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incommunicado - FINAL CUT - Michel Reimon

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Attribution-NonCommercial-ShareAlike 3.0 Austria<br />

License. To view a copy of this license, visit<br />

http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/at/ or<br />

send a letter to Creative Commons, 444 Castro Street,<br />

Suite 900, Mountain View, California, 94041, USA.<br />

CC BY-SA-NC 3.0 / 2011<br />

Umschlagsbild: Juan Osborne, www.juanosborne.com<br />

www.reimon.net<br />

michel at reimon.net<br />

@michelreimon


control


John Cage sagte einmal: Wir können unseren Verstand<br />

nicht ändern, ohne die Welt zu ändern.<br />

#<br />

Ich träume von Mickey Mouse. Der schlaksige Nager<br />

flieht, stolpert und verliert den viel zu großen Kopf.<br />

Etwas brennt, die Luft ist schwarz und schmerzt bei<br />

jedem Atemzug. Vermummte Gestalten jagen mich. Ein<br />

Hund bellt.<br />

Die rote Digitalanzeige des Weckers zeigt 11:42. Mit<br />

einem Krächzen ziehe ich mich vom Sofa hoch, sinke<br />

wieder zurück, stöhne. Ein dünner, warmer Tropfen<br />

läuft meine Schläfe entlang, ich hebe mein<br />

blutverschmiertes T-Shirt vom Boden auf und presse es<br />

gegen meine Stirn. Der Raum dreht sich.<br />

Der Hund bellt noch mal und plötzlich springe ich auf<br />

die Beine. Die Polizei, Scheiße! Ich springe über den<br />

Couchtisch, stolpere gegen die Wand, öffne die Türe<br />

und – bleibe stehen. Anna liegt auf dem Bett, schlafend,


wunderschön, friedlich. Sie ist nackt. Nackt und alleine.<br />

Das Medium ist die Nachricht. Kein Ton ist im ganzen<br />

Haus zu hören. Die Polizei kommt nicht. Falscher<br />

Alarm.<br />

Ich gehe ans Bett, setze mich an die Kante, streichle über<br />

Annas Wange. Sie reagiert nicht. Der Hund bellt weiter.<br />

Zumindest das war kein Traum.<br />

Ich lege meine Hand auf ihre Hüfte, klammere mich an<br />

den hervorstehenden Beckenknochen. Meine Augen<br />

wandern über ihren Körper. Sie ist so schön. Selbst im<br />

Schlaf werden ihre Züge nicht weicher. Selbst jetzt ist sie<br />

makellos und kalt wie eine aus weißem Marmor<br />

geschlagene griechische Göttin im Victoria & Albert.<br />

Der Hund kläfft noch einmal, da öffnet Anna die<br />

Augen.<br />

Sie sieht mir ins Gesicht, kalt und direkt. Dann schlägt<br />

sie meine Hand zur Seite, dreht sich mit einem Ruck um<br />

und sagt kein Wort.<br />

Ich springe hoch. „Tut mir leid“, stammle ich, weil ich<br />

irgendetwas sagen muss, dann verlasse ich den Raum.


Ich habe tatsächlich von Mickey Mouse geträumt. Ist<br />

das überhaupt noch erlaubt?<br />

#<br />

Politik ist die Koordination von Menschen. Wenn dieser<br />

einfache Satz richtig ist, müssen neue Koordinationsmöglichkeiten<br />

zu neuen Politikformen führen. Dann<br />

muss jeder Informationsrevolution eine politische<br />

Revolution folgen.<br />

#<br />

Die Küche ist sehr stylish, sehr geräumig, viel Chrom,<br />

viel Glas, teures Holz, dazu eine lange Bar mit sechs<br />

Hockern. Der Raum ist zum riesigen Wohnzimmer hin<br />

offen, auf der großen Eckcouch schlafen Carlos und<br />

Dmitri. Ich suche eine Tasse und mache Kaffee.<br />

Der Vertrag liegt auf dem Küchentisch. Sieben Seiten,<br />

geheftet, mit ein paar Rotweinflecken. Meine Augen


leiben kurz auf den vier Unterschriften hängen, dann<br />

drehe ich ihn um.<br />

Der Hund bellt erneut.<br />

„’affee?“, fragt Carlos.<br />

„Mmm“, bestätige ich. Er dreht sich um, legt einen Arm<br />

um Dmitri und schläft weiter.<br />

Ich muss pinkeln und dabei fällt mir auf, dass die<br />

Toilette über und über mit blassroten Blutflecken<br />

bedeckt ist. Als ich die Spülung drücke, bemerke ich<br />

meinen blutigen Finderabdruck am Knopf. Ich versuche,<br />

ihn abzuwischen, aber er ist eingetrocknet.<br />

Auf dem Weg zurück in die Küche sehe ich, dass die Tür<br />

ins Arbeitszimmer einen Spalt weit offen steht.<br />

„Scheiße“, fluche ich. „Ist der Hund bei Eugene?”<br />

Carlos und Dmitri reagieren nicht. Ich setze mich<br />

widerwillig in Bewegung. Mit der Fingerspitze drücke<br />

ich die Tür vorsichtig auf.<br />

Da steht er, schaut mich an, bellt noch mal richtig<br />

drauflos.<br />

Keine Verhandlungen. Ich fasse ihn am Halsband.


„So ist’s brav“, sage ich und ziehe daran. Bereitwillig<br />

folgt mir das Tier aus dem Arbeitszimmer, quer durch<br />

die Küche, vorbei am WC. Die Tür, die ins<br />

Kinderzimmer führt, ist auch einen Spalt offen. Dort<br />

haben wir ihn gestern Abend eingesperrt. Weiß der<br />

Hund, wie Türschnallen funktionieren?<br />

Ich bringe ihn zurück. In der Tür steckt ein Schlüssel.<br />

Ich sage so etwas wie „Und jetzt bleibst du schön hier“<br />

und sperre das Tier ein.<br />

Dann gehe ich wieder ins Arbeitszimmer. Eugene liegt<br />

auf einem weißen Leintuch auf der Couch, so wie wir<br />

ihn gestern dort hingelegt haben. Der Hund scheint ihn<br />

nicht berührt zu haben. Ich beuge mich über ihn. Er ist<br />

bleich, seine Haut bekommt schon etwas Wachsartiges,<br />

aber er riecht noch nicht. Um mir die Wunde<br />

anzusehen, will ich seine Hand zur Seite legen, aber als<br />

ich den Widerstand spüre, zucke ich zurück.<br />

Also nehme ich das Handtuch, das wir über Eugenes<br />

Oberkörper gelegt haben, zwischen Daumen und


Zeigefinger und hebe es ein wenig hoch. Da ist es, ein<br />

sauber gewaschenes, ovales Loch.<br />

Die blauen Flecken, die sich gestern rund um den<br />

Einschuss gebildet haben und meiner Meinung nach<br />

davon stammen, dass die Kugel auch mindestens eine<br />

Rippe gebrochen hat, sind nun beinahe schwarz.<br />

„Und jetzt, Eugene?“ frage ich. „Was jetzt?“<br />

„Glauben Sie mir eines: Sie wollen keine politisierte<br />

Jugend. Nicht, dass Kids nicht an Politik teilhaben<br />

sollten. Aber Sie sollten sie nicht anheizen mit so einem<br />

Thema. Es gibt viele von ihnen. Oft haben sie jede<br />

Menge Freizeit. En masse können sie dem<br />

„Establishment“ ziemliche Schwierigkeiten bereiten.<br />

Glücklicherweise neigen sie dazu, faul und zynisch zu<br />

sein und selten auf die Straße oder in die Wahlzelle zu<br />

gehen. Aber es sieht aus, als würden die Armleuchter in<br />

Hollywood und der RIAA mit dem Feuer spielen – mit<br />

#


lästigen neuen Copyright-Gesetzen und anderen<br />

Restriktionen. Ich wäre vorsichtig.“<br />

Das stammt aus einem der Artikel in Eugenes<br />

Sammlung namens The Politics of Piracy. John C.<br />

Dvorak schrieb ihn schon vor langer Zeit für das PC<br />

Magazine und er hatte recht. Verdammt recht.<br />

#<br />

Neben der Couch steht Eugenes Rucksack, schmutzig<br />

und blutverschmiert. Ich weiß gar nicht, wer ihn dort<br />

abgestellt hat. Darin finde ich das Notebook, das<br />

Netzteil, eine große Flasche Wasser, eine kleine Flasche<br />

Essig, eine Regenjacke, eine Schwimmbrille. Und eine<br />

dicke Mappe. Eugenes Materialsammlung und seine<br />

Notizen. Unsere Notizen.<br />

Ich nehme sie heraus, setze mich neben Eugene auf die<br />

Couch. Die Blätter in der Mappe sind lose. Mehrseitige<br />

Artikel sind manchmal durch Büroklammern<br />

zusammengehalten, aber nicht immer. Der größte Teil


des Materials sind Ausdrucke von Texten, die wir online<br />

recherchiert haben. Ja, klar, Internetausdrucker, wir<br />

haben auch darüber gelacht. Aber wir waren so viel<br />

unterwegs, in so vielen Ländern, es war nicht immer<br />

leicht, online zu gehen. Und Eugene mochte Papier.<br />

Zwischen den Ausdrucken finden sich auch viele<br />

Fotokopien, ausgerissene Zeitungs- und Magazinartikel.<br />

Oft sind lange Passagen mit Leuchtstift markiert oder<br />

unterstrichen, an den Rändern mit Kommentaren<br />

versehen, Rufzeichen, Nummerie-rungen, Abkürzungen.<br />

Dazwischen, meist auf den Rückseiten der Ausdrucke,<br />

finden sich seitenweise handschriftliche Notizen, kaum<br />

leserlich, aber trotzdem elegant, irgendwie genau so, wie<br />

man sich die Schrift eines Philosophieprofessors vorstellt.<br />

Es sind genug Notizen für ein ganzes Buch. Eugenes<br />

Buch, das er nun nicht mehr schreiben wird.<br />

Dann finde ich, was ich suche: das aktuelle Paket.<br />

Eugene hat es erst gestern im British Museum bearbeitet.<br />

Es steckt mitten unter den anderen Unterlagen. Ein<br />

schon ziemlich abgegriffenes Blatt im A3-Format,


einmal gefaltet, dient als Hülle. Darauf ist die Fotokopie<br />

eines alten Plakates zu sehen, auf dem sich eine<br />

Menschenmasse um einen schwarzen Monolithen<br />

versammelt. Brecht oder Goebbels? hat Eugene mit<br />

einem roten Marker auf die Grafik geschrieben.<br />

Ich öffne das Notebook, hole es aus dem Ruhemodus,<br />

versuche mich ins WLAN einzuloggen, aber das ist<br />

abgesichert. Das war zu erwarten gewesen. Ich bücke<br />

mich unter den Tisch, ziehe das Netzwerkkabel aus dem<br />

PC und hänge mein Gerät an. Bingo.<br />

Meine Inbox geht über. Mehr als vierhundert E-Mails.<br />

Lebt ihr noch? steht in der obersten Betreffzeile, Alles<br />

okay? in der nächsten, Wo seid ihr? in der dritten. So<br />

geht es weiter und weiter. Zu viel zu lesen. Auf Facebook<br />

sehe ich hunderte Links zu Videos von gestern, ich<br />

wurde hunderte Male auf Fotos markiert, habe hunderte<br />

Nachrichten und Freundschaftsanfragen. Auf Twitter ist<br />

#<strong>incommunicado</strong> immer noch Trending Topic.<br />

Technorati verzeichnet weltweit über zehntausend<br />

aktuelle Blog-Einträge zum Suchbegriff


„<strong>incommunicado</strong>“. Aber auch die kommerziellen<br />

Medien lassen uns nun nicht aus den Augen: Die<br />

Google-News-Filter für „<strong>incommunicado</strong>“,<br />

„Soundinistas“ und „Eugene Jersey“ liefern seitenweise<br />

Links. Auf den meisten Nachrichtenseiten sind wir die<br />

Titelgeschichte, nytimes.com zeigt sogar ein Bild von<br />

mir mit erhobener Faust inmitten schwer bewaffneter<br />

Polizisten. Der Guardian hat dasselbe Bild. Wie konnte<br />

das passieren? fragt er. Weil ihr Arschlöcher einfach<br />

nicht vorsichtig wart, denke ich. Ihr wart gewarnt. Ich<br />

überfliege den Artikel. London im Ausnahmezustand.<br />

Straßenschlachten in Liverpool und Manchester,<br />

Demonstrationen, teilweise mit Ausschreitungen, in<br />

Paris, Berlin, Hamburg, Köln, München, Genf,<br />

Mailand, Orlando, Seattle, Berkeley, New York,<br />

Baltimore. Die Soundinistas sind noch auf der Flucht,<br />

steht da. Ich verziehe den Mund.<br />

Schließlich stehe ich auf, strecke mich, zünde mir eine<br />

Zigarette an, öffne die Balkontüre und trete ins Freie.<br />

Das grelle Licht der Mittagssonne blendet, unter mir


sind die Straßen der Stadt menschenleer. Sie werden sich<br />

wohl erst abends wieder füllen. Ich schließe die Augen<br />

und halte den Atem an. Alles wirkt ruhig, ich höre die<br />

gedämpften Geräusche einer Stadt, in der alles seinen<br />

normalen Gang geht.<br />

Das war es dann wohl.<br />

Unsere Verhaftung steht noch aus, aber das ist nur eine Frage<br />

von Stunden, maximal, dann ist diese Geschichte vorbei,<br />

zumindest für uns. Wir haben zwar die Akkus aus unseren<br />

Handys genommen, damit wir nicht zu orten sind, aber die<br />

Gegend ist videoüberwacht. Die ganze Stadt ist<br />

videoüberwacht. London hat die weltweit höchste Dichte an<br />

Überwachungskameras, zumindest was Großstädte betrifft. Es<br />

gibt wohl keinen dümmeren Ort, um eine kleine Revolution<br />

zu starten, frag nach bei Winston Smith. Sie werten jetzt wohl<br />

die Aufnahmen aus. Vermutlich sind sie schon unterwegs. Ich<br />

suche die Dachkanten der umliegenden Häuser nach<br />

Scharfschützen ab. Nichts zu sehen. Noch nicht.<br />

Plötzlich und ohne Vorwarnung fährt glühend heißer<br />

Schmerz durch meinen Nacken und dann die


Wirbelsäule nach unten, bis ins Steißbein. Mir wird<br />

schwarz vor Augen und für einen Sekundenbruchteil<br />

befürchte ich, dass durch die Prügel, die ich gestern<br />

bezogen habe, ein Wirbel verletzt wurde und mein<br />

Genick nun einfach abgebrochen ist.<br />

Querschnittlähmung und aus. Aber der Schmerz vergeht<br />

doch wieder. Ich lehne mich zurück, hole tief Luft und<br />

versuche, mich zu entspannen.<br />

Ich sollte die Zeit, die bleibt, nutzen und für Eugenes Blog<br />

einen letzten Beitrag schreiben. Sein Werk vollenden. Er hätte<br />

hier sicher Einspruch erhoben. Kein Werk wird je begonnen<br />

und je abgeschlossen, hat er mal gesagt. Ich muss zugeben, ich<br />

sehe die Dinge immer etwas weniger philosophisch.<br />

Also setze ich mich wieder an den Schreibtisch und öffne das<br />

Dokument. Ich verschränke die Finger und drücke die<br />

Handflächen durch, bis die Gelenke knacken. Es kann<br />

losgehen. Dabei bin ich merkwürdig ruhig. Wie es auch<br />

ausgeht, es ist okay. In den letzten Monaten haben wir<br />

Dinge erlebt, die für ein ganzes Leben reichen. Es war<br />

eine gute Zeit. Und wenn ich mit dem Wissen von


heute noch einmal beginnen könnte, dann würde ich<br />

nur eines anders machen: Ich wäre radikaler, von Anfang<br />

an.<br />

#<br />

Claude Shannon und Warren Weaver schrieben in Die<br />

mathematische Theorie der Kommunikation: „Das<br />

Wort Kommunikation wird hier in einem sehr<br />

umfassenden Sinn verwendet, um alle Vorgänge<br />

einzuschließen, mit denen ein Verstand den anderen<br />

beeinflussen könnte. Das inkludiert natürlich nicht nur<br />

geschriebene und gesprochene Sprache, sondern auch<br />

Musik, die bildende Kunst, das Theater, das Ballett und<br />

letztlich alle menschlichen Verhaltensweisen.“<br />

Es gilt natürlich auch für Rockkonzerte und<br />

Demonstrationen.<br />

#


Von Anfang an...<br />

Okay. Langsam. Es ging ohnehin alles schnell genug.<br />

Ich bin Journalist. Schreibe über Musik und Kino. Freier<br />

Mitarbeiter bei vier, fünf Zeitungen und Magazinen, die<br />

ich regelmäßig mit Rezensionen, Interviews und<br />

Reportagen beliefere. Belieferte. Vergangenheit. Das ist<br />

das Ergebnis davon, dass ich Eugene, Anna und die<br />

Band kennenlernte: Alles ist Vergangenheit. Also, ich<br />

war Journalist.<br />

Ich machte Urlaub in Italien, in einem winzigen<br />

Küstenort südlich von Neapel. Das kleine, aber sehr<br />

feine Hotel hatte junge Eigentümer, die mir in der<br />

Vorsaison einen kräftigen Rabatt gewährten, weil ich ihr<br />

Domizil schon ein paar Mal auf den Reiseseiten<br />

verschiedener Magazine lobend erwähnt hatte. Sechs<br />

Wochen Aufenthalt waren geplant. Ich wollte einen<br />

Roman entwickeln und die ersten paar Kapitel<br />

schreiben. Das Leben als Freiberufler hat seine Vorteile,<br />

wenn man sie zu nutzen weiß. Und ich war ganz gut im<br />

Geschäft, konnte mir das leisten. Vom Inhalt dessen,


was ich schreiben wollte, hatte ich nur grobe<br />

Vorstellungen. Genau genommen gar keine. Grundsätzlich<br />

wollte ich mich an die Maxime halten, dass man<br />

über das schreiben soll, was man kennt (wer hat das bloß<br />

gesagt?), also sollte es irgendwie um die Medienbranche<br />

gehen, um einen Rock-Journalisten, vielleicht einen, der<br />

einen Mord aufklärt, mit Frauen, Drogen, Alkohol und<br />

so.<br />

In der ersten Urlaubswoche akklimatisierte ich mich mal<br />

und ehe es mir wirklich auffiel, waren zehn Tage um<br />

und ich hatte immer noch keine präzisere Idee. Dafür<br />

hatte ich aber Ausflüge in die Umgebung gemacht, mir<br />

Pompeji und Neapel angesehen und kannte die Kellner<br />

der wenigen Bars in der Umgebung schon mit<br />

Vornamen. Mir gingen schön langsam die Ausreden aus.<br />

Ich musste zu arbeiten beginnen. Also sperrte ich mich<br />

in meinem Zimmer ein und starrte stundenlang auf die<br />

weiße erste Seite eines leeren Word-Dokuments.


Vielleicht sollte ich einfach drauflos schreiben, ein erstes<br />

Kapitel, in dem jemand einen Toten findet, und die<br />

Geschichte dann laufen lassen ...<br />

#<br />

Am Abend gingen mir die Zigaretten aus. Natürlich gab<br />

es im Hotel welche zu kaufen, auch meine Marke, aber<br />

vielleicht, dachte ich, sollte ich zur Entspannung einen<br />

Spaziergang unternehmen: Die Küste entlang, zwei, drei<br />

Kilometer, zur RockBox, einem kleinen alternativen<br />

Lokal. Da war am frühen Abend nicht viel los, da<br />

konnte ich Zigaretten kaufen, einen Espresso trinken,<br />

von der Terrasse aufs Meer starren, mich sammeln.<br />

Ich griff also meine Tasche, in der ich alles Lebensnotwendige<br />

aufbewahrte – Notizbuch, Laptop, Foto- und<br />

Videokamera –, und machte mich auf den Weg.<br />

In der RockBox war schon mehr los, als ich dachte.


„Großer Konzertabend“, sagte die junge hübsche<br />

Kellnerin. Alice hieß sie, glaube ich. „Drei Bands“, sagte<br />

sie und wandte sich desinteressiert ab.<br />

Ich tat auch desinteressiert und zündete mir eine<br />

Zigarette an. Da läutete mein Handy. Es war jemand<br />

von der Promotion-Abteilung einer großen Plattenfirma.<br />

„Hallo, wie geht es Ihnen?“, fragte sie.<br />

„Gut“, sagte ich, „ich bin auf Urlaub.“<br />

„Ach nein“, sagte sie. „Das ist ja schade“, sagte sie, „denn<br />

ich hätte so eine tolle Interviewmöglichkeit für Sie.“<br />

„Wen soll ich denn interviewen?“, fragte ich laut, so dass<br />

es auch Alice hören konnte. Und nach einer Pause:<br />

„Linkin Park? Haben die das neue Album denn endlich<br />

fertig?“<br />

„Ja“, sagte die Promotionstante, und sie klang etwas<br />

überrascht. Ich hatte nicht mal gewusst, dass die Jungs<br />

von Linkin Park an einem neuen Album gearbeitet<br />

hatten, aber das war nicht schwer zu erraten gewesen.<br />

Plattenfirmen luden nur zu großen Interviews, wenn es<br />

etwas zu verkaufen gab. Und das war immer zuerst ein


neues Album, dann ein Tourneestart und schließlich die<br />

Live-DVD. Nachdem ein Rezensionsexemplar der<br />

letzten Linkin-Park-Live-DVD in irgendeiner meiner<br />

Schubladen verstaubte, musste jetzt also wieder ein<br />

Album kommen und ein neuer Zyklus konnte beginnen.<br />

„Leider“, sagte ich, „aber ich bin in der Nähe von<br />

Neapel, und das noch einige Zeit. Wann wäre denn das<br />

Interview?“<br />

„Übermorgen“, sagte sie. Das Interview sei in London<br />

und es sei auch möglich, mich aus Italien einzufliegen.<br />

Das war gar nicht so ungewöhnlich: Die Zeit-Slots für<br />

solche Interviews mussten von den Marketingleuten<br />

unbedingt voll-gepackt werden, eine verschwendete<br />

Viertelstunde Zeit von Linkin Park ist deutlich teurer als<br />

ein paar Flugtickets quer über den Kontinent. Pervers,<br />

eigentlich.<br />

„Wie lange hätte ich Zeit?“, fragte ich.<br />

„Zwanzig Minuten“, sagte die Frau, „zusammen mit vier<br />

anderen Journalisten.“


Also nicht mal ein Einzelgespräch, dachte ich, aber sagte<br />

es nicht laut.<br />

Wenn ich wolle, könne sie ja mal die Flüge prüfen und<br />

mich dann zurückrufen.<br />

„Machen Sie das“, sagte ich.<br />

Alice tauchte wieder auf. Sie wusch ein paar Gläser und<br />

sagte kein Wort. Ich rauchte in Ruhe und wartete.<br />

„Du bist Musikjournalist?“, fragte sie schließlich.<br />

Ich nickte und ließ den Rauch aus meiner Nase strömen.<br />

„Nur ein Job.“<br />

Im Herbst, sagte Alice, wolle sie nach Mailand gehen<br />

und Journalismus studieren, die Musikszene würde sie<br />

besonders interessieren, sie wolle einmal im Leben<br />

Marilyn Manson interviewen. Sie hatte dabei leuchtende<br />

Augen. Ich verlor schlagartig das Interesse an ihr.<br />

Ich habe Marilyn Manson schon dreimal interviewt und<br />

es war immer eine ausgesprochen unspektakuläre<br />

Angelegenheit. Manson ist sehr freundlich und höflich.<br />

„Eine gute Idee“, sagte ich. „Du bist dafür sicher<br />

perfekt.“ Rock-Journalismus ist meist, wenn Leute, die


nicht schreiben können, Leute interviewen, die nicht<br />

reden können, um Leute zu erreichen, die nicht lesen<br />

können. Hat Frank Zappa mal gesagt.<br />

Die Promotions-Tante von der Plattenfirma rief nach<br />

zehn Minuten wieder an. Das ginge in Ordnung. Ich<br />

könne morgen schon fliegen und in Rom umsteigen und<br />

in London in einem sehr netten Hotel übernachten. Das<br />

sei zwar etwas teuer und sprenge ihr Budget, aber die<br />

Londoner Zentrale sei bereit, die Mehrkosten zu<br />

übernehmen.<br />

„Wunderbar“, sagte ich, „dann schicken Sie mir doch<br />

die Flugdaten per E-Mail.“<br />

„Gerne, aber da ist noch eine Kleinigkeit.“<br />

„Was denn?“, fragte ich.<br />

„Max“, sagte sie. Max wolle morgen mit mir zu Abend<br />

essen, deshalb übernehme die Zentrale auch die<br />

Hotelkosten. Sie schicke mir die Adresse des<br />

Restaurants, irgendwo in Soho. Sie sei auch schon da<br />

gewesen, eine ganz schicke Bude.


„Wunderbar“, sagte ich und legte auf. Wenn ich morgen<br />

nach London flog, dann musste ich heute wohl nicht<br />

mehr mit dem Roman beginnen.<br />

„Wann beginnt das Konzert, Alice?“<br />

„Um neun“, sagte sie.<br />

Das machte noch zwei Stunden. „Dann werde ich mich<br />

auf die Terrasse setzen“, sagte ich. „Bringst du mir ein<br />

Bier und einen Wodka raus?“<br />

„Klar!“, sagte Alice und zwinkerte mir zu.<br />

#<br />

Die erste Band war laut und anstrengend, ein paar<br />

besoffene Provinzbengel. Sie waren offensichtlich der<br />

Meinung, um Punk-Musik zu machen, reiche es,<br />

Drogen zu konsumieren und seine Instrumente nicht zu<br />

beherrschen. Wie alle, die die wahre Genialität von<br />

Malcolm McLaren nicht verstanden haben. Dem<br />

Publikum schien es trotzdem zu gefallen. Aber<br />

vermutlich war den Hunnen auf der Tanzfläche die


Musik ohnehin egal, denn sie tanzten völlig<br />

unbeeindruckt weiter, als die Band abging, der Umbau<br />

für die zweite Gruppe begann und die Musik von der<br />

Festplatte kam.<br />

Das Hüpfen und Rempeln und Mit-Pappbecherndurch-die-Gegend-Werfen<br />

nervte mich, und das sah<br />

man mir wohl an.<br />

„Gefällt’s dir nicht?“, fragte Alice.<br />

Ich zuckte mit den Achseln. „Gibt’s hier irgendwo einen<br />

ruhigen Fleck?“<br />

Sie deutete auf das Technik-Podest.<br />

„Dort stehe ich gerne, wenn ich Ruhe haben will.“<br />

Der Mann an den Reglern nahm kaum Notiz von mir,<br />

als ich mich zu ihm hinter das Mischpult schob. Einen<br />

kurzen Augenblick schien es, als wolle er protestieren,<br />

dann nickte er freundlich. „Mach’s dir bequem“, sagte<br />

er. So lernte ich Eugene kennen, einen kleinen, etwas<br />

rundlichen Mittfünfziger mit Glatze vorne,<br />

Pferdeschwanz hinten, schwarzem Ramones-T-Shirt,


zerrissenen Jeans und einer nicht ganz neuen, runden<br />

Hornbrille.<br />

Ich war, muss ich zugeben, nur begrenzt neugierig auf<br />

den Auftritt der zweiten Band. Ich dachte, es gebe<br />

bereits zu viel Musik da draußen. Es gebe zu viele<br />

Konzerte, zu viele Bands. Man kommt ja als Journalist<br />

kaum noch damit nach, die hochwertigen und<br />

topprofessionellen Produktionen zu verfolgen.<br />

Geschweige denn irgendwelche Garagenbands, von<br />

denen neunundneunzig Prozent nicht mehr als<br />

einfallslosen Lärm produzieren. So dachte ich und, ja,<br />

das war arrogant und aufgeblasen.<br />

Noch während des Aufbaus begann der Soundcheck und<br />

aus dem Soundcheck heraus das Konzert, ohne Pause,<br />

ohne eindeutigen Beginn. Wozu auch, die Hunnen<br />

tanzten schon. Plötzlich schmiegte sich eine E-Geige um<br />

ein paar spärliche Beats aus der Drum-Machine, ein<br />

orientalisches Volkslied, eine Klageweise, wahrscheinlich<br />

ewig alt, Tausendundeine Nacht in the Ministry of<br />

Sound. Der Rhythmus drückte die Nummer vorwärts,


die Hunnen grölten und tanzten und sprangen immer<br />

höher, dann setzte der Bass ein. Eine Frau spielte ihn,<br />

breitbeinig und trotzdem anmutig. Wenige haben die<br />

Erotik von Frauen am Bass begriffen, Prince ist eine der<br />

Ausnahmen, ich bin eine andere.<br />

Und offensichtlich diese Band.<br />

Ich erinnere mich genau. Wenn ich die Augen schließe,<br />

bin ich wieder dort. Ich verfalle der Bassistin in der<br />

Sekunde, wo ich sie sehe, und als Eugene die beiden<br />

Beamer einschaltet, die vorne an der Kante der Bühne<br />

stehen und Bilder an die Rückwand werfen,<br />

überlebensgroße Porträts von ihr, da ist das gar nicht<br />

mehr nötig, da ist es schon um mich geschehen.<br />

Sie tritt ans Mikro und hebt an und singt in fremden<br />

Sprachen, kraftvoll und klar, und es klingt erst wie<br />

Französisch, dann wie Arabisch, dann wieder ganz<br />

anders. Später erfahre ich: Das ist Katalanisch, die<br />

Nummer heißt „Babylon“, die Porträts im Hintergrund<br />

wechseln, sie zeigen immer schneller Menschen aus aller<br />

Welt. Das Intro entwickelt sich langsam zu einem


epetitiven Thema, zu einem repetitiven, repetitiven<br />

Thema. Der Drummer steigt ein. Dann die beiden<br />

Gitarristen. Patam! Pa-ta-ta-tam! Patam!<br />

Das Lied endet nie, das nächste beginnt unbemerkt und<br />

plötzlich, Patam!, aus dem Nichts peitscht ein<br />

Gitarrenriff in die Menge, irgendetwas, das ich kenne<br />

und nicht gleich zuordnen kann, und schon drischt das<br />

Quartett, Pa-ta-ta-tam!, eine Hymne runter, ein<br />

Hochamt, wir hören die Signale, die Hunnen singen im<br />

Chor und recken ihre Fäuste in die Luft, auf zum letzten<br />

Gefecht, sie springen und grölen und die Bassistin steht<br />

immer noch breitbeinig da, die Lippen nahe am Mikro,<br />

die letzte Strophe singt sie a cappella und sie hat uns alle<br />

gefangen.<br />

Samba. Ska. Ska-Punk.<br />

Sie singen abwechselnd, sie singen zu zweit und zu dritt,<br />

sie singen viel auf Englisch und Spanisch und<br />

Französisch, alles durcheinander, sie singen ein wenig<br />

auf Arabisch und Deutsch, und einmal klingt ein<br />

Refrain recht russisch. Die Frau am Bass singt auch eine


Strophe italienisch, und da grölt das Publikum noch<br />

lauter als sonst und springt noch höher und ein Dutzend<br />

Verrückte klettern auf die Bühne und niemand hindert<br />

sie daran. Sie springen mit ausgestreckten Armen in die<br />

Menge und lassen sich fangen und die Band lacht und<br />

spielt noch wilder und feuert die Hunnen an und die<br />

Sängerin lässt ihren Bass fallen und springt und lässt sich<br />

von hunderten Händen tragen und singt, das Funk-<br />

Mikro fest umklammert. Eugene und ich halten den<br />

Atem an, eine Unendlichkeit lang, bis das Publikum sie<br />

wieder zurückgibt, auf die Bühne, vor die Leinwand. Ein<br />

Atompilz steigt hinter ihr auf, während sie den Bass<br />

umschnallt.<br />

Eine Nummer klingt wie eine Kreuzung aus Chanson<br />

und Blues.<br />

Ich nehme meine Videokamera aus der Tasche und<br />

filme mit.<br />

Eine Nummer klingt wie eine Kreuzung aus Rockabilly<br />

und Ragga.


