keine Seite kann dauerhaft die Oberhand erringen und<br />
nach und nach gewinnen die lachenden Dritten: Die<br />
Kaufleute, mächtige Familien, die immer reicher<br />
werden, indem sie dem Kaiser oder dem Papst oder<br />
beiden Kredit gewähren und ihre Armeen ausstatten.<br />
Unser Held ist der Sohn einer solchen Familie.“<br />
Bei den Worten „unser Held“ unterdrückte ich ein<br />
Lächeln. Mir gefiel Eugenes Begeisterung für das
Thema, auch wenn ich noch nicht wusste, worauf er<br />
hinauswollte. „Nennen wir ihn ... Giacomo“, sagte ich.<br />
„Giacomo wird zum Studieren an die Universität<br />
geschickt. Das war damals etwas völlig Neues:<br />
Universitäten. Die Erste entstand in Bologna, gegen<br />
Ende des 11. Jahrhunderts, wenn ich mich recht<br />
erinnere. Die Kaufleute schickten dort ihre Söhne hin.<br />
An den Universitäten wurde damals nicht geforscht,<br />
moderne Forschung war ja auch noch unbekannt.<br />
Zunächst wurde nur gelehrt: Rechnen, Lesen, Schreiben.<br />
Dazu Sprachen und Geografie, weil die Kaufleute auf<br />
der Suche nach neuen Waren begannen, die ganze Welt<br />
zu bereisen. Marco Polo kam dabei bis nach China, von<br />
dieser Zeit reden wir. Das muss alles in der Geschichte<br />
eingefangen werden: dieser Aufbruch in eine neue Zeit.<br />
Die Kaufleute entwickeln das erste internationale<br />
Bankensystem, die doppelte Buchhaltung, Lagerführung<br />
et cetera. All das wird an den Universitäten gelehrt, und<br />
was ist der wichtigste Raum jeder Universität?“<br />
Ich zuckte mit den Schultern.
Eugene lächelte. „Der Copy-Shop. Zumindest war das<br />
zu meiner Zeit so. Wir haben die Skripten der<br />
Vortragenden tonnenweise kopiert. Heutzutage lädt<br />
man sich das vermutlich alles runter ... aber egal. Schon<br />
die Universitäten des Mittelalters waren riesige Copy-<br />
Shops. Der Begriff Vorlesung kommt daher, dass sich<br />
die Professoren an ihr Pult stellten und ein Buch<br />
vorlasen. Und die Studenten saßen auf den Bänken und<br />
schrieben mit. Ihre Aufgabe war es tatsächlich, das ganze<br />
Buch abzuschreiben, das der Professor diktierte. So<br />
stellte man sich damals guten Unterricht vor.<br />
Wenn zwanzig Studenten in der Vorlesung saßen, gab es<br />
danach zwanzig Kopien. Aber das Buch des<br />
Vortragenden war ja selten ein Original, der Professor<br />
hatte es während seiner Studentenzeit meist selbst<br />
diktiert bekommen. Verstehst du: Ein Student, der drei<br />
Vorlesungen besuchte, besaß danach drei Bücher. Er<br />
konnte in die nächste Stadt ziehen und dort anbieten,<br />
über eben diese drei Bücher Vorlesungen zu halten.<br />
Damit wurde er zum Vortragenden. Wenn er Glück
hatte, bestand Bedarf und er fand zehn oder zwanzig<br />
Studenten. Und wenn er im Jahr darauf weiterzog,<br />
blieben von diesem Buch ebenso viele Kopien in der<br />
Stadt zurück. Oder wurden von anderen Studenten an<br />
andere Universitäten gebracht. Weil Latein die<br />
Universalsprache der Gelehrten war, spannte sich das<br />
Netz der reisenden Professoren bald über ganz Europa,<br />
bis nach Paris, London und Krakau. Aus einer Kopie<br />
konnten so nach einem Jahr zwanzig werden, nach zwei<br />
Jahren vierhundert, nach drei Jahren achttausend.<br />
Theoretisch zumindest ...<br />
Möglich gemacht hat diese Entwicklung die Erfindung<br />
des Papiers. Es war billig und in großen Maßen<br />
herzustellen. Es hat die Massenkommunikation<br />
demokratisiert. Pergament, das war selten und teuer,<br />
deswegen konnten es sich nur die Klöster leisten und<br />
jeder einzelne Bogen wurde wie eine Kostbarkeit<br />
behandelt. Beschriebene Blätter wurden sogar<br />
abgeschabt, um sie noch einmal verwenden zu können.<br />
Deswegen sind diese Pergament-Bücher auch so
prunkvoll bemalt und ausgearbeitet: Weil das<br />
Grundmaterial bereits so exklusiv war. Da konnte man<br />
es sich leisten, in seinem ganzen Leben nur ein einziges<br />
Buch abzuschreiben. Nein, umgekehrt, man konnte es<br />
sich nicht leisten, viele Bücher zu vervielfältigen. Und<br />
Papier hat das geändert. Papier war für die Massen. Für<br />
das schnelle Mitschreiben. Sogar die Handschrift der<br />
Menschen hat sich mit seiner Einführung geändert.<br />
Papier war so was wie das Internet des Mittelalters ...<br />
Norditalien war das Zentrum der Papierproduktion. Es<br />
ist kein Zufall, dass die Universitäten und später der<br />
Humanismus und die Renaissance hier entstanden sind.<br />
Es war eine Folge des Papiers. Eines modernen, quasidemokratischen<br />
Massenkommunikationmittels.<br />
Ja, daran denkt jeder. Unterhaltung als<br />
Herrschaftsinstrument, um das Volk ruhig zu stellen.<br />
Aber du könntest in deinem Roman eine andere, viel zu<br />
wenig beachtete Facette zeigen: Unterhaltung als ein<br />
Instrument, um die Bürger zu bilden. Wir greifen zu<br />
Dante.“
„Dante“, echote ich verwirrt. Was wollte Eugene nun?<br />
„Klar. Die göttliche Komödie, der erste<br />
Unterhaltungsroman auf Italienisch, in der Sprache des<br />
gemeinen Volkes. Das Papier war sozusagen die<br />
Hardware. Und bald darauf folgte die Software:<br />
Literatur in einer Sprache, die die breiten Massen<br />
verstanden, nicht nur die Eliten. Dante hat den ersten<br />
Bestseller für die Massen geschrieben. Wäre billiges<br />
Papier zweihundert Jahre früher oder später erfunden<br />
worden, wäre Dante unbedeutend geblieben. Er hätte<br />
die Unterhaltungsliteratur nicht erfinden können. Vor<br />
Dante war Lesen – und damit natürlich auch Schreiben<br />
– vor allem eine Arbeitstechnik, durch Dante wurde<br />
Entertainment daraus. Und die Menschen lernten lesen,<br />
zu tausenden. Nach Dante lasen sie Boccaccios<br />
Decamerone, und dann waren sie schon bei Petrarca und<br />
mittendrin im Humanismus. Ohne<br />
Unterhaltungsliteratur wäre der ganze Humanismus,<br />
diese ganze große geistige Revolution, ein kleines<br />
Elitenprojekt geblieben und bestenfalls viel, viel
langsamer abgelaufen. Wahrscheinlicher ist noch, dass<br />
die norditalienische Blütephase genauso eingeschlafen<br />
wäre wie die griechische zweitausend Jahre davor. Aber<br />
die Italiener haben die kritische Masse erreicht. Und<br />
wie? Eben durch Massenmedien. Unterhaltungsliteratur<br />
hat die breite Basis geschaffen, auf der dann alles andere<br />
wachsen konnte.“<br />
Er sah mich an, aber ich schwieg.<br />
„Deswegen geht es nicht nur um Pop, wenn du in der<br />
Zeitung liest, dass Kinder von Gerichten verfolgt<br />
werden, nur weil sie ein paar Songs getauscht haben.<br />
Hier geht es um Alphabetisierung, um digitale<br />
Alphabetisierung, hier geht es darum, dass wir gerade<br />
dabei sind, neue Kulturtechniken zu lernen, die die Welt<br />
verändern werden. Und wir sollten uns das nicht<br />
wegnehmen lassen, wir sollten uns nicht beschneiden<br />
und kontrollieren lassen, nicht von Regierungen und<br />
nicht von Großkonzernen.<br />
Wir leben in einer spannenden Zeit, denn es ist das<br />
Ende der Welt, wie wir sie kennen. Während die
Menschen da draußen den ganzen Tag ihre ach so<br />
wichtigen Termine im Organizer abhaken, Texte<br />
schreiben, Tabellen kalkulieren, Mails versenden und<br />
Files saugen, während sie online Zeitung lesen und sich<br />
über die Regierung ärgern und über die Opposition<br />
weinen, während sie ihre Freundschaften via Facebook<br />
pflegen, und die Feindschaften auch, während sie abends<br />
schließlich vor dem Fernseher einschlafen und im DVD-<br />
Player ein Film läuft, der erst in zwei Wochen ins Kino<br />
kommt – während sie also den ganzen Tag nur das tun,<br />
was man heutzutage eben so tut, tun sie Großes.<br />
Sie überschreiten die Schwelle zu einem neuen Zeitalter,<br />
lassen die öde alte Industriegesellschaft hinter sich und<br />
treten ein in die neue, aufregende<br />
Informationsgesellschaft. Klar, das ist in den letzten<br />
Jahren zum weit verbreiteten Stehsatz geworden, beinahe<br />
schon zur Plattitüde, kaum ein Magazin, kaum eine<br />
Zeitung hat sich des Themas nicht schon angenommen.<br />
Aber gerade weil wir alle wissen, dass sich die Welt für<br />
immer ändert, ist es doch erstaunlich, wie wenigen
Menschen diese Tatsache auch bewusst ist. Immerhin<br />
kann uns ja einiges bevorstehen. Das letzte Mal, als<br />
Vergleichbares geschehen ist, als die Menschheit von der<br />
Agrar- zur Industriegesellschaft überging, hat das Kriege,<br />
Revolutionen und Massaker zur Folge gehabt, in Summe<br />
ein paar Millionen Tote, ein paar hundert Jahre<br />
Blutvergießen – und in einigen Ecken der Welt ist dieser<br />
Prozess noch gar nicht beendet und wir stolpern schon<br />
in den nächsten“, sagte Eugene.<br />
Nächste Station: Genua!<br />
Wir übernachteten in einem besetzten Haus, dem<br />
Centro Sociale Carlo Giuliani, spielten abends ein<br />
Gratiskonzert im Innenhof vor zwanzig Leuten.<br />
„Ich bin pleite“, sagte ich zu Eugene.<br />
Er drückte mir hundert Euro in die Hand. „Aus der<br />
Bandkasse“, sagte er. „Viel mehr haben wir nicht.“<br />
#
„Vielleicht sollten wir dann keine Gratiskonzerte geben,<br />
hm?“, fragte ich.<br />
„Das sind alte Freunde von uns. Morgen geben wir hier<br />
ein richtiges Konzert, dann kommt wieder Geld rein.“<br />
Ich sah mich um. Zwanzig versoffene Hunnen,<br />
tätowiert, gepierct, die Schädel entweder rasiert oder mit<br />
Rastazöpfen zugefilzt oder beides, sprangen in der<br />
Gegend herum.<br />
„Na toll“, sagte ich. „Dann sind wir ja ab morgen reich.“<br />
Am nächsten Tag besuchten wir Fabio, einen alten<br />
Freund von Eugene, der ein kleines Restaurant in der<br />
Innenstadt betrieb. Wir aßen gut und kostenlos, tranken<br />
hervorragenden Wein und amüsierten uns. Anna spielte<br />
auf der Harmonika, Carlos begleitete sie auf einer<br />
akustischen Gitarre und wir sangen. Es war ein lustiger<br />
Nachmittag und wir übersahen beinahe die Zeit.<br />
Fast wären wir zu spät zu unserem eigenen Konzert<br />
gekommen. Aber dann hätten wir was verpasst!<br />
#
Als wir zurück in das besetzte Haus kamen, war der<br />
Innenhof zum Bersten gefüllt. Keine Hunnen, sondern<br />
etwas konventionelleres Publikum, Typ linksliberale<br />
Studierende der Geistes- und Humanwissenschaften.<br />
„Was wollen denn die Schickimickis da?“ fragte Carlos.<br />
Der hatte wohl noch nie echte Schickimickis gesehen.<br />
„Euer Konzert sehen“, sagte einer der Hausbesetzer, ein<br />
Hunne mit grünen Haaren. „Wir hatten schon Sorge,<br />
dass ihr nicht kommt.“<br />
„Habt ihr Eintritt kassiert?“, fragte Eugene.<br />
„Klar, und wir kassieren immer noch. Das ist alles für<br />
euch, meine Lieben.“<br />
„Der Hof ist fast voll“, sagte ich. „Wir könnten ja mit<br />
dem Preis ein wenig raufgehen.“<br />
Eugene und der Hunne blickten mich streng an. Ich<br />
sagte nichts mehr.<br />
„Was schätzt du, wie viele das sind?“, fragte Eugene.<br />
„Zweihundert“, sagte ich.
Der Hausbesetzer schüttelte den Kopf. Und deutete auf<br />
die Fenster im ersten Stock. Rund um den Hof waren sie<br />
geöffnet und man sah dahinter ganze Trauben von<br />
Menschen. „Viel mehr. Ich würde sagen<br />
vierhundertfünfzig bis fünfhundert.“<br />
„Nicht schlecht“, sagte Eugene.<br />
„Aber warum?“, fragte ich.<br />
„Das weiß ich auch nicht“, sagte der Hunne. „Aber das<br />
ist jetzt auch egal. Wir haben alles bereitgemacht. Ihr<br />
könnt spielen. Legen wir los!“<br />
„Legen wir los!“, sagte Eugene und setzte sich in<br />
Bewegung. Ich kämpfte mich mit den anderen zur<br />
Bühne durch.<br />
Kurzer Soundcheck.<br />
Eine hübsche schwarzhaarige Italienerin nahm<br />
Blickkontakt mit mir auf. Ein Geheimnis des Erfolges<br />
bei potenziellen Sexpartnern: Steh auf der Bühne. Steh<br />
hinter der Absperrung. Steh im VIP-Bereich. Egal wie<br />
beschissen die Location, egal wie lächerlich der Anlass:<br />
Steh immer dort, wo die wichtigen Menschen stehen.
Du musst drinnen sein, und die anderen draußen. Auch<br />
wenn es nur ein Konzert einer unbekannten Punkband<br />
in einem vergammelten Hinterhof ist, das spielt keine<br />
Rolle.<br />
Ich bückte mich, tat so, als würde ich an der<br />
Monitorbox ein Kabel richten. „Hi.“<br />
Sie: „Hello.“<br />
Ich: „Ziemliches Gedränge da unten, hm?“<br />
Sie: „?“<br />
Ich überlegte, was Gedränge auf Italienisch heißen<br />
konnte. „Wie heißt du?“<br />
Sie sagte etwas.<br />
Ich. „Ein sehr schöner Name. Du siehst gar nicht aus, als<br />
ob du Punk mögen würdest.“<br />
„Das kommt darauf an. Ich bin mit Freunden hier.“<br />
„Verstehe. Und die stehen auf Punk.“<br />
„Das kommt darauf an.“<br />
Ich kratzte mich am Kopf. Kein leichter Fall. „Seid ihr<br />
oft hier?“
„Das erste Mal“, sagte sie. „Dieser Ort ist ziemlich ...<br />
fucked up!“<br />
Ich grinste. „Und warum seid ihr dann heute hier?“<br />
„Das war eine spontane Idee. Wir hatten nichts<br />
Besonderes vor und sind bei mir vor dem Fernseher<br />
gesessen, und dann haben wir diesen Bericht auf MTV<br />
gesehen und uns gedacht, wir könnten uns euch mal<br />
ansehen ...“<br />
Sie sprach ganz leise und mit Akzent und ich war mir<br />
nicht ganz sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte.<br />
Nein, man muss es anders sagen: Ich wusste, dass ich sie<br />
richtig verstanden hatte, ich konnte es nur nicht ganz<br />
glauben. Mir wurde schwindelig. Meine Knie drohten<br />
nachzugeben. Keine Ahnung, wie lange ich das<br />
Mädchen einfach nur anstarrte.<br />
Dann: „Wo hast du einen Bericht gesehen?“<br />
Sie. „Emm-Ti-Vi.“<br />
Wie drei Bomben explodierten diese Buchstaben in<br />
meinem Gehirn. Ich habe mich nicht verhört, dachte<br />
ich. Ich habe mich nicht verhört!
„Shit“, zischte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst<br />
sagen sollte. Sie sah mich fragend an.<br />
„Spielst du auch mit?“, fragte Anna.<br />
Die Drummachine begann, den Takt anzugeben. Carlos<br />
E-Geige sang ihr orientalisches Klagelied. Ein etwas<br />
verhaltener Applaus war zu hören, der Rhythmus<br />
drückte die Nummer vorwärts, die Leute standen ruhig<br />
da und beobachteten, was auf der Bühne passierte. Anna<br />
stand mit dem Rücken zum Publikum.<br />
Ich beugte mich zu ihrem Ohr. „Ich weiß, warum so<br />
viele Leute hier sind.“<br />
„Und?“<br />
„MTV hat über uns berichtet.“<br />
„MTV?“ Sie sah mich fragend an.<br />
„Ja!“, rief ich und strahlte übers ganze Gesicht. „Ich habe<br />
ihnen die Presseaussendung noch einmal geschickt und<br />
dann so lange in der Redaktion angerufen, bis ich bei<br />
einem Redakteur durchgekommen bin, den das<br />
interessiert hat.“ Das war gelogen. Max musste das<br />
gedreht haben.
Sie sah mich ungläubig an und ich bekam noch weichere<br />
Knie. Anna verpasste ihren Einsatz, Carlos rief ihr etwas<br />
zu. Sie nickte langsam, wartete auf den richtigen<br />
Zeitpunkt und legte dann los. Sie lächelte mich an,<br />
glücklich, stolz. Nach ein paar Takten drehte sie sich um<br />
und stürmte ans Mikro. Sie sang Babylon mit einer<br />
Intensität wie nie zuvor und das Intro entwickelte sich<br />
zu dem repetitiven, repetitiven Thema. Dmitri stieg ein.<br />
Dann Carlos. Dann ich.<br />
Patam. Pa-ta-ta-tam. Patam. Wir spielten uns die Seele<br />
aus dem Leib.<br />
Samba. Ska. Ska-Punk!<br />
La Defense, die Kreuzung aus Chanson und Blues.<br />
Kinston Stray Cats, die Kreuzung aus Rockabilly und<br />
Ragga. Pa-ta-ta-tam. Flamenco. Rumba. Csardas und<br />
Roma-Musik. Punk. Viernes Negra, die Kreuzung aus<br />
Charleston und Hardrock. Dann wieder langsam. Salsa:<br />
Son, Mambo, Cha Cha Cha. Ich kannte jede Note, ich<br />
kannte jede Nuance. Ich war der König der Welt.
Das Publikum ging mit. Die Menschen tanzten,<br />
streckten ihre Arme in den Himmel, klatschten mit. Das<br />
Mädchen war verschwunden, aber sie interessierte mich<br />
nicht mehr.<br />
Hip-Hop, Rap und Reggae. Hardcore. Punk.<br />
Repetitatam. Patam!<br />
Anna sprang mit ausgestreckten Armen ins Publikum<br />
und ließ sich fangen und von hunderten Händen durch<br />
den Hof tragen und dabei sang sie, das Funk-Mikro fest<br />
umklammert. Ich hielt den Atem an, eine Unendlichkeit<br />
lang, bis das Publikum sie wieder zurückgab, auf die<br />
Bühne, vor die Leinwand. Eugene drückte eine Taste auf<br />
seinem Notebook. Der Atompilz stieg hinter ihr auf,<br />
während sie den Bass anschnallte.<br />
Doch dann war es plötzlich still.<br />
Kein Ton kam von der Bühne. Anna und wir anderen<br />
standen da, die Augen geschlossen, völlig regungslos.<br />
Aus dem Publikum hörte man Gemurmel. Die Leute<br />
waren unruhig. Sie waren gut drauf, betrunken, in<br />
Partylaune, und plötzlich bremste man sie von 180 auf
null, in weniger als einer Sekunde. Es war, als wären sie<br />
gegen eine Betonwand gefahren. Doch dann begannen<br />
einige zu begreifen. Das war es, wovon MTV berichtet<br />
hatte. Die Schweigeminute. Manche zischten, ich hörte<br />
sie „Silenzio“, flüstern, das Wort lief von Mund zu<br />
Mund. Ein paar Menschen zückten Feuerzeuge. Es<br />
wurde leiser. Noch mehr Feuerzeuge. Die Minute war<br />
um, aber Anna hängte noch ein paar Sekunden dran.<br />
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.<br />
Dann sagte Anna auf Italienisch: „Tausend Dank.“<br />
#<br />
Popkultur-Journalisten leben in einem beinharten<br />
Konkurrenzkampf. Sie müssen ihren Kollegen immer<br />
eine Nasenlänge voraus sein. Sie müssen die Band<br />
entdecken, nach der die anderen noch nicht mal suchen.<br />
Erfahrene Popschreiber entwickeln ein feines Sensorium<br />
dafür, welche Band, welcher Film, welcher<br />
Nachwuchsstar the next cool thing sein wird.
Handwerkliche Qualität ist wichtig, reicht aber nicht.<br />
Ein fettes Marketing-Budget im Hintergrund ist da<br />
schon ein viel besserer Indikator. Es ist leicht vorherzusehen,<br />
dass Shakira im Sommer 2002 der Shootingstar<br />
in Europa sein wird, wenn die Plattenfirma schon im<br />
Januar alle namhaften Journalisten nach Barcelona fliegt,<br />
damit sie das Mädchen persönlich kennenlernen<br />
können. Und wenn man dann erste Abzüge der<br />
Promotion-Fotos sieht, wenn man seine Augen kaum<br />
davon lösen kann, wie sich ihre langen Finger um die<br />
Taille krallen – dann weiß man auch schon, welches<br />
Cover-Foto in ein paar Monaten die Hälfte aller<br />
Magazine des Kontinents zieren wird. Shakira ist nur ein<br />
Beispiel, aber kein beliebiges, sondern dasjenige, bei dem<br />
mir selbst das Prinzip klarwurde. Puh, lange her.<br />
Es ist immer dasselbe. Nach der sündteuren Präsentation<br />
und den vielen, vielen Interviews gibt’s am Abend eine<br />
Super-VIP-Party. Geile Location. Hi, lange nicht<br />
gesehen, wie geht’s? Toll, deine neuen Bvlgari-<br />
Sonnenbrillen – hast du die gekauft oder ist das euer
Presseexemplar? Nur Small Talk, aber es ist eine<br />
kritische Situation. Die Produktmanager kleben an den<br />
Journalisten aus den Ländern ihres<br />
Zuständigkeitsbereiches. Jetzt entscheidet sich der<br />
Erfolg. Eher beiläufig erwähnen sie das geplante<br />
Anzeigenbudget, das die Markteinführung begleiten soll.<br />
Die Journalisten rümpfen die Nase, als ginge sie das<br />
nichts an. Es zählt nur die Qualität der Musik. Apropos<br />
... noch viel, viel beiläufiger fragt dann ein Journalist den<br />
anderen: Und, wie findest du’s? Ach so, aha, ja ja, seh<br />
ich auch so ... In weniger als einer Stunde gibt es im<br />
Raum einen Konsens. Wir entscheiden im Kollektiv.<br />
Wenn wir heimfliegen, wissen wir, ob wir das nächste<br />
coole Ding gesehen haben. Eine sich selbst erfüllende<br />
Prophezeiung. Daheim, ein paar Tage später, schreiben<br />
wir die Kritik. Daumen rauf oder Daumen runter. Jeder<br />
Journalist ein kleiner Cäsar, jedes Magazin ein Circus.<br />
#
Eugene setzte sich im Bus neben mich. „Hast du die<br />
Idee mit deinem Roman schon aufgegeben?“<br />
„Nein“, sagte ich. „Aufgegeben nicht, aber aus den<br />
Augen verloren. Warum? Hast du wieder einen<br />
Vorschlag?“<br />
„.Ja, kann sein. Weiß nicht.“<br />
„Lass hören.“<br />
„Ich habe nochmal über die Meta-Ebene nachgedacht.<br />
Und ich glaube, die Geschichte sollte eine Warnung<br />
sein.“<br />
„Eine Warnung?“<br />
„Ja. Dass all diese Freiheiten, die das Internet und<br />
Mobiltelefone und so weiter uns ermöglichen, auch<br />
leicht verloren gehen können.“<br />
„Das weiß man doch ...“<br />
„Trotzdem. Man muss es den Leuten immer wieder<br />
bewusst machen. An einem historischen Beispiel: dem<br />
Buchdruck.“<br />
„Okay ...“<br />
„Ich stelle mir das als dreiteilige Serie vor ...“
Ich lachte auf. „Eine dreiteilige Serie?“<br />
„Ja.“<br />
„Vielleicht ist dir entgangen, dass ich noch nicht einmal<br />
ein einziges Buch geschrieben habe, geschweige denn<br />
einen Verlag gefunden – und jetzt willst du mir gleich<br />
eine Serie vorschlagen?“<br />
„Warte doch mal ab und hör mir zu. Also, erster Teil.<br />
Hier geht’s um die Hardware, um die Entwicklung der<br />
Technik. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, so ab<br />
den frühen 1430er- Jahren, experimentiert in Straßburg<br />
und Mainz ein Mann mit neuartigen Druckmaschinen.<br />
Sein Name lautet ...“<br />
„Gutenberg“, sagte ich.<br />
„Eigentlich Johannes Gensfleisch, aber er nennt sich<br />
Gutenberg. Er hat einen Investor gefunden, der seine<br />
Entwicklungsarbeit finanziert und mit ihm die erste<br />
Druckerei aufbaut. Das Ziel ist es, eine effiziente und<br />
preiswerte Technik für den Buchdruck zu entwickeln,<br />
um damit möglichst viel Geld zu verdienen. Sie sind
keineswegs die Ersten mit dieser Idee, aber Gutenberg<br />
gelingt der Durchbruch.<br />
Der Kern seiner Erfindung ist nicht die Druckerpresse<br />
an sich, die gab es schon davor. Aber es wurden ganze<br />
Seiten aus Holz geschnitzt, wie riesige Stempel. Das war<br />
teuer und unpraktisch. Gutenberg erfindet ein kleines<br />
Handgießinstrument. Damit lassen sich metallene<br />
Typen herstellen, aus denen man schnell und flexibel<br />
beliebige Texte zusammensetzen kann, Buchstabe für<br />
Buchstabe. Der Satz ist geboren. Und bitte die Parallele<br />
zu beachten: Das Herunterbrechen einer Druckseite in<br />
einzelne Typen ist gewissermaßen eine Digitalisierung.<br />
Und es ist eine Industrialisierung, wir reden hier von<br />
Massenfertigung und niedrigen Preisen. Mit seinen<br />
günstigen Bibeln, oder zumindest relativ günstigen<br />
Bibeln, wird Gutenberg praktisch über Nacht berühmt.<br />
Jetzt kommt aber das Spannende: Gutenberg hat kein<br />
Interesse am politischen Potenzial seiner Erfindung.<br />
Dem geht es überhaupt nicht um hehre Werte, der will<br />
einfach nur Geld verdienen. Er legt keinen großen Wert
auf Konkurrenz und bemüht sich sehr, die technischen<br />
Details des Verfahrens geheim zu halten. Solange er lebt,<br />
breitet sich der Buchdruck nur langsam aus. Zum Glück<br />
für den Rest der Menschheit verlässt alle paar Jahre ein<br />
Geselle den Meister, nimmt sein Wissen mit, geht in<br />
eine andere Stadt und eröffnet dort eine eigene<br />
Druckerei. Und warum?“<br />
„Um reich zu werden.“<br />
„Genau. Hier geht’s nur ums Geschäft. Meist wiederholt<br />
sich dieser Prozess ziemlich bald: Nach ein paar Jahren<br />
machen sich die Gesellen der Exgesellen in dem<br />
lukrativen neuen Gewerbe selbständig, dann die<br />
Gesellen der Exgesellen der Exgesellen. Langsam erst,<br />
dann immer schneller, breitet sich die ‚Schwarze Kunst‘<br />
so über Europa aus.“<br />
Ich ließ mich darauf ein. „Der Roman, der erste Teil<br />
zumindest, müsste also von einem jungen<br />
Buchdruckerlehrling handeln. Vielleicht eine Waise, ein<br />
Straßenkind, das von einem Gesellen gerettet und<br />
aufgenommen und ausgebildet wird. Der Geselle ist neu
in der Stadt, er hat gerade seinen Meister verlassen und<br />
möchte seine eigene Druckerei aufbauen, und der Junge<br />
hilft ihm dabei, sich in der fremden Stadt<br />
zurechtzufinden.“ Ich lächelte. Das war wirklich eine<br />
spannende Idee. „Aber wo spielt die Geschichte?“<br />
Eugene nahm einen Notizzettel zur Hand, auf dem eine<br />
Liste von Jahreszahlen und Städten stand. „Such dir was<br />
aus: Bamberg und Straßburg erreicht der Buchdruck<br />
1459, Köln 1464, Basel und Rom 1467, Augsburg<br />
1468, Venedig 1469, Mailand und Paris 1470, Florenz<br />
1471, Lübeck und Aalst 1472, Brügge 1473, Pilsen<br />
1475, London 1476, Valencia und Rostock 1478. Im<br />
Jahr 1490 sind Druckereien in 105 verschiedenen<br />
europäischen Städten bekannt. Amerika ist da noch gar<br />
nicht entdeckt, aber schon 1537 steht in Mexico City<br />
die erste Druckerpresse der Neuen Welt.“<br />
„Mexiko, 1537“, sagte ich.<br />
Eugene schüttelte den Kopf. „Bleib in Europa. 1537 hat<br />
der Buchdruck schon gezeigt, was er vermag: Die
Reformation steht in voller Blüte. Und das ist der zweite<br />
Teil. Software. Inhalte. Nenn es, wie du willst.“<br />
„Okay, die Reformation ...“<br />
„Klar, die unmittelbare Folge des Buchdrucks. Martin<br />
Luther war ja nicht der Erste, der die verweltlichte<br />
Kirche kritisiert hatte. Im 14. Jahrhundert trat zum<br />
Beispiel in England John Wycliff gegen den Papst auf,<br />
kaum war Wycliff tot, forderte Jan Hus in Prag die<br />
Macht der Kirche heraus. Hus endete am<br />
Scheiterhaufen, in seinem letzten Brief schrieb er ...“<br />
Eugene griff zu seinem Notebook, brauchte ein paar<br />
Sekunden und las dann vor: „Das aber erfüllt mich mit<br />
Freude, dass sie meine Bücher doch haben lesen müssen,<br />
worin ihre Bosheit geoffenbart wird. Ich weiß auch, dass<br />
sie meine Schriften fleißiger gelesen haben als die Heilige<br />
Schrift, weil sie in ihnen Irrlehren zu finden wünschten.“<br />
„Ein Scheiterhaufen liefert natürlich ein spektakuläres<br />
Ende für einen Roman.“<br />
„Nein, wir können Jan Hus nicht nehmen.“<br />
„Nicht?“
„Nein. Auch wenn Hus sich über seine Leser gefreut hat,<br />
seine Bücher waren handschriftlich verfasst und<br />
vervielfältigt, die Reichweite seiner Gedanken war<br />
begrenzt. Erst sechzig Jahre nach seinem Tod wurde<br />
seine tschechische Übersetzung des Neuen Testaments<br />
gedruckt. Wir brauchen den Buchdruck, also weder<br />
Wycliff noch Hus. Aber man kann im Roman auf sie<br />
Bezug nehmen, um zu zeigen, wie wesentlich der<br />
Unterschied war, den die Verfügbarkeit und Nicht-<br />
Verfügbarkeit von Massenmedien ausmachte.“<br />
Ich runzelte die Stirn. „Dann muss ich das aber auch<br />
alles recherchieren und irgendwie überfordert mich<br />
schon der bloße Gedanke daran.“<br />
„Ich könnte dir helfen ...“<br />
„Hm. Machen wir mal weiter. Vielleicht kommt ja was<br />
raus dabei.“<br />
Eugene sah wieder auf seine Notizen. „Okay. Der<br />
Nächste in der Reihe ist Girolamo Savonarola, ein<br />
Bußprediger aus Florenz. Er ist der erste ‚Ketzer‘, der das<br />
neue Medium nutzt. Ab 1492 schreibt Savonarola
Pamphlete und lässt sie drucken. Die Schriften finden<br />
reißenden Absatz und machen ihn so einflussreich, dass<br />
er schon zwei Jahre später die Medici aus der Stadt<br />
vertreiben kann. Er versucht, in Florenz einen<br />
Gottesstaat zu errichten. Natürlich, alle Mächtigen der<br />
Welt verbünden sich gegen ihn, der Papst, der Kaiser<br />
und die großen Handelsfamilien, und sie nehmen<br />
Florenz wieder ein, Savonarola wird verhaftet und 1498<br />
hingerichtet. Bis dahin verbreitet er mehr als 100<br />
Schriften. Einige davon gelangen ein Jahrzehnt später<br />
während eines Italienaufenthaltes auch in die Hände von<br />
Martin Luther.<br />
Und mit Luther beginnt die große Erfolgsstory der<br />
Drucktechnik dann wirklich. Im Oktober 1517<br />
veröffentlicht er die 95 Thesen gegen den Ablasshandel,<br />
ab dann verbreiten sich seine Schriften in Windeseile.<br />
Als Luther im Januar 1521 exkommuniziert wird, sind<br />
vermutlich rund 300.000 Exemplare im Umlauf. Die<br />
kritische Masse, der Tipping Point, ist damit erreicht:<br />
Diese Ketzerei ist von Rom nicht mehr zu stoppen. Und
Luther legt nach. Im Herbst 1521 übersetzt er das Neue<br />
Testament, 1523 eine Psalmenbesprechung Savonarolas,<br />
1525 stellt er sich in der Bauernrevolte mit einem Buch<br />
auf die Seite der Fürsten, die den Aufstand daraufhin<br />
brutal niederschlagen und ab dann Luthers politische<br />
Machtbasis sind.“<br />
„Da könnten wir ansetzen. Der Lehrling aus dem ersten<br />
Teil führt nun die Druckerei, er stellt sich auf Luthers<br />
Seite, druckt heimlich seine Schriften. Als die<br />
Bauernrevolte ausbricht, stellt er sich auf die Seite der<br />
Bauern – und kann nicht verstehen, dass Luther das<br />
nicht tut. Er versucht Luther zu überzeugen und gerät<br />
mitten in die Machtkämpfe. Geheimagenten der Fürsten<br />
jagen ihn durch ganz Deutschland, die Kirche ist hinter<br />
ihm her, die Bauern misstrauen ihm auch. Das ist gut.<br />
Das ist großartig!“ Ich war begeistert.<br />
Eugene lachte, aber er hob seine Hand, um mich zu<br />
bremsen. „Moment, nicht so schnell. Wir müssen noch<br />
die Rahmenbedingungen für den dritten Teil festlegen.<br />
Da geht’s jetzt um Zensur, darauf läuft alles hinaus, das
ist das Ziel unserer ganzen Trilogie. Nach Hardware und<br />
Software nennen wir diesen Teil Firewall.“<br />
„Die Inquisition“, sagte ich.<br />
„Natürlich sieht die katholische Kirche dem Treiben der<br />
Reformatoren nicht tatenlos zu: 1534 wird Paul III.<br />
Papst. 1540 erkennt er den Orden der Jesuiten an, die<br />
fortan seine treuesten Soldaten sein werden. 1542<br />
gründet Paul III. mit der Bulle Licet ab initio die<br />
Römische Inquisition. Ihre Aufgabe ist es ab nun, den<br />
intellektuellen Widerstand des katholischen Lagers zu<br />
organisieren. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung<br />
macht das Foltern unschuldig Denunzierter nur einen<br />
kleinen Teil ihrer Arbeit aus. Den Großteil ihrer Zeit<br />
verbringen die Inquisitoren mit dem Lesen von<br />
tausenden Büchern. Sie sind Schreibtischtäter. Finden<br />
sie in einem ‚gefährliche‘ Gedanken, so landet es auf<br />
dem Index Librorum Prohibitorum und Katholiken<br />
dürfen das Buch weder lesen noch besitzen.<br />
Vordergründig scheinen die Inquisitoren die Antwort
auf Luthers Lehre zu sein, in Wahrheit aber sind sie die<br />
Reaktion auf Gutenbergs Technik.<br />
Übrigens kann man hier eine tolle Nebenhandlung<br />
einflechten, die sich durch alle drei Teile zieht: Während<br />
Savonarola in Florenz regiert, nimmt auf der Universität<br />
im nahen Bologna ein junger Gast aus Europas Norden<br />
sein Studium auf: Nikolaus Kopernikus. Und während<br />
Luther die Welt in Unruhe versetzt, verbringt dieser<br />
Mann sein ganzes Leben beschaulich und zurückgezogen<br />
mit mathematischen und astronomischen Studien. Erst<br />
unmittelbar vor seinem Tod im Jahre 1543 lässt er ein<br />
Buch drucken, dass die Inquisition in Zukunft mehr<br />
plagen wird als alle Reformatoren zusammen: Von den<br />
Bewegungen der Himmelskörper.“<br />
„Das heliozentrische Weltbild.“<br />
„Irgendwie kann man ja Kopernikus sicher einbinden.<br />
Oder Galilei. Oder Bruno. Oder...“<br />
„Aber der Hauptstrang dreht sich um einen<br />
Druckerlehrling, der in die Machtkämpfe rund um die
Reformation und schließlich in die Fänge der<br />
Inquisition gerät“, sagte ich.<br />
„Möglich. Da gibt’s aber noch etwas, das meiner<br />
Meinung nach hineinsollte.“<br />
„Und das wäre?“<br />
„Die Entstehung des Copyright. So bin ich ja überhaupt<br />
auf diese Idee gekommen“<br />
„Wie gehört das denn da rein?“, fragte ich.<br />
„Zurück nach 1469. Ein Deutscher kommt nach<br />
Venedig und will dort die erste Druckerei errichten.<br />
Und natürlich will er verhindern, dass ihm die eigenen<br />
Gesellen, die er erst mühsam anlernen muss, in wenigen<br />
Monaten Konkurrenz machen. Die Mächtigen der Stadt<br />
plagt wiederum eine andere Frage: Sie wollen zwar, dass<br />
Venedig über die neue Technik verfügt – aber nicht,<br />
dass sie jeder beliebig nutzen kann. Also einigt man sich<br />
und der Deutsche bekommt ein exklusives<br />
Druckprivileg. So etwas wie ein Monopol. Im Gegenzug<br />
muss er aber alle Druckwerke genehmigen lassen. Beide<br />
Seiten sind zufrieden.“
„Ist das wirklich ein Copyright?“<br />
„Der unmittelbare Vorläufer davon. In England läuft das<br />
kurze Zeit später ähnlich, dort entsteht das Wort<br />
Copyright logischerweise, und es ist eben das Recht,<br />
Kopien eines Werkes anzufertigen. Dieses Recht erhält<br />
aber nicht der Autor, sondern die Druckerei. Wer ein<br />
Buch drucken will, braucht dazu das von der Regierung<br />
ausgestellte Copyright. Also eine Genehmigung.<br />
Gleichzeitig ist das Copyright auch ein Exklusivrecht,<br />
das anderen Druckereien den Nachdruck verbietet. Die<br />
Drucker unterwerfen sich also freiwillig der Kontrolle<br />
der Krone, weil diese im Gegenzug ihre Renditen<br />
schützt. Das ist extrem effizient, weil die Drucker sich<br />
gegenseitig mit Argusaugen beobachten: Wer ein Buch<br />
ohne Copyright druckt, verliert seine Lizenz. Jemandem<br />
so ein Vergehen nachzuweisen, ist die sicherste Art,<br />
Konkurrenz auszuschalten. Die Folge davon: Niemand<br />
wagt es, Bücher ohne staatliche Genehmigung zu<br />
drucken. Toll, oder?“<br />
„Klingt spannend.“
„Dieses Copyright ist eine noch striktere Kontrolle als<br />
die der Inquisition: Eine Liste verbotener Bücher<br />
bedeutet ja, dass alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist.<br />
Aber Druckprivilegien bedeuten, dass alles, was nicht<br />
erlaubt ist, verboten ist.“<br />
Ich stöhnte leise auf. „Okay. Aber wo siedle ich die<br />
Romane jetzt an. In Florenz? In Venedig? In Rom? In<br />
Deutschland oder England? Ich bin verwirrt.“<br />
Eugene zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es auch<br />
nicht. Du bist der Autor. Lass dir etwas einfallen. Aber<br />
denke dran: Spannend ist nicht wirklich die<br />
Vergangenheit, sondern die Parallele zu dem, was jetzt<br />
passiert. So. Ich mache mir jetzt was zu essen.“ Damit<br />
klappte er sein Notebook zu und ließ mich alleine<br />
zurück.<br />
#<br />
Michael Gieseke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit:<br />
Die Bindung der Chancen der typographischen
Kommunikation an das ökonomische System hat die<br />
weit reichende Folge, dass man von nun an über einen<br />
wichtigen Zweig der Informationsverbreitung nur noch<br />
unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Prinzipien<br />
nachdenken kann. So wie es wenig fruchtet, über die<br />
mittelalterlichen Formen skriptographischer<br />
Kommunikation zu reden, ohne auf die Bedeutung der<br />
Kirche Rücksicht zu nehmen, so wenig kann man über<br />
die typographische ‚Massen‘-Kommunikation sprechen,<br />
ohne auf die Marktmechanismen der Neuzeit<br />
einzugehen.<br />
Die Utopien der Marktwirtschaft: Kapitalakkumulation,<br />
Wettbewerb, Eigenverantwortung, Fortschritt und<br />
grenzenloses Wachstum beeinflussen die Utopien über<br />
die Nachrichtennetze und über die Autoren und Leser.<br />
Ältere, nicht ökonomisch fundierte Triebkräfte werden<br />
durch die Marktgesetze überformt.<br />
#
Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation:<br />
Viel von der religiösen Radikalisierung, die<br />
schließlich zu den konfessionellen Spaltungen geführt<br />
hat, geht aufs Konto des Buchdrucks, weil er Positionen<br />
öffentlich verfestigt, die man schwer wieder<br />
zurücknehmen kann, wenn man mit ihnen identifiziert<br />
ist. Für die Politik ergibt sich durch den Buchdruck die<br />
Möglichkeit zu politischem Einfluss und politischen<br />
Karrieren außerhalb des Fürstendienstes; der Verzicht<br />
auf Übernahme eines Amtes am Hofe bedeutet nicht<br />
mehr unbedingt Verzicht auf politischen Einfluss, und<br />
darauf muss die Politik sich dann einstellen.<br />
#<br />
John Seely Brown/Paul Duguid, The Social Life of<br />
Information, Vorwort zur zweiten Ausgabe: Kurz gesagt:<br />
Das Revolutionäre am Buchdruck umfasste auch soziale<br />
Organisation, juristische Neuerungen und die<br />
institutionalisierte Kreativität, das zu entwickeln, was
heute aussieht wie ein einfaches Buch, und die darin<br />
enthaltene Information. Entgegen der Annahme, dass es<br />
nur auf die technische Innovation ankommt, wird auch<br />
die digitale Revolution ähnliche nichttechnische<br />
Entwicklungen brauchen, um ihr Potenzial<br />
auszuschöpfen.<br />
#<br />
Unser Ziel, eine kleine Straße mit dem viel zu groß<br />
geratenen Namen Corso Europa, lag direkt neben der<br />
Fußgängerzone, die den Dom von Mailand umgibt. Es<br />
war eine schmale Einbahn. Wir hielten mit dem Bus vor<br />
dem Haus Nummer 7, mitten auf der Straße. Hinter<br />
uns hupte jemand in einem schicken, dunkelroten Alfa<br />
GT. Eugene und ich stiegen aus und gingen zum Tor.<br />
Auf einem kleinen, unscheinbaren Schild stand: MTV<br />
Italia.<br />
Ich klingelte.
Nach ein paar Sekunden meldete sich eine junge Frauenstimme.<br />
„Si?“<br />
Eugene übernahm das Reden. Er nannte den Namen<br />
eines Redakteurs und behauptete, einen Termin bei ihm<br />
zu haben.<br />
„Einen Moment, bitte“, sagte die Stimme, dann hörten<br />
wir beinahe zwei Minuten lang nichts. Der Kerl im Alfa<br />
brüllte etwas aus dem Fenster. Hinter ihm standen<br />
bereits drei weitere Autos.<br />
Eugene läutete noch einmal.<br />
„Ja, bitte?“ Die Stimme war männlich. „Sie haben einen<br />
Termin bei mir?“<br />
„Ja“, sagte Eugene und zeigte mir den erhobenen<br />
Daumen. „Wir sind die Soundinistas und wir kommen<br />
wegen des Interviews.“ So viel verstand ich auch auf<br />
Italienisch.<br />
„Die Soundinistas?“<br />
„Die Schweigeminute. Die Klage.“<br />
„Oh... Das muss ein Missverständnis sein ...“ Er sagte<br />
noch etwas, aber meine Italienisch-Kenntnisse reichten
nicht mehr, um dem Rest der Unterhaltung zu folgen.<br />
Ich hörte auch kaum noch ein Wort, denn nun begann<br />
ein mehrstimmiges Hupkonzert. Der Fahrer des GT war<br />
ausgestiegen und zu unserem Bus nach vorne gegangen.<br />
Er beschimpfte Carlos, der am Steuer saß, doch der tat,<br />
was er am besten konnte: arrogant wegschauen, als ginge<br />
ihn das alles nichts an.<br />
Eugene schüttelte den Kopf. „Abgeblitzt“, sagte er.<br />
„Welch Überraschung.“<br />
„Dann wollen wir doch mal ein wenig Lärm machen“,<br />
sagte er. „Hast du die Journalisten informiert?“<br />
„Klar“, sagte ich. „Es kann sich nur noch um Minuten<br />
handeln, bis die Ersten eintreffen.“<br />
Eugene gab ein Handzeichen in Richtung Bus. Carlos<br />
drückte auf eine Taste. Eine Sekunde später peitschte ein<br />
Gitarrenriff durch die enge Gasse, in einer Lautstärke,<br />
dass die Fenster wackelten. Dmitri und Anna kletterten<br />
auf das Dach des Busses und entrollten ein Transparent,<br />
das an der rechten Seite hinunterfiel. Darauf stand in<br />
bunten Lettern:
MTV: Let us in!<br />
Carlos und ich kletterten zu ihnen aufs Dach. Die ganze<br />
Band sollte zu sehen sein. Eugene sperrte inzwischen den<br />
Bus ab und hielt draußen die Stellung. Der Hysteriker<br />
mit dem Alfa hatte inzwischen kaum noch Stimme, aber<br />
einen purpurroten Kopf, und hüpfte herum wie<br />
Rumpelstilzchen auf drei E.<br />
Vom Dach des Busses aus sah ich, dass inzwischen die<br />
ganze Straße voll mit Autos war. Die ersten Grüppchen<br />
von Passanten bildeten sich. Ein junger Mann<br />
applaudierte uns, als er das Transparent sah. Vom Dom<br />
kamen ein Paar Touristen rüber, angelockt von der<br />
lauten Rockmusik.<br />
„Wir sollten live spielen“, sagte ich zu Carlos.<br />
„Hier auf dem Dach?“<br />
„Ja.“<br />
Er sah sich prüfend um. „Ein bisschen schweißen heut<br />
Nacht, und das geht schon.“
„Du hast ein Schweißgerät im Bus?“<br />
„Nein, aber wir haben einen Freund, der hat eine<br />
Werkstatt am Stadtrand von Mailand.“<br />
„So was hätte ich mir eigentlich denken können.“<br />
Er schmunzelte. „Wenn wir kleine Bodenstreben ans<br />
Dach schweißen, gegen die wir uns abstützen können,<br />
könnten wir sogar spielen, während wir ganz langsam<br />
durch die Stadt rollen.“<br />
Ein Fotograf tauchte auf. Eugene sprach ihn an. Wenige<br />
Sekunden später kam ein Kamerateam angelaufen,<br />
vorbei an den sich stauenden Autos. Sie hielten auf uns<br />
drauf und wir winkten in die Kamera und Carlos<br />
drängte sich nach vorn und posierte mit seiner Gitarre.<br />
„Hey“, sagte ich. „Wir sind ja nicht Status Quo. Lass<br />
Anna nach vorne.“<br />
„Mach dir nicht gleich in die Hose, Kleiner“, sagte er.<br />
Ich mach dir gleich in deine Hose, dachte ich, aber sagte<br />
nichts. Stattdessen legte ich den Kopf in den Nacken<br />
und beobachtete die Fassade des Hauses Nummer 7.<br />
Irgendwo dahinter befanden sich die MTV-Studios.
Aber ich wusste nicht mal, ob der Sender Fenster zur<br />
Straßenseite hin hatte. Konnten sie uns sehen? An ein<br />
paar Fenstern standen bereits einige Personen, aber man<br />
konnte zu wenig erkennen, um sie einzuordnen.<br />
„Die Polizei ist da“, sagte Carlos.<br />
Ich sah drei Uniformierte. Eugene sprach mit ihnen und<br />
einer davon schrieb irgendetwas in einen kleinen Block.<br />
Der Alfa-Fahrer schrie und gestikulierte wild herum. Die<br />
Fotografen und der Kameramann kreisten die Gruppe<br />
ein. Einer der Polizisten versuchte, den Choleriker<br />
wegzuschieben, und machte beschwichtigende<br />
Bewegungen in die Fernsehkamera.<br />
Eugene ging ein paar Schritte weg von den anderen und<br />
rief mich am Handy an.<br />
„Kommt runter“, sagte er.<br />
„Ich?“<br />
„Alle!“<br />
„Jetzt schon? Sollten wir nicht noch ein wenig ...“<br />
„Nein. Die Bilder sind gemacht. Ich habe den<br />
Journalisten gesagt, dass wir morgen um dieselbe Zeit
wiederkommen. Sie werden es bringen und selbst auch<br />
wiederkommen. Mehr können wir heute nicht<br />
erreichen. Und ich möchte nicht wegen Mordes<br />
verurteilt werden, wenn der Typ mit dem Alfa einen<br />
Herzinfarkt kriegt.“<br />
#<br />
Die Nachricht von unserer Aktion verbreitete sich<br />
rasant. Irgendjemand lud ein offensichtlich mit einem<br />
Handy gefilmtes Video auf YouTube und twitterte den<br />
Link, nicht ohne unseren Account zu erwähnen. Jemand<br />
anders twitterte daraufhin den Link auf unser erstes<br />
Video, das „Original“. Am Abend erschien ein Beitrag in<br />
einem Blog, den ich allerdings nicht verstand. Am<br />
nächsten Morgen war ein Artikel über uns in Il<br />
Manifesto, sogar mit Foto. Zwei Radiosender<br />
berichteten in den Morgen-nachrichten von unserer<br />
Aktion. Zu Mittag waren wir im Fernsehen in den
Lokalnachrichten zu sehen. Und überall hieß es: Heute<br />
werden sie es wieder versuchen, 16 Uhr, Corso Europa.<br />
Während die anderen zu Carlos Freund fuhren, um das<br />
Dach des Busses zur Bühne umzubauen, machten<br />
Eugene und ich Medienarbeit.<br />
In meinem Mail-Account: ein paar Einladungen zu CD-<br />
Präsentationen, Film-Previews und Agentur-Partys. Alle<br />
an anonyme Verteiler geschickt, keine davon an mich<br />
persönlich adressiert. Die Mails von Chefredakteuren<br />
blieben inzwischen gänzlich aus. Niemand fragte mich<br />
um eine Story.<br />
Ich war raus aus dem Geschäft. So weit die schlechte<br />
Nachricht.<br />
Siebenundzwanzig Mails an die Soundinistas. Die<br />
meisten fanden die Klage der Musikindustrie scheiße –<br />
und fragten uns, warum wir auf MTV wollten und<br />
damit auch an diesem Scheißsystem teilnehmen. Tja,<br />
dachte ich. Weil wir hier eine geplante Kampagne fahren<br />
und konventionelle Medien für eine konventionelle
Kampagne leichter planbar sind als Facebook und<br />
Twitter und so weiter.<br />
Google News Italia meldete inzwischen zweiunddreißig<br />
Treffer, davon alleine zwölf Artikel über unseren Auftritt<br />
vor den MTV-Studios.<br />
Google News International, englisch, meldete sieben<br />
Storys.<br />
Google News Deutschland meldete vier Berichte,<br />
Frankreich drei, die spanische Seite auch drei.<br />
#<br />
Ein paar Stunden später. Als wir mit unserem Stockbus<br />
wieder vor den Studios des Senders ankamen, warteten<br />
bereits rund hundert Schaulustige. Fünf Fotografen,<br />
zwei Kamerateams. Ein Dutzend Polizisten.<br />
Eugene hielt den Stockbus auf derselben Stelle wie am<br />
Tag zuvor an. Sofort sprangen zwei der Polizisten vor<br />
ihm auf die Straße. Sie deuteten ihm, die Tür zu öffnen.<br />
Er schüttelte den Kopf.