Den Texten ist nicht leicht zu folgen, weil die Sprachen<br />

so schnell wechseln, aber ein paar Fetzen versteht man<br />

immer wieder und die Bilder aus dem Beamer helfen. Es<br />

geht um das Recht auf Rausch, um Arbeitslosigkeit, um<br />

muslimische Ghettos in europäischen Städten und<br />

Luxushotels an ägyptischen Stränden. Ich hatte nie<br />

verstanden, warum man Popmusik zum Sozialporno<br />

machen muss, aber auch das ist mir in diesem Moment<br />

keine Warnung. Meistens geht es ohnehin ganz banal<br />

um Liebe, Eifersucht, Verzweiflung und den ganzen<br />

Rest. Dazwischen eine Cover-Version von Wild Boys,<br />

eine von Waiting For The Man, eine von The Mercy<br />

Seat, ganz verrückt.<br />

Pa-ta-ta-tam.<br />

Flamenco. Rumba. Csardas und Roma-Musik. Punk.<br />

Manchmal langsam, meistens schnell.<br />

Eine Nummer klingt wie eine Kreuzung aus Charleston<br />

und Hardrock, das ist echt schräg, brutaler Crossover,<br />

keine halbe Sache. Ich mag das.


Die Bassistin trägt eine Army-Hose und ein weißes<br />

Unterleibchen, zum Knoten gebunden über dem<br />

schwitzenden Bauch. Ich muss nach vorne, ich muss<br />

fotografieren. Die Soundinistas singen über eine Party in<br />

Belgrad. Sie singen über Gewalt gegen Frauen und eine<br />

Modenschau in Paris.<br />

Ich kämpfe mich durch die Hunnen, remple und stoße<br />

und quetsche mich durch die Horde. Oft geht es um<br />

drei Dinge in einem Song, so als würde das alles<br />

zusammenhängen, als wären diese Dinge nur Facetten<br />

desselben Systems. Immer wieder geht es um Freiheit<br />

und Freude.<br />

Ich gelange in die erste Reihe, stütze meine Ellbogen auf<br />

die Bühne und nehme die Bassistin in den Sucher,<br />

zoome ganz nahe heran. Patam!<br />

Sie singen von Sex, Freiheit und Anarchie. Sie singen<br />

wieder von Liebe.<br />

Plötzlich ein trauriges, einsames Saxophon, dann Stille.


Die anderen Bandmitglieder gehen ab. Sie steht alleine<br />

auf der Bühne, verschwitzt, die Augen geschlossen, den<br />

Kopf gesenkt.<br />

Das Publikum schweigt, es ist ratlos.<br />

Ich werfe einen Blick auf den Techniker neben mir, aber<br />

auch er hat die Augen geschlossen, den Kopf gesenkt, die<br />

Finger beider Hände verschränkt, fast, als würde er<br />

beten.<br />

Nach einer Minute greift die Frau auf der Bühne<br />

langsam nach ihrem Mikrofon und sagt leise: „Das war<br />

für meine Mutter. Sie hat heute ihren zehnten Todestag.<br />

Wir werden dich nie vergessen, Mum.“<br />

Sie wischt sich eine Träne aus dem Gesicht, dann geht<br />

sie langsam ab.<br />

Keine Zugaben. Die nächste Band ist dran.<br />

Ich drücke den Stop-Button der Videokamera.<br />

#


Ich musste sie kennenlernen und fragte Alice, ob sie<br />

mich backstage bringen könne. Sie schüttelte den Kopf.<br />

„Die machen unten am Strand ein Lagerfeuer, dort<br />

findest du sie.“<br />

„In welche Richtung?“<br />

Sie überlegte. „Ich bringe dich hin, sobald die dritte<br />

Band begonnen hat.“<br />

Fünfzehn Minuten später waren wir unterwegs. „Ein<br />

Interview – sehr gut! Die waren toll, nicht wahr? Suchen<br />

wir Eugene Jersey“, quasselte sie, während ich hinter ihr<br />

durch den Sand lief.<br />

„Wer ist das?“<br />

„Der Manager der Band. Ein lustiger Kerl. Du hast ihn<br />

am Technikpult kennengelernt.“<br />

„Ach der“, sagte ich.<br />

Wir liefen auf einen alten, roten Londoner Stockbus zu,<br />

der am Rande der Zufahrtsstraße zum Strand parkte.<br />

Davor standen drei Leute, die sich laut lachend<br />

unterhielten. Einer davon war der Tontechniker. Über


dem Ramones-T-Shirt trug er nun ein abgewetztes<br />

braunes Cord-Sakko.<br />

„Das ist Eugene Jersey, der Manager“, sagte Alice. „Und<br />

das ist ein Journalist, der gerne ein Interview mit euch<br />

machen würde.“<br />

„Oh, ein Interview!“, rief einer der anderen Männer.<br />

„Die Soundinistas auf dem Weg zum Weltruhm!“<br />

„Für welches Magazin?“, fragte Eugene.<br />

„Verschiedene“, sagte ich.<br />

„Zum Beispiel?“<br />

Ich zählte drei Namen auf. Eugene nickte und lächelte,<br />

aber ich wusste nicht, was das bedeutete, er lächelte<br />

scheinbar immer. Wenn er überrascht über diese großen<br />

Titel war, ließ er es sich nicht anmerken. Seine Freunde<br />

schon. „Wow“, sagte der eine. „Ihr werdet gerade<br />

entdeckt.“<br />

„Ich möchte aber die Sängerin interviewen, nicht den<br />

Manager“, sagte ich.<br />

„Klar“, sagte er. „Schließlich hast du ja auch sie gefilmt<br />

und nicht mich.“ Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass


er wusste, dass ich das Interview niemals einem Magazin<br />

anbieten würde, und einfach aus Lust und Laune<br />

mitspielte. Eugene war ein freundlicher Mensch.<br />

„Ich muss dann mal zurück“, sagte Alice.<br />

„Komm mit“, sagte Eugene zu mir. „Wir spielen unsere<br />

Zugabe für die Fische und die Krabben. Und wir grillen<br />

ein wenig. Anna hat noch nicht viele Interviews gegeben,<br />

schon gar nicht für so große Magazine. Sie wird sich<br />

freuen. Wein und Bier haben wir auch.“<br />

Anna hieß sie also.<br />

Sie saß mit zwanzig oder fünfundzwanzig anderen um<br />

ein riesiges Lagerfeuer, eine Bongo zwischen den Beinen,<br />

und begleitete einen der Gitarristen der Band, der gerade<br />

Waiting in Vain sang. Eugene stellte uns kurz vor und<br />

ließ uns dann auch schon alleine.<br />

„Hi, tolles Konzert“, sagte ich.<br />

„Origineller Spruch“, sagte sie. „Ist dir der selbst eingefallen?“<br />

„Ja“, sagte ich.


Sie lächelte und hielt mich offensichtlich für einen ganz<br />

netten, sympathischen Idioten.<br />

„Gibst du mir ein kurzes Interview?“, fragte ich.<br />

„Hey, willst du dich nicht vorstellen?“, rief der Gitarrist.<br />

Es klang nicht unfreundlich, aber irgendwie war ich mir<br />

da doch nicht so ganz sicher.<br />

„Klar, mein Name ist ...“<br />

„Namen spielen für uns keine Rolle“, sagte er. „Musik<br />

zählt. Musik.“<br />

„Musik?“<br />

„Ja, mein Freund, Musik. Stell dich mit einem Lied<br />

vor.“<br />

„Ich singe grässlich.“<br />

„Spielst du besser Gitarre?“<br />

„Ja“, seufzte ich erleichtert. Gitarre spielen war nicht so<br />

schlimm. Für ein Lagerfeuer am Strand reichte es<br />

allemal.<br />

Der Typ machte eine schnelle Bewegung und hielt mir<br />

plötzlich sein Instrument unter die Nase. „Dann spiel so


laut, dass wir dich nicht singen hören“, sagte er. Alle<br />

lachten.<br />

Mit welchem Lied stellt man sich einer Runde vor, die<br />

man nicht kennt? Die Nummer, die ich angeblich am<br />

besten konnte, war immer schon John Lee Hookers<br />

Boom Boom. Und Eric Burdons I Was Born To Live<br />

The Blues.<br />

Die Blicke aller waren auf mich gerichtet.<br />

Burdon hat einmal eine absolut geniale Cover-Version<br />

von Ring Of Fire aufgenommen. Ich sah Anna an. Oh<br />

ja.<br />

Ich begann zu spielen, dann sang ich leise: Love …is a<br />

burning thing …<br />

Sie lachte hell auf, dann stimmte sie mit ein: … and it<br />

makes… a fiery ring …<br />

Bound … by wild desire …<br />

I fell into … a ring of fire …<br />

Spätestens an diesem Punkt, darauf kann man sich bei<br />

der Nummer verlassen, beginnt die Hälfte der Leute<br />

mitzusingen, und diesmal war es nicht anders. I fell into


a burning ring of fire … I went down, down, down, and<br />

the flames went higher … Ich entspannte mich, wurde<br />

mutiger, sang lauter: …and it burns, burns, burns …<br />

Unsere Augen fanden sich, ich zwinkerte ihr zu … the<br />

ring of fire … Sie zwinkerte zurück … the ring of fire …<br />

Zweite Strophe, Refrain, noch mal Refrain, und dann<br />

langsam und immer sachter … the ring of fire, the ring<br />

of fire, the ring of fire … Am Ende sang ich wieder<br />

alleine und ganz leise. Dann stoppte ich die Saiten.<br />

Sie klatschte, Eugene rief laut: „Bravo!“<br />

Ich fragte: „Wollt ihr eine Zugabe?“<br />

Sie zuckte mit den Achseln und grinste mich an, aber ein<br />

paar Leute riefen „Nein!“ und „Bloß nicht!“ und<br />

„Gnade!“, also gab ich die Gitarre dem Nächsten weiter.<br />

Die Aufmerksamkeit der Gruppe fiel von mir ab, ich war<br />

nun aufgenommen und nicht weiter interessant.<br />

Ich beugte mich zu Anna. „Wie war’s?“<br />

„Dein Gitarrenspiel war ganz passabel“, sagte sie.<br />

„Und sonst?“


„Du singst schrecklich und das Lied ist aber so was von<br />

abgelutscht. Das spielt jeder Zweite am Lagerfeuer.“<br />

„Peinlich?“<br />

„Kann man wohl sagen.“<br />

„Gibst du mir trotzdem noch ein Interview?“, fragte ich.<br />

„Klar“, sagte sie. „Gehen wir ein wenig zur Seite.“<br />

Wir begaben uns auf einen Spaziergang, weg vom<br />

Lagerfeuer, weg von der Bühne. Als wir zu einer felsigen<br />

Stelle kamen, kletterten wir weiter das Ufer entlang, um<br />

eine kleine Halbinsel herum. Dann setzten wir uns auf<br />

einen großen Stein und ließen die Füße ins Wasser<br />

baumeln.<br />

„Ich bin ziemlich verschwitzt“, sagte sie, und noch bevor<br />

ich etwas erwidern konnte: „Lass uns vor dem Interview<br />

noch schwimmen gehen.“<br />

Anna zog sich aus und sprang, Kopf voraus, ins Wasser.<br />

Es war eine helle Nacht, beinahe Vollmond. Ich streifte<br />

meine Hose im Sitzen ab, dann stieg ich etwas<br />

unbeholfen nach. Es war kalt, aber das störte die<br />

Durchblutung in dieser Situation nicht mehr.


Wir schwammen, scherzten, bespritzten uns gegenseitig<br />

mit Wasser. Dann steckte sie mir die Zunge in den<br />

Mund und umklammerte mich mit den Beinen. Es war<br />

gar nicht leicht, in dieser Position zurück ins Seichte zu<br />

gelangen.<br />

Ich kam zuerst, natürlich, und rollte mich zur Seite.<br />

Anna stieß mir den Ellbogen in die Rippen. „Wir sind<br />

noch nicht fertig“, sagte sie, und das war mir peinlich.<br />

Ich gab mein Bestes, und das dürfte gar nicht schlecht<br />

gewesen sein. Sie krümmte sich, erstarrte am Höhepunkt<br />

und kratzte mir blutige Fetzen aus der Haut.<br />

Eine schweigsame Minute später stand sie auf, zog sich<br />

an und ging zurück zum Lagerfeuer.<br />

Ich weiß nicht, wie lange ich unbeweglich auf dem<br />

Felsen saß. Ich fror und das Salz brannte in den<br />

Kratzwunden, aber das war mir egal. Ein Geräusch riss<br />

#


mich aus meinen Gedanken. Eugene kletterte vorsichtig<br />

über die Felsen.<br />

Er setzte sich neben mich und wir starrten eine Zeit lang<br />

auf die Wellen und die hüpfenden, silbrigen Reflexe des<br />

Mondlichtes darauf.<br />

Irgendwann sagte Eugene: „Du spielst ja ganz gut<br />

Gitarre, aber am Repertoire solltest du feilen.“<br />

„Scheint so.“<br />

„Ich möchte dich um einen Gefallen bitten“, sagte<br />

Eugene.<br />

„Hm?“<br />

„Könntest du mit allen Bandmitgliedern Interviews<br />

machen und einen kurzen Text über sie schreiben? Wir<br />

stellen gerade unsere neue Homepage fertig und<br />

könnten so was brauchen.“<br />

„Hm“, sagte ich, ohne viel darüber nachzudenken.<br />

„Wir haben nicht viel Geld. Genau genommen haben<br />

wir dafür gar kein Geld.“<br />

„Das habe ich mir gedacht. Das ist nicht das Problem.<br />

Aber ich fliege morgen Abend nach London.“


„Oh, schade.“<br />

„Sonst gerne.“<br />

„Klar.“ Eugene holte eine Packung Marlboro aus seiner<br />

Hemdtasche, tippte gegen die Unterseite und steckte<br />

sich eine halb herausgerutschte Zigarette zwischen die<br />

Lippen. Er bot auch mir eine an.<br />

„Danke“, sagte ich, und als er mir Feuer gab, schämte<br />

ich mich ein wenig für meine Nacktheit.<br />

Vermutlich plapperte ich deswegen einfach drauflos.<br />

„Eine schöne Nacht“, sagte ich, „um die Gedanken<br />

schweifen zu lassen ...“<br />

„Und worüber denkst du nach?“<br />

„Ich würde gerne einen Roman schreiben.“<br />

„Worüber?“<br />

„Tja. Das ist die Frage. Ich habe keine Ahnung. Etwas<br />

über die Medienbranche. Vielleicht einen Krimi“, sagte<br />

ich, nahm einen Zug von der Zigarette und atmete ganz<br />

langsam wieder aus. „Oder ganz was anderes.“


„Dann lasse ich dich wohl besser wieder in Ruhe<br />

nachdenken“, sagte Eugene und stand auf. „Fliegst du<br />

von Neapel aus?“, fragte er noch.<br />

„Ja.“<br />

„Wir fahren da morgen hin. Wir könnten dich zum<br />

Flughafen bringen.“<br />

Ich würde Anna noch einmal sehen. „Das wäre nett“,<br />

sagte ich.<br />

„Und auf dem Weg dorthin ...“<br />

„... werde ich einen kurzen Text für eure Homepage<br />

schreiben. Als kleine Gegenleistung. Ich habe mein<br />

Notebook dabei, kein Problem.“<br />

#<br />

„Was will denn der da?“, fragte einer der Gitarristen, als<br />

ich am Morgen beim Bus auftauchte. Es war der<br />

Schönling der Band. Irgendwie hat jede Band ihren<br />

Schönling, ist das nicht interessant? Leute in den<br />

Zwanzigern oder Anfang Dreißig glauben ja oft, dass


diese Milchbubis ein Phänomen der Boygroup-Ära sind<br />

und rümpfen verächtlich die Nase. Aber damit liegen sie<br />

völlig falsch. Bono hat mal in einem Interview erzählt,<br />

dass Larry Mullen Jr nur deswegen bei U2 aufgenommen<br />

worden war, weil er hübsch war. Bono, the<br />

Edge und Adam Clayton waren so hässlich wie die<br />

Nacht finster, also musste für die zukünftigen weiblichen<br />

Fans noch ein Schönling her. Dass der zufällig auch ein<br />

hochgradig talentierter Drummer war, hat der Band aber<br />

vermutlich auch nicht geschadet.<br />

„Er fährt mit uns nach Neapel“, sagte Eugene, der<br />

gerade aus dem Bus stieg „Er macht Interviews mit euch.<br />

Für die Website. Du kannst gleich das Erste geben!“<br />

„Interessant“, sagte der Typ desinteressiert.<br />

Schulterlange blonde Haare, braungebrannt, sportlich.<br />

Arrogant. Ich hatte mir meine schlechte Meinung von<br />

ihm schon beim Konzert gebildet, in der Sekunde, als<br />

ich ihn auf die Bühne kommen sah. Jetzt war ich<br />

überzeugt, mich nicht getäuscht zu haben.<br />

Eugene schüttelte mir die Hand.


„Das ist Chris“, sagte er. „Chris fährt die erste<br />

Teilstrecke heute. Normalerweise darf man mit<br />

Busfahrern ja nicht sprechen, aber wir machen heute<br />

eine Ausnahme. Du kannst dich hier in die erste Reihe<br />

setzen“, sagte Eugene.<br />

Ah ja, danke. Ich musste eine Menge Müll von den<br />

Sitzen räumen, bevor ich Platz fand. Warum tust du dir<br />

das an, fragte ich mich.<br />

Es war frühmorgens, mir war kalt, ich war<br />

unausgeschlafen, der Bus stank nach einer Milliarde<br />

Zigaretten, ich hatte nicht Zähne geputzt, es gab keinen<br />

Kaffee und dieser Chris nervte schon vor dem Interview.<br />

Ich beobachtete ihn und Eugene und einen der anderen<br />

Musiker dabei, wie sie noch ein paar Dinge in den<br />

Stockbus räumten. Ich wusste natürlich, warum ich<br />

mitfuhr.<br />

Anna.<br />

Von ihr war nichts zu sehen. Sie schlief wohl.<br />

Zehn Minuten später ging es los. Chris brauchte drei<br />

oder vier Versuche, bis der Bus ansprang, dann rollten


wir los. Weg vom Strand, zunächst über einen Feldweg,<br />

hinauf zur Küstenstraße. Die anderen verkrochen sich<br />

irgendwo im oberen Stockwerk des Busses.<br />

Wir fuhren wortlos. Fünfzehn Minuten, dreißig,<br />

fünfundvierzig.<br />

„Wolltest du nicht ein Interview machen?“, fragte Chris.<br />

„Klar“, sagte ich. „Ich bin nur noch nicht fit, so früh am<br />

Morgen, du weißt schon. Aber fang mal an zu erzählen.“<br />

„Okay. Ich heiße Chris. Chris Mess. Das ist mein<br />

Künstlername. Verstehst du? Chris Mess, so wie<br />

Christmas. Ich bin zweiundzwanzig, Single, Gitarrist<br />

und ich bin aus Schweden. Stockholm. Aber dort ist es<br />

mir viel zu kalt, deswegen bin ich vor zwei Jahren<br />

abgehauen. Ich bin nach Gran Canaria und habe dort<br />

einen Winter lang als Animateur gearbeitet, dann bin ich<br />

aufs Festland rüber und wollte eigentlich per Autostopp<br />

zurück nach Schweden. Aber weit bin ich dabei nicht<br />

gekommen. In Barcelona habe ich ein Konzert der<br />

Soundinistas gesehen, bin mit Eugene ins Reden


gekommen – tja, und jetzt bin ich hier. In gewisser<br />

Weise bin ich immer noch Animateur.“<br />

Ich blickte aus dem Fenster, beobachtete die karge<br />

Vegetation und den grauen Himmel.<br />

„Hallo?“, drängte der Typ.<br />

So ein Superduperarschloch, dachte ich, und sagte dann:<br />

„Das reicht fürs Erste. Es werden ja nur ganz kurze<br />

Texte.“<br />

Ich musste lächeln und freute ich mich auf das gepflegte<br />

Abendessen mit Max.<br />

Max war mein Cousin, und fast mein Bruder.<br />

Wir saßen beim Abendessen, die ganze Familie.<br />

„Kinder, wir müssen etwas mit euch besprechen“, sagte<br />

mein Vater. Immer wenn er das sagte, gab es eine<br />

unerfreuliche Nachricht.<br />

„Euer Cousin Max“, sagte er, „wird in Zukunft bei uns<br />

wohnen.“<br />

#


Meine Geschwister plärrten sofort drauflos, aber mein<br />

Vater schüttelte den Kopf und machte eine<br />

wegwischende Geste mit der Hand.<br />

„Hört euch doch erst mal an, was euer Vater zu sagen<br />

hat“, sagte meine Mutter.<br />

„Er wird hier zu Schule gehen“, sagte mein Vater. „Max<br />

ist ein kluger und hochtalentierter Junge, er soll seinen<br />

Abschluss an einer guten Schule machen, und so etwas<br />

gibt es bei Tante Betty auf dem Land eben nicht. Also<br />

hat uns Tante Betty gebeten, ihn aufzunehmen.“<br />

„Und dann?“, fragte eine meiner Schwestern.<br />

„Und dann wird er wohl zur Universität gehen“, sagte<br />

mein Vater. „Jura, vielleicht. Aber das dauert noch Jahre<br />

bis dahin.“<br />

„Nein, das meinte ich nicht“, sagte meine Schwester.<br />

„Und wo wird er dann wohnen? Wir haben kein<br />

Zimmer mehr frei.“<br />

„Nun“, sagte mein Vater, und er sah dabei nicht meine<br />

Schwester an, sondern das erste Mal an diesem Abend


mich, „wir haben uns überlegt, dass es am besten ist,<br />

wenn ihr beide euch ein Zimmer teilt.“<br />

Mir stiegen Tränen in die Augen. „Mein Zimmer!“,<br />

schrie ich. Es hätte wie eine Frage klingen sollen.<br />

„Für ein paar Jahre ist das jetzt euer Zimmer“, sagte<br />

mein Vater.<br />

„Aber Max ist ein Superduperarschloch!“, brüllte ich aus<br />

Leibeskräften, dann warf ich meine Serviette auf den<br />

Tisch und sprang auf, ohne um Erlaubnis zu fragen, und<br />

lief in mein Zimmer. Dort wartete ich darauf, dass<br />

meine Mutter mir nachkam, aber ich wartete vergebens.<br />

Superduperarschloch. Ich glaube, ich hatte das kindische<br />

Doppel-Präfix nur erfunden, um nicht Arschloch sagen<br />

zu müssen.<br />

So sprach man nicht im Haus meiner Eltern.<br />

#


Sie stand plötzlich neben mir, stützte die Unterarme auf<br />

die Lehne des Sessels. Sie wirkte zornig und biss hektisch<br />

auf einem Kaugummi herum.<br />

„Oh“, sagte ich überrascht. „Guten Morgen. Wo<br />

kommst du denn her?“<br />

„Das sollte ich wohl dich fragen“, sagte Anna. Kein guter<br />

Morgen.<br />

„Euer Manager ...“, sagte ich.<br />

„Eugene.“<br />

„Ja. Eugene hat mich gebeten, nach Neapel mitzufahren<br />

und Interviews mit allen Bandmitgliedern zu machen.“<br />

Sie kaute weiter, ihr Gesichtsausdruck blieb unverändert.<br />

„Für die Homepage“, sagte ich.<br />

„Interviews. So wie unseres gestern?“<br />

War das ein Vorwurf? Ein Scherz? Oder war es nett<br />

gemeint? Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.<br />

„Und hast du schon alle anderen interviewt?“, fragte sie.<br />

„Nein.“<br />

„Na, dann mach mal“, sagte sie und setzte sich neben<br />

mich. „Das letzte Mal sind wir ja wirklich nicht weit


gekommen damit“, flüsterte sie und es klang wie eine<br />

nüchterne Tatsachenfeststellung. Ich lächelte und wusste<br />

immer noch nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war.<br />

„Anna“, sagte sie. „Vierundzwanzig Jahre, Sängerin und<br />

Bassistin.“<br />

„Kein Nachname?“, fragte ich.<br />

Sie lächelte. „Jersey.“<br />

Mein Kinn klappte nach unten. „Sag nicht ...“<br />

„Doch. Er ist mein Vater.“<br />

Ich schnitt eine Grimasse. „Er hat mich nackt gesehen.<br />

Also, du weißt schon, nach unserem ... Interview.“<br />

„Und?“<br />

„Das ist mir jetzt noch peinlicher.“<br />

Sie zuckte mit den Schultern. „Dein Problem.“<br />

„Dir ist das egal?“<br />

„Wir sind seit fast sieben Jahren die meiste Zeit<br />

gemeinsam in einem Tourbus unterwegs. Glaubst du, du<br />

bist der Erste, von dem er weiß, dass ich ihn<br />

abgeschleppt habe?“


Sie klang nicht aggressiv, sondern eher belustigt. Und sie<br />

versuchte nicht unbedingt, leise zu sein.<br />

„Okay, du bist also die Tochter des Managers“,<br />

murmelte ich. “Das ist ungewöhnlich, das ist eine gute<br />

Story ...“<br />

„Lass das!“<br />

„Was?“<br />

„Wenn du das so darstellst, als wäre ich nur in der Band,<br />

weil ich die Tochter des Managers bin, dann trete ich dir<br />

sonst wohin. Genauso gut könnte man sagen, Eugene ist<br />

nur der Manager, weil er der Vater der Leadsängerin ist.<br />

Wir sind gleichberechtigt, verstehst du?“<br />

„Voll und ganz.“<br />

„Okay.“<br />

„Nennst du ihn deswegen Eugene und nicht Vater oder<br />

Papa oder was weiß ich?“<br />

Sie zuckte die Achseln. „Nein. Vielleicht. Keine Ahnung,<br />

ich nenne ihn schon sehr lange so.“<br />

„Wie seid ihr gemeinsam in eine Band geraten? Du bist<br />

24, ihr seid seit sieben Jahren gemeinsam unterwegs ...“


„Ich bin in San Francisco geboren, habe dort mit meiner<br />

Mutter gelebt. Eugene war nicht viel zu Hause. Er hat<br />

sich in der Umweltbewegung engagiert, war ständig auf<br />

irgendwelchen Anti-Atom-Demonstrationen und<br />

Kongressen und solchen Sachen. Er war ständig im<br />

ganzen Land unterwegs, und wenn er da war, dann war<br />

das Haus voll mit Freunden meiner Eltern, lauter alte<br />

Kumpel aus der Anti-Vietnam- und der<br />

Bürgerrechtsbewegung. Ich habe ihn praktisch nie für<br />

mich gehabt. Vielleicht nenne ich ihn deshalb einfach<br />

Eugene. Und dann hatte er ja noch seinen Job an der<br />

Universität in Berkeley. Ich glaube, seine Studenten hat<br />

er mehr gesehen als mich.“<br />

„Eugene hat unterrichtet?“<br />

Sie lächelte stolz. „Eugene Jersey, Ph.D. Spezialgebiet:<br />

Politische Philosophie der Neuzeit.“<br />

„Und wie seid ihr dann hier gelandet?“ Es sollte nicht<br />

beleidigend klingen, aber mir war sofort klar, dass ich<br />

den Satz falsch betont hatte. Sie kniff die Augen<br />

warnend zusammen.


„Als Eugenes Eltern starben, erbte er ein schönes<br />

Sümmchen. Meine Eltern beschlossen, zunächst einmal<br />

eine ausgedehnte Europareise zu unternehmen. In<br />

Marseille lernten sie den Besitzer eines<br />

heruntergekommenen Jazz-Clubs in der Hafengegend<br />

kennen, der in Pension gehen wollte, aber keinen<br />

Nachfolger hatte. Sie soffen zusammen, verhandelten<br />

und zur Sperrstunde kauften meine Eltern den Club.<br />

Dort bin ich aufgewachsen, zwischen den Musikern und<br />

den Säufern, den Nutten und den Seeleuten, zwischen<br />

Franzosen und Algeriern und Marokkanern und<br />

Spaniern und Katalanen und Basken und Italienern und<br />

Korsen und, und, und ...“<br />

„Interessant“, sagte ich. „Klingt so gut, dass man es<br />

erfinden müsste, wenn es nicht wahr wäre.“<br />

Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten<br />

konnte. „Vielleicht ist es ja auch nicht wahr?“<br />

„Vielleicht. Aber ich kann’s ja dennoch schreiben.“<br />

„Tu das“, sagte sie.<br />

„Und dann?“


„Ich habe meine erste Band gegründet, als ich fünfzehn<br />

war. Meine Eltern haben uns in ihrem Club auftreten<br />

lassen. Eugene hat uns nach und nach auch Auftritte in<br />

befreundeten Clubs in anderen Städten besorgt. Er war<br />

damals schon so etwas wie unser Manager. Und dann ist<br />

meine Mutter gestorben. Ein Autounfall. Sie ist aus dem<br />

Haus gegangen, um mit einer Freundin auf den Markt<br />

zu gehen und frisches Gemüse zu kaufen, und ist nie<br />

wiedergekommen. Für mich war das natürlich ein<br />

Schock, aber ich glaube, Eugene hat noch mehr darunter<br />

gelitten. Er hat den Jazz-Club zugesperrt – einfach<br />

zugesperrt, nicht verkauft –, hat unsere sieben Sachen in<br />

unseren Lieferwagen gepackt und wir sind losgefahren.“<br />

„Und dann?“<br />

„Wir haben Live-Clubs in ganz Europa besucht.<br />

Manchmal habe ich dort gespielt, manchmal nicht. Ich<br />

bin alleine aufgetreten, als Singer/Songwriterin, ganz<br />

klassisch, nur mit akustischer Gitarre. Nach ein paar<br />

Monaten haben wir Carlos und Dmitri in einem Club in<br />

Genua kennengelernt. Sie sind nach uns aufgetreten. Sie


waren gut und nach dem Konzert haben wir uns<br />

unterhalten und es hat gefunkt. Die beiden hatten am<br />

nächsten Tag einen Auftritt in La Spezia, wir hatten frei.<br />

Sie hatten kein Auto, also haben wir sie hingebracht.“<br />

„Sie waren ohne Auto auf Tournee?“<br />

„Sie waren per Autostopp unterwegs. Jedenfalls sind wir<br />

an diesem Abend in La Spezia das erste Mal gemeinsam<br />

auf der Bühne gestanden, und ab dann ist das auch so<br />

geblieben. Das war vor sechs Jahren. Seit dem touren wir<br />

gemeinsam durch Europa. Wir drei auf der Bühne und<br />

Eugene als Manager. Meistens haben wir noch einen<br />

Gitarristen dabei, einmal für ein paar Monate auch eine<br />

Gitarristin. Lena. Hat nicht funktioniert, die war eine<br />

ziemliche Schlampe. Seit ein paar Monaten haben wir<br />

eben Chris mit an Bord. Apropos an Bord. Diesen Bus<br />

haben wir vor drei Jahren in England gekauft und selbst<br />

zu unserer Wohnung umgebaut.“<br />

„Gute Geschichte“, sagte ich.<br />

„Okay. Dann sind wir ja fertig“, sagte sie und stand<br />

abrupt auf.


„Warte, eines noch ...“, sagte ich und versuchte, schnell<br />

eine Frage zu finden, die nicht allzu banal war. „Wie<br />

stellst du dir deine Zukunft vor?“<br />

Volltreffer.<br />

Sie dachte eine Sekunde nach. „Ich glaube, das reicht<br />

fürs Erste“, sagte sie. „Es werden ja nur ganz kurze<br />

Texte.“<br />

„Max zieht bei uns ein“, hatte mein Vater gesagt, aber<br />

ich sah das anders. Max zog nicht bei uns ein, sondern<br />

bei mir.<br />

Wir kauften ein Stockbett für mein Zimmer. Ich wollte<br />

unbedingt das obere Bett. Unbedingt. Ich hätte mich<br />

erdrückt gefühlt, wenn Max die ganze Nacht im Bett<br />

über mir geschlafen hätte. Max war nur zwei Monate<br />

älter, aber über einen Kopf größer und doppelt so<br />

schwer. Es hätte mich wahnsinnig gemacht.<br />

#


Wir kauften das Bett eine Woche, bevor Max einzog. Ich<br />

drängte meinen Vater jeden Abend, es<br />

zusammenzubauen. Ich hatte es eilig, mein altes Bett aus<br />

dem Zimmer zu räumen, das neue aufzubauen und das<br />

obere Bett zu besetzen.<br />

Aber mein Vater war ein viel beschäftigter Mann und<br />

abends war er immer zu müde. „Morgen machen wir<br />

das, versprochen“, sagte er. Er sagte das am Dienstag<br />

und am Mittwoch und am Donnertag und am Freitag.<br />

Am Samstag erwarteten wir Tante Betty und Max zum<br />

Abendessen. Dann war es zu spät.<br />

Am Samstag weckte ich meinen Vater das erste und<br />

einzige Mal in meinem Leben. Er war immer ein<br />

arbeitsamer Frühaufsteher, ich bin wohl ein<br />

hoffnungsloser Morgenmuffel. Aber an diesem Tag war<br />

es anders. Ich konnte nicht früh genug mit der Arbeit<br />

beginnen.<br />

Wir zerlegten mein altes Bett, schleppen es in den Keller,<br />

legten die Teile des neuen Betts griffbereit in meinem<br />

Zimmer auf und machten uns an die Arbeit. Ich habe


niemals zuvor so konzentriert mit meinem Vater<br />

zusammengearbeitet und ich glaube, das erfüllte ihn mit<br />

ein wenig Freude.<br />

„Mittagessen ist fertig!“, rief meine Mutter plötzlich.<br />

„Wir kommen gleich!“, antwortete mein Vater. „Eine<br />

Schraube noch.“<br />

Er ließ mich diese letzte Schraube reindrehen, und dann<br />

machten wir einen Schritt zurück und betrachteten<br />

unser Werk. Vater und Sohn. Ich fühlte mich ihm nicht<br />

oft verbunden.<br />

„Nach dem Essen holen wir die Matratzen“, sagte er.<br />

„Und die Bettwäsche“, sagte ich. „Ich werde mein Bett<br />

gleich beziehen.“<br />

„Warte damit noch“, sagte mein Vater. „Max ist der<br />

Gast. Er sollte sich aussuchen, ob er oben oder unten<br />

schlafen möchte.“<br />

Dann drehte er sich um und ging essen. Ich trottete<br />

hinterher und sprach bei Tisch kein Wort, aber das fiel<br />

niemandem auf.


Der Nachmittag war schrecklich. So ein Nachmittag,<br />

wie man ihn eben oft hat, wenn man sich eine<br />

unglückliche Jugend einbildet. In meiner Erinnerung<br />

war es bewölkt und düster, Herbstendzeitstimmung.<br />

Tatsächlich war es Ende August, das Wetter wird wohl<br />

herrlich gewesen sein.<br />

Max und Tante Betty kamen pünktlich um sechs Uhr.<br />

Allgemeine Begrüßung, nur ich stand ein wenig abseits.<br />

Mein Vater sagte: „Bringen wir zuerst Max’ Sachen auf<br />

sein neues Zimmer. Er wird neugierig sein.“<br />

So gingen wir alle in mein ehemaliges Zimmer, das für<br />

meinen Vater nun offensichtlich schon Max gehörte.<br />

„Welches Bett willst du?“, fragte er. „Das obere oder das<br />

untere?“<br />

Ich hielt den Atem an. Max überlegte.<br />

Dann sah er mich an. „Das ist dein Zimmer, oder?“<br />

Ich nickte.<br />

„Jetzt ist es euer Zimmer, Max“, sagte mein Vater.<br />

„Welches Bett willst du?“, fragte Max.


„Du bist der Gast, du darfst dir eines aussuchen“, hörte<br />

ich mich sagen, und nach einer Sekunde Pause ergänzte<br />

ich: „... hat mein Vater gesagt.“<br />

Max lächelte. Ich dachte, er genoss diesen Sieg. Aber<br />

dann sagte er: „Hey Mann, es ist dein Zimmer. Wo<br />

willst du schlafen?“<br />

Ich habe es noch im Ohr, dieses „Hey Mann“, das cool<br />

klingen sollte. Es klang auch cool. Ich warf einen Blick<br />

auf meinen Vater. Er zeigte keine Reaktion. „Oben“,<br />

sagte ich.<br />

„Gut“, sagte Max und legte seinen Koffer auf das untere<br />

Bett. Dann hielt er mir die Hand hin. „Auf gute<br />

Partnerschaft.“<br />

Der obere Stock des Autobusses war zweigeteilt. Hinten<br />

befanden sich die Schlafplätze. Sie waren mit<br />

blickdichten Vorhängen versehen, aber offensichtlich<br />

#


gab es acht Kojen. Vier links, vier rechts des Ganges,<br />

angeordnet wie Stockbetten. Stockbetten!<br />

In der vorderen Hälfte des Raumes standen zwei Sofas,<br />

und die Wände und die Frontseite waren mit Regalen<br />

verkleidet, in die bis in den letzten Millimeter Bücher<br />

und Zeitschriften gestopft waren. Obwohl es mitten am<br />

Tag war, war der Raum düster, denn alle Fenster waren<br />

entweder mit Vorhängen verhängt oder von den Regalen<br />

verstellt. Nur zwei rote Lavalampen und Annas Leselicht<br />

sorgten dafür, dass ich überhaupt etwas sehen konnte.<br />

Anna lag in einer der Kojen, las in einem Magazin und<br />

schenkte mir keine Beachtung, Carlos lümmelte auf<br />

einem Sofa, hatte die Augen geschlossen und trug<br />

Kopfhörer.<br />

Ich legte den Kopf schief und ließ die Augen über die<br />

Bücher wandern. Im ersten Regal fand ich viel von<br />

Stephen King und Dean Koontz, aber auch Grisham<br />

und seine Trittbrettfahrer.<br />

Dann, im zweiten Regal viel Marx, Engels und<br />

Gramsci, Bakunin, Proudhon und Kropotkin, einiges


von Kant und Locke und Adam Smith, dazwischen<br />

Sartre, Foucault und Bordieu und Adorno/Horkheimer.<br />

Ich schmunzelte. In der Schule und beim Studium hatte<br />

ich über die meisten dieser Autoren zumindest ein wenig<br />

Sekundärliteratur gelesen, hier standen sie nun im<br />

Original auf Deutsch, Englisch, Französisch und<br />

Italienisch, und von den Russen gab es englische<br />

Übersetzungen. Ich nahm Adam Smith aus dem Regal.<br />

Der Wohlstand der Nationen. Das hatte ich zu lesen<br />

versucht, aber nach den ersten Kapiteln über die<br />

Arbeitsteilung hatte ich es gelangweilt bleiben lassen und<br />

es bei einer Zusammenfassung belassen. Es war mir nie<br />

abgegangen und soweit ich wusste, hatte Max sein<br />

Wirtschaftsstudium abgeschlossen, ohne es je gelesen zu<br />

haben. Ich stellte das Buch wieder zurück.<br />

Im nächsten Regal fanden sich Freud und Jung,<br />

Dawkins und Dennett, McLuhan und Watzlawick.<br />

Darunter dann antike Klassiker: Aristoteles, Platon,<br />

Epikur, Seneca, Cicero, Marc Aurel, Augustinus, aber<br />

auch Homer, Herodot und Plinius.


Auf der gegenüberliegenden Seite waren die Regale mit<br />

Sachbüchern und prächtigen Bildbänden vollgestopft.<br />

Werke über die Kunstgeschichte der Antike, des<br />

Mittelalters und der italienischen Renaissance standen<br />

neben Biografien von Dante, Galilei und Victor Hugo,<br />

dazu Monografien über historische Themen wie die<br />

Geschichte des Ackerbaus, der Schrift, des Seehandels,<br />

des Buchdrucks, der Ölmalerei und der Astronomie und<br />

Grundlagenwerke zur babylonischen und griechischen<br />

Kultur, der französischen und der industriellen<br />

Revolution, über Humanismus, Liberalismus,<br />

Sozialismus und, und, und ...<br />

„Das gehört alles Eugene“, sagte Carlos, der die Augen<br />

geöffnet und die Kopfhörer abgenommen hatte. „Nur<br />

das eine Regal dort, das teilen uns wir anderen.“ Er<br />

deutete auf die King- und Grisham-Abteilung.<br />

„Verstehe“, sagte ich.<br />

#


Es lief gar nicht so schlecht, das mit Max und mir,<br />

zumindest phasenweise. Er bemühte sich, das muss man<br />

anerkennen, und nachträglich betrachtet war ich in der<br />

ersten Zeit wohl wirklich kein einfacher Mitbewohner.<br />

Aber wir bekamen es halbwegs auf die Reihe. Okay, dass<br />

Max eindeutig stärker war und mir kräftig mit der Faust<br />

in die Magengrube schlug, wann immer er es für<br />

geboten hielt, mag auch dazu beigetragen haben, dass ich<br />

meinen offenen Widerstand gegen seine Anwesenheit<br />

bald aufgab. Wir rauften uns also im wahrsten Sinne des<br />

Wortes zusammen. Und nach einiger Zeit gab es auch<br />

Momente, da fand ich Max cool. Als er in meinem<br />

Zimmer einzog, war er ein fetter, dummer Bauernjunge.<br />

Doch er entwickelte sich, und das schnell. Er las Hesse<br />

und Hemingway und Bukowski und alle die anderen<br />

Pubertätsklassiker, die meine Eltern im Regal hatten. Er<br />

nahm ab. Seine Garderobe änderte sich, Stück für Stück,<br />

und nach einem Jahr war er richtig hip. Wenig später<br />

brachte er die ersten Freundinnen mit nach Hause.


Dann stritten wir um unser Zimmer und manchmal<br />

warf er mich einfach raus.<br />

Wir gründeten unsere erste Band mit Freunden,<br />

nachdem wir gemeinsam einen Videofilm angesehen<br />

hatten. Zurück in die Zukunft. Michael J. Fox an der<br />

roten E-Gitarre. Der Abschluss-Ball. Rock ’n’ Roll. Wir<br />

losten um die Instrumente und Max zog den Zettel, auf<br />

dem „Lead Guitar“ stand. Ich könnte wetten, er hat<br />

nachgeholfen. Jedenfalls kamen wir heim und ich wollte<br />

meinen Eltern von der Band erzählen, aber ich musste<br />

zuvor noch aufs Klo und während ich pinkelte, war er<br />

schneller und schilderte unseren zukünftigen Erfolg mit<br />

leuchtenden Augen. Mein Vater rief Tante Betty an und<br />

wenige Tage später kauften sie gemeinsam zwei<br />

Gitarren. Eine rote, so wie im Film, für Max und eine<br />

weiße für mich. Da waren wir 15.<br />

Als ich das erste Mal auf der Bühne stand, hatte ich noch<br />

nie live ein Konzert gesehen. Ich kannte nur Zurück in<br />

die Zukunft, wir hatten inzwischen auch eine VHS-<br />

Kassette, kopiert von einem Freund. Der Abschlussball


war unsere Lieblingsszene, wir sahen sie tausend Mal,<br />

immer und immer wieder. So hatte ein Konzert zu sein.<br />

Johnny B. Goode. Max war Marty, er sang und spielte<br />

die Leadgitarre. Er tobte über die Bühne. Er wälzte sich<br />

am Boden. Er trat gegen die Verstärker. Die Mädchen<br />

kreischten. Ich stand daneben und zupfte die<br />

Rhythmusgitarre.<br />

Ehrlich gesagt: Ich war auch weniger musikalisch als<br />

Max. Er komponierte unsere Nummern, spielte mir<br />

meinen Part vor und ich lernte ihn auswendig. Das<br />

funktionierte ganz gut.<br />

Aber Max schrieb schreckliche Texte. Einmal stritten wir<br />

und er warf mir vor, beschissen zu spielen, und weil ich<br />

nicht wusste, was ich ihm vorwerfen konnte, schrie ich:<br />

„Und du schreibst Scheißtexte!“<br />

„Ach so?“ brüllte er zurück. „Dann schreib doch mal<br />

einen besseren, Klugscheißer!“<br />

Das tat ich. Ich schrieb die ganze Nacht und brachte<br />

meinen Text am nächsten Tag zur Probe mit, in<br />

dreifacher Abschrift.


Max las ihn und sagte: „Na ja, das ist aber auch nicht<br />

besser, Kleiner.“<br />

„Doch“, sagte Stijn, unser Drummer. „Sein Text ist<br />

besser.“<br />

Und Tom, der Bassist, stimmte ihm zu. „Der Kleine soll<br />

ab jetzt die Lyrics schreiben“, sagten sie, und so war es<br />

dann auch.<br />

#<br />

Carlos erinnerte mich an Iggy Pop. Gleiches Alter,<br />

ähnlich strähniges langes Haar, ein drahtiger,<br />

dunkelbrauner Körper, dem man den jahrzehntelangen<br />

Missbrauch deutlich ansieht. Nur Carlos' Gesicht wirkte<br />

etwas verbrauchter als das von Iggy, sein Drei-Tages-<br />

Bart noch struppiger, seine Tattoos noch verwaschener.<br />

Er hat die letzten dreißig Jahre als fahrender Musiker auf<br />

der Straße verbracht, in Fußgängerzonen und U-Bahn-<br />

Stationen gespielt, in Telefonzellen und Parks, auf<br />

Bahnhöfen und Stränden übernachtet, die meiste Zeit


irgendwo zwischen Lissabon und Kalkutta, manchmal<br />

auch darüber hinaus.<br />

1987 trifft er in Leipzig Dmitri, der ist Russe, KPdSU-<br />

Mitglied, desillusioniert und schwul. Er arbeitet seit fast<br />

fünfzehn Jahren als Buchhalter in der<br />

Außenhandelsstelle eines russischen Staatsunternehmens<br />

und geht Tag für Tag brav seiner Arbeit nach. Aber<br />

abends gibt es einen anderen Dmitri, der durch die<br />

verrauchten Hinterzimmer der Leipziger Szene streift,<br />

Schlagzeug in einer Rockband spielt, Abenteuer sucht.<br />

Was wie der Beginn eines Spionage-Romans klingt<br />

(leider keine Story für mich, denke ich in diesem<br />

Moment, zu viel Politik und zu wenig Musik),<br />

entwickelt sich „nur“ zu einer Liebesgeschichte. Carlos<br />

und Dmitri lernen sich auf einem Konzert kennen und<br />

bleiben zusammen.<br />

Carlos reist nun hauptsächlich durch Osteuropa, die<br />

Behörden lassen ihn in Ruhe, sie haben gerade andere<br />

Sorgen. Er trifft Dmitri in Ungarn, in Rumänien und<br />

natürlich immer wieder in der DDR. 1989, als die


Mauer fällt, kündigt Dmitri seinen Job, tritt aus der<br />

Partei aus und geht mit Carlos auf Reisen, wieder von<br />

Lissabon bis nach Kalkutta und manchmal darüber<br />

hinaus.<br />

Irgendwann treten die beiden in Genua auf, nach einer<br />

beeindruckenden jungen Sängerin mit rotbraunem Haar<br />

und ...<br />

Hier brach ich das Interview ab und stand auf. „Ich setze<br />

mich jetzt besser runter und schreibe die Texte. Sonst<br />

werde ich nicht fertig, bis wir ankommen.“<br />

#<br />

Dann ging die Schulzeit zu Ende. Im Sommer danach<br />

gingen wir mit unserer Band auf eine kleine Tournee,<br />

die wir in den Monaten zuvor organisiert hatten. Es war<br />

ein Fiasko. Bisher waren wir immer vor Freunden<br />

aufgetreten oder zumindest an Orten, an denen wir viele<br />

Bekannte mobilisieren konnten. Und die jubelten, weil<br />

sie uns mochten. Vor völlig fremdem Publikum merkten


wir erst, wie hart der Job auf der Bühne wirklich sein<br />

kann.<br />

Als die Minitournee nach zwei Wochen vorbei war, löste<br />

die Band sich auf. Wir saßen nebeneinander an der Bar<br />

eines Irish Pub, das damals unser Stammlokal war. Max<br />

hatte was mit der Tochter des Wirten.<br />

„Das wird nichts“, sagte Tom, der Bassist.<br />

„Nein, das wird nichts“, sagte Stijn, der Drummer. „Für<br />

mich ist es vorbei.“<br />

„Was soll das heißen?“, fragte Max.<br />

„Ich beginne im Herbst mit einem<br />

Finanzwirtschaftsstudium.“<br />

„Finanzwirtschaft?“<br />

„Yep. Und ihr solltet euch auch was suchen. Seht der<br />

Wahrheit ins Auge: Wir werden keine Stars.“<br />

„Informatik“, sagte Tom.<br />

Ich verdrehte die Augen „Informatik?“<br />

„Klar, das ist eine Zukunftsbranche.“<br />

„Aha.“<br />

„Das ist nicht dein Ernst?“, fragte Max.


Tom nickte langsam „Doch.“ Dann trank er sein Bier<br />

aus und zahlte. „Ich verliere hier nur noch Zeit. Und ihr<br />

solltet auch gehen. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt.<br />

Das ist doch etwas Schönes.“<br />

Max und ich blickten ihn verwirrt an, aber auch Stijn<br />

trank sein Bier aus. Dann umarmten wir uns alle noch<br />

einmal und die beiden gingen ihrer Wege.<br />

„Und jetzt?“ fragte ich.<br />

„Noch zwei Bier“, sagte Max. Und nach einer langen,<br />

langen Pause: „Weißt du was, sie haben recht.“<br />

„Scheiße“, sagte ich, aber ich wusste, dass es wahr war.<br />

„Ich will aber kein Buchhalter werden“, murmelte ich<br />

trotzig.<br />

„Ich studiere Betriebswirtschaft“, sagte Max und nahm<br />

einen Schluck vom Bier. „Und dann gehe ich ins<br />

Musikmanagement.“<br />

„Ist nicht dein Ernst?“<br />

„Klar.“<br />

Ich stöhnte.


„Überleg mal. Papsch geht davon aus, dass wir beide<br />

Jura studieren.“ Er nannte meinen Vater schon lange<br />

Papsch. „Aber damit kommen wir nie in die<br />

Musikbranche. Oder willst du das Kleingedruckte in den<br />

Verträgen schreiben?“<br />

Ich stöhnte noch mal.<br />

„Also: ab ins Management“ sagte Max.<br />

„Das ist die Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagte ich.<br />

„Keineswegs. Ich sehe eine strahlende Zukunft. Hey<br />

Mann, neben dir sitzt der nächste Richard Branson.“<br />

„Branson hat kein Betriebswirtschaftsstudium“, sagte<br />

ich.<br />

„Woher willst du das wissen?“, fragte Max.<br />

„Weil ich eine Menge über ihn gelesen habe.“<br />

„Weißt du, das ist dein Fehler: Du liest zu viel. Man<br />

sollte sein eigenes Leben führen.“<br />

„Danke für diese Weisheit.“<br />

„Bitte.“<br />

Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatten wir unser<br />

erstes brav-bürgerliches Mittagessen mit der ganzen


Familie, und ich glaube, meine Eltern waren heilfroh,<br />

dass unsere Existenz als Rockmusiker ein Jugendkapitel<br />

war, das nun geschlossen werden sollte. Mein Vater war<br />

zwar skeptisch, als wir gestanden, nicht Jura studieren zu<br />

wollen, aber Max schaffte es schnell, ihn zu überzeugen.<br />

Dass wir ausgerechnet in die Musikbranche wollten, ließ<br />

er unerwähnt. Damit war es entschieden: Wir studierten<br />

Betriebswirtschaft.<br />

Etwa zwei Jahre lang ging das auch gut, wir waren mit<br />

viel Einsatz dahinter und lieferten uns ein Match um die<br />

besseren Noten. Dann ergatterte Max ein Praktikum bei<br />

einem Plattenlabel von Universal Music. Er machte sich<br />

Freunde und bekam eine Halbtagsstelle angeboten, die<br />

kaufmännische Betreuung der A&R-Abteilung. Das<br />

steht für Artist & Repertoire, also die Talenteschmiede.<br />

Als ein Praktikum in der Marketing-Abteilung frei<br />

wurde, holte er mich nach.<br />

Ich bekam danach zwar keine Stelle angeboten, hatte<br />

aber erste Kontakte zu Musikjournalisten in praktisch<br />

allen Redaktionen geknüpft. Das Schreiben von


Presseaussendungen hatte mir Spaß gemacht und ich<br />

war auch nicht völlig talentfrei. Nach und nach<br />

schlitterte ich so in den Musikjournalismus. Ohne dass<br />

mein Vater davon wusste, begann ich für Zeitschriften<br />

zu schreiben. Es war zu Beginn ein wenig zäh, aber wenn<br />

man billig genug ist, bekommt man in jeder Redaktion<br />

den Fuß in die Tür.<br />

Bei meinem Studium ging immer weniger weiter,<br />

während Max immer noch ausgezeichnete Noten<br />

lieferte. Mein Vater begann an mir herumzunörgeln und<br />

mir Max als Vorbild unter die Nase zu halten, und da<br />

wurde mir klar, dass unser Wettlauf um die besseren<br />

Noten auch immer ein Wettlauf um die Anerkennung<br />

meines Vaters gewesen war. Als ich das erkannte, war der<br />

Ofen aus.<br />

Ich habe mein Studium nie wirklich abgebrochen. Ich<br />

machte irgendwann einfach nicht mehr weiter. Als mein<br />

Vater merkte, dass ich den ganzen Tag damit verbrachte,<br />

über Musiker und andere Drogenkonsumenten zu<br />

schreiben, strich er mir die finanzielle Unterstützung,


und von da an lebte ich als freier Journalist. Zu unser<br />

aller Überraschung ging das gar nicht so schlecht. Ich<br />

zog zu Hause aus und reduzierte den Kontakt zu meiner<br />

Familie auf ein Minimum.<br />

Max machte sein Studium fertig, natürlich mit<br />

Auszeichnung. Er schmiss eine riesige Party und lud<br />

mich dazu ein. Ich musste kommen, denn er wollte, dass<br />

unsere Band noch einmal auftrat, zur Feier des Tages.<br />

Tom hatte sein Studium auch bereits abgeschlossen und<br />

Stijn war auf dem besten Weg dazu. Mir bedeutete das<br />

nichts. Ich betreute inzwischen das Ressort Musik und<br />

Film für eine überregionale Tageszeitung und führte<br />

Interviews und schrieb Reportagen für ein paar ganz<br />

renommierte Magazine. Ich war weiter gekommen als sie<br />

alle zusammen.<br />

Max hatte ein kleines Kellerlokal gemietet, mit einer<br />

Bühne und einer recht ordentlichen Musikanlage, und<br />

wir rockten los. Der Saal tobte und wieder hatten alle<br />

Frauen nur Augen für Max, während ich dastand und an<br />

den Saiten zupfte. Wir spielten sieben oder acht


Nummern und dann das letzte Mal in unserem Leben<br />

gemeinsam Johnny B. Goode. Dann kam eine andere<br />

Band. An der Bar hatte Max wenig später eine aparte<br />

Rothaarige in der Linken und ein kaltes Bier in der<br />

Rechten, als er mich fragte: „Wie gefällt dir die Band?“<br />

„Wer? Wir?“<br />

„Nicht wir. Die da!“ Er deutete auf die Typen auf der<br />

Bühne.<br />

„Ganz nett“, sagte ich. „Die neuen Hoffnungsträger von<br />

Universal?“<br />

„Nein, Freunde von mir. Hey Mann, kannst du nicht<br />

mal einen Artikel über die Jungs schreiben?“<br />

„Wir schreiben nicht über Hobby-Bands. Die brauchen<br />

schon einen Plattenvertrag und eine neue Scheibe in den<br />

Läden.“<br />

„Haben sie ja, Kleiner“, sagte Max. „Ich habe mein<br />

eigenes Label gegründet und sie unter Vertrag<br />

genommen. MuchMoreMegaMusic. Das erste Album<br />

erscheint im nächsten Monat. Mein erstes Album.“<br />

Mein Mund klappte auf.


„Na, wie steht's mit dem Artikel?“, fragte er.<br />

#<br />

„Na, wie steht's mit den Artikeln?“ fragte Eugene, als er<br />

sich neben mich setzte.<br />

Ich arbeitete auf seinem Notebook und schrieb gerade<br />

den letzten Satz. „Fertig“, sagte ich.<br />

„Perfektes Timing. Wir sind nämlich schon am<br />

Flughafengelände und in zwei Minuten da.“<br />

Ich lächelte. „Ich verpasse nur selten eine Deadline.<br />

Willst du die Texte lesen?“<br />

Er schüttelte den Kopf. „Da habe ich volles Vertrauen zu<br />

dir.“<br />

Ich klappte das Notebook zu und schnappte meinen<br />

Rucksack. „Na dann“, sagte ich.<br />

Dmitri, der am Steuer saß, stoppte den Bus vor dem<br />

Abflug-Terminal. Anna war nicht zu sehen, sie hatte sich<br />

in ihre Koje zurückgezogen.


Ich schüttelte Eugene die Hand, nickte Dmitri zu und<br />

stieg aus.<br />

„Danke“, sagte Eugene nochmal. Dmitri schloss die Tür<br />

und fuhr los. Ich stand da und sah dem Bus nach, bis er<br />

aus meinem Blickfeld verschwand. Dann nahm ich<br />

meine Tickets und den Reisepass und machte mich auf<br />

die Suche nach dem Check-in- Schalter.<br />

#<br />

Max' Plattenlabel lief von Anfang an gut. Nach einem<br />

Jahr verlegte er seine Firma nach London und mietete<br />

eine kleine Wohnung am Stadtrand. Er stellte zwei oder<br />

drei Leute an, trieb sich nachts auf den Partys der<br />

Musik- und Medienbranche herum und arbeitete<br />

tagsüber hart.<br />

Er schlief nicht sehr viel in dieser Zeit. Alle paar Monate,<br />

wenn ich für ein Interview in London war, gingen wir<br />

essen. Er sah jedes Mal fertiger aus. Komplett


überarbeitet. Aber irgendwie auch zufrieden und stolz<br />

auf das, was er tat.<br />

Und dann, vor zwei Jahren, zog er das große Los. Eine<br />

seiner Bands schaffte es zuerst in die UK Charts und<br />

dann in die Top 10 praktisch aller Länder auf dem<br />

Kontinent. In fünf oder sechs Ländern rangierten sie<br />

wochenlang auf Platz eins. In den USA fiel die Platte<br />

zwar durch, aber Chartplatzierungen in Australien,<br />

Neuseeland, Japan, Thailand und auf den Philippinen<br />

positionierten MuchMoreMegaMusic international.<br />

Daraufhin kaufte einer der großen Medienkonzerne das<br />

Label. Max bekam einen Lastwagen voll Geld und eine<br />

Position im mittleren Management der Mutterfirma.<br />

Selbst in einer sterbenden Branche ist das ein großartiger<br />

Deal.<br />

#<br />

Ich kam am späten Abend in Heathrow an und fuhr mit<br />

der Tube direkt zum Leicester Square. Das Hotel, das


die Promotionstante gebucht hatte, lag in einer<br />

Seitengasse des Platzes. Klein, aber fein, und angesichts<br />

der Location sicher nicht ganz billig.<br />

„Wird das Interview morgen hier stattfinden?“, fragte ich<br />

den adretten jungen Mann an der Rezeption beim<br />

Einchecken.<br />

„Ich verstehe nicht ganz, Sir“, sagte er. „Welches<br />

Interview?“<br />

„Schon gut, vergessen Sie’s. Offensichtlich wurde das<br />

anderswo arrangiert. Gibt es im Zimmer einen<br />

Internetzugang für mein Notebook?“<br />

Er schaute mich an, als käme ich von hinter dem Mond.<br />

„Selbstverständlich, Sir.“<br />

Ich beschloss, ihm kein Trinkgeld zukommen zu lassen.<br />

„Okay, dann erledigen Sie bitte alle Formalitäten,<br />

während ich schon mal hochgehe. Ich unterschreibe den<br />

Papierkram, wenn ich wieder runterkomme“, sagte ich,<br />

und bevor er Einspruch erheben konnte, fügte ich hinzu:<br />

„Sie brauchen mich nicht aufs Zimmer zu begleiten, ich


habe ja praktisch kein Gepäck. Verraten Sie mir einfach<br />

die Nummer und geben Sie mir den Schlüssel.“<br />

„Zweihundertdrei“, sagte er. „Das ist im zweiten Stock.“<br />

„Danke.“<br />

Das Zimmer hatte ein großes Badezimmer, das ich gut<br />

brauchen konnte, ein riesiges Bett und einen winzigen<br />

Schreibtisch. Auf Letzterem stellte ich mein Notebook<br />

ab, startete den Browser und surfte das erste Mal auf die<br />

Website der Soundinistas. Ich redete mir ein, dass ich<br />

nur nachsehen wollte, ob Eugene schon meine Texte<br />

hochgeladen hatte, aber in Wirklichkeit wollte ich Fotos<br />

sehen. Fotos von Anna.<br />

Die Seite war recht simpel aufgebaut: Ein Tourneeplan,<br />

ein paar Fotos, vier oder fünf Lieder als mp3-Dateien<br />

zum Downloaden und ein praktisch leeres Weblog.<br />

Mehr war noch nicht drauf. Die Fotos waren sowohl<br />

technisch als auch fotografisch von niedriger Qualität,<br />

Anna war auf den meisten Bildern nicht mehr als ein<br />

kleiner Batzen Pixel.


Ich startete das Mailprogramm. Zweiunddreißig Mails<br />

in den letzten drei Tagen, und das obwohl ich im<br />

Urlaub war.<br />

Ich überflog die Betreffzeilen im Posteingang. Etliche<br />

Newsletter und Presseaussendungen von Plattenfirmen,<br />

Filmverleihen und Buchverlagen. Ich öffnete keine<br />

davon.<br />

Eine private Party-Einladung, die war schnell gelesen<br />

und vergessen.<br />

Sieben berufliche Party-Einladungen. Gelesen.<br />

Vier weitergeleitete Scherz-Mails. Ungelesen gelöscht.<br />

Ein Chefredakteur, der fragte, ob ich mir binnen einer<br />

Woche eine Story über JLo aus den Fingern saugen<br />

könne, er habe gutes Bildmaterial preiswert angeboten<br />

bekommen. Nein, bin im Urlaub. Nächstes Mal gern.<br />

Ein Chef vom Dienst, der fragte, ob ich den neuen<br />

DreamWorks-Film rezensieren wolle. Er würde mich<br />

voranmelden. Das ist seit Jahren notwendig, weil die<br />

Journalisten-Screenings nicht mehr frei zugänglich sind.


Wegen der Angst vor Mitschnitten und Raubkopien.<br />

Nein, bin im Urlaub. Nächstes Mal gern.<br />

Ein anderer Chefredakteur, der sich für die sechs<br />

Vorschläge für Künstlerporträts bedankte, die ich ihm<br />

hatte zukommen lassen. Zwei gefielen ihm, die hätte er<br />

gerne nächsten bzw. übernächsten Monat im Heft.<br />

Lieber Sowieso, diese Vorschläge habe ich dir doch<br />

schon vor einem halben Jahr geschickt; die neuen Alben<br />

dieser Leute sind inzwischen längst erschienen und bis<br />

nächsten bzw. übernächsten Monat ein alter Hut; alle<br />

anderen Magazine sind jetzt voll mit diesen Typen und<br />

außerdem bin ich derzeit im Urlaub.<br />

Die Mail der Promotionstante. Das Linkin-Park-<br />

Interview würde in einem Hotel hier in der Nähe<br />

stattfinden, das eindeutig noch zwei Klassen über dem<br />

meinen lag. Ich schrieb mir die Adresse des Restaurants<br />

auf, wo Max mich treffen wollte, und suchte mit Google<br />

danach. Laut dem Lageplan auf der Homepage befand es<br />

sich nur wenige Gehminuten entfernt, zwei-,<br />

dreihundert Yards nördlich des Leicester Square.


Celebrity engagements and record deals are celebrated<br />

here, stand in einer Restaurant-Kritik. Klang viel<br />

versprechend. The waiting list for a table can run to a<br />

couple of months which doesn`t make for a very<br />

spontaneous evening out, stand da auch. Aber das galt<br />

offensichtlich nicht für Max. Zugegeben, nun war ich<br />

neugierig.<br />

Dann noch eine Mail, in der ein Knochenmarkspender<br />

für ein achtjähriges Mädchen gesucht wurde und alle<br />

Menschen mit der Blutgruppe AB positiv aufgefordert<br />

wurden, sich für eine Eignungsprüfung bei einem<br />

Krankenhaus in Riga zu melden, dazu eine lange Liste<br />

von Mailadressen mir völlig unbekannten Personen und<br />

die Zusicherung von jemand namens Oleg, dass das kein<br />

Hoax sei und er das Mädchen persönlich kenne und die<br />

Zeit dränge. Gelöscht.<br />

Ich warf einen Blick auf die Uhr und beschloss, dass<br />

meine Zeit nicht so drängte und noch genug da war für<br />

Duschen, Haarewaschen und Zähneputzen. Ich zog<br />

mich aus, drehte das Wasser heiß auf und dachte dabei


plötzlich an Anna, an unseren Sex im Meer und an ihren<br />

verschwitzen, durchtrainierten Bauch.<br />

Ich stieg noch mal aus der Dusche, ging ins Zimmer und<br />

kramte die Videokamera aus meinem Rucksack. Dann<br />

schloss ich sie ans Notebook an und übertrug den Inhalt<br />

der Kassette auf die Festplatte, während ich duschte und<br />

den gestrigen Abend in Gedanken ein zweites Mal<br />

durchlebte.<br />

#<br />

Ich war einige Minuten zu früh im The Ivy. Das Lokal<br />

lag noch näher, als ich gedacht hatte. Ein Kellner führte<br />

mich an den reservierten Tisch. Amy Lee, die Sängerin<br />

von Evanesence, saß am Nebentisch. Ich erkannte sie<br />

sofort, denn ich hatte sie etwa eín Jahr zuvor interviewt.<br />

Es war ein sehr angenehmes Gespräch gewesen, wir<br />

hatten sogar ein wenig geschäkert. Und jetzt saßen wir<br />

hier mitten in London an zwei benachbarten Tischen.<br />

Wie klein doch die Welt ist.