„Macht schnell“, sagte er und drehte die Musik auf.<br />
Wir eilten in den ersten Stock. Carlos öffnete die<br />
Dachklappe. Er packte Anna um die Hüften und hob sie<br />
hoch. Ich starrte auf ihren nackten Bauch unter dem viel<br />
zu kurzen T-Shirt.<br />
„Hilfst du mir?“, fragte Carlos.<br />
Ich machte ihm die Räuberleiter, dann reichte ich ihm<br />
eine Bongo, meine Gitarre, Annas Bass, eine Trompete<br />
für Carlos. Dmitri hängte sich seine Gitarre um und zog<br />
sich nach oben, ich hinterher.<br />
„Sind die Kabel alle angeschlossen?“, rief Anna.<br />
„Ja“, antwortete Eugene von unten. „Macht schnell!“<br />
„Los geht’s“, sagte sie.<br />
#<br />
Es war ein wenig wie beim legendären U2-Konzert am<br />
Dach eines Hochhauses. Okay, für das Publikum war es<br />
vermutlich nicht ganz so legendär, aber für mich war es<br />
das. Wir rockten und die Leute lachten und klatschten
und die Polizisten versuchten Eugene zu überzeugen, sie<br />
in den Bus reinzulassen.<br />
Wir spielten Babylon und Resistentia und Bella Ciao<br />
und dann hielt Anna eine kurze Rede, die Eugene und<br />
ich mit ihr vorbereitet hatten.<br />
„Das hier ist kein Konzert“, sagte sie. „Das hier ist ein<br />
politischer Protest. Eine unangemeldete politische<br />
Demonstration. Wir demonstrieren hier für unser Recht<br />
auf eine freie Kultur, frei im Sinne von freier Rede, nicht<br />
von Freibier. Einige von euch wissen vielleicht, dass wir<br />
von einem internationalen Medienkonzern verklagt<br />
werden. Wir hätten das Copyright eines Songs verletzt,<br />
behauptet dieser Konzern, und er schickt uns eine ganze<br />
Armee schleimiger Anwälte auf den Hals. Aber was<br />
haben wir getan? Was?“, fragte Anna.<br />
Die Augen der Zuschauer hingen an ihren Lippen.<br />
Meine hingen an ihren Hüften, dort, wo Carlos sie<br />
gepackt und hochgehoben hatte.<br />
„Die Antwort ist: nichts. Wir haben nichts gemacht. Im<br />
wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben nicht einen Ton
von uns gegeben. Wir haben eine Schweigeminute<br />
abgehalten, eine Schweigeminute für eine tote Freundin.<br />
Für meine Mutter. Und wir haben diese<br />
Schweigeminute online gestellt, damit jeder an unserer<br />
Trauer teilhaben kann. Dafür werden wir jetzt geklagt.“<br />
Buhrufe aus dem Publikum. Ich legte wieder den Kopf<br />
in den Nacken, um die Fassade zu beobachten. Heute<br />
sah ich hinter den Fenstern keine Schaulustigen. Sie<br />
boykottierten uns.<br />
„Die Konzerne beherrschen bald unser ganzes Leben“,<br />
sagte Anna und ihre Stimme vibrierte vor Nervosität.<br />
Mein Gott, war das sexy. Ich sah sie wieder an. Ich<br />
begehrte sie, ich konnte nicht anders. Wenn sie so auf<br />
der Bühne stand und die Welt sich nur um sie zu drehen<br />
schien, dann schmerzte das in jeder Faser meines<br />
Körpers.<br />
„Sie bestimmen, was wir anziehen und was wir essen und<br />
was wir besitzen. Aber das ist unwichtig. Das sind bloß<br />
materielle Dinge. Aber sie erobern auch unsere Gehirne<br />
und unsere Herzen. Sie definieren, was wir denken. Sie
pflastern unsere öffentlichen Räume mit Plakaten,<br />
drucken unsere Schulbücher, bestimmen, was in der<br />
Zeitung steht und wer im Fernsehen spricht, sie teilen<br />
sich die Radiofrequenzen und spielen uns Musik vor, die<br />
wir gar nicht wollen, und das so lange, bis wir ihre<br />
Scheißmelodien summen, weil sie uns nicht mehr aus<br />
dem Kopf gehen!“<br />
Applaus. Eine kurze Pause, Anna blickte auf den in ihrer<br />
Hand versteckten Notizzettel.<br />
„Wer hat sich nicht schon einmal dabei ertappt,<br />
irgendeine peinliche Melodie zu summen, die einfach<br />
nicht mehr aus dem Kopf wollte? Eine Melodie einer<br />
Band, auf die man aber so was von gar nicht steht ...<br />
kennt ihr das? Was sind wir? Verdammte Zombies oder<br />
was?“<br />
Wieder Gelächter. Sie hatte das Publikum in der Hand.<br />
„Und jetzt wollen die Großkonzerne auch noch das<br />
Letzte, was uns geblieben ist, das Schweigen“, sagte<br />
Anna. „Sie besitzen alles und sie kontrollieren alles und
wir, wir haben nichts mehr. Und jetzt greifen sie auch<br />
noch nach Vakuum, selbst das wollen sie uns noch<br />
wegnehmen. Sie kontrollieren die Musik, jetzt wollen sie<br />
auch noch die Stille. Ist das nicht völlig krank? Da<br />
erzählt man uns im Fernsehen und im Radio und in den<br />
Zeitungen immer, die Freie Rede sei das höchste Gut in<br />
einer Demokratie, und man erzählt uns, wir hier im<br />
Westen, wir lebten in den besten aller Demokratien,<br />
nicht wahr? Das erzählen sie uns. Und nun müssen wir<br />
nicht nur um die Freie Rede kämpfen, sondern sogar<br />
schon um das Freie Schweigen. Ist das nicht pervers?“<br />
Rufe der Zustimmung drangen zu uns herauf. Anna<br />
machte ihre Sache gut.<br />
„Aber es gibt ein Gegenmittel. Es gibt Bands, die keinen<br />
Plattenvertrag haben, die nicht den Großkonzernen<br />
gehören, die nicht gekauft und gecastet und genormt<br />
sind. Solche Bands sind das einzige Gegenmittel, das es<br />
gibt, und sie gehören in den Bauch des ganzen<br />
verdammten kranken Systems eingeführt. Deswegen<br />
wollen wir da hinein, hinter diese Mauern, direkt in den
Bauch des Systems. Wir wollen in die Studios von<br />
MTV!“<br />
„Die Rede ist scheiße“, sagte Carlos.<br />
„Sie ist von mir“, sagte ich.<br />
„Wir werden uns das Gedenken an einen lieben<br />
Menschen nicht verbieten lassen, von niemandem“, rief<br />
Anna. Und dann schwieg sie.<br />
Wir standen da, eine Minute lang, und machten nichts.<br />
Wir beobachteten die Menschen unter uns, lauschten<br />
dem leisen Gewirr ihrer Stimmen. Nach zehn Sekunden<br />
wurde die Menge leiser, nach einer halben Minute war<br />
sie völlig verstummt. Ich hatte ganz kurz das Gefühl,<br />
dass Totenstille über der Stadt lag.<br />
Dann flüsterte Carlos: „Hörst du das?“<br />
„Was?“<br />
„Die Autos. Die Flugzeuge. Die Touristen drüben in der<br />
Fußgängerzone. Die Fabriken am Stadtrand.“<br />
„Was ist damit?“<br />
„Darauf wollte John Cage mit seinem Stück aufmerksam<br />
machen.“
„Psssst!“, zischte Dmitri.<br />
„Auf die Autos?“ Ich bemühte mich, meine Lippen<br />
möglichst wenig zu bewegen.<br />
„Das ist die wahre Melodie von 4’33’’. Wir hören immer<br />
irgendetwas. Es ist nie völlig still.“<br />
Die Leute auf der Straße schwiegen mit uns. Niemand<br />
bewegte sich. Sogar die Polizisten verharrten und sahen<br />
sich unsicher um, so als ob sie nicht wüssten, ob sie<br />
gerade eine illegale Aktion beobachteten, die sie<br />
eigentlich verhindern sollten.<br />
War das illegal, was wir hier taten?<br />
Die Minute war vorbei. „Warte noch ein bisschen“,<br />
raunte ich Anna zu.<br />
Ich schloss die Augen und lauschte. Ich hörte eine Hupe.<br />
Eine der zahllosen orangefarbenen Mailänder Trams<br />
ratterte durch eine Parallelstraße. Ein Vogel. Sang da<br />
wirklich ein Vogel mitten in dieser lauten,<br />
zubetonierten, stinkenden Millionenstadt?<br />
„Ist es nicht faszinierend?“, flüsterte sie.<br />
„Pssst“, zischte Dmitri noch einmal.
„Das reicht jetzt ohnehin“, sagte ich und öffnete die<br />
Augen.<br />
Anna hob das Mikrofon an ihre Lippen und brüllte: „No<br />
sound is illegal!“<br />
Im Publikum brauste Applaus auf, als ob wir soeben<br />
unsere beste Nummer gespielt hätten – und in einem<br />
gewissen Sinne war das vielleicht auch der Fall. Wir<br />
verließen das Dach und kletterten wieder in den Bus.<br />
Im oberen Stock, durch die Bücherregale von Blicken<br />
abgeschirmt, fielen wir uns um den Hals. Eugene kam<br />
die Stiegen hochgelaufen, er gab Dmitri High Five,<br />
drückte Carlos an sich, und mich, und dann, lange und<br />
fest, Anna. Sie umarmte mich, lachte, nahm meinen<br />
Kopf in beide Hände und drückte mir einen dicken<br />
Kuss auf die Wange. Carlos umarmte Dmitri und mich<br />
und presste uns ganz fest aneinander, während er durch<br />
unsere Haare wuschelte und aus ganzem Hals lachte.<br />
„Los, machen wir, dass wir hier wegkommen“, sagte<br />
Eugene und eilte die Stufen wieder hinunter.
„Eine Anzeige bekommen wir ohnehin“, sagte ich, ihm<br />
auf den Fersen.<br />
Carlos schwang sich hinter das Lenkrad.<br />
„Einen Moment noch“, rief Eugene. Er flüsterte Anna<br />
etwas ins Ohr und drückte ihr einen Gegenstand in die<br />
Hand. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn<br />
und drückte den Knopf, der die Tür öffnete, sprang auf<br />
die Straße und lief zum Eingang des Hauses Nummer 7,<br />
vorbei an zwei überraschten Polizisten. In ihrer rechten<br />
Hand hatte sie einen dicken Stift, einen jener<br />
wasserfesten Marker, mit denen wir unsere technische<br />
Ausrüstung ebenso beschrifteten wie unseren<br />
Privatbesitz, Messer und Bierdosen zum Beispiel.<br />
Anna blieb neben dem Hauseingang stehen, aber ich sah<br />
nicht, was sie tat, sie war umringt von Menschen. Einen<br />
Moment lang fürchtete ich, man würde sie verhaften.<br />
Aber dann löste sie sich aus der Menge, lief zurück und<br />
sprang wieder in den Bus. Eugene schloss die Türe.
Beim Wegfahren sah ich das große, metallene Türschild<br />
mit der Gravur MTV Italia. Und in Rot stand quer<br />
darüber: Das gehört uns!<br />
Der Bus überquerte die Fußgängerzone, die Musik<br />
dröhnte aus den Boxen, die Leute zeigten mit dem<br />
Finger auf uns und lachten, viele begleiteten uns tanzend<br />
und singend, einige auch noch die Via Dante entlang.<br />
Dann bogen wir nach links, drehten die Musik ab und<br />
verschwanden im Gewirr der Straßen. Die Leute<br />
winkten uns nach, die Polizei ließ uns entwischen.<br />
#<br />
Dieter Daniels, Strategien der Interaktivität: Cages<br />
Kompositionen definieren meist keine exakte<br />
musikalische Mensch-Instrument-Interaktion [...] Der<br />
Prozess der Aufführung verbindet die individuelle<br />
Freiheit des Einzelnen zur Modifikation der Struktur<br />
mit der daraus resultierenden sozialen Interaktion in der<br />
Gruppe von Musizierenden. Diese nicht-hierarchische
Form der Kreativität lässt sich mit der so genannten<br />
Bottom-up-Struktur vergleichen, in der eine Open-<br />
Source-Software wie Linux von ihren Nutzern<br />
weiterentwickelt wird. In beiden Fällen kann ein<br />
gegebener Zeichencode so variiert und uminterpretiert<br />
werden, dass die Grenze zwischen Autor und Nutzer<br />
fließend wird.<br />
Der Gegentyp wäre die Top-down-Struktur, die sich in<br />
der präzise fixierten Notation einer klassischen<br />
Komposition ebenso findet wie in der proprietären<br />
Software, die Bill Gates' Microsoft Corp. entwickelt und<br />
für die die Geheimhaltung des Quellcodes die Basis eines<br />
kapitalistischen Monopols bildet. [...]<br />
Komposition soll für Cage kein möglichst perfektes Betriebssystem<br />
für Musikinstrumente liefern, sondern<br />
einen individuellen und sozialen Kreativitätsprozess in<br />
Gang setzen, der sich sukzessive von der Intention seines<br />
Initiators ablösen kann. Die Software von Bill Gates und<br />
anderen proprietären Systemen hält demgegenüber ihre<br />
Nutzer in Unkenntnis der Strukturen, die ihre ,Autoren‘
ihr eingeschrieben haben. Das Modell des tiefen<br />
Geheimnisses aller Kreativität, welches dem guten, alten<br />
idealistischen Kunstbegriff entlehnt ist, wird nur noch<br />
artifiziell aufrechterhalten und statt den hehren Zielen<br />
des Genies dient es dem schnöden Mammon des<br />
Monopols.<br />
#<br />
Früher Nachmittag, kurz vor Turin. Klingeling. Eine<br />
unbekannte Nummer, wie schon so viele heute. Aus<br />
England, diesmal.<br />
Es war eine neue Sekretärin von Max. „Darf ich<br />
verbinden?“<br />
„Natürlich“, sagte ich.<br />
Kurze Pause, My Sweet Lord tönte vom Band. Passende<br />
Wahl.<br />
„Hey, Mann! Coole Aktion gestern bei MTV“, sagte<br />
Max.
Ich bemühte mich, meine Stimme locker und<br />
selbstbewusst klingen zu lassen. „Ja, nicht wahr?“ sagte<br />
ich. „Und heute haben wir eine noch bessere Aktion<br />
geliefert. Hast du es im Fernsehen gesehen?“<br />
„Nein, ich hab nur den Bericht im Guardian gelesen.<br />
Unsere Presseabteilung sagt, dass auch bei der Times<br />
und ein paar Yellow Papers Artikel darüber recherchiert<br />
werden. Und scheinbar werden auch Der Spiegel, Le<br />
Monde und Liberation Kurzmeldungen bringen.“<br />
Und El Pais, dachte ich. Redakteure all dieser Zeitungen<br />
und noch einiger mehr hatten mich heute angerufen.<br />
Er fuhr fort. „Und El Pais, die NZZ, die Süddeutsche<br />
und die Zeit vermutlich auch. Alles, was zählt.“<br />
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und versuchte es<br />
mit: „Schau mal einer an.“<br />
„Ja, das tun wir sehr genau“, sagte Max. „Ich finde diese<br />
Entwicklung überaus ...“ Die Pause dauerte eine<br />
Ewigkeit. „... interessant. Der Werbe-Wert für Volvox<br />
ist beachtlich. Die Eigentümer sind etwas aus dem<br />
Häuschen, die wollten die Sache schließlich ruhig
angehen. Aber ich bin zufrieden. Wir lassen uns was<br />
einfallen, wir werden nachlegen.“<br />
In den paar Augenblicken, während uns die Sekretärin<br />
verband, hatte ich zu hoffen begonnen, Max würde kalte<br />
Füße bekommen und einfach versuchen, aus der Sache<br />
ohne Gesichtsverlust auszusteigen. Ein kurzer, schneller<br />
Sieg …<br />
Fehlanzeige.<br />
„In diesem Sinne wollte ich dir zu deiner erstklassigen<br />
Pressearbeit gratulieren“, sagte er. „Weiter so, Junge.“<br />
„Danke“, sagte ich.<br />
„Wir hören uns.“<br />
„Ja.“<br />
Brescia, Alessandria, Parma. Ausverkaufte Konzerte.<br />
Okay, wir spielten immer noch in recht kleinen Sälen,<br />
aber es war dennoch ein ganz neues Gefühl, ein sehr<br />
#
gutes Gefühl. Plötzlich merkte ich: Ich hatte Angst, es<br />
wieder zu verlieren.<br />
„Wir sollten nachsetzen“, sagte ich zu Eugene.<br />
„Morgen, in Venedig“, antwortete er.<br />
#<br />
Wir begannen bei der Basilica di Santa Maria della<br />
Salute, die pompös die östliche Spitze der Insel besetzt<br />
und so das Ende des Canale Grande markiert. Dann<br />
ging es weiter zur Accademia. Eine ehemalige Kirche, die<br />
nun als Galerie für alte Meister dient. „Carpaccio,<br />
Giorgione, Bellini, Tizian“, sagte Anna in die Kamera.<br />
Mit dem dicken roten Marker schrieb sie „Das gehört<br />
uns!“ auf eine Informationstafel, die an der Wand der<br />
Accademia angebracht war.<br />
Dann liefen wir wieder etwas weiter. Wir, das waren die<br />
Band und ein TV-Team von RAI Uno, das einen<br />
Bericht über uns drehte. Ich hatte das eingefädelt.<br />
Nächster Halt: die Peggy Guggenheim Collection.
„Picasso, Kandinsky, Chagall, Dalì, Magritte, Mondrian,<br />
Brancusi, Miró“, sagte Anna in die Kamera und sprayte<br />
dann auf den Boden vor den Eingang: Das gehört uns!<br />
Dann weiter zur Markuskirche, zum berühmten<br />
Glockenturm, zum Dogenpalast. Überall hinterließen<br />
wir unser Zeichen.<br />
„Was wollt ihr mit dieser Aktion erreichen?“, fragte die<br />
Fernsehreporterin.<br />
Anna befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze und<br />
sagte dann: „Uns geht es um die Freiheit der Kunst. Wir<br />
wollen zeigen, dass Kultur uns allen gehören muss und<br />
nicht einigen wenigen Konzernen überlassen werden<br />
darf.“<br />
Danke. Schnitt.<br />
Der Beitrag würde achtzig Sekunden dauern, mehr<br />
Material brauchte die Reporterin nicht. Sie hatte es eilig<br />
und wollte ins Studio.<br />
„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich an“, sagte<br />
ich und sie nickte. Aber ich wusste, dass sie keine Fragen<br />
mehr haben würde.
Eugene kam hinzu. „Wissen Sie, was das hier für ein<br />
Gebäude ist?“, fragte er die Reporterin.<br />
Sie blinzelte verwirrt. „Der Dogenpalast.“<br />
„Natürlich“, sagte Eugene. „Aber wissen Sie, welche<br />
Rolle er in dieser Geschichte spielt?“<br />
„Welche Rolle er spielt?“<br />
„In diesem Gebäude wurde praktisch das Copyright<br />
erfunden.“<br />
„Tatsächlich?“ Sie blinzelte wieder.<br />
„Ja, natürlich. Im Jahr 1469 gewährte der Rat von<br />
Venedig ...“<br />
„Wann?“ fragte sie.<br />
„Vierzehnhundertneunundsechzig.“<br />
„Ich glaube nicht, dass das für unsere Story wirklich von<br />
Relevanz ist“, sagte sie. „Wir müssen jetzt zurück ins<br />
Studio.“<br />
Eugene zuckte mit den Achseln und schüttelte den<br />
Kopf. „Dann eben nicht.“<br />
Am Abend setzte er sich mit seinem Notebook und einer<br />
Handvoll Büchern an den Couchtisch im Bus. Er
schrieb einen Eintrag für den Blog, einen Text über die<br />
Erfindung des Buchdrucks, Venedig, seine Herrscher<br />
und das Recht auf Vervielfältigung von Information. Er<br />
gab mir den Text zu lesen und ich straffte ein paar Sätze,<br />
dann luden wir ihn hoch. Ich fand es ganz witzig,<br />
unseren Aktionen den Anstrich einer philosophischen<br />
Grundlage zu geben. Nicht dass ich dem Blog viel<br />
Bedeutung beigemessen hätte. Aber wenn wir schon<br />
einen Professor im Team hatten, warum ihn dann nicht<br />
nutzen?<br />
Anna küsste mich. Nur auf die Wange, aber immerhin.<br />
„Wir waren im Fernsehen!“, jubelte sie.<br />
„Ja, wir waren im Fernsehen.“<br />
„Ich war noch nie im Fernsehen“, sagte sie.<br />
„Tja.“ Ich auch nicht, aber warum sollte ich das<br />
betonen?<br />
#
„Das ist fantastisch, absolut großartig. Das hast du gut<br />
gemacht!“ Sie gab mir mit dem Ellbogen einen<br />
freundschaftlichen Schubs.<br />
„Ich dachte, meine Medienarbeit ist scheiße?“<br />
„Wer hat das gesagt?“<br />
„Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.“<br />
„Na, dann solltest du es vergessen.“<br />
„Gut. Wird gemacht.“<br />
„Im Ernst: Danke.“<br />
„Im Ernst: Bitte. Gern geschehen.“ Ich versuchte, ihr tief<br />
und irgendwie bedeutungsvoll in die Augen zu blicken,<br />
aber sie wich aus.<br />
Stattdessen sagte sie: „Weißt du, als kleines Mädchen, da<br />
bin ich immer im Jazz-Pub meines Vaters gewesen, ich<br />
war immer lange auf, viel länger, als kleine Mädchen<br />
sonst auf sein dürfen, und ich habe immer die Sänger<br />
und vor allem die Sängerinnen bewundert. Ich musste<br />
mich immer verstecken, weil ich ja noch so jung war,<br />
und ich habe sie immer dafür bewundert, dass sie auf der<br />
Bühne stehen durften. Im Scheinwerferlicht. Einmal ist
Joan Baez bei uns aufgetreten. Das war fantastisch. So<br />
wie sie wollte ich seit dem immer sein. Eine<br />
Protestsängerin. Jemand, der die Leute aufrüttelt, der<br />
ihnen Feuer unterm Arsch macht. Ich war nur nie<br />
politisch genug. Und jetzt haben wir, irgendwie, eine<br />
Message.“<br />
Ihre Augen blitzten, sie provozierte mich. Aber ich hielt<br />
ihrem Blick stand. Nach ein paar Sekunden öffnete sie<br />
ihre Lippen zu einem Spalt, wollte etwas sagen, aber ich<br />
schob meine Hand in ihren Nacken, unter die Haare,<br />
packte zu, zog sie zu mir und küsste sie. Kurz schien es,<br />
als würde sie sich sträuben, aber dann wich die<br />
Anspannung aus ihrem Körper und sie gab nach.<br />
Nach dem Kuss drehte sie sich wortlos um und<br />
schlenderte betont lässig davon. Mein Blick folgte ihren<br />
Hüften.<br />
Und dann fragte ich mich, mit wem sie heute Abend<br />
schlafen würde.<br />
#
Es war der bisher heißeste Tag des Jahres. Die Schwüle<br />
war drückend, der Schweiß lief uns aus allen Poren. Die<br />
Gärten leuchteten in saftigem Grün, aber wir rannten<br />
und lachten und hatten keine Zeit, darauf zu achten. Ich<br />
kann mich noch erinnern, wie Annas T-Shirt nass an<br />
ihrem Körper klebte. Ich lief direkt hinter ihr und<br />
Carlos. Neben mir lief Dmitri. Hinter uns liefen die<br />
beiden Pseudo-Uniformierten. Leute von einem privaten<br />
Wachdienst, ausgerüstet mit nichts als Plattfüßen. Wir<br />
erreichten den Bus mit bequemem Vorsprung und<br />
Carlos schloss die Tür, winkte ihnen freundlich zu und<br />
wir brausten davon.<br />
Wir rasten durch die engen Gassen der Altstadt von<br />
Padua, weg von den Giardini dell`Arena und der am<br />
Rand der Gärten stehenden Kapelle, in der die<br />
berühmten Fresken zu sehen waren. Anfang des<br />
vierzehnten Jahrhunderts hatte der Maler Giotto, ein<br />
Freund Dantes, hier das Leben Jesu auf die Decke der<br />
Kapelle gemalt. Eugene hatte uns empfohlen, uns diese
Fresken anzusehen. „Sie sind berühmt, sie sind genial“,<br />
sagte er. Und wenn wir schon mal dabei wären, meinte<br />
er, könnten wir ja auch die Wachleute ein wenig ärgern.<br />
Während wir also liefen, schrieb Eugene vor dem<br />
Eingang der Kapelle, genau dort, wo zuvor die<br />
Sicherheitsleute gestanden hatten, mit neonrosa Spray<br />
auf den Boden: „Das gehört uns!“<br />
Dann ging er in aller Ruhe in die andere Richtung<br />
davon, stieg schließlich in ein Taxi und fuhr los.<br />
Wir trafen uns an einer Tankstelle am Stadtrand.<br />
#<br />
Dann Verona. Nach dem Konzert im Interzona scharten<br />
sich ein paar Dutzend Leute um uns.<br />
„Wo werdet ihr morgen eure Schweigeminute halten?“,<br />
fragten sie und machten gleich Vorschläge.<br />
„Vor der Arena natürlich!“, rief ein Mädchen, und ein<br />
Bursche antwortete: „Nein, macht es in der Arena!“
„In der Arena? Du spinnst, da kommen wir nie rein“,<br />
sagte sie, und jemand anders sagte: „Na klar, wir zahlen<br />
ganz normal Eintritt. Dann müssen sie uns reinlassen.“<br />
„Nicht mal dann lassen sie die Band hinein“, meinte<br />
jemand, und Eugene sagte sehr bestimmt: „Wir zahlen<br />
ganz sicher keinen Eintritt irgendwo.“<br />
„Dann stürmen wir die Arena eben“, schlug jemand vor.<br />
„Wenn die Bonzen dort ihre Opern aufführen dürfen,<br />
dann können wir auch hinein.“<br />
„Macht es doch im Hof von Julias Haus“, schlug ein<br />
Mädchen vor. Die Männer stöhnten genervt auf. „Oder<br />
warum nicht gleich am Balkon?“, fragte einer.<br />
„Was ist mit Castelvecchio?“, fragte eine Frau. Sie war<br />
attraktiv, Ende zwanzig, Anfang Dreißig. Ein paar Jahre<br />
älter als der Durchschnitt hier. Sie trug auch deutlich<br />
teurere Kleidung. Sie hatte lange, schwarze Haare mit<br />
einer einzelnen blitzblauen Strähne.<br />
Ich beugte meinen Kopf an Carlos’ Ohr. „Polizei?“<br />
„Kaum“, raunte er. „Außer ihre Tarnung ist so schlecht,<br />
dass sie schon wieder gut ist.“
„Gute Idee“, sagte jemand. „Da gibt’s jede Menge<br />
Renaissance-Gemälde. Bellini und so.“<br />
Es kamen noch sechs, sieben andere Vorschläge, Diskussionen<br />
entspannten sich, die Gruppe zerfiel in<br />
Untergruppen, ohne dass eine Entscheidung gefällt<br />
worden wäre.<br />
Eugene, Anna und ich drängten zur Bar, Carlos zog sich<br />
zurück, er wollte schlafen, Dmitri begleitet ihn. Anna<br />
bestellte drei Bier und drei Wodka.<br />
Die Frau mit der blauen Sträne stand plötzlich neben<br />
uns, lächelte.<br />
Eugene lächelte zurück.<br />
„Sophia“, sagte sie.<br />
„Eugene“, sagte er. Und zu Anna: „Vier Bier, vier<br />
Wodka.“<br />
Am nächsten Tag hielten wir unser kleines Konzert und<br />
die Schweigeminute übrigens tatsächlich vor<br />
Castelvecchio. Es waren fast hundert Leute anwesend.<br />
Ich könnte auch Fans schreiben. Hey, wir hatten Fans!
#<br />
Vicenza. (Ich glaube zumindest, dass diese Szene nach<br />
Vicenza gehört.)<br />
Wir parkten im Hinterhof des Lokals, in dem wir am<br />
Abend auftreten sollten. Auf uns wartete ein<br />
Empfangskomitee. Der Wirt – und zwei Polizisten in<br />
Zivil.<br />
„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Eugene auf Englisch.<br />
Es lag leichter Spott in seiner Stimme.<br />
„Sie könnten aufhören, das Eigentum anderer Menschen<br />
zu beschädigen“, antwortete der Jüngere der beiden. Er<br />
hatte einen leichten Akzent, aber sein Englisch war<br />
ausgesprochen gut.<br />
„Okay“, sagte Eugene und ging an ihm vorbei. „Noch<br />
was?“<br />
„Wollen Sie ins Gefängnis?“, fragte der Polizist. „Ist das<br />
ihr Ziel? Ist das ein Marketing-Trick?“<br />
Eugene blieb stehen, drehte sich um. „Nein. Und<br />
warum sollte ich ins Gefängnis kommen? Weil wir ein
Türschild von MTV beschmiert haben? Ist MTV schon<br />
so mächtig?“<br />
„Was ist mit Padua? In den Giardini dell’Arena? Wir<br />
haben die Videoaufnahmen davon, wie Sie ...“<br />
„Sie haben Videoaufnahmen? Das steht dutzendfach auf<br />
YouTube! Und was wollen Sie uns vorwerfen? Wir<br />
haben den Boden besprayt. Öffentlichen Grund.“<br />
„Eben, öffentlicher Grund. Das heißt nicht, dass Sie ihn<br />
für Ihre Privatzwecke nutzen dürfen.“<br />
„Ich habe dadurch niemandem etwas weggenommen.<br />
Die Freiheit des Einzelnen reicht bis zu dem Punkt, wo<br />
die Freiheit des Nächsten beginnt, oder nicht?“<br />
„Klar. Aber das ist trotzdem nicht Ihr Grund und<br />
Boden.“<br />
„Na, wenn es öffentlicher Raum ist, gehört er allen<br />
Menschen. Dann ist es auch mein Raum.“<br />
„Dieser Raum gehört allen Italienern. Sie sind, wenn ich<br />
richtig informiert bin, Amerikaner.“<br />
„Oh. Okay. Gegen diese nationalistische Engstirnigkeit<br />
habe ich keine Argumente mehr“, sagte Eugene.
Die beiden Polizisten gingen. Der Grauhaarige drehte<br />
sich an der Einfahrt zum Hof noch einmal um und rief<br />
mit seinem schweren Akzent „Be carrfull, guyss“, und<br />
weg waren sie.<br />
„Was war das jetzt?“, fragte ich Anna. Sie sah<br />
verunsichert drein.<br />
#<br />
Bevor wir Vicenza am nächsten Morgen verließen, gaben<br />
wir ein kleines Open-Air-Konzert am Dach unseres<br />
Busses in der kleinen Fußgängerzone vor der Basilica<br />
Palladiana. Palladio war einer der bedeutendsten<br />
Architekten der Renaissance, er hat Generationen nach<br />
ihm beeinflusst, sagte Eugene. Meinetwegen.<br />
Nach der Schweigeminute sprang Eugene aus dem Bus<br />
und sprayte direkt vor dem Eingang zur Basilika auf den<br />
Boden: Das gehört uns!<br />
Klick. Klick. Die Touristen und ein paar Presseleute<br />
machten ihre Fotos.
„Zivilpolizisten“, raunte mir Carlos ins Ohr und deutete<br />
auf zwei Männer, die sich möglichst unauffällig hinter<br />
Eugene positionierten. Sie ließen ihn gewähren. Eugene<br />
stieg in den Bus, wir kletterten vom Dach und fuhren<br />
weg.<br />
#<br />
Bologna. Das Konzert war ausverkauft, vor dem Lokal<br />
stand eine riesige Traube von Menschen, die nicht mehr<br />
hineinkamen.<br />
Am nächsten Tag spielten wir vor der Universität. „Die<br />
Erste der Welt“, sagte Eugene mindestens fünfmal. Vom<br />
Dach des Busses aus versuchte ich die Anzahl der<br />
Menschen zu schätzen.<br />
„Fünfhundert?“<br />
„Mehr“, sagte Dmitri.<br />
„Viel mehr“, sagte Carlos.<br />
„Die Freiheit des Wissens ist die Grundlage, die<br />
Existenzberechtigung einer Universität. Ohne die freie
Weitergabe von Wissen an den europäischen<br />
Universitäten wäre die Welt heute noch im finsteren<br />
Mittelalter gefangen“, rief Anna. Eugene hatte ihr das<br />
auf einen Zettel geschrieben. Die Leute stimmten ihr<br />
begeistert zu, viele linke Fäuste wurden in die Höhe<br />
gereckt, ich sah rote Fahnen, rote Sterne, Ché-T-Shirts<br />
und so weiter.<br />
Mehrere Menschen sprayten „Das gehört uns“ auf die<br />
Wände der Universität, auf den Boden, auf benachbarte<br />
Häuser. Die Polizei schaute zu und griff nicht ein.<br />
#<br />
Österreich, Celovec. Kaum Publikum. Entweder<br />
beschränkte sich unser Ruf auf Italien, was eine schlechte<br />
Nachricht gewesen wäre, oder wir waren hier nicht<br />
willkommen. Drei Punks tanzten nach dem Konzert auf<br />
der Straße weiter. Eugene stieg in den Bus, schaltete das<br />
Sound-System ein und spielte eine CD von den<br />
Ramones. Bald waren es fünf Punks, die auf der Straße
tanzten, dann sieben, dann zehn. Nach zwanzig<br />
Minuten fuhren ein paar weiße Kleinbusse vor und<br />
luden drei Dutzend Polizisten aus. Sie kreisten uns ein.<br />
Die Lokalredaktion des staatlichen Rundfunks schickte<br />
ein Kamerateam, aber nach einem kurzen Gespräch mit<br />
dem Kommandanten der Polizei fuhren die Journalisten<br />
wieder ab, ohne eine Sekunde Material gedreht zu<br />
haben.<br />
Der Kommandant kam zu Eugene und forderte ihn auf,<br />
die Musik abzudrehen. Eugene behauptete, kein<br />
Deutsch zu verstehen. Der Kommandant sagte auf<br />
Englisch, dass er wisse, wer wir seien, und dass er uns<br />
nicht den Gefallen tun werde, uns zu verhaften.<br />
Entweder wir würden sofort verschwinden oder die<br />
jungen Punks würden in den nächsten Wochen jede<br />
Menge Probleme bekommen. Denn sie würden bleiben,<br />
wenn wir wieder weg seien, sagte der Kommandant.<br />
Eugene drehte die Musik ab.<br />
„Willst du baden gehen?“, fragte mich Anna.<br />
„Wo?“
„Im Wörthersee.“<br />
Ich schwamm weit hinaus und genoss das kalte Wasser.<br />
Es war fast Neumond und entsprechend dunkel, und ich<br />
mochte das gruselige Gefühl, absolut nichts zu sehen.<br />
Plötzlich berührte mich etwas von hinten an der<br />
Schulter, und ich schrie leise auf.<br />
Anna lachte.<br />
„Hast du mich erschreckt“, flüsterte ich.<br />
„Warum flüsterst du?“, fragte sie, genauso leise.<br />
„Keine Ahnung. Warum flüsterst du?“<br />
Sie kicherte wieder. „Wusste gar nicht, dass du bei<br />
Nacht im Wasser so schreckhaft bist.“<br />
„Wer ist das nicht?“, fragte ich, aber ich wusste, worauf<br />
sie anspielte.<br />
Sie schwamm direkt neben mir, unsere Unterarme<br />
berührten sich. Sie war nackt, ich wusste es, auch wenn<br />
ich nichts sehen konnte. Sie war genauso nackt wie ich.<br />
„Und jetzt?“, fragte sie.<br />
Ich griff nach ihr, zog sie näher zu mir heran, spürte<br />
ihren Busen an meinem Brustkorb. Da packte sie mich
mit beiden Armen an den Schultern und drückte mich<br />
unter Wasser.<br />
Als ich wieder auftauchte, war sie weg.<br />
#<br />
Graz, zwei Tage. Ein Konzert an einem Ort namens<br />
„Dom im Berg“, einem Kulturzentrum in ehemaligen<br />
Luftschutzstollen, die durch einen gigantischen Felsen<br />
mitten in der Stadt getrieben worden waren.<br />
Wir wurden empfangen von einem Kurator, der ganz<br />
aufgeregt war und uns atemlos den größeren Kontext<br />
dessen, was wir taten, erklärte, und warum er sich so auf<br />
unseren Auftritt freue. Er verstehe nichts von<br />
Punkmusik, sagte er, aber das sei gar nicht wichtig. Er<br />
sprach von einer „Leitidee“ seines Projektes, davon,<br />
„Forschungsergebnisse der Kommunikations- und<br />
Informationstechnologien sowie deren Potenziale im<br />
sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext<br />
präsentieren“ und „global kommunizieren“ zu wollen,
von einem „Kommunikationsenvironment, dessen<br />
Kommunikationsebenen sowohl lokaler Natur sind, in<br />
Form von Veranstaltungen, Ausstellungen,<br />
Aufführungen, et cetera, als auch globaler Natur, auf der<br />
Basis der telematischen Kommunikationstechnologien,<br />
Internet, Satellit, et cetera“, er sprach von „globalen<br />
Informationsflüssen im Interesse eines besseren<br />
gegenseitigen Verständnisses“, er sprach davon, „den<br />
Transformationsprozess in die Wissensgesellschaft<br />
begleiten und kommentieren und an vorderster Front<br />
mittels der Informations- und Kommunikationsprozesse<br />
zur Stärkung der sozialen Bindungen in einer offenen<br />
Gesellschaft beitragen“ zu wollen, „um in dieser<br />
hochtechnologischen Kommunikationsgesellschaft die<br />
für die demokratiepolitischen Entscheidungs- und<br />
Evaluierungsprozesse qualifizierten Grundlagen zu<br />
vermitteln“.<br />
Und wegen all dessen, sagte er, war es so wichtig, dass<br />
wir in seinem Kulturzentrum auftraten, denn wir mit<br />
unserem Widerstand gegen die Plattenindustrie wären
Prototypen der Künstler, wie er sie sich wünschte.<br />
Eugene verstand sich prächtig mit ihm.<br />
Wir anderen warfen uns fragende Blicke zu.<br />
„Ist ja irre“, sagte Carlos. „Und ich dachte, wir machen<br />
einfach nur Punk.“<br />
„Von wegen“, sagte Dmitri. „Wir machen offensichtlich<br />
Weltrevolution.“<br />
Das Konzert wurde dann ganz gut, trotz der gewaltigen<br />
Last auf unseren Schultern.<br />
„Weltrevolution zu machen fühlt sich irgendwie gar<br />
nicht so außergewöhnlich an“, sagte ich danach.<br />
„Und wer hat dir versprochen, dass es nicht profan sein<br />
würde?“, fragte Dmitri.<br />
Am nächsten Nachmittag gaben wir ein spontanes<br />
Konzert auf dem Hauptplatz. Das war in Graz jahrelang<br />
der Ort gewesen, an dem die Punks und die<br />
Obdachlosen und andere Menschen ohne Erwerbszwang<br />
ihre Zeit verbracht hatten, erklärten uns Dmitri und<br />
Carlos. Dann seien diese Menschen von der Stadtverwaltung<br />
und der Polizei vertrieben worden, weil sie das
av-sauber-biedere Stadtbild störten und angeblich<br />
schlecht für den Tourismus seien. Das sei geschehen,<br />
kurz nachdem sich die Stadt ein Jahr lang als<br />
Kulturhauptstadt Europas hatte feiern lassen.<br />
„Eine Schande“, sagte Carlos.<br />
Wir fuhren also mit dem Bus vor und gaben ein<br />
Konzert. Die Punks tanzten, die Touristen glotzten und<br />
zwei Obdachlose gingen die Reihen der Zuschauer ab<br />
und baten um Spenden. Zwei Streifenpolizisten, die<br />
gerade zufällig vor Ort waren, riefen über Funk<br />
Verstärkung, die auch kam, aber niemand schritt ein.<br />
Als wir später die Stadt verließen, begleiteten uns eine<br />
Zeit lang zwei Streifenwagen, doch auf der Autobahn<br />
ließ man uns allein.<br />
Wien. Abends ein Konzert in einem ehemaligen<br />
Schlachthof namens Arena, mit über 250 zahlenden<br />
Gästen. Beim Eingang kontrollierte eine Gruppe<br />
#
schwarz gekleideter Schwergewichte die Eintrittskarten.<br />
Ein junger Punk, der versuchte, sich ohne Karte<br />
reinzuschummeln, wurde erwischt. Zwei der Muskelpakete<br />
packen ihn recht unsanft und bugsierten ihn zur<br />
Seite.<br />
„Hey!“, rief Eugene. „Das ist ein Freund von uns! Lasst<br />
ihn los!“<br />
Die Dicken ließen den Jungen laufen. Er kam zu uns<br />
rüber, sah Eugene misstrauisch an. Der klopfte ihm auf<br />
die Schulter, begrüßte ihn wie einen alten Freund.<br />
„Geh ruhig rein!“, sagte er.<br />
„Danke“, sagte der Junge und drückte sich an uns<br />
vorbei.<br />
„Früher war das mal ein autonomes Zentrum“, sagte<br />
Eugene. „Da hätten sie niemanden abgewiesen, nur weil<br />
er kein Geld hatte.“<br />
„Die Zeiten ändern sich“, sagte ich.<br />
„Ja, das tun sie tatsächlich.“<br />
Gegen drei Uhr morgens spazierten Eugene<br />
und ich durch die Innenstadt. Mit rotem Spray
schrieben wir „Das gehört mir“ auf das<br />
Musikvereinshaus, die Staatsoper, das Haus ohne<br />
Augenbrauen, das Kulturhistorische Museum, das<br />
Leopoldmuseum, die Pallas-Athene-Statue vor dem<br />
Parlament, das Burgtheater, die Universität, die<br />
Votivkirche, dann – das fand Eugene besonders lustig –<br />
auf die Börse, das Café Central und schließlich auf den<br />
Stephansdom.<br />
#<br />
Ich dachte viel über Eugenes Vorschläge zu meinem<br />
Roman nach. Aber sie funktionierten für mich nicht.<br />
Mittelalterliche Universitäten, Ketzer, Buchdruck,<br />
Inquisitoren, Reformation und Gegenreformation ... das<br />
war einfach nicht meine Welt. Sicher spannend, aber<br />
einfach nicht meine Welt.<br />
Dennoch gefiel mir Eugenes politisch-philosophischhistorischer<br />
Zugang, ich brauchte nur eine Möglichkeit,<br />
ihn auf meine Möglichkeiten umzulegen. Meine
Möglichkeiten, das hieß Musik-Biz. Und Wien brachte<br />
mich auf eine Idee, und die entwickelte sich zunächst gar<br />
nicht schlecht, als ich zu recherchieren begann: einen<br />
Roman über die Frühzeit der Musikbranche zu<br />
schreiben, über Haydn und Mozart und Beethoven. Mir<br />
fehlte nur die Meta-Ebene, vorerst.<br />
Ich recherchierte einen Tag, dann noch einen, und kam<br />
vom Hundertsten ins Tausendste, von der Klassik zum<br />
Barock, von Wien nach London.<br />
„Was liest du da alles?“, fragte Eugene schließlich.<br />
„Ich recherchiere für meinen Roman“, sagte ich. „Aber<br />
ich komme völlig durcheinander ...“<br />
„Erzähl es mir“, sagte er. „Vielleicht kannst du dabei<br />
deine Gedanken sortieren.“<br />
Ich nickte. Aber wo beginnen? „Im Barock gibt es nur<br />
zwei Möglichkeiten, von der Musik zu leben: Entweder<br />
man ist bei einem Fürsten angestellt – oder bei der<br />
Kirche.“<br />
„Genau genommen war das nicht nur im Barock so,<br />
sondern seit den frühen Hochkulturen“, fiel mir Eugene
sofort ins Wort. Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Er<br />
biss sich auf die Unterlippe.<br />
„Das gemeine Volk hat natürlich auch seine Musik,<br />
Volkslieder eben, die von Generation zu Generation<br />
weiter- gegeben werden, bis sich ihr Ursprung verloren<br />
hat. Nur, davon kann niemand leben. Der Adel und der<br />
Klerus dagegen halten sich Orchester und Organisten<br />
und schmücken sich mit berühmten Komponisten, die<br />
ihnen Kirchenlieder oder Opern widmen. Bach<br />
beispielsweise ist Konzertmeister in Weimar, Händel lebt<br />
und arbeitet in Hamburg, dann in Italien, dann geht er<br />
nach England.<br />
Wir schreiben das Jahr 1710. Händel findet auch in<br />
England Mäzene, bald ist sogar Queen Anne darunter,<br />
die ihm als Entlohnung für eine ihr gewidmete<br />
Komposition eine lebenslange Rente gewährt. Später<br />
erhöht Georg I. Händels Gehalt. Und so weiter. Händel<br />
ist berühmt, er sammelt Mäzene geradezu, ihm Geld<br />
geben zu dürfen scheint in London ein Statussymbol zu<br />
sein. Aber nach ein paar Jahren wird ihm das
offensichtlich zu langweilig. Und dann erfindet er,<br />
gemeinsam mit ein paar Investoren, die Musikindustrie.<br />
Im Jahr 1719 liegt England im Börsenfieber. Das muss<br />
wie beim New-Economy-Boom gewesen sein. Und es ist<br />
auch eine New Economy: Der Südseehandel verspricht<br />
gigantische Gewinne und die Leute tragen ihr ganzes<br />
Erspartes an die Börse. Risikokapital, das nur nach<br />
Unternehmern sucht, die eine neue Idee haben.<br />
Irgendeine Idee.“<br />
„Und Händel hat eine Idee?“, fragte Eugene.<br />
„Ich weiß nicht, ob die Idee wirklich von ihm stammt.<br />
Aber irgendjemand kommt auf den Gedanken, in einem<br />
Londoner Theater italienische Opern aufzuführen und<br />
vom Publikum Eintrittsgeld zu kassieren. Für ein solches<br />
Projekt braucht man keine Mäzene, sondern Teilhaber.<br />
Also gründen ein paar Finanzinvestoren eine<br />
Aktiengesellschaft, der König übernimmt die Patronanz<br />
und Händel wird musikalischer Direktor. Er komponiert<br />
Opern, leitet ihre Aufführungen und reist<br />
zwischendurch durch ganz Europa, um Musiker und
Sänger zu engagieren. Personal. Das Unternehmen heißt<br />
Royal Academy of Music und ist der erste Musikkonzern<br />
der Weltgeschichte.“<br />
„Faszinierend. Ist das gut gegangen?“<br />
„Nicht wirklich. Es lief nicht anders als beim New-<br />
Economy-Boom: Die Börsenblase platzte, England<br />
schlitterte in eine längere Rezession, das Unternehmen<br />
ging pleite. Das Theater gibt es noch, inzwischen ist es<br />
auch kommerziell erfolgreich. Dort läuft inzwischen seit<br />
mehr als zwanzig Jahren Das Phantom der Oper.“<br />
Eugene rümpfte die Nase: „Oh.“<br />
„Tja, der Fluch des Kommerzes. Händel jedenfalls ließ<br />
sich durch den Misserfolg nicht entmutigen, übernahm<br />
die Firma und führte sie noch lange in<br />
Eigenverantwortung. Die Geschäfte dürften die meiste<br />
Zeit nicht besonders gegangen sein, aber gut genug, um<br />
auch Konkurrenzunternehmen entstehen zu lassen. Als<br />
Händel starb, gab es in London also schon tatsächlich so<br />
etwas wie eine Musikbranche.
Und jetzt kommt Joseph Haydn ins Spiel. Haydn und<br />
die Wiener Klassik. Joseph Haydn arbeitete für die<br />
Esterházys, jahrzehntelang, und er trug dabei die<br />
Uniform der Dienerschaft. Dann starb der Fürst und die<br />
Erben entließen den berühmten Kapellmeister, der ging<br />
nach London, führte Konzerte auf und wurde reich. Erst<br />
ihm hohen Alter kehrte er nach Wien zurück, und nun<br />
besaß er ein eigenes Haus und stellte eigene Diener an.“<br />
„Interessant“, sagte Eugene<br />
„Aber noch interessanter ist die Zeit bevor Haydn nach<br />
London ging. Er als livrierter Diener und der eine<br />
Generation jüngere Mozart, der sein Leben lang eine<br />
Festanstellung bei einem Mäzen suchte und nie fand,<br />
beide in einer Stadt. Sie treiben sich gegenseitig zu<br />
Höchstleistungen an. Das war ab 1781. Innerhalb<br />
weniger Jahre erheben diese beiden Wien zur<br />
Welthauptstadt der Musik, praktisch aus dem Nichts.<br />
1787 möchte sich ein junger Mann aus Flandern zum<br />
Komponisten ausbilden lassen und er reist nicht nach<br />
Italien, wie er es nur eine Generation davor sicher
gemacht hätte, auch nicht nach London, sondern er reist<br />
an die Donau. Sein Name ...“<br />
„Aus Flandern, das war Ludwig van Beethoven“, sagte<br />
Eugene.<br />
„Genau. Beethoven ist gerade mal 17 Jahre alt, als er bei<br />
Mozart anklopft und als Schüler aufgenommen werden<br />
will. Aber Amadeus lehnt ab, er schreibt gerade am Don<br />
Giovanni und hat keine Zeit für einen weiteren Schüler.<br />
Enttäuscht kehrt der junge Ludwig heim, bildet sich<br />
selbst weiter, lässt sich von der Begeisterung über die<br />
französische Revolution anstecken, studiert an der<br />
Universität Bonn. Fünf Jahre später kommt er wieder<br />
nach Wien. Mozart ist inzwischen gestorben, aber<br />
Haydn gibt ihm Kompositionsunterricht. Und auch<br />
Salieri nimmt sich des jungen Talents an. Beethoven<br />
wird sein berühmtester Schüler, aber nur einer unter<br />
vielen. Salieri wird alt, über siebzig, und in diesem<br />
langen Leben werden später auch Franz Schubert und<br />
Franz Liszt bei ihm in die Lehre gehen. Er unterrichtet
seinen eigenen Sohn Girolamo und Mozarts Sohn Franz<br />
Xaver ...“<br />
„Salieri hat Mozarts Sohn unterrichtet?“<br />
„Ja. Mozart starb, als sein Sohn gerade mal sechs Monate<br />
alt war. Salieri hat den Knaben dann unterrichtet. Schau<br />
mal, ich habe das mal aufgezeichnet, um einen<br />
Überblick zu bekommen, wer wen beeinflusst hat...“ Ich<br />
zog ein Blatt mit Namen, Kästen, Pfeilen hervor.
Eugene studierte meine Grafik. „Albrechtsberger,<br />
Seyfried, Hummel, Czerny, Süßmayr ... alle nie gehört.“<br />
„Tröste dich, ich auch nicht, bis heute. Aber es ist total<br />
faszinierend, dieses Netzwerk aufzuschlüsseln. Und ich<br />
habe gar nicht alle Verbindungen eingetragen. Im<br />
Grunde ist es so: Im Zentrum hast du die Stars der<br />
Wiener Klassik, oben den Barock, denn die<br />
Barockmusiker, vor allem die Bach-Söhne, haben die<br />
Klassiker geprägt. Nach unten hin beginnt schon die<br />
Musik der Romantik. Der späte Beethoven, Hummel<br />
und Czerny haben den Übergang von der Klassik zur<br />
Romantik vollzogen, Schubert und Liszt sind bereits<br />
Romantiker.“<br />
„Interessant.“<br />
„Aber das ist nicht alles: Liszt war der Schwiegervater<br />
von Richard Wagner, hier rechts ginge es also weiter<br />
nach Bayreuth. Und auf der anderen Seite: Seyfried war<br />
ein Schüler von Mozart und ein Lehrer von Johann<br />
Strauß, dem Vater. Er ist das Bindeglied zwischen
Klassik und Walzer. Links ginge es also an die schöne<br />
blaue Donau.“<br />
Eugene nickte bedächtig. „Wenn man das Blatt groß<br />
genug macht, kriegt man auch noch Britney Spears<br />
drauf.“<br />
Ich lachte. „Ja, aber ich habe etwas besseres: Hummel.“<br />
Ich deutete mit dem Finger auf den entsprechenden<br />
Kasten auf dem Blatt.<br />
„Hummel?“<br />
„Johann Nepomuk Hummel. Er war ein Wunderkind.<br />
Mozart muss sich in ihm wiedererkannt haben, denn er<br />
hat ihn als Schüler angenommen, da war der kleine<br />
Nepomuk gerade mal sieben Jahre alt. Später haben ihn<br />
auch Haydn, Salieri und Albrechtsberger ausgebildet.<br />
Hummel war Haydns Nachfolger als Kapellmeister der<br />
Esterházys. Er war ein enger Freund von Beethoven und<br />
hat die Uraufführung der Neunten Symphonie geleitet,<br />
du weißt schon, die Europahymne, Freude schöner<br />
Götterfunken.“<br />
Eugene summte die Melodie.