Ich starrte hin, sie warf mir einen flüchtigen Blick zu,<br />

ich nickte und lächelte, aber in dieser Sekunde sah Amy<br />

wieder weg. Peinlich. Sollte ich aufstehen und<br />

rübergehen? Sie saß mit zwei Anzugträgern am Tisch.<br />

Wenn ich rüberging und sie mich nicht erkannte,<br />

konnte das noch tausend Mal peinlicher als gerade eben<br />

werden. Ich entschloss mich, in die andere Richtung zu<br />

blicken.<br />

Das Publikum bestand aus den üblichen Verdächtigen:<br />

Die große uniformierte Masse Yuppies, ein paar<br />

gelangweilte Kinder wohlhabender Eltern, ein paar<br />

Neureiche, die typische Dekoration aus Models und<br />

Werbeagentur-Assistentinnen, das Beiwerk aus Makeup-Artisten,<br />

Stylisten und Friseuren, ein paar von den<br />

unvermeidlichen Japanern, ein paar amerikanische<br />

Touristen, ein paar Deutsche, ein paar Russen und<br />

hinten im Eck Colin Farrell mit einer ganz sicher<br />

bezaubernden Blondine, von der ich allerdings nur den<br />

einwandfreien Rücken sah.


Ich blickte wieder zu Amy, aber sie war in ihr Gespräch<br />

mit den beiden Anzugträgern vertieft. Vielleicht sollte<br />

ich doch rübergehen und sie ansprechen. Wenn sie mich<br />

abblitzen ließ, bevor Max kam, hätte ich nicht allzu viel<br />

verloren. Aber wenn sie mich erkannte und sich mit mir<br />

unterhielt, nur kurz, gerade lang genug, damit Max es<br />

vielleicht noch sehen konnte ... Komm, riskier es, dachte<br />

ich.<br />

Der Kellner kam dazwischen, weil an meinen Tisch. Er<br />

sagte mit näselnder Stimme, Max’ Büro habe angerufen<br />

und gesagt, dass er sich ein wenig verspäte, es täte Max<br />

leid und ich solle schon mal anfangen.<br />

„Nein, danke“, sagte ich. „Ich warte.“<br />

„Wünschen Sie etwas zu trinken, Sir?“<br />

„Ja, ein Glas Wein, bitte.“<br />

Der Kellner gab mir eine Karte, aber ich war zu faul zu<br />

suchen. „Einen roten. Irgendeinen. Und sie brauchen<br />

nicht zu geizen.“ Max würde die Rechnung zahlen.


„Sehr wohl“, nuschelte der Kellner. Er versuchte, es sich<br />

nicht anmerken zu lassen, aber ich bin sicher, dass er<br />

innerlich die Nase rümpfte. Falls das irgendwie geht.<br />

Ich trommelte mit den Fingern auf den Tisch, blickte<br />

nach links, blickte nach rechts, beobachtete Colin<br />

möglichst unauffällig, beobachtete Amy möglichst<br />

unauffällig, starrte zu den Russen und begutachtete die<br />

Werbeagentur-Assistentinnen. Der Kellner brachte den<br />

Wein. Ich nippte daran.<br />

Amy sah auf und lächelte. Ich lächelte zurück. Der<br />

Kellner ging an ihren Tisch. Oh, sie hatte ihn gemeint.<br />

Mir wurde heiß und ich wurde ganz sicher rot. Ich<br />

bückte mich nach meinem unter dem Stuhl stehenden<br />

Rucksack und tat so, als würde ich irgendetwas darin<br />

suchen. Schließlich nahm ich mein Notebook heraus.<br />

Ich nippte am Glas und startete das Video-Programm.<br />

Anna erschien auf der Bühne. Einen Moment überlegte<br />

ich, ob ich die Lautstärke so weit raufschrauben sollte,<br />

dass auch Amy die Musik hörte. Vielleicht ...


„Sir, können Sie das ein wenig leiser stellen?“, nuschelte<br />

der Kellner.<br />

„Klar“, sagte ich. „Und bringen Sie mir noch ein Glas<br />

Wein. Vom selben. War ganz gut.“<br />

„Sehr wohl, Sir.“<br />

So ein Superduperarschloch. Ich fischte meine<br />

Kopfhörer aus dem Rucksack.<br />

Max glitt zehn Minuten später auf den Sessel neben mir.<br />

Er lächelte mich an, klopfte mir auf die Schulter und sah<br />

einfach gut aus. Gut und beneidenswert. Ich konnte<br />

nichts machen: Ich hasste und ich liebte ihn.<br />

Ich nahm die Kopfhörer ab.<br />

„Hey Mann, was ist denn das für ein Provinzband-<br />

Video“, fragte er.<br />

„Das sind ...“<br />

„Wie geht’s dir?“<br />

„Okay. Ich hab Urlaub.“<br />

„Oh Gott, ich wünschte, ich könnte mir auch mal<br />

wieder Urlaub leisten. Nur drei Tage irgendwo am<br />

Meer. Wie lange hast du Urlaub?“


„Sechs Wochen“, sagte ich und bemühte mich, es cool<br />

klingen zu lassen, aber ich spürte schon die Unsicherheit<br />

in meiner Stimme.<br />

„Wow, dass du dich so lange vor der Arbeit drücken<br />

kannst. Gehst du niemandem ab?“ Wie ein Schlag in die<br />

Rippen. Mir blieb die Luft weg, während Max unbeirrt<br />

weitersprach: „Ich würde das ja auch gerne machen, aber<br />

zurzeit ist das nicht drin. Ich stecke bis über beide<br />

Ohren in Arbeit. Ein neues Projekt, das ich entwickelt<br />

habe. Ich bin hier wohl für längere Zeit<br />

unabkömmlich.”<br />

Neuer Rekord. Diesmal hatte er es schon in weniger als<br />

einer Minute geschafft, dass ich mich als Loser fühlte.<br />

„Niemand ist unabkömmlich“, sagte ich schwach.<br />

„Hey Mann, lass uns nicht von der Arbeit reden“, sagte<br />

er, und es klang wie: Da kannst du ohnehin nicht<br />

mithalten. „Erzähl mir lieber von deinem Privatleben.“<br />

Da gab’s auch nicht viel zu erzählen. Ich war solo und<br />

klapperte abends mehrmals pro Woche<br />

Plattenpräsentationen, Vernissagen und Premierenfeiern


ab, besoff mich dort mit billigem Sekt und versuchte,<br />

Backgroundsängerinnen oder Nachwuchsmodels<br />

abzuschleppen. Immer öfter ging ich auch auf<br />

Produktpräsentationen (das neueste Nokia, der neueste<br />

Mercedes, das neueste Sony Vaio), weil da der Schampus<br />

teurer und die Mädchen billiger waren. Da gab’s meist<br />

eine nicht zu üppige Marketingassistentin, die sich recht<br />

leicht in ein Gespräch über ihre Chancen als Model<br />

verwickeln und nebenbei abfüllen ließ. Wenn man dabei<br />

schnell genug war, dachte sie erst wieder an ihren<br />

Verlobten – meist ein daheim vor dem Fernseher<br />

wartender Bankkaufmann –, wenn alles vorbei war. Die<br />

Trefferquote war ganz gut. Aber war das Ganze gut<br />

genug für Max?<br />

„Da entwickelt sich grad was“, sagte ich.<br />

„Ach ja? Schön! Erzähl!“ Er schien ehrlich interessiert zu<br />

sein.<br />

Jetzt musste ich nachlegen. Ich nickte zum Notebook.<br />

Das Video vom Konzert lief noch.<br />

Anna.


Max nickte bedächtig. Sie schien ihn nicht vom Hocker<br />

zu reißen. Aber man konnte auch kaum etwas erkennen.<br />

„Warte“, sagte ich. „Das ist in einem dunklen Keller<br />

gefilmt.“<br />

Ich suchte die Stelle mit der Schweigeminute. Da hatte<br />

ich eine Großaufnahme von Anna gemacht, von der<br />

Stirn bis zum Busen. Sie hatte die Augen geschlossen<br />

und lauschte der Stille, ihr Brustkorb hob und senkte<br />

sich. Ich stoppte das Video.<br />

„Hübsch“, sagte Max. „Sehr hübsch, wirklich. Und wie<br />

weit seid ihr?“<br />

„Na ja, es ist ... also ... wir sind noch nicht ... aber wir<br />

haben schon ...“<br />

„Verstehe.“ Er lächelte.<br />

„Sie tourt derzeit durch Italien.“<br />

„Deshalb hast du sechs Wochen Urlaub genommen“,<br />

sagte Max und nickte verstehend.<br />

„Genau“, sagte ich. Es war eine Lüge, aber es war auch<br />

eine gute Erklärung. Plötzlich war ich kein Loser mehr.<br />

Nur noch Hals über Kopf verliebt.


Der Lackaffe trat an unseren Tisch.<br />

Wir bestellten etwas zu essen und eine Flasche Wein.<br />

Max schien von meiner Wahl nicht ganz überzeugt und<br />

fragte mich, ob ich mit einem anderen einverstanden sei.<br />

„Of course“, sagte ich.<br />

„Of course“, äffte mich der Kellner nach. Aber vielleicht<br />

bildete ich mir das nur ein.<br />

„Was tut sich sonst zu Hause?“, fragte Max.<br />

„Alles gut“, sagte ich. „Alle sind wohlauf.“<br />

„Ich weiß, ich habe erst in der Vorwoche mit Papsch<br />

telefoniert. Er hat mich angerufen.“<br />

Es verwirrte mich immer noch, wenn Max meine Eltern<br />

Mamsch und Papsch nannte. Es machte mich<br />

eifersüchtig. Wann hatte mein Vater mich das letzte Mal<br />

angerufen? Ich wohnte zwar in derselben Stadt, aber ich<br />

sah ihn nur selten.<br />

„Wie geht’s der ganzen Bande?“<br />

Die ganze Bande, das waren unsere Freunde aus<br />

Jugendtagen. Max meinte damit alle, einfach alle, mit<br />

denen wir je zu tun gehabt hatten. Vor allem


interessierten ihn immer seine Ex-freundinnen. Keine<br />

Ahnung, warum.<br />

„Keine Ahnung.“ Das antwortete ich immer. Natürlich<br />

wusste ich über die meisten bestens Bescheid. Zwei<br />

waren derzeit schwanger, eine machte ein<br />

Auslandssemester in Tokio und die kleine blonde<br />

Fionnuala arbeitete immer noch im Irish Pub ihres<br />

Vaters. Sie war inzwischen ziemlich fett und angeblich<br />

würde sie den Laden bald übernehmen. Ich wusste das<br />

alles. Aber das zuzugeben bedeutete auch, immer noch<br />

dort herumzuhängen, wo ich herkam, während Max in<br />

London lebte und im selben Lokal zu Abend aß wie<br />

Amy Lee von Evanesence. Ich war froh, dass er Amy<br />

nicht auch noch kannte.<br />

„Keine Ahnung“, sagte ich noch einmal.<br />

„Irgendwann komme ich mal für eine Woche heim und<br />

besuche alle“, sagte Max. „Ein kleiner Nostalgie-<br />

Urlaub.“<br />

„Ach, Nostalgie ist auch nicht mehr das, was sie mal<br />

war“, sagte ich und Max lachte.


Das Essen wurde serviert. Der Lackaffe öffnete die<br />

Weinflasche, ließ Max am Korken schnuppern und<br />

schenkte uns dann ein.<br />

„Aber ich kann demnächst ohnehin keinen Urlaub<br />

machen“, sagte Max, während er kaute.<br />

Das hatte er schon erwähnt. Ich hatte keine Lust, ihn<br />

nach dem Warum zu fragen. „Wie steht es um dein<br />

Privatleben?“<br />

„Großartig“, sagte er.<br />

Was auch sonst, dachte ich.<br />

„Ich bin bis über beide Ohren verliebt. Sie heißt Joanna<br />

und wir sind seit etwas mehr als einem halben Jahr ein<br />

Paar. Sie ist perfekt und würden wir nicht<br />

zusammenarbeiten, wäre sie schon bei mir eingezogen.<br />

Wir müssen etwas auf die Firmenpolitik achten, du<br />

verstehst? Willst du ein Foto sehen?“<br />

Habe ich eine Wahl?, dachte ich und sagte: „Klar, zeig<br />

her!“<br />

Er fischte sein Portemonnaie aus dem Sakko und holte<br />

ein Foto hervor. Sie war schwarzhaarig, blauäugig und


umwerfend. Aufgesteckte Haare, Perlenkette, teure<br />

Armbanduhr. Eine Frau mit Klasse – und wohl auch<br />

Anspruch. Sie kostete ihn sicher ein Vermögen.<br />

„Wow“, sagte ich. „Wo hast du die denn her?“<br />

„Sie ist Anwältin, spezialisiert auf Copyright und<br />

Patentrecht. Intellectual Property, wie man so schön<br />

sagt. Eine der absoluten Kapazitäten auf diesem Gebiet,<br />

obwohl sie noch keine dreißig ist. Sie arbeitet für unsere<br />

Firma.“<br />

„Ah“, sagte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst<br />

sagen sollte. Anwältin. Spezialistin. Kapazität. Vielleicht<br />

kostete nicht sie ihn ein Vermögen, sondern umgekehrt.<br />

Mein Vater würde sie lieben, dachte ich, sagte aber<br />

nichts.<br />

„Sie wird mich zum ganz großen Zaster führen“, sagte<br />

Max.<br />

„Willst du sie heiraten?“<br />

Er lachte und schenkte uns Wein nach. „Das vermutlich<br />

auch. Aber wir haben gemeinsam ein neues Business-<br />

Modell entwickelt. Vorigen Monat haben wir es oben


präsentiert. Ganz oben. Dem Vorstand der Holding.<br />

Und eine Woche später haben sie uns eingeladen, es<br />

auch dem Aufsichtsrat zu präsentieren.“ Er strahlte übers<br />

ganze Gesicht. „Noch eine Woche später ist das<br />

Startsignal gekommen.“<br />

„Das Startsignal?“<br />

„Die Firma gründet ein neues Tochterunternehmen.<br />

Joanna und ich werden Geschäftsführer. Sie kümmert<br />

sich um das rechtliche Zeug, ich um alles, was mit der<br />

Musik zu tun hat. Und wir sind gewinnbeteiligt. Wir<br />

werden reich, Mann! Nicht nur so ein bisschen, sondern<br />

richtig reich. Ich rede nicht von Jaguar und Penthouse,<br />

ich rede von Yacht und Finca, verstehst du?“<br />

„Ich will dich ja nicht von deiner Wolke runterholen,<br />

Mann“, log ich, „aber falls es dir nicht aufgefallen ist:<br />

Dem Musikbiz geht’s beschissen.“<br />

„Das stimmt. Aber genau das ist unsere Chance.“<br />

„Was ist an eurem Label denn so anders?“<br />

Er nahm einen Schluck vom Roten. „Es ist kein Label.<br />

Nicht im klassischen Sinn. Hör zu, ich kann dir nicht


mehr verraten, wir brauchen noch ein paar Tage<br />

Vorbereitung, bevor wir an die Öffentlichkeit gehen.“<br />

„Also alles top-secret. Und das in dieser Branche …“<br />

„Ich weiß, ich weiß. Ich würde es dir ja auch wirklich<br />

gern verraten, aber ich darf noch nicht. Derzeit werden<br />

gerade tausende Verträge geändert. Eher sogar<br />

hunderttausende. Und da übertreibe ich nicht.<br />

Deswegen ist Joanna auch nicht hier. Sie hätte gerne<br />

jemanden von meiner Familie kennengelernt, aber<br />

zurzeit arbeitet sie Tag und Nacht durch.“<br />

„Und du machst frei.“<br />

„Ich arbeite auch seit Wochen durch. Tagsüber im alten<br />

Job, nachts an der neuen Idee. Das ist mein erster freier<br />

Abend seit Ewigkeiten. Hey Mann, ich wollte dich<br />

sehen“, sagte er mit einem gewinnenden Lächeln. „Das<br />

ist meine letzte Woche bei meinem alten Label, die letzte<br />

Woche, in der ich Zugriff auf die Promotion-Abteilung<br />

hatte und anordnen konnte, dich verdammt noch mal<br />

aus Italien einzufliegen. Ab nächster Woche habe ich<br />

keine Promotionstanten mehr zur Verfügung.“


„Keine Promotions?“<br />

„Keine Promotions. Bis auf ein kleines Eröffnungsfest,<br />

aber das zählt nicht.“<br />

„Das klingt ungewöhnlich.“<br />

„Es ist ungewöhnlich. Und irgendwie werden mir all die<br />

kleinen Vorteile, die eine Promotion-Abteilung nebenbei<br />

bietet, auch fehlen. Aber der Aufsichtsrat will das Projekt<br />

lieber ohne viel Aufsehen abwickeln.“<br />

„Das entspricht ja ganz deinem Charakter“, sagte ich mit<br />

einem sarkastischen Unterton.<br />

Max verzog das Gesicht. „Ja, nicht wahr? Unsere Idee<br />

wird dennoch einschlagen wie eine Bombe. Und in<br />

einem Jahr fliege ich dich einfach auf eigene Kosten ein,<br />

wann immer ich dich sehen will. Und dann bringe ich<br />

dich in einem noch besseren Hotel unter, im besten<br />

Hotel der Stadt bringe ich dich dann unter!“<br />

„Danke, ich wohne nicht schlecht“, sagte ich. „Und ich<br />

kann mir das Flugticket auch selbst leisten, wenn ich<br />

dich sehen will.“<br />

„Natürlich kannst du das“, sagte er.


„Komm, verrate es mir“, sagte ich.<br />

Er zögerte, setzte zu einer Erklärung an, zögerte noch<br />

mal, schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht ...“<br />

„Ich muss aufs Klo“, sagte ich. Er würde reden, wenn er<br />

die Zeit dazu bekam.<br />

Aus dem Film π:<br />

„This is insanity, Max!“<br />

“Or what if it’s genius?”<br />

#<br />

#<br />

Als ich zurückkam, hatte Max die Kopfhörerknöpfe in<br />

den Ohren stecken und betrachtete das Video. Ich nahm<br />

Platz. Er zwinkerte mir zu. Anna sang, die Hunnen<br />

hüpften.


Er lächelte. „Eine Punk-Coverversion von Walking On<br />

Sunshine, wie originell.“ Es klang sarkastisch. „Das ist<br />

gut, damit werde ich in Zukunft mein Geld machen.“<br />

„Mit Konzertvideos?“<br />

Er schüttelte den Kopf. „Na gut, ich erzähle dir grob,<br />

worum es geht. Aber du musst schwören, es für dich zu<br />

behalten.“<br />

„Ich kann schweigen wie ein Journalist.“<br />

„Wehe“, drohte er.<br />

Ich sagte: „Okay, wir reden off records. Vertrauliches<br />

Hintergrundgespräch.“<br />

„Damit habe ich auch schon schlechte Erfahrungen<br />

gemacht“, seufzte er.<br />

Ich war fertig mit dem Essen und schob den Teller weg.<br />

Max tat dasselbe. Ich bot ihm eine Zigarette an. „Kann<br />

ich dich bestechen?“<br />

„Klar.“ Er zückte ein Feuerzeug, wir sogen ein paar Züge<br />

ein. Dann sagte er: „George Harrison hat uns auf die<br />

Idee gebracht.“<br />

„Du kanntest George Harrison?“


„Nein. Joanna hat ihn mal auf einer Party getroffen, aber<br />

sie kannte ihn auch nicht wirklich. Sie behauptet, er<br />

wollte sie ins Bett kriegen. Aber das behauptet sie von<br />

jedem Musiker, den sie mal auf einer Party getroffen hat.<br />

Sogar von Mick Jagger.“<br />

„Völlig unglaubwürdig“, befand ich.<br />

Er lächelte. „Eben. Aber darum geht’s nicht. Du kennst<br />

Harrisons Song My Sweet Lord.“<br />

Das war eine Feststellung. Jeder kennt den Song.<br />

„Kennst du auch die Geschichte mit dem Prozess um<br />

dieses Lied?“<br />

„Ich kann mich dunkel erinnern“, sagte ich. „Harrison<br />

hat Teile des Songs abgeschrieben, oder?“<br />

„Nicht ganz. My Sweet Lord erschien auf Harrisons<br />

berühmtestem Soloalbum, nämlich ...“<br />

„All Things Must Pass.“<br />

„Richtig. Ein ziemlich dummer Titel für ein<br />

Meisterwerk, das die Ewigkeit überdauern wird. Es ist<br />

einfach grandios.“


„Und das erste Dreifach-Album der Geschichte“, sagte<br />

ich.<br />

„Tatsächlich? Das wusste ich gar nicht.“<br />

„Tja, als Musikjournalist ...“<br />

„Jedenfalls wurde aus dem Album die Nummer My<br />

Sweet Lord als Single ausgekoppelt.“<br />

„Seine erste Solo-Single. Der erste Nummer-1-Hit eines<br />

Ex-Beatle in den USA. Ein riesiger Erfolg.“<br />

„Das war 1970.“<br />

„Ein wenig vor unserer Zeit“, sagte ich.<br />

„Und dann wurde er geklagt.“<br />

„Von den Rubettes, glaube ich.“<br />

Max schüttelte den Kopf. „Von den Chiffons. Genauer<br />

gesagt: von ihrem Manager und Produzenten Ronald<br />

Mack. Die Chiffons hatten 1962 einen Hit namens He’s<br />

So Fine.“<br />

„Genau, das war’s“, sagte ich und summte den Refrain.<br />

„Ich wusste, ich hab die Geschichte schon mal gehört.<br />

Die Ähnlichkeit zwischen den Songs ist ja auch wirklich<br />

offensichtlich.“ Ich summte den Refrain noch einmal,


diesmal etwas schneller, und schon war ich mitten in<br />

Harrisons Hindu-Gospel.<br />

„Richtig. Die Nummern sind nicht identisch, aber sehr,<br />

sehr ähnlich. Das Original hat zwei Motive, die je<br />

viermal auf-einander folgen. Bei Harrison folgt das<br />

zweite Motiv nur dreimal. Er hat statt der vierten<br />

Wiederholung eine Übergangspassage angehängt.“<br />

Max holte einen Kugelschreiber aus seinem Jackett und<br />

schrieb auf die Serviette:<br />

He’s So Fine: A-A-A-A-B-B-B-B<br />

My Sweet Lord: A-A-A-A-B-B-B-P<br />

Er zog den jeweils letzten Buchstaben, das sich<br />

unterscheidende musikalische Motiv, mit dem<br />

Kugelschreiber mehrfach nach. „Wenn du beide Songs<br />

parallel zueinander hörst und darauf achtest, dann ist<br />

dieser kleine Unterschied plötzlich ganz eindeutig.“<br />

„Und Harrison verlor dennoch den Prozess?“


„Ja, er verlor ihn. Aber dass er verloren hat, wäre noch<br />

nicht wichtig. Warum er verloren hat, das ist<br />

bemerkenswert. Harrison hat im Prozess behauptet, er<br />

habe den Song nicht gestohlen. Er habe mit seiner Band<br />

nach Konzerten gejammt und dabei sei die Melodie<br />

plötzlich aufgetaucht. Der alte George sagte, man habe<br />

damit herumexperimentiert, wieder und wieder, immer<br />

wieder. Dabei muss sich auch diese Passage<br />

eingeschlichen haben. Er sagte, während der<br />

Experimente habe er gesungen, was ihm eben gerade<br />

einfiel.“<br />

„Das war nicht gerade viel“, sagte ich, und sang leise:<br />

„My sweet Lord, hm, my Lord, hm, my Lord ...“<br />

„Nun, der Richter hat Harrison geglaubt, dass er den<br />

Song nicht bewusst gestohlen hat. Er ging stattdessen<br />

davon aus, dass Harrison die Melodie unbewusst kopiert<br />

hatte. Die Chiffons waren mit ihrer Version zur selben<br />

Zeit in der Hitparade, als sich die Beatles gerade auf dem<br />

Weg nach oben befanden. Die Beatles müssen das Lied<br />

gekannt haben. George Harrison muss das Lied gekannt


haben. Und Jahre später, beim Jammen mit seiner neuen<br />

Band, hat es sich eingeschlichen. So sah es zumindest der<br />

Richter.“<br />

„Und?“<br />

„Der Richter entschied, dass auch unbewusste<br />

Verletzungen von Copyrights nicht straffrei sind, und<br />

verurteilte Harrison. Dieser musste dem Produzenten<br />

der Chiffons den größten Teil der Einnahmen abtreten.“<br />

„Unbewusste Verletzungen? Und was ist, wenn jemand<br />

zufällig ein ähnliches Lied komponiert?“<br />

„Das ist nebensächlich. Was zählt: Dieses Urteil ist ein<br />

Präzedenzfall. Alle Gerichte in Amerika halten sich<br />

daran, wenn sie ähnliche Fälle zu verhandeln haben, und<br />

Amerika ist der größte Musikmarkt der Welt. Auch<br />

unabsichtliche Coverversionen verletzen das Copyright<br />

des Originals, das ist das Wichtige. Mittlerweile setzt<br />

sich diese Rechtsauslegung auch schon in Europa<br />

durch.“


„Und was hat das jetzt mit deiner Geschäftsidee zu tun?<br />

Willst du Komponisten eine Versicherung gegen<br />

unbewusstes Stehlen von Oldie-Melodien anbieten?“<br />

„Ganz im Gegenteil: Wir werden ihnen Rechnungen<br />

schicken!“, sagte Max und nahm genüsslich einen letzten<br />

Zug von seiner Zigarette, bevor er sie ausdämpfte.<br />

„Ich verstehe nicht.“<br />

Max blickte sich um, vergewisserte sich, dass niemand<br />

uns zuhörte, und beugte sich dann nach vorne.<br />

„Schwöre, dass du das niemandem weitererzählst“,<br />

flüsterte er.<br />

Ich beugte mich auch näher zu ihm. „Ich schwöre.“ Das<br />

kostete ja nichts.<br />

„Es ist ein dreistufiger Business-Plan. So etwas wie ein<br />

Welteroberungsplan, aber auf musikalischem Terrain.<br />

Wir reißen uns alles unter den Nagel.“<br />

„Was ‚alles’?“<br />

„Alles. Rock. Pop. Reggae. Hip-Hop. Was immer du<br />

willst. Die gesamte Musik der Zukunft.“<br />

„Klingt gut“, sagte ich. „Und wie macht ihr das?“


Max blickte sich noch mal um. Seine Augen bewegten<br />

sich unstet, strahlten Nervosität und Aufregung aus,<br />

auch wenn er mich fixierte.<br />

„Kennst du dich mit dem Copyright aus?“, fragte er.<br />

„Mit der gesetzlichen Grundlage?“<br />

„Kaum.“<br />

„Also, dann eine ganz einfache Einführung. Jedes Land<br />

hat seine eigene rechtliche Regelung. Vor allem zwischen<br />

Europa und den USA gibt’s noch Unterschiede, aber die<br />

werden immer kleiner, weil die Musik- und die<br />

Filmindustrie seit Jahren auf Vereinheitlichungen<br />

drängen. Unser Geschäftsmodell funktioniert in<br />

Nordamerika genauso wie in der EU und Australien und<br />

Südamerika. Wir brauchen nur jeweils spezielle<br />

Verträge. Frag mich nicht nach den Details, wie auch<br />

immer, das Copyright ist nicht ein einziges Recht,<br />

sondern ein ganzes Bündel von Rechten. Man müsste im<br />

Plural davon reden: die Copyrights. Wenn du die Rechte<br />

an einem Musikstück hast, dann kannst du es auf eine


CD pressen, live damit auftreten, es dem Soundtrack<br />

eines Filmes beifügen und so weiter.<br />

Das Gesetz verbietet allen anderen, diese Dinge zu tun.<br />

Daher kannst du dieses Bündel von Rechten an sie<br />

verkaufen, abtreten oder sie lizenzieren. Eines dieser<br />

Rechte, die das Copyright umfasst, ist das Recht,<br />

derivative Arbeiten herzustellen.“<br />

„deri...was?“<br />

„Das Werk zu modifizieren. Damit herumzuspielen, es<br />

zu ändern und weiterzuentwickeln.“<br />

„Also es zu covern.“<br />

„Genau. Oder zu sampeln. Oder zu remixen. Letztlich<br />

sind das alles ähnliche Prozesse. Etwas Altes wird Teil<br />

von etwas Neuem. Darum geht’s in der ganzen<br />

Popkultur.“<br />

„Coverversionen sind ein gutes Geschäft“, sagte ich.<br />

„Ja, Coverversionen sind sehr einträglich – und kurze<br />

Samples noch viel mehr. Die Hitparaden sind voll<br />

damit. Und das ist unser erster Schritt zur<br />

Weltherrschaft“, sagte Max. „Wir übernehmen und


verwalten von allen Songs unseres Konzerns das Recht,<br />

Covers und Samples zu produzieren oder zu lizenzieren.<br />

Alle anderen Teile des Copyrights bleiben bei den Labels<br />

oder den Künstlern oder wer immer auch der<br />

Eigentümer ist. Sie können weiterhin ihre Oldies auf<br />

Best-of-Alben sammeln, sie in Werbespots verwenden,<br />

zum Download freigeben ... was auch immer. Diese<br />

Rechte bleiben bei ihnen. Nur eines wird von uns<br />

verwaltet: das Recht, derivative Arbeiten herzustellen.<br />

Wir kümmern uns darum zentral für alle Labels des<br />

Konzerns.“<br />

„Klingt nach einer Menge Material, das ihr da<br />

verwaltet“, sagte ich.<br />

„Zur Firma gehören inzwischen beinahe zweihundert<br />

Labels. Wir schätzen, dass mehr als 65.000 Bands und<br />

Künstler seit den Sechzigern für diese Labels gearbeitet<br />

haben, aber so genau wissen wir das noch nicht. Und wir<br />

haben zurzeit gar keine Vorstellung davon, wie viele<br />

Songs das ganze Repertoire umfasst.“


„Kein Wunder, dass Joanna nicht hier ist, das klingt<br />

tatsächlich nach einer Menge Papierarbeit.“<br />

„Es ist halb so schlimm. Zum Glück müssen wir das<br />

nicht Lied für Lied machen. Joanna hat einen<br />

Mustervertrag entworfen und bei den meisten Labels<br />

reicht das, um alles in Bausch und Bogen zu<br />

übernehmen. Verhandlungen können wir uns sparen,<br />

weil die Labels dem Konzern gehören und die<br />

Anweisung von ganz oben kommt. Wir sind schon fast<br />

fertig. Joanna und ihr Team kümmern sich nur noch um<br />

ein paar besonders heikle Fälle, wo die Rechte ungeklärt<br />

sind. Die Büroräume werden bereits hergerichtet, eine<br />

Personalagentur wählt schon die Mitarbeiter für die<br />

meisten Standardaufgaben aus. Sekretärinnen,<br />

Sachbearbeiter ... vieles von dem, was zu tun sein wird,<br />

ist ja ganz biedere Arbeit ohne den Glamour des<br />

Showbiz.“<br />

„Okay“, sagte ich lang gezogen. „Klingt in meinen<br />

Ohren durchaus nach einem interessanten Projekt. Ich<br />

weiß nicht, ob sich damit viel Geld machen lässt – aber


zwei hoch bezahlte Geschäftsführerposten sind sicher<br />

drinnen.“<br />

„Psst, nicht so laut“, zischte Max. „Das ist ja nur der<br />

erste Schritt. Der zweite folgt in ein paar Tagen, sobald<br />

wir offiziell unsere Arbeit aufgenommen haben. Dann<br />

gibt’s eine Pressekonferenz und eine Launch-Party, auf<br />

der jede Menge Oldies aus unserem Repertoire gespielt<br />

werden. Die ganze Branche wird da sein. Die Europäer<br />

und die Amerikaner. Und am nächsten Tag, noch bevor<br />

sie nüchtern sind, werden wir ihnen allen anbieten, sich<br />

an unserem Modell zu beteiligen. Wir werden in den<br />

nächsten Monaten mit dem Scheckheft durch die<br />

Gegend laufen und die Sample-Rechte von<br />

hunderttausenden Songs kaufen. Von kleinen Labels,<br />

von großen Labels, von Sixties-Pop und Eighties-Rock,<br />

und, und, und. Einfach von allem. Wir haben auch ein<br />

Geschäftsmodell für die entwickelt, die dieses Recht<br />

nicht verkaufen wollen. Die können ihre Songs für eine<br />

Gebühr bei uns einbringen. Sie behalten alle Rechte und


wir verwalten nur dieses eine Recht, um das es uns<br />

geht.“<br />

„Eine zentrale Verwaltungsstelle für Coverversionen und<br />

Samples“, fasste ich zusammen. „Klingt ganz okay. Aber<br />

nach Weltherrschaft klingt das noch nicht.“<br />

Max rieb sich die Hände. „Weil du die Konsequenzen<br />

nicht durchschaust, Kleiner. Es geht um weit mehr als<br />

ein paar Cent dafür, dass jemand Walking On Sunshine<br />

covern darf.“<br />

„Und was wären die Konsequenzen?“<br />

Max deutete auf mein Notebook.<br />

Anna.<br />

Max griff zur Maus und bewegte den Regler, der die<br />

aktuelle Stelle des Videos anzeigte. Er schob ihn herum,<br />

suchte etwas. Am Ende der Aufnahme klickte er auf<br />

Play. „Was macht das Mädchen da?“, fragte er.<br />

„Sie hält eine Schweigeminute. Es war der Todestag<br />

ihrer …“<br />

„Nein“, sagte Max. „Weißt du, was sie macht? Sie<br />

verletzt unsere Rechte.“


„Sie verletzt eure Rechte? Aber sie macht doch gar<br />

nichts!“<br />

„Oh doch, sie macht etwas. Sie macht Stille.“<br />

„Das verstehe ich nicht.“<br />

„Du kennst John Cage.“ Das war wieder eine<br />

Feststellung.<br />

„Schon mal gehört. Der hat Klavier- und Percussion-<br />

Stücke gemacht, oder?“<br />

„Ein Experimentalmusiker. Blütezeit in den Fünfzigern,<br />

glaube ich. Vielleicht auch früher. Er war bei einem<br />

unserer Labels unter Vertrag. Ein großer Künstler, aber<br />

wenn ich raten müsste, würde ich sagen: miserable<br />

Verkaufszahlen.“<br />

„Was hat das mit Anna zu tun?“<br />

„Anna heißt sie also ... Cage hat ein Stück namens 4’33’’<br />

komponiert. Er nannte es zumindest eine Komposition,<br />

aber eigentlich war es eine Performance. Dabei geht ein<br />

Pianist auf die Bühne, setzt sich ans Klavier und spielt<br />

keinen einzigen Ton. Vier Minuten dreiunddreißig


Sekunden lang herrscht Stille. Dann ist das Stück<br />

vorbei.“<br />

„Kunst“, sagte ich.<br />

„Idiotisch“, sagte Max. „Aber wir haben die Rechte<br />

daran. Und wenn du mich fragst, dann ist das, was deine<br />

Kleine da macht, eine Coverversion.“<br />

„Das ist idiotisch“, sagte ich.<br />

Max zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Aber ihre<br />

Performance ist doch eindeutig ähnlich zu dem Stück,<br />

das Cage komponiert hat. Da es eine Schweigeminute<br />

war, ist ihre Version eben etwas kürzer, aber ansonsten<br />

ist alles gleich. Ein derivatives Werk. Da hat Harrison<br />

bei My Sweet Lord das Original noch mehr verändert als<br />

sie bei diesem Auftritt.“<br />

Ich schnaubte. „Sie hat sogar den Text unverändert<br />

gelassen. Welch Skandal.“<br />

„Ja, nicht wahr?“ Er lehnte sich selbstzufrieden zurück<br />

und schmunzelte. „Wir werden Coverversionen<br />

entdecken, wohin wir auch blicken. Die Kassen werden


so klingeln, dass wir mit dem Geldzählen nicht<br />

nachkommen werden.“<br />

„Kein Richter der Welt würde euch recht geben“, sagte<br />

ich.<br />

Max lachte, und dabei blieb er nicht so leise wie bisher.<br />

„Oh doch“, sagte er. „Was für einen Anwalt könnten<br />

diese Leute sich schon leisten? Joanna baut eine<br />

Rechtsabteilung auf, in der ein paar hundert Anwälte<br />

und Rechtsassistenten arbeiten werden. Spezialisten, die<br />

tagaus, tagein an nichts anderem arbeiten als an<br />

Copyright-Fällen. Die nehmen deine kleine Anna und<br />

ihre Spaghetti-Punks auseinander, ohne dass die wissen,<br />

wie ihnen geschieht.“<br />

„Das sind keine Italiener“, sagte ich. „Und außerdem,<br />

das ist vollkommen lächerlich.“<br />

„Reg dich ab. Solange sie diese Schweigeminute nicht ins<br />

Internet stellt oder auf eine CD presst, ist uns völlig egal,<br />

was dein Mädchen auf der Bühne macht. Wir haben im<br />

Moment Besseres zu tun als irgendeiner kleinen, durch<br />

die Provinz tingelnden Band nachzuschnüffeln, um ein


paar Dollar rauszupressen. Aber es wäre durchaus ein<br />

interessanter Musterprozess. Ich glaube, Joanna hätte da<br />

ihre Freude dran.“<br />

Ich war sauer auf Max, mehr als sonst. Erstens, weil ich<br />

irgendwie das Gefühl hatte, Anna verteidigen zu müssen.<br />

Aber da war, zweitens, noch etwas anderes: Ich konnte<br />

mir vorstellen, dass Max reich wurde. Nicht dass ich<br />

schon an seinen Plan glaubte, aber ich begriff, dass er<br />

einen fett dotierten Managervertrag erhalten hatte. Und<br />

vielleicht noch ein paar hunderttausend für das Konzept.<br />

Der bloße Gedanke daran nervte mich.<br />

Da sagte er: „Wir werden hunderte Leute beschäftigen,<br />

die nichts anderes tun müssen als Musik hören. Das<br />

wird meine Abteilung sein. Alles, was irgendwo auf der<br />

Welt auf CD oder im Internet veröffentlicht wird,<br />

werden wir uns anhören. Alles. Wir suchen nicht nur<br />

nach offensichtlichen Coverversionen, sondern auch<br />

nach Teilen, sogar nach Spurenelementen. Dieselbe<br />

Bassline, ein Gitarrenriff, ein sich wiederholendes Motiv,<br />

ein verwandter Text ... Wenn wir Ähnlichkeiten mit


einem Werk entdecken, dessen Rechte wir verwalten,<br />

dann schicken wir den Nachahmern einen Lizenzvertrag<br />

und eine Rechnung. Das geht ganz formlos.“<br />

„Und wenn die Empfänger nicht zahlen, dann kommt<br />

Joannas Abteilung ins Spiel?“<br />

„Exakt. Dann werden wir klagen. Aber glaube mir, die<br />

meisten werden freiwillig zahlen.“<br />

Ich verstand. „Ihr werdet schon bei der kleinsten<br />

Ähnlichkeit eine Rechnung schicken und mit eurer<br />

ganzen Armee von Rechtsanwälten drohen.“<br />

„Genau. Wenn wir etwas entdecken, das auch nur<br />

vielleicht unsere Rechte berührt, werden wir schon aktiv.<br />

Im Zweifelsfall für uns. Wenn es jemand auf einen<br />

Prozess ankommen lassen will, können wir unsere<br />

Chancen ja noch einmal bewerten, bevor wir wirklich<br />

klagen. Was zählt, ist die Masse. Wir werden darin<br />

perfekt sein, kleine, unscheinbare Zitate zu entdecken.<br />

Vier, fünf identische Noten werden da schon reichen.<br />

Und vergiss nicht das Harrison-Urteil: Es reicht, wenn


die Ähnlichkeit unbewusst entstand. Wir müssen keine<br />

Absicht nachweisen können.“<br />

„Ihr werdet schlechte Presse haben, man wird sagen, ihr<br />

bringt die Songwriter um.“<br />

„Also erstens sind wir schlechte Presse gewöhnt und<br />

zweitens: Jeder ist frei, etwas völlig Neues zu schaffen.“<br />

„Popmusik lebt von Zitaten, das weißt du. Du hast es<br />

vorhin selbst gesagt.“<br />

„Ja, und deshalb ist es nur fair, die Urheber dieser Zitate<br />

auch zu entlohnen.“<br />

„Ihr seid nicht die Urheber.“<br />

„Wir verwalten die Rechte der Urheber. Das kommt auf<br />

das- selbe raus.“<br />

„Ihr bringt die kleinen Labels um. Die haben aber die<br />

Sympathie der Massen.“<br />

„Bullshit. Hätten sie die Sympathie der Massen, wären<br />

sie keine kleinen Labels. Außerdem bringen wir sie nicht<br />

um. Unsere Gebühren werden sehr niedrig sein. Wer<br />

zahlt, ohne vor Gericht zu ziehen, wird sich’s leisten<br />

können. Es wird sogar einen Sondertarif für


Hobbybands ohne Plattenvertrag geben. Wer sich<br />

freiwillig bei uns meldet und um eine Lizenz ansucht,<br />

bekommt noch mal einen kräftigen Rabatt.“<br />

„Warum sollte sich jemand freiwillig melden?“<br />

„Weil wir ihn ohnehin finden würden. Wir werden<br />

Computerprogramme entwickeln, die eine Erstanalyse<br />

durchführen. Wir werden Suchmaschinen entwickeln,<br />

die automatisch Webseiten abklappern und<br />

Tauschbörsen durchforsten. Wir werden die Peer-topeer-Netze<br />

anzapfen. Wir werden überall im Netz<br />

Aufnahmen von Bands sammeln, die noch nicht mal<br />

einen Plattenvertrag haben. Wir werden diese<br />

Aufnahmen analysieren und bewerten und den Bands<br />

Rechnungen schicken. Das ist genial, oder? Sie<br />

bekommen keinen Plattenvertrag – und wir verdienen<br />

trotzdem an ihnen.“<br />

Ich war sprachlos.<br />

„Das ändert langfristig vielleicht sogar das<br />

Geschäftsmodell von Musikkonzernen“, fuhr Max fort.<br />

„Wir kassieren nicht mehr bei den Konsumenten,


sondern bei den Bands. Wir werden uns nicht mehr<br />

damit aufhalten, die illegalen Downloads zu bekämpfen.<br />

Das ist ohnehin ein Guerillakrieg, für den wir viel zu<br />

schwerfällig sind.“<br />

„Diesen Kampf hat die Musikindustrie ohnehin schon<br />

verloren.“<br />

„Richtig. Das wissen auch meine Chefs. Deswegen<br />

waren sie so schnell bereit, für unser Projekt grünes<br />

Licht zu geben. Das Tolle an unserem System ist, dass<br />

die Bands sich nicht vor uns verstecken können. Wer<br />

Erfolg haben will, muss in die Öffentlichkeit. Und wer<br />

in der Öffentlichkeit steht, braucht einen Namen, an<br />

den man eine Rechnung adressieren kann. Das Internet<br />

mag Anonymität gewährleisten, aber das Geschäft tut<br />

das nicht.“<br />

Kurzes Schweigen. Ich blickte mich im Lokal um. Colin<br />

und der schöne Rücken waren gegangen. Du gehörst<br />

nicht in diese Welt, du bist zu naiv dafür, dachte ich.<br />

„In Zukunft ist es uns völlig egal, ob sich die CDs einer<br />

Band verkaufen oder die Konzerte gut besucht sind“,


fuhr Max fort. „Jede Band muss sich selbst vermarkten<br />

und wir verrechnen Lizenzgebühren. Zunächst ist das<br />

ein niedriges Fixum, das sich jeder leisten kann. Erst<br />

wenn ein gewisser finanzieller Erfolg eintritt, tritt ein<br />

gestaffelter Prozentsatz in Kraft. Je größer der Erfolg,<br />

desto höher unsere Beteiligung. Damit haben die Bands<br />

kein Risiko, wenn der Erfolg ausbleibt, und wir<br />

verpassen keinen Superhit. Eine Win-win-Situation.“<br />

„Davon bin ich überzeugt.“<br />

„Wenn wir nur genug Material in unseren Archiven<br />

haben, dann werden wir immer eine Möglichkeit finden,<br />

unseren Anteil einzuklagen.“ Er machte eine Pause.<br />

„Aber das ist noch nicht alles ...“<br />

„Was noch?“<br />

„Das Beste am ganzen Konzept ist ein Trick, den Joanna<br />

sich hat einfallen lassen. Wenn jemand eine Lizenz bei<br />

uns erwirbt, darf er die damit geschaffenen neuen Songs<br />

verwenden, vermarkten und verkaufen, wie immer er<br />

will. Wir nehmen darauf keinen Einfluss. Das ganze


Bündel an Copyrights an dem neuen Werk gehört den<br />

Lizenznehmern. Bis auf eine Ausnahme.“<br />

„Das Recht, derivative Arbeiten zu machen?“, riet ich.<br />

„Genau. Mit ihrem Werk dürfen die Künstler machen,<br />

was sie wollen. Aber das Recht, es erneut zu verändern,<br />

zu zitieren, weiterzuentwickeln – dieses Recht bleibt bei<br />

uns. Und das gilt nicht nur für die Teile ihres Songs, die<br />

sie lizenzieren mussten, sondern für den ganzen Song.“<br />

„Ihr verleibt euch damit auch alle neuen Ideen dieses<br />

Songs ein.“<br />

„Ja. Schritt für Schritt verleiben wir uns alle neuen Ideen<br />

ein.“<br />

„Ihr werdet wachsen wie ein Geschwür“, sagte ich.<br />

Max musste lachen. „Verstehst du jetzt das Potenzial?“<br />

Ich kam gar nicht zu einer Antwort. Max fuhr gleich<br />

fort: „Deshalb haben wir vom Aufsichtsrat freie Hand,<br />

mit allen großen Medienkonzernen zu verhandeln. Mehr<br />

noch, wir haben den Auftrag dazu. Wir sollen shoppen<br />

gehen. Geld spielt kaum eine Rolle. Wir wollen so<br />

schnell wie möglich die Coverrechte aller Songs der


letzten sechzig Jahre verwalten, angefangen mit Bill<br />

Haley bis hin zu Lady Gaga. Einfach alles. Denn wenn<br />

uns die alten Songs gehören, dann gehören uns auch die<br />

neuen. Dann haben wir die Kontrolle, dann gehört uns<br />

der Musikmarkt der Zukunft. Dann gehört uns die<br />

Musik an sich. Das ist Stufe drei: Weltherrschaft.“<br />

„Du bist wahnsinnig“, sagte ich nun.<br />

„Ein wenig“, kokettierte er. Er griff zum Glas und<br />

prostete mir zu. „Auf den alten George Harrison und<br />

seine Hindu-Götter.“<br />

„Es wird immer wieder völlige Neukompositionen<br />

geben“, wagte ich einen letzten Einwand.<br />

„Ganz sicher sogar“, sagte Max und nahm einen<br />

kräftigen Schluck. „Aber wir werden genug Geld<br />

verdienen, um die paar Fälle einfach aufzukaufen.“<br />

„Wenn willst du schon wieder aufkaufen?“, fragte Amy<br />

Lee und glitt auf den Sessel neben Max.<br />

„Amy! Ich hab dich gar nicht gesehen“, sagte Max und<br />

küsste sie auf die Wange. Ich war kaum noch überrascht.<br />

„Immer nur Business im Kopf, hm?“, sagte sie.


„Ach wo. Das hier ist Privatleben. Ein Familientreffen.<br />

Darf ich dir meinen Cousin vorstellen ...“, sagte er.<br />

„Wir kennen uns schon“, sagte ich.<br />

Amy runzelte fragend die Stirn.<br />

„Ich bin Musikjournalist. Wir haben vor ein paar<br />

Monaten ein Interview gemacht, für Backstage“, sagte<br />

ich.<br />

„Oh ja, ich erinnere mich“, sagte sie, aber es war offensichtlich,<br />

dass sie log.<br />

„Was machst du heute noch?“, fragte Max.<br />

„Wir gehen auf eine Party“, sagte Amy und deutete auf<br />

die beiden Anzugträger. „Komm doch mit. Und bring<br />

Joanna mit!“<br />

„Die Arme muss die ganze Nacht arbeiten“, sagte Max.<br />

„Aber ich habe frei und ich könnte ein wenig Spaß<br />

brauchen. Warum nicht? Würdest du mich<br />

entschuldigen?“, fragte er mich.<br />

Würdest du mich gefälligst mitnehmen, du Superduperarschloch?!,<br />

dachte ich, und sagte: „Ja klar, kein


Problem. Ich trinke noch in Ruhe aus und muss dann<br />

ohnehin früh ins Bett.“<br />

„Okay“, sagte er und stand auf. Er streckte mir die Hand<br />

entgegen und ich schüttelte sie.<br />

„Bestell dir ruhig noch ein Glas. Ich sag dem Kellner, er<br />

soll mir die Rechnung schicken. War schön, dich<br />

wiederzusehen!“, sagte er.<br />

Ich lächelte. Du mich auch.<br />

#<br />

Courtney Love does the math, Salon.com: Irgendwann<br />

fanden die Plattenfirmen heraus, dass es sehr viel<br />

profitabler ist, die Distributionskanäle zu kontrollieren,<br />

als in die Künstler zu investieren. Und weil es zu diesen<br />

Firmen keine echte Alternative gab, konnten Künstler<br />

auch nirgends anders hingehen [...] Schrankenwärter zu<br />

sein war hochprofitabel, aber nun sind wir in einer Welt<br />

ohne Schranken. Das Internet erlaubt den Künstlern,<br />

direkt mit ihrem Publikum zu kommunizieren. [...] Wie


kann eine Firma in einer Welt, in der wir alles haben<br />

können, was wir wollen, wann immer wir wollen,<br />

Gewinne generieren? Durch Filter.<br />

#<br />

Am nächsten Morgen spulte ich das Interview mit<br />

Linkin Park lustlos ab und eilte dann quer durch Soho<br />

zur Oxford Street. In einer großen Buchhandlung suchte<br />

ich zunächst die Regale mit juristischen Büchern ab. Ich<br />

fand ein paar zum Thema Copyright, aber nichts, das<br />

für Normalsterbliche verständlich schien. Also fragte ich<br />

eine Angestellte.<br />

Sie beugte sich über ihren Computer, tippte ein wenig<br />

herum, und sagte dann: „Wir haben einiges im Haus,<br />

aber leider über die ganze Buchhandlung verteilt. Ich<br />

schreibe Ihnen die Regalnummern auf. Sie müssen in die<br />

Wirtschaftsabteilung, zu den Computer-Büchern, zur<br />

Kunsttheorie und zu den politischen Büchern.“<br />

Ich sah sie verwirrt an. „Politische Bücher?“


Sie zuckte desinteressiert mit den Achseln und hielt mir<br />

den Zettel hin.<br />

„Dann mache ich mich also mal auf die Suche“,<br />

murmelte ich.<br />

Ich fand tatsächlich drei Bücher, die mir interessant<br />

erschienen, und kaufte alle drei. Dann ging ich über die<br />

Oxford Street ins Internet-Café im Virgin Mega Store,<br />

checkte meine Mails und ging auf die Seite der<br />

Soundinistas. Da stand ein neuer Blog-Eintrag: „Wir<br />

haben die Seite erweitert, ab jetzt könnt ihr auch ein<br />

paar vernünftige Fotos von uns sehen und über jeden<br />

auch ein paar Zeilen lesen. Damit ihr wisst, wer da in<br />

eure Stadt kommt, um euch einzuheizen!“<br />

Das wars. Drei Zeilen. Kein Wort über mich, kein Wort<br />

des Dankes. Ich klickte auf den Link, der das „Profil<br />

Anna“ versprach. Mein kurzer Text. Drei Bilder. Drei<br />

schlechte Bilder. Und trotzdem war sie so schön, dass es<br />

mir beinahe weh tat. Kein Zweifel, ich war verliebt. Eine<br />

kindische und wunderschöne Urlaubsliebe …


Ich hätte dieses Gefühl still genießen können, vielleicht<br />

ein wenig leiden, dann darüber hinwegkommen und<br />

eine schöne Erinnerung für ein paar Jahre im Herzen<br />

behalten, bis sie ganz langsam verblasste.<br />

Aber ich entschied mich anders.<br />

#<br />

Ein paar Stunden später. Ein Flughafen und Bruce<br />

Willis.<br />

Der Flug aus London kam auf die Minute pünktlich in<br />

Rom an. Ich hatte eine Stunde Aufenthalt und bereits<br />

meine Bordkarte für den Anschluss nach Neapel. Und<br />

ich spielte mit dem Gedanken, sie verfallen zu lassen.<br />

Die Soundinistas spielten heute Abend in Rom, ich<br />

wusste das, weil es auf ihrer Website stand. Ich versuchte<br />

mir einzureden, dass ich dagegen ankämpfte, aber ich<br />

wusste schon, dass ich nachgeben würde.<br />

Ich blätterte in einem der Bücher, die ich am Vormittag<br />

gekauft hatte, und las ein bisschen hier, ein bisschen da,


ziemlich unkonzentriert. Meine Augen fanden die Worte<br />

Twelve Monkeys. Einer meiner absoluten<br />

Lieblingsfilme. Und eine meiner ersten Filmrezensionen.<br />

„Wenn Sie in Zukunft alle Filme so unreflektiert in den<br />

Himmel loben, werfe ich sie raus“, hatte der<br />

Chefredakteur danach gedroht. „Und ich habe die<br />

Hälfte des Textes gestrichen. Schreiben Sie über den<br />

Film, den Sie sehen, und nicht über alte Schinken.“<br />

Ich hatte einen langen Absatz über Vertigo in die<br />

Rezension gepackt, denn Twelve Monkeys spielt an<br />

mehreren Stellen auf Hitchcocks Film an: Die<br />

Titelsequenz ist beinahe identisch, zwischendurch hört<br />

man einmal Filmmusik aus Vertigo, die<br />

Hauptdarstellerin (Kim Novak bzw. Madeleine Stowe)<br />

verkleidet sich als Blondine, James Stewart leidet unter<br />

Höhenangst und Bruce Willis hängt auf einen Stuhl<br />

geschnallt in luftiger Höhe, und gegen Ende sitzen<br />

Madeleine Stowe und Bruce Willis sogar vor einem<br />

Fernseher und sehen sich das Hitchcock-Movie an.


Außerdem kommt diese eine Szene aus Vertigo auch in<br />

dem französischen Kultfilm La Jetée vor – und das ist bis<br />

heute der beste Endzeit-Science-Fiction-Film, den es<br />

gibt, er hat seit Anfang der 1960er-Jahre das ganze<br />

Genre geprägt. Twelve Monkeys wäre ohne La Jetée gar<br />

nicht vorstellbar. Mehr als das: Twelve Monkeys ist<br />

eigentlich nur ein Remake von La Jetée. Das mag ein<br />

durchschnittlicher Kinogeher nicht wissen und nicht zu<br />

wissen brauchen, aber ich als Popkulturfreak und<br />

angehender Journalist wusste es und ich konnte nicht<br />

anders, als in meinem Artikel darauf hinzuweisen.<br />

„Halten Sie Ihre Eitelkeit im Zaum“, sagte der<br />

Chefredakteur.<br />

Nun las ich in diesem Buch, dass Twelve Monkeys vier<br />

Wochen, nachdem der Film in Amerika angelaufen war,<br />

vorübergehend von den Spielplänen genommen werden<br />

musste. Das war mir neu, ich wurde neugierig.<br />

In einer der Szenen von Twelve Monkeys kam ein Stuhl<br />

vor. Dieser Stuhl diente keiner besonderen Aufgabe und<br />

erfüllte keine wichtige Funktion in der Szene. Er stand


einfach im Raum. An sich nichts Ungewöhnliches für<br />

einen Stuhl, sollte man meinen. Allerdings ging einige<br />

Wochen nach dem Filmstart ein Designer ins Kino,<br />

jemand, der unter anderem auch Möbel entwarf. Dieser<br />

Jemand sah den Stuhl im Hintergrund, und dieser Stuhl<br />

erinnerte ihn an ein Modell, das er selbst einmal<br />

entworfen hatte. Was er auf der Leinwand sah, entsprach<br />

nicht hundertprozentig seinem Entwurf, war nicht das<br />

exakt gleiche Modell, aber doch ein ähnliches. Das, so<br />

befand der Designer, sei Ideendiebstahl. Er klagte die<br />

Filmfirma. Wenn sie die Szene mit dem Stuhl weiter<br />

verwenden wolle, müsse sie ihm eine Abfindung für<br />

seine Rechte zahlen. Der Designer erwirkte eine<br />

einstweilige Verfügung und der Film durfte nicht mehr<br />

gezeigt werden. Achtundzwanzig Tage, nachdem Twelve<br />

Monkeys angelaufen war, musste die Millionen-Dollar-<br />

Produktion für einige Zeit vom Spielplan, bis die<br />

rechtliche Situation geklärt war.<br />

Ich schlug das Buch zu und pfiff durch die Zähne. Max’<br />

Plan erschien gar nicht mehr abstrus.


Dann packte ich das Buch wieder in meine Tasche und<br />

verließ das Terminal. Ich nahm ein Taxi und fuhr in die<br />

Stadt.<br />

#<br />

Wenn die Natur es so eingerichtet hat, dass ein Ding<br />

sich weniger für ausschließliches Eigentum eignet als alle<br />

anderen Dinge, so ist es die Handlung des<br />

Denkvermögens, die wir Idee nennen. Ein Einzelner<br />

mag sie allein besitzen, solange er sie für sich behält,<br />

doch sobald sie preisgegeben wird, drängt sie sich in den<br />

Besitz eines jeden und der Empfänger kann sich ihrer<br />

nicht wieder entledigen. Zu ihrem eigentümlichen<br />

Charakter gehört es ferner, dass niemand weniger besitzt,<br />

weil alle anderen die Idee ebenfalls besitzen.<br />

Das hat Thomas Jefferson mal geschrieben und ich habe<br />

es jetzt abgeschrieben. Jefferson wird es egal sein.<br />

#


Sie stand vor dem Backstage-Eingang und rauchte. „Was<br />

tust du denn hier?“, fauchte sie, noch bevor ich etwas<br />

sagen konnte.<br />

„Äh...“, stammelte ich.<br />

„Rückst du uns jetzt gar nicht mehr von der Pelle? Oder<br />

verfolgst du mich? Nur weil wir es einmal getrieben<br />

haben?“, fragte sie. „Bist du ein Perverser?“<br />

„Nein“, sagte ich. „Nein. Sicher nicht, da kannst du<br />

beruhigt sein.“<br />

„Ich bin ruhig.“ Sie blies Rauch aus ihrer Nase und<br />

selbst dabei war sie wunderschön. Sie sagte nichts mehr,<br />

also drückte ich mich an ihr vorbei und betrat das Lokal.<br />

Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt noch hier tat.<br />

„Was tust du denn hier?“, fragte Eugene.<br />

Tja.<br />

„Ich dachte mir, ich schau noch mal vorbei“, sagte ich.<br />

Und dann hatte ich eine schlechte Idee und sagte: „Ich<br />

muss dir etwas erzählen, das ich in London erlebt habe.“


„Ach ja?“ Er schraubte an der Unterseite des Mischpults<br />

herum. „Schieß los.“<br />

Also erzählte ich ihm vom Abendessen mit Max und von<br />

Harrisons Prozess und davon, dass die Schweigeminute<br />

für seine tote Frau eine Coverversion einer John-Cage-<br />

Nummer war und eigentlich die Rechte einer<br />

Plattenfirma verletzte. Ich erzählte das alles nur, weil ich<br />

ja irgendwas erzählen musste, weil ich einen Grund<br />

brauchte, hier zu sein. Ich erzählte ihm von den<br />

zigtausenden Interpreten, die Max schon unter Vertrag<br />

nahm, und von den Verhandlungen mit den anderen<br />

Labels und von der dritten Stufe der Weltherrschaft.<br />

Natürlich, ich hatte Max versprochen, es nicht<br />

weiterzuerzählen, aber was konnte schon passieren, hier<br />

in einem kleinen, verrauchten Kellerlokal mitten in<br />

Rom?<br />

Eugene hörte zu und schraubte an dem Mischpult<br />

herum und sagte hin und wieder Dinge wie: „Ach ja?“<br />

und „Ist ja interessant“ und „Nicht im Ernst, oder?“


Schließlich sagte er: „Ich habe zwei John-Cage-CDs im<br />

Bus. Ich glaube, 4’33’’' ist auch drauf.“<br />

Er verschwand kurz und kam eine Minute später wieder,<br />

winkte lächelnd mit der Silberscheibe und legte sie in<br />

den CD-Player. Er suchte den richtigen Track und<br />

drückte Play.<br />

Stille. Nichts.<br />

„Wirklich große Kunst“, sagte er, und ich wusste nicht,<br />

ob er es ernst meinte.<br />

„Shit“, sagte ich, „und wegen so was wollen sie euch<br />

verklagen …“ Das stimmte so natürlich nicht. Ich weiß<br />

nicht, warum ich es sagte. Vielleicht wollte ich mein<br />

Erlebnis in London einfach interessanter machen.<br />

„Bitte? Was wollen diese Arschlöcher?“<br />

„Euch verklagen …“, stammelte ich, dann setzte ich<br />

auch schon zum Rückzug an, weil ich nicht<br />

weiterwusste: „Natürlich nur, wenn ihr die<br />

Schweigeminute veröffentlicht, sonst ist es ihnen<br />

natürlich egal.“


Eugene lachte. „Sag diesem Krawatten-Heini, er kann<br />

mich am Arsch lecken!“<br />

„Okay“, sagte ich. „Ich richte es ihm aus.“<br />

„Das ist ja das Allerletzte. Das Allerletzte“, murmelte er.<br />

Dmitri stürmte in den Raum. „Eugene, kommst du<br />

mal?“ rief er.<br />

„Was ist los?“<br />

„Komm einfach mit!“<br />

Eugene setzte sich in Bewegung, ich wollte hinterher<br />

(antrainierte journalistische Neugier!), aber Dmitri<br />

schüttelte den Kopf. „Sorry, du nicht, das geht nur die<br />

Band was an.“<br />

„Okay“, murmelte ich. Die beiden liefen los und ich<br />

stand ziemlich verloren da.<br />

Also ging ich an die Bar und trank ein Bier und wartete.<br />

Und las weiter in dem Buch: „Gedichtbände, Comics,<br />

Hollywood-Filme ... Vielleicht sind ja manche der<br />

Meinung, dass das alles kein wirklich wichtiges<br />

politisches Thema sei. Nun, wie wäre es damit: Ganz<br />

zweifellos war die amerikanische Bürgerrechtsbewegung


eine der wichtigsten politischen Entwicklungen der<br />

letzten Jahrzehnte. Martin Luther King und seine<br />

Mitstreiter haben in den Sechzigern viele Rechte<br />

erkämpft, die heute – nicht nur in Amerika – als<br />

Selbstverständlichkeiten gelten. Als so selbstverständlich,<br />

dass man ihrer Verteidigung vielleicht zu wenig<br />

Aufmerksamkeit und Wachsamkeit schenkt. Aber unser<br />

Verständnis von Demokratie und von<br />

Minderheitenrechten ist heute ein anderes, ein besseres,<br />

als noch vor fünf Jahrzehnten. Die<br />

Bürgerrechtsbewegung hat Freiheit für uns alle<br />

erkämpft, ob schwarz oder weiß oder himmelblau,<br />

schwul oder lesbisch oder trans oder hetero, links oder<br />

rechts, Christ, Jude, Moslem oder Atheist.<br />

Es gibt einen Dokumentarfilm, der die ganze Geschichte<br />

der Bewegung, von Rosa Parks’ Busfahrt in<br />

Montgomery bis zu Kings Ermordung in Memphis, in<br />

einer 16-stündigen Collage aus Interviews und<br />

Originalaufnahmen erzählt: Eyes On The Prize, 1986<br />

produziert von Henry Hampton. Eine außer-


gewöhnliche journalistische Leistung, die von den<br />

meisten Zeitzeugen als wichtigste Arbeit zu dem Thema<br />

bezeichnet wird. Die jungen Menschen von heute, sagen<br />

sie, müssen wissen, was damals geschehen ist. Sie müssen<br />

sehen, dass man die Welt ändern kann. MLK darf nicht<br />

vergessen werden.<br />

Es gibt natürlich gute Bücher darüber, auch detaillierte<br />

akademische Abhandlungen. Aber Lesen, das ist eine<br />

Betätigung der Mittelschicht. Gerade jene Jugendlichen,<br />

die am dringendsten über Kings Kampf Bescheid wissen<br />

sollten, lesen wenig. Ihr Medium ist der Film, das Video,<br />

das Fernsehen. Eyes On The Prize könnte im TV oder<br />

auf DVD eine ganze Generation lehren, wie man um<br />

seine Rechte kämpft.<br />

Könnte.<br />

Denn Eyes On The Prize ist nicht mehr so einfach<br />

erhältlich. Die Dokumentation besteht aus vielen<br />

Stunden Film und auch Fotos, die Copyright-geschützt<br />

sind und Nachrichtenagenturen oder Fernsehsendern<br />

gehören. Aus Kostengründen konnte Henry Hampton


nur zeitlich begrenzte Lizenzen erwerben – und die sind<br />

nun abgelaufen. Darunter ist eine Filmaufnahme, die ein<br />

kleines Geburtstagsfest für MLK zeigt. Seine Freunde<br />

und Mitstreiter singen Happy Birthday. Das war im<br />

Januar 1968. Drei Monate später war King tot. Die<br />

Aufnahme wurde privat gemacht, das Fest war privat<br />

und im kleinen Kreis, man sollte meinen, ihre<br />

Wiedergabe in Eyes On The Prize wäre kein Problem.<br />

Aber dem ist nicht so: Das Lied Happy Birthday<br />

unterliegt dem amerikanischen Copyright.<br />

Es wurde schon 1893 von zwei Schwestern geschrieben<br />

(eine davon hörte auf den schönen Namen Patty Smith<br />

Hill), aber erst 1935 von ihrer dritten Schwester und<br />

einem Musikverlag zum Copyright angemeldet.<br />

Also wird der Song nun bis mindestens 2030 geschützt<br />

sein. Jedes Mal, wenn Happy Birthday in einem Film<br />

erklingt, klingeln im Hintergrund die Kassen. Wird die<br />

Szene im Film Eyes On The Prize belassen, werden bei<br />

einer Neuauflage Lizenzzahlungen fällig.