„Hummel wird von den Esterházys wegen Faulheit<br />
gekündigt und geht an den Hof nach Weimar. Wiens<br />
große Zeit ist damit vorüber. Beethoven war im Jahr<br />
zuvor gestorben, Schubert hat nur noch wenige Monate<br />
zu leben, Liszt ist nach Paris ausgewandert und Hummel<br />
geht eben nach Weimar. Dort geht die Klassik allerdings<br />
auch zu Ende: Schiller und Herder sind tot, Goethe ein<br />
alter Mann, der nur noch wenige Jahre zu leben hat.<br />
Aber uns interessiert etwas anderes: Hummel wird in<br />
Weimar politisch tätig. Er erkämpft das erste<br />
Urheberrecht für Komponisten.“<br />
Eugene pfiff leise und sah mich überrascht an, sagte aber<br />
nichts. Ich fuhr fort: „Die Musiker haben sich schon<br />
damals mit Raubdrucken herumgeplagt. Tonträger gab<br />
es ja noch keine. Aber es gab Notenbücher, die als<br />
Raubkopien verbreitet wurden, ohne dass die<br />
Komponisten dafür auch nur einen roten Heller sahen.<br />
Hummel hat ein Abkommen erkämpft, in dem sich die<br />
Verleger verpflichteten, Noten nicht mehr ohne<br />
Einverständnis und Entlohnung der Autoren zu
drucken. Das war 1829. Interessant finde ich Folgendes:<br />
Hummels Urheberrecht hat sich ausschließlich gegen das<br />
kommerzielle Raubkopieren gerichtet. Es sollte Künstler<br />
vor Unternehmern schützen und nicht Unternehmer vor<br />
Künstlern. Und schon gar nicht ging es darum, kreative<br />
Nachwuchsmusiker oder musikbegeisterte Kinder zu<br />
kriminalisieren.“<br />
Eugene klatschte in die Hände. „Sehr gut! Und jetzt<br />
musst du irgendwo in diesem Gewirr eine spannende<br />
Handlung für deinen Roman finden.“<br />
„Nein, ich recherchiere noch weiter. Das ist jetzt mal<br />
nur die Grundlage. Diese Musikbranche wurde durch<br />
das Ende der Mäzene zwar kommerziell, aber sie war<br />
immer noch keine Industrie. Dazu hat etwas gefehlt, sagt<br />
der ehemalige Betriebswirtschaftsstudent in mir, nämlich<br />
Massenfertigung. Ab da wird’s wirklich interessant.“<br />
„Okay, dann recherchiere das mal“, sagte Eugene. „Und<br />
schreib alles zusammen. Ist sicher auch interessant für<br />
unseren Blog.“
#<br />
Salzburg. Wir hätten gerne vor Mozarts Geburtshaus ein<br />
kleines Konzert gespielt, aber wir kamen mit dem Bus<br />
nicht in die Getreidegasse. Vor dem Haus war fast ein<br />
Dutzend Polizisten stationiert. Wir ließen es bleiben und<br />
fuhren nach Deutschland weiter.<br />
München, Augsburg, Regensburg.<br />
Wir gaben ein Konzert in Nürnberg und ein Interview<br />
auf Radio Z.<br />
Dann fuhren wir nach Frankfurt am Main, gaben ein<br />
Konzert und ein Interview auf Radio X, einem anderen<br />
freien Sender. In den Interviews redeten Anna und<br />
Eugene. Sie als Sängerin, er als Manager. In beiden<br />
Gesprächen ging es mehr um Politik als unsere Musik,<br />
Eugene redete mehr als Anna. Ich war mir nicht ganz<br />
sicher, ob das optimal war.<br />
#
Als wir durch die Stadt fuhren, deutete Eugene auf einen<br />
der großen Wolkenkratzer mit dem Logo einer Bank<br />
oben drauf.<br />
„Was glaubst du, wie viel Geld die da drin haben?“<br />
„Keine Ahnung“, sagte ich. „Einige Lastwagen voll,<br />
wahrscheinlich.“<br />
„Das glaube ich nicht“, antwortete er. „Ich glaube eher,<br />
da drinnen ist gar kein Geld mehr. Nur noch Computer.<br />
Und darauf lange Reihen von Nullen und Einsen. Wenn<br />
jemand den Stecker zieht, ist der Spuk vorbei.“<br />
#<br />
Thomas Edison erfand 1877 den Phonographen, ein<br />
Gerät, das Sprache auf einer Walze aufzeichnen und<br />
wiedergeben konnte. Er war der erste Mensch, der über<br />
den fremden Klang seiner eigenen Stimme verblüfft war,<br />
als er das Wort „Hello“ aufnahm. Die Aufnahmequalität<br />
war rau und die Technik reichte gerade, um auf
Jahrmärkten für Aufregung zu sorgen. Zur industriellen<br />
Verwertung eignete sie sich aber nicht.<br />
Der Grund dafür lag nicht in der Qualität (die man<br />
verbessern hätte können), sondern der Quantität: Jede<br />
Walze musste einzeln bespielt werden, es gab keine<br />
Möglichkeit, einen Prototypen zu vervielfältigen.<br />
Zehn Jahre später löste ein junger Mann namens Emil<br />
Berliner dieses Problem. Berliner stammte aus dem<br />
deutschen Hannover, war aber schon als 19-Jähriger<br />
nach Amerika ausgewandert. Sein erstes Geld verdiente<br />
er damit, dass er ein Mikrofon für Fernsprecher<br />
entwickelte und das Patent an Graham Bell verkaufte,<br />
der gerade daran arbeitete, sein Telefon tauglich für die<br />
Massenproduktion zu machen.<br />
Massenproduktion war auch Berliners Absicht, als er das<br />
Grammophon entwickelte. Wie Edison zeichnete er<br />
Schallwellen als Vertiefungen auf einem Medium auf,<br />
aber anstatt einer Walze verwendete Berliner eine<br />
Scheibe. Von dieser Scheibe ließ sich durch Abdruck ein<br />
Negativ herstellen – und davon wieder ein Positiv. Oder
mehrere Positive. Viele Positive. Theoretisch<br />
unbegrenzte Mengen identischer Kopien. Die<br />
Schallplattenindustrie war geboren.<br />
1892 gründete Berliner die United States<br />
Grammophone Company in Washington D.C. Der<br />
erste Bestseller des Labels war eine Aufnahme des<br />
Vaterunsers, gesprochen von einem Straßenhändler.<br />
Angeblich setzte Berliner darauf, dass die Menschen bei<br />
einem Gebet mitsprechen und so der kommerzielle<br />
Erfolg nicht an der lausigen Tonqualität mit den vielen<br />
Aussetzern scheitern würde. Natürlich war das kein<br />
zukunftsträchtiges Konzept und so forschte Berliner<br />
weiter. 1895 stieß er schließlich auf das Material<br />
Schellack, eine harzige Substanz, die deutliche bessere<br />
Abbildungsqualität bot.<br />
Emil Berliner hat für die Musik das getan, was<br />
Gutenberg vierhundert Jahre zuvor für die Literatur<br />
geleistet hatte. Das Grammophon war die<br />
Gutenberg’sche Revolution für die Ohren, „the printing<br />
press of sound“. Zu Gutenbergs Zeit waren die meisten
Menschen noch Analphabeten. Wäre das Grammophon<br />
damals schon erfunden worden, es wäre wohl dem<br />
Buchdruck als Massenmedium überlegen gewesen. Wir<br />
könnten heute auch eine ganz andere mediale und<br />
kulturelle Tradition haben, mit berühmten Erzählern<br />
statt Schriftstellern ...<br />
Zunächst hat die Musikindustrie vor allem in Europa<br />
ein Problem: die Vielfalt an Sprachen und musikalischen<br />
Traditionen. Englische Musik verkauft sich nicht in<br />
Österreich-Ungarn, preußische Musik nicht in<br />
Frankreich und so weiter. Also wird für jeden Markt ein<br />
eigenes Repertoire aufgenommen und in kleinen<br />
Auflagen produziert. Das ist natürlich teuer. Berliner<br />
gründet selbst drei Plattenlabels: Die United States<br />
Gramophone Company (Washington D.C., 1892), The<br />
Gramophone Company (London, 1897) und die<br />
Deutsche Grammophon (1898, Hannover). In den USA<br />
verliert er nach einigen Prozessen das Patent, das ihm<br />
eine Monopolstellung am amerikanischen Markt<br />
gewähren sollte. Um für die neue Situation gewappnet
zu sein, wird sein Unternehmen schon 1901 mit einem<br />
der neuen Mitbewerber zur Victor Talking Machine<br />
Corporation verschmolzen. Es ist der erste Merger der<br />
Musikindustrie.<br />
Es dauert nicht lange, bis die Plattenindustrie erstmals<br />
ihr Potenzial, Musik zum weltweiten Massenprodukt zu<br />
machen, unter Beweis stellt. Enrico Caruso, ein junger<br />
Tenor der Mailänder Scala, begeistert 1902 Berliners<br />
europäischen „Talent-Scout“. Als dieser ihm einen<br />
Plattenvertrag anbietet, verlangt Caruso ein stattliches<br />
Honorar. Der Agent telegrafiert an die Zentrale, doch<br />
die lehnt Carusos Forderung mit dem Hinweis ab, dass<br />
man mit einem echten Tenor nicht mehr<br />
Grammophone verkaufen würde als mit einem<br />
italienischen Viehhirten oder Fischer als Interpreten. Die<br />
Musikindustrie ist noch kein Jahrzehnt alt, aber schon so<br />
zynisch wie heute. Letztlich bezahlt der Agent seinen<br />
Star aus eigener Tasche – eine goldrichtige<br />
Entscheidung.
Caruso wird der erste Plattenstar, mehr noch: der erste<br />
Weltstar. Seine Aufnahme der Arie Vesti la Gliubba aus<br />
Leoncavallos Oper Pagliacci ist der erste Tonträger, der<br />
sich über eine Million Mal verkauft. Emil Berliners<br />
Brüder, die in Hannover das Presswerk (angeblich in<br />
einem ehemaligen Kuhstall) betreiben, kommen<br />
plötzlich mit der Massenproduktion kaum noch nach.<br />
Alle wollen Caruso hören. Als dieser – aufgrund seiner<br />
Plattenaufnahmen – von der New Yorker Metropolitan<br />
Opera engagiert wird, zieht auch in den USA der Markt<br />
an.<br />
Für die Plattenindustrie ebenso wie für Caruso folgt ein<br />
zwanzig Jahre dauernder steiler Aufstieg. Bald gibt es<br />
dutzende Schellack-Produzenten, dann hunderte. Doch<br />
im Rücken der jungen, erfolgsverwöhnten<br />
Musikindustrie schleicht sich schon die nächste<br />
technische Revolution an, die sie in ihre erste ernste<br />
Krise stürzen wird: der Rundfunk.<br />
#
Leipzig, nach einem Konzert in der naTo. Carlos,<br />
Eugene und ich verluden die Instrumente im Bus. Die<br />
anderen feierten schon. Anna flirtete mit zwei Jungs und<br />
ich fragte mich, welchen sie heute abschleppen würde.<br />
Vielleicht beide. Verdammt, ich war eifersüchtig.<br />
„Das ist ein altes Kulturzentrum“, erklärte Carlos. „Hat<br />
eine bewegte Geschichte ... Die Straße hieß früher mal<br />
Adolf-Hitler-Straße. Das Haus wurde im Zweiten<br />
Weltkrieg ausgebombt. Dann hat die SED hier ein<br />
Häuschen für ihre Nationale Front hingebaut.“<br />
„Die Linken hatten eine Nationale Front?“, fragte ich.<br />
Eugene. „Das waren keine Linken. Genauso wenig, wie<br />
die DDR demokratisch war.“<br />
„Okay“, sagte ich. Mir doch egal.<br />
Ich erneuerte eine Saite meiner Gitarre.<br />
„Die Stasi hatte hier noch ein Büro, als das<br />
Kulturzentrum sich schon entwickelte“, fuhr Dmitri<br />
fort.<br />
„Woher weißt du das?“
„Ich hab damals hier gespielt und mit den Stasi-Leuten<br />
gesoffen“, sagte er und mir wurde plötzlich wieder<br />
bewusst, wie alt er eigentlich war.<br />
„Carlos, wir werden alt“, sagte Eugene.<br />
„Aber wir entwickeln uns“, sagte Carlos. „Vorhin hat<br />
mich ein junges Mädchen auf unsere Aktion in Mailand<br />
angesprochen. Schön langsam eilt uns ein Ruf voraus.“<br />
„Na toll. Dann sind wir ja berühmt. Von hier weg es ja<br />
nur noch ein kurzer Weg nach ganz oben.“<br />
„Schon möglich“, sagte ich. „Frag nach bei Rammstein.<br />
Die hatten hier ihren allerersten Auftritt.“<br />
Die 1920er-Jahre. Es ist eine Welt im Umbruch.<br />
Während der Erste Weltkrieg die alte politische<br />
Ordnung erschüttert, erobern Schellacks, Stummfilm,<br />
Telefon und Funk die Medienwelt. Es ist die erste<br />
multimediale Revolution.<br />
#
Später nennt der Medientheoretiker Marshall McLuhan<br />
diesen Umbruch das Ende der „Gutenberg-Galaxis“, die<br />
in etwa von 1500 bis 1900 existiert hatte. Nun befinden<br />
wir uns, McLuhan zufolge, in der Marconi-Galaxis.<br />
Guglielmo Marconi ist ein italienischer<br />
Elektroingenieur. Während Emil Berliner sein<br />
Grammophon konstruiert, befasst sich Marconi mit der<br />
drahtlosen Telegraphie. Erste Experimente führt er auf<br />
dem Landgut seines Vaters durch, ab 1897 betreibt er<br />
ein Labor auf der Isle of Wight vor der britischen Küste.<br />
1899 gelingt ihm eine Funkverbindung über den<br />
Ärmelkanal, 1901 sogar über den Atlantik nach Cape<br />
Cod. Die Kriegsmarine übernimmt daraufhin sein<br />
System.<br />
Auch in den nächsten beiden Jahrzehnten, während<br />
Enrico Caruso die Wohnzimmer erobert, interessieren<br />
sich vor allem Militärs und die Schifffahrt für die<br />
drahtlose Übertragung. Beide benötigen Systeme, mit<br />
denen man senden und empfangen kann. Marconis<br />
Unternehmen baut für diese Zielgruppe das größte
Funknetz rund um den Nordatlantik und betreibt<br />
beinharte Monopolpolitik: Wer ein Funkgerät von<br />
einem anderen Hersteller an Bord hat, erhält keinen<br />
Zugang zum Netz. Der wohl berühmteste Funkspruch,<br />
der je über dieses System ging, war der Notruf der<br />
Titanic. Der Luxusliner hatte einen eigenen „Marconi-<br />
Room“, wo man „Marconigrams“ empfangen oder<br />
abschicken konnte. Dieses transatlantische Service<br />
existierte seit 1907. Die Idee, daraus ein<br />
Empfangssystem für die Masse zu schaffen, entwickelt<br />
sich nur langsam, denn zunächst weiß niemand, wie<br />
man damit Geld verdienen soll.<br />
Im Sommer 1920 beginnt Marconis Firma, von der Isle<br />
of Wright aus Nachrichten zu senden, im Herbst erhält<br />
die erste amerikanische Radiostation eine Lizenz. Das<br />
Geschäftsmodell erinnert an das von Emile Berliner: Das<br />
Programm soll nur dazu dienen, mit dem Verkauf von<br />
Radiogeräten Geld zu verdienen. Das geht nicht lange<br />
gut und man entwickelt zwei andere, unterschiedliche<br />
Modelle: In den USA erfindet man den Werbespot als
Einnahmequelle. Und in Großbritannien gründet John<br />
Reith 1922 die BBC, einen durch Gebühren<br />
finanzierten Sender, der von Regierung und<br />
Werbekunden unabhängig sein soll. Eine bis heute<br />
visionäre Idee für ein neues Medium, für die Reith<br />
später in den Adelsstand erhoben wird.<br />
Die boomende Musikindustrie ist erschrocken und fragt<br />
sich: Wer wird noch Schellacks kaufen, wenn es Musik<br />
plötzlich überall und kostenlos gibt?<br />
Die Antwort lautet: fast niemand. Die Umsätze brechen<br />
ein und das Desaster übertrifft die schlimmsten<br />
Erwartungen. Der amerikanische Markt, mit Abstand<br />
der größte der Welt, schmilzt in nur zwölf Jahren auf<br />
beinahe ein Zwanzigstel zusammen. Die Branche ist de<br />
facto tot.<br />
Doch während die Plattenfirmen zusammenbrechen,<br />
wachsen die Radionetzwerke zu großen Konzernen<br />
heran, allen voran RCA und CBS. Kurz nach dem<br />
Ersten Weltkrieg übernehmen AT&T und General<br />
Electric die Infrastruktur von American Marconi und
gründen die Radio Corporation of America (RCA).<br />
1926 kauft man zwei kleine kommerzielle<br />
Rundfunkstationen und beginnt mit dem Aufbau eines<br />
landesweiten Netzwerkes von Sendestationen. Diese<br />
werden unter dem Dach der National Broadcasting<br />
Corporation (NBC) zusammengefasst.<br />
Kurz darauf, im Januar 1927, nimmt eine neue<br />
Sendestation in New York den Betrieb auf. Im April<br />
steigt Columbia Records in das Unternehmen ein und<br />
nennt es Columbia Phonographic Broadcasting System.<br />
Doch schon im September zeigt sich, dass die Erlöse aus<br />
Werbeeinnahmen unter den Erwartungen bleiben. Man<br />
verkauft die Radiostation an einen Zigarrenfabrikanten,<br />
der sie zur Werbung für seine Produkte einsetzen will.<br />
Sein Sohn William S. Paley erkennt das Potenzial des<br />
Mediums. Er kürzt den Namen der Firma auf Columbia<br />
Broadcasting System (CBS), verdoppelt binnen kurzer<br />
Zeit die Zigarrenumsätze seines Vaters und bekommt<br />
freie Hand für den Aufbau eines Medienimperiums.<br />
Zehn Jahre später wird sein Netzwerk schon 114
Stationen umfassen und die Nummer 2 hinter<br />
RCA/NBC sein.<br />
Beide Konzerne verdienen viel Geld mit Werbung, aber<br />
sie brauchen Musik, um ihre Hörer vor den<br />
Rundfunkgeräten zu halten. Der Zusammenbruch der<br />
Schallplattenindustrie kann ihnen ab einem gewissen<br />
Zeitpunkt nicht mehr gleichgültig sein. Also kaufen die<br />
Radionetzwerke die Überreste der Plattenindustrie auf,<br />
um sich ihr Repertoire zu sichern. 1929 verleibt sich<br />
RCA die Victor Talking Machine Corporation ein, das<br />
Unternehmen heißt ab nun RCA Victor. CBS kauft<br />
einige Jahre später Columbia Records, die ehemalige<br />
Mutterfirma.<br />
Es gelingt den Radionetzwerken, die Plattenbranche zu<br />
stabilisieren und mit massiven Preissenkungen auch<br />
wieder die Absatzzahlen zu steigern. Sie entdecken die<br />
Bedeutung von Synergien im Mediengeschäft: Jedes<br />
Unternehmen kann wie aus dem Nichts seine eigenen<br />
Stars erschaffen, wenn es sie nur oft genug im Radio<br />
spielt.
#<br />
Inzwischen erzielte eine Suche nach uns bei Google<br />
mehrere tausend Treffer, die meisten in Englisch und<br />
Italienisch, aber auch deutsche, französische, spanische,<br />
griechische, tschechische, russische, japanische,<br />
holländische und schwedische Einträge fanden sich.<br />
Mehrere US-Zeitungen und Websites hatten über uns<br />
berichtet. Die Times of India hatte über uns<br />
geschrieben, und die Bangkok Post.<br />
#<br />
Am nächsten Tag, wir waren gerade mit dem Bus<br />
unterwegs nach Chemnitz, läutete mein Handy schon<br />
am Vormittag. Dran war ein gewisser Felix. Redakteur<br />
MTV Deutschland. Man hätte gerade Redaktionssitzung<br />
gehabt und beschlossen, uns für morgen live ins Studio<br />
zu einer Talkshow einzuladen.
Einfach so.<br />
„Klar machen wir das“, sagte ich. Wusste er von der<br />
Aktion in Mailand?<br />
„Wir dachten uns, wir sind lieber proaktiv“, sagte Felix.<br />
„Bevor ihr in Berlin so eine Show abzieht wie bei den<br />
Kollegen in Italien. Ihr habt ja morgen ohnehin euren<br />
Konzerttermin in Berlin, nicht wahr?“<br />
„Äh, ja“, stammelte ich. Dann notierte ich seinen<br />
Namen, Telefonnummer, Adresse und fragte noch:<br />
„Wann sollen wir bei euch sein?“<br />
„Vierzig Minuten vor der Sendung, das reicht für ein<br />
kurzes Vorgespräch und die Maske.“<br />
„Okay.“<br />
„Okay. Bis die Tage“, sagte Felix.<br />
„Tschüss“, sagte ich und freute mich schon darauf, es<br />
Anna zu erzählen.<br />
#
Noch so eine Stroboskop-Szene: Ich gehe mit Eugene<br />
durch Chemnitz und er sagt: „Die Massenmedien sind<br />
das Kokain des Volkes: Sie pushen es auf, geben ihm das<br />
Gefühl – die Sensation –, immer am Puls der Zeit und<br />
an allem nah dran zu sein, alles wirkt viel, viel intensiver,<br />
man fühlt sich zum Bersten voll mit Energie – aber die<br />
ganze Aufgeregtheit ist nur Selbstzweck. Lässt der<br />
Rausch nach, kommt die Müdigkeit und die Apathie.“<br />
#<br />
Der Auftritt sollte etwas weniger als sechs Minuten<br />
dauern, mehr Zeit waren wir MTV nicht wert – und in<br />
dieser Zeit sollte auch noch ein Video abgespielt werden.<br />
Netto blieben uns also ganze zweieinhalb Minuten. Das<br />
war eine ganze Menge, aber Eugene war enttäuscht. Er<br />
hätte Anna gern eine halbstündige Fernsehpredigt halten<br />
lassen.
„Das ist MTV“, sagte ich. „Die sind nicht so erfolgreich,<br />
weil sie halbstündige Predigten zulassen. Zweieinhalb<br />
Minuten sind eine kleine Ewigkeit auf MTV.“<br />
„Und das noch zerlegt in drei Happen ...“, raunzte er.<br />
„Na zum Glück. Alles, was länger als eine halbe Minute<br />
dauert, übersteigt die Aufmerksamkeitsspanne des<br />
Publikums. Nach den ersten dreißig Sekunden hört dir<br />
keiner mehr zu“, sagte ich.<br />
„Außer man macht es wie die Sex Pistols bei ihrem<br />
ersten Fernsehauftritt“, sagte Eugene.<br />
Ich grinste.<br />
„Kennst du die Geschichte?“, fragte er.<br />
„Bin ich Musikjournalist oder nicht?“<br />
Also steckten Eugene und ich die ganze Nacht die Köpfe<br />
zusammen. Zuerst entwickelten wir einen Katalog der<br />
möglichen Fragen, dann die Antworten, die Anna darauf<br />
geben sollte. Wir feilten und schliffen bis zum<br />
Morgengrauen, dann weckten wir Anna und probten<br />
mit ihr, bis es Zeit war, nach Berlin zu fahren. Im Bus
ließen wir sie alleine. Sie sollte entspannt und ruhig<br />
wirken.<br />
Wir waren eine halbe Stunde zu früh in den MTV-<br />
Studios. Eine Sekretärin brachte uns in einen<br />
Warteraum mit bunten Sofas, ein paar Minuten später<br />
kam Joe. Er sagte: „Wir haben eine Überraschung<br />
vorbereitet.“<br />
Ich dachte: „Wir auch ...“<br />
#<br />
Tim Renner, „Kinder, der Tod ist gar nicht so<br />
schlimm“: Am Pop fasziniert mich, dass diese Kultur am<br />
souveränsten mit der Beziehung zum Kapital umgeht.<br />
Klar, die Geschichte der Kunst ist immer auch eine<br />
Geschichte von finanziellen Abhängigkeiten. Aber Pop<br />
heißt, darüber nicht zu jammern. Die Kunst der<br />
Popkultur besteht darin, das Kapital nicht verschämt zu<br />
verneinen, keine unbefleckte Empfängnis des Werks<br />
vorzugaukeln, sondern sich des Kapitals zu bedienen,
mit ihm zu spielen, es sogar ab und an zu verhöhnen. Da<br />
Geld keine Seele hat, ist ihm das übrigens völlig egal.<br />
Elvis hat bei seinem ersten Fernsehauftritt mit den<br />
Hüften gewackelt, die Sex Pistols haben sich betrunken<br />
durchs Studio gepöbelt. Beides war ein Erfolg.<br />
Provokation ist wichtig in diesem Geschäft. Darum<br />
haben sich ja auch die Beatles mit Jesus verglichen, The<br />
Who ihre Instrumente zertrümmert und dutzende<br />
anderer „Rockstars“ irgendwelche unschuldigen<br />
Hotelzimmereinrichtungen zerlegt. Meist nicht, ohne<br />
das zuvor mit dem Hotelmanagement abzuklären.<br />
Wir wollten auch einen Skandal, „aber das ist ja<br />
heutzutage nicht so einfach“ seufzte Eugene.<br />
#<br />
#
Ein alter Freund von mir hat einen Reisebericht über<br />
Berlin mal so begonnen: „Man kann sie noch erkennen,<br />
die Zeiten, als Berlin eine Hochburg der Sub- und<br />
Protestkultur war, man sieht die besprühten Hauswände<br />
und die ehemaligen Autonomen mit ihrer schwarzen<br />
Kapuzen, Lederstiefeln und 80er-Jahre-Punkfrisuren. Aber<br />
sie sind still geworden - und die Sprühdosen schweigen, weil<br />
sich keiner mehr eine leisten kann. Das soll natürlich kein<br />
Vorwurf sein. Es gibt ja nichts mehr, gegen das man noch<br />
protestieren müsste. Nicht nur nicht in Berlin, sondern nirgends<br />
in der gesamten westeuropäischen Welt. Abgesehen<br />
von Mord, Raub, Diebstahl, Kindesmissbrauch etc. ist dem<br />
Individuum heute praktisch jede Freiheit erlaubt. Man kann<br />
sich wie ein Kasperl anziehen und wie ein Idiot aufführen,<br />
alles kein Problem. Wenn einer einen Joint raucht, regt sich<br />
kaum jemand auf. Wer mit langen Zotteln und einem Kilo<br />
Metall im Gesicht herumläuft, wer vom Scheitel bis in die<br />
Arschspalte tätowiert ist, wer sich den Penis abschneiden<br />
und Silikontitten implantieren lässt, wer im Swingerclub<br />
dem Rudelfick mit Wildfremden frönt, wer bis an die
Grenzen des Erträglichen raucht und säuft und pöbelt, der<br />
soll das ruhig tun. Kein Grund, sich aufzuregen: alles gilt,<br />
solange die Betreffenden brav ihre Steuern zahlen. Spucken<br />
wir also in die Hände und packen wir wieder kräftig zu,<br />
damit die Handvoll Ölbarone und Freimaurer,<br />
Großindustrielle, Billiardenschuldner und<br />
Waffenlieferanten der Welt weiterhin ohne<br />
Einschränkungen ihr Leben in Saus und Braus führen<br />
können, und suhlen wir uns weiterhin im pseudotoleranten<br />
Klima der Individualitätsgesellschaft. Wirklich etwas ändern<br />
würde nur noch eine Rebellion bzw. Revolution. In dieser<br />
Hinsicht ist leider alles gesagt.“<br />
Mein alter Freund und Eugene hatten natürlich nicht<br />
ganz recht. Unsere Gesellschaft zu provozieren mag<br />
tatsächlich schwer schein, sei es, weil sie so liberal ist,<br />
oder so teilnahmslos oder so abgehärtet, ich weiß es<br />
nicht. Aber es ist immer noch leicht, zu skandalisieren.<br />
#
Denn: Die Medien müssen sich ja verkaufen, sie<br />
brauchen Auflage, Einschaltquote, Reichweite, und sie<br />
haben ihre Patentrezepte dafür. Verbrechen, Titten und<br />
Skandale. Und die Nazis.<br />
#<br />
Das rote Licht ging an und Anna war auf Sendung. Die<br />
tussige Moderatorin stellte sie als Sängerin einer<br />
Punkband vor, die gerade verklagt wurde. Den Konzern<br />
nannte sie nicht.<br />
„Und ihr verweigert euch total dem Kommerz?“, fragte<br />
sie.<br />
„Nun ...“ sagte Anna.<br />
„Ihr habt ja zum Beispiel bisher kein einziges Video<br />
gedreht!“<br />
Wir hatten kein Geld für so was. Anna sagte: „Videos<br />
sind Werbemittel. Wir wollen nichts verkaufen, wir<br />
wollen uns nicht verkaufen. Was wichtig ist, ist unsere
Musik.“ Es war das erste Mal, dass ich sie Deutsch<br />
sprechen hörte.<br />
„Und die ist gut“, sagte die Tussi. „Und damit sich<br />
unsere Zuseher davon ein Bild machen können, haben<br />
wir selbst ein kleines Video zusammengeschnitten. Bitte<br />
sehr.“<br />
Das war tatsächlich eine Überraschung.<br />
Der Regisseur legte einen Hebel um.<br />
Resistencia erklang, es war die Version, die auf der<br />
Homepage zum Download bereitstand. Gezeigt wurden<br />
Bilder von unserer Aktion vor dem MTV Studio in<br />
Mailand, dazwischengeschnitten immer wieder Bilder<br />
von irgendwelchen Demonstrationen, die mit uns nichts<br />
zu tun hatten. Aber es waren Transparente mit<br />
Antikonzernslogans im Bild. Das Video war ... anders.<br />
Billig produziert, aber wild, kreativ, authentisch. Trash<br />
as trash can. Es passte zu uns.<br />
„Das habe ich zusammengestellt“, sagte Joe.<br />
Das Interview ging weiter. Anna bekam zwanzig<br />
Sekunden, um vom Leben auf Tournee zu erzählen
(„Wir sitzen den ganzen Tag in Bus“) und die nächsten<br />
Konzerttermine aufzuzählen: Hamburg, Bochum, Essen,<br />
Köln, Dortmund, Düsseldorf.<br />
„Und jetzt wieder Musik, es gibt ja noch andere heiße<br />
Newcomer“, sagte die Moderatorin.<br />
Der Regisseur legte wieder einen Hebel um. Ich kannte<br />
die Band nicht, deren Video jetzt eingespielt wurde. Das<br />
wäre mir noch vor zwei, drei Monaten niemals passiert.<br />
War ich wirklich schon so lange bei den Soundinistas?<br />
War ich wirklich schon so lange raus aus dem Geschäft?<br />
„Das Video ist gut“, murmelte ich. Es war offensichtlich<br />
sehr aufwendig produziert. Und die Bikinimädchen<br />
waren vom Feinsten.<br />
„LaChapelle hat das gemacht“, sagte Joe.<br />
Gut, dachte ich. Dann wird’s ja passen, was Anna gleich<br />
sagen wird.<br />
Der Regisseur legte den Hebel wieder um.<br />
Das rote Licht ging an.<br />
„Das meinte ich vorhin“, sagte Anna. „Das ist Konsum-<br />
Propaganda. MTV sollte einen Leni-Riefenstahl-Preis
für Musikvideos vergeben. Der Regisseur wäre ein guter<br />
Tipp.“<br />
Die Tussi lachte nervös auf. „Ach, wir haben ja die<br />
MTV Video Music Awards, dieses Jahr in ...“<br />
„Na dann gebt diesem Preis eine neuen Namen. Das<br />
Eiserne MTV-Riefenstahl-Kreuz.“<br />
„Na ja“, sagte die Tussi. „Das ist ein wenig<br />
geschmacklos.“<br />
Ich lächelte. Sie hatte recht.<br />
„Und für diese Musikmanager könnt ihr gleich auch<br />
einen Preis machen. Den Goebbels-Orden am<br />
Laufenden Band oder so.“<br />
„Ich glaube, wir spielen das nächste Video“, sagte die<br />
Tussi.<br />
„Darf man das hier nicht sagen?“, fragte Anna.<br />
Die Tussi zögerte.<br />
Im Regieraum sah Joe Eugene und mich mit Panik in<br />
den Augen an. Wir lächelten unschuldig.<br />
„Das war nur ein kleiner Test“, sagte Anna in die<br />
Kamera. „Ich wollte nur zeigen, was passiert, wenn du
Dinge sagst, die diesen Medienkonzernen nicht in den<br />
Kram passen. Sie kennen nur eine Reaktion: Zensur.“<br />
Joe sprang auf. „Was zieht die denn da ab?“, fragte er.<br />
„Ruhig Blut, Junge!“, sagte der Regisseur der Sendung.<br />
„Das ist gut!“<br />
„Aber wisst ihr“, sagte Anna, „die Frequenzen, über die<br />
diese Signale gehen, gehören nicht MTV. Sie gehören<br />
nicht dieser Tussi hier und nicht den Krawattenträgern<br />
in den Vorstandsbüros. Sie sind öffentliches Eigentum.<br />
Sie gehören uns allen. Es ist Zeit, dass wir sie<br />
zurückholen!“<br />
Sie griff in die ausgebeulte Seitentasche ihrer Baggy-<br />
Pants und zog eine Spraydose hervor. Sie schüttelte<br />
zweimal und sprayte auf die Studiowand: Das gehört<br />
uns!<br />
„Hey, lass das!“, sagte die Tussi hilflos.<br />
„Sehr gut, Baby, das ist cool“, flüsterte der Regisseur.<br />
Anna drehte sich um und ging ganz langsam auf die<br />
Kamera zu. Sie sah wunderschön aus, und zugleich<br />
gefährlich. Sie ging mit ihrem Gesicht bis auf wenige
Zentimeter an das Objektiv heran und flüsterte: „Wir<br />
sind das Volk. Und wir entscheiden, wann das Licht<br />
ausgeht!“<br />
Dann schob sie die Spraydose vor die Linse und drückte<br />
ab.<br />
#<br />
Wenn wir ehrlich sind: Annas Auftritt war bestenfalls<br />
mittelprächtig, kein echter Skandal. Aber das war nicht<br />
wichtig. Wichtig war, dass die Medien so taten, als wäre<br />
es ein Skandal. Natürlich taten sie das nicht für uns,<br />
sondern aus Selbstnutz. Auch schön.<br />
An diesem Nachmittag brach unsere Website immer<br />
wieder kurzfristig zusammen, weil zu viele Leute sie<br />
gleichzeitig aufriefen.<br />
Wir parkten außerhalb der Stadt und feierten die halbe<br />
Nacht. Alte Freunde von Eugene und Carlos kamen<br />
vorbei und brachten kistenweise Bier und Schnaps.
#<br />
Natürlich haben wir nicht ohne Hintergedanken<br />
provoziert. Dazu waren wir zu politisch korrekt,<br />
zumindest Eugene. Ich entdeckte bei meinen<br />
Recherchen etwas, mit dem ich ihn überzeugen konnte.<br />
Am Abend vor Annas MTV-Auftritt, als Eugene seufzte,<br />
dass das mit den Skandalen heute nicht so einfach sei,<br />
zeigte ich ihm mein Material.<br />
„Es geht um Bert Brecht“, sagte ich.<br />
In den Zwanzigern, als das Radio noch jung war, regte es<br />
die Fantasie der Intellektuellen an, der Künstler ebenso<br />
wie der politischen Aktivisten, und jemand wie Brecht<br />
war natürlich sofort Feuer und Flamme. Er sah in dem<br />
neuen Medium eine große demokratiepolitische Chance:<br />
Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in<br />
einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der<br />
Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat<br />
des öffentlichen Lebens, ein<br />
ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er
es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu<br />
empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern<br />
auch sprechen zu machen, und ihn nicht zu isolieren,<br />
sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.<br />
„Das wovon Brecht hier geträumt hat, war ein Vorläufer<br />
des Internets“, sagte ich zu Eugene. „Jeder kann mit<br />
jedem kommunizieren, kann alles sagen, ohne Zensur,<br />
ohne Kontrolle. Brecht war aber nicht naiv. Er hat auch<br />
geschrieben ...“ Ich suchte den richtigen Ausdruck ...<br />
„Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung,<br />
durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge,<br />
welche doch nur eine natürliche Konsequenz der<br />
technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und<br />
Form dieser anderen Ordnung. [...] Sollten Sie dies für<br />
utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken,<br />
warum es utopisch ist.“<br />
„Und warum ist es utopisch?“, fragte Eugene.<br />
„Weil die Technik, die es der Allgemeinheit erlauben<br />
würde, frei miteinander zu kommunizieren, eben nicht<br />
von der Allgemeinheit kontrolliert wird. Damals wie
heute. Das Radio wurde nie ein freies Medium, sieh dich<br />
um auf der Welt, überall ist es unter Kontrolle von<br />
Regierungen oder Konzernen. Und hin und wieder<br />
erlaubt man ein paar kleinen, freien Radios ihr<br />
Lokalprogramm zu machen. Ein bisschen Anarchie als<br />
Lüftungsventil.“<br />
Eugene zündete sich eine Zigarette an. „Interessant.<br />
Mach weiter.“<br />
„Brechts Vision des freien Radios wurde nie<br />
Wirklichkeit, am wenigsten hier in Deutschland. Du<br />
weißt, was die Deutschen stattdessen bekommen<br />
haben?“<br />
„Was?“<br />
„Den Volksempfänger. Ein kleines, billiges Radiogerät,<br />
von den Nazis in großen Massen an das ganze Volk<br />
verteilt, damit jeder, aber auch wirklich jeder, die Reden<br />
des Führers noch daheim in seinen eigenen vier Wänden<br />
hören konnte. Das ist daraus geworden. Und zur<br />
Sicherheit schrieben die Nazis in den Beipacktext zum<br />
Volksempfänger ...“ Ich suchte das nächste Blatt Papier
... „’Das Abhören ausländischer Sender ist ein<br />
Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres<br />
Volkes. Es wird auf Befehl unseres Führers mit schweren<br />
Zuchthausstrafen geahndet.‘ Das wurde aus dem neuen<br />
Medium, an das die Intellektuellen so viele Hoffnungen<br />
geknüpft hatten. Die Deutschen bekamen Goebbels statt<br />
Brecht.“<br />
„Interessantes Romanthema“, sagte Eugene.<br />
„Nicht nur das“, sagte ich. „Es ist auch wichtig für uns.<br />
Wenn ich mir überlege, wie viel ich in den letzten<br />
Wochen darüber gelesen habe, wie viel Freiheit uns das<br />
Internet, der Mobilfunk und all die anderen neuen<br />
Technologien bringen werden, dann wird mir plötzlich<br />
schlecht. Wer sagt denn, dass es so sein wird? Ist das ein<br />
Naturgesetz? Wer sagt, dass wir uns nicht den totalen<br />
Kontrollapparat heranzüchten? Das sollten wir auf MTV<br />
morgen thematisieren. Nicht die dämliche Klage.<br />
Vergiss Max. Hier geht’s um mehr.“<br />
„Ist das nicht zu kompliziert?“, fragte Eugene.
„Natürlich. Im Fernsehen kann es für uns nur um eines<br />
gehen: Aufmerksamkeit zu provozieren. Erklären müssen<br />
wir das dann in deinem Blog. Ich werde Anna für den<br />
Auftritt briefen und du schreibst den theoretischen<br />
Unterbau dazu“, sagte ich.<br />
#<br />
Lawrence Lessig, „CODE und andere Gesetze des<br />
Cyberspace“: Die erste Generation der Cyberspace-<br />
Bewohner ist von dem unausrottbaren Gedanken<br />
beseelt, der Cyberspace lasse sich nicht regulieren. Es<br />
heißt, er sei „immun gegen staatliche Engriffe“ und<br />
besitze eine „angeborene“ Resistenz gegen jegliche<br />
Regulierung. Das sei die Natur, das Wesen, die<br />
Grundbeschaffenheit des Cyberspace. [...] Seinem<br />
Wesen nach sei der Cyberspace ein von Lenkung und<br />
Kontrolle freier Raum.<br />
Natur. Wesen. Angeboren. Grundbeschaffenheit. Solche<br />
Worte sollten in jedem Zusammenhang unser
Misstrauen wecken. Und ganz besonders in diesem.<br />
Denn wenn es einen Ort gibt, an dem die Natur keine<br />
Rolle spielt, dann ist das der Cyberspace. [...]<br />
Hier wird Sein mit Sollen verwechselt. Natürlich ist der<br />
Cyberspace so, wie er gerade ist. Aber wie er gerade ist,<br />
muss er nicht immer sein. Der Cyberspace muss nicht<br />
immer und überall eine bestimmte Beschaffenheit<br />
haben; es gibt keine Architektur, die das Wesen des<br />
Netzes definiert. Was wir „das Netz“ nennen, kann ganz<br />
verschiedene Architekturen haben, und diese<br />
Architekturen ermöglichen vielfältige Lebensweisen. [...]<br />
Ob das Netz unregulierbar ist, hängt von seiner<br />
Architektur ab.<br />
Bei manchen Architekturen lässt sich das Verhalten im<br />
Netz nur schwer kontrollieren, bei anderen dagegen<br />
leicht. Bei manchen lässt es sich nicht durch eine<br />
Regulierung von oben kontrollieren, bei anderen<br />
dagegen wohl. [Das Netz entwickelt sich] hinsichtlich<br />
seiner Architektur in eine ganz bestimmte Richtung,<br />
nämlich von einem unregulierbaren zu einem
hochgradig regulierbaren Raum. Die „Natur“ des Netzes<br />
mag einmal in seiner Unregulierbarkeit bestanden<br />
haben, aber diese „Natur“ ist dabei zu kippen.<br />
#<br />
Ich griff mir eine Flasche Rum, setzte mich etwas abseits<br />
und beobachtete das Fest. Mir war nicht nach reden.<br />
Meine Augen hingen an Anna. Meine Gedanken<br />
klammerten sich an ihre Hüften.<br />
Und ich war offensichtlich nicht der Einzige, dem nicht<br />
nach Feiern zumute war. Eugene hatte sich in den<br />
Stockbus zurückgezogen, um an seinem Weblog zu<br />
schreiben.<br />
Nach der ersten Flasche holte ich eine zweite und setzte<br />
mich auf den Fahrersitz des kleineren Busses. Ich drehte<br />
das Radio auf und schob eine Johnny-Cash-Kassette<br />
rein, dann schloss ich die Augen, machte es mir bequem<br />
und nuckelte hin und wieder an der Flasche.
Irgendwann, die Kassette lief schon zum x-ten Mal<br />
durch, merkte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Mein<br />
Hemd war aufgeknöpft und jemand küsste meinen<br />
Oberkörper, meinen Bauch, spielte mit der<br />
Zungenspitze um meinen Nabel und knöpfte dann<br />
meine Jeans auf.<br />
Ich war zu müde und zu betrunken, um die Augen zu<br />
öffnen, den Kopf zu drehen oder gar etwas zu sagen, und<br />
nur mit Mühe fand ich mit der Flasche noch einmal zu<br />
meinem Mund. Meine Arme waren taub und mein Kopf<br />
war schwer und irgendwie fühlte es sich an, als würde<br />
ich durch den Raum schweben wie auf einer<br />
Luftmatratze im Swimmingpool, und ich schmatzte<br />
zufrieden und genoss es einfach, ein Rockstar zu sein.<br />
#<br />
Nach dem Zweiten Weltkrieg geht es mit den<br />
Massenmedien erst richtig los: Der Farbfilm ist<br />
massentauglich, der verbesserte Offset-Druck ermöglicht
ein pralles Angebot an billigen Magazinen, das<br />
Fernsehen löst das Radio als Leitmedium ab. Das bringt<br />
Machtverschiebungen mit sich: CBS kämpft mit NBC,<br />
beide kaufen sich in Hollywood ein, gleichzeitig drängen<br />
Buch- und Zeitungsverlage in die neuen Medien. Auch<br />
die Musikindustrie beginnt neu: Vinyl ersetzt Schellack;<br />
HiFi-Sound und 45-minütige Langspielplatten sind<br />
nicht weniger als eine Wiedergeburt der Musikindustrie.<br />
Es geht wieder aufwärts, und als 1950 die erste E-Gitarre<br />
(Fender Telecaster) in die Läden kommt, bricht das<br />
Zeitalter des Rock ’n’ Roll an.<br />
Das Zusammenspiel der Industriezweige macht aus Stars<br />
Megastars. Der Erste heißt Elvis.<br />
Elvis Presley ist seit 1953 bei einem unabhängigen,<br />
kleinen, aber exquisiten Label namens Sun Records in<br />
Memphis unter Vertrag (wie übrigens auch Johnny<br />
Cash, Jerry Lee Lewis, B.B. King, Roy Orbison, Howlin'<br />
Wolf, Carl Perkins und, und, und). Elvis’ Talent ist<br />
offensichtlich, aber seine Verkaufszahlen sind eher<br />
dezent.
Anfang 1956 wechselt er zum Großkonzern RCA. Sein<br />
erstes Album präsentiert er in einer landesweiten<br />
Fernseh-Show, die ihn über Nacht berühmt macht.<br />
Sofort wird ihm eine Rolle in einem Spielfilm besorgt,<br />
einem Western mit dem Arbeitstitel The Reno Brothers.<br />
Elvis singt ein Lied für den Soundtrack ein, das auch auf<br />
seinem zweiten Album und als Singleauskopplung<br />
erscheinen soll. Als sich abzeichnet, dass die Single ein<br />
Erfolg wird, benennt man den Film kurzerhand um:<br />
Love Me Tender. Bevor das Jahr vorbei ist, kennt die<br />
halbe Welt den jungen Mann aus Tennessee.<br />
Ab nun produziert er wie am Fließband, unterbrochen<br />
nur von seinem Armeedienst in Deutschland 1959. Im<br />
Jahrzehnt von 1960 bis 1969 nimmt er 25 Alben auf<br />
und dreht 27 Spielfilme, dazu kommen Fernseh-Specials<br />
und Konzerte und stapelweise Berichte über seine<br />
Beziehung zu Priscilla in einem neuen Zeitschriftentyp:<br />
der Illustrierten. Wie Zahnräder greifen die einzelnen<br />
Teile der Vermarktungsmaschinerie ineinander. Ende<br />
der Sechziger hat sich das Publikum etwas sattgesehen,
die Box-Office-Erlöse sinken, vier Jahre lang hat Elvis<br />
keinen Nummer-1-Hit. Er hört mit dem Filmen auf,<br />
sucht sich einen neuen Produzenten und schafft es 1970<br />
zurück an die Spitze der Charts. In diesem Jahr wirft er<br />
sieben Alben auf den Markt, in den nächsten beiden<br />
Jahren je fünf und bis 1977 noch weitere 15 Alben. Alles<br />
wird wiederverwertet: Live-Mitschnitte, Single-<br />
Kompilationen, das Beste aus seinen Soundtracks – und<br />
das alles noch vor seinem Tod.<br />
#<br />
Es war totenstill, aber ich erwachte, weil es im Wagen<br />
bereits kochend heiß war. Mein Körper war schweißnass,<br />
meine Haut stank nach dem Rauch von hunderttausend<br />
Zigaretten und im Mund hatte ich einen Geschmack, als<br />
wäre darin schon vor Tagen ein Iltis verreckt.<br />
Irgendwann in der Nacht musste ich mir das Genick<br />
gebrochen haben, denn ich schaffte es nicht, den Kopf<br />
zu bewegen.
Ich stöhnte.<br />
„Psst“, flüsterte sie. „Störe die Stille nicht ...“<br />
Ich erschreckte und schloss die Augen wieder. Was jetzt?<br />
„Weißt du, was die wahre Melodie von 4‘33“ ist?“, fragte<br />
sie. „Wenn du einige Minuten nichts hörst, keinen Laut,<br />
absolut gar nichts, wenn also eine absolut perfekte Stille<br />
herrscht, dann bemerkst du plötzlich ein ganz leichtes,<br />
kaum wahrnehmbares Rauschen, das aus dem Nichts zu<br />
kommen scheint, das du dein ganzes Leben lang noch<br />
nie bewusst gehört hast und das dir trotzdem<br />
augenblicklich vertraut vorkommt. Das ist dein Blut, das<br />
durch die Adern in deinen Ohren fließt. Du kennst<br />
dieses Geräusch schon seit dem Mutterleib.<br />
Ich habe mal eine Kurzgeschichte gelesen, über einen<br />
Astronauten, der sein Raumschiff verließ, um es zu<br />
reparieren, und bei den Arbeiten hat er sich ein Loch in<br />
den Schutzanzug gerissen und die Luft trat aus. Er wollte<br />
seiner Frau noch über Funk sagen, dass er sie liebt, aber<br />
ohne Luft gibt es keinen Schall, und obwohl er das<br />
Mikrofon direkt vor den Lippen hatte und die
Kopfhörer am Ohr, konnte er sich nicht verabschieden<br />
und er konnte sie auch nicht hören, als sie ihm sagte,<br />
dass sie ihn liebt. Es war eine sehr traurige Geschichte.<br />
Als der Astronaut starb, war das Letzte, was er hörte, das<br />
Pochen seines Blutes im Ohr. Dazu braucht es ja keine<br />
Luft, weil der Klang von innen kommt, aus seinem<br />
eigenen Körper. Das Geräusch erinnerte ihn an seine<br />
Mutter und plötzlich war er glücklich: Der Kreis des<br />
Lebens hatte sich geschlossen. Als sein Leichnam<br />
geborgen wurde, fand man ihn in gekrümmter Haltung,<br />
zusammengerollt wie ein Embryo“, sagte Anna. Und<br />
dann sagte sie: „Guten Morgen, Sweetheart.“<br />
Das beste Zitat aus „Die Hard“: Als Bruce Willis am<br />
Boden liegt und Hans Gruber fragt: „Do you really<br />
think you have a chance against us, Mister Cowboy?“<br />
„Yippie-ki-yay, motherfucker!“<br />
#
delete
Neun Uhr morgens, unterwegs nach Kassel. Mein<br />
Handy läutete.<br />
Es war Max. „Hey Mann, coole Aktion gestern bei MTV<br />
Germany“, sagte er. „Besser noch als in Italien.“<br />
„Man tut, was man kann“, sagte ich.<br />
„Und das scheint eine Menge zu sein.“<br />
„Oh, danke.“<br />
„Joe ist ein netter Kerl, oder?“<br />
„Du kennst Joe?“<br />
Er lachte. „Klar, das ist ein alter Freund von mir. Er<br />
bringt immer wieder mal eine Band von mir auf MTV<br />
Deutschland unter. Dafür sorge ich immer dafür, dass er<br />
eine gute Zeit hat, wenn er nach London kommt.“<br />
„Du, ich muss Schluss machen, ich melde mich wieder“,<br />
sagte ich und legte auf.<br />
Neun Uhr dreißig. Mein Handy läutete.<br />
#
Ein junger Mann aus Prag war dran. In perfektem<br />
Englisch erklärte er mir, dass er unser Konzert in Prag<br />
besucht hatte und es Klasse fand, und dass er das<br />
Radiointerview gehört hatte und das auch Klasse fand,<br />
und dass er einen Merchandising-Versand in der<br />
Tschechischen Republik betreiben würde. „T-Shirts von<br />
Britney bis Biohazard“, sagte er. „Aufkleber, Aufnäher,<br />
Fahnen, alles mögliche. Und ich mache viel für lokale<br />
tschechische Bands. Da kümmere ich mich um die ganze<br />
Herstellung und das Design.“<br />
„Und?“<br />
„Ich möchte das für euch machen.“<br />
„Was? T-Shirts?“<br />
„Das ganze Programm.“<br />
„Soundinistas-Merchandising?“, fragte ich und musste<br />
lachen.<br />
„Klar. Warum nicht?“<br />
„Tja, warum eigentlich nicht. Ich rufe zurück.“<br />
Wie Eugene wohl reagieren würde?
#<br />
Elvis’ Erfolg ist die Blaupause für die moderne Medienindustrie.<br />
Wenig später perfektionieren die Beatles die<br />
Vermarktungsmaschinerie aus Alben, Live-Auftritten,<br />
Filmen und perfekter, totaler Inszenierung. Als sie das<br />
erste Mal in die USA fliegen, erwarten sie am Flughafen<br />
bereits 200 Journalisten zur Pressekonferenz. Einer fragt:<br />
„Was ist das Geheimnis Ihres Erfolges?“, und Ringo<br />
Starr sagt: „Wir haben einen Presseagenten.“ Wenige<br />
Stunden später hört das ganze Land die Beatles im<br />
Radio, sieht sie im Fernsehen und liest über sie in der<br />
Zeitung. Da kennen die Pilzköpfe von Amerika noch<br />
nicht mehr als den JFK-Airport und ein Hotelzimmer.<br />
Zwei Tage später treten sie in der großen Samstagabend-<br />
Show von Ed Sullivan auf CBS auf und spielen im<br />
Wohnzimmer von 74 Millionen Amerikanern. Elvis<br />
gratuliert ihnen zu ihrem Erfolg, sie absolvieren in der<br />
folgenden Woche Auftritte in einigen Städten im Osten,<br />
treffen kurz, aber medienwirksam Muhammad Ali, der
noch Cassius Clay heißt, treten am nächsten Samstag<br />
wieder bei Ed Sullivan auf und fliegen nach gerade mal<br />
zehn Tagen wieder nach England, wo sofort die<br />
Dreharbeiten zum Film Yeah Yeah Yeah losgehen.<br />
Während sie vor der Kamera stehen, zeigt der<br />
Marketing-Ausflug Wirkung: Die Beatles belegen die<br />
ersten fünf Plätze der amerikanischen Single-Charts.<br />
Das Konzept lässt sich wunderbar diversifizieren. Die<br />
Beatles sind nett, also gibt’s vielleicht eine Marktnische<br />
für Bad Boys. Die Wahl fällt auf die Rolling Stones.<br />
Man produziert eine Platte mit zwölf Songs, darunter<br />
zehn (!) Coverversionen. Mick Jagger und Keith<br />
Richards lernen in einem Club John Lennon und Paul<br />
McCartney kennen, saufen eine Nacht mit ihnen und<br />
überreden sie, ihnen einen Song zu überlassen: Wanna<br />
Be Your Man wird die zweite Single der Stones.<br />
#
NeunUhr fünfzig, Kaffeepause. Ich erzählte es ihm und<br />
den anderen.<br />
„Cool“, sagte Anna.<br />
Eugene lachte zunächst nur. „Merchandising ... Ich<br />
glaube, wir machen was richtig.“<br />
„Du hast nichts dagegen?“<br />
„Warum sollte ich?“<br />
„Kommerz und so.“<br />
„Ach was. Habe ich je etwas gegen das Geldverdienen<br />
gesagt?“<br />
„Ein paar Fans werden darauf vielleicht skeptisch<br />
reagieren, ein paar Journalisten auch“, sagte ich. „Ich bin<br />
nicht gegen Merchandising, aber ich will alles<br />
durchdenken. Ich will nicht, dass wir Sympathien<br />
verspielen, nur weil wir ein paar Euros mit T-Shirts<br />
verdienen. Was ist der Unterschied zwischen uns und<br />
einem Major Label, wenn wir zu denselben Marketing-<br />
Maßnahmen greifen?“<br />
„Das tun wir ja nicht. Wir kritisieren an den großen<br />
Medienkonzernen nicht, dass sie Geld verdienen,
sondern ihre Machtkonzentration. Wir prangern die<br />
schleichende Unterwanderung der Demokratie an. Ich<br />
glaube nicht, dass die Machtkonzentration in unseren<br />
Händen schon bedrohliche Ausmaße annimmt, wenn<br />
wir nun T-Shirts und Aufkleber drucken, oder? Und<br />
wenn es so wäre, wäre es die Aufgabe anderer, uns zu<br />
bekämpfen. Ruf den Typen an, er soll uns ein paar<br />
Entwürfe schicken.“<br />
#<br />
Zehn Uhr dreißig. Mein Handy läutete. Es war Harald,<br />
der Veranstalter des Konzertes in Kassel, wieder mal ein<br />
alter Freund von Eugene. Wir sollten dort in einem für<br />
unsere Verhältnisse gar nicht so kleinen Club namens<br />
Musiktheater auftreten.<br />
„Seid ihr schon unterwegs?“, fragte er.<br />
„Ja“, sagte ich, „wir sind sogar gleich da.“
„Gut. Sehr gut. Ich möchte die Location verlegen und<br />
wir werden einen etwas ausgiebigeren Soundcheck<br />
machen müssen.“<br />
„Warum?“, fragte ich.<br />
„Weil seit gestern unser Telefon heißläuft“, sagte Harald.<br />
„Wir hätten ein paar hundert Karten verkaufen können,<br />
aber ins Musiktheater passen gar nicht so viele Leute.<br />
Also habe ich die Stadthalle gemietet. Da gehen<br />
zweitausend Leute rein.“<br />
„Zweitausend?“ Mir fiel fast das Telefon aus der Hand.<br />
„Na ja, tausend in die große Halle. Das reicht auch. Und<br />
keine Sorge, es ist alles gecheckt. Ein Freund von einem<br />
lokalen Radiosender kommt vorbei, um euch heute<br />
Nachmittag noch zu interviewen, und ich habe ein<br />
Dutzend Jugendliche angeheuert, die vor allen Schulen<br />
und am Uni-Campus Flyer verteilen. Und außerdem:<br />
MTV wiederholt seit gestern Abend beinahe jede Stunde<br />
eure Aktion. Wir werden die Halle schon füllen.“<br />
„Okay“, sagte ich, „kein Problem ...“ Aber so ganz<br />
glauben konnte ich es nicht.
#<br />
Zehn Uhr fünfundfünzig. Mein Handy läutete wieder.<br />
Haralds Freund vom Radio rief an, wollte ein Interview<br />
mit Anna. „Klar“, sagte ich. „Kommen Sie vorbei, wir<br />
sehen uns gerade die Bühnentechnik in der Stadthalle<br />
an.“<br />
Der Journalist, ein rotwangiger Typ namens Jens, rückte<br />
eine Stunde später mit Übertragungstechnik an. „Wir<br />
machen das live“, sagte er.<br />
Anna, Eugene, Jens und ich zogen uns in die Garderobe<br />
zurück. Er telefonierte noch mal mit seinem Sender,<br />
testete die Technik. Dann kam das Go. Er hielt Anna<br />
das Mikrofon unter die Nase.<br />
„Wir melden uns hier live aus der Stadthalle Kassel, wo<br />
heute Abend ein außergewöhnliches Konzert stattfinden<br />
wird: Die Soundinistas werden auftreten, jene Band, die<br />
den internationalen Musikkonzernen den Krieg erklärt<br />
hat. Anna, die Sängerin, sitzt mir gegenüber.“
„Hallo“, sagte sie.<br />
„Sie wurden ja verklagt, weil Sie bei Ihren Konzerten<br />
Schweigeminuten abhalten, was angeblich die Rechte<br />
eines großen Konzerns verletzt. Werden Sie das heute<br />
wieder tun?“<br />
„Selbstverständlich“, sagte Anna. „Wir haben keinen<br />
Grund, auf unsere Recht zu verzichten.“<br />
Eugene wollte etwas sagen, aber ich gab ihm einen<br />
Schubs mit dem Ellbogen und beugte mich zu seinem<br />
Ohr. „Lass Anna reden, sie ist die Sängerin, sie war auf<br />
MTV.“<br />
Er nickte und hielt den Mund, obwohl ihm das an<br />
einigen Stellen ganz offensichtlich sehr schwerfiel. Anna<br />
dagegen genoss es, im Mittelpunkt zu stehen.<br />
Als das Interview vorbei war, gingen Jens und Eugene als<br />
Erste hinaus ins Freie. Eugene war es wohl ein<br />
Bedürfnis, noch ein paar wichtige Details loszuwerden,<br />
und er redete intensiv auf den Journalisten ein.<br />
Anna lächelte mich an. „Danke.“<br />
„Wofür?“
„Dass du Eugene gebremst hast.“<br />
„Das ist mein Job als Pressesprecher“, sagte ich.<br />
„Trotzdem sollte ich mich erkenntlich zeigen“ flüsterte<br />
sie in mein Ohr – bevor sie begann, an meinem Nacken<br />
zu knabbern.<br />
#<br />
Nach außen tun die Beatles und die Rolling Stones so,<br />
als wären sie die Antipoden der Musikwelt, und die<br />
Musikjournalisten transportieren diese Marketing-<br />
Masche brav in ihren Massenmedien. Tatsächlich<br />
unterscheiden sich die Bands eher wie Persil von Dixan,<br />
aber Millionen Konsumenten fallen auf die Werbung<br />
und die gesteuerten Medienberichte herein und machen<br />
die Zugehörigkeit zur richtigen Fangemeinde fast zur<br />
Glaubensfrage. Aber Fan kommt bekanntlich von<br />
fanatic, und Fanatiker sind immer leicht zu<br />
manipulieren.
Die industrielle Wertschöpfungskette sieht nun so aus:<br />
Die Band A vom Label B schreibt den Soundtrack zum<br />
Film C vom Studio D. Das Movie läuft in der Kinokette<br />
E, der Song geht auf Radio F in Heavy Rotation, Band<br />
und Hauptdarsteller geben Interviews in Magazin G und<br />
für Fernsehsender H. Und dahinter stehen immer<br />
dieselben Konzerne. Der Film macht uns Lust auf die<br />
Platte oder CD, der Musiksender macht uns Lust auf die<br />
Kinokarte, das Magazin empfiehlt uns das zweistündige<br />
Making-of-Special im Fernsehen. Und ein paar Monate<br />
später versuchen alle zusammen, uns einzureden, dass<br />
wir den Director’s Cut auf der VHS- bzw. inzwischen<br />
DVD-Edition unbedingt brauchen ...<br />
Die Konzerne sind gut geölte Maschinen zur<br />
Reproduktion von Ideen, sie sind Fertigungsstraßen für<br />
Moden und Trends, sie sind die Brutkästen, aus denen<br />
unsere kollektiven Jugenderinnerungen stammen. Das<br />
Resultat sind immer gleich klingende Musik, immer<br />
gleich gestrickte Filme und immer die gleichen
Gefälligkeitsinterviews mit denselben Promis in zum<br />
Verwechseln ähnlichen Magazinen.<br />
Was haben Adorno und Horkheimer gesagt, zu einer<br />
Zeit, als Elvis, John und Paul, Mick und Keith am<br />
Höhepunkt ihrer Karrieren waren? Alle Massenkultur<br />
unter dem Monopol ist identisch.<br />
#<br />
Zum Glück hielten wir uns nicht lange mit dem<br />
Vorspiel auf, denn kaum dreißig Minuten später<br />
bekamen wir schon Besuch. Sieben oder acht<br />
Jugendliche im Alternativ-Look, sozusagen Post-Post-<br />
Hippies, standen plötzlich vor dem Bus.<br />
„Anna, kommst du mal runter?“, rief Eugene.<br />
„Was gibt’s?“, fragte sie, ohne sich zu bewegen. Sie lag in<br />
meinem Arm, den Kopf auf meiner Schulter und die<br />
Augen geschlossen.<br />
„Autogrammwünsche!“, rief Eugene.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Überrascht sah sie<br />
mich an, dann lächelte sie.<br />
„Geh schon“, sagte ich. „Du bist jetzt ein Star.“<br />
Sie schlüpfte in ihre Jeans, streifte ihr T-Shirt über und<br />
stürmte die Stufen nach unten.<br />
Ich drehte mich noch einmal um, kuschelte mich in den<br />
Polster und atmete tief und zufrieden ein. Die Luft roch<br />
nach Annas Schweiß.<br />
#<br />
Jean Baptiste le Rond d’Alembert, aus dem Vorwort der<br />
„Encyclopédie“: Bei der lexikalischen Zusammenfassung<br />
alles dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der<br />
Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen,<br />
deren gegenseitige Verflechtungen sichtbar zu machen<br />
und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen<br />
zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen.<br />
#
Gegen vierzehn Uhr stand ich mal kurz auf, ging runter<br />
in die Küche und machte mir zwei Schinken-Käse-<br />
Toasts. Ich hörte Anna draußen singen und schob den<br />
Vorhang beiseite. Sie saß in der Grünfläche neben dem<br />
Bus im Gras, umringt von zwanzig oder fünfundzwanzig<br />
Jugendlichen. Carlos spielte auf der Gitarre, Dmitri auf<br />
der Ziehharmonika. Ein Mädchen, das neben Anna saß,<br />
begleitete sie auf ihrer eigenen Gitarre und mehrere Kids<br />
besorgten die Percussion mit Taburins, Maracas, Bongos<br />
und Congas – offensichtlich alle aus unserem Bestand.<br />
Anna sah glücklich aus, wie ich sie nie zuvor gesehen<br />
hatte, und vielleicht auch danach nie wieder. Ich<br />
beobachtete sie eine Weile, während ich meine beiden<br />
Toasts aß, dann ging ich wieder nach oben, um noch<br />
eine Runde zu schlafen.<br />
#
Denis Diderot, über die „Encyclopédie“: Dieses Werk<br />
wird sicher mit der Zeit eine Umwandlung der Geister<br />
mit sich bringen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, die<br />
Unterdrücker, die Fanatiker und die Intoleranten dabei<br />
nicht gewinnen werden.<br />
#<br />
Kurz nach fünfzehn Uhr weckte mich lauter Krach, der<br />
irgendwie versuchte, nach Musik zu klingen. Ein<br />
vielstimmiges Rasseln, Scheppern und Trommeln, eine<br />
Trillerpfeife, die durch Mark und Bein ging, und immer<br />
wieder Rufe, die ich nicht verstand. Was zur Hölle war<br />
das?<br />
Ich seufzte. Es war ohnehin Zeit, aufzustehen. Ich sollte<br />
mal unsere E-Mails checken.<br />
Also zog ich mich also an und verließ den Bus, um in die<br />
Stadthalle hinüberzugehen. Die Gruppe von<br />
Jugendlichen vor unserem Bus war inzwischen auf<br />
mehrere Dutzend angeschwollen. Sie saßen nicht mehr
im Gras, sondern sie tanzten. Und sie musizierten.<br />
Unsere Trommeln, Rasseln und anderen Instrumente<br />
hatten natürlich längst nicht ausgereicht, um alle<br />
auszurüsten, also war man erfinderisch gewesen. Einige<br />
Jungs trommelten auf Eimern, zwei Mädchen<br />
verwendeten die Deckel unserer Kochtöpfe als<br />
Tschinellen, eine große Gruppe von fast zwanzig Leuten<br />
hatte Plastikflaschen mit Kieselsteinen gefüllt und<br />
rasselte im Rhythmus. Apropos Rhythmus: Den gab<br />
Eugene vor. Er stand in der Mitte des ganzen<br />
chaotischen Treibens auf einem Sessel, eine Trillerpfeife<br />
im Mund, einen Stock in der Hand, und dirigierte.<br />
„Samba!“, rief Anna, als sie mich sah, „Mach mit!“<br />
Ich schüttelte den Kopf. „Bin gerade erst aufgestanden.<br />
Ich geh mal E-Mails checken.“<br />
„Ach, bist du langweilig!“, rief sie, aber dann drehte sie<br />
mir auch schon den Rücken zu und tanzte wieder in die<br />
Menge hinein.<br />
#
Ich suchte Harald, um ihn zu bitten, mir einen<br />
Internetzugang zu organisieren, und fand ihn mit<br />
sorgenvoller Miene mit vier andern Männern<br />
beisammenstehen. Der kleinste der Typen gestikulierte<br />
aufgebracht.<br />
Als Harald mich sah, eilte er sofort auf mich zu. Noch<br />
bevor ich etwas sagen konnte, flüsterte er: „Polizei.“<br />
„Was?“<br />
„Sie haben Angst, dass ihr die Stadthalle beschädigt.“<br />
„So ein Blödsinn“, sagte ich.<br />
„Dann komm mit und klär das auf“, sagte er, machte am<br />
Absatz kehrt und eilte zu der Gruppe zurück. Ich folgte<br />
ihm. Harald stellte mir die Leute vor. Zwei waren von<br />
der Verwaltung der Stadthalle, zwei von der Polizei.<br />
„Sie müssen verstehen, das ist ein historischer Bau ...“,<br />
sagte einer von den Stadthallen-Leuten. Es war der<br />
Kleine.<br />
Ich zuckte mit den Achseln. „Ist das nicht jeder Bau,<br />
wenn mal der letzte Ziegelstein gesetzt ist?“
„Ach was. Ich werde nicht dulden, dass Sie und Ihre<br />
Leute diese Hallen beschädigen. Wenn wir gewusst<br />
hätten, dass hier Punks herkommen ... Es war ein Fehler<br />
einer Mitarbeiterin, dass sie die Halle freigegeben hat.<br />
Das hätte nie passieren dürfen.“<br />
„Dürfen Punks nicht in historischen Gebäuden feiern?<br />
Ist das nur etwas fürs Establishment, oder wie soll ich<br />
das verstehen?“<br />
„Ach verstehen Sie doch, was Sie wollen“, fauchte der<br />
Mann. Sein Kopf lief dunkelrot an.<br />
„Jetzt mal in aller Ruhe“, sagte ein anderer Mann, einer<br />
der Polizisten. „Sie wissen, dass Ihre Gruppe sich schon<br />
einige Zeit am Rande der Legalität bewegt. Es gibt einige<br />
dokumentierte Sachbeschädigungen, bei denen Sie<br />
historische Gebäude besprayt haben.“<br />
Ich runzelte die Stirn. „Meines Wissens haben wir<br />
immer auf die Straße oder den Bürgersteig vor einem<br />
solchen Gebäude gesprayt. Öffentlicher Raum.“<br />
„Auch das ist Sachbeschädigung. Und Sie haben<br />
manchmal auch Tafeln und Schilder beschriftet. Und
Ihre Aktion bei MTV gestern hat Privateigentum<br />
beschädigt.“<br />
„Hat uns MTV angezeigt?“, fragte ich.<br />
Der Polizist schüttelte den Kopf. „Meines Wissens nicht.<br />
Aber ich gehe davon aus, dass die ganze Aktion auch<br />
vorab besprochen war, nicht wahr?“ Er lächelte.<br />
Ich lächelte zurück. „Da täuschen Sie sich.“<br />
„Aber wir werden euch klagen, wenn diesem Haus nur<br />
ein einziges Haar gekrümmt wird!“, schrie der kleine<br />
Choleriker.<br />
„Dieses Haus hat Haare?“, fragte der Polizist, sichtlich<br />
genervt von dem Kerl.<br />
„Es wird nichts passieren“, sagte ich. „Wir sind ja keine<br />
Vandalen.“<br />
„Okay“, sagte der Polizist. „Ich werde meine Leute im<br />
Publikum verteilen und wir beide bleiben in engem<br />
Kontakt.“<br />
„Das könnte kompliziert werden. Ich werde beim<br />
Konzert nämlich auf der Bühne stehen.“
„Und bringen Sie diese Horde da draußen zur<br />
Vernunft!“, schrie der Kleine.<br />
„Welche Horde?“<br />
„Die im Park, die den Lärm hier verursacht.“<br />
„Das ist Samba“, sagte ich.<br />
„Die Jugendlichen sollen ruhig weiter Musik machen“,<br />
sagte der Polizist. „Das beschäftigt sie und kostet eine<br />
Menge Energie. Beides ist gut.“<br />
#<br />
Achtzehn Uhr dreißig. Die Gruppe im Park war auf fast<br />
zweihundert Leute angewachsen, die Samba-Band<br />
bestand schon aus rund fünfzig Mitgliedern, die auf so<br />
ziemlich allem trommelten, worauf man nur Lärm<br />
erzeugen konnte. Inzwischen hatten sie den Rhythmus<br />
wirklich drauf, Eugene hatte Koordination in den Lärm<br />
gebracht.<br />
„Cool“, sagte Anna, und ich nickte.
#<br />
Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie: Mit Emergenz<br />
(von lat.: emergere, „auftauchen“, „hervorkommen“)<br />
bezeichnet man das Entstehen neuer Strukturen oder<br />
Eigenschaften aus dem Zusammenwirken der Elemente<br />
in einem komplexen System. Als emergent werden<br />
Eigenschaften eines „Ganzen“ bezeichnet, die sich aus<br />
den einzelnen „Teilen“ nicht direkt herleiten lassen und<br />
nur aus dem Zusammenwirken der Teile, d.h. aus ihrem<br />
Prozess heraus, erklärbar sind.<br />
#<br />
Das Konzert sollte ursprünglich um neun beginnen, aber<br />
Harald bat uns, erst später anzufangen. All jene Leute,<br />
die von der Verlegung nichts gehört hatten und an die<br />
ursprüngliche Location kamen, sollten die Gelegenheit<br />
erhalten, rechtzeitig in die Stadthalle zu kommen.
„Das sind nur ein paar hundert Meter Luftlinie, aber<br />
trotzdem: Beginnt nicht vor zehn“, sagte er. „Eure<br />
Aktion ist heute den ganzen Tag auf MTV wiederholt<br />
worden und euer Konzert war den ganzen Tag<br />
Gesprächsthema im lokalen Radio, es werden wirklich<br />
viele, viele Leute kommen.“<br />
„Okay“, sagte Eugene.<br />
Um halb neun war die Bude bereits ziemlich voll.<br />
Eugene und ich rauchten vor der Tür zum Backstage-<br />
Bereich eine Zigarette und beobachteten die Menge.<br />
„Was schätzt du?“, fragte er.<br />
„Sechshundert?“<br />
„Mindestens. Vielleicht sogar achthundert.“<br />
„Wow. Um neun ist die Halle gerammelt voll. Es macht<br />
keinen Sinn, bis zehn Uhr zu warten.“<br />
„Wir haben es zugesagt. Außerdem: Wer weiß, vielleicht<br />
übersteigen wir die Tausender-Marke.“<br />
Kurz nach neun Uhr gesellte sich Dmitri zu uns.<br />
„Vielleicht bin ich ja paranoid, aber ich könnte
schwören, wir hatten noch nie so viel Polizei im<br />
Publikum.“<br />
„Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie<br />
nicht hinter dir her sind“, sagte ich und erzählte ihnen<br />
von meinem Gespräch am Nachmittag.<br />
„Die Menge wird unruhig“, sagte er.<br />
Ich: „Tja, jetzt bräuchten wir eine Vorgruppe.“<br />
Carlos: „Was schätzt ihr, sind das schon mehr als<br />
tausend?“<br />
Ich: „Schwer zu sagen. Aber sicher nicht viel weniger.“<br />
Eugene: „Wir haben eine Vorgruppe ...“<br />
Carlos und ich sahen uns fragend an.<br />
„Wen?“, fragte ich schließlich.<br />
„Die Sambanistas“, sagte Eugene.<br />
Im Park spielten immer noch ein paar Dutzend<br />
Jugendliche Samba und tanzten dazu. Sie schienen gar<br />
nicht aufhören zu wollen. Wir hatten schon darüber<br />
gescherzt, ob die überhaupt noch aufs Konzert kommen<br />
würden. Jetzt holten wir sie.
Anna ging mit einem langen Stab als Taktstock in der<br />
Hand vorne weg, aber es war Eugene, der mit seiner<br />
Trillerpfeife den Rhythmus kontrollierte. Wir zogen in<br />
Viererreihen in die große Halle ein, gingen bis in die<br />
Mitte und stellten uns dann im Kreis auf. Rund um uns<br />
bildete das Publikum sofort eine tanzende Masse, die<br />
uns zu verschlucken schien. Die ganze Halle bebte, es<br />
war heiß und feucht, die Luft roch nach Schweiß und<br />
guter Stimmung. Wir waren in Brasilien, wir hatten<br />
unseren Karneval.<br />
Ich weiß nicht mehr, wie lange das dauerte. Wir<br />
begannen das Konzert jedenfalls noch viel später als<br />
geplant, und ehrlich gesagt ist mir davon nichts mehr in<br />
Erinnerung.<br />
Aber diesen ersten Auftritt mit den Sambanistas werde<br />
ich wohl nie vergessen.<br />
#
Während die Megastars der 60er mit ihren Fließband-<br />
Platten die Regale füllen, wird die Musikindustrie schon<br />
von der nächsten neuen Technologie bedroht. 1963<br />
präsentiert Philips die Compact Cassette, bald auch als<br />
Audio- bzw. MusiCasette (MC) bekannt. Tonbänder<br />
waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt<br />
worden, waren aber bislang teuer und unhandlich. Das<br />
neue Format ist robust, praktisch und relativ preiswert.<br />
Es wurde eigentlich für Diktiergeräte entwickelt, aber<br />
nach und nach entdecken Musikfreunde die Vorzüge des<br />
Systems – zunächst vor allem die Möglichkeit, ganze<br />
Alben aufzunehmen und mit Freunden zu tauschen.<br />
Das hätte die Industrie wohl noch weggesteckt, aber<br />
dann erscheinen die ersten kombinierten Radio-<br />
/Kassetterekorder. Für die Musikbranche sind diese<br />
Geräte zweischneidige Schwerter: Um einen Song zum<br />
Hit zu machen, braucht man das Radio als Marketing-<br />
Tool – und liefert damit die Gratiskopie frei Haus.<br />
Mitte der 70er-Jahre hat die Audiokassette die
Kinderzimmer erobert und eine ganze Generation<br />
drückt den Record-Knopf, wenn ihr Lieblingshit läuft.<br />
Die enge Vernetzung zwischen Musikindustrie und<br />
Radiostationen führt dazu, dass Radiomoderatoren<br />
beginnen, jedes Mal in die ersten und letzten Takte eines<br />
Liedes hineinzusprechen, um ungestörte Aufnahmen<br />
unmöglich zu machen. Das hilft nur bedingt: Die<br />
Absätze bei den Singles, bis dahin treue<br />
Gewinnlieferanten mit hohen Margen, brechen ein, die<br />
nächste Krise ist da.<br />
Aber keine Krise ohne Profiteure: 1979 bringt Sony den<br />
ersten Walkman auf den Markt und schafft endgültig<br />
den Sprung von der Reiskocher-Fabrik zum Lifestyle-<br />
Konzern. Sony und Philips, also Konzerne, die<br />
Hardware und Datenträger herstellen, kaufen sich in der<br />
Folge mit viel Geld in die Medienindustrie ein und<br />
werden auch beim Inhalt zu Global Players. Sony<br />
übernimmt CBS Records; Philips startet zunächst eine<br />
Kooperation mit der Deutschen Grammophon namens<br />
Phonogram Records, übernimmt später das DG-Export-
Label Polydor und vereinigt seine Musik-Aktivitäten<br />
schließlich unter dem Namen Polygram.<br />
Als wenige Jahre später die internationale „Home<br />
Taping Is Killing Music“-Kampagne startet, durchschaut<br />
kaum jemand die Ironie, die darin liegt, dass gerade<br />
Hometaping den Leermedien-Produzenten jene Profite<br />
ermöglichte, mit denen sie die Machtkonzentration in<br />
der Musikbranche noch weiter verdichteten.<br />
#<br />
Theodor Adorno/Max Horkheimer, „Dialektik der Aufklärung“:<br />
Von Interessenten wird die Kulturindustrie<br />
gern technologisch erklärt. Die Teilnahme der Millionen<br />
an ihr erzwinge Reproduktionsverfahren, die es<br />
wiederum unabwendbar machten, dass an zahllosen<br />
Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern geliefert<br />
werden. [...] Verschwiegen wird dabei, dass der Boden,<br />
auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft<br />
gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die
Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die<br />
Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der<br />
Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten<br />
Gesellschaft. Autos, Bomben und Film halten so lange<br />
das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am<br />
Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist.<br />
#<br />
Zwei Tage später, Hamburg. Ein Konzert im Logo. Wir<br />
bauten die Technik auf, ich verkabelte gerade die Mikros<br />
für das Schlagzeug. „Zweiundvierzig“, sagte Eugene.<br />
Ich hob den Kopf. „Zweiundvierzig was?“<br />
„Neue Artikel auf Google News seit gestern.“<br />
„Oh.“<br />
„Alleine in der deutschen Version.“<br />
„Doppel-Oh.“<br />
„Achthundert neue Follower auf Twitter. Und auf<br />
Facebook sind keine weiteren Freundschaftsanfragen<br />
möglich, wir haben das Limit erreicht. Es tut sich was.“
„Scheint so“, sagte ich und drückte einen Klinkenstecker<br />
in die vorgesehene Öffnung.<br />
Abends war das Lokal bis zum Bersten gefüllt. Mehrere<br />
hundert Leute durften nicht mehr rein. Wir legten ein<br />
Kabel durch ein Fenster zu unserem Bus, stellten zwei<br />
Boxen aufs Dach und ließen die Menschen an der ersten<br />
halben Stunde des Konzerts teilhaben. Dann trennte die<br />
Polizei das Kabel mit einer Zange ab.<br />
#<br />
Bochum. Ein Dienstag.<br />
Nach dem Erfolg von Kassel hatte der Veranstalter auch<br />
hier im letzten Moment eine größere Halle gebucht, die<br />
Zeche.<br />
Wir kamen am frühen Nachmittag an und sahen uns die<br />
Location an. Carlos und Dmitri gingen in die Stadt zum<br />
Einkaufen, Eugene schnappte sich ein Buch und einen<br />
Klappstuhl und machte es sich in der Sonne bequem,<br />
Anna und ich verschwanden in meiner Koje.
Eine Stunde später schlummerten wir nackt und eng<br />
umschlungen.<br />
Plötzlich hörten wir Eugenes Trillerpfeife.<br />
Trommeln. Rasseln.<br />
Kommandos.<br />
Ich seufzte.<br />
Anna fragte: „Willst du einen Kaffee?“<br />
„Klar.“<br />
Sie stand auf, ich drehte mich zur Seite und zog den<br />
Polster über meinen Kopf. Es nützte nichts. Die<br />
Trillerpfeife nervte.<br />
Ich seufzte nochmals, knöpfte meine Jeans zu, stand auf<br />
und ging hinunter. Anna stand in Jeans und BH in der<br />
Küche und beobachtete durch das Fenster eine Gruppe<br />
von rund zwanzig Personen, die nach Eugenes Pfeife<br />
tanzten und trommelten. Carlos und Dmitri waren auch<br />
dabei, sie gingen durch die Reihen und gaben sozusagen<br />
Einzelunterricht, wenn jemand mit dem Rhythmus<br />
nicht zurechtkam.<br />
Der Kaffee begann zu tropfen.
„Gleich ist er fertig“, sagte Anna, ohne ihre Augen von<br />
der Sambagruppe zu nehmen.<br />
„Okay“, sagte ich und machte mir einen Toast.<br />
„Willst du auch einen?“, fragte ich.<br />
Anna schüttelte den Kopf. „Sie üben, in einer Formation<br />
zu gehen.“<br />
„Was?“, fragte ich und sah auch aus dem Fenster. Sie hatte<br />
recht. Die Samba-Gruppe stand in einer rechteckigen<br />
Formation und alle zwei, drei Minuten ließ Eugene sie ein<br />
paar Meter nach vorne gehen oder eine Drehung im rechten<br />
Winkel machen. Er selbst ging immer vor der Formation her<br />
und gab die Kommandos mit Pfeife und unserm Besen, der<br />
als Taktstock fungierte.<br />
„Was zum Teufel das wohl werden soll?“, fragte Anna.<br />
#<br />
Im Laufe des Nachmittags kamen immer wieder neue<br />
Leute zur Samba-Gruppe dazu, die meisten davon<br />
brachten ihre eigenen Instrumente mit – oft nicht mehr
als ein Plastikeimer und eine Schöpfkelle. Carlos und<br />
Dmitri nahmen sich dieser Leute an, erklärten ihnen<br />
ihre Position, gliederten sie in die Formation ein und<br />
kümmerten sich gleich wieder um die nächsten. Jede<br />
halbe Stunde oder so gab es ein paar Minuten Pause,<br />
dann griffen alle zum Telefon und riefen ihre Freunde<br />
an und erzählten ihnen, wie toll dieser Nachmittag sei<br />
und dass sie unbedingt mitmachen müssten und gleich<br />
Instrumente mitbringen sollten, und wenig später war<br />
die Gruppe schon wieder ein wenig größer.<br />
Gegen sechs Uhr abends waren rund sechzig<br />
Sambanistas ganz gut in Form.<br />
Eugene kam kurz in den Bus, um sein verschwitztes T-<br />
Shirt zu wechseln. „Kommt ihr mit?“, fragte er.<br />
„Wohin?“<br />
„Wir demonstrieren.“<br />
„Aha“, sagte ich. „Wogegen?“<br />
„Für etwas, nicht gegen etwas. Für freie Musik, freie<br />
Kultur und ...“<br />
„Weltfrieden?“
Er lachte. „Genau. Woher wusstest du das?“<br />
„War nur geraten.“<br />
Wir marschierten also los und verursachten sofort ein<br />
Verkehrschaos. Es dauerte nicht lange, und mehrere<br />
Streifenwagen tauchten auf. Die Demonstration war<br />
nicht angemeldet, die Polizei wirkte ratlos.<br />
Ein Beamter kam auf mich zu. Er stellte sich vor, aber<br />
ich verstand seinen Namen nicht, nur das Wort<br />
Einsatzleitung. „Was haben Sie vor?“, fragte er.<br />
„Wenn ich das wüsste“, seufzte ich.<br />
Plötzlich stand Eugene neben uns. Carlos machte nun<br />
den Kapellmeister.<br />
„Das ist eine spontane politische Demonstration“, sagte<br />
Eugene.<br />
„Sie ist nicht angemeldet“, sagte der Einsatzleiter.<br />
„Sonst wäre sie ja wohl auch kaum spontan“, sagte<br />
Eugene mit einem Grinsen.<br />
„Was haben Sie vor?“<br />
„Wir werden uns friedlich verhalten.“
Der Polizist zog einen Stadtplan hervor. „Zeigen Sie mir<br />
die Route.“<br />
Eugene. „Wir sind freie Menschen. Wir gehen, wohin<br />
wir wollen, und fragen nicht um Erlaubnis.“<br />
„Das ist offensichtlich. Aber Sie führen eine<br />
Hundertschaft Jugendlicher zur Stoßzeit quer über die<br />
Hauptverkehrsstraßen. Wollen Sie, dass ein Auto mitten<br />
in Ihre Gruppe rast?“<br />
Eugene überlegte eine Sekunde, dann nahm er den<br />
Stadtplan. „Wir marschieren einmal um die Innenstadt<br />
und lösen die Demonstration in der Fußgängerzone auf.<br />
Hier, rund um den Ring.“<br />
Der Polizist zeichnete die Route auf die Karte. „Ich<br />
werde heute Abend Ihr Konzert besuchen“, sagte er. „Ihr<br />
sollt ganz guten Rock machen und wenn das so ist, freue<br />
ich mich darauf. Aber wenn eines der Kinder hier zu<br />
Schaden kommt, dann nehme ich euch fest, bevor der<br />
erste Ton erklingt.“<br />
Tatsächlich beschränkte sich die Polizei nun darauf, den<br />
Verkehr anzuhalten. Man machte uns freie Bahn, um
niemanden zu gefährden. Wir marschierten nach<br />
Norden, in Richtung Innenstadt, einmal um den Ring,<br />
dann in die Fußgängerzone. Dort spielten wir noch eine<br />
weitere Viertelstunde und lockten ein Publikum von<br />
vier- oder fünfhundert Leuten an, die mitten im<br />
Ruhrpott auf der Straße Samba tanzten und den<br />
Rhythmus mitklatschten.<br />
#<br />
Eugene und der Einsatzleiter tranken nach dem Konzert<br />
bis vier Uhr morgens etliche Biere. Wir würden eine<br />
Anzeige erhalten, sagte der Polizist, „aber verglichen mit<br />
der Klage von diesen Musikbranchenfuzzis, die ihr schon<br />
am Hals habt, ist das nichts.“<br />
„Okay“, sagte Eugene. „Morgen in Essen ...“<br />
„Was ist da?“<br />
„Da machen wir so was wieder. Kannst du uns bei der<br />
Anmeldung der Demo helfen?“<br />
„Nein, nicht mein Revier.“
„Du kennst doch sicher deine Kollegen drüben. Es soll ja<br />
niemand von den Kids zu Schaden kommen.“<br />
Der Polizist nahm noch einen Schluck vom Bier. „Weißt<br />
du genau, was du tust?“<br />
„Ich hoffe es“, sagte Eugene. „Ich hoffe es.“<br />
„Gut, dann morgen in Essen. Ich kümmere mich<br />
darum.“<br />
„Und übermorgen in Duisburg.“<br />
„Gut, also auch Duisburg.“<br />
„Und dann Dortmund. Düsseldorf. Bonn.“<br />
Ich las einen Kommentar in der Online-Ausgabe des<br />
Spiegel: „Die Medienindustrie ist ein brodelnder<br />
Tümpel voller Raubfische, in dem die Großen die<br />
Kleinen fressen, und die Schnellen die Langsamen.<br />
Immer schneller werden Unternehmen gegründet und<br />
liquidiert, gekauft und verkauft, abgespalten und<br />
zusammengelegt. Die mächtigsten Konzerne besitzen<br />
#
mittlerweile hunderte Plattenlabels, Radiosender und<br />
TV-Stationen, Verlage für Zeitungen, Magazine und<br />
Bücher, Filmstudios, Kabelnetze, Webservices, Internet<br />
Provider, Anteile an Telekommunikationsunternehmen,<br />
Softwarefirmen und Hardwareherstellern,<br />
Vergnügungsparks und Sportteams. Sie sind in hundert<br />
Ländern und mehr aktiv und viele ihrer Tochterfirmen<br />
sind nur auf lokalen Märkten tätig. Die schiere Größe<br />
dieser Konzernimperien macht es praktisch unmöglich,<br />
sich einen tagesaktuellen Überblick über die Reiche der<br />
Medien-Oligarchen zu verschaffen. Konstant bleibt am<br />
Bazar der Beteiligungen nur eines: die Tendenz zur<br />
Konzentration.“<br />
#<br />
Mittwoch in Essen.<br />
Rund hundert Fans kamen gegen Mittag zum Samba-<br />
Training. Gut die Hälfte davon war am Tag zuvor schon
in Bochum dabei gewesen, schließlich lagen die Städte<br />
gerade mal eine halbe Stunde voneinander entfernt.<br />
„Wir haben Fans“, stellte Carlos erstaunt fest. „Ich<br />
mache seit über dreißig Jahren Musik, aber ich hatte<br />
noch nie einen einzigen Fan.“<br />
„Und jetzt hast du hundert“, sagte ich.<br />
„Ich war schon immer dein Fan“, sagte Dmitri und gab<br />
ihm einen Kuss.<br />
Am frühen Abend marschierten wir los. Wieder<br />
umrundeten wir den Stadtkern und lösten die Demo<br />
dann in einer Fußgängerzone auf. Wie sich Stadtpläne<br />
doch gleichen konnten. Kopien und Mutationen.<br />
„Wir sehen uns heute Abend beim Konzert – und<br />
morgen in Köln!“ rief Eugene mit einem Megaphon in<br />
die Menge. Jubel brandete auf.<br />
Ein Kommentar auf faz.net: „Als Ende der Zwanziger<br />
das Radio aufkam und ‚gratis‘ Musik spielte, brach der<br />
#
US-Shellack-Markt binnen weniger Jahre um 88 (!)<br />
Prozent ein. Ziemlich bald haben die Radioketten die<br />
Musikfirmen aufgekauft, um überhaupt spielbares<br />
Material zu haben. Und dann haben sie entdeckt, dass<br />
man viel Kohle machen kann, wenn man die eigenen<br />
Künstler massiv im Radio bewirbt.<br />
Das wird jetzt nicht anders laufen. Wenn die<br />
Contentindustrie zusammenbricht, wird sie von den<br />
großen Telekomunternehmen aufgekauft werden.<br />
Schließlich muss man uns ja was bieten für unsere<br />
Breitband-Flatrate. Musik und Film werden nicht<br />
sterben, nur die Konzernzentralen werden andere sein.<br />
Wen kümmert’s?“<br />
Schrieben die von uns ab?<br />
Köln. Donnerstag. Von der Uni in die Fußgängerzone,<br />
150 Sambanistas, rund 200 weitere Demonstranten,<br />
lokale Presse. Transparente und Schilder. Kultur ist<br />
#
Freiheit! Unsere Musik gehört uns! Brecht die Macht der<br />
Banken und Konzerne! Nieder mit dem<br />
Neoliberalismus! Jugendorganisationen der Grünen,<br />
Trotzkisten, der Freie-ArbeiterInnen-Union, anderen<br />
Linken. Eine große Gruppe Nerds.<br />
„Schau mal“, sagte Carlos und deutete auf eine Straßenlaterne.<br />
Ich sah nicht gleich, was er meinte.<br />
„Der Aufkleber“, sagte er, und da sah ich ihn: ein roter<br />
Aufkleber mit einem schwarzen Stern und darüber in<br />
weißen Buchstaben der Schriftzug „Das gehört mir!“<br />
„Ist der von uns?“, fragte ich.<br />
„Nicht dass ich wüsste“, sagte Carlos.<br />
Am Abend, unmittelbar vor dem Konzert, bekamen wir<br />
Besuch von sechs Typen in Anzügen. Zwei in teuren<br />
Nadelstreifen, das waren Anwälte. Zwei in schwarzen<br />
Einreihern mit schwarzen Hemden und schwarzen<br />
Krawatten, dazu schwarze Ray-Ban-Brillen. Das waren<br />
Bodyguards. Zwei in schlecht sitzenden Sakkos, einer<br />
trug dazu Jeans, der andere Bundfaltenhosen. Das waren<br />
Polizisten.
Einer der Anwälte kam auf mich zu, hielt mir einen<br />
Brief unter die Nase. „Heiner Kordmanner. Anwalt. Ich<br />
arbeite für die Volvox Corporation. Sie haben keine feste<br />
Postadresse, also dachte ich, ich bringe das hier<br />
persönlich vorbei“, sagte er.<br />
„Was ist das?“<br />
„Eine einstweilige Verfügung.“<br />
„Aha.“<br />
„Ja, bis die deutschen Gerichte unseren kleinen Urheberrechtsstreit<br />
entschieden haben, ist es Ihnen untersagt,<br />
diese <strong>incommunicado</strong>-Nummer aufzuführen. Keine<br />
Schweigeminute mehr.“<br />
Ich sah ihn an, warf einen Blick zu den Polizisten, dann<br />
zu den Bodyguards.<br />
„Verstehen Sie das?“, fragte er.<br />
Ich kratzte mich am Kinn, langsam, nachdenklich.<br />
„Hallo?“, fragte er. „Jemand zu Hause?“<br />
Ich nahm den Brief, öffnete das Kuvert, nahm den<br />
Inhalt heraus, kratzte mich noch einmal. Dann warf ich
einen Blick auf meine Armbanduhr, beobachtete den<br />
Sekundenzeiger, wartete.<br />
„Sind Sie dumm? Oder irgendwie verhaltensgestört?“,<br />
fragte er. Die Polizisten und die Bodyguards kamen<br />
näher.<br />
Schließlich sagte ich: „Ich habe jetzt eine Minute geschwiegen.<br />
Was wollen Sie dagegen machen? Wollen Sie<br />
mich zwingen, pausenlos durchzusprechen? Ist das Ihr<br />
Ernst?“<br />
Die sechs tauschten ratlos Blicke aus. Der zweite Anwalt<br />
verzog den Mund und seufzte. Er hatte das wohl<br />
vorhergesehen.<br />
Ich zerriss die Verfügung und ging.<br />
#<br />
Andrei Sacharow, „Gedanken über Fortschritt, friedliche<br />
Koexistenz und geistige Freiheit“: Die zweite<br />
Grundthese lautet, dass intellektuelle Freiheit essenziell<br />
für die menschliche Gesellschaft ist – die Freiheit,
Informationen zu erhalten und zu verbreiten, die<br />
Freiheit einer geistig offenen und furchtlosen Debatte<br />
sowie die Freiheit vom Druck von offizieller Seite oder<br />
durch Vorurteile. Diese Dreifaltigkeit der<br />
Gedankenfreiheit ist die einzige Garantie gegen eine<br />
Infektion der Menschen mit Massenmythen, die in den<br />
Händen von scheinheiligen Verrätern und Demagogen<br />
in einer blutigen Diktatur münden können.<br />
Gedankenfreiheit ist die einzige Garantie für die<br />
Machbarkeit eines wissenschaftlich-demokratischen<br />
Zugangs zu Politik, Wirtschaft und Kultur.<br />
#<br />
Noch so eine Stroboskop-Szene, von der ich nicht weiß,<br />
in welche Stadt sie gehört. Irgendwann tranken Eugene<br />
und ich mit einem jungen Inder ein Bier und er erzählte<br />
mir die Geschichte vom Basmati-Reis.<br />
Basmati wird in Indien seit mehr als 2.000 Jahren<br />
angebaut. Er ist eine Züchtung indischer Bauern. Die
Bauern tauschen traditionell ihr Saatgut untereinander<br />
und so ist über Jahrhunderte hinweg diese Sorte<br />
entstanden. Sie ist ein gemeinsames Werk von vielen<br />
tausend kleinen Bauern. Vor einigen Jahren hat eine<br />
Firma namens RiceTec ein paar Gene im Reis verändert<br />
und ihre neue Sorte in den USA zum Patent angemeldet.<br />
Und sie hat versucht, die Markenrechte für den Namen<br />
Basmati zu erhalten. Denn der Name war nicht<br />
geschützt. Markenrechte sind nichts, worüber sich<br />
indische Bauern Gedanken machen.<br />
„Wie kann man bitte eine Pflanze patentieren?“, fragte<br />
ich. „Und wie kann man eine Bezeichnung schützen,<br />
die es seit Jahrtausenden gibt?“<br />
„RiceTec ist ein großer Konzern mit großen finanziellen<br />
Mitteln“, sagte der Inder. „Und wenn die nicht mehr<br />
ausreichen, auch diplomatischer Unterstützung: Das<br />
Unternehmen gehört dem Fürsten von Liechtenstein.“<br />
Eugene sagte: „Der Feudalismus ist nicht tot, er<br />
bekommt nur ein anderes Gesicht. Parteien und<br />
Konzerne statt Kirchen und Adelige.“
„Es hat jahrelange Prozesse gegeben und letztlich haben<br />
die amerikanischen Gerichte noch einmal den indischen<br />
Bauern recht gegeben, und nicht dem europäischen<br />
Fürsten“, sagte der Mann. „Aber die westlichen Agrar-<br />
Konzerne werden es wieder versuchen. Und wieder und<br />
wieder. Wir müssen etwas dagegen tun. Ihr müsst etwas<br />
dagegen tun.“ Bei dem letzten Satz sah er Eugene und<br />
mich an.<br />
„Aber was?“, fragte ich.<br />
„Ihr kommt in die Medien, ihr könnt den indischen<br />
Bauern eine Stimme geben. Und allen anderen“, sagte<br />
er. „Es ist wichtig, wenn ihr für eure Musik kämpft.<br />
Aber es reicht nicht aus. Der Starke darf nicht nur für<br />
sich kämpfen. Es gibt ähnliche Geschichten über<br />
Naturheilmittel aus dem Amazonasbecken und Afrika<br />
oder über ein Fungizid aus den Samen des Neem-<br />
Baumes, das von indischen Farmern seit Ewigkeiten<br />
verwendet wird und von einer westlichen Firma am<br />
Europäischen Patentamt in München patentiert wurde.<br />
Dort werden tatsächlich Patente auf Tiere und Pflanzen
erteilt, mehrere tausend sind angemeldet, mehrere<br />
hundert schon erteilt.“<br />
„Du kennst dich da gut aus“, sagte ich.<br />
„Ich bin Patentanwalt“, sagte er. „Ich verdiene damit<br />
mein Geld. Und ich fühle mich ein Verbrecher.“<br />
#<br />
Wir hatten Schlagzeilen in allen großen Medien. Aber<br />
die größte Überraschung für mich war Eugenes Blog.<br />
Noch einen Monat zuvor hätte ich alles darauf gewettet,<br />
dass ein konfuser Mix aus Mediengeschichte,<br />
Einführung in die politische Philosophie und<br />
zusammenkopierten Zitaten aus Zeitschriften, Büchern<br />
und Song-Lyrics nicht mehr als fünf Leser findet.<br />
Nun hatten wir zwischen fünf- und zehntausend<br />
Zugriffe – pro Tag! Andere Websites verlinkten zu uns,<br />
andere Blogs zitierten Eugene. Seine Artikel wurden<br />
über Mailing-Listen verschickt und in Foren rezensiert
und kommentiert. Oft wurde er verrissen, noch öfter<br />
gelobt.<br />
Eugene war unser Star.<br />
Dabei fand ich, er wurde inzwischen viel zu kompliziert.<br />
Er ließ mich jeden Text lesen und redigieren, bevor er<br />
ihn online stellte. Als er sein Spezialgebiet, die<br />
Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts erreichte,<br />
begannen wir beinahe zu streiten. Er wollte über<br />
Thomas Hobbes schreiben, und John Locke und<br />
Thomas Jefferson und die Französische Revolution.<br />
„Das interessiert doch niemanden“, sagte ich. „Viel zu<br />
kompliziert, viel zu schwer, viel zu abstrakt. Leser wollen<br />
sich nicht plagen, nicht mal eine Sekunde. Hier geht’s<br />
um Popmusik.“<br />
Er bestand darauf. Also schrieb er seinen Text und ich<br />
kürzte. Er jammerte und ich kürzte noch mehr. Und<br />
dann zerlegte ich das Dokument in kurze Abschnitte,<br />
um sie getrennt zu posten.<br />
„Kommt nicht in Frage“, protestierte Eugene.
„Eugene, so funktionieren moderne Medien“, sagte ich.<br />
„Pop-Songs werden immer kürzer, Kinofilme immer<br />
rasanter geschnitten. Die Konsumenten haben keine<br />
Geduld mehr. Sie zappen nicht mehr nur zwischen<br />
Fernsehkanälen. Sie springen von Online-Artikel zu<br />
Online-Artikel, ohne einen zu Ende zu lesen, sie<br />
konsumieren dutzende YouTube-Clips statt eines Films,<br />
wenn sie iPod hören, hüpfen sie jede Minute zum<br />
nächsten Song. One Minute Media, das ist die Zukunft,<br />
ob wir wollen oder nicht. Wenn ich tatsächlich mal ein<br />
Buch schreibe, irgendwann, werde ich es in tausend<br />
kurze Absätze brechen. Schau dir doch mal an, wie die<br />
Leute Bücher lesen: Sieben Minuten im Bus, drei<br />
Minuten in der U-Bahn, vier Minuten beim<br />
Mittagessen, zwei Minuten am Klo.“<br />
Eugene grummelte, aber er vertraute mir letztlich. Ich<br />
kürzte und teilte seine Texte also, ich formulierte sie<br />
umgangssprachlich und im Präsens, wegen der<br />
Dynamik. Auch danach fand ich sie immer noch zu<br />
kompliziert, aber ich checkte jeden Tag die
Zugriffszahlen unserer Homepage und stets waren sie<br />
wieder gestiegen. Der Leser hat immer recht, hat mir<br />
mein erster Chefredakteur eingetrichtert. Eine Story<br />
muss verkaufen. Wenn sie nicht verkauft, ist sie schlecht,<br />
auch wenn du sie gut findest. Wenn sie verkauft, ist sie<br />
gut, auch wenn du sie schlecht findest. So einfach ist<br />
das.<br />
Eugenes Blog verkaufte. Definitiv. Sogar die anderen<br />
Medien sprangen auf seinen Zug auf. Ein Journalist der<br />
taz machte ein stundenlanges Interview mit ihm. Mit der<br />
Band sprach der Kollege nur ein paar Worte, eher aus<br />
Höflichkeit.<br />
„Was soll das?“, fragte Anna.<br />
Ich wusste keine Antwort.<br />
Dortmund. Freitag.<br />
Wieder Besuch von zwei Polizisten, die uns ein Papier<br />
überbrachten. „Die Anmeldung ihrer Demonstration<br />
#
wurde nicht genehmigt, sie ist illegal“, sagte einer.<br />
Eugene nahm den Brief wortlos entgegen, die Polizisten<br />
gingen wieder. Eugene warf den Brief ungeöffnet in den<br />
Müll.<br />
Wieder ein Ring um die Innenstadt, wieder eine<br />
Fußgängerzone mittendrin. Etwa 200 Sambanistas, rund<br />
doppelt so viele weitere Demonstranten. Fernseh-Teams,<br />
Radio-Interviews, ein großer Pulk von Fotografen, klick,<br />
klick, klick die ganze Zeit. Deutschland wusste, was wir<br />
taten, besser als wir selbst.<br />
Jugendliche, die „Das gehört mir“-Aufkleber überall<br />
anbrachten: an öffentlichen Einrichtungen, bei<br />
McDonalds und Karstadt, an der Kirche. Viele Designs,<br />
immer derselbe Schriftzug.<br />
„Wo habt ihr die Aufkleber her?“, fragte ich einen<br />
Jungen.<br />
„Das sind selbst bedruckte Klebeetiketten“, sagte er.<br />
Dann, verschmitzt: „Wir haben jetzt einen Verein gegen<br />
die Diktatur der Medienkonzerne gegründet und<br />
machen Werbung dafür: Elektronische Entropie e.V.“
#<br />
Eugene schrieb: Information ist Macht. Jedes Gesetz, das<br />
den Zugang zu Information regelt, regelt die<br />
Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Deshalb haben die<br />
Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts die<br />
Urheberrechtsgesetze geändert. Sie haben die Rechte und<br />
damit die Kontrolle von den Verlegern und Kaufleuten an<br />
die Autoren und Künstler übertragen. Sie haben die Macht<br />
zu kommunizieren dezentralisiert und jedem Einzelnen in<br />
die Hand gegeben. Wenn sich heute die Großkonzerne<br />
diese Macht durch Knebelverträge und ihre Kontrolle über<br />
die Technik wieder holen, so stellen sie damit Weichen für<br />
die Zukunft. Sie übernehmen die Kontrolle der<br />
Informationsgesellschaft.<br />
Dennoch wäre es falsch, Urheberrechte einfach<br />
abzuschaffen. Auch wer das fordert, macht einen Schritt<br />
hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück. Wo es<br />
kein Gesetz gibt, gilt das Faustrecht. Homo homini lupus,
der Mensch ist des Menschen Wolf, schrieb Thomas<br />
Hobbes im 17. Jahrhundert. Heute würde er vielleicht<br />
schreiben: Dog eat dog.<br />
Okay, Hobbes mag einem nicht als Erstes in den Sinn<br />
kommen, wenn man über Freiheit nachdenkt, immerhin<br />
ist er ein Verfechter des Absolutismus. Aber trotzdem<br />
beginnt alles irgendwie mit ihm. Hobbes trifft als junger<br />
Mann Galileo Galilei und ist schockiert über den<br />
Umgang der Inquisition mit dem großen Gelehrten. In<br />
ihm reift der Gedanke, für die politische Philosophie das<br />
zu tun, was die Astronomen zu dieser Zeit auf dem<br />
Gebiet der Wissenschaft erreichen: sie auf das<br />
Fundament der Vernunft zu stellen.<br />
Seit Menschengedenken haben Herrscher ihre Macht<br />
stets von den Göttern abgeleitet, aber Hobbes macht<br />
damit in seinem Buch Leviathan Schluss. Ihm zufolge<br />
lebten die Menschen früher in einem Naturzustand, in<br />
dem sie zwar völlig frei waren, aber auch keine Sicherheit<br />
hatten. Sie waren ständig in der Gefahr, von anderen<br />
Menschen überfallen, beraubt oder getötet zu werden.