Nun könnte man auf diese eine Szene natürlich<br />

verzichten, aber Eyes On The Prize ist<br />

demokratiepolitisch und pädagogisch so wertvoll, weil in<br />

den 16 Stunden mehr Originalmaterial verarbeitet ist als<br />

in jedem anderen Bericht. Genau das macht aber den<br />

Lizenzerwerb auch so teuer. Unterm Strich ist es für<br />

einen kleinen Vertrieb schlicht und einfach nicht<br />

leistbar, alle (oder ausreichend viele) Lizenzen zu<br />

erneuern und eine DVD-Edition aufzulegen. Und die<br />

großen Konzerne, die es sich leisten könnten, haben<br />

daran kein Interesse. Es wäre kein Geschäft.<br />

Falls Sie Interesse haben: Es gibt noch eine Möglichkeit,<br />

an den Film heranzukommen. Bei eBay gehen die alten<br />

VHS-Editionen mittlerweile um vierstellige<br />

Dollarbeträge weg – aber die Käufer stammen wohl<br />

wieder nicht aus jener sozialen Schicht, für die der Film<br />

am wichtigsten wäre. Meist sind es gut verdienende<br />

Sammler, die ein Stück Filmgeschichte erwerben und in<br />

den Schrank stellen.


Copyrights sind gesetzliche Bestimmungen darüber, wie<br />

Information verteilt wird und wer wie darüber verfügen<br />

kann. Sie sind ein politisches Kontrollinstrument.“<br />

Ich klappte das Buch zu.<br />

#<br />

Als Eugene zwei Stunden später wieder auftauchte,<br />

wirkte er erschöpft. Er setzte sich grußlos neben mich.<br />

Ich bot ihm eine Zigarette an, dann Feuer.<br />

Er nahm beides und bestellte einen Whisky. „Nein,<br />

zwei“, sagte er und deutete auf mich. Dann saßen wir<br />

lange nebeneinander und tranken wortlos. Die nächste<br />

Runde ging auf mich, dann noch eine auf ihn.<br />

Schließlich kamen Carlos und Dmitri und setzten sich<br />

neben uns.<br />

„Ist er weg?“, fragte Eugene.<br />

„Ja“, sagte Carlos. „Er ist weg. Noch vier Whiskys bitte.“<br />

Ich wollte nicht fragen, also blickte ich einfach geradeaus<br />

und tat teilnahmslos.


„Wir haben Chris aus der Band geworfen“, sagte Eugene<br />

schließlich.<br />

„Oh“, sagte ich. „Warum?“<br />

Schweigen. Ich bereute die Frage. Es ging mich nichts<br />

an.<br />

„Wir trinken eine Menge“, sagte Eugene schließlich<br />

leise. „Wir kiffen viel. Und manchmal koksen wir auch.<br />

Aber harte Sachen, das geht nicht. Das geht einfach<br />

nicht. Er kannte die Regeln und musste gehen. So ist<br />

das.“<br />

Ich nickte, als würde ich verstehen. Werdet ihr das<br />

Konzert heute zu dritt spielen?“<br />

„Klar“, sagte Eugene. „Das geht schon.“<br />

„Bin gespannt“, sagte ich.<br />

Die Whiskys kamen. Carlos und Dmitri kippten ihre ex<br />

runter.<br />

„Noch vier“, sagte ich zur Kellnerin. „Und habt ihr auch<br />

Gästezimmer für heute Nacht?“<br />

Sie schüttelte den Kopf.


„Du kannst bei uns im Bus schlafen“, sagte Eugene.<br />

„Wir haben jetzt ja eine Koje frei.“<br />

Ich dachte am Anna. Sie würde wütend sein.<br />

„Okay!“, sagte ich.<br />

#<br />

Anna war nicht wütend. Sie bekam nicht einmal mit,<br />

dass ich da war. Sie riss sich nach dem Konzert einen<br />

langhaarigen Italiener mit schmalen Hüften, breiten<br />

Schultern und zu viel Gel in den Haaren auf und<br />

verschwand mit ihm.<br />

Ich versoff mich mit Carlos, Dmitri und Eugene,<br />

zweieinhalb Flaschen Wodka, ein paar Bier und ein paar<br />

Red Bull. Wir saßen auf den Sofas im oberen Stock des<br />

Busses und diskutierten über die Unmöglichkeit,<br />

aktuelle Rockmusik in zwanzig Jahren am Lagerfeuer<br />

spielen zu können. Wir klimperten dazu auf Gitarren<br />

herum, und als wir zur Erkenntnis gelangten, dass James


Blunt uns in Zukunft an jedem Lagerfeuer der Welt<br />

bedrohen würde, öffneten wir noch eine Flasche Wodka.<br />

„Erzähl die Geschichte aus London“, sagte Eugene. „Die<br />

mit John Cage.“<br />

Wir waren alle schon sehr betrunken, wir lallten, hatten<br />

Schwierigkeiten, unsere Pappbecher festzuhalten, Carlos<br />

machte mit der Zigarette ein Brandloch ins Sofa und wir<br />

fanden das lustig. In so einer Stimmung waren wir, als<br />

ich die Geschichte von Max’ Welteroberungsplan<br />

erzählte.<br />

Ich musste natürlich ein wenig lügen, konnte ja schlecht<br />

erzählen, dass ich ihm das Konzertvideo gezeigt hatte,<br />

weil ich Anna so geil fand. Nein, ich sagte, dass ich die<br />

Soundinistas so gut fand, dass ich sie einem Plattenboss<br />

zeigen wollte. „Nett von dir“, sagte Dmitri. „Aber ich<br />

finde, es ist ein Skandal, dass die uns eine<br />

Schweigeminute verbieten wollen.“<br />

„Könnten sie das?“, fragte Carlos.


„Kann ich mir kaum vorstellen“, sagte Eugene. „Aber<br />

wenn die mit hundert Anwälten anrücken, was würden<br />

wir dann tun?“<br />

Carlos nippte an seinem Wodka. „Den Schwanz<br />

einziehen.“<br />

„Genau.“<br />

Dmitiri hob den Zeigefinger: „Die Gedanken der herrschenden<br />

Klasse sind in jeder Epoche herrschende<br />

Gedanken, das heißt die Klasse, welche die herrschende<br />

materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre<br />

herrschende geistige Macht.“<br />

Ich drehte meinen Kopf zu ihm.<br />

„Marx und Engels. Aus Die deutsche Ideologie. Du<br />

weißt, ich war Parteimitglied.“<br />

Ich lachte, griff nach der Gitarre und spielte<br />

Guantanamera, das schien mir irgendwie passend.<br />

Yo soy un hombre sincero ... Die anderen begannen,<br />

leise mitzusingen.<br />

Dann, plötzlich, stand Eugene auf. „Eigentlich habe ich<br />

da keine Lust dauf“, sagte er, leicht schwankend.


„Worauf?“, fragte Carlos.<br />

„Den Schwanz einzuziehen, aber Solidaritätslieder zu<br />

singen.“<br />

„Äh...“, sagte ich.<br />

„Stimmt, Genosse“, sagte Dmitri und salutierte.<br />

„Ich meine es ernst“, sagte Eugene. „Ich meine, wie tief<br />

würde ich sinken, wenn ich mir von einem<br />

Krawattenmenschen eine Schweigeminute für meine<br />

tote Frau verbieten lasse?“<br />

„Das ist ja nur theoretisch“, sagte ich.<br />

„Nein, das ist gar nicht theoretisch“, sagte Eugene. „Das<br />

ist alles andere als theoretisch. Das ist eine höchst<br />

praktische Frage. Eine zutiefst philosophische Frage.“<br />

„Oje“, sagte Dmitri. „Bring dich in Deckung, jetzt geht<br />

es los.“<br />

„Was geht los?“, fragte ich.<br />

„Der Herr Professor hält einen Vortrag.“<br />

„Stimmt nicht“, sagte Eugene. „Ich werde keinen<br />

Vortrag halten. Aber ich habe gerade eine Idee, die<br />

unseren jungen Freund hier interessieren wird.“


„Wir gehen schlafen“, sagte Carlos und stand auf.<br />

„Stimmt“, sagte Dmitri. „Ist ja auch wirklich schon spät.<br />

Gute Nacht!“<br />

Und damit ließen die beiden uns alleine.<br />

„Prost“, sagte ich und nahm noch einen tiefen Schluck<br />

vom Wodka.<br />

#<br />

Mein Telefon läutete.<br />

„Hey, Mann!“, sagte die Stimme am anderen Ende.<br />

„Hi, Max“, krächzte ich, noch nicht ganz nüchtern.<br />

„Bist du gut wieder in Italien angekommen?“<br />

„Mhm.“<br />

„Was ist mit der Band? Du weißt schon, das Mädchen in<br />

dem Video. Hast du sie wiedergesehen?“<br />

„Mhm.“<br />

„Gut. Sehr gut. Ich muss mir dir reden.“<br />

„Max, es ist früh am Morgen.“


„Es ist zehn Uhr in Italien.“<br />

„Sage ich ja.“<br />

„Hör zu“, sagte er. „Es ist wichtig. Ich habe Joanna<br />

gestern von dir erzählt, von unserem Abendessen und<br />

von dem Video. Und sie hatte eine Idee. Eine verrückte<br />

Idee, wenn du sie das erste Mal hörst, aber letztlich eine<br />

geniale Idee. Joanna ist wirklich ein Genie.“<br />

Er sprach schnell und das verstärkte meine<br />

Kopfschmerzen nur.<br />

„Max, kannst du mir das nicht in einer Stunde<br />

erzählen?“<br />

„Zuerst habe ich ihr gesagt, sie spinnt, aber nun habe ich<br />

es die ganze Nacht sickern lassen und ich glaube<br />

wirklich, es ist eine sensationelle Idee. Wir sollten<br />

darüber reden.“<br />

„Okay. Wir sind schon dabei, Max. Was willst du?“<br />

„Der Punkt ist der: Du hast es ja selbst gesagt, Volvox<br />

wird irrsinnig schlechte Presse bekommen, wenn wir das<br />

erste Mal jemanden klagen. Wir bringen die Songwriter


um, et cetera, et cetera. Das wird alles über uns<br />

hereinbrechen.“<br />

„Das habe ich gesagt“, sagte ich.<br />

„Okay, ja, und ich dachte: Da müssen wir durch, das<br />

gehört eben zum Geschäft. Nur hat mich Joanna gefragt:<br />

Was wäre, wenn ich diesen Vorgang beeinflussen<br />

könnte?“<br />

„Ich verstehe nicht.“<br />

„Du weißt ja, ich werde keine Promotion-Abteilung<br />

haben. Da habe ich jahrelang all diese wunderbaren<br />

Medienkontakte aufgebaut, und jetzt weiß ich nicht, was<br />

ich damit tun soll.“<br />

„Ich verstehe immer noch nicht.“<br />

„Volvox könnte tatsächlich die Soundinistas klagen,<br />

meint Joanna. Wir machen ein bisschen Medienzirkus,<br />

eine Presseaussendung hier, ein Interview da, du weißt<br />

schon, um die Berichte zu kanalisieren. Ich nehme eine<br />

gute PR-Agentur, die das Krisenmanagement steuert.<br />

Dann sieht der Vorstand auch, dass ich besser doch eine<br />

eigene Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit brauche. Und


nach ein paar Wochen schließen wir eine Vereinbarung,<br />

bei der alle Seiten gut aussteigen. Die Soundinistas<br />

kriegen einen Plattenvertrag, oder zumindest einen<br />

Vorvertrag bei einem unserer Labels, und erzählen den<br />

Reportern, wie nett die Leute von Volvox eigentlich<br />

sind. Wir stellen sie drei Tage ins Studio, das kostet<br />

nicht viel, vielleicht bringen wir auch eine CD mit fünf-,<br />

sechstausend Stück Auflage auf den Markt.<br />

Meinetwegen sogar mit einem kleinen Marketingbudget.<br />

Nach einem Monat ist die Sache ausgestanden und kein<br />

Hahn kräht mehr danach. Wenn Volvox dann beginnt,<br />

ernsthaft zu arbeiten, interessiert das keine Sau mehr.<br />

Der Neuigkeitswert ist weg.“<br />

„Max …“, sagte ich.<br />

„Ja?“<br />

„Du und Joanna, ihr seid krank.“<br />

„Nein. Nur konsequent. Wenn man eine gute Idee hat,<br />

muss man sie umsetzen. Das hier ist eine gute Idee. Und<br />

ich brauche dich, um das einzufädeln. Was sagst du?“<br />

„Ich bin müde, ich habe Kopfweh.“


„Das ist keine Antwort. Ja oder nein.“<br />

„Nein. Mach deine Spielchen alleine, ich hab keine Lust<br />

drauf.“ Ich legte grußlos auf, wie sie es in den<br />

amerikanischen Filmen immer machen.<br />

Ich wälzte mich noch ein paar Mal hin und her, konnte<br />

aber nicht mehr einschlafen. Es war inzwischen zu heiß<br />

im Bus.<br />

Hatte Max den Soundinistas tatsächlich einen<br />

Plattenvertrag angeboten? Oder hatte ich da etwas<br />

missverstanden?<br />

Ich beschloss, aufzustehen.<br />

Eugene lag auf dem Sofa und las in einem der Bücher,<br />

die ich in London gekauft hatte.<br />

„Guten Morgen“, sagte ich. „Schon wieder fit?“<br />

Er reagierte nicht auf die Frage. „Interessante Bücher<br />

hast du da“, sagte er stattdessen. „Hast du das Kapitel<br />

über Mickey Mouse schon gelesen?“<br />

#


„Mickey Mouse?“<br />

Zuerst der Anruf von Max und jetzt das. Ich wusste<br />

nicht, was ich darauf sagen sollte, und schwieg.<br />

„Ein Wahnsinn, findest du nicht?“, fragte Eugene. „Das<br />

kann man doch nicht einfach so hinnehmen.“<br />

„Vermutlich nicht. Aber ich habe einen Kater.“<br />

„Oh“, sagte er. „Möchtest du einen Kaffee?“<br />

„Gerne.“<br />

Er legte das Buch weg. „Komm mit“, sagte er und erhob<br />

sich. Ich folgte ihm in das untere Stockwerk des Busses.<br />

In der kleinen Kochnische stand eine Espressomaschine.<br />

„Milch?“, fragte er.<br />

„Nein, schwarz.“<br />

„Fliegst du heute nach Neapel zurück?“<br />

„Ich werde wohl den Zug nehmen“, sagte ich.<br />

„Wie lange hast du noch Urlaub?“, fragte er.<br />

„Etwas weniger als fünf Wochen.“<br />

„Das ist ja ganz schön.“<br />

„Ja. Aber ich fürchte, ich werde die meiste Zeit mit<br />

schlechtem Gewissen vor meinem Notebook sitzen und


mit dem Roman nicht weiterkommen. Danke übrigens<br />

für deine Vor-schläge gestern, das war echt spannend.“<br />

„Aber nicht wirklich etwas für dich?“<br />

„Ich weiß nicht. Ich werde darüber nachdenken. Aber<br />

ich verstehe so überhaupt nichts vom Mittelalter ... mal<br />

sehen. Ich muss mich jetzt mal mit Disziplin an den<br />

Schreibtisch zwingen, dann wird sich schon etwas<br />

ergeben.“<br />

„Vielleicht hätte ich eine bessere Idee.“<br />

„Schon wieder?“, fragte ich schmunzelnd.<br />

Er blieb ernst. „Du könntest für ein paar Wochen bei<br />

uns in der Band einsteigen. Als Gitarrist.“<br />

Ich runzelte die Stirn. Wenn ich jetzt mit allem<br />

gerechnet hätte, damit nicht.<br />

„Du hast das Konzert gestern gehört. Das hat nicht<br />

geklappt. Wir brauchen noch einen Gitarristen.“<br />

„Ja, schon. Aber ...“<br />

„Nur bis wir einen Ersatz für Chris gefunden haben. Das<br />

wird nicht länger als zwei, drei Wochen dauern. Das<br />

wird der coolste Urlaub deines Lebens.“


„Ich bin nicht so gut ...“<br />

„Ich könnte es ohnehin nicht alleine entscheiden. Die<br />

Band muss darüber abstimmen. Aber da sehe ich kein<br />

Problem. Ich habe dich am Lagerfeuer gehört. Du bist<br />

gut genug, wir hatten schon schlechtere Gitarristen.<br />

Vergiss nicht, wir machen Punk für Betrunkene. Wir<br />

sind keine dieser superperfekten Bands, die du sonst<br />

interviewst. Wir wollen Spaß an der Sache haben.<br />

Probier es aus. Wer weiß, vielleicht willst du nach einer<br />

Woche gar nicht mehr, dass wir uns einen anderen<br />

Gitarristen suchen ...“<br />

Ich dachte an Anna. Ich dachte an den einsamen<br />

Schreibtisch im Hotelzimmer in Neapel.<br />

Und dann dachte ich daran, dass Max mir am Telefon<br />

einen Plattendeal für die Band angeboten hatte, in der<br />

Eugene mir nun einen Platz als Gitarrist anbot.<br />

Wenn die Chance da ist, muss man sie nehmen. Nicht<br />

zweimal fragen, sondern zugreifen.<br />

Aber konnte ich Eugene klarmachen, dass er sich von<br />

Max verklagen lassen sollte, das jedoch alles nur Fake


war und wir danach einen Plattenvertrag bekommen<br />

würden? Klang das glaubwürdig? Er hielt immer noch<br />

mein Buch in den Händen. Würde er mit der<br />

Großindustrie überhaupt zusammenarbeiten wollen?<br />

Musste er das alles überhaupt wissen?<br />

„Okay“, sagte ich. „Ich bin dabei!“<br />

#<br />

Damit die anderen sich ungestört über mich unterhalten<br />

und abstimmen konnten, unternahm ich einen<br />

Spaziergang. Ich rechnete mit den Stimmen der drei<br />

Männer und vielleicht einer Gegenstimme von Anna,<br />

war mir also sicher, als provisorisches Bandmitglied<br />

aufgenommen zu werden.<br />

Ich setzte mich in ein Café mit WLAN-Zugang und lud<br />

das Video von dem Konzert in der RockBox in<br />

mehreren Teilen bei YouTube hoch. Darunter war auch<br />

der Teil mit der Schweigeminute. Ich nannte das File<br />

<strong>incommunicado</strong>.mpg.


Den Link postete ich bei Facebook und schickte ihn<br />

Max per Mail. Als ich zum Bus zurückkam, stießen<br />

Eugene, Dmitri, Carlos und ich auf meine<br />

Mitgliedschaft bei den Soundinistas an.<br />

Anna zog sich schmollend in ihre Koje zurück.<br />

#<br />

Am Anfang von Twelve Monkeys hört man Bruce Willis<br />

flüstern: „Jose, psst! Jose, was ist los?“<br />

„Schlechte Nachrichten, Mann.“<br />

„Freiwillige?“<br />

„Ja, und sie haben deinen Namen gerufen!“<br />

Betretenes Schweigen, dann sagt Jose: „Hey, vielleicht<br />

begnadigen sie dich.“<br />

Und Bruce Willis antwortet sarkastisch: „Ja, deswegen<br />

kommt auch keiner der Freiwilligen zurück. Sie werden<br />

alle begnadigt.“


alternate


Ich übte drei Tage lang, fast rund um die Uhr. Während<br />

ich aß, lernte ich die Playlist auswendig, ich summte<br />

Melodien, während ich am Klo saß, und ich träumte<br />

von Akkorden. Wenn ich nicht übte, dann hörte ich mir<br />

die Soundinistas auf CD an oder verfolgte das<br />

allabendliche Konzert gemeinsam mit Eugene. Ich half<br />

beim Aufbauen und Abbauen. Carlos und Dmitri<br />

nahmen sich vor den Konzerten immer zwei, drei<br />

Stunden Zeit für mich, dann übten wir gemeinsam.<br />

Anna blieb im Bus.<br />

Als ich am vierten Abend zehn Minuten vor dem<br />

Konzert meinen Platz bei Eugene einnehmen wollte,<br />

schüttelte er den Kopf. „Du bist so weit. Rauf auf die<br />

Bühne.“<br />

Muss ich erwähnen, dass ich so ziemlich alles falsch<br />

machte, was man nur falsch machen kann? Aus<br />

fachmännisch-handwerklicher Perspektive war es eine<br />

ziemliche peinliche Performance. Aber den betrunkenen<br />

Hunnen im Publikum war das egal.


Und obwohl ich heiße Ohren hatte und Anna mich bei<br />

jedem Fehler mit tödlichen Blicken strafte, war es<br />

saugeil, endlich wieder auf der Bühne zu stehen. Und<br />

das ohne Max. Für die Mädchen im Publikum waren<br />

weder Carlos noch Dmitri noch Anna interessant. Die<br />

blickten auf mich. Nur auf mich. Das war keine<br />

schlechte Erfahrung.<br />

Das war ganz und gar keine schlechte Erfahrung.<br />

#<br />

Am nächsten Morgen erhielt ich eine E-Mail von Max.<br />

Um genau zu sein: Ich erhielt eine Benachrichtigung von<br />

der Rechtabteilung eines Unternehmens namens Volvox<br />

Corporation. Unterschrieben war sie von einer gewissen<br />

Joanna McCormick. Max’ Freundin Joanna. Sie schrieb<br />

sehr förmlich, durchaus höflich, und wies uns darauf<br />

hin, dass wir die Rechte des Unternehmens an einem<br />

Musikstück mit dem Namen 4’33’’ verletzen würden.<br />

Sie bot uns an, eine Lizenz zur Nutzung dieses Stückes


zu erwerben, erläuterte uns die zahlreichen Vorteile ihres<br />

Angebots und wies darauf hin, dass wir unsere Version<br />

aus dem Netz nehmen sollten, solange die Lizenzfrage<br />

nicht geklärt sei. Widrigenfalls müsse die Volvox<br />

Corporation uns nämlich klagen. Den Streitwert für die<br />

illegale Nutzung des oben genannten Musikstückes<br />

würde die Volvox Corporation auf eine Million britische<br />

Pfund ansetzen.<br />

Ich las die Mail vor, dann nahm Eugene das Notebook<br />

auf seinen Schoß und las sie selbst. Er schüttelte den<br />

Kopf.<br />

„Trocken wie die Sahara“, sagte er. „Du kennst sie?“<br />

„Joanna? Nein, nicht persönlich. Aber Max ist ein guter<br />

Freund von mir. Er meint das nicht ernst.“<br />

„Bist du dir sicher?“<br />

„Ganz sicher.“<br />

„Dann sollten wir ihm jetzt eine nette Mail schreiben,<br />

uns entschuldigen und das Video aus dem Netz nehmen.<br />

Und ihn bitten, uns keine Anwaltskosten zu<br />

verrechnen“, sagte Eugene.


„Ja, das sollten wir vermutlich tun“, sagte ich langsam.<br />

Ich überlegte, ob und wie ich ihm von meinem Deal mit<br />

Max erzählen konnte. Sollte. Wollte. „Max lässt sicher<br />

mit sich reden. Wenn wir den Link löschen, wird er die<br />

Sache vergessen. Er ist ein netter Kerl, auch wenn er es<br />

oft ganz gut versteckt.“<br />

„Na dann. Greif zum Telefon.“<br />

„Andererseits: Du wolltest ja nicht den Schwanz<br />

einziehen“, sagte ich.<br />

Eugene nickte. „Nein. Aber eine Million Pfund ist eine<br />

Menge Geld.“<br />

„Kannst du dich noch an die Geschichte erinnern, die<br />

du mir vorgelesen hast? Mit Happy Birthday und dem<br />

Film über Martin Luther King?“<br />

„Klar“, sagte er.<br />

„Da hast du danach gesagt, das könne man so nicht<br />

hinnehmen.“<br />

„Ich weiß. Aber darum geht’s hier nicht.“<br />

„Nicht um MLK, aber um das Andenken an deine<br />

Frau.“ Das war gemein, ich weiß.


Er schwieg und sah mich fragend an. „Wir sollten den<br />

Schwanz nicht einziehen. Wir sollten Max trotzen.<br />

Zumindest eine Zeit lang. Ich will das, weil ich mich<br />

von ihm nicht herumschubsen lassen möchte. Und du<br />

solltest es aus Respekt vor deiner Frau wollen.“<br />

„Und was sollen wir machen?“<br />

„Den Kampf aufnehmen. Aber nicht vor Gericht“, sagte<br />

ich. „Da können wir nur verlieren.“<br />

„Das glaube ich sofort. Wenn wahr ist, was dieser Max<br />

dir erzählt hat, dann beschäftigt Volvox ein paar<br />

Dutzend oder vielleicht auch ein paar hundert Anwälte.“<br />

„Vermutlich würde ihnen schon ein einziger guter<br />

Anwalt reichen, denn wir können uns gar keinen<br />

leisten“, sagte ich. „Wir hätten schon Mühe, einen<br />

drittklassigen Paragraphenreiter zu bezahlen. Also lassen<br />

wir uns gar nicht darauf ein. Wir ignorieren ihre Klage.<br />

Wir legen uns gar keinen Anwalt zu.“<br />

„Toller Plan“, sagte Eugene und lachte. „Gar nicht<br />

kompliziert.“<br />

Ich blieb ernst. „Das ist natürlich noch nicht alles.“


„Dachte ich mir.“<br />

„Wir werden dort kämpfen, wo es Max weh tut. Bei den<br />

Sympathien der Menschen. Dort sind wir stärker.<br />

Verstehst du? David gegen Goliath. Rosa Parks gegen<br />

die fetten weißen Männer. Gandhi gegen das britische<br />

Imperium. Die kleine Punk-Band gegen den großen<br />

Medienkonzern. Wir werden einen Feldzug starten, für<br />

freie Musik, freie Kunst, freie Rede.“<br />

„Freies Schweigen.“<br />

„Ja, auch das. Sie haben das Recht zu schweigen. Wäre<br />

das kein guter Slogan?“<br />

„Doch.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr. „Ich weiß<br />

nicht.“<br />

„Er ist ein wirklich guter Freund“, sagte ich. „Wir<br />

können jederzeit die Notbremse ziehen, da bin ich mir<br />

sicher. Für ihn ist es nicht mehr als ein Spiel, um mir zu<br />

zeigen, dass er der Chef ist. Und ich will mir das nicht so<br />

einfach gefallen lassen. Ich will den Schwanz nicht schon<br />

vorher einziehen. Ich will, dass er uns bittet, aufzuhören.<br />

Er soll Bitte sagen.“


„Wie willst du das erreichen?“, fragte Eugene.<br />

„Mit Marx.“<br />

„Marx?“, fragte er, und sein Blick wanderte zu seinem<br />

Bücherregal.<br />

„Nicht Karl. Groucho. Hast du die Geschichte über ihn<br />

gelesen?“, fragte ich und zog eines der Bücher, die ich in<br />

London gekauft hatte, aus meiner Tasche.<br />

Eugene schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht.“<br />

„Er hat mal einen ähnlichen Brief bekommen wie wir<br />

gerade. Von den Warner Brothers.“<br />

„Und?“<br />

„Groucho drehte damals einen Film namens Eine Nacht<br />

in Casablanca. Das war ein paar Jahre nach dem großen<br />

Erfolg von Casablanca mit Bergman und Bogart und bei<br />

Warner sahen ein paar findige Anwälte die<br />

Namensrechte verletzt. Sie schrieben den Marx Brothers<br />

einen Brief und drohten mit Klage. Aber Groucho gab<br />

ihnen eine ziemlich witzige Antwort: Er wundere sich,<br />

dass Warners Rechte an einem Wort wie Casablanca<br />

haben können, wenn dieser Name doch seit


Jahrhunderten einer marokkanischen Stadt gehöre.<br />

Dann fragte er, ob etwa jener Ferdinando Balboa<br />

Warner, der Casablanca im Jahre 1471 entdeckte,<br />

während er eine Abkürzung nach Burbank suchte, ein<br />

Urahn der Warner Brothers sei. Groucho fragte die<br />

Warner-Anwälte, wie ein Kinobesucher die beiden Filme<br />

je verwechseln sollte, und behauptete, die meisten Leute<br />

würden problemlos seinen blonden Bruder Harpo von<br />

Ingrid Bergman unterscheiden können.“<br />

„Das will ich meinen“, murmelte Eugene.<br />

„Groucho schrieb: Ich bin mir nicht sicher, ob ich den<br />

Unterschied erkennen würde, aber ich würde es auf<br />

jeden Fall gerne ausprobieren!“, las ich vor. „Und dann<br />

schlug er zurück: Er drohte den Warner Brothers mit<br />

einer Klage, weil die Marx Brothers doch schon viel<br />

länger Brüder waren. Er wies Harry Warner darauf hin,<br />

dass er schon viele andere Harrys in seinem Leben<br />

getroffen habe, und er fragte Jack Warner, ob er sich<br />

nicht vor einer Klage von Jack the Ripper fürchte.“


„So gehört sich das wohl“, sagte Eugene und lächelte.<br />

„Wie ist diese Geschichte ausgegangen?“<br />

„Es gab einen längeren Briefwechsel und Grouchos Antworten<br />

waren immer völliger Nonsens. Irgendwann<br />

haben die Warner-Leute einfach aufgegeben.“<br />

„Nette Geschichte“, brummte Eugene.<br />

„Ja, nicht wahr?“ sagte ich. „Wir sollten etwas Ähnliches<br />

machen. Den Irrsinn dieses Systems einfach offenlegen.<br />

Aber nicht in einem stillen Briefwechsel, sondern in den<br />

Medien. Wir nutzen die Medien gegen die<br />

Medienindustrie.“<br />

Eugene überlegte fast eine Minute lang schweigend.<br />

Dann tippte er etwas.<br />

„Was schreibst du da?“, fragte ich.<br />

„Noch mal: Bist du dir ganz sicher, dass wir jederzeit die<br />

Notbremse ziehen können? Wird Max die Klage<br />

zurückziehen, wenn wir ihn darum bitten?“<br />

Ich nickte. „Mein Wort drauf. Versprochen.“


Er bewegte den Finger über das Touchpad des<br />

Notebooks. Ich versuchte, den Text zu lesen, und sah<br />

gerade noch, wie er auf den „Senden“-Button klickte.<br />

Dann stand er auf und ging auf die Toilette.<br />

Ich öffnete die gerade gesendete Mail wieder. Sie enthielt<br />

nur zwei Worte.<br />

Fuck you!<br />

Das hatte nicht ganz Groucho Marx’ Qualität.<br />

#<br />

Wir mussten den anderen natürlich von der Klage<br />

erzählen, das übernahm Eugene. Carlos und Dmitri<br />

sahen recht bestürzt aus, aber Anna flippte vollkommen<br />

aus. „Eine Million Pfund? Ja seid ihr denn alle<br />

vollkommen wahnsinnig?“, schrie sie. „Nehmt das Video<br />

sofort aus dem Internet!“<br />

„Beruhige dich“, sagte ich. „Erstens geht das nicht. Wir<br />

können es nicht entfernen. Zweitens wird es vielleicht<br />

schon weiterverbreitet. Es unterliegt nicht mehr unserer


Kontrolle.“ Ich sagte nicht dazu, dass ich das Video erst<br />

kurz zuvor selbst in verschiedene Tauschbörsen und auf<br />

ein paar weitere Video-seiten gestellt hatte. Stattdessen<br />

sagte ich: „Ich werde mit Max reden, wir kriegen das<br />

schon hin.“<br />

Sie warf mir einen Blick zu, der wohl „Du Vollidiot“<br />

heißen sollte. Aber sie sagte kein Wort.<br />

In dieser Nacht, in meiner Koje im Stockbus, konnte ich<br />

nicht schlafen. Dieser Raum, weniger als zwei<br />

Kubikmeter, würde nun für längere Zeit mein Zuhause<br />

sein. Plötzlich kam mir der ganze Plan völlig idiotisch<br />

vor. Fahr heim, schreib ein paar Artikel, vergiss das<br />

Ganze, dachte ich. Dann hörte ich, wie sich Anna in<br />

ihrer Koje bewegte, und wieder änderte ich meine<br />

Meinung.<br />

Ich holte mein Notebook hervor und schrieb eine<br />

Presseaussendung. Sie sollte nicht lang werden, aber ich<br />

feilte an jedem Wort, denn Anna würde sie ins<br />

Italienische übersetzen, hatten wir beschlossen.