Also geben die Menschen laut Hobbes ein Stück ihrer<br />
Freiheit auf, wenn ein Monarch ihnen Sicherheit bietet.<br />
Herrschaft ist gewissermaßen ein Geschäft. Gott kommt<br />
in diesem Vertrag nicht vor.<br />
Die Kirchen toben und auch die Monarchen sind wenig<br />
glücklich damit, von Gottes auserwählten Werkzeugen<br />
zu profanen Vertragspartnern zu werden. Dass Thomas<br />
Hobbes’ Phantasie nicht weiter reichte als bis zur<br />
absoluten Monarchie, ist aus heutiger Sicht ein schwerer<br />
Makel, tatsächlich war sein Buch aber ein Meilenstein in<br />
der politischen Geschichte.<br />
Die nächste Meile zum nächsten Stein geht ein paar<br />
Jahrzehnte später ein anderer britischer Philosoph: John<br />
Locke. Im Jahr 1690 entwickelt er in seinem Buch Two<br />
Treatises on Government die Theorie vom<br />
Gesellschaftvertrag weiter. Auch Locke sagt, Menschen<br />
sollen eine Regierung gewissermaßen dulden, weil sie<br />
ihnen Vorteile bringt. Im Gegensatz zu Hobbes räumt er<br />
der Bevölkerung aber ein weit reichendes Wider-
standsrecht ein. Eine Regierung, die ihre Aufgaben nicht<br />
erfüllt, kann abgesetzt werden, sagt er.<br />
Locke, der übrigens mit Isaac Newton in regelmäßigem<br />
Briefverkehr stand, streicht auch Folgendes hervor:<br />
Damit Menschen einige ihrer Rechte an eine Regierung<br />
abtreten können, brauchen sie zunächst eines: natürliche<br />
Rechte. Rechte, die ihnen eine Regierung weder<br />
gewähren kann noch gewaltsam nehmen darf. Dazu<br />
gehören für Locke die Rechte auf Freiheit, Gleichheit,<br />
Unverletzlichkeit der Person und – wichtig für den<br />
Gegenstand unserer Untersuchung – das Eigentumsrecht<br />
des Einzelnen an den Früchten seiner Arbeit.<br />
Zwanzig Jahre später wird in England das Statute of<br />
Anne erlassen: das erste moderne Copyright. In Lockes<br />
Sinn garantiert es den Autoren, nicht mehr den<br />
Verlegern, für 14 Jahre die Verfügungsrechte über die<br />
Früchte ihrer Arbeit.<br />
Lockes Buch findet viele aufmerksame Leser, neben<br />
Immanuel Kant ist Jahrzehnte später auch Thomas<br />
Jefferson darunter, der Autor der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese<br />
Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich<br />
erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit<br />
gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden,<br />
worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach<br />
Glückseligkeit. Dass zur Versicherung dieser Rechte<br />
Regierungen unter den Menschen eingeführt worden<br />
sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung<br />
der Regierten herleiten; dass sobald eine Regierungsform<br />
diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des<br />
Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen ...“<br />
#<br />
Wir recherchierten natürlich die Sache mit den<br />
Pflanzen-Patenten und fanden noch etwas: Terminator-<br />
Gene.<br />
Traditionelle Bauern legen immer einen Teil ihrer Ernte<br />
zur Seite, um ihn im nächsten Jahr wieder auszusäen. In<br />
Dürre-zeiten mussten sie immer abwägen: Hunger
versus Saatgut-Reserven. Eine globale Wirtschaft könnte<br />
dieses Problem beheben, denn nun lässt sich das Saatgut<br />
für die nächste Ernte kaufen – und dann wieder Jahr für<br />
Jahr weiterverwenden.<br />
Aber genau das ist natürlich nicht maximal profitabel.<br />
Dank Gentechnik haben es Saatgutkonzerne geschafft,<br />
sehr preiswertes Saatgut herzustellen, das genau einmal<br />
keimt. Die Früchte dieses Saatguts – Getreide zum<br />
Beispiel – sehen zwar aus wie normale Früchte und<br />
schmecken auch so, aber wenn man sie anpflanzt,<br />
passiert nichts.<br />
Wer einmal Saatgut mit Terminator-Genen kauft<br />
(kaufen muss), muss das im nächsten Jahr wieder tun.<br />
Und im nächsten Jahr wieder. Die Großkonzerne<br />
drängen mit Kampfpreisen in diesen Markt und erobern<br />
bei jeder Dürre und jeder Naturkatastrophe wieder eine<br />
der ärmsten Gegenden der Welt.<br />
„Kopierschutz für Pflanzen“, sagte Eugene und schrieb<br />
einen gleichnamigen Blogpost.
#<br />
Düsseldorf. Samstag.<br />
Von der Heinrich-Heine-Universität bis zur<br />
Fußgängerzone, dann ein Abschlusskonzert im<br />
Hofgarten, so lautete der Plan. „Qualität vor Quantität“,<br />
sagte Eugene und beschränkte die Zahl der Sambanistas<br />
auf hundert. Drei- oder viermal so viele Menschen<br />
mussten wir vertrösten.<br />
Nach der Demo zogen wir in den Hofgarten, einen<br />
großen Park, und gaben dort vom Dach des Busses aus<br />
ein Konzert. Der Park war vollkommen überlaufen und<br />
wir fürchteten ein wenig, dass niemand auf unser<br />
„richtiges“ Konzert am Abend ins Zakk kommen würde.<br />
Wir waren ja finanziell immer noch von den Eintritten<br />
abhängig und lebten praktisch von der Hand in den<br />
Mund.<br />
Aber die Sorge war unbegründet. Das Zakk, ein linksalternatives<br />
Kultur- und Veranstaltungszentrum, war<br />
ausverkauft. Wir spielten also unser zweites Konzert an
diesem Tag. Meine Finger taten weh und meine<br />
Stimmbänder waren schon heiser, aber es war<br />
fantastisch. Auch die anderen spielten wie in Trance.<br />
Das war es, wofür wir geboren waren. Es war nicht<br />
anstrengend. Es war wunderschön.<br />
Nach dem Konzert folgte die größte Überraschung. Ich<br />
drängte mich durchs Publikum an die Bar, ließ mir<br />
gratulieren und auf die Schulter klopfen, und plötzlich<br />
stand er vor mir. Lederjacke, zerrissene Jeans, unrasiert,<br />
die Ray Ban über der Stirn: Max. Er grinste mich an.<br />
„Was tust du hier?“, fragte ich.<br />
„Scouting“, sagte er. „Ich habe einen Tipp bekommen.<br />
Ein alter Freund hat gemeint, ich soll mir die Band mal<br />
ansehen. Könnte ja sein, dass sie in absehbarer Zeit einen<br />
Plattenvertrag bekommt. Willst du was trinken?“<br />
„Und? Wie hast du uns gefunden?“<br />
Er überlegte, schürzte die Lippen, rang sich ein kurzes<br />
Nicken ab. Dann war plötzlich Anna da. „Hi, ist das ein<br />
Freund von dir?“, fragte sie.
Max lächelte sein frechstes Lächeln und sah sie sich ganz<br />
genau von oben bis unten an. Dann streckte er ihr die<br />
Hand entgegen.<br />
„Ja, das ist ein alter Freund“, sagte ich, „Das ist …“<br />
„Peter“, sagte Max. „Und du bist Anna.“<br />
Sie nahm seine Hand und lächelte zurück. „Wolltet ihr<br />
gerade etwas trinken?“<br />
Max drehte sich zur Bar und bestellte eine Flasche<br />
Tequila.<br />
„Eine Flasche?“, fragte ich. Verdammt noch mal, wollte<br />
er jetzt mit uns feiern?<br />
Carlos und Eugene tauchten auf. Max drückte ihnen<br />
Gläser in die Hand und schenkte ein.<br />
„Auf die Soundinistas!“, rief er.<br />
Wir stießen an, tranken ex, dann sagte ich: „Wir sollten<br />
rübergehen in den Park, nachsehen, was sich dort tut!“<br />
Eugene nickte. „Gute Idee!“<br />
„Ich bleibe hier“, sagte Anna.<br />
So war das nicht gedacht.<br />
Da kam Dmitri. „Wir müssen in den Park!“, sagte er.
„Das diskutieren wir gerade“, sagte Eugene.<br />
„Nicht diskutieren, tun. Es scheint Probleme mit der<br />
Polizei zu geben.“<br />
„Was für Probleme?“, fragte ich.<br />
„Keine Ahnung, aber das sollten wir uns ansehen“, sagte<br />
Dmitri und machte sich auf den Weg zur Tür. Eugene<br />
drängte hinter ihm nach, wir anderen folgten. Auf der<br />
Straße vor dem Lokal herrschte aufgeregte Stimmung.<br />
Hundert oder zweihundert Menschen standen in kleinen<br />
Gruppen beisammen. „Alles voll Polizei“, hörte ich<br />
jemanden sagen, und jemand anderen: „Wir müssen sie<br />
befreien.“<br />
„Los, zum Park“, rief Eugene und lief los. Ich zögerte.<br />
Max und Anna waren nicht bei uns, sie blieben wohl<br />
tatsächlich an der Bar. Ich lief hinter den anderen her.<br />
Eine Wolke blaues Licht wies uns den Weg.<br />
Als wir am Hofgarten ankamen, sahen wir, dass eine<br />
Gruppe von etwa hundert Leuten von der Polizei<br />
umstellt war. Beamte in Rüstungen bildeten mit<br />
Plexiglasschilden einen Kessel. Auf dem Dach eines
Polizeibusses standen drei Uniformierte. Einer filmte die<br />
Menge, einer leuchtete ihm mit einem starken<br />
Suchscheinwerfer, der dritte kniete vor ihnen und<br />
schützte sie mit zwei hoch gehaltenen Schilden. Die<br />
Leute im Kessel trugen Kapuzen und Mützen, viele<br />
hatten sich Tücher oder T-Shirts vors Gesicht gebunden.<br />
„Was ist hier los?“, fragte Eugene einen Polizisten, der<br />
die Seitengasse beobachtete, aus der wir kamen.<br />
„Das sehen Sie doch“, antwortete der Mann barsch.<br />
Eugene sah ihn verständnislos an. „Es gibt keinen<br />
Grund, unhöflich zu sein, oder?“<br />
Der Polizist überlegte kurz. „Jemand aus der Menge hat<br />
einen Pflasterstein auf einen Kollegen geworfen und ihn<br />
ins Gesicht getroffen. Kieferbruch.“<br />
„Und der Täter ist in dieser Gruppe?“<br />
„Ja.“<br />
„Was geschieht jetzt mit den Leuten?“<br />
„Sie dürfen den Kessel verlassen, aber nur einzeln und<br />
wenn sie ihre Personalien angeben. Bis wir den Täter<br />
haben.“
„Was machen wir jetzt?“, fragte Carlos.<br />
„Darum kümmere ich mich“, sagte Eugene. „Und ihr<br />
geht zurück in die Bar.“<br />
Ich dachte an Anna und Max. Ich wollte zurück.<br />
„Kommt, wir sollten uns um unser Publikum<br />
kümmern“, sagte ich. Dmitri und Carlos folgten nur zu<br />
bereitwillig.<br />
Wir kamen wahrscheinlich keine Minute zu spät wieder<br />
im Zakk an. Max und Anna verstanden sich prächtig<br />
und standen schon ziemlich nah beieinander. Ich schob<br />
mich dazwischen, legte ihr einen Arm um die nackte<br />
Hüfte und küsste sie. Sie lachte.<br />
„Gibt’s hier noch Tequila?“, rief ich.<br />
#<br />
Eugene kam an diesem Abend nicht mehr ins Zakk. Er<br />
brauchte bis vier Uhr morgens, bis er einen Kompromiss<br />
zwischen den Eingekesselten und der Polizei aushandeln<br />
konnte. Schließlich durften die Leute den Kessel in
Vierergruppen verlassen, sie wurden gefilzt, aber wenn<br />
keine Waffen oder stichhaltige Beweise für eine Straftat<br />
gefunden wurden, nahm die Polizei ihre Daten nicht<br />
auf. Der Steinewerfer wurde nicht gefunden. Viele<br />
behaupteten: Es gab nie einen Steinewerfer und auch<br />
keinen verletzten Beamten.<br />
„Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit<br />
gekommen ist“, sagte Victor Hugo einmal, zwischen<br />
zwei französischen Revolutionen.<br />
Die amerikanische Revolution inspiriert die<br />
europäischen Aufklärer, unter denen der Ruf nach der<br />
Tat immer lauter wird. Auch daran hat Thomas<br />
Jefferson wesentlichen Anteil: Nach der<br />
Unabhängigkeitserklärung wird er Benjamin Franklins<br />
Nachfolger als amerikanischer Botschafter in Paris und<br />
pflegt engen Kontakt mit den intellektuellen Zirkeln.<br />
#
Dem Ancien Régime entgleiten seine absolutistischen<br />
Zügel.<br />
Das französische Zensursystem kann als Musterbeispiel<br />
dafür herhalten, wie das Bürgertum Schritt für Schritt zu<br />
Selbstbewusstsein und Macht findet. Mit der Errichtung<br />
der absolutistischen Monarchie wurde auch die Vergabe<br />
von Druckprivilegien zentralisiert und direkt dem König<br />
unterstellt, die zuständige Behörde hieß Direction de la<br />
Librairie. Jedes Manuskript muss nun vor seiner<br />
Drucklegung begutachtet und von der Direction<br />
genehmigt werden. Im Gegenzug erhalten die Verleger<br />
durch die Genehmigung Monopolrechte für die<br />
Vermarktung des Buches, das bewährte Spiel also.<br />
Auch die Anzahl der genehmigten Druckereien pro<br />
Stadt oder Landstrich wird von den Behörden streng<br />
reglementiert, ebenso wie die Anzahl der Druckpressen.<br />
Eine eigene Buchpolizei überwacht mit regelmäßigen<br />
Razzien die Einhaltung der Bestimmungen, fahndet<br />
nach nicht genehmigten Büchern sowie nach solchen,<br />
die zwar genehmigt, aber illegal von anderen
Druckereien nachgedruckt wurden. Raubkopien würde<br />
man heute dazu sagen. In diesem System wäscht eine<br />
Hand die andere: Die Monarchie ermöglicht bequeme<br />
Profite auf einem streng reglementierten Markt, die<br />
Verleger danken es mit leichter Zerstreuungsliteratur.<br />
Doch das Drucken von nicht genehmigten Inhalten ist<br />
ein lukratives Geschäft, das sich viele nicht entgehen<br />
lassen wollen, vor allem kleine Druckereien, die keine<br />
Genehmigungen bekommen. Um der Direction ein<br />
Schnippchen zu schlagen, siedeln sich viele darauf<br />
spezialisierte Betriebe in Nachbarländern nahe der<br />
Grenze an und schmuggeln ihre Ware nach Frankreich.<br />
Die illegal verbreiteten Schriften tragen wesentlich zur<br />
Erosion der Macht der Monarchie bei. In den Pariser<br />
Salons und Cafés brummt es wie in einem Bienenstock,<br />
Ideen werden geboren, diskutiert, verworfen oder<br />
verbessert, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Im Le Procope im<br />
Quartier Latin streiten und saufen französische Autoren<br />
(Voltaire, d’Alembert, Diderot, Rousseau) mit<br />
amerikanischen Diplomaten (Franklin und Jefferson)
und schottischen Philosophen (David Hume und dessen<br />
Freund Adam Smith), mitten drin der Revolutionär<br />
Robespierre und ein korsischer Offizier namens<br />
Bonaparte. Über die Auseinandersetzung mit Kunst und<br />
Literatur und Philosophie entsteht in Paris ein<br />
Publikum, das die Kritik selbst zur Kunst erhebt, dem<br />
nichts heilig ist und das nichts unhinterfragt lässt.<br />
Montesquieu fordert die Gewaltenteilung, Voltaire<br />
verkracht sich mit dem König und der Direction,<br />
wandert kurz ins Gefängnis, publiziert dann in Genf,<br />
geht nach England und studiert den Parlamentarismus<br />
und die sich bereits zart abzeichnende industrielle<br />
Revolution, liest John Locke und Isaac Newton, kommt<br />
zurück, geht dann nach Preußen, erneut nach Genf und<br />
schließlich wieder nach Paris, nur um von Benjamin<br />
Franklin bei den Freimaurern eingeführt zu werden und<br />
kurz darauf, alt und berühmt, zu sterben. Sein<br />
Intimfeind Rousseau frequentiert dieselben Salons und<br />
Cafés, reist auch nach Genf, nach Preußen und nach<br />
England, schafft es dabei, Voltaire aus dem Weg zu
gehen, und stirbt schließlich ebenfalls in Paris, nur fünf<br />
Wochen später.<br />
Auf ihren Reisen verbreiten sie die Gedanken der<br />
Aufklärung, stecken Europa mit der brodelnden<br />
Stimmung der Pariser Cafés an, so dass sogar der<br />
Preußenkönig und die russische Zarin sich interessiert<br />
zeigen werden, freilich nicht genug, um Demokraten zu<br />
werden. In Deutschland entbrennt der Sturm und<br />
Drang, Goethes Götz beraubt die Reichen und gibt den<br />
Armen, Schiller ruft dem König zu: „Ich kann nicht<br />
Fürstendiener sein. Ein Federstrich von dieser Hand,<br />
und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie<br />
Gedankenfreiheit!“<br />
Doch bleiben wir in Paris: Denis Diderot und Jean<br />
Baptiste d’Alembert versuchen währenddessen, das<br />
kreative Chaos zu durchdringen, sich einen Überblick zu<br />
verschaffen und alles Wissen ihrer Zeit in einer einzigen<br />
Enzyklopädie zu vereinen, für die die klügsten Köpfe<br />
Beiträge leisten sollen – darunter Turquet und<br />
Montesquieu, sogar Rousseau und Voltaire arbeiten
eide daran mit, ohne miteinander arbeiten zu müssen.<br />
Die Enzyklopädie wird schon nach zwei Bänden<br />
verboten, weil sie zu kirchenfeindlich ist, die römische<br />
Inquisition setzt sie auf den Index der verbotenen<br />
Bücher, aber keine Geringere als Madame Pompadour,<br />
die mächtige Mätresse des Königs, findet Gefallen daran<br />
und hält die Direction in Schach. Sie sorgt dafür, dass<br />
die Enzyklopädisten trotz Verbots weiterarbeiten<br />
können. Aber natürlich: Abhängig von der persönlichen<br />
Gunst einer Person am Hof zu sein, ist kein akzeptabler<br />
Zustand. Beinahe zwangsläufig gerät die Zensur selbst<br />
immer mehr ins Kreuzfeuer der politischen Kritik. Rede-<br />
, Meinungs- und Pressefreiheit wird zu einem Wert an<br />
sich, unabhängig von der Information, die man damit<br />
übermitteln will.<br />
Voltaire treibt es auf die Spitze, als er einem Gegner<br />
schreibt: „Ich verabscheue, was Sie schreiben, aber ich<br />
würde mein Leben dafür hingeben, dass Sie<br />
weiterschreiben können.“
Dann der Sturm auf die Bastille, der Kampf auf den<br />
Barrikaden. Die Französische Revolution schafft die<br />
willkürliche Zensur ab, die Literaten haben gesiegt,<br />
zumindest vorerst. Als die Nationalversammlung 1789<br />
die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, lautet<br />
der Artikel 11: Die freie Äußerung von Meinungen und<br />
Gedanken ist eines der kostbarsten Menschenrechte;<br />
jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und<br />
drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den<br />
Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz<br />
bestimmten Fällen.<br />
#<br />
Frankreich also.<br />
Unser erstes Konzert im Land spielten wir in Straßburg;<br />
Eugene gab ein Radiointerview und er sagte: „Die<br />
Menschenrechte, so wie sie die Franzosen vor 200 Jahren<br />
entwickelt haben, reichen doch nicht mehr aus. Es reicht<br />
nicht mehr, die Rechte des Einzelnen gegenüber dem
Staat zu definieren. Die Macht liegt immer weniger bei<br />
den Staaten, die Aristokratie von heute ist international,<br />
ihre einflussreichsten Familien heißen Google und<br />
Facebook, Apple und Microsoft, Disney und Sony und,<br />
was uns angeht, Volvox. In einer durchkapitalisierten,<br />
globalen und vernetzten Gesellschaft müssen wir klären,<br />
welche Rechte wir ihnen gegenüber behaupten wollen.<br />
Wir brauchen neue Menschenrechte für ein neues<br />
Zeitalter. Und wir brauchen einen symbolischen Akt,<br />
um unserer Forderung Nachdruck zu verleihen. Wir<br />
brauchen einen Sturm auf die Bastille 2.0.“<br />
Wir spielten am Abend in einem verrauchten<br />
Kellerlokal, dessen Namen ich vergessen habe, und<br />
danach spielten wir eine Zugabe auf dem Dach unseres<br />
Busses, dann wurde es noch ein feuchtfröhliches Fest.<br />
Morgens standen zwei Polizisten vor unserem Bus.<br />
#
„Kommen Sie bitte mit“, sagte der eine, ein<br />
graugesichtiger Mann Ende fünfzig. Eugene und ich<br />
stiegen zu ihnen ins Auto und sie brachten uns zu einem<br />
großen Gebäude, dessen Fassade mit Farbspray<br />
beschmiert war. Ich konnte die französischen Parolen<br />
nicht verstehen.<br />
„Wissen Sie, was das ist?“, fragte der Polizist. Wir<br />
schüttelten beide den Kopf.<br />
„Der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte. Das<br />
ist heute Nacht passiert.“<br />
„Damit haben wir nichts zu tun“, sagte Eugene. Wir<br />
machten uns nicht die Mühe, aus dem Wagen zu<br />
steigen.<br />
„Natürlich nicht“, sagte der Polizist. „Dass Sie im Radio<br />
über Menschenrechte reden, ausgerechnet während Sie<br />
in Straßburg sind, ist nur Zufall.“<br />
Eugene zuckte mit den Achseln.<br />
„Was steht da?“, fragte ich.<br />
„Jeder Mensch hat das Recht auf ungehinderten und<br />
ungefilterten Zugang zu öffentlichen Informationen.
Jeder Mensch hat das Recht, private Informationen<br />
privat zu halten. Jeder Mensch hat das Recht, mit jedem<br />
Menschen zu kommunizieren, anonym und vertraulich.<br />
Jeder Mensch hat das Recht ... weiter sind sie nicht<br />
gekommen.“<br />
„Wir haben sie erwischt und festgenommen. Zwei junge<br />
Burschen, fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Das sind<br />
noch Kinder, denen Sie da Flausen in den Kopf setzen.<br />
Ich hätte gute Lust, Sie beide wegen Anstiftung zur<br />
Sachbeschädigung festzunehmen.“<br />
„Dann tun Sie’s“, sagte ich trotzig.<br />
„Im Innenministerium ist jemand dagegen“, sagte der<br />
Polizist. „Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat: Verlassen<br />
Sie das Land. Wir werden nicht mehr lange zusehen, wie<br />
Sie Unruhe stiften.“<br />
Jemand postete einen bemerkenswerten Kommentar in<br />
Eugenes Blog: Nicht Geld regiert die Welt, sondern<br />
#
Aufmerksamkeit. Denn Aufmerksamkeit ist Auswahl<br />
von Information im Informationsüberfluss. Die Leute<br />
müssen einem zuhören, damit man sie beeinflussen<br />
kann. Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zu allem.<br />
Gut, mit Geld kann man Aufmerksamkeit kaufen, das<br />
beweist ja Paris Hilton. Aber in dem Ausmaß, in dem<br />
Kommunikationskanäle vom Kapital unabhängig<br />
werden, schwindet dessen Einfluss. Deswegen ist es für<br />
die Herrschenden so wichtig, Kommunikation und<br />
Information knapp zu halten. Nur durch Knappheit<br />
bleiben sie an der Macht.<br />
Sie müssen die Aufmerksamkeit der Massen fokussieren,<br />
auf Paris Hiltons Nippel oder sonstwas. Wenn die<br />
Aufmerksamkeit von Millionen und Abermillionen von<br />
Menschen sich plötzlich ungesteuert auf die Welt<br />
richten würde, wenn sie in jede Ecke und in jede Nische<br />
des Systems blicken würden ... was würden sie sehen?<br />
#
Die erste Raubkopie von „Der Glöckner von Notre<br />
Dame“ war kein VHS-Band des Disney-Films, sondern<br />
ein belgischer Nachdruck des in Frankreich erschienenen<br />
Buches. Amerikaner stahlen Oliver Twist, Kanadier<br />
Huckleberry Finn. Ein Verlag in Toronto veröffentlichte<br />
eine Raubkopie von Tom Sawyer sogar bevor der<br />
amerikanische Originalverlag das Buch auf den Markt<br />
brachte. Das gab es also schon vor den Internet-<br />
Tauschbörsen.<br />
Victor Hugo, Charles Dickens und Mark Twain waren<br />
folglich vehemente Befürworter eines strengen<br />
Urheberrechts – und vor allem waren sie für<br />
internationale Abkommen darüber. Alle drei engagierten<br />
sich dafür politisch, heute würde man sie wohl<br />
„Aktivisten“ nennen, oder „Akteure der<br />
Zivilgesellschaft“.<br />
Aber: Sie haben niemals eine Beschränkung der<br />
Bevölkerung beim Zugang zu Informationen gefordert.<br />
Niemals. Wenn sie gegen den freien Büchernachdruck<br />
argumentiert haben, dann wollten sie die Autoren vor
den Krämern schützen. Vor kommerziellen<br />
Raubkopierern. Damit standen sie in der Tradition der<br />
großen Aufklärer, Kant etwa oder auch Fichte. Es ging<br />
um eine Regulierung des Profitstrebens, nicht der Leser.<br />
Kein halbwegs intelligenter Mensch hat je die<br />
Rechtmäßigkeit des Lesens kopierter Bücher bestritten –<br />
zumindest bis vor kurzem. Plötzlich werden rund um<br />
den Erdball Menschen verklagt, weil sie Musik<br />
konsumieren, oder Bücher oder Filme oder sonstwas.<br />
Und sie werden nicht von den Kreativen verklagt,<br />
sondern von den Krämern. Etwas ist in den letzten<br />
hundert Jahren schiefgelaufen, könnte man meinen.<br />
Das Gesetz gibt den Künstlern alle Rechte an ihren<br />
Werken, aber über juristische Winkelzüge knöpfen die<br />
Konzerne sie ihnen wieder ab. Die Knebelverträge der<br />
Musikindustrie machen jene Unabhängigkeit<br />
rückgängig, die die Aufklärung erkämpft hat. Das muss<br />
sich wieder ändern.<br />
Es ist eine Frage der Macht. Die Konzerne kontrollieren<br />
die Vertriebswege, auf die die Künstler angewiesen sind.
Die Konzerne diktieren die Bedingungen, unter denen<br />
Künstler sich an ihr Publikum wenden. Die Konzerne<br />
entscheiden, wer überhaupt auf dem Markt zugelassen<br />
wird. Wer nicht mit den Konzernen ist, ist<br />
<strong>incommunicado</strong>.<br />
Das Recht muss zu den Künstlern zurückkehren, zu den<br />
Autoren, den Musikern, den Videofilmern, den<br />
Webdesignern und den Programmierern. Aber die<br />
Konzerne werden das Recht nicht freiwillig wieder<br />
herausrücken. So viel steht auch fest.<br />
#<br />
Immanuel Kant, Von der Unrechtmäßigkeit des<br />
Büchernachdrucks, 1785, erste Fußnote: Würde es wohl<br />
ein Verleger wagen, jeden bei dem Ankaufe seines<br />
Verlagswerks an die Bedingung zu binden, wegen<br />
Veruntreuung eines fremden ihm anvertrauten Guts<br />
angeklagt zu werden, wenn mit seinem Vorsatz, oder<br />
auch durch seine Unvorsichtigkeit, das Exemplar, das er
verkauft, zum Nachdrucke gebraucht würde? Schwerlich<br />
würde jemand dazu einwilligen: weil er sich dadurch<br />
allerlei Beschwerlichkeit der Nachforschung und<br />
Verantwortung aussetzen würde. Der Verlag würde<br />
jenem also auf dem Halse bleiben.<br />
#<br />
Johann Gottlieb Fichte, Beweis der Unrechtmäßigkeit<br />
des Büchernachdrucks, 1793: Gedanken übergeben sich<br />
nicht von Hand in Hand, werden nicht durch klingende<br />
Münze bezahlt, und nicht dadurch unser, dass wir ein<br />
Buch, worin sie stehen, an uns nehmen, es nach Hause<br />
tragen und in unserm Bücherschranke aufstellen. Um sie<br />
uns zuzueignen, gehört noch eine Handlung dazu: Wir<br />
müssen das Buch lesen, seinen Inhalt, wofern er nur<br />
nicht ganz gemein ist, durchdenken, ihn von mehreren<br />
Seiten ansehen, und so ihn in unsre eigne<br />
Ideenverbindung aufnehmen. Da man indess, ohne das<br />
Buch zu besitzen, dies nicht konnte, und um des bloßen
Papiers willen dasselbe nicht kaufte, so muss der Ankauf<br />
derselben uns doch auch hierzu ein Recht geben: Wir<br />
erkauften uns nämlich dadurch die Möglichkeit, uns die<br />
Gedanken des Verfassers zu eigen zu machen; diese<br />
Möglichkeit aber zur Wirklichkeit zu erheben, dazu<br />
bedurfte es unsrer eignen Arbeit.<br />
„Hey Mann. Kannst du reden oder soll ich später noch<br />
mal anrufen?“<br />
„Ich bin alleine. Was gibt’s?“<br />
„Hast du schon mal Kant gelesen?“<br />
„Kant?“<br />
„Immanuel.“<br />
„Nein, nicht wirklich. Ich hab nur gestern einen Text<br />
von Eugene redigiert ...“<br />
„Ich habe ihn auch noch nie gelesen. Aber einer meiner<br />
Assistenten hat ein abgebrochenes Philosophiestudium.<br />
Er hat Kant gelesen.“<br />
#
„Und?“<br />
„Und er liest regelmäßig die Einträge in eurem Weblog.“<br />
„Wo Eugene über Kant geschrieben hat. Und weiter?“<br />
„Tja, dabei ist er auf eine Idee gekommen. Keine völlig<br />
neue Sache. Er hat einfach die Gedanken von Immanuel<br />
Kant und Eugene Jersey kombiniert. Und Kurt Cobain<br />
hat auch ein bisschen beigesteuert.“<br />
„Immanuel Kant, Kurt Cobain und Eugene Jersey?“,<br />
wiederholte ich.<br />
„Genau.“<br />
„Was ist dabei rausgekommen?“<br />
„Eine weitere Geschäftsidee. Sozusagen eine Ausweitung<br />
der Kampfzone.“<br />
„Worum geht’s?“<br />
„Ich versuche, es dir zu erklären. Zumindest, so weit ich<br />
es verstanden habe. Der alte Kant hat scheinbar viel über<br />
das Wesen der Kunst und der Schönheit nachgegrübelt.<br />
Jede Kunst unterliegt ästhetischen Regeln, aber die<br />
Anwendung der Regeln reicht nicht aus, um gute Kunst<br />
hervorzubringen. Dieses Problem hat den guten
Immanuel scheinbar besonders gefesselt. Und ich finde<br />
es auch spannend, schließlich leite ich ein<br />
Medienunternehmen. Wenn mir jemand sagen könnte,<br />
wie ich mit ein paar einfachen Regeln einen Welthit<br />
produziere, wäre das die Lizenz zum Gelddrucken. Wir<br />
sind zwar schon ganz gut darin, Hits am Fließband zu<br />
produzieren, aber wenn ich einen Song höre, der sich an<br />
alle Regeln hält und mir trotzdem nicht gefällt, dann<br />
gefällt er mir einfach nicht. Punkt. Das ist eben Kunst.<br />
Jetzt, in dieser Sekunde, sitzen auf diesem Planeten ein<br />
paar tausend Musiker in ihren Tonstudios und<br />
versuchen, den nächsten Nummer-1-Hit zu produzieren.<br />
Und die meisten von ihnen kennen alle Tricks und<br />
Kniffe. Aber nur einer oder zwei werden es schaffen.“<br />
„Okay, komm zum Punkt.“<br />
„Der Punkt ist das, was der alte Kant Genie nannte. Er<br />
schrieb, Moment ...“ Ich hörte Papier rascheln. „Hier ist<br />
es ... Genie ist das Talent, welches der Kunst die Regel<br />
gibt.“<br />
„Das Talent, welches der Kunst die Regel gibt?“
„Genau.“<br />
„Was soll das heißen?“<br />
„Hör dir das an, Moment, wo ist das jetzt. Ah, hier:<br />
Jeder echte, also geniale Künstler schafft sich selbst die<br />
Regeln, die er braucht, um seine Zwecke zu erreichen.<br />
Er ist damit zugleich originell und exemplarisch<br />
(mustergültig), weil er sich zwar keiner Vorschrift<br />
verpflichtet weiß, sein Werk aber durchaus neue<br />
Maßstäbe setzt, indem es die Beurteilungskriterien<br />
verändert. Reine Originalität ohne Mustergültigkeit ist<br />
eine Spielerei, die schnell an Reiz verliert. Reine<br />
Mustergültigkeit ohne Originalität ist simple Nachäfferei<br />
– stupides Material, um Hitparaden zu füllen.“<br />
„Das mit der Hitparade hat Kant sicher nicht gesagt.“<br />
„Nein, die letzten Sätze waren von meinem Mitarbeiter.“<br />
„Womit wir jetzt hoffentlich beim neuen Business-Plan<br />
wären“, drängte ich.<br />
„Langsam. Jetzt sind wir mal bei Kurt Cobain. Oder<br />
besser gesagt, bei Nirvana. Verstehst du: Jeder geniale
Künstler schafft sich selbst die Regeln, die er braucht,<br />
um seine Zwecke zu erreichen!“<br />
Es dauerte eine Sekunde, dann fiel der Groschen.<br />
„Nevermind“, flüsterte ich.<br />
„Genau. Als Nevermind erschien, hat eine ganze<br />
Generation gesagt: Wow, was für ein geniales Album!<br />
Wir haben sogar dasselbe Wort wie Kant verwendet:<br />
genial. Plötzlich war alles anders. Elf Songs, und der<br />
Heavy Metal war Geschichte. Aber warum?“<br />
„Weil plötzlich neue Regeln definiert waren ...“<br />
„Die Regeln des Grunge. Eine ganze Generation hat sie<br />
sofort verstanden. Wir haben Nirvana gehört und haben<br />
die Regeln verstanden. Intuitiv. Es gibt keine klar<br />
umrissenen zehn Gebote des Grunge. Kurt Cobain selbst<br />
hätte seine Regeln wohl nicht niederschreiben können,<br />
aber sie waren da. Come As You Are und Smells Like<br />
Teen Spirit. Zwei völlig unterschiedliche Songs, aber<br />
derselbe Sound, dieselben Regeln, das spürt man<br />
einfach.“
Ich dachte zurück an unsere Zeit in der gemeinsamen<br />
Band. „Und plötzlich wollten wir alle so klingen wie<br />
Nirvana ...“<br />
Er lachte. „Ja. Wir hatten neue Regeln gelernt und<br />
wollten sie anwenden. Mir wird plötzlich einiges klar.<br />
Ich weiß jetzt zum Beispiel endlich, was der Unterschied<br />
zwischen Nirvana und Pearl Jam ist. Ich war immer der<br />
Meinung, dass Pearl Jam rein technisch die besseren<br />
Musiker waren. Aber trotzdem waren sie für mich<br />
immer eine Stufe unter Nirvana. Ich konnte mir das nie<br />
erklären. Jetzt weiß ich: Nirvana haben mir die Regeln<br />
beigebracht. Pearl Jam haben sie bloß perfekt beherrscht.<br />
Ob das jetzt stimmt oder nicht, spielt keine Rolle. Beide<br />
Bands haben in Seattle gemeinsam gespielt, bevor sie<br />
berühmt wurden. Sie haben sich gegenseitig geprägt, den<br />
Grunge gemeinsam entwickelt. Wichtig ist, was wir<br />
wahrnehmen. Kurt Cobain hat uns die Augen geöffnet.<br />
Er ist das Genie, Eddie Vedder ist die Kopie. So grausam<br />
ist das Leben. Das erklärt auch, warum kein anderes<br />
Nirvana-Album an Nevermind herankommt. Und die
Foo Fighters werden nie an das Original herankommen,<br />
mögen sie noch so gut sein.“<br />
„Weil die Regeln nur einmal defniert werden.“<br />
„Stimmt genau, Kleiner. Ich sehe, du verstehst. Und<br />
instinktiv hat das die Musikbranche schon lange<br />
verstanden. Limp Bizkit gelingt der Durchbruch mit<br />
etwas, das sie Nu Rock nennen – und schon bringen alle<br />
Konkurrenzlabels ähnlich klingende Bands raus. Linkin<br />
Park wären nie so gepusht worden, wenn sie nicht<br />
dieselben Regeln befolgen würden, die Limp Bizkit<br />
bekannt gemacht haben. Wir wollten einfach eine sich<br />
öffnende Marktlücke abdecken.“<br />
„Linkin Park verhält sich zu Limp Bizkit wie Pearl Jam<br />
zu Nirvana?“<br />
„Das sagt zumindest Immanuel Kant, denke ich.“<br />
„Kluger Bursche.“<br />
„Ja, nicht wahr? Man sollte mehr alte Klassiker lesen.“<br />
„Wir haben einige davon bei uns im Bus. Eugene könnte<br />
dir ein paar borgen.“<br />
„Eugene. Danke für das Stichwort.“
„Kommen wir jetzt endlich zum neuen Business-Plan?“<br />
„Der ist jetzt ganz einfach erklärt: Wir werden<br />
Musikstile patentieren.“<br />
„Was?“<br />
„Na klar. Das wird die nächste Stufe. Warum soll ich<br />
mich mit dem Urheberrecht für ein paar Noten<br />
zufrieden geben, wenn ich einen ganzen Stil patentieren<br />
kann? Das ist doch viel besser. Und viel gerechter.“<br />
„Geht das überhaupt?“<br />
„Derzeit nicht. Ich habe mit Joanna darüber gesprochen<br />
und sie sagt, dafür gibt es überhaupt keine gesetzliche<br />
Handhabe. Aber, hey Mann, Gesetze lassen sich ändern.<br />
Das steht auch in eurem Blog. Wirklich, da stehen<br />
interessante Sachen. Was Mickey Mouse kann, kann<br />
Joanna schon lange, da bin ich überzeugt davon. Sie sagt<br />
zwar, sie kann sich noch gar keine Vorstellung davon<br />
machen, wie so ein Gesetz aussehen müsste, aber wenn<br />
es genug Geld bringt, wird ihr schon was einfallen.<br />
Richte Eugene jedenfalls meinen Dank aus. Ich werde<br />
mich erkenntlich zeigen, wenn diese Sache hier endet.
Ich glaube übrigens, wir sollten bald zu einem Ende<br />
kommen.“<br />
„Apropos ... ich muss aufhören.“ Ich legte einfach auf.<br />
Mir war schlecht.<br />
#<br />
Wir verließen die Stadt, machten aber bald Pause auf<br />
einem Parkplatz. Eugene lag in seiner Koje und las ein<br />
Buch über Peer-to-peer-Tauschbörsen. Ich lag in meiner<br />
Koje und blätterte in ein paar Musikmagazinen. Carlos<br />
lümmelte auf der Couch und klimperte auf einer<br />
Gitarre, die anderen saßen im unteren Teil des Busses<br />
und spielten Karten. Ein ruhiger Nachmittag. Mein<br />
Handy läutete. Eine unbekannte Nummer. Ich hob ab.<br />
Der Mann sprach viel, schnell und Französisch. Ich<br />
fragte ihn, ob er auch Englisch spreche. Oder zumindest<br />
langsamer sprechen könne, aber er holte nicht mal Luft.<br />
Ich gab das Handy wortlos an Eugene weiter.
„Ah, Conny“, sagte er nach ein paar Sekunden.<br />
Offensichtlich kannte er den Anrufer. Es folgte ein<br />
kurzer Dialog. Eugenes Miene verfinsterte sich, seine<br />
Stimme klang zuerst überrascht, dann verärgert, dann<br />
regelrecht wütend. Ich verstand kaum ein Wort. Carlos<br />
legte die Gitarre weg und kam näher. Ich sah ihn<br />
fragend an, aber er konzentrierte sich auf Eugene.<br />
Der sprang nun aus seiner Koje und redete laut und<br />
erregt auf den Anrufer ein. Mit der freien Hand<br />
gestikulierte er wild in der Luft herum.<br />
Plötzlich sagte er „Fuck you, Conny!“ und schleuderte<br />
mein Handy durch den Raum. Meine Augen folgten der<br />
Flugbahn quer durch den Bus. Anna und Carlos standen<br />
auf der Treppe, lugten neugierig ums Eck. Das Telefon<br />
verfehlte sie nur knapp und landete dann sanft auf der<br />
Couch, wo Carlos zuvor gesessen hatte.<br />
„Fuck!“, zischte Eugene noch einmal.<br />
„Was ist los?“, fragte Carlos.<br />
Eugene atmete tief ein, setzte sich auf sein Bett und ließ<br />
die Luft langsam wieder entweichen.
Anna setzte sich neben ihn, legte ihren Arm um ihn.<br />
„Was ist denn los?“, fragte sie.<br />
„Wer war das?“, fragte ich.<br />
„Der Veranstalter unseres Konzerts in Dijon heute<br />
Abend.“<br />
„Und? Will er es in eine größere Halle verlegen?“<br />
„Nein. Er hat es abgesagt.“<br />
„Wie? Was?“<br />
„Das Konzert. Er hat es abgesagt. Die Nachricht geht<br />
schon über die Radiosender, sagt er.“<br />
„Warum?“, fragte Anna.<br />
„Er sagt, es sei ihm zu riskant. Er habe Angst, dass eine<br />
Demonstration daraus wird, dass die Leute ihm das<br />
Lokal beschädigen.“<br />
„So ein Blödsinn“, zischte Anna. „Unser Publikum hat<br />
noch nie etwas beschädigt.“<br />
„Das habe ich ihm auch gesagt. Aber es war nichts zu<br />
machen.“<br />
„Und was tun wir jetzt?“, fragte ich.
„Wir warten bis zum Abend, dann fahren wir mit dem<br />
Bus direkt vor Connys Lokal und spielen vom Dach des<br />
Busses aus.“<br />
„Im Radio sagen sie das Konzert doch schon ab“, wandte<br />
ich ein.<br />
„Und wozu gibt’s Facebook, Twitter und unseren Blog?<br />
Mal sehen, ob uns unsere Fans im Stich lassen.“<br />
Eugene und ich schwangen uns in den Kleinbus und<br />
kurvten durch die Stadt, auf der Suche nach einem<br />
ungeschützten WLAN.<br />
Plötzlich läutete mein Handy wieder. Wieder eine<br />
unbekannte Nummer, wieder ein Mann der zu viel, zu<br />
schnell und zu französisch sprach. Ich gab Eugene das<br />
Telefon.<br />
Er sagte nicht viel. Ein paar Mal „Mhm“ und „Aha“, am<br />
Schluss noch mit ausgesuchter Freundlichkeit „Merci,<br />
Henri!“, dann legte er auf und tippte weiter.<br />
„Und?“, fragte ich nach einer Minute.<br />
„Das war Henri. Ihm gehört die Bar in Paris, in der wir<br />
morgen auftreten wollten.“
„Und?“<br />
„Er hat abgesagt.“<br />
„Warum?“<br />
„Dieselbe Begründung wie Conny.“<br />
„Ist das nicht verdächtig?“<br />
„Kaum. Es ist offensichtlich. Die Polizei hat die<br />
Konzerte abgedreht. Wetten, dass bald die Veranstalter<br />
aus Rouen, Tours und Nantes anrufen? Wir werden in<br />
Frankreich keinen einzigen Gig in einem Lokal spielen<br />
können.“<br />
„Und was tun wir dagegen?“, fragte ich.<br />
„Wir spielen auf der Straße“, sagte Eugene, ohne seine<br />
Tipperei zu unterbrechen. „Die Straßen sind öffentlich.<br />
Die können sie uns nicht wegnehmen.“<br />
Welch ein Irrtum.<br />
Wir wollten nicht nachgeben. Die Polizei auch nicht.<br />
Unser Publikum schon gar nicht. Sieben- oder<br />
#
achthundert kamen am Abend, viel mehr, als in Connys<br />
Lokal gepasst hätten. Die Bar selbst war leer, davor<br />
standen in vier Reihen Polizisten mit blauen Helmen,<br />
schwarzen Gesichtsmasken und runden<br />
Plexiglasschilden. So, als müssten sie das Lokal vor dem<br />
Publikum schützen. Idiotisch.<br />
Ihr Kommandant forderte die Menschen über ein<br />
Megafon auf, die Straße zu räumen und sich zu<br />
zerstreuen.<br />
Wir rollten mit dem Bus langsam durch das Publikum,<br />
nahe an das Lokal heran. Die Polizei änderte ihre<br />
Formation. Eine dünne Reihe aus sieben oder acht<br />
Beamten sperrte nun die Straße.<br />
Eugene, der am Steuer saß, zündete sich eine Zigarette<br />
an.<br />
„Wenn du langsam weiterrollst, müssen sie zur Seite<br />
treten“, sagte Carlos.<br />
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte Anna.
„Aber medienwirksam allemal“, sagte ich und deutete<br />
auf ein paar Fotografen, die zwischen dem Bus und der<br />
Polizei Stellung bezogen.<br />
„Komm schon, Eugene, fahr bis vor das Lokal“, sagte<br />
Carlos.<br />
„Nein“, sagte Eugene. „Wir wollen Musik machen. Ob<br />
hier oder zehn Meter weiter, macht keinen Unterschied.<br />
Rauf mit euch!“<br />
Wir kletterten aufs Dach. Wir spielten. Das Publikum<br />
grölte und sang mit und tanzte. Pogo. Die Menschen<br />
sprangen und hüpften und drängten sich zwischen den<br />
Bus und die Polizei. Immer mehr und mehr, immer<br />
dichter, immer wilder. Sie drückten mit ihren Rücken<br />
gegen die Polizeischilde, klatschten mit den<br />
Handflächen dagegen. Ich beobachtete zwei Jungen, die<br />
ihre Gesichter gegen die durchsichtigen Plexiglasschilde<br />
pressten. Vermutlich schnitten sie den Polizisten<br />
dahinter Grimassen. Ich sah ein Mädchen, das sein T-<br />
Shirt hochzog und die nackten Brüste gegen einen<br />
Schild presste. Auch nicht schlecht.
Die Polizei wich schrittweise zurück unter diesem Druck<br />
– im ganz konkreten, physikalischen Sinne – der Masse.<br />
In der Pause zwischen zwei Liedern forderte der<br />
Kommandant die Leute über sein Megafon auf, einen<br />
Sicherheitsabstand zu den Polizisten zu halten, doch die<br />
Tanzenden scherten sich darum einen Dreck. Sobald wir<br />
das nächste Lied anstimmten, drängten sie wieder gegen<br />
die Schilde. Die Polizisten begannen, dagegen-<br />
zuschieben. Es waren zunächst Kleinigkeiten,<br />
Rangeleien. Ein Rücken krachte gegen ein Schild, ein<br />
Schild gegen einen Rücken. Wir sahen es vom Dach des<br />
Busses aus, und es wirkte harmlos.<br />
Und dann, plötzlich, eine Schlägerei. Ein stark<br />
tätowierter junger Mann mit nacktem Oberkörper und<br />
ein Polizist. Keine Ahnung, wer anfing. Keine Ahnung<br />
warum. Plötzlich lagen sie am Boden und<br />
umklammerten sich. Wir spielten weiter.<br />
Drei, vier, fünf Polizisten versuchten, ihrem Kameraden<br />
zu helfen. Einige Leute kamen dem Tätowierten zu<br />
Hilfe. Ein Polizist kniete auf seiner Brust. Ein
Jugendlicher in einem roten Mao-Shirt schubste ihn<br />
hinunter. Ein anderer Polizist schnappte sich den<br />
Jugendlichen, wollte ihn hinter die Polizeilinie ziehen.<br />
Zwei Männer aus dem Publikum packten ihn an den<br />
Beinen, zogen in die Gegenrichtung. Der geschubste<br />
Polizist kam auf die Beine und packte den Maoisten an<br />
den Haaren. Der Tätowierte stand plötzlich neben ihm,<br />
schlug ihm mit dem Ellbogen ins Gesicht und<br />
verschwand sofort in der Menge. Ein Polizist ging mit<br />
dem Schlagstock auf die beiden Leute los, die den Mao<br />
festhielten. Ein anderer Polizist schlug auf einen<br />
unbeteiligten Typen ein, der danebenstand. Geschrei,<br />
Panik. Dann zehn, fünfzehn Leute, die nach vorne<br />
drängten, um den Mao zu packen und der Polizei zu<br />
entreißen. Der Zerrissene schrie wie am Spieß, bekam<br />
ein Bein frei und trat einem Polizisten ins Gesicht.<br />
Dieser revanchierte sich und schlug ihm mit dem Stock<br />
in die Weichteile. Der Mao sackte zusammen,<br />
verstummte, wurde von zwei Polizisten weggetragen,<br />
nach hinten, durch die Reihen. Ein Beamter legte ihm
Handschellen an, einer schlug ihm auf den Hinterkopf,<br />
ein anderer trat ihm im Vorbeigehen in den Arsch.<br />
Rund um den Bus herrschte nun Chaos. Die meisten<br />
Menschen wollten der Polizei ausweichen, aber zwischen<br />
dem Bus und den Hauswänden war nicht viel Platz und<br />
die Leute hinter dem Bus blockierten die Straße und<br />
wichen nicht aus, weil sie nicht wussten, was vorne<br />
geschah. Und dann, plötzlich, brannten unsere Augen<br />
und unsere Lungen wie Sau.<br />
„Pfefferspray!“, rief Carlos. „Los, rein in den Bus!“<br />
Wir kletterten durch die Luke hinunter.<br />
Die Leute begannen zu laufen. Durch die Seitenfenster<br />
des Busses sahen wir das gefährliche Gedränge. Sie<br />
schoben und stießen und kratzten, die Angst im Nacken.<br />
Ein Mädchen wurde gegen die Scheibe der Bustür<br />
gepresst. Sie schrie vor Schmerzen und Angst.<br />
„Scheiße!“, fluchte Eugene.<br />
„Tu was!“, schrie Anna.<br />
Eugene hechtete hinter den Fahrersitz. Eine Sekunde<br />
lang fürchtete ich, er würde den Bus starten und durch
die Menge zu fahren versuchen. Aber Eugene öffnete die<br />
Tür. Das Mädchen fiel in den Bus. Carlos und Anna<br />
fingen sie auf, halfen ihr auf die Beine. Andere strömten<br />
herein.<br />
„Weiter, weiter!“, rief Carlos. Er deutete den Leuten,<br />
dass sie in den ersten Stock ausweichen sollten.<br />
„Langsam, keine Panik“, rief Eugene. Mehr Menschen<br />
kamen, auf den Stufen begann es sich zu stauen.<br />
„Geht nach hinten, in die Küche“, sagte Carlos. Er füllte<br />
den ganzen Bus mit Menschen. Und mit dem<br />
Pfefferspray, der durch die offene Tür hereindrang.<br />
Meine Augen waren verschwollen, Tränen liefen über<br />
die gefühllosen Wangen.<br />
Ein Krachen ließ meinen Kopf herumfahren.<br />
Undeutlich sah ich die Polizisten vor der<br />
Windschutzscheibe des Busses. Einer hatte mit dem<br />
Schlagstock dagegengeprügelt. Noch einer.<br />
„Sie kommen!“, rief Carlos.
Eugene drückte den Knopf, die Tür schloss sich. Anna<br />
half einem Mädchen, das beinahe eingeklemmt worden<br />
wäre, noch hinein.<br />
Schotten dicht.<br />
Dann waren wir eingekreist von schwarz vermummten<br />
Polizisten. Im Bus verstummte das aufgeregte<br />
Gemurmel. Jemand weinte.<br />
„Sieht jemand nach hinten?“, fragte ein Mädchen.<br />
Eugene beobachtete die Szene im Rückspiegel. „Sieht so<br />
aus, als hätten sich die Leute zurückgezogen, es ist kaum<br />
jemand zu sehen“, sagte er. „Scheint so, als wäre nichts<br />
passiert. Hinter dem Bus ist ja jede Menge Platz!“<br />
„Was passiert jetzt mit uns?“, fragte ein Mann.<br />
„Gute Frage.“<br />
„Fahren wir!“, rief jemand.<br />
Eugene überlegte. „Wir sind von der Polizei eingekreist.“<br />
„Die springen sicher zur Seite!“<br />
„Oder sie schießen auf unsere Reifen“, sagte jemand.<br />
„Du hast wohl zu viele Krimis gesehen.“<br />
„Wenn sie uns stoppen wollen, können sie das.“
Der Kommandant trat an die Tür und klopfte gegen das<br />
Glas.<br />
„Aufmachen!“, sagte er.<br />
Eugene schüttelte langsam den Kopf.<br />
„Seid mal einen Moment ruhig“, rief Carlos in den Bus.<br />
„Aufmachen!“, sagte der Polizist noch einmal.<br />
Eugene schüttelte noch einmal den Kopf. „Was wollen<br />
Sie?“<br />
„Es besteht der Verdacht, dass sich in diesem Bus<br />
kriminelle Elemente aufhalten!“<br />
Ein Raunen ging durch den Bus. Eugene lachte.<br />
„Kriminelle Elemente? Hier sind ein paar Musiker und<br />
ein paar Musikfans.“<br />
Der Polizist schüttelte den Kopf und zog sich von der<br />
Tür zurück. Andere nahmen seinen Platz ein,<br />
blockierten uns. Ein Streifenwagen fuhr vor uns quer<br />
über die Straße und verstellte den Weg.<br />
„Kommen wir nach hinten raus?“, fragte ich.<br />
Eugene beobachtete den Rückspiegel. „Nicht ohne ein<br />
Blutbad anzurichten.“
„Hey, könnt ihr eure Zigaretten ausmachen?“, rief ein<br />
Mädchen. „Wer weiß, wie lange wir hier drinnen<br />
bleiben müssen ...“<br />
Ihre Sorge sollte berechtigt sein. Fast eine Stunde lang<br />
geschah fast gar nichts. Die Polizei räumte den Platz<br />
hinter dem Bus, versperrte uns aber mit einem zweiten<br />
Streifenwagen auch diesen Weg. Maskierte Beamte in<br />
voller Rüstung nahmen vor den Türen des Busses<br />
Aufstellung, aber keinen Kontakt auf, nicht einmal mit<br />
den Augen. Wir versuchten, es uns so angenehm wie nur<br />
möglich zu machen. Jeder suchte eine Position, in der er<br />
möglichst bequem stehen konnte, aber das war nicht<br />
leicht. Wir fühlten uns wie Hühner in einer<br />
Legebatterie. Es war heiß und schwül, wir schwitzten<br />
und es stank bald. Einmal öffnete Eugene eine Türe,<br />
aber die Polizisten nahmen sofort ihre Schilde hoch und<br />
rückten vor. Die Leute im Bus schrien und Eugene<br />
schloss die Tür sofort wieder.<br />
Irgendwann trat der Kommandant wieder an den Bus<br />
und klopfte ans Fahrerfenster. Eugene öffnete.