Als die ersten Sonnenstrahlen durch den Vorhang an<br />

meinem Fenster schienen, war ich fertig und endlich<br />

müde. Doch kaum dass ich den Polster über meinen<br />

Kopf legte, hielt der Bus auch schon.<br />

„Wir sind da!“, brüllte Carlos, der am Steuer saß.<br />

Ich hörte keine Reaktion der anderen und schlief auch<br />

gleich ein.<br />

#<br />

Am späten Vormittag des nächsten Tages suchte ich mir<br />

ein nettes kleines Café in unmittelbarer Nähe. Ein<br />

Aufkleber neben der Tür verhieß kabellosen<br />

Internetzugang.<br />

Am Nebentisch saß ein Pärchen. Mitte zwanzig, sehr<br />

wohlhabend, sehr stylish. Sie war wunderschön, trug ein<br />

kurzes schwarzes Kostüm, zehn Zentimeter hohe Absätze<br />

und eine Handtasche im klassischen LV-Design. Er trug<br />

einen Anzug, teure Lederschuhe und das Handy immer<br />

am Ohr. Er erinnerte mich an Max. Und sie, sie


erinnerte mich an Joanna, obwohl ich Max’ Freundin<br />

noch nie gesehen hatte.<br />

Ich holte mein Notebook aus dem Rucksack und startete<br />

es. Weniger als zwei Dutzend Menschen hatten sich das<br />

YouTube-Video angesehen, niemand hatte es auf<br />

Facebook weiterverbreitet. In der nächsten Stunde<br />

suchte ich die Websites von rund zwei Dutzend<br />

Musikmagazinen auf, kopierte mir die E-Mail-Adressen<br />

der Redakteure und verschickte unsere<br />

Presseaussendung.<br />

Der Betreff lautete: Das Recht zu schweigen!<br />

#<br />

Eugene und ich lasen viel über Urheberrechte und<br />

Zensur, nicht nur die drei Bücher, die ich gekauft hatte,<br />

sondern auch viel Material aus dem Internet. Es schien<br />

da eine ganz beachtliche Szene von Menschen zu geben,<br />

die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzten.<br />

Wir kippten richtig rein in die Thematik, vor allem


Eugene konnte sich kaum losreißen. Die Geschichte, die<br />

ihn am meisten ärgerte, war die mit Mickey Mouse.<br />

„Mickey Mouse ist ein Feind der amerikanischen<br />

Verfassung“, sagte Eugene. „Und das ist immerhin eines<br />

der wichtigsten Dokumente der Menschheit.“ Ich muss<br />

zugeben, was die Amerikaner immer mit ihrer<br />

Verfassung haben, konnte ich noch nie so ganz<br />

nachvollziehen. Vielleicht interessierte ich mich einfach<br />

zu wenig für Politik. Aber irgendwie verstand ich Eugene<br />

trotzdem, ich konnte Sonny Bono auch nie leiden. Bill<br />

Clinton dagegen eigentlich schon.<br />

Man muss die Sache so erzählen: Es gibt da in den USA<br />

einen Mann mit dem schönen Namen Eric Eldred, der<br />

entwickelte in den Neunzigern ein ungewöhnliches Hobby.<br />

Er fertigte von Meisterwerken der Weltliteratur digitale<br />

Versionen an, versah die Texte mit Anmerkungen, Bildern<br />

und Hyperlinks und lud sie ins Web hoch, kostenlos und<br />

frei zugänglich. Lobenswert. Natürlich konnte Eldred nur<br />

mit Klassikern so verfahren, mit Werken, deren


Urheberrecht abgelaufen war, deren Nutzung also der Allgemeinheit<br />

frei zugänglich war.<br />

In diesem Zusammenhang, um noch einen Haken zu<br />

schlagen, lernte ich das schöne Wort Allmende kennen.<br />

Gemeingut. Im Mittelalter war die Allmende die öffentliche<br />

Weide eines Dorfes, freier Grund und Boden, der<br />

niemandem gehörte und daher allen, auf dem jeder sein<br />

Vieh grasen lassen konnte und von dem niemand einen<br />

anderen vertreiben durfte. Keine Zäune, keine Hecken,<br />

keine Mauern. Der Begriff wird auch im Zusammenhang<br />

mit dem Copyright verwendet: Läuft die Schutzfrist eines<br />

Werkes aus, gelangt es in den öffentlichen Bereich, in die<br />

Allmende, es wird Gemeingut, es gehört niemandem und<br />

daher allen, jeder darf es nutzen und niemand darf von der<br />

Nutzung ausgeschlossen werden.<br />

Zurück zu Eldred. 1998 freute er sich darauf, die Gedichtsammlung<br />

New Hampshire des vierfachen Pulitzerpreis-<br />

Trägers Robert Frost online zu stellen. Der Band erschien<br />

erstmals 1923, das Copyright hatte eine Laufzeit von 75<br />

Jahren und zum Jahreswechsel würde das Werk somit in die


Allmende gelangen. Doch dann machte ihm jemand einen<br />

Strich durch die Rechnung: niemand Geringerer als der<br />

Präsident der Vereinigten Staaten. Wenige Wochen vor<br />

Jahresende unterschrieb Präsident Bill Clinton eine<br />

Gesetzesänderung, die die Laufzeit des US-Copyrights auf<br />

95 Jahre ausdehnte: den Sonny Bono Copyright Term<br />

Extension Act.<br />

Sonny Bono, das war der Exmann von Cher, ein Sänger<br />

und Musikproduzent (I Got You Babe), später ein<br />

republikanischer Politiker und treuer Lobbyist für die<br />

Medienindustrie in Washington. Er hatte die Copyright-<br />

Verlängerung so weit vorangetrieben, dass der Präsident –<br />

der ja auch keine schlechten Kontakte zu Hollywood und<br />

dem Musikbiz hatte – nur noch unterschreiben musste.<br />

Hinter der Gesetzesänderung, so munkelte man, stand<br />

vor allem die Disney Corporation.<br />

#


Wenn wir in den nächsten Tagen an Tankstellen oder<br />

an Raststationen hielten, dann blieb ich oft alleine im<br />

Bus sitzen. Ich blätterte in einem Buch, tat so, als würde<br />

ich lesen, machte es mir bequem und achtete darauf,<br />

Anna immer im Blick zu haben. Es waren, abgesehen<br />

von den Auftritten, die einzigen Momente, in denen ich<br />

meinen Blick minutenlang über sie schweifen lassen<br />

konnte, ohne Entdeckung fürchten zu müssen.<br />

Ich beobachtete sie, wie sie mit Carlos vertraute<br />

Zwiegespräche führte und scherzte, wie sie Dmitri den<br />

verspannten Nacken massierte, wie sie sich mit Eugene<br />

eine Zigarette oder einen Schokoriegel teilte.<br />

Unser Verhältnis war etwas kompliziert. Zunächst hoffte<br />

ich, es stürze sie in ein gewisses hormonelles<br />

Ungleichgewicht, dass ich nun immer um sie war.<br />

Immerhin hatten wir uns am Strand geliebt und sie<br />

musste sicher jedes Mal daran denken, wenn sie mich<br />

sah. Sie zickte wirklich herum.<br />

Ziemlich schnell wurde mir aber klar, dass ich nur eine<br />

Nummer auf einer langen Liste war. Anna hatte einen


eachtlichen Männerverschleiß. Drei-, viermal pro<br />

Woche verschwand sie nach einem Konzert und kam<br />

erst nach einer Stunde wieder. Niemand in der Band<br />

redete darüber. Erst nach ein paar Tagen fiel mir auf,<br />

dass sie nie allein verschwand, aber immer allein<br />

zurückkam. Die anderen Typen sah sie nie wieder. Mich<br />

aber jeden Tag. Ich war für sie wohl so etwas wie ein<br />

Betriebsunfall.<br />

Als Eugene in Campobasso den anderen klargemacht<br />

hatte, dass ich nun ein Mitglied der Band war, hatte sie<br />

mich nur kalt und wortlos angestarrt. Ich war mir nicht<br />

sicher, ob das eine Warnung sein sollte oder einfach<br />

Ausdruck ihrer Nervosität war. Danach sprach sie<br />

jedenfalls eine Woche lang kein normales Wort mit mir.<br />

Nach einer Woche sagte sie in einer Raststation: „Gibst<br />

du mir den Salzstreuer?“ Ihr Ton war ruppig. Ich gab ihr<br />

den Streuer. Das würde schon werden.<br />

#


Das mag alles kompliziert und verworren klingen:<br />

Eldred, Frost, Bono, Clinton, Disney. Aber die Sache ist<br />

die: 1923 erschien nicht nur besagter Gedichtband,<br />

sondern es war auch das Jahr, in dem der Tonfilm<br />

erfunden wurde und die große Zeit Hollywoods<br />

anbrach. Ohne die Copyright-Verlängerung wären nun<br />

Jahr für Jahr Klassiker der Filmgeschichte in die<br />

Allmende gelangt, die großen Studios hätten ihre<br />

exklusiven Nutzungsrechte verloren. Und das war eine<br />

Gefahr, vor allem für Disney: Steamboat Willie, der<br />

erste Film mit Mickey Mouse, lief 1928 in den Kinos<br />

an. Der Schutz von Mickey Mouse als Figur hing an<br />

diesem Datum. Ein Markenwert in Milliardenhöhe<br />

drohte ein allgemeines, frei zugängliches Kulturgut zu<br />

werden.<br />

Die Verteidigung ihrer Besitztümer gelang den großen<br />

Hollywood-Studios schon zum zweiten Mal: 1923 lag<br />

die Copyright-Laufzeit bei nur 56 Jahren. Ab 1979<br />

hätten also Filme frei zugänglich werden sollen. Doch<br />

im Jahr davor wurde das Gesetz geändert und der Schutz


auf 75 Jahre ausgedehnt. Und als diese Galgenfrist<br />

ablief, dehnten Clinton und Bono den Schutz auf 95<br />

Jahre aus. Deshalb wird ihr Gesetz inoffiziell auch<br />

Mickey Mouse Protection Act genannt.<br />

„Wo wird das enden?“, fragte Eugene. Er zeigte mir<br />

einen Artikel im Internet, wonach die amerikanische<br />

Verfassung unendliche Schutzfristen verbietet, aber<br />

Industrievertreter in Washington schon dafür warben,<br />

die Laufzeit auf Unendlich minus einen Tag<br />

auszudehnen.<br />

„Unsere kulturelles Erbe wird privatisiert“, sagte Eugene.<br />

„Die Grenze ist das Jahr 1923. Alles ab diesem Datum<br />

Geschaffene soll auf ewig im Privatbesitz großer<br />

Konzerne bleiben.“<br />

Und das, so recherchierte ich, galt nicht nur für die<br />

USA. In Europa sind die Gesetze kaum weniger streng,<br />

die Lobbys nicht weniger mächtig. Ich ärgerte mich<br />

nicht weniger als Eugene.<br />

Immer noch verworren?


Ich kann es auch einfach ausdrücken: Das ist zum<br />

Kotzen.<br />

#<br />

Mein Handy läutete. Ich warf einen Blick aufs Display<br />

und zögerte. Dann gab ich mir einen Ruck.<br />

„Hi“, sagte ich.<br />

„Hey Mann, sorry, dass ich erst jetzt dazu komme, dich<br />

anzurufen. Hier ist einfach so viel los, ich habe so viel<br />

um die Ohren, das kannst du dir überhaupt nicht<br />

vorstellen. Seit unserem Abendessen habe ich nicht eine<br />

freie Minute gehabt. Joanna und ich haben seit einem<br />

Monat nicht ... du weißt schon“, quasselte Max drauflos.<br />

„Es ist echt die Hölle.“<br />

„Das freut mich zu hören“, sagte ich.<br />

„Was?“<br />

„Dass es so gut läuft. Das tut es doch?“<br />

„Danke. Ja, es läuft fantastisch. Absolut großartig.“ Er<br />

klang aufgedreht, oder besser: überdreht. „Ich soll dir


jedenfalls schöne Grüße von Joanna ausrichten. Die<br />

Klage läuft. Und wenn sie dich persönlich kennenlernt,<br />

tritt sie dir in die Eier, soll ich dir sagen.“<br />

„Bitte, was?“<br />

„Das ist noch eine harmlose Strafe. Ich habe hart für<br />

dich verhandelt und ihr ein neues Cabrio versprochen.<br />

Du schuldest mir was. Und bitte schreib ihr keine Mails<br />

mehr.“<br />

Jetzt verstand ich. „Max! Verdammt. Diese Mail, in der<br />

‚Fuck You’ stand, die war nicht von mir. Ich meine, es<br />

war meine Mailadresse, aber ich habe das nicht<br />

abgeschickt“<br />

„Ja klar, das würde ich an deiner Stelle jetzt auch<br />

behaupten.“<br />

„Nein, wirklich. Es war so, dass ...“<br />

„Vergiss es. Ich habe ihr gesagt, du wolltest das<br />

möglichst glaubwürdig gestalten und dein sprachliches<br />

Talent sei limitiert. Ich habe ihr ein Cabrio geschenkt.<br />

Die Sache ist gegessen.“<br />

„Uff“, sagte ich. „Da schulde ich dir eine Kleinigkeit.“


„Nicht der Rede wert. Außerdem wollte ich das Cabrio<br />

ja ohnehin. Joanna wäre sicher dagegen gewesen, aber<br />

wenn ich es ihr zur Entschuldigung schenke, ist das<br />

natürlich etwas anderes, du verstehst?“ Er lachte kehlig.<br />

„Na, dann schuldest ja eigentlich du mir was“, sagte ich.<br />

„So weit kommt’s noch.“<br />

„Klar. Das nächste Mal nimmst du mich mit auf eine<br />

Party mit Amy Lee.“<br />

„Okay, okay“, er lachte wieder, „schon klar. Abgemacht.<br />

Wenn du das nächste Mal nach London kommst,<br />

schmeiße ich eine Party und lade Amy ein. Vielleicht<br />

kann ich euch ja verkuppeln ... Was ist eigentlich aus<br />

deinem Punk-Mädchen geworden? Immer noch die<br />

große Liebe?“<br />

„Aus die Maus“, sagte ich.<br />

„Oh.“<br />

„Nicht der Rede wert.“<br />

„Verstehe. Und wie läuft es sonst? Erste<br />

Zeitungsberichte?“


„Nein, ich habe noch keinen gelesen. Aber ich bin jetzt<br />

der Gitarrist der Band.“<br />

„Ist nicht wahr.“<br />

„Doch. Glaub mir, du hast immer mein Talent<br />

verkannt. Ich bin eine richtige Rampensau. Du wirst uns<br />

am Ende noch einen richtigen Plattenvertrag anbieten,<br />

mit garantierter Millionenauflage, und du wirst auf<br />

Knien darum betteln, dass wir unterschreiben.“<br />

„Ja, klar – warte mal.“ Max wechselte ein paar Worte<br />

mit jemand anderem. „Ich muss jetzt Schluss machen,<br />

wichtiger Besuch. Ich melde mich wieder. Und<br />

kümmere dich darum, dass in irgendeiner kleinen<br />

italienischen Zeitung die ersten Berichte erscheinen.<br />

Den Rest erledige ich dann. Kannst du das?“ Er legte<br />

auf, ohne auf eine Antwort zu warten.<br />

Das Leben auf Tournee ist anders als alles andere. Du<br />

fühlst dich selbst so intensiv wie nie zuvor, während die<br />

#


Welt rundherum verschwimmt. Du spielst in Avezzano,<br />

du spielst in Pescara, du spielst in L’Aqulia und in Terni<br />

und Spoleto und Ascoli. Du fährst eine Küstenstraße<br />

entlang, und eine Bergstraße und eine Landstraße und<br />

dann wieder eine Küstenstraße. Du schläfst im Bus und<br />

auf einem Parkplatz und in einem besetzten Haus, du<br />

fährst und wirst gefahren, du isst in einer Raststation, du<br />

isst während der Fahrt, du kaufst Obst auf einem Markt<br />

von einem Mann, den du nie wieder siehst, du trinkst<br />

vor dem Konzert ein paar Biere, du trinkst nach dem<br />

Konzert eine Flasche Grappa, du kiffst, du bekommst<br />

das Frühstück am Nachmittag und das Abendessen um<br />

vier Uhr morgens, die Sonne geht auf, die Sonne geht<br />

unter, du schläfst im Bus, du fährst über eine<br />

Landstraße, die du schon zu kennen glaubst, und du<br />

weißt nicht mehr, ob du heute schon gegessen hast und<br />

in welcher Stadt du morgen sein wirst. Hinter dir<br />

klimpert jemand auf der Gitarre, im oberen Stock spielt<br />

jemand Bongo, Anna summt eine Melodie, du spürst<br />

jede Bodenwelle, du hast keinen Platz für die Beine, die


Sonne geht über den Bergen auf, die Sonne geht über<br />

dem Meer auf, du riechst einen Schokoriegel, du riechst<br />

Ciabatta, du presst deine Nase gegen das Fenster und<br />

beobachtest die namenlosen Menschen, die<br />

vorbeizufliegen scheinen. Du beobachtest das Leben in<br />

den Städten, du beobachtest das Leben in den Dörfern,<br />

du spielst in Civitanova, du spielst in Ancona, du spielst<br />

in Rimini, du spielst in einer Stadt, deren Namen du<br />

nicht kennst. Du spielst in Arezzo. Du freust dich auf<br />

das Konzert in Florenz, weil Florenz eine<br />

außergewöhnlich schöne Stadt sein soll, und dein<br />

Rücken tut weh und du brauchst eine Pause. Der Bus<br />

rollt in die Stadt, du blickst aus dem Fenster, du siehst<br />

die Männer in den Autos und die Frauen auf den<br />

Mopeds und die alten Menschen an den Busstationen,<br />

du siehst die kleinen Geschäfte, das Kopfsteinpflaster,<br />

die alten Häuser, du siehst den Hafen und am Abend<br />

spielst du in der Altstadt. Ein wenig fragst du dich, ob es<br />

wichtig ist, dass Florenz eine wunderschöne Stadt ist.<br />

Denn du hast nichts mitbekommen von Avezzano und


Terni und Ascoli und Rimini, du hast nichts gesehen als<br />

verrauchte Keller und betrunkene Hunnen und kleine<br />

Schnappschüsse von namenlosen Männern in ihren<br />

Autos und namenlosen Frauen auf ihren Mopeds und<br />

nichts hat dir gefehlt. Vermutlich ist es also egal, dass<br />

Florenz eine schöne Stadt ist.<br />

#<br />

Ich glaube, jeder der Filme mag und gerne schreibt, hat<br />

sich mal mit dem Gedanken getragen, ein Drehbuch zu<br />

verfassen. Und wenn’s nur kurz war. Wenn ich mich im<br />

Kreis meiner Ex-kollegen so umhöre, war das jedenfalls<br />

so und ich war da nicht anders. Anyway, einmal habe ich<br />

mir auch ein Buch zu dem Thema gekauft, The<br />

Screenwriter’s Bible. Und darin wurde auch die Frage<br />

behandelt, wie man eigentlich zu einer guten Idee für<br />

eine gute Geschichte kommt. Ich zitiere: Stehle!<br />

Shakespeare hat’s getan. Bist du größer, als er es war?<br />

Suche in den Klassikern nach Ideen für Geschichten und


Figuren. Kreativität heißt nicht, etwas aus dem Nichts<br />

zu erschaffen, sondern einen neuen Dreh bei einer alten<br />

Idee finden. Neue Kombinationen aus alten Mustern zu<br />

erzeugen. Die große Schöpfkelle in einen kleinen<br />

Suppenlöffel zu verwandeln. Kreativität heißt,<br />

herkömmliche Denkmuster zu durchbrechen und neue<br />

Verbindungen zu finden. Gutenberg hat eine<br />

Weinpresse und einen Münzstempel genommen und die<br />

erste Druckerpresse entwickelt.<br />

Walt Disney hat mit Mickey Mouse auch erst Erfolg<br />

gehabt, als er Ideen zusammenkopiert hat. Seine ersten<br />

beiden Mickey-Filme sind gefloppt, er hat nicht mal<br />

einen Vertrieb gefunden. Dann hat er einen neuen Dreh<br />

für eine bekannte Geschichte gefunden: Steamboat Bill,<br />

Jr., über die Abenteuer eines Mississippi-Kapitäns, war<br />

einer der erfolgreichsten Stummfilme von Buster<br />

Keaton. Walt nahm diese Geschichte, den neuen<br />

Tonfilm als Medium und seine Maus, mischte das alles<br />

und heraus kam Steamboat Willie.


Von da an wurde dieses Erfolgsrezept jahrzehntelang<br />

immer neu aufbereitet. Ob Snow White, Cinderella oder<br />

Arielle, ob Aladdin, Pocahontas oder Mulan, Disney<br />

und seine Nachfolger bedienten sich ausgiebig in der<br />

Schatzkiste guter alter Geschichten. Mit Der Glöckner<br />

von Notre Dame verfilmte das Unternehmen ein Buch<br />

von Victor Hugo; natürlich zu einem Zeitpunkt, als es<br />

schon längst Copyright-frei zugänglich war. Auch von<br />

Lewis Carroll (Alice im Wunderland), Robert Stevenson<br />

(Die Schatzinsel), Rudyard Kipling (Das Dschungelbuch),<br />

Jules Verne (20.000 Meilen unter dem Meer),<br />

Carlo Collodi (Pinocchio) und anderen ließ sich Disney<br />

gerne nach Ablauf der Schutzfrist inspirieren. Ich wollte<br />

das alles mit Eugene diskutieren. Ich hatte recherchiert,<br />

ich sprach, er hörte zu und schwieg und dachte nach.<br />

„Mickey ist inzwischen ein Teil unserer Kultur, meiner<br />

Kultur“, sagte ich. „Mickey sollte schon längst ein freies<br />

Kulturgut sein.“<br />

#


Du bist dauernd unterwegs. Du lehnst den Kopf gegen<br />

das Fenster, richtest den Blick gedankenverloren auf den<br />

Horizont, lässt dich durch die Welt tragen, und wenn<br />

dir danach ist, singst du vor dich hin oder summst eine<br />

einfache Melodie, und mit etwas Glück wird ein Song<br />

daraus, vielleicht sogar ein Klassiker. I am the passenger,<br />

and I ride and I ride and I ride … la la la la la-la-la la, la<br />

la la la la-la-la la …<br />

Vielleicht gehen Autoren deswegen weniger gern auf<br />

Tournee als Musiker: Man kann während der Fahrt<br />

keine langen Texte schreiben. Du schließt die Augen, du<br />

hörst das Brummen des Motors, du spürst jede<br />

Bodenwelle und jedes Schlagloch. Du hast keinen Platz<br />

für deine Beine, dein Rücken tut weh, du bist müde und<br />

ungewaschen und du wünschst dir, dass die Fahrt ewig<br />

so weitergeht. Hinter dir klimpert jemand auf einer<br />

Gitarre, du fühlst den Blues und du hörst im Geist die<br />

Stimme von B.B. King.


Well, the rocks is my pillow<br />

The cold ground is my bed<br />

The highway is my home so I might as well be dead<br />

Der Kerl war hart im Nehmen. The rocks is my pillow,<br />

das hat was. Und B.B. King glaubt man das auch.<br />

Authentizität heißt das Zauberwort.<br />

Später hat zum Beispiel Jon Bon Jovi einen ähnlichen<br />

Text geschrieben. Aber der ist ein weißes<br />

Mittelstandskind, das seine erste Gitarre vermutlich zu<br />

Weihnachten bekommen hat. Der brauchte schon einen<br />

Mantel, um am Boden schlafen zu können.<br />

I got an old coat for a pillow<br />

And the earth was last night’s bed<br />

I don’t know where I’m going, only God knows where I’ve<br />

been<br />

Es gibt eben keine Originale. Nur Zitate und<br />

Mutationen. Kopien und Kombinationen.


Wiederholungen von Wiederholungen. Auf wessen<br />

Schultern B.B. King wohl stand, als er seine Lyrics<br />

schrieb?<br />

Mein Handy läutete. Ich warf einen Blick aufs Display<br />

und zögerte.<br />

„Willst du nicht abheben?“, fragte Eugene.<br />

„Es ist Max.“<br />

„Oh, na dann erst recht.“<br />

„Hi“, sagte ich.<br />

„Hi. Ich wollte nur fragen: Wie läuft’s?“<br />

„Geht so.“<br />

„Das reicht nicht. Wir warten hier auf die ersten<br />

Medienberichte.“<br />

„Oh ja. Ja.“<br />

„Was soll das heißen?“<br />

„Mmmm.“<br />

„Bist du nicht alleine?“<br />

#


„Genau.“<br />

„Das heißt, du kannst nicht reden.“<br />

„Jetzt verstehen wir uns“, sagte ich.<br />

„Okay, dann komm nach London.“<br />

„Einfach so?“<br />

„Klar, ist doch kein Problem, hast du gesagt. Du kannst<br />

es dir doch problemlos leisten.“<br />

„Klar, jederzeit“, sagte ich.<br />

„Na sehr gut, dann siehst du auch Papsch. Er hat mich<br />

angerufen und sich selbst auf einen Kurzurlaub nach<br />

London eingeladen. Ich dachte, du hättest vielleicht<br />

auch Lust darauf“, sagte Max.<br />

„Wann?“<br />

„Übermorgen.“<br />

„Geht nicht.“<br />

„Aha.“ Pause. „Gibt’s dafür auch eine Begründung?“<br />

Weil das mein Vater ist, der mich seit ungefähr<br />

zweitausendfünfhundertundzwölf Jahren nicht mehr<br />

angerufen hat und der mich noch nie gefragt hat, ob wir<br />

uns mal sehen, deswegen!!!, dachte ich und sagte: „Du


weißt ja, die Tournee, ich bin jetzt Gitarrist, ich kann da<br />

nicht einfach weg.“<br />

Max lachte nur. „Dann sorge dafür, dass irgendwo ein<br />

Bericht über die Klage erscheint.“<br />

„Keine Sorge, wenn sich bis morgen nichts tut, rufe ich<br />

einfach eine der Redaktionen an, für die ich arbeite. Es<br />

gibt genug Leute, die mir einen Gefallen schulden“,<br />

sagte ich.<br />

„Das kommt nicht in Frage, hörst du. Das ist viel zu<br />

durchsichtig. Es muss echt sein, und völlig unverdächtig.<br />

Streng dich an!“<br />

Ich tat so, als käme mir gerade etwas dazwischen und<br />

legte wieder auf.<br />

In der Erinnerung ist die Zeit auf Tournee wie ein Tanz<br />

unter dem Stroboskop. Es reihen sich ganz kurze,<br />

abgehackte Szenen aneinander, dazwischen fehlt immer<br />

wieder etwas, der Übergang von einer Szene zur<br />

#


nächsten liegt im Dunkeln. Ich kann mich nicht mehr<br />

an alle Straßen, alle Raststationen, alle Konzerte, alle<br />

Mahlzeiten, alle Liebhaber von Anna erinnern. Und ich<br />

muss zugeben, dass mir auch bei Vorfällen, an die ich<br />

mich erinnern kann, die Chronologie vielleicht schon<br />

durcheinandergerät.<br />

Es gibt Szenen, an die kann ich mich erinnern, aber ich<br />

kann sie zeitlich und räumlich nicht mehr genau<br />

zuordnen, wobei zeitlich und räumlich auf Tournee<br />

ohnehin gleichbedeutend ist. Wüsste ich, in welcher<br />

Stadt sich diese Vorfälle ereignet haben, könnte ich auch<br />

auf den Tag genau sagen, wann es war, und umgekehrt.<br />

Es sind nicht die großen, wichtigen Dinge, die so schwer<br />

zuordenbar sind, sondern kleine Alltagsgeschichten. Ein<br />

paar Wortfetzen manchmal nur, ein Lächeln oder ein<br />

Blick aus dem Fenster.<br />

Oder Carlos, wie er da liegt, in seiner Koje, bleich wie<br />

der Tod, erschöpft. Dmitri sitzt hinter ihm, Carlos hat<br />

seinen Kopf auf Dmitris Schoß liegen, die Augen<br />

geschlossen. Ich habe mich gerade mit Anna am Steuer


des Busses abgewechselt, komme die Stufen nach oben,<br />

nicke den beiden zu, aber sie reagieren nicht. Dmitri<br />

streichelt Carlos das Gesicht, flüstert etwas, der starrt vor<br />

sich hin, ich lege mich in meine Koje und ziehe den<br />

Vorhang zu.<br />

„Du solltest zum Arzt gehen“, höre ich Dmitri sagen.<br />

Carlos brummt mürrisch.<br />

Ende der Stroboskop-Szene.<br />

Oder: Ich bin mit Anna in einer Stadt unterwegs. Ich<br />

sehe noch den Platz, über den wir gegangen sind, vor<br />

meinem geistigen Auge. Das Café, die Imbissbude, in<br />

der ich Ciabatta mit Salami gekauft habe, und eine Cola,<br />

und ein großer, alter Bau, das Rathaus oder so was. Im<br />

Erdgeschoß war eine Reihe kleiner Geschäfte, darunter<br />

auch ein Plattenladen. Besser gesagt: ein CD-Geschäft.<br />

Wir sind rein und haben ein wenig gestöbert.<br />

Anna hat enge Jeans getragen, und ein trägerloses,<br />

bauchfreies Top, man hat ihr Nabelpiercing gesehen und<br />

sie hat die Haare offen getragen.


Ich habe in sieben oder acht CDs reingehört und fand<br />

einige davon auch gut, aber dann bin ich damit nicht zur<br />

Kassa. Ich habe sie alle wieder zurückgestellt, jede<br />

einzelne fein säuberlich an den Platz, von wo ich sie<br />

genommen hatte.<br />

Ich hatte keine Lust, die Umsätze der Industrie zu<br />

steigern.<br />

#<br />

Und wieder eine Raststation. Anna tankte den Bus.<br />

Selbst dabei machte sie eine gute Figur. Ich suchte mir<br />

einen Platz in der Sonne, von dem aus ich sie<br />

beobachten konnte, und zündete mir eine Zigarette an.<br />

Mein Telefon läutete. Keine Nummer auf dem Display.<br />

„Hallo“, sagte er.<br />

„Hallo, Papsch.“<br />

„Wie geht es dir?“<br />

„Ja, danke. Geht so.“<br />

Schweigen.