„Sie können da drinnen nicht ewig aushalten“, sagte der<br />
Polizist. Anna übersetzte für mich.<br />
„Dann lassen Sie uns gehen“, antwortete Eugene.<br />
„Das werden wir“, sagte der Polizist.<br />
„Aber?“, fragte Eugene.<br />
„Wir können Straftäter nicht davonkommen lassen.“<br />
„Hier sind keine Straftäter“, sagte Eugene.<br />
„Wissen Sie das genau?“<br />
„Und wissen Sie das genau?“<br />
„Nein“, sagte der Polizist. „Also schlage ich eine salomonische<br />
Lösung vor. Sie steigen einzeln aus dem Bus,<br />
wir kontrollieren Ihre Personalien, wer bei der Schlägerei<br />
vorhin nicht mitgemacht hat, darf gehen.“<br />
„Das ist Ihr Angebot?“<br />
„Ja.“<br />
„Gut“, sagte Eugene. „Wir werden uns beraten.“ Damit<br />
machte er das Fenster wieder zu.<br />
„Was wollte er?“, riefen mehrere Leute.<br />
Eugene stand auf und versuchte in eine Position zu<br />
kommen, wo er möglichst gut gesehen werden konnte.
Dann erklärte er die Situation und die Forderung der<br />
Partei.<br />
Die Reaktion der Leute im Bus war spontan und<br />
eindeutig. Niemand war bereit, seine Personalien von<br />
der Polizei überprüfen zu lassen.<br />
„Wir haben nichts getan, warum sollten unsere Namen<br />
auf irgendwelchen schwarzen Listen landen?“, fragte ein<br />
Junge.<br />
„Also lehnen wir das Angebot ab“, sagte Eugene.<br />
„Gegenstimmen?“ Schweigen.<br />
Eugene kurbelte das Fenster wieder nach unten und<br />
überbrachte dem Polizisten unsere Antwort. Der<br />
schüttelte den Kopf. „Sie können nicht ewig hier<br />
drinnen bleiben“, wiederholte er.<br />
„Das haben Sie schon gesagt“, antwortete Eugene und<br />
schloss das Fenster.<br />
Und so warteten wir. Dreißig Minuten. Fünfundvierzig.<br />
Eine Stunde. Bewegung gab es im Bus nur, wenn Leute<br />
versuchten, auf die Toilette zu gelangen und sich quer<br />
durch die Masse schlängeln mussten, die Treppe
hinunter oder wieder hinauf. Die Luft wurde sehr<br />
stickig, aber eigentlich hatten wir es recht lustig. Es<br />
wurden eine Menge trockener Witze gemacht, wir<br />
lachten viel und irgendwann begannen wir zu singen. All<br />
we are saying is give peace a chance. Immer nur diese<br />
eine Textzeile, immer und immer wieder, mal lauter,<br />
mal leiser, mal schneller, mal langsamer, mal mit<br />
Gitarren begleitet, dann mit unseren selbst gebauten<br />
Rhythmusinstrumenten, dann wieder a cappella, einmal<br />
rappte jemand die Zeile.<br />
„Hey, wir sind im Fernsehen!“, rief plötzlich ein junger<br />
Mann mit roten Haaren und Bart. Er hatte ein Handy<br />
ans Ohr gepresst. „Das ist meine Mutter, sie sieht uns<br />
gerade, wir sind live im Fernsehen!“<br />
Ich presse meinen Kopf gegen die Scheiben. Auf einem<br />
Balkon entdeckte ich ein Kamerateam. „Vielleicht<br />
sollten wir lauter singen?“, fragte ich.<br />
Der Polizist klopfte wieder an die Scheibe.<br />
„Wir sollten zu einer Lösung kommen.“<br />
„Das sehe ich genau so“, sagte Eugene.
„Wir verzichten darauf, die Ausweise aller Personen im<br />
Bus zu kontrollieren. Aber wir sehen uns die Gesichter<br />
an, niemand steigt vermummt aus dem Bus. Wenn<br />
Verbrecher darunter sind, nehmen wir sie fest. Das ist<br />
nicht verhandelbar.“<br />
„Woher wissen Sie überhaupt, ob wir Gesetzesbrecher an<br />
Bord haben?“<br />
Der Polizist lachte. „Das wissen wir nicht. Wie auch.<br />
Eure Scheiben sind so angelaufen, dass wir nicht mal die<br />
Leute erkennen, die ihr Gesicht dagegenpressen.“<br />
„Da gibt’s nur ein Problem“, sagte Eugene. „Wenn die<br />
Leute hier aus dem Bus steigen, dann werden sie von der<br />
Fernsehkamera gefilmt. Die Leute könnten Probleme<br />
bekommen, mit ihrem Chef oder wem auch immer.“<br />
„Das hätten sie sich vorher überlegen müssen. Das ist<br />
nicht meine Sorge.“<br />
„Aber es ist meine Sorge“, sagte Eugene. „Außerdem ist<br />
doch ganz klar, wie die Sache läuft. Sie besorgen sich das<br />
Filmmaterial. Wahrscheinlich filmen Sie sogar selbst<br />
versteckt mit. Sie können leicht darauf verzichten, die
Personalien der Leute aufzunehmen, wenn Sie sie<br />
filmen. Ich glaube, wir müssen das nicht noch einmal<br />
abstimmen. Unsere Forderung ist klar: Wir wollen<br />
diesen Bus anonym verlassen. Sie haben die Namen der<br />
Bandmitglieder, wir laufen Ihnen nicht davon. Alle<br />
anderen dürfen in keiner Kartei landen.“<br />
„Das ist nicht möglich“, sagte der Polizist.<br />
„Dann eben nicht“, sagte Eugene und kurbelte die<br />
Scheibe wieder hoch.<br />
Es wurde zehn Uhr, elf Uhr, Mitternacht. Wir sangen so<br />
ziemlich alles, was uns einfiel. If You Are Going To San<br />
Francisco von Scott McKenzie, Patience von<br />
Guns’n’Roses, die alte Partisanennummer Bella Ciao<br />
und natürlich Ring Of Fire. Aber irgendwann hörten wir<br />
auch mit dem Singen auf, vielleicht weil uns nichts mehr<br />
einfiel, vielleicht weil die Luft schon so schlecht war,<br />
dass wir den Rest Sauerstoff zum Atmen brauchten. Die<br />
Gemeinschaft zerfiel in viele kleine Gruppen, die sich<br />
unterschiedlichen Gesprächsthemen zuwandten, dem<br />
Copyright, der Weltrevolution, der morgigen Vorlesung
oder ganz banalem Tratsch. Die Toiletten waren<br />
inzwischen ein Schlachtfeld, in unseren Kojen lungerten<br />
wildfremde Menschen herum, der Boden war dicht<br />
bedeckt mit Papier und Taschentüchern und anderem<br />
Müll. Über unsere Handys hielten wir Kontakt zur<br />
Außenwelt. Wir waren immer noch in den Nachrichten.<br />
Fernsehen, Radio, Internetplattformen berichteten über<br />
uns, kein Zweifel, morgen würden wir der Aufmacher<br />
aller großen Tageszeitungen sein.<br />
Im Abstand von vierzig oder fünfzig Minuten kam der<br />
Polizeikommandant zu unserem Fenster und tat so, als<br />
wollte er verhandeln. Aber nur selten fiel ihm ein neuer<br />
Vorschlag ein.<br />
„Der kommt doch nur für die Fernsehkameras“, sagte<br />
Eugene.<br />
Und tatsächlich, um halb zwei Uhr morgens löste sich<br />
die Situation wie von selbst plötzlich auf. Ein paar<br />
Befehle wurden gerufen und die Polizei zog ab, machte<br />
die Straße vor und hinter uns frei, ohne uns über das<br />
Wie und Warum zu informieren.
„Ist das eine Falle?“, fragte der Rothaarige mit dem Bart.<br />
„Ich glaube nicht“, sagte ich. „Ich glaube, die haben nur<br />
gewartet, bis es spät genug ist. Es sollen einfach<br />
möglichst wenige Menschen live sehen, wie sie<br />
abziehen.“<br />
„Aber warum geben sie auf?“<br />
„Weil sie nicht viele Möglichkeiten haben“, sagte ich.<br />
„Entweder sie stürmen den Bus mit Gewalt oder sie<br />
hungern uns aus. In beiden Fällen machen die Medien<br />
daraus eine Riesenshow, die morgen den ganzen Tag die<br />
Nachrichten dominiert. Oder eben drittens: Sie lassen<br />
uns mitten in der Nacht einfach ziehen. Ich glaube, sie<br />
haben eine aus ihrer Sicht sehr kluge Entscheidung<br />
getroffen.“<br />
Für Paris, klar, ließen wir uns etwas Besonderes<br />
einfallen. Gerne hätten wir die Bastille gestürmt und<br />
„Das gehört uns“ draufgesprayt, aber das Gebäude war<br />
#
schon vor langer Zeit geschliffen worden. Also<br />
entschieden wir uns für Disneyland.<br />
„Free Mickey!“ lautete unser Schlachtruf, als wir von<br />
Dijon aus nordwärts fuhren, mit dreißig oder vierzig<br />
Autos im Schlepptau, und via Internet trugen wir ihn in<br />
die Welt hinaus. Die Chaoten kommen, die Hunnen,<br />
hörten wir die Moderatoren der Radiostationen sagen,<br />
sie werden kleine Kinder gefährden mit ihrem<br />
Wahnsinn. Die TV-Nachrichten zeigten Bilder von<br />
glücklichen Familien mit Donald und Goofy, und dazu<br />
schnitten sie Szenen von der vergangenen Nacht, von<br />
Polizeieinheiten, Vermummten, von einem blutenden<br />
Demonstranten, der einen brennenden Molotowcocktail<br />
in der Hand hielt.<br />
„Ich habe gestern keinen Moli gesehen“, sagte Dmitri,<br />
als wir bei einer Tankstelle aufs Klo gingen und dabei an<br />
einem Fernseher vorbeikamen.<br />
„Ich auch nicht“, sagte ich.<br />
Der Tankwart sagte: „Viel Glück, zeigt es den<br />
Arschlöchern!“
Wir fuhren langsam und hörten Radio, Eugene<br />
übersetzte für mich, ich breitete die Straßenkarte auf<br />
meinen Knien aus und griff zum Filzstift. Der<br />
Verkehrsbericht meldete Staus und Verzögerungen im<br />
Osten von Paris, ich trug sie auf der Karte ein, die<br />
Sprecherin vermied das Wort Disneyland, aber es war<br />
klar, was sich da abspielte: Mehrere Autokolonnen<br />
bewegten sich aus allen Richtungen auf Disneyland zu,<br />
wir kreisten sie ein. Die A4, die Ostausfahrt von Paris,<br />
war vollkommen zu, es staute auf der A86, der<br />
Ringautobahn um die Stadt, sowohl im Norden als auch<br />
im Süden, von der A10, dem Zubringer aus dem<br />
Südwesten, wurde dichter Verkehr gemeldet, ebenso auf<br />
der A4 im Westen, ab Reims. Wir kamen von<br />
Südwesten auf der A5, das Ende unserer Kolonne war<br />
nicht mehr zu sehen, aber immer noch schien es, als<br />
würden sich neue Autos anschließen. Die Leute warteten<br />
am Pannenstreifen, winkten uns zu, wenn wir<br />
vorbeifuhren, und schwangen sich dann hinter das<br />
Lenkrand.
„Das ist fantastisch!“, rief Anna.<br />
„Ja, das ist es“, sagte ich und gab ihr einen Kuss.<br />
Eugene warf einen Blick auf die Karte. „Wir werden<br />
von der Autobahn abfahren, sonst geraten wir in den<br />
Stau. Wir nehmen diese Route!“, sagte er und tippte mit<br />
dem Zeigefinger auf eine Landstraße.<br />
„Die N36“, sagte ich. „Okay! Dann müssen wir in etwa<br />
fünf Kilometern runter.“<br />
Aber wir kamen nie in Disneyland an.<br />
#<br />
Auf der Landstraße kam unsere kleine Karawane zügig<br />
voran, sehr zügig sogar. So gingen wir in die Falle. In<br />
den Dörfern und Kleinstädten entlang der Route war<br />
wenig Verkehr und überhaupt keine Polizei zu sehen. In<br />
unserer adrenalingeladenen Vorfreude auf Disneyland<br />
übertraten wir in einigen Ortschaften die<br />
Geschwindigkeitslimits – später sollte das den Behörden
als Rechtfertigung dafür dienen, dass sie uns gestoppt<br />
hatten.<br />
Nach 20 oder 25 Kilometern sahen wir die ersten<br />
Beamten. Streifenwagen sperrten Seitenstraßen. Wir<br />
fuhren einfach weiter, denn schließlich wollten wir<br />
ohnehin auf der Hauptstraße geradeaus. Aber als<br />
plötzlich jedes kleine Gässchen gesperrt war und die<br />
Polizeiwagen sich an uns hängten, nachdem wir sie<br />
passierten, hatten wir gar keine andere Möglichkeit<br />
mehr, als geradeaus zu fahren.<br />
„Sie wollen uns unbedingt auf dieser Straße halten“,<br />
sagte ich.<br />
„Irgend etwas bereiten sie vor“, sagte Eugene, „und was<br />
immer es ist, wir fahren scheinbar direkt darauf zu.“<br />
„Vielleicht sollten wir einfach stehen bleiben?“, fragte<br />
ich.<br />
Eugene überlegte kurz. „Und was soll das bringen?“,<br />
fragte er.<br />
Ich wusste es nicht.
Aber mitten in einer Stadt stehen zu bleiben, wo es<br />
Zeugen gibt, wäre tatsächlich das Beste gewesen, was wir<br />
zu diesem Zeitpunkt noch tun hätten können.<br />
So stoppten sie uns mitten auf der Landstraße. Es war<br />
eine Allee mit großen, alten Bäumen, die Sichtschutz<br />
boten. Mehrere Mannschaftsbusse standen in einer<br />
Kurve auf beiden Seiten des Straßenrands, dahinter die<br />
Polizeieinheiten in voller Rüstung. Wir fuhren langsam<br />
durch dieses Spalier, bis wir am Ende der Kurve zwei<br />
Bagger stehen sahen. Endstation.<br />
Dann ging alles recht schnell. Allen Autos unserer<br />
Karawane wurden Krallen angelegt, damit wir weder vor<br />
noch zurück konnten. Dann wurden wir aufgefordert,<br />
auszusteigen.<br />
„Was machen wir?“, fragte ich.<br />
„Keine Ahnung“, sagte Eugene.<br />
Bei unseren Begleitern in den Autos hinter uns fackelte<br />
die Polizei nicht lange. Stieg jemand nach der ersten<br />
Aufforderung nicht aus, öffnete sie die Türen und zerrte<br />
die Leute raus. Schloss jemand die Türen ab, schlug sie
die Scheiben ein. Die Leute mussten sich entweder mit<br />
gespreizten Beinen und Händen am Dach an ihr Auto<br />
stellen oder wurden mit Gewalt am Boden fixiert. Sie<br />
wurden durchsucht und dann wurden ihre Hände mit<br />
Plastikbändern, die an Kabelbinder erinnerten, hinter<br />
dem Rücken gefesselt. Es dauerte keine zehn Minuten<br />
und alle saßen in Bussen, bereit zum Abtransport. Nur<br />
wir fehlten noch.<br />
„Das ist ja wie bei den Sowjets“, sagte Dmitri.<br />
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Anna.<br />
„Wir haben nicht viele Möglichkeiten“, sagte Eugene<br />
und drückte den Türöffner-Knopf.<br />
Sofort stürmte ein Dutzend Polizisten in den Bus. Sie<br />
drückten uns mit Gewalt gegen die Wände und legten<br />
auch uns Fesseln an.<br />
„Hey, es gibt keine Notwendigkeit, grob zu sein“, sagte<br />
ich auf Englisch.<br />
„Richtig“, sagte der Polizist, der mir gegenüberstand. Er<br />
trug kein Abzeichen, keine Dienstnummer. Ich sah nur<br />
seine grauen Augen hinter dem Maskenschlitz. Er hielt
meinem Blick stand, legte den Kopf etwas schräg, als<br />
würde er nachdenken, und schlug mir dann in die<br />
Magengrube.<br />
#<br />
Sie brachten uns an einen Ort, der vermutlich eine<br />
Polizeikaserne war. Wir wurden in Gruppen von acht bis<br />
zwölf Personen geteilt, ich wurde von den anderen<br />
Mitgliedern der Band getrennt. Ich versuchte, bei<br />
Eugene zu bleiben, aber ein Polizist in Rüstung drängte<br />
sich zwischen uns, drückte mir seine behandschuhte<br />
Faust in die Rippen<br />
Eugenes Gruppe wurde abgeführt, ich blieb mit acht<br />
anderen am Gang zurück, bewacht von einem halben<br />
Dutzend Beamter. Keiner von ihnen nahm seine<br />
schwarze Maske ab, keiner sprach. Wir hörten Schreie<br />
aus dem Raum, in den Eugenes Gruppe gebracht<br />
worden war, und Schreie aus anderen Räumen.
„Was tut ihr mit ihnen?“, fragte einer aus meiner<br />
Gruppe einen Polizisten, aber der sah ihn nicht mal an.<br />
Nach einigen Minuten kam ein Dutzend Polizisten, in<br />
voller Rüstung, maskiert, und der Kommandant sagte<br />
einfach: „Mitkommen!“<br />
Wir folgten ihm in den Keller, einen langen, kahlen, nur<br />
von einzelnen Neonröhren beleuchteten Gang entlang.<br />
Wenn wir hier verschwinden, dachte ich, findet uns<br />
niemand. Aber ich ging einfach weiter. Wir waren in<br />
Frankreich, nicht in Chile. Verdammt noch mal.<br />
Wir wurden in einen Lagerraum geführt, mit Regalen<br />
bis an die Decken hoch, alles voller Akten. Bis auf die<br />
Regale und eine Leiter war der Raum leer. Wir mussten<br />
uns zu neunt in einer Reihe aufstellen, jedem von uns<br />
bezog ein Polizist gegenüber Stellung, die Hände hinter<br />
dem Rücken verschränkt.<br />
Ich versuchte, meinem Gegenüber in die Augen zu<br />
schauen. Er hatte blaue Augen, die aus den Sehschlitzen<br />
seiner Maske hervorleuchteten. Ich versuchte, mir das<br />
Gesicht dazu vorzustellen. Irgendein Gesicht. Ich erfand
sein Gesicht und ich erfand sein Leben, seine Frau, seine<br />
Kinder, wie er am Sonntag mit ihnen im Garten spielte<br />
und ein liebender Vater war. Ich wollte mir unbedingt<br />
vorstellen, dass mir gegenüber ein sensibler Mensch und<br />
keine Kampfmaschine mit Rüstung, Maske und<br />
Schlagstock stand. Ich hatte Angst.<br />
Er sah durch mich hindurch. Ich konnte gar nichts in<br />
seinen Augen erkennen.<br />
„Wir werden euch jetzt durchsuchen“, sagte der<br />
Kommandant, der am Ende der beiden Reihen stand.<br />
„Ihr tretet der Reihe nach vor und leert eure Taschen<br />
aus. Du fängst an.“ Er zeigte mit seinem Schlagstock auf<br />
den Ersten aus unserer Gruppe, der ihm am nächsten<br />
stand. Es war ein hagerer, junger Mann mit kurzen<br />
Haaren. Er schüttelte den Kopf.<br />
„Dazu haben Sie kein Recht“, sagte er. „Sie müssen mich<br />
schon zwingen.“<br />
Der Kommandant lachte. „Du würdest wohl gerne ein<br />
wenig verprügelt werden, damit du dann vor deinen<br />
Freunden als Held dastehst, hm?“
Keine Antwort.<br />
„Masken auf“, sagte der Kommandant. In die Polizisten<br />
kam Bewegung, sie griffen nach hinten, lösten ihre<br />
Gasmasken von den Gürteln und zogen sie übers<br />
Gesicht. Das ging schnell und wortlos. Nun sah ich<br />
nicht einmal mehr die blauen Augen meines<br />
Gegenübers.<br />
Der Kommandant hob den rechten Arm und ich sah<br />
den Pfefferspray in seiner Hand. Er drückte nur ganz<br />
kurz ab, ohne jemandem direkt in die Augen zu<br />
sprühen. Aber der kleine, stickige Raum füllte sich sofort<br />
mit dem Reizgas.<br />
Mir schossen Tränen in die Augen, ich musste husten.<br />
Ich ging in die Knie, zog mein T-Shirt über das Gesicht.<br />
„Aufstehen!“, hörte ich jemanden brüllen, zwei starke<br />
Arme packten mich wie ein Schraubstock um die<br />
Schultern und zerrten mich wieder hoch. Es war wohl<br />
„mein“ Polizist. Er gab mir mit der flachen Hand einen<br />
Stoß gegen den Brustkorb und ich taumelte nach hinten<br />
gegen das Regal.
„Also, noch mal“, sagte der Kommandant. „Der Erste<br />
tritt vor und leert seine Taschen aus.“<br />
Der Junge tat nun wie ihm geheißen.<br />
„Zieh das T-Shirt aus“, sagte der Kommandant. „Und<br />
die Schuhe.“<br />
Der Polizist gegenüber dem Jungen nahm die Sachen an<br />
sich, durchsuchte sie, warf sie nach hinten. „Die Jeans“,<br />
brummte er.<br />
Der Junge zog seine Hosen aus, der Polizist durchsuchte<br />
auch sie.<br />
„Die Unterhose.“<br />
„Dann bin ich nackt“, rief der Junge.<br />
Der Kommandant hob die Hand mit dem Pfefferspray.<br />
„Okay, okay“, sagte der Junge. Als er nackt dastand, die<br />
Hände vor seinen Lenden überkreuzt wie ein<br />
Fußballspieler vor dem Freistoß, sagte der<br />
Kommandant: „Niederknien. Und dann der Nächste.“<br />
Und so zogen wir uns aus und knieten dann vor den<br />
Polizisten nieder, einer nach dem anderen. Ich war der<br />
vierte oder fünfte, und als ich meine Sachen abgegeben
hatte und auf den Boden durfte und die<br />
Aufmerksamkeit sich dem Nächsten zuwandte, da spürte<br />
ich ein Gefühl der Erleichterung, dass ich es überstanden<br />
hatte, und ich schämte mich.<br />
Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem Raum in einer<br />
Reihe am Boden knieten. Es schien ewig zu dauern.<br />
Niemand durfte ein Wort sprechen. Wir wurden nichts<br />
gefragt und mussten nichts antworten. Hin und wieder<br />
hörten wir Schreie vor der Türe oder aus anderen<br />
Zimmern. Es war kalt, ich bekam Gänsehaut und<br />
begann zu zittern. Die Kniescheiben schmerzten, und<br />
das Rückgrat auch.<br />
Einer von uns bat nach ein paar Stunden, auf die<br />
Toilette zu dürfen, aber die Polizisten lachten nur. Er<br />
bat zehn Minuten später noch einmal, und zwanzig<br />
Minuten später ein drittes Mal. Dann pinkelte er in den<br />
Raum, im Knien.<br />
„Wage ja nicht, dich zu bewegen“, sagte einer der<br />
Polizisten und die anderen lachten. Der Mann blieb in<br />
seiner eigenen Lacke knien und weinte.
Einmal kam ein kleiner, maskierter Polizist herein, ging<br />
die Reihe ab, betrachtete uns prüfend, dann ging er die<br />
Reihe in unserem Rücken ab. Er beugte sich über den<br />
Mann, der rechts von mir kniete, streichelte ihm über<br />
die Schulter und über den Rücken, tätschelte seinen<br />
Hintern und griff ihm dann an die Eier. Ich bemühte<br />
mich, immer nach vorne zu schauen und nicht<br />
aufzufallen.<br />
„Sehr schön, meine Jungs“, sagte der kleine Polizist,<br />
richtete sich wieder auf und verließ den Raum.<br />
Und das war es dann.<br />
Ein paar Stunden später durften wir uns wieder<br />
anziehen, wurden in einen Polizeitransporter verladen<br />
und nach Paris gebracht. Wir erhielten alle unsere<br />
Sachen zurück, darunter auch unsere Handys. Die<br />
Polizei hatte sie wohl gründlich durchsucht, so<br />
gründlich, dass aus den Geräten sogar die Akkus<br />
herausgenommen worden waren.<br />
Der Polizeibus fuhr uns durch die Nacht und<br />
irgendwann ließ man uns am Straßenrand aussteigen.
Wir waren frei.<br />
Sie haben unsere Namen nicht aufgeschrieben, keine<br />
Fingerabdrücke genommen, uns nicht gefilmt oder<br />
fotografiert, uns nur mit Handschuhen berührt. Es gibt<br />
keinen Beweis, dass wir je dort waren. Wo immer wir<br />
waren.<br />
#<br />
Ariel Dorfman und Armand Mattelart, „How To Read<br />
Donald Duck – Imperialist Ideology In The Disney<br />
Comic“, geschrieben 1971 in Chile: Die Autoren dieses<br />
Buches müssen wie folgt beschrieben werden:<br />
Unanständig und unmoralisch (während Disneys Welt<br />
rein ist); hyper-kompliziert und hyper-anspruchsvoll<br />
(während Walt einfach, offen und aufrichtig ist);<br />
Mitglieder einer bösen Elite (während Disney der<br />
populärste Mensch der Welt ist); politische Agitatoren<br />
(während Disney unparteiisch ist, über der Politik<br />
stehend); berechnend und verbittert (während Walt D.
spontan und gefühlsbetont ist, es liebt zu lachen und zu<br />
scherzen); Zerrütter der Jugend und Zersetzer des<br />
häuslichen Friedens (während W.D. lehrt, dass man<br />
seine Eltern respektieren, seine Anhänger lieben und<br />
Schwache schützen sollte); unpatriotisch und<br />
antagonistisch zum nationalen Geist (während Herr<br />
Disney, international wie er ist, das Beste und Liebste<br />
unserer ursprünglichen Traditionen repräsentiert); und<br />
schließlich Hüter der „Marxistischen Fiktion“, einer von<br />
auswärts importierten Theorie von „boshaften<br />
Ausländern“ (während Onkel Walt gegen Ausbeutung<br />
auftritt und für die klassenlose Gesellschaft der Zukunft<br />
wirbt).<br />
#<br />
Ich rief Eugene an. Die anderen waren schon frei.<br />
„Wir holen dich ab“, sagte Eugene. „Zwanzig Minuten.“
Kaum hatte ich aufgelegt, läutete mein Handy. Es war<br />
Max. Ich hob nicht ab. Er rief noch dreimal<br />
hintereinander an, aber ich wollte mit ihm nicht reden.<br />
Als der Stockbus endlich kam, stieg ich ein. Niemand<br />
sprach ein Wort. Wir fuhren einfach drauflos, ohne zu<br />
reden. Ich sah Anna an, aber sie starrte aus dem Fenster.<br />
Nach einer Stunde blieb Eugene an einer Tankstelle<br />
stehen.<br />
„Wir verlassen das Land“, sagte er, als er den Motor<br />
wieder startete.<br />
Wir saßen alle vorne im Passagierraum, nahe<br />
beisammen.<br />
„Warum?“, fragte Carlos.<br />
„Wir sollten die Sache hier nicht eskalieren lassen.“<br />
„Es ist unser Recht, aufzutreten, wo immer wir wollen“,<br />
sagte ich. „Unser verdammtes Recht. Niemand darf es<br />
uns wegnehmen. Kultur ist Freiheit, das hast du selbst<br />
gesagt.“<br />
„Ja, das habe ich. Es ist unser Recht, hier aufzutreten“,<br />
sagte Eugene. „Aber es ist nicht unsere Pflicht. Die Sache
entgleitet uns. Wir tragen auch Verantwortung für unser<br />
Publikum.“<br />
„Das kann selbst beurteilen, worauf es sich einlässt. Wir<br />
sollten es nicht bevormunden“, sagte ich.<br />
Eugene schwieg.<br />
„Wenn wir jetzt aufgeben, haben sie gewonnen“, sagte<br />
Carlos leise.<br />
„Wir geben nicht auf“, sagte Eugene.<br />
„Tatsache ist, sie sind stärker“, sagte Dmitri langsam und<br />
bedächtig. „Sie haben Knüppel und Wasserwerfer und<br />
Tränengas und Schäferhunde und Pistolen.“<br />
„Wir haben unsere Musik!“, sagte ich, aber meine<br />
Stimme war schwach und verzagt.<br />
„Verdammt noch mal!“, fluchte Eugene.<br />
„Das ist so verdammt ungerecht!“, sagte Anna. Sie kaute<br />
an ihrem Daumennagel herum. „So verdammt<br />
ungerecht ...“<br />
„Wir kneifen also“, sagte ich.
„Wir weichen der Gewalt“, sagte Eugene. „Aber wir<br />
geben nicht auf. Wir gehen nach England. Wir fahren<br />
noch heute Nacht nach London.“<br />
Pause.<br />
Anna kaute weiter auf ihrem Daumennagel herum und<br />
wischte sich eine Träne aus dem Auge. Carlos vergrub<br />
sein Gesicht in den Händen. Ohnmacht überall.<br />
„Und wo spielen wir?“, fragte ich schließlich.<br />
„Im Hyde Park“, sagte Eugene.<br />
Ich runzelte die Stirn. Dmitri lachte heiser und klopfte<br />
sich auf den Schenkel.<br />
„Speaker’s Corner“, flüsterte er.<br />
#<br />
Die Informatisierung ändert unsere Gesellschaft von<br />
Grunde auf, sie zerstört die derzeitigen Machtstrukturen<br />
und wird neue schaffen. Ähnlich wie Grundbesitz vor<br />
einigen Jahrhunderten an Bedeutung verlor, verlieren<br />
Kapital und industrielle Güterproduktion nun ihre
Bedeutung. Wir erleben gerade live den Aufstieg einer<br />
neuen Schlüsselressource: Information.<br />
„Geistiges Eigentum ist das Öl des 21 Jahrhunderts“, hat<br />
Mark Getty, ein Erbe des Öl-Imperiums, vor einigen<br />
Jahren gesagt. Statt eines Industriekonzerns gründete er<br />
eine der weltgrößten Fotoagenturen und handelt nun<br />
mit Bildern, also mit visueller Information.<br />
Bis vor kurzem war das Gewerbe der Bildagenturen eng<br />
an physische Prozesse gebunden: Fotos mussten<br />
entwickelt werden, dann kopiert, dann in<br />
Ablagesystemen eingeordnet und schließlich bei<br />
Anfragen wieder herausgesucht und per Post oder<br />
Botendienst an die Redaktionen und Werbeagenturen<br />
geschickt werden. Dort lagen sie dann einige Zeit herum<br />
und wurden schließlich wieder zurückgesandt.<br />
Heute werden Bilder digital angeboten. Die Kunden<br />
bekommen einen Zugangscode zur Datenbank, stöbern<br />
online im Archiv und laden runter, was gefällt. Der<br />
Vorteil dabei: Digitale Information lässt sich praktisch<br />
ohne Kosten und Qualitätsverlust vervielfachen. Der
Nachteil: Digitale Information lässt sich praktisch ohne<br />
Kosten und Qualitätsverlust vervielfachen. Jede Kopie ist<br />
ein Original ist eine Kopie.<br />
Das ist kein kleiner, gradueller Unterschied, sondern ein<br />
grundlegend anderer Prozess als in der industriellen<br />
Produktion. Man sieht es schon daran, dass die Kunden<br />
digitale Bilder nicht mehr nach einer gewissen Frist an<br />
die Agenturen zurückschicken müssen. Alleine die<br />
Vorstellung, ein File in eine Mail zu stecken und an die<br />
Agentur zurückzuschicken, ist lächerlich. Und selbst<br />
wenn die Kunden es täten – das Bild bliebe immer noch<br />
auf ihrer Festplatte zurück. In der Mail wäre nur ein<br />
weiteres File, eine neuerliche Kopie, ein weiteres<br />
Original.<br />
Die Industriegesellschaft kannte „Produkte“ mit einer<br />
solchen Eigenschaft bisher nicht und hat daher auch<br />
kaum Mechanismen, damit umzugehen. Die<br />
Marktwirtschaft beruht ganz fundamental auf dem Spiel<br />
von Angebot und Nachfrage, doch digitale Information<br />
widersetzt sich diesem Mechanismus zunächst.
Nachdem sie erst einmal geschaffen wurde, lässt sie sich<br />
praktisch ohne Aufwand und Kosten im Überfluss<br />
erzeugen. Das bedeutet, dass es immer ein Überangebot<br />
am Markt gibt. Jede Nachfrage kann auf Knopfdruck<br />
befriedigt werden. Auf diese Weise lässt sich kein Profit<br />
erzielen. Damit das Produkt „digitale Information“ in<br />
unser ökonomisches System passt, muss es künstlich<br />
verknappt werden. Nur wenn es knapp bleibt, kann<br />
geistiges Eigentum das Öl des 21 Jahrhunderts sein.<br />
Adam Smith hat in seinem Buch „Der Wohlstand der<br />
Nationen“ das Prinzip der Arbeitsteilung in der<br />
industriellen Produktion geschildert. Das war 1776, im<br />
Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.<br />
Smith zählte all die Schritte auf, die zur Herstellung<br />
einer Stecknadel notwendig sind; vom Ziehen des<br />
Drahtes bis zum Verpacken der Nadeln kommt er auf<br />
18 Schritte. Aber einen hat er vergessen: den ersten. Das<br />
Design der Nadel, die kreative Arbeit, das Erstellen eines<br />
Prototypen. Selbst ein so simpler Gegenstand wie eine
Stecknadel muss wenigstens ein Mal entworfen und<br />
gestaltet werden.<br />
Den Unterschied sehen wir sofort: Das, was Adam<br />
Smith so unbedeutend erschien, dass er es nicht einmal<br />
erwähnte, macht bei digitaler Information 99,99 Prozent<br />
der Arbeit aus. Die Arbeitsschritte zum Vervielfältigen<br />
des Prototypen, auf deren Beschreibung Smith alle<br />
Mühe verwendete, sind plötzlich ein Klacks.<br />
Warum ist das so wichtig? Weil die Schlüsselressource<br />
unserer Zeit plötzlich an Bedeutung verliert. Für<br />
industrielle Produktion braucht man viel Kapital, so wie<br />
man für landwirtschaftliche Produktion viel Grund<br />
brauchte. Doch digitale Produktion funktioniert beinahe<br />
ohne Kapital, ihr Grundstoff, die wichtigste Ressource<br />
der Zukunft, ist eben Information. Geld regiert die Welt<br />
– aber wer sagt, dass das so bleibt?<br />
Die meisten von uns verfügen nicht über die finanziellen<br />
Mittel, um ein so einfaches Ding wie eine Stecknadel ein<br />
paar tausend Mal zu vervielfältigen. Aber wir können auf<br />
Knopfdruck ein Softwarepaket wie OpenOffice
kopieren, das aus Millionen Zeilen Programmcode<br />
besteht. Oder eine über Jahre aufgebaute und sorgfältig<br />
gepflegte Kundendatenbank. Oder eine Opernaufnahme<br />
– nein, eine ganze Sammlung von Aufnahmen.<br />
(Nebenbei, der Begriff „Rarität“ wird aus dem<br />
Vokabular der Musikfreunde gestrichen werden.)<br />
Dass Millionen Menschen all diese Möglichkeiten<br />
haben, wird nicht ohne gravierende Folgen für die<br />
politischen und wirtschaftlichen Strukturen bleiben. Das<br />
letzte Mal, als eine neue Schlüsselressource auftrat, hat<br />
das ein paar hundert Jahre Revolutionen und Kriege<br />
nach sich gezogen. Und in vielen Teilen der Welt ist<br />
noch nicht mal dieser Prozess abgeschlossen. Da kann ja<br />
einiges auf uns zukommen. Keine Ahnung was, aber<br />
irgendetwas wird passieren.<br />
Irgendetwas muss passieren. Die Frage ist nur wann.<br />
#
Wir setzten mit der Fähre über den Kanal. Der Himmel<br />
war grau, der Wind kalt. Ich zitterte, aber ich wusste<br />
nicht, ob es am Wetter lag, oder an meiner<br />
Verunsicherung. Ich fühlte mich müde, elend,<br />
ausgelaugt, allein. Anna stand neben mir, wir hielten uns<br />
umschlungen und starrten auf die Wellen, aber trotzdem<br />
war ich einsam.<br />
Man kann das, was uns widerfahren ist, wohl nicht mit<br />
der Folter von politischen Dissidenten in Diktaturen<br />
vergleichen. Wir wurden nicht misshandelt wie unter<br />
Pinochet, Saddam oder Pol Pot. Von den Nazis ganz zu<br />
schweigen. Das wäre eine Verharmlosung dieser Regime,<br />
das wäre falsch. Wir wurden geschlagen und gedemütigt,<br />
aber wir hatten immer Hoffnung, wir wussten immer,<br />
dass wir nicht einfach in einer Grube verschwinden<br />
würden. Das war wichtig, um nicht verrückt zu werden.<br />
Aber trotzdem: Die Nacht in der Polizeikaserne<br />
veränderte alles. Sie war eine Kriegserklärung, eine letzte<br />
Warnung. Bis hierher und nicht weiter, sagte das
System. Wir wussten nicht, wie wir darauf reagieren<br />
sollten.<br />
#<br />
Robert Kurz, „Antiökonomie und Antipolitik“: Das<br />
Problem, das hier aufscheint, ist das der „Keimform“.<br />
Der historische Materialismus hat analytisch bewiesen<br />
und anerkannt, dass die bürgerlich-warenförmige,<br />
kapitalistische Vergesellschaftung als Keimform im<br />
Schoße der feudalen Gesellschaft entstanden ist. Sie<br />
begann nicht mit der politischen Revolution (etwa der<br />
großen französischen), sondern weit früher, um sich<br />
nach einer bereits langen Entwicklung erst allmählich als<br />
selbstbewusste Kraft hinsichtlich der politischen<br />
Machtfrage geltend zu machen. Die sozialökonomischen<br />
Keimformen des Kapitalismus entwickelten sich,<br />
während noch lange Zeit „darüber“ und „daneben“ die<br />
feudale Macht bestand. Als in den bürgerlichen<br />
Revolutionen „die feudale Hülle gesprengt“ wurde, war
die bürgerliche, warenförmige Gesellschaftlichkeit schon<br />
praktisch da; nicht bloß indirekt als politische und<br />
negatorische Kraft, sondern direkt und positiv als reale<br />
sozialökonomische Reproduktionsform. Die politische<br />
Bewegung ging der neuen Reproduktionsform nicht als<br />
abstrakte und symbolische Willenskundgebung voraus,<br />
sondern war im Gegenteil ihre sekundäre Konsequenz<br />
und ihre notwendige Erscheinungsform.<br />
„Das ist spannend“, sagte Eugene. „Was glaubst du,<br />
entsteht die Keimform der Informationsgesellschaft<br />
schon im Schoße der Medienindustrie?“<br />
#<br />
Die Angst fiel von mir in der Sekunde ab, als wir in<br />
Dover das Gelände des Fährhafens verließen. Wir<br />
wurden von einer großen, bunten, jubelnden<br />
Menschenmasse empfangen. Zwanzigtausend, vielleicht<br />
dreißigtausend Leute hatten uns erwartet (Die Polizei<br />
sprach später von fünf- bis achttausend, und die meisten
Mainstream-Medien übernahmen diese Zahlen.<br />
Vollkommen lächerlich). Sie kamen mit Fahnen,<br />
Transparenten, Schildern und vor allem vielen selbst<br />
gebastelten Trommeln und Rasseln. Sie forderten ein<br />
Konzert.<br />
„Nicht hier“, sagte Eugene über die Lautsprecher.<br />
„Kommt mit uns! Auf zu Speaker’s Corner!“<br />
Und wir fuhren los und bildeten die Spitze einer<br />
Karawane, die um ein Vielfaches größer war als jene von<br />
Paris. Wir fuhren die Küste entlang nach Folkestone,<br />
dort auf die Autobahn und auf schnellstem Weg nach<br />
London. Einige freie Radiosender und BBC berichteten<br />
darüber und obwohl wir kaum mehr als eine Stunde bis<br />
zur Stadtgrenze brauchten, erwartete uns dort schon die<br />
nächste Menschenmenge. Wir kämpften uns im<br />
Nachmittagsverkehr durch Südlondon und immer mehr<br />
Autos schlossen sich uns an. Wir verursachten Staus, im<br />
Radio wurde vor uns gewarnt, aber viele der anderen<br />
Autofahrer schienen uns freundlich gewogen zu sein. Sie
winkten, einige hupten und nicht wenige schlossen sich<br />
uns an. Wir sahen keinen einzigen Polizisten.<br />
„Glaubst du, das ist eine Falle?“, fragte ich.<br />
„Das werden wir hier sehen“, sagte Eugene und tippte<br />
mit dem Zeigefinger auf eine Stelle auf dem Stadtplan,<br />
den er auf den Knien liegen hatte. „Vauxhall Bridge. Wir<br />
fahren direkt darauf zu. Wenn sie uns dort nicht<br />
stoppen, dann gar nicht.“<br />
Er behielt recht – es blieb bei gar nicht. Wir überquerten<br />
die Brücke ungehindert, fuhren nach Norden, zwischen<br />
Victoria Station und Westminster Abbey durch, an den<br />
Buckingham Palace Gardens vorbei, und kamen so ans<br />
südöstliche Ende des Hyde Park. Auch der war voller<br />
Menschen, so weit das Auge reichte: eine einzige, bunte,<br />
fröhliche, Party machende Masse. Ich konnte es kaum<br />
glauben.<br />
Unsere Karawane fuhr mit einem Hupkonzert einmal<br />
rund um den Park, dann steuerten wir den Bus durch<br />
eine Einfahrt zu Speaker’s Corner. Kaum blieben wir<br />
stehen, waren wir auch schon dicht umringt. Die Leute
pressten ihre Gesichter an die Scheiben, winkten uns zu,<br />
riefen unsere Namen.<br />
„Rauf auf die Bühne!“, rief Eugene und klappte die<br />
Dachluke auf. Ich griff mir meine Gitarre.<br />
Wir spielten bis lange nach Sonnenuntergang, zuerst<br />
unsere eigenen Nummern, dann Coverversionen, Stunde<br />
um Stunde. Der Zustrom an Menschen ließ nicht nach.<br />
„Im Radio berichten sie, dass sich aus ganz<br />
Großbritannien die Leute auf den Weg hierher machen,<br />
sogar aus Schottland ist schon eine Autokarawane<br />
unterwegs“, sagte Eugene in einer Pause.<br />
„Bis die da sind, können wir aber nicht durchspielen“,<br />
sagte ich.<br />
„Tja, dann müssen wir morgen wohl wieder spielen“,<br />
sagte Anna. Sie strahlte über das ganze Gesicht, es hatte<br />
etwas Künstliches, Aufgesetztes. Sie schien die Erlebnisse<br />
auf der Polizeistation völlig zu verdrängen. Ich fragte<br />
mich, was sein würde, wenn die Euphorie dieses Tages<br />
und das Adrenalin nachließen.
Irgendwann sagte Anna: „Wir haben nun nur noch eine<br />
Zugabe“, und wir hielten die Schweigeminute. Binnen<br />
weniger Sekunden verstummte jedes Gespräch im<br />
Publikum, die Leute erhoben sich aus dem Gras,<br />
nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, zündeten Feuerzeuge<br />
an. Es wurde ein riesiges Lichtermeer, bis nach hinten<br />
zum See.<br />
Dann verließen wir das Dach, mischten uns unter die<br />
Leute, tranken ein paar Bier mit ihnen, erzählten von<br />
Paris und den Übergriffen der Polizei. Der Alkohol löste<br />
unsere Zungen und irgendwann begannen wir, unsere<br />
Angst ins Lächerliche zu ziehen. Aber diese gelöste<br />
Stimmung hielt nicht lange. Wir waren alle todmüde,<br />
vollkommen erschöpft, und krochen bald in unsere<br />
Kojen. Anna kam nicht zu mir, und als ich zu ihr in die<br />
Koje wollte, schüttelte sie den Kopf.<br />
„Ich möchte ein wenig alleine sein“, sagte sie.<br />
Ich verkroch mich also in meiner Koje. Vor dem<br />
Einschlafen checkte ich noch mal mein Telefon, das
erste Mal an diesem Tag. Vier verpasste Anrufe von<br />
Max.<br />
#<br />
Am nächsten Morgen stieg ich aus dem Bus und<br />
blinzelte ungläubig in die Morgensonne. Die Menschen<br />
waren immer noch da. Ein Pärchen, das offensichtlich<br />
auf einer Decke im Gras vor dem Bus übernachtet hatte,<br />
teilte sich zum Frühstück ein Sandwich. Die beiden<br />
lächelten mich an, ich nickte freundlich.<br />
Dann wanderte ich langsam durch den Park und fand<br />
überall das gleiche Bild: Kleine Gruppen, Pärchen,<br />
Einzelpersonen, junge Familien mit kleinen Kindern,<br />
Menschen aller Altersklassen, sozialer Schichten und<br />
Hautfarben lagen oder saßen im Gras, Punks neben<br />
Hip-Hopern, Skater neben Rockern, Studenten neben<br />
Rentnern, Birkenstockträger neben Anzugträgern (okay,<br />
davon wenige). Ich kam mir vor wie in einem großen<br />
Pfadfinderlager. Und alle grüßten mich. Hey, ich war
ein Star zum Anfassen. „Das ist toll, was ihr macht“,<br />
sagte ein junges, wunderschönes Mädchen, einfach so,<br />
im Vorbeigehen. Es gefiel mir.<br />
Aber irgendwie hatte ich das dringende Bedürfnis, in<br />
Ruhe nachzudenken. Unsere Verhaftung in Paris, die<br />
Schläge, die Angst ... all das war noch keine 36 Stunden<br />
her. Ich wusste nicht, wo ich stand. Wo wir standen.<br />
Klar, unser Bus parkte im Speaker’s Corner im Hyde<br />
Park in London, umringt von ein paar tausend... was?<br />
Fans? Mitstreitern? Aber was hatte das zu bedeuten? Was<br />
sollten wir damit anfangen?<br />
Ich verließ den Park im Süden, überquerte die Straße,<br />
suchte einen kleinen Shop, um mir Frühstück zu kaufen.<br />
Ich nahm Kaffee und ein Sandwich, aber als ich zahlen<br />
wollte, winkte der Mann hinter der Kasse ab.<br />
„Sie sind eingeladen, Sir.“<br />
„Oh, danke“, sagte ich überrascht.<br />
„Es ist mir ein Vergnügen“, sagte er. „Ich finde es gut,<br />
was Sie tun. Und außerdem verhelfen Sie mir zu einem<br />
Umsatzrekord“, sagte er und machte eine ausladende
Handbewegung. Ich sah mich um. Sein kleines Geschäft<br />
war voll mit jungen Menschen, die so aussahen, als<br />
hätten sie im Park übernachtet. Die meisten gaben sich<br />
Mühe, mich nicht anzustarren. Ich nickte dem Mann zu<br />
und beschloss, mir einen ruhigeren Ort zu suchen.<br />
Eine Stunde etwa lief ich planlos durch Kensington,<br />
Brompton und Chelsea, frühstückte im Gehen, grübelte.<br />
Der Tag war mild, es war hell, aber nicht zu heiß. Ich<br />
begann, mich wohl zu fühlen.<br />
Max rief an. Ich drückte die rote Taste. Kurz darauf kam<br />
eine SMS. Hey Mann, mache mir Sorgen. Alles okay?<br />
Ich antwortete nicht, lief einfach immer weiter.<br />
Schließlich landete ich im Victoria & Albert Museum.<br />
Freier Eintritt, freier Zugang zur Kultur. Ich musste<br />
lächeln. War es denn so schwer zu verstehen?<br />
Also nahm ich mir Zeit. Griechische und römische<br />
Statuen, indische Textilien, viel Silberhandwerk, alte<br />
Schreibmaschinen, Telegraphen und Radios. Radios!<br />
Dann fand ich zwei große Räume mit Gipsabdrucken<br />
antiker und mittelalterlicher Kunstwerke. Ein
<strong>Michel</strong>angelo-David in Originalgröße. Die Hadrian-<br />
Säule. Das gesamte Portal einer Kathedrale. In der<br />
englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehörten<br />
solche Plaster-Caster zum guten Ton in der klassisch<br />
gebildeten Oberschicht, stand auf einer erklärenden<br />
Tafel. Darunter hatte jemand gekritzelt: meum esse aio!<br />
Wie gesagt, ich nahm mir Zeit. Aber irgendwann landete<br />
ich doch bei den beiden Bildern, die ich suchte. Ich<br />
hatte über sie in einem der Bücher gelesen, die ich in<br />
London gekauft hatte. Damals. Vor langer, langer Zeit.<br />
Es waren zwei Kupferstiche, jeweils von der Größe einer<br />
Taschenbuchseite. Auf den ersten Blick sahen sie<br />
identisch aus. Ich ging näher ran, und da wurden die<br />
Unterschiede offensichtlich. Einer war unglaublich fein<br />
gezeichnet, der andere grob, ungelenk, viele Details<br />
fehlten.<br />
Ein Original und eine Kopie. Beide trugen das<br />
Monogramm AD. Albrecht Dürer.<br />
Ich setzte mich auf den Boden und betrachtete die<br />
Bilder in Ruhe. Ich könnte sie fotografieren, dachte ich.
Wir könnten sie im Blog posten und über sie schreiben.<br />
Die Geschichte dahinter ist sehr interessant ...<br />
Dann seufzte ich. Nicht noch eine Geschichte. Es war<br />
genug erzählt.<br />
Zeit für Taten.<br />
#<br />
Als ich am frühen Nachmittag in den Hyde Park<br />
zurückkam, war ich überrascht. Erstens, die Leute waren<br />
immer noch da. Zweitens, es wurden immer mehr,<br />
ständig kamen neue an. Und drittens: Sie schienen<br />
bleiben zu wollen. Die Menschen kamen mit Iso-<br />
Matten, Schlafsäcken, dicken Decken und sogar Zelten.<br />
Sie richteten sich ein Lager ein.<br />
Ich sah Leute, die große schwarze Plastiksäcke trugen<br />
und Müll sammelten. Ich sah Männer, die vier oder fünf<br />
Dixi-Klos aufstellten. Viel zu wenig, aber immerhin. Ich<br />
sah mehrere Diskussionsgruppen, die im Kreis oder
Halbkreis beisammen- saßen. Bei der größten davon traf<br />
ich Eugene.<br />
Er saß in der Mitte, aber er sprach nicht. Ein Junge<br />
stand neben ihm und er redete laut und aufgeregt. Ich<br />
verstand immer nur „neue Menschenrechte“.<br />
Dann sah ich Anna. Sie stand am Rand der Gruppe und<br />
kaute an ihren Fingernägeln.<br />
„Worum geht’s hier?“, fragte ich.<br />
„Wenn ich das wüsste“, antwortete sie. „Lauter Spinner,<br />
und Eugene mittendrin. Weißt du, was ich mich frage?“<br />
„Hm?“<br />
„Was glaubst du, wie viele von denen hier sind Polizisten<br />
oder Geheimdienstleute oder so was?“<br />
Ich zuckte zusammen. Daran hatte ich noch gar nicht<br />
gedacht.<br />
„Egal“, sagte sie, bevor ich antworten konnte.<br />
„Wahrscheinlich bin ich einfach schon paranoid.“<br />
„Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie<br />
nicht hinter dir her sind“, sagte ich und wir rangen uns<br />
beide ein gequältes Lächeln ab.
#<br />
<strong>Michel</strong> Foucault, „Omnes et Singulatim: Towards A<br />
Criticism Of Political Reason“, 1979; in Bezug auf<br />
Turquet de Mayenne, „Aristo-Demokratische<br />
Monarchie“, 1611; zitiert nach Michael Hardt/Antonio<br />
Negri, „Empire – Die neue Weltordnung“, 2000: Die<br />
„Polizei“ erscheint als Administration, die den Staat<br />
lenkt, gemeinsam mit der Gerichtsbarkeit, der Armee<br />
und der Staatskasse. Wohl wahr. Tatsächlich jedoch<br />
umfasst sie alles andere. Wie Turquet ausführt, breitet<br />
sie sich mit ihrem Tun in jeder Situation aus, in allem,<br />
was Menschen machen oder unternehmen. Ihr Bereich<br />
umgreift Justiz, Finanzen und Armee. Die Polizei<br />
schließt alles ein.<br />
#
Eugene und ich gingen in ein Pub mit freiem WLAN,<br />
um die Nachrichtenlage zu checken. Der Wirt erkannte<br />
uns und lud uns auf ein Bier ein. Eugene hoffte auf<br />
freundliche Bericht-erstattung, weil unsere Besetzung des<br />
Parks den ganzen Tag über friedlich verlaufen war. Ich<br />
befürchtete eine Negativkampagne in allen klassischen<br />
Medien, eine Fortführung der Berichterstattung der<br />
letzten Tage.<br />
Aber was wir lasen, war nicht weniger als eine Sensation.<br />
Ein Blogger hatte in der Nacht ein Video auf YouTube<br />
hochgeladen, ein Video von dem vermummten Mann,<br />
der den Molotowcocktail warf. Es war eindeutig derselbe<br />
Mann und derselbe Wurf, aber die Aufnahme war aus<br />
einem anderen Winkel gemacht worden. Im<br />
Hintergrund war ein Geschäft zu sehen und darüber<br />
stand: METZGEREI.<br />
„Das ist in Deutschland!“, rief ich.<br />
Das Video verbreitete sich rasant im Netz, auf Facebook<br />
waren wir dutzende Male getaggt und hunderte Tweets<br />
mit dem Hashtag #<strong>incommunicado</strong> wiesen auf einen
deutschen Blogger hin, der das Video hochgeladen und<br />
in einen Blogbeitrag eingebettet hatte. Dort stand: Diese<br />
Szenen stammen aus meinem Video-Archiv, ich habe sie<br />
vor etwas mehr als einem Jahr aufgenommen, in Berlin,<br />
bei den Demonstrationen zum<br />
1. Mai.<br />
„Sie wollten uns was unterschieben!“, rief Eugene.<br />
„Diese Arschlöcher! Methoden wie bei den Nazis. Oder<br />
den Sowjets“, sagte der Wirt, der uns über die Schulter<br />
blickte. „Wollt ihr noch ein Bier?“<br />
Noam Chomsky & Edward Herman, „Manufacturing<br />
Consent“: Die Massenmedien sind ein System zur<br />
Übermittlung von Botschaften und Symbolen an die<br />
ganze Bevölkerung. Sie sollen amüsieren, unterhalten<br />
und informieren, und sie sollen Individuen jene Werte,<br />
Vorstellungen und Verhaltensregeln einimpfen, welche<br />
sie in die institutionellen Strukturen der Gesellschaft<br />
#
integrieren. In einer Welt konzentrierten Reichtums und<br />
gegensätzlicher Klasseninteressen bedarf es dazu systematischer<br />
Propaganda.<br />
Adolf Hitler, „Mein Kampf“: Der Presseeinfluss auf die<br />
Masse ist der weitaus stärkste und eindringlichste, da er<br />
nicht vorübergehend, sondern fortgesetzt zur<br />
Anwendung kommt.<br />
#<br />
#<br />
In Windeseile verbreiteten sich die Bilder aus Berlin und<br />
jene, die angeblich aus Dijon stammten, durch das Netz.<br />
Kein Zweifel, man hatte uns etwas anhängen wollen.<br />
Nicht uns als Band, sondern ... der Bewegung.<br />
Im Lager im Hyde Park gab es kein anderes<br />
Gesprächsthema. Die Leute standen und saßen in
Gruppen beisammen, diskutierten die Bilder, waren<br />
aufgebracht, zornig, fühlten sich persönlich angegriffen.<br />
Ich auch.<br />
Als ich ein Kind war, gab es den Kalten Krieg noch.<br />
Nicht dass ich mich bewusst an viel aus dieser Zeit<br />
erinnern könnte, aber eines weiß ich: Wir waren die<br />
Guten. Davon war ich überzeugt. Davon waren meine<br />
Eltern überzeugt. Davon waren die seriösen Herren<br />
offensichtlich überzeugt, die im Fernsehen die<br />
Nachrichten verlasen. Wir hatten Wahlen und<br />
Redefreiheit und Kapitalismus und irgendwie schien das<br />
alles zusammenzugehören, und die anderen hatten<br />
Diktatur und Zensur und Kommunismus, und das<br />
schien auch alles zusammenzugehören. Dass wir die<br />
Guten waren, wussten wir, weil die Leute aus dem Osten<br />
in den Westen flüchteten und nicht umgekehrt. Ja,<br />
unser System war gut, vielleicht nicht perfekt, aber sehr<br />
gut, und als Kind lernte man nicht, es in Frage zu<br />
stellen. Ich zumindest lernte es nicht. Wie auch immer.<br />
Ich war durch und durch unpolitisch.
Und jetzt das. Das System wandte sich gegen uns. Es<br />
zensurierte uns, verhaftete uns, misshandelte uns,<br />
verleumdete uns als Gewalttäter. Ja, es stimmt, wir<br />
hatten versucht, es zu verändern. Das war unser gutes<br />
Recht, hatten wir von Kindesbeinen an gehört. Das war<br />
es doch, was uns im Westen von all den Diktaturen<br />
unterschied, das war es doch, warum wir die Guten<br />
waren, oder? Wir hatten uns an die demokratischen<br />
Spielregeln gehalten. Das System hatte kein Recht, sich<br />
gegen uns zu wehren. Nicht so! Nicht mit Lügen und<br />
Folter und Gewalt. Die Wut über diese Ungerechtigkeit<br />
trieb mir fast die Tränen in die Augen, und damit war<br />
ich nicht allein.<br />
„Wir können jetzt nicht aufhören“, sagte eine ältere Frau<br />
und ihre Stimme bebte dabei. „Wir müssen irgendetwas<br />
tun!“<br />
„Wir brauchen ein Zeichen, das dem System sagt: Wir<br />
werden dich verändern, ob du willst oder nicht. Etwas<br />
das sagt: Der Kampf hat begonnen“, sagte einer. „Etwas<br />
wie den Sturm auf die Bastille.“
„Aber was machen wir?“, fragte ein Mann.<br />
#<br />
Jack Balkin, Information Society Project, Yale<br />
University: Zugang zum Wissen ist eine Frage der<br />
Gerechtigkeit, gesunder Entwicklungspolitik und ganz<br />
generell menschlicher Freiheit und Teilhabe an einer<br />
global vernetzten Wirtschaft. Menschen sterben an<br />
Krankheiten, die hätten behandelt werden können,<br />
wären die Medikamente nicht überteuert;<br />
Bevölkerungen bleiben ohne Bildung, weil Gesetze über<br />
geistiges Eigentum die Verbreitung von<br />
Unterrichtsmaterial blockieren. Innovation wird<br />
verhindert durch Patent- und Urheberrechte, die weit<br />
über das gerechtfertigte Ziel hinausgehen, Innovation zu<br />
fördern und der Zugang zu Informationen über<br />
Regierungshandeln wird durch einen Mangel an<br />
Transparenz unterminiert. Die Liste der Probleme, die<br />
durch die Verweigerung des Zugangs zu Wissen für die
Entwicklung, für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft<br />
und die Menschenrechte entsteht, ist endlos.<br />
#<br />
Eugene und ich schlenderten durch den Park. Es hatten<br />
sich rund zwei Dutzend Gruppen gebildet, die zu<br />
verschiedenen Themen diskutierten. Und die Vielfalt<br />
dieser Themen überraschte mich.<br />
Da war eine Gruppe, in der es um die Privatisierung und<br />
Ökonomisierung des Bildungssystems ging. „Eine<br />
Wissensgesellschaft, die ihre Ausbildung in die Hand<br />
von Konzernen legt, liefert sich diesen aus“, sagte<br />
jemand, und ein anderer rief dazwischen „Ausbildung ist<br />
die Bildung der Beherrschten, Bildung ist die<br />
Ausbildung der Revolutionäre.“<br />
„Guter Spruch“, sagte ich zu Eugene.<br />
„Von Engels“, antwortete er. „Aber deswegen nicht<br />
schlecht.“
Die nächste Gruppe widmete sich der Pharmabranche.<br />
Man sprach über Medikamente, die in Afrika dringend<br />
benötigt, von westlichen Konzernen aber nicht mehr<br />
hergestellt wurden, weil es im Westen keinen Bedarf gab<br />
und Afrika kein lukrativer Markt war. „Wir könnten das<br />
Medikament in Indien billig herstellen lassen“, sagte eine<br />
Aktivistin, „aber das Labor, das das Mittel entwickelt<br />
hat, verbietet uns das. Sie wollen Geld sehen, Geld, das<br />
wir nicht haben. Das Patent läuft noch neun Jahre.<br />
Neun Jahre lang werden Menschen sterben, die wir<br />
heilen könnten. Diese Menschen sterben am<br />
Patentrecht!“<br />
Empörtes Raunen unter den Zuhörern, dann stand<br />
jemand auf und rief: „Das ist doch in der AIDS-<br />
Forschung nicht anders. Die Forschungslabors halten<br />
doch ihre wirklich brisanten Erkenntnisse so lange<br />
zurück, bis sie patentierbar sind. Die blockieren sich alle<br />
gegenseitig. Wenn alle Labors ihr Wissen frei teilen<br />
würden, könnten wir AIDS vielleicht schon längst<br />
heilen. Nur Profit gäbe es dann keinen ...“
In der nächsten Gruppe wurden keine großen Reden<br />
geschwungen. Dutzende junge Leute saßen mit<br />
Notebooks am Boden. Viele von ihnen trugen schwarzweiße<br />
T-Shirts mit der Aufschrift Penguin Resistance<br />
Army.<br />
Ein Mädchen sprach Eugene und mich an: „Habt ihr ein<br />
Notebook dabei? Wir helfen euch gerne dabei, Linux zu<br />
installieren. Kennt ihr Linux? Das ist ein freies<br />
Betriebssystem, das ...“<br />
„Danke, kenne ich“, sagt ich. „Aber ich habe einen<br />
Mac.“<br />
Sie rümpfte die Nase. „Apple ist ja noch schlimmer als<br />
Microsoft“, sagte sie. „Aber das lässt sich beheben. Auch<br />
auf Macs läuft Linux. Ich kann euch einen Spezialisten<br />
...“<br />
„Später vielleicht“, sagte ich und zog es ernsthaft in<br />
Betracht.<br />
„Wir sollten das tun“, sagte Eugene.<br />
„Okay. Ich sag ja, später.“
In diesem Moment drückte uns ein anderes Mädchen im<br />
Vorbeigehen einen Flugzettel in die Hand. Darauf stand:<br />
Demonstration: No Sound is illegal<br />
„Was ist das?“, fragte ich sie.<br />
„Steht doch drauf: Wir machen am Samstag eine<br />
Demonstration vor der Volvox-Zentrale.“<br />
Tatsächlich, das stand drauf. „Vor der Volvox-Zentrale?<br />
Warum?“<br />
„Wir fordern, dass sie die Klage gegen die Soundinistas<br />
zurückziehen.“ Sie schien uns nicht zu erkennen.<br />
„Wann wurde denn das beschlossen?“, fragte Eugene.<br />
„Vor einer Stunde, in einem Plenum.“<br />
„Von wem?“<br />
„Ich sag ja, in einem Plenum. Da waren sicher<br />
zweihundert Leute anwesend.“<br />
„Und was sagen die Soundinistas dazu?“, fragte Eugene.<br />
Sie zuckte mit den Schultern. „Die werden sich sicher<br />
freuen darüber.“
„Ja, wahrscheinlich“, sagte Eugene.<br />
Das Mädchen lief schon wieder weiter.<br />
„Wie findest du das?“, fragte ich.<br />
Er lächelte. „Großartig natürlich! Du nicht?“<br />
„Weiß nicht ... Warum habe ich gerade das Gefühl, dass<br />
uns die Sache endgültig entgleitet?“<br />
„Das ist halt Demokratie.“<br />
„Ach so. Klar. Na dann.“<br />
Plötzlich klopfte mir von hinten jemand auf die<br />
Schulter. Ich drehte mich um und mein Vater stand vor<br />
mir. Mein Vater.<br />
„Wow“, sagte ich.<br />
„Hallo.“<br />
„Was machst du hier?“<br />
„Ich habe mit Max gesprochen. Er sagt, du gehst nicht<br />
ran, wenn er anruft.“<br />
„Du bist hier weil ich Max’ Anrufe nicht annehme?“,<br />
fragte ich, fassungslos. „Ich bin in Frankreich verhaftet<br />
und verprügelt worden und du bist hier, weil ich nicht<br />
mit Max reden will?“
„Nein. Weil ich mir Sorgen mache.“<br />
„Da kommst du ja rechtzeitig drauf. Danke der<br />
Nachfrage, die blauen Flecken werden schon gelb.“<br />
„Da hast du dir ja einiges eingebrockt“, sagte er.<br />
„Ich habe mir etwas eingebrockt? Man verprügelt mich<br />
grundlos und ich bin schuld?“<br />
Er setzte seinen missbilligenden Blick auf. „Es war nicht<br />
‚man‘, es war die Polizei. Ihr habt für Unruhe gesorgt.<br />
Ihr sorgt immer noch für Unruhe. Und wenn ich mir<br />
das hier so ansehe, dann soll das ja weitergehen.“ Er hielt<br />
mir einen der Flugzettel mit dem Demonstrationsaufruf<br />
unter die Nase.<br />
„Was willst du?“, fragte ich.<br />
„Weißt du eigentlich, was das für Max bedeutet?“<br />
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Sag, dass das nicht<br />
dein Ernst ist.“<br />
„Es ist mein voller Ernst. Ich war bei ihm. Ich rede ja<br />
mit ihm.“<br />
„Öfter als mit mir.“
„Ja, das stimmt. Und das hat auch seinen Grund. Max<br />
braucht jetzt unsere Hilfe. Und nicht so eine<br />
Demonstration auch noch. Bist du eigentlich völlig<br />
wahnsinnig?“<br />
„Äh...“<br />
„Du kannst das nicht wissen, denn du gehst ja nicht an<br />
dein Telefon, aber der Aufsichtsrat sitzt ihm im Nacken.<br />
Seine Chefs finden, dass diese ganze Sache hier eskaliert<br />
und dem Unternehmen Schaden zufügt. Sie überlegen,<br />
seine neue Firma wieder zu schließen.“<br />
Das überraschte mich nun wirklich. „Ist nicht wahr.“<br />
„Doch. Und wenn jetzt diese Demonstration auch noch<br />
stattfindet, wird ihm das noch mehr schaden.“<br />
Ich spürte einen kleinen Anflug von Schadenfreude. „So.<br />
Ein. Pech.“<br />
„Max hat mir von eurer Vereinbarung erzählt. Dass das<br />
alles nur ein Marketing-Trick für seine Firma ist, dass du<br />
nur deswegen in dieser Band bist. Das verstehe ich jetzt.<br />
Aber diese Sache muss jetzt beendet werden, sie<br />
entgleitet euch.“
Zur letzten Erkenntnis war ich ja auch schon gelangt.<br />
„Ich weiß gar nicht, ob sich das so einfach beenden<br />
ließe. Sieh dich um. Ich kann diesen Leuten keine<br />
Befehle erteilen.“<br />
„Es sind deine Fans.“<br />
„Vielleicht. Vielleicht glauben sie auch nur an gewisse<br />
Ideale. Vielleicht sind sie deswegen da, und nicht<br />
unseretwegen.“<br />
„Was für Ideale denn? Grüne Haare und möglichst viel<br />
Eisen im Gesicht?“<br />
Ich zündete mir eine Zigarette an. Mein Vater hasste es,<br />
dass ich rauchte. „Du kannst das alles hier überhaupt<br />
nicht verstehen, oder?“<br />
„Nein. Ich kann es nicht verstehen. Nicht im<br />
Geringsten“, sagte er. „Ich weiß wirklich nicht, was ihr<br />
hier tut, aber wenn es eine erfolgreiche Marketing-<br />
Schiene war, bitte schön. Dann ist das halt das<br />
Musikgeschäft. Ich halte es für idiotisch und kindisch.“
„Das ist beruhigend“, sagte ich. „Dann stehen die<br />
Chancen ja ganz gut, dass wir hier etwas ziemlich Cooles<br />
machen. Was immer wir hier tun.“<br />
Dann drehte ich mich um und ließ ihn stehen.<br />
„Ruf Max an!“, rief er mir noch nach.<br />
„Sprich zu meiner Hand“, murmelte ich.<br />
#<br />
Am Abend ging ich mit Eugene wieder in das Pub und<br />
der Wirt lud uns wieder auf zwei Bier ein.<br />
„Das war heute alles ein wenig viel“, sagte ich. „So viele<br />
Themen, eine Demonstration und dann noch mein<br />
Vater.“<br />
Aber Eugene hörte kaum zu, er konzentrierte sich schon<br />
auf die Fernsehnachrichten. Und die waren kaum<br />
weniger sensationell als am Tag zuvor. Die französische<br />
Polizei sagte, man würde die Herkunft des Molotow-<br />
Videos untersuchen und bis dahin keinen weiteren<br />
Kommentar abgeben. Die deutsche Polizei bestritt, ihren
Kollegen das Band überlassen zu haben. In Spanien<br />
hatten zweihundert Menschen ein Feld gerodet, auf dem<br />
ein Saatgut-Konzern patentierten Mais zu Versuchszwecken<br />
angebaut hatte. In New York war ein Mann<br />
festgenommen worden, der in einem Computergeschäft<br />
auf mehreren ausgestellten Geräten Linux installieren<br />
wollte. In Nairobi demonstrierten tausende Bauern vor<br />
der Niederlassung eines Pharmakonzerns, warum, sagte<br />
der Nachrichtensprecher nicht. Die Polizei löste die<br />
Demo mit Wasserwerfern und Tränengas auf, es gab<br />
Schwerverletzte. In Sydney besetzten Studenten eine<br />
Privatuniversität und forderten leistbaren Zugang zu<br />
Bildung für alle. In Genf stürmte eine lokale Band<br />
zusammen mit ihren Fans das Hauptquartier der World<br />
Intellectual Property Organisation und spielte in der<br />
Lobby ein Konzert, bis nach fünfzehn Minuten die<br />
Polizei eintraf und alle festnahm. Und in Berlin hatten<br />
Demonstranten den Virgin Megastore am<br />
Hauptbahnhof gestürmt, Scheiben eingeschlagen und<br />
ein paar tausend CDs gestohlen. Wenn ihr uns wie
Piraten behandelt, können wir uns auch so verhalten,<br />
hatte jemand auf die Fassade gesprayt.<br />
„Wow“, sagte Eugene. „Das war heute wirklich alles ein<br />
wenig viel.“<br />
„Jungs, da habt ihr ja was angefangen“, sagte der Wirt<br />
und stellte uns die Biere hin.<br />
Mein Handy läutete. Es war Max.<br />
Diesmal hob ich ab.<br />
„Warte kurz“, sagte ich und ging raus auf die Straße,<br />
damit niemand mithörte. Vor allem nicht Eugene.<br />
„Wir müssen reden“, sagte er.<br />
„Scheint so.“<br />
„Dann komm in mein Büro. Heute Nacht.“<br />
„Das geht nicht“, sagte ich. Ich wollte Zeit schinden.<br />
Wofür wusste ich nicht.<br />
„Dann morgen. Mehr Zeit haben wir nicht mehr. Der<br />
Aufsichtsrat macht mir die Hölle heiß. Wenn eure<br />
Demo losgeht, muss unser Deal unter Dach und Fach<br />
sein. Joanna hat den Vertrag aufgesetzt. Du wirst<br />
überrascht sein. Positiv überrascht.“
„Hmmmm.“<br />
„Irgendein Problem?“<br />
„Nein, kein Problem ...“, sagte ich langsam. „Morgen<br />
Abend, wenn deine Mitarbeiter weg sind.“<br />
„Die arbeiten derzeit die Nächte durch. Treffen wir uns<br />
besser in meiner Wohnung, die liegt direkt über dem<br />
Büro. Du kannst den Hintereingang nehmen.“<br />
„Gut. Schick mir die Adresse.“<br />
„Okay. Aber eine Bedingung habe ich.“<br />
Ich musste lachen. „Du hast Bedingungen?“<br />
Max lachte nicht. „Bring Anna mit!“, sagte er und legte<br />
auf.<br />
Also suchte ich Anna. Aber ich fand sie nicht. Ich fragte<br />
Eugene; er drückte ein wenig herum und gab mir keine<br />
Antwort. Ich wurde eifersüchtig und betrank mich.<br />
Gegen Mitternacht tauchte sie auf, Arm in Arm mit<br />
einem groß gewachsenen, dünnen Typen mit schwarzen<br />
Locken und Metallica-T-Shirt.<br />
Ich trank weiter.
#<br />
Unser vierter Tag im Hyde Park war der Freitag.<br />
Bei den Morgenbesprechungen, die in hunderten<br />
kleinen Gruppen durchgeführt wurden, gab es zunächst<br />
nur ein Thema: Max und seine Idee, Musikstile zu<br />
patentieren. Der Idiot hatte ein Interview in der<br />
Financial Times gegeben und den Plan in die ganze<br />
Welt hinausgeblasen. Ich glaube, damit verdoppelte er<br />
auf einen Streich die Anzahl der Demonstranten.<br />
Ich ging ins Internet-Café, um die Geschichte<br />
nachzulesen. Selbst im Diskussionsforum der FT, das ja<br />
nun wirklich kein antikapitalistisches Plenum ist, hagelte<br />
es Kritik. Auf den uns wohlgesonnenen Blogs und<br />
Websites brachen alle Dämme. Jetzt reicht’s, stand da.<br />
Enough is enough. Ya basta. Rien ne va plus.<br />
Zurück im Hyde Park war die Planung bereits in vollem<br />
Gang. Ich fand die anderen Bandmitglieder in einer<br />
Organisationsgruppe in der Nähe des Busses.
„Ach, hier bist du“, sagte ich zu Anna, so leise, dass die<br />
anderen mich nicht hörten.<br />
„Hast du mich gesucht?“<br />
„Was machst du heute Abend?“<br />
„Warum?“<br />
„Weil es was zu besprechen gibt.“<br />
„Hör mal ...“<br />
„Nein, es geht nicht um uns“, fiel ich ihr ins Wort. „Ich<br />
... hätte gerne, dass du mich zu einem Termin<br />
begleitest.“<br />
„Einem Termin?“<br />
„Sozusagen. Es ist eine Überraschung. Und es ist<br />
geheim. Nur du und ich, vorerst.“<br />
„Okay“, sagte sie. „Klingt ja mysteriös.“<br />
„Und worum geht’s hier?“, fragte ich.<br />
„Hör zu, dann weißt du’s“, sagte Anna.<br />
„Wir sollten Kleingruppen bilden. Affinity Groups,<br />
Bezugsgruppen. Das sollte die kleinste Einheit sein, in<br />
der wir operieren“, sagte ein alter bärtiger Aktivist,<br />
dessen wettergegerbtes Gesicht aussah, als würde er jeden
Winter mit Greenpeace durch die Antarktis schippern.<br />
Er sprach mit der natürlichen Autorität eines Menschen,<br />
der weiß, wovon er redet. „Diese Gruppen setzen sich<br />
aus Leuten zusammen, die einander kennen und sich<br />
aufeinander verlassen können. In jeder Situation. Leute,<br />
die auch unter Stress zusammenhalten. Okay?“<br />
Alle nickten brav.<br />
„Jede Affinity Group ist für sich selbst verantwortlich. Es<br />
gibt keine zentrale Planung, keine Hierarchie. Alle<br />
Affinity Groups sind gleichrangig. So kann uns die<br />
Polizei nicht lähmen, indem sie unsere<br />
Kommandostrukturen blockiert. Es gibt einfach keine<br />
Kommandanten. Es gibt nur uns. Jede Affinity Group<br />
stellt sich eine Aufgabe – etwa die Kreuzung X/Y zu<br />
blockieren. Oder sich über Soho zu verteilen und die<br />
Bewegungen der Polizei zu beobachten. Oder<br />
Sanitätsdienste zu leisten oder Wasser zu verteilen. Oder<br />
einfach nur aufzutauchen und vor Ort zu entscheiden,<br />
was getan werden sollte. Jede Gruppe, wie sie will. Die<br />
Masse macht’s.“
„Bilden die Soundinistas eine Gruppe?“, fragte ich.<br />
„Psst“, machte Eugene. „Klar.“<br />
„Bei großen Demonstrationen gibt es meist monatelange<br />
Vorbereitungen auf beiden Seiten“, sagte der bärtige<br />
Mann. „Das gibt der Polizei die Möglichkeit, Festungen<br />
aus Stahlzäunen und Mauern zu errichten. Diese<br />
Möglichkeit hatte sie hier nicht. Wir werden nur auf<br />
kleine, mobile Straßensperren treffen. Die Polizei wird<br />
sehr beweglich sein müssen, wird sich nicht verschanzen<br />
können. Das ist unsere Chance: Sie müssen die<br />
Befehlskette einhalten, wir nicht. Wir können sofort<br />
reagieren, jede Affinity Group entscheidet vor Ort und<br />
autonom. Sie ist dabei in der Wahl ihrer Mittel frei. Sie<br />
kann kommen, wann sie will, gehen, wohin sie will, tun,<br />
was sie will. Letztlich muss nur mindestens eine Affinity<br />
Group durch die Polizeisperren gelangen und die<br />
Zentrale von Volvox erreichen. Und sie sollte eine<br />
Spraydose dabeihaben, um es beweisen zu können.“<br />
Lachen und zustimmendes Klatschen von einigen<br />
Zuhörern. „Es muss nur eine Gruppe durchkommen,
aber das können wir nur alle gemeinsam erreichen.<br />
Mitglieder verschiedener Affinity Groups sollten Handy-<br />
Nummern austauschen, um vernetzt zu sein. Und ein<br />
Tipp aus Erfahrung: Innerhalb größerer Gruppen solltet<br />
ihr Arbeitsteilung betreiben: Scouts, Koordinatoren,<br />
Proviantmeister, Sanitäter etc.“<br />
In den nächsten beiden Stunden entwickelte sich so<br />
etwas wie ein Konsens, wie am nächsten Tag<br />
vorgegangen werden sollte. Geplant war eine zweigeteilte<br />
Aktion: Die Hauptdemonstration sollte vom Hyde Park<br />
die Oxford Street entlanggehen und dann rechts nach<br />
Soho hinein abbiegen, direkt auf das Hauptquartier von<br />
Volvox zu. Wir erwarteten eine große Straßensperre<br />
irgendwo auf diesem Weg. Daher sollten gleichzeitig<br />
Affinity Groups aus allen Himmelsrichtungen in Soho<br />
einsickern und auf unterschiedlichen Routen versuchen,<br />
zu dem Gebäude zu gelangen.<br />
Der Hyde Park war inzwischen ein unüberschaubares,<br />
buntes Durcheinander aus Gruppen und Arbeitskreisen.<br />
Es gab so viel zu tun ... Übersicht verschaffen konnte
man sich an einer Leinwand, die jemand zwischen zwei<br />
Bäume gespannt hatte. Auf meist mit Hand bekritzelten<br />
Blättern fanden sich alle nötigen Informationen: 14:00<br />
Erste-Hilfe-Kurs, Treffpunkt hier / 15:30 Digitale<br />
Anarchie, Diskussion, Nordwestliche Ecke /<br />
Hauptmarsch: Strategiesitzung 17:00 / Juristische<br />
Auskünfte beim Tisch rechts / Englisch-Italienisch-<br />
Übersetzer gesucht / Affinity Groups: Schickt Vertreter<br />
zu allen Diskussionsforen / Ab morgen: Piratenradio<br />
107,5 / Pre-Paid-Telefonkarten und Freischaltung<br />
ausländischer Geräte (alle Marken) bei der Adresse ...<br />
Die meisten Zettel waren in mehreren Sprachen<br />
beschriftet, wer eine Übersetzung beisteuern konnte,<br />
schrieb sie einfach darunter.<br />
Ein dürrer Amerikaner mit Vollbart und Holzfällerhemd<br />
hielt einen kleinen Selbstverteidigungskurs und zeigte<br />
simple, aber effektive Tricks, wie man sich aus der<br />
liebevollen Umarmung eines Polizisten befreien konnte.<br />
Zwei besonders eifrige Schüler wollten das Repertoire<br />
um einige Schlag- und Tritttechniken erweitert sehen,
aber der Amerikaner winkte ab. „Was auch passiert,<br />
schlagt nie zurück“ sagte er, „oder ihr landet für lange<br />
Zeit im Gefängnis. Ihr solltet, wenn ihr weggetragen<br />
werdet, noch nicht mal eure Beine anwinkeln. Das<br />
könnte als Versuch zu treten gedeutet werden.“<br />
Wenige Meter weiter setzte eine Deutsche auf noch<br />
mehr Pazifismus und hielt einen Deeskalations-<br />
Workshop. Die Teilnehmer teilten sich in<br />
Zweiergruppen, einer spielte einen aufgebrachten<br />
Bewohner von London, der zweite einen Demonstranten<br />
– also sich selbst. Der „Einheimische“ musste sich<br />
furchtbar über all die Unannehmlichkeiten durch die<br />
Demonstration aufregen, der andere ihn beruhigen, zu<br />
einer sachlichen Diskussion bringen und ihm erklären,<br />
warum er hier war. Das Ganze war, trotz des ernsten<br />
Hintergrundes, ein ziemlicher Spaß. Das Highlight war<br />
ein dänisches Pärchen mit Dreadlocks, beide keine<br />
zwanzig Jahre alt. Sie beschimpfte ihn mit einem<br />
Schwall von Kraftausdrücken und schrie dann mit sich<br />
überschlagender Stimme: „Geh doch arbeiten, statt hier
zu demonstrieren, du Idiot, du arbeitsscheues Element!“<br />
Er stand nur da, den Mund offen, die Hände abwehrend<br />
erhoben und sagte nichts. Die Trainerin kam zu ihm.<br />
„Lass die Hände unten, du wirkst aggressiv. Und bring<br />
deine Argumente.“<br />
Im Freien vor der Halle hatte eine holländische<br />
Kommune eine mobile Küche aufgebaut und kochte.<br />
Bio und vegan natürlich. Das Essen kostete nur ein paar<br />
Pennies, aber ein Schild wies darauf hin, dass niemand<br />
abgewiesen würde, wenn er kein oder zu wenig Geld<br />
hatte. Hinter der Küche saß ein gutes Dutzend<br />
Freiwilliger im Gras und schälte Kartoffeln, schnitt<br />
Karotten oder wusch das Plastikgeschirr.<br />
Südlich des Sees waren Aktivisten mit dem Anfertigen<br />
von Transparenten, Schildern und dergleichen<br />
beschäftigt. Selbstorganisation war alles: Es lagen eine<br />
Menge Stoffe, Papier, Farben und vor allem Holz<br />
herum. Wer etwas brauchte, nahm es sich und steckte<br />
einen Kostenbeitrag in eine Kartonschachtel. Wer<br />
eigenes Material mitgebracht hatte, tauschte oder
schenkte Überschüssiges her. An einen Baum gelehnt<br />
standen massenhaft Schilder mit aufgeklebten Slogans:<br />
„Das gehört uns!“ in allen möglichen Sprachen und<br />
„Don’t hate the media, be the media“ und so weiter.<br />
Ich sah eine Gruppe in Kostümen von Disney-Figuren.<br />
Mickey, Goofy, Minnie, Donald, A-Hörnchen und B-<br />
Hörnchen, alle waren sie da. Sie malten Schilder, auf<br />
denen stand: „Ich gehöre dir“ und „Freiheit für Mickey!“<br />
Aber die wohl witzigste Gruppe waren die Nerds von der<br />
Penguin Resistance Army. Sie waren beinahe<br />
zweihundert Leute und verkleideten sich allesamt als<br />
Pinguine. Als Kopf nahmen sie schwarze Fahrrad- oder<br />
Motorradhelme, auf die sie Schnäbel aus<br />
orangefarbenem Karton klebten. Dazu schlüpften sie in<br />
extrem weite – und ich meine extrem weite – selbst<br />
genähte Kostüme in Schwarz und Weiß, die sehr<br />
entfernt an Pinguine erinnerten. Diese Kostüme stopften<br />
sie dick mit Schaumgummi aus. Eine ganze Armee von<br />
pummeligen Pinguinen. Ich fand das echt lustig.
Dann besuchte ich gemeinsam mit Eugene ein paar der<br />
„Seminare“. Wir lernten, dass man Tränengas am besten<br />
mit reinem Wasser aus den Augen wäscht und dass man<br />
daher besser keine Kontaktlinsen tragen sollte, auch weil<br />
das Reizmittel sich auf den Linsen ablagern kann. Wir<br />
lernten, dass Tücher, die in Essig oder Zitronensaft<br />
getränkt sind, eine neutralisierende Wirkung haben und<br />
das Atmen erleichtern. Wir lernten, dass Tränengas<br />
schwerer ist als Luft, dass man sich daher nicht<br />
niedersetzen sollte, wenn es verschossen wird. Und dass<br />
man rauchende Tränengasgranaten am besten in die<br />
Kanalisation wirft, oder in einen Eimer mit Wasser,<br />
damit sie keinen Schaden anrichten. „Und woher<br />
bekomme ich auf einer Demo einen Eimer mit<br />
Wasser?“, fragte ich. Der Mann, ein dünner, kleiner<br />
Bartträger, lächelte und öffnete einen weißen<br />
Lieferwagen, der offensichtlich einem Malereibetrieb<br />
gehörte. Auf der Ladefläche standen dicht gestapelt leere<br />
Farbeneimer. „Wir werden eine Menge davon haben“,<br />
sagte er.
Wir lernten, wie man eine Menschenkette bildet und die<br />
Arme dabei so verschränkt, dass es wirkungsvoll ist und<br />
man sich trotzdem gegenseitig nicht verletzt, wenn die<br />
Polizei die Kette gewaltsam auseinanderreißt. Wir<br />
lernten auch, wie man eine Strahlenkanone baut, die die<br />
Sensorchips von Überwachungskameras zerstört. Dazu<br />
braucht man nur Teile eines Mikrowellenherdes, eine<br />
Satellitenschüssel und eine Autobatterie.<br />
Wir lernten, dass ganz normale Handys von der Polizei<br />
als Wanzen verwendet werden können. Dass die<br />
Netzbetreiber das Freisprechmikrofon jedes Handys<br />
aktivieren und mithören können, ohne dass das am<br />
Display angezeigt wird. Dass die Positionsortung via<br />
Handy ganz leicht ist, war mir schon davor klar. Dass<br />
das aber auch geht, wenn das Gerät abgeschaltet ist, war<br />
mir neu. „Moderne Elektronik wird durch das<br />
Ausschalten nur in einen Schlummerzustand versetzt“,<br />
dozierte ein junger Typ. „Der Stromkreislauf wird aber<br />
nicht tatsächlich unterbrochen wie bei einem<br />
altmodischen Lichtschalter. Daher kann auch ein
abgeschaltetes Handy fernaktiviert werden. Und zwar<br />
ohne dass man es auf dem Display sieht. Daher:<br />
Abschalten reicht nicht. Ihr müsst den Akku<br />
rausnehmen. Nur dann seid ihr weder zu orten noch<br />
abzuhören.“<br />
„Spooky“, sagte jemand.<br />
#<br />
Wir begannen gegen Mittag, die Sambanistas zu formen.<br />
Inzwischen hatten wir ja schon Übung darin.<br />
Für viele, sehr viele Menschen, die noch keine Ahnung<br />
hatten, was sie bei der Demo eigentlich tun sollten,<br />
schien das eine tolle Möglichkeit zu sein. Als die<br />
mitgebrachten Instrumente vergeben waren, wurden<br />
eifrig weitere gebastelt: Ölfässer, Topfdeckel, leere<br />
Eimer, alles wo man lautstark draufhauen konnte, wurde<br />
ins Konzert integriert. Eugene gab mit Trillerpfeife und<br />
Stock den Takt vor. Unermüdlich, immer und immer
wieder, machte er neu Hinzugekommene auf Fehler<br />
aufmerksam und hielt das Werk zusammen.<br />
Am Nachmittag begannen wir, den Marsch in<br />
Formation zu üben. Der Plan war, die<br />
Hauptdemonstration anzuführen. Das sollte auch<br />
deeskalierend wirken: Wir hofften, dass die Polizei nicht<br />
versuchen würde, eine fröhlich musizierende Samba-<br />
Band zu attackieren.<br />
Max hatte mir per SMS die Adresse geschickt. Ich sollte<br />
nicht den Haupteingang nehmen, sondern eine<br />
unversperrte Hintertür in einer kleinen Seitengasse.<br />
„Was machen wir hier?“, fragte Anna.<br />
„Lass dich überraschen“, sagte ich und öffnete die Tür.<br />
„Fünfter Stock, kein Lift auf dieser Seite des Hauses.“<br />
Das Treppenhaus war für Londoner Verhältnisse<br />
weitläufig, es war gepflegt und sauber und roch sogar<br />
noch frisch gestrichen. Im zweiten Stock kamen wir an<br />
#
einer Rauchglastüre vorbei, die zwei Schilder trug:<br />
Emergency Exit stand auf dem einen. Volvox Ltd auf<br />
dem anderen. Anna zog eine Augenbraue hoch. Ich legte<br />
den Zeigefinger auf meine Lippen. Identische Türen mit<br />
identischen Schildern im dritten und vierten Stock.<br />
Im fünften standen wir vor einer großen, schwarzen<br />
Feuerschutztüre. Keine Schilder.<br />
„Wo sind wir hier?“, fragte Anna.<br />
„In der Höhle des Löwen“, antwortete ich und öffnete<br />
die Tür.<br />
Aber das war ein Irrtum: Es war ein Hund.<br />
Das riesige Vieh fuhr mit lautem Gebell auf mich los.<br />
Ich schrie laut auf und warf die Türe wieder zu.<br />
„Aus!“, hörte ich Max’ Stimme. Und: „Guter Junge,<br />
guuuuter Junge. Platz jetzt. Platz!“<br />
„Du hättest mir sagen können, dass du einen Hund<br />
hast“, rief ich durch die Tür.<br />
„Du hättest dir denken können, dass ich mich etwas<br />
unsicher fühle“, rief Max. „So, er hat sich beruhigt. Ihr<br />
könnt reinkommen.“
„Sicher?“<br />
„Jetzt mach schon!“<br />
Ich öffnete die Türe wieder<br />
Max stand direkt dahinter. Er setzte sein strahlendstes<br />
Lächeln auf, zu viel des Guten, fand ich. „Hey Mann!“,<br />
sagte er. „Schön euch zu sehen.“ In der Rechten hielt er<br />
eine Flasche Schampus, in der Linken drei Gläser.<br />
Anna war überrascht: „Du bist doch ... Peter. Dich<br />
haben wir in Köln getroffen. Oder Dortmund.“<br />
„Düsseldorf“, sagte ich.<br />
„Ich heiße Max“, sagte Max.<br />
„Und er ist mein Cousin“, sagte ich.<br />
„Dein Cousin ...“, wiederholte Anna. „Und was soll das<br />
Ganze?“<br />
„Ich will euch ein Angebot machen, das ihr nicht<br />
ablehnen könnt“, sagte Max mit gespielt tiefer Stimme.<br />
Dann lachte er. Wie lustig. Er musste ziemlich nervös<br />
sein. „Kommt erst mal rein“, sagte er. „In meine<br />
bescheidene Hütte.“
Die bescheidene Hütte hätte einer Fußballmannschaft<br />
genug Platz geboten. Max führte uns in ein riesiges<br />
Wohnzimmer, das zu einer sehr durchdesignten Küche<br />
hin offen war, alles sehr geräumig, viel Chrom, viel Glas,<br />
teures Holz, sogar eine lange Bar mit sechs Hockern. Im<br />
Wohnzimmer stand die größte Couch, die ich je gesehen<br />
habe, und darauf lag jetzt der Hund. Er wirkte<br />
vollkommen desinteressiert. Das war gut.<br />
Ich sah mich um und Max deutete meinen Blick richtig.<br />
„Papsch ist weg. Er hat ein paar Tage hier gewohnt, aber<br />
er ist heute morgen abgereist. Der ist vielleicht sauer auf<br />
dich ...“<br />
„Papsch?“, fragte Anna.<br />
„Mein Vater“, sagte ich.<br />
„Ich dachte, ihr beide seid Cousins. Warum sagst du<br />
dann Papsch zu seinem Vater?“, fragte sie Max.<br />
„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete ich<br />
stattdessen, „und wir wollen sie heute nicht diskutieren.<br />
Wir haben etwas anderes zu besprechen.“
„Richtig. Aber erst Champagner“, sagte Max, ging an die<br />
Bar und schenkte ein.<br />
„Haben wir etwas zu feiern?“, fragte Anna.<br />
„Natürlich. Euren Plattenvertrag“, sagte Max.<br />
„Unseren was?”<br />
„Plattenvertrag. Wie besprochen“, sagte Max und<br />
lächelte. „Ich habe euch Kopien auf den Couchtisch<br />
gelegt, ihr könnt sie gleich durchlesen. Aber erst den<br />
Champagner.“<br />
Anna lief sofort zum Couchtisch und schnappte sich<br />
einen der dort liegenden Verträge. Der Hund<br />
beobachtete sie aufmerksam. Max auch. Ich wusste jetzt,<br />
warum ich sie mitbringen sollte. Nun hatte ich zwei<br />
Gegner, und einen davon aus den eigenen Reihen.<br />
„Max, was soll das?“, fragte ich.<br />
„Was soll was?“<br />
„Diese Show.“<br />
„Das würde ich gerne von euch beiden wissen“, rief<br />
Anna, ohne von dem Papier aufzublicken.<br />
„Du hast es ihr nicht gesagt?“, fragte Max.
Anna: „Was nicht gesagt?“<br />
Ich schüttelte den Kopf.<br />
Max: „Und den anderen?“<br />
Ich schüttelte wieder den Kopf.<br />
„Nicht mal Eugene?“<br />
„Ich habe ihm gesagt, dass ich dich jederzeit anrufen<br />
kann und du wirst die Klage zurückziehen.“<br />
„Aber nicht, dass wir einen Plattendeal vereinbart<br />
haben?“<br />
„Wir haben keinen Plattendeal vereinbart.“<br />
„Ich habe das anders in Erinnerung. Ihr helft mir,<br />
Volvox in die Medien zu bringen, dann einigen wir uns,<br />
ich lasse die Klage fallen, und ihr bekommt einen<br />
Plattenvertrag und erzählt der ganzen Welt, dass Volvox<br />
eigentlich doch die Guten sind. So war das vereinbart.<br />
Und vor allem zum letzten Teil würde ich jetzt schön<br />
langsam gerne kommen ...“<br />
Anna streichelte inzwischen den Hund. „Stimmt das?“<br />
Ich. „Nein. Max hat so etwas vorgeschlagen, aber ich bin<br />
nie darauf eingestiegen.“
Anna: „Moment mal, du hast mir doch erzählt, du<br />
hättest Max das Video vorgespielt, weil du uns für einen<br />
Plattenvertrag vorschlagen wolltest.“<br />
Max lachte. „Ja. Genau. Erinnerst du dich?“<br />
Ich. „Es gab keinen Deal.“<br />
„Das ist jetzt auch egal. Dort drüben liegt der Vertrag.<br />
Lies ihn durch. Du wirst begeistert sein. Ihr seid ja zur<br />
völligen Überraschung aller eine große Nummer<br />
geworden. Erstklassige Pressearbeit übrigens, ich muss<br />
dir gratulieren. Und wir machen euch noch größer. Eine<br />
gewaltige Marketing-Kampagne. Und wir releasen das<br />
erste Album in ganz Europa, 100.000 Stück Auflage.<br />
Das wird ein Wahnsinn!“<br />
„Das ist ja großartig!“, rief Anna. Sie lächelte mich an.<br />
„Ich hatte solche Angst wegen der Klage. Jetzt weiß ich,<br />
warum du die ganze Zeit so ruhig warst.“<br />
„Jetzt kommt mal her, lasst uns endlich anstoßen“, sagte<br />
Max.
„Max“, sagte ich gedehnt. „Es ist mein Ernst. Wir<br />
werden den Champagner nicht brauchen. Es gibt keinen<br />
Deal.“<br />
„Was soll das heißen?“, fragte Anna.<br />
Max: „Ja, genau: Was soll das heißen? Bist du verrückt?“<br />
Ich: „Nein. Ich war noch nie so normal.“<br />
Max: „Du spinnst. Komplett. Papsch hat recht.“<br />
Ich: „Lass Papsch aus dem Spiel.“<br />
Anna: „Erklärst du mir bitte, was das jetzt soll?“<br />
Ich: „Das ist ganz einfach. Im Hyde Park campen<br />
unseretwegen ein paar tausend Menschen, die morgen<br />
für uns demonstrieren wollen. Wir können sie nicht an<br />
einen Konzern verkaufen.“<br />
Max: „Die wollen dafür demonstrieren, dass wir die<br />
Klage zurückziehen. Und das tun wir. Das wird morgen<br />
eine extrem erfolgreiche Demonstration, ihr werdet<br />
etwas zu feiern haben! Wo ist das Problem?“<br />
Ich: „Du verstehst das nicht.“<br />
Anna: „Ich auch nicht.“<br />
Ich: „Es geht ums Prinzip.“
Anna: „Um welches Prinzip?“<br />
Ich sah Max an. „Dir steht das Wasser bis zum Hals,<br />
oder? Dein raffinierter Plan ist vollkommen<br />
danebengegangen ...“ Dann wandte ich mich Anna zu.<br />
„Er wird die Klage morgen ohnehin zurückziehen. Er<br />
muss. Sein Aufsichtsrat wird ihm Druck machen. Die<br />
Demonstration wird erfolgreich sein, ja, aber auch ohne<br />
Deal.“<br />
„Moment mal“, sagte Anna. „Schön und gut, aber dann<br />
haben wir noch keinen Plattenvertrag!“<br />
Max lachte, plötzlich, laut und gekünstelt. „Er will, dass<br />
ich mich erniedrige. Oder? Das ist es doch. Du willst<br />
deinen Sieg auskosten.“<br />
„Nein.“<br />
„Was soll ich tun? Soll ich dich bitten?“<br />
„Nein.“<br />
„Willst du mehr Geld?“<br />
„Ich habe den Vertrag ja noch nicht mal angesehen,<br />
woher sollte ich wissen, ob ich mehr wollen würde.“
„Du pokerst einfach hoch, das ist es, oder? Pass auf, dass<br />
du nicht zu viel riskierst.“<br />
Ich schüttelte den Kopf. „Komm Anna, wir gehen<br />
wieder.“<br />
„Hör zu, ich mache dir wirklich ein Angebot, das du<br />
nicht ablehnen kannst“, sagte Max. „Wenn du diese<br />
Demonstranten nicht enttäuschen willst, verstehe ich<br />
das. Ihr bringt die Demonstration bis vor dieses Haus<br />
und dann empfange ich euch. Wir tun ein paar Stunden<br />
so, als würden wir verhandeln und dann präsentieren wir<br />
die Einigung.“<br />
„Nein.“<br />
„Ich werde die Klage zurückziehen ...“<br />
„Das wirst du ohnehin tun.“<br />
„Ihr bekommt einen Plattenvertrag.“<br />
„Nein.“<br />
„Und Volvox gibt alle Pläne auf, Lobbying für die<br />
Patentierbarkeit von Musikstilen zu machen.“<br />
Ich lachte. „Das wirst du ohnehin tun müssen. Damit<br />
hast du es übertrieben. Das liegt dir im Magen, hm?“
„Komm schon, ihr könnt morgen hier rausgehen und<br />
Helden sein. Und eure Fans auch. Wann haben sich<br />
schon tausende Fans so für eine Band eingesetzt? Die<br />
werden noch ihren Enkeln davon erzählen und ihr<br />
werdet berühmter werden als die Beatles.“<br />
„Wir sollten das mit Eugene besprechen“, sagte Anna.<br />
„Und was glaubst du, was er sagen würde?“, fragte ich<br />
sie. „Er weiß, dass Max und ich Freunde sind. Er weiß,<br />
dass ich die ganze Sache mit einem Anruf beenden kann.<br />
Ich habe es ihm garantiert, bevor wir begonnen haben.<br />
Aber er hat mich bis jetzt noch nicht darum gebeten.“<br />
Da schlug sie die Augen nieder. „Er würde Nein sagen.<br />
Eugene will die Revolution, er wollte nie etwas anderes,<br />
sein ganzes Leben lang.“<br />
Damit war das Thema erledigt.<br />
Aus „π“: „It’s survival of the fittest, Max, and we’ve got<br />
the fucking gun!“<br />
#
#<br />
Der Morgen war kalt und verregnet. Noch vor Einsetzen<br />
der Dämmerung huschten drei schemenhafte Gestalten<br />
durch London. Ihr Ziel: eine Großbaustelle im Herzen<br />
der Stadt. Dort angekommen, stiegen sie über den Zaun,<br />
durchquerten vorsichtig das Gelände und steuerten auf<br />
einen Kran zu. Schnell und geübt kletterten sie daran<br />
hoch und dann hinaus auf den Lastarm. Dort entrollten<br />
die Aktivisten ein riesiges Transparent. Weithin sichtbar<br />
zeigte es zwei Pfeile in entgegengesetzten Richtungen. In<br />
dem einen stand Democracy, in seinem Widerpart Mass<br />
Media.<br />
Die erste Affinity Group war im Einsatz. Es hatte<br />
begonnen.<br />
#
Bald darauf sammelten sich andere Affinity Groups in<br />
der Umgebung von Soho, vorwiegend am Leicester<br />
Square und am James Square und rund um das British<br />
Museum. Kurz vor acht Uhr morgens machten sich<br />
Anna und ich auf den Weg, besuchten all diese Plätze,<br />
schüttelten Hände, sprachen mit den Leuten. Die<br />
meisten waren aufgeregt und voller Tatendrang. Die<br />
letzten Tage der Meetings, Diskussionen und Vorbereitungen<br />
hatten sie zusammengeschweißt und<br />
entschlossen gemacht: Sie wollten unsere Deklaration an<br />
die Tür von Volvox kleben. Unbedingt.<br />
Wir schickten SMS an Eugene, der im Hyde Park<br />
geblieben war: JamesSq: ca. 1500 Leute und LeicSq:<br />
2000 Leute und BritMuseum: 2000 Leute – und bei<br />
euch? Und Eugene antwortete: Schwer zu sagen ...<br />
20.000, vielleicht mehr. Beeilt euch mit dem<br />
Zurückkommen, sonst verpasst ihr hier das Beste ...<br />
Für den Weg zurück nahmen wir die kürzeste<br />
Verbindung, die Oxford Street. Deren unterer Teil<br />
bildete den Anfang unserer geplanten
Demonstrationsroute – und das System traf<br />
Vorbereitungen. Die Straße blieb für den privaten<br />
Autoverkehr gesperrt, viele Geschäfte hatten geschlossen,<br />
die U-Bahn-Stationen wurden mit Tretgittern<br />
abgesperrt. Überall war Polizei, in praktisch jeder<br />
Seitengasse parkten mehrere Mannschaftsbusse und<br />
Streifenwagen. Beamte halfen sich gegenseitig dabei, ihre<br />
schwarzen RoboCop-Rüstungen anzulegen, Helm,<br />
Brustpanzer, Schienbeinschoner, Handschuhe. Schwarze<br />
Masken. Plexiglasschilde. Schlagstöcke. Tränengasgewehre.<br />
Ein großer, schwer gepanzerter Wasserwerfer<br />
kam uns langsam und bedrohlich entgegen, fuhr dann<br />
an uns vorbei und verschwand in einer Seitengasse.<br />
„Mir wird jetzt etwas mulmig zumute“, sagte Anna.<br />
Ich lachte verlegen und versuchte, meine Nervosität zu<br />
verbergen.<br />
#
Als wir wieder im Hyde Park ankamen, waren wir von<br />
den Massen überwältigt. Im Laufe des Morgens waren<br />
noch tausende neue Leute gekommen. Der Park war<br />
voller Menschen, schlicht und einfach voll.<br />
Die Samba-Gruppe hatte sich zwischen unserem Bus<br />
und dem Ausgang des Parks formiert. Eugene stand am<br />
Dach des Busses, die Trillerpfeife im Mund, das Mikro<br />
in der rechten Hand, und gab so seine Anweisungen. Als<br />
die Sambanistas ihren Rhythmus gefunden hatten,<br />
kletterte er hinunter und stellte sich an ihre Spitze. Der<br />
Lärm war ohrenbetäubend, selbst für einen<br />
Rockmusiker, der fast jeden Abend auf der Bühne stand.<br />
„Wann geht’s los?“, schrie ich.<br />
Eugene lachte. „Wenn wir so weit sind.“<br />
„Und wann sind wir so weit?“<br />
„Ich glaube jetzt.“ Er gab der Samba-Gruppe das Signal,<br />
zwei Takte auszusetzen. Es wurde schlagartig leise.<br />
Eugene brüllte ins Mikro: „Hey! Ho! Let’s go!“<br />
Das Menschenmeer, das die Sambanistas einschloss,<br />
teilte sich langsam, als wir uns auf den Weg machten.
Eugene ging rückwärts, um die Musiker immer im Auge<br />
zu haben, und gab Anweisungen mit Taktstock und<br />
Trillerpfeife. Ich ging links von ihm, Anna rechts. Wir<br />
steuerten ihn aus dem Park auf die Oxford Street.<br />
Hinter den Sambanistas formierte sich die<br />
Demonstration, die Menschen folgten uns tanzend und<br />
singend, mit Transparenten und Schildern, und es war<br />
ein recht bunter Zug, der sich da formierte. Kurz bevor<br />
wir den Park aus den Augen verloren, drehte ich mich<br />
noch einmal um, und da sah ich, wie sich der große,<br />
schwarz-weiße Block der Pinguine eingliederte. Viele<br />
von ihnen trugen große, schwarze Gummischläuche aus<br />
LKW-Reifen, wie man sie zum Wildwasser-Rafting<br />
verwendet. Was wollen die denn damit, dachte ich, aber<br />
dann ging es schon weiter.<br />
Wir erreichten die ersten Polizisten. Sie standen in je<br />
zwei Reihen rechts und links entlang der Häuserfront,<br />
ganz dicht, Schulter an Schulter. Ihre Schilde standen<br />
vor ihnen am Boden, die Helme hatten sie demonstrativ<br />
abgenommen, sie trugen auch noch keine
Strumpfmasken. Ich beobachtete ihre Gesichter. Ein<br />
paar lächelten demonstrativ freundlich, so als würden sie<br />
uns zu verstehen geben wollen, dass sie insgeheim mit<br />
uns sympathisierten. Aber der Großteil hatte<br />
angespannte, sehr ernste Mienen. Mir fiel auf, dass dieses<br />
Spalier an den Querstraßen nicht unterbrochen wurde,<br />
im Gegenteil, diese waren mit Tretgittern und<br />
quergestellten Polizeiwagen gezielt abgesperrt. Wir<br />
konnten uns jetzt nur noch in eine Richtung bewegen:<br />
nach vorne. Anna und ich führten also Eugene, und<br />
Eugene führte die Sambanistas, und die Sambanistas<br />
führten die ganze Demonstration immer tiefer in diesen<br />
Polizeikorridor.<br />
Auf der Kreuzung Regent Street stand ein einzelner<br />
Polizeibeamter, ohne Rüstung. Er winkte mich zu sich<br />
heran.<br />
„Diese Demonstration ist illegal“, sagte er. Er musste<br />
brüllen, um den Lärm zu übertönen. „Lösen Sie sie<br />
sofort auf, sonst müssen meine Leute das tun.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann diese Demonstration<br />
jetzt nicht mehr absagen. Niemand kann das, das wissen<br />
Sie“, sagte ich.<br />
Er nickte. „Ich weiß. Aber ich muss Sie informieren. So<br />
sind die Spielregeln.“<br />
„Ich verstehe“, sagte ich.<br />
„Sie verstehen gar nichts“, sagte er. Dann drehte er sich<br />
um, gab mit der Hand ein Signal und verschwand nach<br />
rechts. Die Polizeireihen teilten sich kurz und nahmen<br />
ihn auf. Kommandos wurden gebrüllt und die Polizisten<br />
setzten zuerst ihre schwarzen Strumpfmasken und dann<br />
ihre Helme auf.<br />
Eugene warf mir einen fragenden Blick zu.<br />
Ich zuckte mit den Achseln. Er lächelte und ging weiter.<br />
Wenige Minuten später erreichten wir die Kreuzung mit<br />
der Berwick Road. Das Volvox-Büro lag nun nur noch<br />
wenige hundert Meter südlich von uns, aber zwischen<br />
ihm und uns standen sechs Reihen Tretgitter, dahinter<br />
ein dichter schwarzer Block aus Polizisten in ihren
martialischen Rüstungen und mittendrin der<br />
Wasserwerfer.<br />
Wir waren da.<br />
Und plötzlich wussten wir nicht, was wir nun tun<br />
sollten. Die Sambanistas blieben an der Kreuzung<br />
stehen, spielten weiter und weiter, die anderen<br />
Demonstranten schoben nach, schlossen uns ein – und<br />
warteten darauf, dass irgendwas geschah.<br />
„Wie sollen wir bitte durch diese Polizeiabsperrungen<br />
durchkommen?“, fragte Carlos, der den Block der<br />
Sambanistas verließ und zu mir kam.<br />
„Ich habe keine Ahnung“, sagte ich.<br />
Einige junge Leute hatten Blumen mitgebracht und<br />
boten diese den Polizisten in der ersten Reihe an, über<br />
die Gitter hinweg, aber die RoboCops formten mit ihren<br />
Schilden eine lückenlose Wand aus Plexiglas und hinter<br />
den schwarzen Masken war keine Reaktion erkenntlich.<br />
Ein Junge kletterte auf die Gitter, reckte beide Hände<br />
zum Victory-Zeichen in die Höhe, die Masse jubelte,<br />
aber dann stand er dort oben und kratzte sich
nachdenklich am Kopf. Er klopfte gegen eines der<br />
Schilde. Keine Reaktion.<br />
Die Sambanistas spielten immer noch, aber das<br />
Gedränge wurde inzwischen gefährlich dicht, weil<br />
immer noch Menschen vom Hyde Park nachdrängten.<br />
So weit ich sehen konnte, war die gesamte Oxford Street<br />
bis zum Park hinunter voll mit Menschen, und es<br />
schien, als hätte das Ende der Demonstration sich noch<br />
gar nicht in Bewegung gesetzt.<br />
„Das ist riesig“, sagte ich.<br />
„Und völlig planlos“, sagte Carlos. „Wo sind jetzt die<br />
Leute, die wissen, wie man das macht?“<br />
They hang the man and flog the woman<br />
That steal the goose from off the common,<br />
But let the greater villain loose<br />
That steals the common from the goose<br />
The law demands that we atone<br />
#
When we take things we do not own,<br />
But leaves the lords and ladies fine<br />
Who take the things that are yours and mine<br />
The law locks up the man or woman<br />
Who steals the goose from off the common,<br />
And geese will still be a common lack<br />
Till they go and steal it back<br />
Englisches Volkslied, 18. Jahrhundert<br />
#<br />
Die Menge lachte laut. Der Junge auf den Gittern hatte<br />
die Hose heruntergelassen und zeigte den Polizisten den<br />
nackten Hintern. Ich lachte auch und deutete Eugene,<br />
sich mal umzudrehen. Da teilte sich die Wand aus<br />
Plexiglas blitzschnell, zwei Hände in schwarzen<br />
Handschuhen packten den Jungen an den Unterarmen<br />
und rissen ihn zurück. Er verlor das Gleichgewicht und<br />
kippte in die Polizeireihen. Ob sie ihn auffingen oder zu
Boden fallen ließen, war nicht zu sehen, die Wand<br />
schloss sich sofort wieder.<br />
Uns blieb das Lachen im Hals stecken.<br />
Eugene gab den Sambanistas das Schlusszeichen, nach<br />
einem letzten Trommelwirbel kehrte Stille ein.<br />
„Was machen wir jetzt?“, rief er. Aber statt einer<br />
Antwort bekam er dutzende. Die Leute schrien,<br />
begannen zu diskutieren, und ehe wir uns versahen,<br />
standen wir dicht gedrängt mitten auf der Oxford Street<br />
und versanken im basisdemokratischen Chaos. Dieser<br />
Prozess breitete sich von der Spitze nach hinten aus, dort<br />
wuchs die Unzufriedenheit, rund um die U-Bahnstation<br />
Oxford Circus bildete sich eine große Gruppe, die mit<br />
lauten Sprechchören forderte: „Hey! Ho! Let’s go!“, aber<br />
wir an der Spitze wussten nicht, wie. Die Polizeireihen<br />
waren so dicht geschlossen, keiner von uns sah irgendwie<br />
eine Möglichkeit, da durchzubrechen. Und dann,<br />
plötzlich, kam Bewegung in die Menge.
Die Penguin Revolutionary Army, deren Block an der<br />
Kreuzung zur Poland Street zu stehen gekommen war,<br />
ging an die Arbeit.<br />
Das Ganze war ein perfekt durchorganisiertes<br />
Schauspiel: Ein paar Dutzend Pinguine bildeten<br />
zunächst zwei Reihen und schoben die anderen<br />
Demonstranten so weit zur Seite, dass sie einen in etwa<br />
quadratischen Platz frei bekamen, auf dem sich dann nur<br />
noch die etwa zweihundert übrigen Pinguine und ihre<br />
Ausrüstung befanden.<br />
Eugene, Anna und ich kämpften uns durch die Massen<br />
zu ihnen durch. Ich glaube wir schafften das nur, weil<br />
die Leute irgendwie annahmen, dass wir als Band in die<br />
Vorgänge eingeweiht waren. Dabei staunten wir dann<br />
über das Spektakel, das sich uns bot, genau wie alle<br />
anderen.<br />
Zwischen den Pinguinen und den Polizisten befanden<br />
sich auch hier sechs Reihen aneinandergekettete<br />
Sperrgitter. Auf ein verstecktes Kommando hin rückte<br />
ein Pulk von etwa hundertfünfzig Pinguinen dicht
geschlossen gegen die Polizeisperre vor. Und plötzlich<br />
wurde klar, dass ihre Kostüme Rüstungen waren: Die<br />
mit Papierschnäbeln beklebten Motorrad- oder<br />
Fahrradhelme, die zehn Zentimeter dicken<br />
Schaumgummipolster unter dem Pinguin-Dress, die<br />
Schultern, Nacken und Bauch schützten, dazu<br />
Schienbein- und Ellbogenschoner aus aufgeschnittenen<br />
Plastikrohren. Die vordersten Reihen hielten zusätzlich<br />
die Schläuche der LKW-Reifen vor sich und über ihren<br />
Köpfen.<br />
„Was sollen diese Schläuche bringen?“, fragte ich.<br />
„Weiß nicht. Sichtschutz?“, riet Eugene.<br />
Die erste Reihe der Pinguine presste sich auf einer Länge<br />
von etwa 15 Metern gegen die Absperrung. Das Ganze<br />
lief mit Präzision und fast gespenstischer Ruhe ab. Es<br />
wurde weder geschlagen noch gestoßen, ja nicht einmal<br />
ein lautes Wort gegen die Polizisten gerichtet. Die waren<br />
offensichtlich aufgeregt, aber behielten die Nerven und<br />
warteten ab. Aber nichts geschah, obwohl nur einige<br />
Gitter und maximal ein Meter Abstand zwischen den
eiden Fronten lagen. Nach zwei, drei Minuten zogen<br />
sich die Pinguine wieder zurück.<br />
„Das war alles?“, fragte ich.<br />
„Hm, vielleicht haben sie es sich anders überlegt“, sagte<br />
Eugene.<br />
Dann traten vier Pinguine vor, nahmen die Gitter der<br />
ersten Reihe der Absperrung und trugen sie weg. Einfach<br />
so. Die Ketten, die diese Gitter eben noch fixiert hatten,<br />
lagen durchtrennt am Boden.<br />
Während der schwer gerüstete Pulk sich vor der Polizei<br />
aufgebaut hatte, waren einige Aktivisten zwischen den<br />
Beinen ihrer Freunde nach vorne gerobbt und hatten die<br />
Ketten mit Bolzenschneidern geknackt. Unbemerkt von<br />
der Polizei und den Zusehern. Uns fehlten die Worte.<br />
Der Polizei nicht. „Diese Demonstration ist illegal!“,<br />
verkündete sie über Lautsprecher. „Oh, tut uns leid, das<br />
wussten wir nicht!“, antwortete einer der Pinguine.<br />
Dann formierte sich die Angriffsspitze zum zweiten Mal.<br />
Wieder drückten sie gegen die Sperren und diesmal<br />
erhaschte ich einen Blick auf eine der Personen mit den
Bolzenschneidern. Die Polizisten begannen, mit ihren<br />
Stöcken auf die vorderen Reihen einzuschlagen – doch<br />
außer LKW-Reifen und Motorradhelmen trafen sie<br />
nicht viel. Jetzt war auch klar, welche Funktion die<br />
Reifenschläuche hatten. Einige Polizisten gingen in die<br />
Knie und stocherten durch die Gitter, um die Ketten zu<br />
schützen, doch vergeblich. Wenige Minuten später<br />
wurde die zweite Gitterreihe unter lautem Jubel der<br />
anderen Demonstranten davongetragen.<br />
„Die sind toll“, hörte ich jemanden hinter mir sagen.<br />
„So unglaublich durchorganisiert!“ Neben uns stand ein<br />
Jugendlicher mit einem Anarchy-Zeichen auf dem T-<br />
Shirt, hörte mit und zuckte mit den Schultern. „Sind<br />
sicher Kommunisten.“<br />
Als die Gruppe das dritte Mal vorrückte, setzte die<br />
Polizei Pfefferspray ein. Damit war der Spaß vorbei.<br />
Mehrere Pinguine, die direkte Treffer erhalten hatten,<br />
wurden von ihren Freunden in Sicherheit gebracht.<br />
Während ihnen mit reinem Wasser die Augen<br />
ausgewaschen wurden, nahmen neue Leute ihre
Positionen ein. Wir Zuseher hielten uns Tücher vor die<br />
Augen, aber sie begannen dennoch zu tränen.<br />
Die Penguin Resistance Army reagierte ohne Panik.<br />
Etwa die Hälfte bildete stets die Angriffsspitze, der Rest<br />
versorgte sie mit Wasser, Nahrung, neuen<br />
Autoschläuchen und Essigtüchern, leistete Erste Hilfe,<br />
sperrte die Straße oder rastete sich bis zum nächsten<br />
Einsatz aus.<br />
So ging es weiter: Viel Tränengas, etwas Pfefferspray,<br />
immer wieder Schlagstockeinsatz – der wirkungsvoller zu<br />
werden schien, je weniger Gitter sich zwischen Polizei<br />
und Aktivisten befanden. Bald wurde alle paar Minuten<br />
jemand aus der Gefahrenzone gebracht, dessen<br />
improvisierte Rüstung ihn nicht genügend geschützt<br />
hatte. Dennoch brandete regelmäßig Jubel auf, wenn<br />
wieder eine Sperre weggetragen wurde.<br />
Nach einer halben Stunde waren alle Gitter weg. Aber<br />
damit war nur die leichteste Hürde genommen, denn in<br />
der Poland Street standen mehrere hundert Polizisten<br />
und dutzende quer geparkte Fahrzeuge – da gab es kein
Durchkommen. Die Pinguine versuchten es trotzdem.<br />
„Unser Widerstand“, sagte einer durch ein Megafon, „ist<br />
ein symbolischer Akt des Ungehorsams. Ob wir<br />
durchkommen oder nicht, ist nicht wichtig. Aber wir<br />
müssen es versuchen. Schließt euch uns an und schiebt,<br />
schiebt, schiebt!“<br />
Sie rückten eng zusammen, hielten die Reifenschläuche<br />
über die Köpfe, rückten vor – und verschwanden in<br />
einem Meer aus Tränengas. Keine Chance.<br />
Und dann ging die Polizei zum Gegenangriff über.<br />
Wir hielten die Augen offen, so lange wir konnten, bis<br />
uns das Tränengas langsam eingeschlossen hatte. Die<br />
RoboCops stießen und knüppelten sich ihren Weg<br />
durch uns durch und an uns vorbei. Wir bedeckten<br />
unsere Gesichter mit Lappen und Tüchern und<br />
erhaschten noch flüchtige Bilder von Menschen, die mit<br />
Schlagstöcken verprügelt wurden, bevor wir unsere<br />
Augen schlossen. Das Gas war ein Nebel, in dem sich<br />
die Leute vor Schock und Schmerz wie mit langsamen,<br />
seltsamen Tanzschritten bewegten. „Tränengas“ ist eine
Fehlbezeichnung. Man fühlt sich, als ob man erstickt<br />
und erblindet. Das Atmen fällt schwer. Die Sicht ist<br />
verschwommen. Der Verstand ist durcheinander. Die<br />
Nase und die Kehle brennen. Es ist kein Gas, es ist eine<br />
Droge. Polizisten mit Gasmasken schlugen, drängten<br />
und stießen uns mit den Enden ihrer Knüppel. Wir<br />
setzten uns nieder, krümmten uns und klammerten uns<br />
noch enger aneinander. Zu diesem Zeitpunkt war das<br />
Tränengas schon so dicht, dass wir die Augen nicht<br />
mehr öffnen konnten. Einem nach dem anderen wurde<br />
der Kopf zurückgerissen und Pfeffer direkt in beide<br />
Augen gesprüht. Das war sehr professionell. Wie<br />
Haarspray vom Stylisten. Sssst. Sssst.<br />
Natürlich brach Panik aus. Menschen, die sich etwas<br />
weiter weg befanden, flohen entsetzt. Einige Besonnene<br />
riefen: „Walk, don’t run!“ Diese Aufforderung wurde<br />
dauernd wiederholt und schließlich kam die Menge zur<br />
Ruhe. Einige Leute waren gestolpert, doch zum Glück<br />
war niemand dabei verletzt oder niedergetrampelt<br />
worden. Aus geringer Entfernung beobachteten die
anderen Demonstranten die Szene, die sich vor ihren<br />
Augen abspielte, viele ungläubig, dass so etwas mitten in<br />
einer europäischen Großstadt geschah.<br />
Mit der Tränengaswolke verflüchtigte sich auch der<br />
Schock, der die Aktivisten gelähmt hatte. Bewegung kam<br />
in die Menschen. Freiwillige holten die von den<br />
Kampfstoffen blind Gemachten aus der Gefahrenzone.<br />
Ein paar Jugendliche griffen Eugene, Anna und mir<br />
unter die Arme und brachten uns in Sicherheit. Sanitäter<br />
versorgten uns und viele andere, indem sie unsere Augen<br />
mit reinem Wasser spülten und uns beruhigten. Zwei<br />
Männern mit Platzwunden am Kopf wurden sofort<br />
Verbände angelegt.<br />
Und dann schlug die Stunde der Affinity Groups.<br />
#<br />
Gil Scott-Heron, „The Revolution will not be televised“:<br />
The revolution will not be televised.<br />
The revolution will not be brought to you by Xerox
In four parts without commercial interruptions.<br />
The revolution will not show you pictures of Nixon blowing<br />
a bugle and leading a charge by John Mitchell, General<br />
Abrams and Spiro Agnew to eat hog maws confiscated from<br />
a Harlem sanctuary.<br />
The revolution will not be televised.<br />
There will be no highlights on the eleven o’clock news and<br />
no pictures of hairy armed women liberationists and Jackie<br />
Onassis blowing her nose.<br />
The theme song will not be written by Jim Webb, Francis<br />
Scott Key, nor sung by Glen Campbell, Tom Jones, Johnny<br />
Cash, Engelbert Humperdink, or the Rare Earth.<br />
The revolution will not be televised.<br />
The revolution will not be televised, will not be televised,<br />
will not be televised, will not be televised.<br />
The revolution will be no re-run, brothers.<br />
The revolution will be live.
#<br />
Kaum dass eine Kreuzung geräumt war und die Polizei<br />
zur nächsten weiterzog, stürmten aus einer Seitengasse<br />
neue Demonstranten an und bildeten dort wieder eine<br />
Menschenkette. Die Cops räumten die nächste<br />
Kreuzung mit Tränengas und Pfefferspray und<br />
Gummigeschossen und Schlagstöcken, dann eilten sie<br />
zurück und machten sich wieder daran, den ersten Platz<br />
freizukämpfen. So entwickelte sich ein Katz-und-Maus-<br />
Spiel, das sich bald über ganz Soho erstreckte. Kaum<br />
hatten die RoboCops einen Abschnitt gesichert,<br />
umgingen einige Demonstranten sie und blockierten<br />
eine Kreuzung in ihrem Rücken.<br />
Der Aktivist mit dem wettergegerbten Gesicht hatte<br />
recht gehabt: Die Polizei war zahlenmäßig und<br />
organisatorisch unterlegen. Ihre hierarchische<br />
Kommandostruktur war zu schwerfällig für die Affinity<br />
Groups, die keinen Befehl abwarten mussten, um ihren<br />
Standort zu wechseln. Eine SMS, eine Facebook-
Statusmeldung, ein Tweet reichte, um blitzschnell<br />
dutzende Demonstranten an jeden beliebigen Ort zu<br />
dirigieren. Polizeieinheiten haben fixe Größen; alle Cops<br />
müssen in Rufweite ihres Kommandanten bleiben. Die<br />
Affinity Groups dagegen teilten und sammelten sich<br />
nach Belieben, wurden zerstreut und verschmolzen neu,<br />
ganz wie es der Augenblick erforderte. Menschen, die<br />
sich noch nie zuvor gesehen hatten und nicht wussten,<br />
welche Erfahrungen und Ideen den anderen<br />
hierhergeführt hatten, klammerten sich aneinander und<br />
leisteten Widerstand.<br />
Der Kampf verlegte sich immer mehr in die Gegend<br />
westlich der Berwick Street. In diesem System aus<br />
schmalen Gassen und kleinen Plätzen versuchten<br />
Demonstranten, die Polizei zu umgehen, und die Polizei<br />
versuchte, Demonstranten einzukesseln. Die Frontlinien<br />
verschoben sich in Sekundenschnelle, es war ein einziges<br />
Vorwärts-Rückwärts-Seitwärts-Stopp, man wusste nie,<br />
welche Seite gerade die nächste Kreuzung kontrollierte.<br />
Einmal wäre ich fast verhaftet worden, während ich
einen kurzen Blick auf den Stadtplan warf. Hier musste<br />
man viel laufen. Die Polizisten schossen ihre Tränengasgranaten<br />
aus der Distanz in hohem Bogen in die<br />
Menge, mit Wucht schlugen die Metallbehälter ein,<br />
meist am Asphalt, doch immer wieder wurde ein<br />
Demonstrant getroffen. Ein Mädchen erlitt so schwere<br />
Kopfverletzungen, dass sie ins Krankenhaus gebracht<br />
werden musste. Kurz darauf entstand das Gerücht, sie sei<br />
gestorben, während der Operation ihren Verletzungen<br />
erlegen. Ich konnte, wollte das nicht glauben.<br />
Alles, was wir wollten, war ein Zeichen zu setzen: einen<br />
Schritt weiter zu gehen, als Polizei und Konzerne uns<br />
erlaubten. Wir waren bereit, dafür durchs Tränengas zu<br />
laufen, uns verhaften zu lassen, und mit steigendem<br />
Adrenalinspiegel sank sogar die Angst davor, verprügelt<br />
zu werden. Aber sterben? Das hatte niemand in Betracht<br />
gezogen.<br />
Warum auch? Trotz all des Tumults war dieser „Angriff“<br />
friedlich. Unser schlimmstes Vergehen war zu Beginn,<br />
dass wir die Tränengas-Geschosse zurück zur Polizei
warfen. Doch irgendwann flogen nicht nur Gasgranaten<br />
zurück zur Polizei, sondern auch Steine und<br />
Fahnenstangen. Das waren Einzelfälle, doch sie kamen<br />
immer häufiger vor, je später es wurde. Die Brutalität im<br />
Vorgehen der Polizei schockierte uns, wir platzten fast<br />
vor ohnmächtiger Verzweiflung.<br />
Wenn Affinity Groups eine Kreuzung besetzten, rief<br />
jemand: „Whose Streets?“, und die anderen antworteten:<br />
„Our Streets!“ Wenn die Polizei anrückte, zückten die<br />
Demonstranten ihre Smartphones und fotografierten<br />
und filmten und skandierten: „The whole world is<br />
watching“. Wenn das Gas kam, protestierten sie: „This is<br />
what democracy looks like!“, oder: „The people, united,<br />
will never be defeated!“ Gleichzeitig füllten sich die<br />
Mauern der Innenstadt mit Graffiti.<br />
Als die Polizei versuchte, ihre Truppen mit Bussen zu<br />
verlegen, errichteten Demonstranten Barrikaden aus<br />
Mülltonnen, Parkbänken, Verkehrsschildern oder was<br />
eben zu finden war.
Eugene, Anna, Carlos, Dmitri und ich blieben<br />
zusammen; wir waren nun keine Band, wir waren eine<br />
Affinity Group. Wir blieben im Bereich der Poland<br />
Street, wo die Pinguine und ein paar hundert andere<br />
immer noch versuchten, durchzubrechen.<br />
Einzeln und in kleinen Gruppen versuchten wir,<br />
vorzudringen. Die Polizei nebelte die ganze Gegend mit<br />
Tränengas ein. In der Wolke herrschte eine andere<br />
Wirklichkeit. Es gab keine Farben, alles war grau, die<br />
Sicht betrug nur wenige Meter, auch weil das Gas<br />
höllisch in den Augen brannte und die Tränen in<br />
Strömen flossen. Schutzbrillen waren sinnlos, weil sie<br />
sofort anliefen. Atemfilter waren sinnlos, weil in der Luft<br />
mehr Tränengas als Sauerstoff lag. Bei jedem Einatmen<br />
hätte man sich am liebsten angekotzt. Sirenen hallten<br />
von den Wänden wider, von allen Seiten durcheinander.<br />
Wenn Stimmfetzen durch den Nebel drangen, war es<br />
unmöglich zu bestimmen, aus welcher Richtung sie<br />
kamen. Tränengas ist eine Droge, kein Zweifel.
Dreißig Sekunden, vielleicht eine Minute, länger hielt<br />
man es in dieser Wolke nicht aus. Dann musste man<br />
sich zurückziehen, zur Plexiglaswand oder noch weiter.<br />
Die Glücklichen kotzten und ließen sich die Augen<br />
auswaschen. Die Unglücklichen, die im Nebel einem<br />
RoboCop begegnet waren, wurden von Sanitätern<br />
verarztet. Viele taumelten blutüberströmt zurück und<br />
mussten in Krankenhäuser gebracht werden.<br />
Einmal, als wir gerade wieder vorstürmten, löste sich ein<br />
Wasserwerfer aus dem Nebel und donnerte direkt auf<br />
uns zu. Mit dem vorderen Teil der Gruppe flüchteten<br />
wir in eine Seitengasse. Das schwere Panzerfahrzeug raste<br />
an uns vorbei, auf die Menge zu. Dort musste es<br />
stoppen, das wussten wir, sonst gab es dutzende Tote.<br />
Es waren vielleicht zwanzig oder dreißig Leute in dieser<br />
Seitengasse und plötzlich stand für einen magischen<br />
Augenblick die Zeit still. Es war, als würde gleichzeitig<br />
jeder jedem in die Augen schauen und fragen: Bist du<br />
dabei? Einer, irgendjemand, brüllte „Hasta la victoria!“<br />
und mit einem lang gezogenen „Siempreeeee!“ stürmten
wir wieder hinaus, jeder ein kleiner, zorniger Che<br />
Guevara, und rannten hinter dem fünfzehn oder zwanzig<br />
Tonnen schweren Wasserwerfer her, um ihn<br />
einzukesseln. Schön pathetisch. Und schön blöd. Aber<br />
rational war an diesem Tag niemand mehr.<br />
Als wir ihn einholten, schlugen die Leute mit Schilden<br />
und Fahnenstangen und leeren Gasgranaten auf den<br />
Stahlkoloss ein. Einer krallte sich mit der Linken in das<br />
Gitter vor der Windschutzscheibe und trommelte mit<br />
der Rechten mit bloßer Faust dagegen.<br />
Natürlich kochten die Emotionen hoch. Alle hatten<br />
damit gerechnet, dass dieser friedliche Marsch gestoppt<br />
werden würde. Aber die unglaubliche Brutalität, mit der<br />
die Polizei auf die vorderen Reihen eindrosch,<br />
überraschte und schockierte uns.<br />
Dann warf jemand einen Molotowcocktail in ein<br />
Polizei-Auto. Diesmal geschah es wirklich. Die beiden<br />
Beamten darin konnten nur mit Glück entkommen, der<br />
Land Rover stand binnen weniger Sekunden vollständig
in Flammen. Eine dicke, schwarze Rauchsäule stieg in<br />
die Luft.<br />
Auf der Oxford Street brach Panik aus. Die Leute vorne<br />
drehten um, wollten weglaufen, flüchten, doch die<br />
hinten, weit weg von der Polizei, bekamen das nur<br />
langsam mit. Der Wasserwerfer kam, drängte die Leute<br />
noch enger zusammen, wie ein Hund, der Schafe hetzt.<br />
Diesmal attackierte ihn niemand. Gasgranaten krachten<br />
in die Masse, es gab keine Chance, auszuweichen. Zum<br />
Glück konnte man auch kaum umfallen, denn wer jetzt<br />
stürzte, würde wohl zertrampelt werden. Polizisten<br />
stürmten heran, sie trugen keine Schilde, nur noch<br />
Schlagstöcke. Sie griffen Einzelne aus der panischen<br />
Masse heraus, zerrten sie an Armen und Beinen davon,<br />
traten ihnen dabei in die Rippen. Andere rissen sie zu<br />
Boden, ließen sich mit den Knien auf ihren Kopf fallen,<br />
zerquetschten das Gesicht am Asphalt der Oxford Street,<br />
während sie ihren Opfern Plastikhandschellen anlegten<br />
und sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt<br />
festnahmen. Ich sah die Gruppe in den Disney-
Kostümen, sie flüchtete. Mickey verlor den viel zu<br />
großen Kopf, er rollte über die Straße, ein Polizist kickte<br />
ihn zur Seite.<br />
Wir wurden mit einigen anderen von den Ereignissen in<br />
eine Einfahrt gespült, irgendwie, weg von der Masse.<br />
Polizisten tauchten auf, schnitten uns von der Straße ab,<br />
taxierten uns. Dann knallten zwei Granaten neben uns<br />
auf den Boden und füllten den ganzen Hof mit<br />
Tränengas.<br />
„Hierher“, rief eine Stimme, ich taumelte in diese<br />
Richtung, konnte schemenhaft eine Türe erkennen.<br />
Dann brach ich zusammen.<br />
#<br />
„Hey, bist du in Ordnung?“<br />
Ich hörte Eugenes Stimme, bevor ich wieder etwas sehen<br />
konnte. „Keine Ahnung“, brummte ich, aber es war<br />
vermutlich kaum verständlich.
„Na immerhin bist du wieder bei Bewusstsein. Ich habe<br />
mir schon Sorgen gemacht.“<br />
Meine Augen waren verschwollen. Nur mit Mühe<br />
schaffte ich es, die Lider zu öffnen.<br />
„Du hast wohl einen direkten Treffer abbekommen. Wir<br />
haben literweise Wasser über deine Augen geleert, bis ich<br />
schon befürchtet habe, wir waschen dir die Farbe aus<br />
den Pupillen.“<br />
Ich versuchte zu lächeln. „Danke. Wie lange war ich<br />
bewusstlos?“<br />
„Eine halbe Stunde. Vielleicht etwas länger.“<br />
„Wo sind wir hier?“<br />
„Im Lagerraum einer kleinen Boutique. Die Besitzerin<br />
hat uns reingelassen und vor der Polizei versteckt. Die<br />
ganze Band ist da, und noch sieben oder acht Fremde.<br />
Die sind alle drüben im Geschäft. Aber wir wollen<br />
aufbrechen.“<br />
„Aufbrechen?“<br />
„Die Sache ist die: Die Demonstration ist vollkommen<br />
zusammengebrochen. Wir hören Radio und die anderen
telefonieren mit ihren Freunden da draußen, das heißt,<br />
sofern sie jemanden erreichen. Aus unseren eigenen<br />
Handys habe ich übrigens die Akkus rausgenommen.“<br />
„Gute Idee. Was heißt das, die Demo ist zusammengebrochen?“<br />
„Die Polizei treibt die Leute durch die Stadt, weg von<br />
Soho. Scheinbar haben sich ein paar hundert Leute im<br />
British Museum verschanzt und in der Nähe das<br />
Parlaments hat man Barrikaden errichtet. Und im Hyde<br />
Park soll die Polizei laut Radioberichten über<br />
zweitausend Leute eingekesselt haben. Aber wir wissen<br />
nichts Genaues. Nur dass es hier in Soho inzwischen<br />
gespenstisch ruhig ist. Hier ist niemand mehr. Wir<br />
fürchten, dass die Polizei nun beginnt, die Häuser hier<br />
zu durchsuchen und wir wollen der Frau, die uns<br />
geholfen hat, nicht zur Last fallen. Wir haben also<br />
beschlossen, aufzubrechen.“<br />
„Wo wollen wir hin?“<br />
„Gute Frage. Einfach weg von hier.“<br />
„Na dann, hilf mir auf“, sagte ich.
Wir gingen hinüber in den Geschäftsraum.<br />
„Er ist in Ordnung“, sagte Eugene, als wir eintraten.<br />
Carlos und Dmitri lächelten mir zu. Anna starrte aus<br />
dem Fenster und ignorierte mich.<br />
„Geht nach rechts, immer geradeaus, so kommt ihr zur<br />
Charing Cross Street“, sagte die Boutiquen-Besitzerin,<br />
und: „Viel Glück.“<br />
Die Gruppe machte sich auf den Weg, aber ich blieb<br />
stehen. Eugene drehte sich um.<br />
„Was ist?“, fragte er.<br />
Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete<br />
ihm zu warten. Auch Anna, Carlos und Dmitri blieben<br />
stehen und sahen mich fragend an. Es war gespenstisch<br />
leise. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich<br />
roch das Tränengas und den Pfefferspray in der Luft,<br />
dazu den Essig meines Halstuches. Weit entfernt hörte<br />
ich Schüsse, quietschende Reifen, Sirenen, Hilferufe,<br />
Kampfgebrüll.<br />
„Was ist?“, fragte Eugene.
Ich öffnete meine Augen wieder. Wir fünf waren alleine<br />
auf der Straße.<br />
„Folgt mir“, flüsterte ich.<br />
Zweimal ums Eck, dann eine kleine Gasse entlang, noch<br />
mal rechts herum. Ein zerbeulter Streifenwagen, durch<br />
dessen Windschutzscheibe ein Pflasterstein geworfen<br />
worden war, stand verlassen auf einer Kreuzung.<br />
Hundert Meter entfernt befand sich ein Trupp von etwa<br />
zwanzig RoboCops. Sie schienen die Gegend zu<br />
durchkämmen, aber sie entfernten sich von uns.<br />
„Was machen wir hier?“, fragte Eugene.<br />
Anna biss sich auf die Lippen. Sie wusste, wohin ich<br />
wollte. Ich deutete auf die kleine rote Tür, keine dreißig<br />
Meter entfernt.<br />
„Volvox“, sagte ich.<br />
Eugene riss die Augen auf vor Überraschung, Carlos pfiff<br />
durch die Zähne. „Worauf warten wir?“, fragte Dmitri.<br />
Ich lief als Erster los, versuchte gleichzeitig schnell und<br />
lautlos zu sein und die Polizisten nicht auf mich<br />
aufmerksam zu machen. Erst mitten auf der Straße kam
mir der Gedanke, dass Max die Tür abgesperrt haben<br />
könnte. Aber dem war nicht so. Dieser Idiot. Ich trat<br />
ein. Im Haus war es vollkommen ruhig. Ich schloss die<br />
Augen, um mich aufs Lauschen zu konzentrieren. Ich<br />
hörte langsame Schritte im Haus und schnelle auf der<br />
Straße.<br />
Eugene kam als Erster nach. „Ich frage dich besser nicht,<br />
woher du diese Hintertür kennst“, sagte er. Bevor ich<br />
antworten konnte, kam Dmitri, dann Carlos und, mit<br />
ein wenig Abstand, Anna. Als die anderen ins Haus<br />
vordrangen, hielt sie mich am Arm zurück.<br />
„Das ist jetzt hoffentlich nicht zu spät“, fauchte sie.<br />
„Das kommt darauf an, was du willst“, sagte ich.<br />
„Und was willst du?“<br />
Ich gab keine Antwort und lief hinter den anderen her<br />
die Stufen hoch. Carlos und Dmitri waren schon einen<br />
Stock voraus, und Eugene war noch mal einen Stock vor<br />
ihnen, und so schraubten wir uns im Kreis die fünf<br />
Stockwerke hoch. Im vierten holte ich Carlos und<br />
Dmitri ein und wir hörten, wie Eugene oben die Türe
öffnete, diese schwere schwarze Feuerschutztüre. Wir<br />
hörten es, konnten es aber nicht sehen. Dann war da<br />
Max’ Stimme, und der Hund bellte, und Eugene schien<br />
etwas sagen zu wollen, aber keine Luft zu bekommen.<br />
Ich blieb stehen, um besser hören zu können.<br />
Und dann krachte der Schuss.<br />
#<br />
In Natural Born Killers, da gibt es diesen alten Indianer,<br />
der eine Geschichte erzählt. Es war einmal eine Frau, die<br />
Feuerholz sammelte. Dabei fand sie im Schnee eine<br />
Giftschlange, die eingefroren war. Sie nahm die Schlange<br />
mit nach Hause und pflegte sie wieder gesund. Eines<br />
Tages biss die Schlange sie in die Wange. Als die Frau<br />
im Sterben lag, fragte sie die Schlange: „Warum hast du<br />
mir das angetan?“<br />
Das Tier antwortete: „Nun, du Schlampe wusstest ja,<br />
dass ich eine Schlange bin.“
#<br />
Das Blut strömte aus Eugenes Brustkorb, literweise, und<br />
es rann über den Boden, bildete schnell eine Lacke, die<br />
sich über die Fliesen ausbreitete, in den Fugen kanalisiert<br />
wurde, in dutzende Äste zerrann, immer schön im<br />
rechten Winkel zueinander, links, rechts, links ...<br />
Er war schon tot, als wir den obersten Stock erreichten.<br />
Max stand vor dem Leichnam, die Waffe in der Hand,<br />
Angst im Gesicht. Er zielte auf uns. Dann erkannte er<br />
mich. Und Anna. Er brauchte eine Sekunde, um zu<br />
verstehen. Seine Augen weiteten sich.<br />
Irgendwo in der Wohnung bellte der Hund wie<br />
verrückt.<br />
„Eugene!“, schrie Anna und kniete neben ihrem Vater<br />
nieder. „Halt durch!“ Und dann zu Max: „Ruf die<br />
Rettung, verdammt!“<br />
Dmitri sagte: „Er ist tot.“
„Sie können ihn wiederbeleben!“, sagte Anna. Aber dann<br />
sanken ihre Schultern kraftlos nach unten. Sie kniete<br />
mitten in einem Meer von Blut. Es war sinnlos.<br />
„Es tut mir leid“, sagte Max. Das war so banal, und doch<br />
war es vermutlich das Einzige, was er sagen konnte.<br />
Anna streichelte Eugenes Wange, aber sie weinte nicht.<br />
Max ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand kippen,<br />
sank zu Boden, legte die Waffe weg. Ich setzte mich<br />
neben ihn.<br />
Es war, als wäre die Szene auf Standbild eingefroren.<br />
Carlos und Dmitri übernahmen schließlich die<br />
Initiative. „Eugene kann nicht am Gang liegen bleiben.<br />
Carlos und ich werden ihn in die Wohnung tragen“,<br />
sagte Dmitri. „Du da“, er deutete auf Max, „du zeigst<br />
uns einen Platz, wo wir ihn hinlegen können. Anna, du<br />
kommst mit. Und du“, er nickte mir zu, „wirst das Blut<br />
hier aufwischen.“<br />
„Müssen wir nicht die Polizei rufen?“, fragte Max.
Dmitri schnaubte. „Ja klar, wir werden die Polizei rufen.<br />
Und was dann? Ich meine, nachdem sie uns verprügelt<br />
und verhaftet haben. Was dann? Was glaubst du?“<br />
„Keine Ahnung“, sagte Max.<br />
„Ich schon“, sagte Dmitri, „ich bin in einer Diktatur<br />
aufgewachsen. Ich kann mir ausmalen, wie es dann<br />
weitergeht. Sie würden die ganze Sache vertuschen“,<br />
sagte Dmitri.<br />
„Wer? Was?“, fragte Max.<br />
„Das System. Da draußen prügeln ein paar tausend<br />
Polizisten die halbe Bevölkerung nieder, um dieses Haus<br />
zu schützen. Und wir schaffen es, über den<br />
Hintereingang reinzukommen – das würden die doch<br />
nie zugeben. Nein, sie haben eine viel bessere<br />
Möglichkeit. Sie werden den Leichnam auf die Straße<br />
rauszerren und fotogen platzieren, vielleicht vor einer<br />
eingeschlagenen Schaufensterscheibe, irgend so etwas.<br />
Die Waffe wird nie gefunden, der Schütze nie ermittelt.<br />
Eugene starb als Plünderer, das ist perfekt, das gibt<br />
keinen guten Märtyrer und das rechtfertigt das riesige
Polizeiaufgebot und die ganze Gewalt. Und morgen<br />
steht in allen Zeitungen: Die Demonstranten waren<br />
eben nur kriminelle Elemente, die bekämpft werden<br />
mussten. Wir verschwinden für zwanzig Jahre hinter<br />
Gittern und wenn wir die Wahrheit erzählen, klingt es<br />
wie eine Verschwörungstheorie, man wird<br />
Dokumentationen darüber drehen, wie es wirklich war,<br />
aber während diese ausgestrahlt werden, verrotten wir in<br />
einer Zelle. Aber du, du bist auch erledigt. Der Staat hat<br />
dich den Rest deines Lebens an den Eiern. Du wirst<br />
nicht ins Gefängnis gehen, aber du wirst jeden Tag dafür<br />
bezahlen, verlass dich darauf.“<br />
Das war die längste Rede, die ich von Dmitri je gehört<br />
hatte.<br />
Anna stand auf. „Okay“, sagte sie. „Lasst ihn uns<br />
reinbringen.“<br />
#
Das Blut aufzuwischen war also meine Aufgabe und ich<br />
erledigte sie gründlich. Sehr gründlich.<br />
Zuerst nahm ich ein paar Handtücher und Decken und<br />
baute einen Wall, damit das Blut nicht bis in den vierten<br />
Stock hinabfloss. Dann brachte mir Max wortlos einen<br />
Wischmob und einen Kübel. Ein Mensch hat doch nur<br />
ein paar Liter Blut, aber man macht sich sonst keine<br />
Vorstellung davon, wie viel das ist. Ich musste das<br />
Wasser im Kübel alle paar Minuten wechseln und dazu<br />
immer wieder in die Wohnung.<br />
Die anderen legten Eugene auf ein Leintuch, auf eine<br />
Ledercouch in einem Raum, der offensichtlich Max’<br />
Arbeitszimmer war. Carlos und Dmitri zogen ihn aus<br />
und wuschen seinen Körper. Anna saß auf der Couch im<br />
Wohnzimmer und streichelte den Hund. Sie sah kein<br />
einziges Mal auf, wenn ich an ihr vorbeiging. Sie sagte<br />
auch kein Wort. Aber ich wusste, dass sie mir die Schuld<br />
gab.<br />
Max stellte eine Flasche Wodka auf den Tisch, und ein<br />
paar Gläser. Er setzte sich neben sie und schwieg auch.
Ich schloss die Tür und wusch weiter auf. Er erschießt<br />
ihren Vater und sie trinkt mit ihm. Und ich bin an allem<br />
schuld. Ich schüttelte den Kopf.<br />
Als ich das nächste Mal in die Wohnung ging, saßen<br />
Carlos und Dmitri neben den beiden auf der Couch und<br />
tranken auch. Niemand sprach ein Wort. Ich leerte das<br />
rote Wasser in die Toilette, drückte die Spülung und<br />
füllte in der Dusche den Eimer wieder auf.<br />
„Hast du eine Bürste?“, fragte ich Max.<br />
Er stand wortlos auf, suchte in einem Schrank und gab<br />
mir gleich zwei Bürsten. Als ich zurück ins Stiegenhaus<br />
ging, sah ich, wie Carlos nach dem auf dem Couchtisch<br />
liegenden Vertrag griff.<br />
Er warf nur einen kurzen Blick darauf, dann fragte er:<br />
„Was ist das?“<br />
Ich schloss die Türe wieder hinter mir, kniete nieder und<br />
begann, die Fugen zwischen den Fliesen mit einer der<br />
Bürsten zu reinigen. Es dauerte Stunden.<br />
Stunden.
Irgendwann kamen Dmitri und Carlos zu mir. Ich<br />
kniete da, sie standen vor mir und stemmten die Hände<br />
in die Hüften. Sie wackelten bedenklich und rochen<br />
nach mehr als einer Flasche Wodka.<br />
„Du Idiot“, fauchte Carlos schließlich.<br />
„Arschloch“, sagte Dmitri.<br />
Ich konzentrierte mich auf einen besonders hartnäckigen<br />
Fleck in der Kreuzung zweier Fugen, stemmte mich mit<br />
beiden Händen auf die Bürste und rieb in langsamen<br />
Kreisbewegungen. „Jungs, sparen wir uns das doch<br />
einfach“, sagte ich schließlich.<br />
Sie stiegen nicht darauf ein.<br />
„Du bist nur ein provisorisches Mitglied der Band“,<br />
sagte Dmitri und das Wort provisorisch fiel ihm<br />
ziemlich schwer. „Du hättest den Vertrag nicht ablehnen<br />
dürfen. Du hättest nicht einmal darüber abstimmen<br />
dürfen.“<br />
„Interessant“, sagte ich ohne aufzublicken. „Dann hätte<br />
ich ihn ja einfädeln auch nicht gedurft.“
„Wir haben beschlossen, zu unterschreiben“, sagte<br />
Carlos. „Wir glaube, dass das im Sinne von Eugene<br />
wäre.“<br />
„Natürlich“, sagte ich.<br />
„Aber wir wollen dich nicht dabeihaben.“<br />
Ich musste lächeln. „Na, wenn das so ist, dann muss ich<br />
nicht unbedingt dabei sein.“<br />
„Bist du auch nicht.“<br />
„Dann wäre das geklärt und ich kann jetzt weiter<br />
Eugenes Blut von den Fliesen waschen. Verschwindet,<br />
ihr steht darauf.“<br />
„Tu du jetzt nicht so, als wärst du Eugenes bester<br />
Freund gewesen. Wir waren jahrelang mit ihm auf<br />
Tournee. Wir wissen besser, was er gewollt hätte. Du<br />
hättest ihm nicht verschweigen dürfen, dass Max uns<br />
einen Plattenvertrag angeboten hat.“<br />
Kurz war ich versucht, zu erklären, wie sich das ergeben<br />
hatte. Aber es wäre sinnlos gewesen. Ich stand auf und<br />
nahm den Eimer. „Entschuldigt, ich sollte mal wieder<br />
das Wasser wechseln.“
Max saß auf der Couch und starrte ins Leere. In der<br />
rechten Hand hielt er ein randvolles Whisky-Glas, mit<br />
der linken streichelte er Annas Busen. Ihr Kopf lag auf<br />
seinem Schoß und sie beobachtete mich, als ich durch<br />
den Raum ging, aber ihr Blick war seltsam ausdruckslos.<br />
Als ich von der Toilette zurückkam, waren die beiden<br />
weg und Carlos und Dmitri machten es sich auf der<br />
Couch bequem.<br />
Ich fand noch eine Flasche Wodka, nahm sie mit und<br />
trank sie beinahe aus, bis ich zwei oder drei Stunden<br />
später auch den letzten Blutstropfen von den Fliesen<br />
gerieben hatte. Ich wollte nicht, dass auch nur ein<br />
Molekül von Eugene hier zurückblieb. Meine Hände<br />
waren voller Blasen und an einigen Stellen wund.<br />
Ich ging zurück in die Wohnung. Meine Kleidung war<br />
voller Blut. Eugenes Blut, mein Blut, und vielleicht von<br />
noch ein paar Menschen. Ich zog mich aus, bis auf die<br />
Unterhose, dann suchte ich einen Platz, um zu schlafen.<br />
Anna und Max lagen nackt im Bett. Die rote<br />
Digitalanzeige eines Weckers war das einzige Licht.
04:12 Uhr.<br />
Ich erkannte die Konturen eines Sofas in der Ecke des<br />
Schlafzimmers und ließ mich einfach darauf fallen.<br />
Beck, „Pay No Mind“:<br />
Give the finger to the Rock ’n’ Roll singer<br />
As he’s dancing upon your paycheck<br />
The sales climb high through the garbage-pail sky<br />
Like a giant dildo crushing the sun<br />
That’s why<br />
I pay no mind<br />
Sleep in slime<br />
I just got signed<br />
Es ist 12:17 Uhr. Max betritt das Arbeitszimmer. „Du<br />
bist also munter“, sagt er.<br />
#<br />
#
„Ja. Wo warst du?“<br />
„Im Büro, Besprechung mit der Polizei.“<br />
„Der Hund war hier im Arbeitszimmer.“<br />
Er wirft einen Blick auf Eugene. „Oh. Das tut mir leid.“<br />
Ich antworte nicht. Der Text, den ich in der letzten<br />
halben Stunde für den Blog geschrieben habe, ist<br />
Scheiße. CTRL A. CTRL X.<br />
Max. „Willst du wissen, was die Polizei sagt?“<br />
„Sag schon.“<br />
„Sie suchen euch. Sie sind ratlos, weil sie eure Handys<br />
nicht orten können.“<br />
„Wir haben die Akkus rausgenommen, als das mit dem<br />
Tränengas losging“, sage ich. „Wir haben damit<br />
gerechnet, bevorzugte Ziele zu sein.“<br />
„Das stellt sich jedenfalls als Glück heraus. Hör zu, wir<br />
werden das Ganze so deichseln können, dass die Band<br />
unbeschadet aus der Sache rauskommt. Die Polizei wird<br />
sich auf Eugene konzentrieren. Aber der bleibt leider für<br />
alle Zeiten untergetaucht. Eugene wird ein Mythos<br />
werden.“
„Sie wissen Bescheid?“<br />
„Bist du verrückt? Natürlich nicht. Sie werden ernsthaft<br />
nach ihm fahnden, und das ist auch gut so.“<br />
„Wie willst du die Leiche beseitigen?“<br />
„Wie im Film. Wir wickeln sie in ein Leintuch, fahren<br />
mit dem Lift in die Tiefgarage und legen sie in den<br />
Kofferraum meines Autos. Und dann brauche ich nach<br />
all dem Stress hier ein Wochenende in Schottland an<br />
irgendeinem abgelegenen Fjord. Joannas Eltern besitzen<br />
da so ein Wochenendhaus mit einem großen<br />
Grundstück.“<br />
Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Mich<br />
beschäftigt der Blog. Eugene verschwindet einfach. Also<br />
kann der Blog auch einfach abreißen. Ohne richtiges<br />
Ende. Ohne Schlusspunkt. Einfach so.<br />
„Du kannst immer noch den Vertrag unterschreiben“,<br />
sagt Max. „Es ist egal, was die anderen sagen. Wenn ich<br />
dich in der Band haben will, dann gilt das. Es liegt an<br />
dir.“<br />
Ich schüttle den Kopf.
„Dann hole ich jetzt Dmitri und Carlos, damit sie mir<br />
helfen, Eugene runterzutragen. Es gibt keinen Grund,<br />
das rauszuzögern.“<br />
„Die machen da mit?“<br />
„Ja, klar. Sie fahren auch mit nach Schottland, das ist<br />
schon geklärt. Anna auch. Sie räumt gerade den<br />
Kofferraum aus.“<br />
„Tja. Dann ruf die beiden mal“, sage ich.<br />
Max schüttelt den Kopf. „Du bist ein verficktes Superduperarschloch“,<br />
sagt er. Dann verlässt er den Raum.<br />
Ich stehe auf und gehe zu Eugenes Klamotten. Ich leere<br />
Eugenes Rucksack aus und stopfe die blutige Wäsche<br />
hinein. Die sollte auch in Schottland vergraben werden,<br />
sicher ist sicher. Dann setze ich den Akku in Eugenes<br />
Handy und stecke das Gerät zwischen die Wäsche tief in<br />
den Rucksack.<br />
Wie lange es wohl dauern wird, frage ich mich.<br />
„Was machst du da?“, fragt Max, als er den Raum wieder<br />
betritt.
„Ihr solltet auch seine Wäsche entsorgen. Kommt nicht<br />
gut, wenn die Polizei seine blutigen Klamotten hier<br />
findet“, sage ich.<br />
Max nimmt mir den Rucksack wortlos ab und hängt ihn<br />
sich um. Carlos und Dmitri wickeln Eugenes Leichnam<br />
in das Leintuch. Wortlos heben sie ihn hoch und tragen<br />
ihn aus dem Raum. Ohne Gruß, ohne letzten Blick<br />
gehen sie. Max zögert, aber ich schenke ihm keine<br />
Beachtung. Er schließt die Tür.<br />
Ich starre auf den Monitor des Notebooks. Jede Sekunde<br />
kommen mehrere Tweets zu den Ereignissen von<br />
gestern. Blogger erzählen, was sie erlebt haben,<br />
analysieren, wie es dazu kommen konnte, ziehen<br />
Schlüsse für die Zukunft. Dutzende von ihnen, wenn<br />
nicht gar hunderte. Ich lächle. Die Welt braucht keinen<br />
abschließenden Blogbeitrag von uns. Im Gegenteil, die<br />
Diskussion hat gerade erst begonnen.<br />
Und dann höre ich auch schon Polizeisirenen.<br />
„Gerade mal vier Minuten“, murmle ich vor mich hin.<br />
„Nicht schlecht.“
Ich lehne mich zurück und zünde mir eine Zigarette an.<br />
Plötzlich fürchte ich mich nicht mehr vor dem<br />
Gefängnis. Ich werde dann Zeit haben, meinen Roman<br />
zu schreiben. Es wird um die Medienbranche gehen, um<br />
einen Toten, und ich werde damit auch etwas zu sagen<br />
haben. Eugene wäre stolz auf diese Idee.<br />
And You Will Know Us By The Trail Of Dead,<br />
„Worlds apart“:<br />
Random lost souls have asked me<br />
„What’s the future of Rock ’n’ Roll?“<br />
I say „I don’t know, does it matter?“<br />
#
This is not the end.<br />
Expect us.