Dann er: „Wie ist dein Urlaub?“<br />

„Hm, ungewöhnlich. Das lässt sich nicht in ein paar<br />

Worten beschreiben.“<br />

„Ach so?“<br />

„Das erzähle ich dir am besten, wenn ich wieder zu<br />

Hause bin.“<br />

„Weil du gerade davon sprichst ...“<br />

„Wovon?“<br />

„Ich habe gerade mit Max telefoniert. Er wollte uns<br />

eigentlich beide nach London einladen, aber jetzt hat er<br />

mir erzählt, du könntest nicht kommen.“<br />

„Das ... ist richtig.“<br />

„Weil du mit einer Rock-Band auf Tournee durch<br />

Italien bist.“<br />

„Das ist auch richtig. Grundsätzlich.“<br />

„Was heißt hier grundsätzlich?“<br />

„Na ja, erstens sind wir eine Punk-Band. Zweitens sind<br />

wir derzeit in Italien, aber wir sind nicht auf Tournee<br />

durch Italien.“<br />

„Nicht?“


„Nein. Wir sind auf Tournee durch ganz Europa.“<br />

„Das klingt ja ganz aufregend, aber ...“<br />

„Ich weiß, was du sagen willst, Papsch.“<br />

„Das glaube ich nicht.“<br />

„Na dann schieß los.“<br />

„Wie lange hast du Urlaub?“ fragte er. Ich verzog den<br />

Mund. Haben wir das nicht vor meiner Abreise dreimal<br />

diskutiert?<br />

„Sechs Wochen, das weißt du genau.“<br />

„Und sind die nicht bald um?“<br />

„Doch.“<br />

„Und dann?“<br />

„Werde ich bei der Band bleiben und weiter Musik<br />

machen.“<br />

Schweigen, diesmal lange, unangenehm lange.<br />

„Ich habe in meinem ganzen Leben niemals sechs<br />

Wochen am Stück Urlaub gemacht. Meinst du nicht,<br />

dass es damit genug wäre?“<br />

„Siehst du?“<br />

„Was?“


„Ich wusste, dass du das sagen wirst.“<br />

„Ich will ja nur ...“<br />

„Papsch. Hör zu. Ich lenke unseren Tourbus ...“<br />

„Was?“<br />

Ich atmete tief durch. „Wir sind eine kleine Band, wir<br />

haben nicht viel Geld. Wir können uns keine Roadies<br />

und kein Personal leisten. Wir machen alles selbst. Also:<br />

Ich lenke derzeit das Fahrzeug. Genau genommen sind<br />

wir gerade bei einer Raststation, haben getankt und eine<br />

Rauchpause eingelegt. Jetzt geht es weiter. Die anderen<br />

sind schon eingestiegen, sie warten auf mich. Verstehst<br />

du?“<br />

„Also ...“<br />

„Jetzt ist keine Zeit für also. Ich rufe dich später wieder<br />

an.“<br />

Ich legte auf. Dann, nach ein paar Sekunden, begann ich<br />

langsam zu lächeln. Noch nie zuvor hatte ich meinen<br />

Vater am Telefon einfach abgewürgt.<br />

#


Wir spielten in Perugia vor sechzig Leuten. Ich schickte<br />

noch eine Presseaussendung. Wir spielten in Siena vor<br />

vierzig Leuten. Wir spielten im Totem Rock Club in<br />

Pisa vor etwa siebzig Leuten. Am nächsten Tag, einem<br />

Dienstag, kurvten Eugene und ich durch die Stadt, bis<br />

wir einen Netzzugang gefunden hatten. Keine relevanten<br />

E-Mails. Ich ging zu Google News und suchte nach dem<br />

Begriff „Soundinistas“. Kein Treffer. Nichts. Niente.<br />

Nada.<br />

Am Abend spielten wir im Mondunito Pub in Pistoia<br />

vor etwa fünfzig Leuten. Die Stimmung war<br />

hervorragend, aber die meisten Gäste kamen erst nach<br />

unserem Konzert. Also blieben wir und feierten und<br />

versoffen die gesamte Gage. Der Wirt liebte uns. Wirte<br />

liebten uns oft.<br />

Der Laden machte um vier Uhr morgens dicht. In<br />

Pistoia hat man die Pistolen erfunden, daher heißen<br />

diese Scheißdinger auch so. Das wusste nicht mal<br />

Eugene. Das verriet uns der Wirt. Er hatte wohl die


Blicke bemerkt, die wir seinem Barmann nachwarfen, als<br />

Anna mit ihm verschwand.<br />

Hinter dem verwaisten Tresen stand ein Computer, der<br />

für die Musik im Laden sorgte, seit der DJ Schluss<br />

gemacht hatte. Während der Besitzer die Abrechnung<br />

kontrollierte, erlaubte er Eugene und mir, ins Internet<br />

einzusteigen.<br />

Keine relevanten Mails. Kein Treffer bei<br />

news.google.com.<br />

Wir waren enttäuscht.<br />

„Sag mal, durchsucht der nur die englischen Websites?“,<br />

fragte Eugene.<br />

„Keine Ahnung. Gibt’s Google News auch in<br />

Italienisch?“ Ich versuchte es unter news.google.it.<br />

Tatsächlich, die Seite existierte. Ich gab den Suchbegriff<br />

ein.<br />

Bingo. Ein Treffer.<br />

Ich klickte auf den Link.<br />

Die Website gehörte zu einem Musikmagazin. Der<br />

Artikel war kurz. Der Redakteur hatte einen Vorspann


geschrieben, aber ansonsten unsere Presseaussendung<br />

beinahe unverändert übernommen. Immerhin. Eugene<br />

und ich lachten laut und gaben uns High Five.<br />

Der Wirt blickte auf und wir erzählten ihm von unserem<br />

kleinen Glück und er kam rüber und las den Artikel.<br />

Dann ließ er eine temperamentvolle Schimpfkanonade<br />

auf die Arschlöcher in der Musikindustrie los, die jede<br />

gute Kunst zunichte machen würden. Ich verstand nur<br />

die Hälfte, aber der Sinn war klar. Er holte eine Flasche<br />

ausgezeichneten Whisky und wir diskutierten, bis sie<br />

beinahe leer war.<br />

Zwischendurch stahl ich mich noch mal an den<br />

Computer und tat so, als würde ich den Artikel noch<br />

einmal lesen, aber stattdessen schickte ich den Link an<br />

Max. Auftrag ausgeführt, schrieb ich dazu.<br />

Gegen halb sieben kam Anna zurück, ohne den<br />

Barkeeper. Sie war verschwitzt und trank einen<br />

doppelten Whisky auf einen Zug. Ich war plötzlich<br />

schlecht drauf. Wir machten Schluss und gingen zum<br />

Bus.


Am Mittwochabend spielten wir im Keller des Barone<br />

Rosso in Prato, wieder vor etwa siebzig Leuten. Das<br />

Publikum war nicht ganz das richtige. Während der<br />

Schweigeminute hörte ich auch einen Buhruf. Diese<br />

sechzig Sekunden Stille gehörten inzwischen fix zum<br />

Programm, aber man konnte nicht behaupten, dass das<br />

Publikum darauf stand.<br />

„Wir müssen das mit der Schweigeminute verbessern“,<br />

sagte ich nach dem Konzert zu Anna.<br />

Sie wirkte desinteressiert, streichelte mit dem Zeigefinger<br />

nachdenklich über den Hals einer Bierflasche.<br />

Eugene saß neben ihr. „Was willst du da verbessern?“,<br />

fragte er.<br />

„Die Schweigeminute ist unser Trumpf. Wir müssen sie<br />

besser nutzen. Anna sollte davor immer erklären, was es<br />

damit auf sich hat.“<br />

„Ich sage doch immer dazu, für wen diese Minute ist!“,<br />

protestierte sie.<br />

„Bei allem Respekt vor deiner Mutter: Wichtig ist, dass<br />

uns deswegen eine halbe Armee von Anwälten im


Nacken sitzt, dass die große, böse, geldgeile<br />

Plattenindustrie uns am Arsch hat. Auch wenn sie’s<br />

nicht vermuten, wir sind hier die Guten, und das sollen<br />

die Leute wissen.“<br />

„Meinst du, das interessiert wen?“, fragte sie.<br />

Ich sagte: „Wenn wir nicht dieser Meinung wären,<br />

hätten wir das alles gar nicht ...“<br />

Eugene fiel mir ins Wort. „Er hat recht. Wir sind hier<br />

die Guten. Wir sind Dissidenten. Die Welt liebt<br />

Dissidenten. Warum sollen wir das verschweigen?“<br />

„Ich mache sogar Pressearbeit dazu, da ist es doch<br />

wirklich nicht verkehrt, das auch noch beim Konzert zu<br />

betonen“, sagte ich.<br />

Anna. „Du machst Pressearbeit? Das behauptest du, aber<br />

ich habe davon noch nichts mitbekommen. Wo sind<br />

denn die Artikel? Wo?“<br />

Die Antwort bekam sie am nächsten Morgen. Google<br />

News Italien verzeichnete drei Treffer. Dieselbe<br />

Geschichte, offensichtlich vom ersten Eintrag<br />

abgeschrieben und minimal verändert.


Ich schickte Max die Links und präsentierte Anna stolz<br />

die Ausdrucke. Sie nahm sie mit einem Achselzucken zur<br />

Kenntnis. Aber am Abend, als wir im Kellergewölbe des<br />

Avalon Pub in Siena auftraten, erzählte sie dem<br />

Publikum von der Klage. Wieder Buhrufe, aber nun für<br />

die Plattenindustrie. Und als sie die Schweigeminute<br />

hielt, schwieg auch das Publikum.<br />

Am Freitag zeigte Google News Italia sieben Treffer. Die<br />

meisten waren Variationen unserer Presseaussendung,<br />

aber ein Blogger aus Neapel, der uns offenbar vor<br />

einigen Wochen live gesehen hatte, schrieb auf seiner<br />

Website einen sehr langen Artikel. Unter der offiziellen<br />

Mailadresse der Band erhielten wir zwei Solidaritäts-E-<br />

Mails, offensichtlich von einem Anarchisten und einem<br />

Kommunisten verfasst. Zumindest schlussfolgerte das<br />

Eugene aus einigen Bemerkungen, ich kannte mich da<br />

nicht so aus.<br />

Ich suchte mir die Telefonnummern einiger Zeitungen<br />

aus dem Web und während wir im Bus saßen,<br />

telefonierte ich sie durch. Ich hätte nie gedacht, dass es


so mühsam sein kann, sich auf Englisch mit Popkultur-<br />

Redakteuren zu unterhalten. Ich hatte keinen Erfolg,<br />

niemanden interessierte die Geschichte. Wir spielten ein<br />

Konzert in Piombino. Süßer Name, langweiliges Kaff. Es<br />

war Wochenende und das Publikum bestand aus nicht<br />

Mal zwei Dutzend Leuten. Danach besoffen wir uns<br />

brachial.<br />

„Vielleicht war die Idee doch nicht so gut“, sagte<br />

Eugene.<br />

„Vielleicht“, sagte ich.<br />

„Welche Idee?“, fragte Carlos, der sich zwischen uns an<br />

die Bar stellte.<br />

Ich zögerte und Eugene sagte: „Den Grappa zu<br />

versuchen. Er ist etwas zu mild. Wir sollten auf Whisky<br />

umsteigen.“<br />

Thomas L. Friedman, NY Times: Wenn ich Zugriff auf<br />

Google habe, kann ich alles finden. Und mit einem<br />

#


drahtlosen Netz bedeutet das, dass ich alles immer und<br />

überall finden kann. Deshalb sage ich, dass Google,<br />

zusammen mit Wi-Fi, ein wenig wie Gott ist. Gott ist<br />

drahtlos, Gott ist überall und Gott sieht und weiß alles.<br />

#<br />

Gegen Mittag läutete mein Handy. Ich schreckte hoch,<br />

schlug mit dem Kopf gegen die Decke meiner Koje und<br />

fand das Telefon nicht schnell genug. Das Läuten hörte<br />

wieder auf. Als ich das verdammte Ding endlich am<br />

Boden meines Rucksacks fand, war mir die Nummer<br />

nicht bekannt. Ich rief zurück und landete in der<br />

Redaktion einer großen Tageszeitung.<br />

Der Typ am anderen Ende der Leitung hatte von<br />

irgendwoher von unserer Presseaussendung erfahren. Er<br />

stellte ein paar Fragen, ich gab ein paar Antworten. Ich<br />

bat ihn, auch die nächsten Konzerttermine zu erwähnen.<br />

Er versprach das zu tun, wenn Platz sei.


Am nächsten Tag kauften wir die Zeitung, aber die<br />

Nachricht war nicht mehr als eine Kurznotiz. Immerhin<br />

war das Konzert am selben Abend in Livorno erwähnt.<br />

Statt der üblichen 50 bis 70 Leute kamen auch<br />

tatsächlich 75 zum Konzert. War das schon Max’<br />

helfende Hand im Hintergrund gewesen? Na dann Gute<br />

Nacht.<br />

„Deine Medienarbeit ist scheiße“, zischte Anna, während<br />

sie auf die Bühne stieg.<br />

Danach spielten wir in Carrara, da kamen sogar nur 30<br />

zahlende Besucher. Google News meldete seit drei<br />

Tagen keinen neuen Artikel. Kein Mensch hatte das<br />

YouTube-Video angesehen, keinerlei Reaktion auf<br />

Facebook.<br />

Von Max hörte ich keinen Ton und er hatte auch die<br />

Mails nicht beantwortet, als ich ihm die Links geschickt<br />

hatte. Ließ er mich hängen?<br />

Ich legte für uns einen twitter-Account an, postete den<br />

Link zum Video und investierte dann fast zwei Stunden,<br />

um den Accounts von Popjournalisten und -magazinen


und Musikern zu folgen, in der Hoffnung, ihr Interesse<br />

zu wecken.<br />

#<br />

Manchmal glaubst du, das ganze Leben auf Tournee ist<br />

nicht wirklich. So viele Orte, so viele Menschen, so viel<br />

Alkohol. Manchmal glaubst du, du sitzt vor einer<br />

Leinwand und das alles ist nur ein Film.<br />

Jemand kreuzt durch die Welt. Mal nach Westen, mal<br />

nach Osten, nach Süden und nach Norden. Er sitzt den<br />

ganzen Tag im Bus und starrt aus dem Fenster und lebt<br />

seinen Traum, aber immer öfter fragt er sich, welchen<br />

Scheiß er da träumt. Sein Rücken ist ein Desaster und<br />

die letzten zehntausend Kilometer haben sein Steißbein<br />

wund gerieben. Er fühlt sich, als wäre er hundertfünfzig<br />

Jahre alt.<br />

Dieser Jemand schleppt jeden Abend die Instrumente in<br />

einen Keller, atmet stundenlang verrauchte Luft,<br />

betrinkt sich, nimmt alle Drogen, die er finden kann.


Dann verkriecht er sich in den Bus oder pennt dort, wo<br />

er gerade umfällt. Hin und wieder kriegt er davor noch<br />

mit, dass die Frau, die er liebt, einen anderen abschleppt,<br />

und er trinkt dann besonders viel Alkohol und denkt,<br />

aber hey, das ist Rock ’n’ Roll, und es ist ohnehin stets<br />

jemand, den sie nie wieder sehen wird.<br />

#<br />

Wir lagen im Bus in unseren Kojen, auf der Fahrt von A<br />

nach B, und lasen. Plötzlich blickte Eugene auf und<br />

sagte: „Ich habe eine Idee für dich. Eine Idee für ein<br />

Buch, falls du noch eines schreiben willst.“<br />

„Oh“, sagte ich überrascht. „Lass hören.“<br />

„Du brauchst etwas mit einer Meta-Ebene. Etwas mit<br />

einer Aussage.“<br />

„Aha. Ich dachte, ich möchte einfach nur eine<br />

spannende Geschichte erzählen ...“<br />

„Nein.“<br />

„Nein?“


„Nein. Sieh es doch so: Wenn du schon zigtausende<br />

Stunden in so ein Projekt steckst, kann es auch einen<br />

tieferen Sinn haben, oder?“<br />

„Klingt überzeugend. Da gibt’s nur ein Problem.“<br />

„Und das wäre?“<br />

„Ich habe nichts von Bedeutung zu sagen.“<br />

„Das stimmt doch nicht“, sagte Eugene. „Du hast etwas<br />

zu sagen. Du machst dir Sorgen um die Freiheit der<br />

Kunst. Um das Recht auf Zugang zu Information. Um<br />

die Zukunft.“<br />

Ich glaube, ich machte ein ziemlich überraschtes Gesicht<br />

in diesem Moment. „Ah ja. Das tue ich?“<br />

„Natürlich. Du hast in London zu diesem<br />

Krawattenmenschen doch gesagt, was er vorhabe, sei<br />

kultureller Darmkrebs. Oder hast du das nicht gesagt?“<br />

„Doch, doch.“<br />

„Eben. Und du hast recht. Unsere ganze Kultur, nicht<br />

nur die Kunst, sondern auch die Philosophie und die<br />

Wissenschaft und sogar die Wirtschaft beruhen darauf,


dass wir eine Idee, die jemand vor uns hatte, nehmen<br />

und verbessern. Das sind derivative Werke.“<br />

„Ja, schon ...“<br />

„Hör zu: eine italienische Stadt im Hochmittelalter,<br />

Florenz oder Bologna, vielleicht auch Siena. Die Stadt<br />

brodelt, ganz Norditalien ist in einen seit Generationen<br />

andauernden Konflikt verwickelt, Kaisertreue und<br />

Papsttreue schneiden sich bei Nacht und Nebel<br />

gegenseitig die Kehle durch, führen gegeneinander<br />

Kriege, zetteln Revolutionen und Gegenrevolutionen an,<br />

suchen Verbündete und schließen Geheimverträge.<br />

Keine Seite kann dauerhaft die Oberhand erringen und<br />

nach und nach gewinnen die lachenden Dritten: Die<br />

Kaufleute, mächtige Familien, die immer reicher<br />

werden, indem sie dem Kaiser oder dem Papst oder<br />

beiden Kredit gewähren und ihre Armeen ausstatten.<br />

Unser Held ist der Sohn einer solchen Familie.“<br />

Bei den Worten „unser Held“ unterdrückte ich ein<br />

Lächeln. Mir gefiel Eugenes Begeisterung für das


Thema, auch wenn ich noch nicht wusste, worauf er<br />

hinauswollte. „Nennen wir ihn ... Giacomo“, sagte ich.<br />

„Giacomo wird zum Studieren an die Universität<br />

geschickt. Das war damals etwas völlig Neues:<br />

Universitäten. Die Erste entstand in Bologna, gegen<br />

Ende des 11. Jahrhunderts, wenn ich mich recht<br />

erinnere. Die Kaufleute schickten dort ihre Söhne hin.<br />

An den Universitäten wurde damals nicht geforscht,<br />

moderne Forschung war ja auch noch unbekannt.<br />

Zunächst wurde nur gelehrt: Rechnen, Lesen, Schreiben.<br />

Dazu Sprachen und Geografie, weil die Kaufleute auf<br />

der Suche nach neuen Waren begannen, die ganze Welt<br />

zu bereisen. Marco Polo kam dabei bis nach China, von<br />

dieser Zeit reden wir. Das muss alles in der Geschichte<br />

eingefangen werden: dieser Aufbruch in eine neue Zeit.<br />

Die Kaufleute entwickeln das erste internationale<br />

Bankensystem, die doppelte Buchhaltung, Lagerführung<br />

et cetera. All das wird an den Universitäten gelehrt, und<br />

was ist der wichtigste Raum jeder Universität?“<br />

Ich zuckte mit den Schultern.


Eugene lächelte. „Der Copy-Shop. Zumindest war das<br />

zu meiner Zeit so. Wir haben die Skripten der<br />

Vortragenden tonnenweise kopiert. Heutzutage lädt<br />

man sich das vermutlich alles runter ... aber egal. Schon<br />

die Universitäten des Mittelalters waren riesige Copy-<br />

Shops. Der Begriff Vorlesung kommt daher, dass sich<br />

die Professoren an ihr Pult stellten und ein Buch<br />

vorlasen. Und die Studenten saßen auf den Bänken und<br />

schrieben mit. Ihre Aufgabe war es tatsächlich, das ganze<br />

Buch abzuschreiben, das der Professor diktierte. So<br />

stellte man sich damals guten Unterricht vor.<br />

Wenn zwanzig Studenten in der Vorlesung saßen, gab es<br />

danach zwanzig Kopien. Aber das Buch des<br />

Vortragenden war ja selten ein Original, der Professor<br />

hatte es während seiner Studentenzeit meist selbst<br />

diktiert bekommen. Verstehst du: Ein Student, der drei<br />

Vorlesungen besuchte, besaß danach drei Bücher. Er<br />

konnte in die nächste Stadt ziehen und dort anbieten,<br />

über eben diese drei Bücher Vorlesungen zu halten.<br />

Damit wurde er zum Vortragenden. Wenn er Glück


hatte, bestand Bedarf und er fand zehn oder zwanzig<br />

Studenten. Und wenn er im Jahr darauf weiterzog,<br />

blieben von diesem Buch ebenso viele Kopien in der<br />

Stadt zurück. Oder wurden von anderen Studenten an<br />

andere Universitäten gebracht. Weil Latein die<br />

Universalsprache der Gelehrten war, spannte sich das<br />

Netz der reisenden Professoren bald über ganz Europa,<br />

bis nach Paris, London und Krakau. Aus einer Kopie<br />

konnten so nach einem Jahr zwanzig werden, nach zwei<br />

Jahren vierhundert, nach drei Jahren achttausend.<br />

Theoretisch zumindest ...<br />

Möglich gemacht hat diese Entwicklung die Erfindung<br />

des Papiers. Es war billig und in großen Maßen<br />

herzustellen. Es hat die Massenkommunikation<br />

demokratisiert. Pergament, das war selten und teuer,<br />

deswegen konnten es sich nur die Klöster leisten und<br />

jeder einzelne Bogen wurde wie eine Kostbarkeit<br />

behandelt. Beschriebene Blätter wurden sogar<br />

abgeschabt, um sie noch einmal verwenden zu können.<br />

Deswegen sind diese Pergament-Bücher auch so


prunkvoll bemalt und ausgearbeitet: Weil das<br />

Grundmaterial bereits so exklusiv war. Da konnte man<br />

es sich leisten, in seinem ganzen Leben nur ein einziges<br />

Buch abzuschreiben. Nein, umgekehrt, man konnte es<br />

sich nicht leisten, viele Bücher zu vervielfältigen. Und<br />

Papier hat das geändert. Papier war für die Massen. Für<br />

das schnelle Mitschreiben. Sogar die Handschrift der<br />

Menschen hat sich mit seiner Einführung geändert.<br />

Papier war so was wie das Internet des Mittelalters ...<br />

Norditalien war das Zentrum der Papierproduktion. Es<br />

ist kein Zufall, dass die Universitäten und später der<br />

Humanismus und die Renaissance hier entstanden sind.<br />

Es war eine Folge des Papiers. Eines modernen, quasidemokratischen<br />

Massenkommunikationmittels.<br />

Ja, daran denkt jeder. Unterhaltung als<br />

Herrschaftsinstrument, um das Volk ruhig zu stellen.<br />

Aber du könntest in deinem Roman eine andere, viel zu<br />

wenig beachtete Facette zeigen: Unterhaltung als ein<br />

Instrument, um die Bürger zu bilden. Wir greifen zu<br />

Dante.“


„Dante“, echote ich verwirrt. Was wollte Eugene nun?<br />

„Klar. Die göttliche Komödie, der erste<br />

Unterhaltungsroman auf Italienisch, in der Sprache des<br />

gemeinen Volkes. Das Papier war sozusagen die<br />

Hardware. Und bald darauf folgte die Software:<br />

Literatur in einer Sprache, die die breiten Massen<br />

verstanden, nicht nur die Eliten. Dante hat den ersten<br />

Bestseller für die Massen geschrieben. Wäre billiges<br />

Papier zweihundert Jahre früher oder später erfunden<br />

worden, wäre Dante unbedeutend geblieben. Er hätte<br />

die Unterhaltungsliteratur nicht erfinden können. Vor<br />

Dante war Lesen – und damit natürlich auch Schreiben<br />

– vor allem eine Arbeitstechnik, durch Dante wurde<br />

Entertainment daraus. Und die Menschen lernten lesen,<br />

zu tausenden. Nach Dante lasen sie Boccaccios<br />

Decamerone, und dann waren sie schon bei Petrarca und<br />

mittendrin im Humanismus. Ohne<br />

Unterhaltungsliteratur wäre der ganze Humanismus,<br />

diese ganze große geistige Revolution, ein kleines<br />

Elitenprojekt geblieben und bestenfalls viel, viel


langsamer abgelaufen. Wahrscheinlicher ist noch, dass<br />

die norditalienische Blütephase genauso eingeschlafen<br />

wäre wie die griechische zweitausend Jahre davor. Aber<br />

die Italiener haben die kritische Masse erreicht. Und<br />

wie? Eben durch Massenmedien. Unterhaltungsliteratur<br />

hat die breite Basis geschaffen, auf der dann alles andere<br />

wachsen konnte.“<br />

Er sah mich an, aber ich schwieg.<br />

„Deswegen geht es nicht nur um Pop, wenn du in der<br />

Zeitung liest, dass Kinder von Gerichten verfolgt<br />

werden, nur weil sie ein paar Songs getauscht haben.<br />

Hier geht es um Alphabetisierung, um digitale<br />

Alphabetisierung, hier geht es darum, dass wir gerade<br />

dabei sind, neue Kulturtechniken zu lernen, die die Welt<br />

verändern werden. Und wir sollten uns das nicht<br />

wegnehmen lassen, wir sollten uns nicht beschneiden<br />

und kontrollieren lassen, nicht von Regierungen und<br />

nicht von Großkonzernen.<br />

Wir leben in einer spannenden Zeit, denn es ist das<br />

Ende der Welt, wie wir sie kennen. Während die


Menschen da draußen den ganzen Tag ihre ach so<br />

wichtigen Termine im Organizer abhaken, Texte<br />

schreiben, Tabellen kalkulieren, Mails versenden und<br />

Files saugen, während sie online Zeitung lesen und sich<br />

über die Regierung ärgern und über die Opposition<br />

weinen, während sie ihre Freundschaften via Facebook<br />

pflegen, und die Feindschaften auch, während sie abends<br />

schließlich vor dem Fernseher einschlafen und im DVD-<br />

Player ein Film läuft, der erst in zwei Wochen ins Kino<br />

kommt – während sie also den ganzen Tag nur das tun,<br />

was man heutzutage eben so tut, tun sie Großes.<br />

Sie überschreiten die Schwelle zu einem neuen Zeitalter,<br />

lassen die öde alte Industriegesellschaft hinter sich und<br />

treten ein in die neue, aufregende<br />

Informationsgesellschaft. Klar, das ist in den letzten<br />

Jahren zum weit verbreiteten Stehsatz geworden, beinahe<br />

schon zur Plattitüde, kaum ein Magazin, kaum eine<br />

Zeitung hat sich des Themas nicht schon angenommen.<br />

Aber gerade weil wir alle wissen, dass sich die Welt für<br />

immer ändert, ist es doch erstaunlich, wie wenigen


Menschen diese Tatsache auch bewusst ist. Immerhin<br />

kann uns ja einiges bevorstehen. Das letzte Mal, als<br />

Vergleichbares geschehen ist, als die Menschheit von der<br />

Agrar- zur Industriegesellschaft überging, hat das Kriege,<br />

Revolutionen und Massaker zur Folge gehabt, in Summe<br />

ein paar Millionen Tote, ein paar hundert Jahre<br />

Blutvergießen – und in einigen Ecken der Welt ist dieser<br />

Prozess noch gar nicht beendet und wir stolpern schon<br />

in den nächsten“, sagte Eugene.<br />

Nächste Station: Genua!<br />

Wir übernachteten in einem besetzten Haus, dem<br />

Centro Sociale Carlo Giuliani, spielten abends ein<br />

Gratiskonzert im Innenhof vor zwanzig Leuten.<br />

„Ich bin pleite“, sagte ich zu Eugene.<br />

Er drückte mir hundert Euro in die Hand. „Aus der<br />

Bandkasse“, sagte er. „Viel mehr haben wir nicht.“<br />

#


„Vielleicht sollten wir dann keine Gratiskonzerte geben,<br />

hm?“, fragte ich.<br />

„Das sind alte Freunde von uns. Morgen geben wir hier<br />

ein richtiges Konzert, dann kommt wieder Geld rein.“<br />

Ich sah mich um. Zwanzig versoffene Hunnen,<br />

tätowiert, gepierct, die Schädel entweder rasiert oder mit<br />

Rastazöpfen zugefilzt oder beides, sprangen in der<br />

Gegend herum.<br />

„Na toll“, sagte ich. „Dann sind wir ja ab morgen reich.“<br />

Am nächsten Tag besuchten wir Fabio, einen alten<br />

Freund von Eugene, der ein kleines Restaurant in der<br />

Innenstadt betrieb. Wir aßen gut und kostenlos, tranken<br />

hervorragenden Wein und amüsierten uns. Anna spielte<br />

auf der Harmonika, Carlos begleitete sie auf einer<br />

akustischen Gitarre und wir sangen. Es war ein lustiger<br />

Nachmittag und wir übersahen beinahe die Zeit.<br />

Fast wären wir zu spät zu unserem eigenen Konzert<br />

gekommen. Aber dann hätten wir was verpasst!<br />

#


Als wir zurück in das besetzte Haus kamen, war der<br />

Innenhof zum Bersten gefüllt. Keine Hunnen, sondern<br />

etwas konventionelleres Publikum, Typ linksliberale<br />

Studierende der Geistes- und Humanwissenschaften.<br />

„Was wollen denn die Schickimickis da?“ fragte Carlos.<br />

Der hatte wohl noch nie echte Schickimickis gesehen.<br />

„Euer Konzert sehen“, sagte einer der Hausbesetzer, ein<br />

Hunne mit grünen Haaren. „Wir hatten schon Sorge,<br />

dass ihr nicht kommt.“<br />

„Habt ihr Eintritt kassiert?“, fragte Eugene.<br />

„Klar, und wir kassieren immer noch. Das ist alles für<br />

euch, meine Lieben.“<br />

„Der Hof ist fast voll“, sagte ich. „Wir könnten ja mit<br />

dem Preis ein wenig raufgehen.“<br />

Eugene und der Hunne blickten mich streng an. Ich<br />

sagte nichts mehr.<br />

„Was schätzt du, wie viele das sind?“, fragte Eugene.<br />

„Zweihundert“, sagte ich.


Der Hausbesetzer schüttelte den Kopf. Und deutete auf<br />

die Fenster im ersten Stock. Rund um den Hof waren sie<br />

geöffnet und man sah dahinter ganze Trauben von<br />

Menschen. „Viel mehr. Ich würde sagen<br />

vierhundertfünfzig bis fünfhundert.“<br />

„Nicht schlecht“, sagte Eugene.<br />

„Aber warum?“, fragte ich.<br />

„Das weiß ich auch nicht“, sagte der Hunne. „Aber das<br />

ist jetzt auch egal. Wir haben alles bereitgemacht. Ihr<br />

könnt spielen. Legen wir los!“<br />

„Legen wir los!“, sagte Eugene und setzte sich in<br />

Bewegung. Ich kämpfte mich mit den anderen zur<br />

Bühne durch.<br />

Kurzer Soundcheck.<br />

Eine hübsche schwarzhaarige Italienerin nahm<br />

Blickkontakt mit mir auf. Ein Geheimnis des Erfolges<br />

bei potenziellen Sexpartnern: Steh auf der Bühne. Steh<br />

hinter der Absperrung. Steh im VIP-Bereich. Egal wie<br />

beschissen die Location, egal wie lächerlich der Anlass:<br />

Steh immer dort, wo die wichtigen Menschen stehen.


Du musst drinnen sein, und die anderen draußen. Auch<br />

wenn es nur ein Konzert einer unbekannten Punkband<br />

in einem vergammelten Hinterhof ist, das spielt keine<br />

Rolle.<br />

Ich bückte mich, tat so, als würde ich an der<br />

Monitorbox ein Kabel richten. „Hi.“<br />

Sie: „Hello.“<br />

Ich: „Ziemliches Gedränge da unten, hm?“<br />

Sie: „?“<br />

Ich überlegte, was Gedränge auf Italienisch heißen<br />

konnte. „Wie heißt du?“<br />

Sie sagte etwas.<br />

Ich. „Ein sehr schöner Name. Du siehst gar nicht aus, als<br />

ob du Punk mögen würdest.“<br />

„Das kommt darauf an. Ich bin mit Freunden hier.“<br />

„Verstehe. Und die stehen auf Punk.“<br />

„Das kommt darauf an.“<br />

Ich kratzte mich am Kopf. Kein leichter Fall. „Seid ihr<br />

oft hier?“


„Das erste Mal“, sagte sie. „Dieser Ort ist ziemlich ...<br />

fucked up!“<br />

Ich grinste. „Und warum seid ihr dann heute hier?“<br />

„Das war eine spontane Idee. Wir hatten nichts<br />

Besonderes vor und sind bei mir vor dem Fernseher<br />

gesessen, und dann haben wir diesen Bericht auf MTV<br />

gesehen und uns gedacht, wir könnten uns euch mal<br />

ansehen ...“<br />

Sie sprach ganz leise und mit Akzent und ich war mir<br />

nicht ganz sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte.<br />

Nein, man muss es anders sagen: Ich wusste, dass ich sie<br />

richtig verstanden hatte, ich konnte es nur nicht ganz<br />

glauben. Mir wurde schwindelig. Meine Knie drohten<br />

nachzugeben. Keine Ahnung, wie lange ich das<br />

Mädchen einfach nur anstarrte.<br />

Dann: „Wo hast du einen Bericht gesehen?“<br />

Sie. „Emm-Ti-Vi.“<br />

Wie drei Bomben explodierten diese Buchstaben in<br />

meinem Gehirn. Ich habe mich nicht verhört, dachte<br />

ich. Ich habe mich nicht verhört!


„Shit“, zischte ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst<br />

sagen sollte. Sie sah mich fragend an.<br />

„Spielst du auch mit?“, fragte Anna.<br />

Die Drummachine begann, den Takt anzugeben. Carlos<br />

E-Geige sang ihr orientalisches Klagelied. Ein etwas<br />

verhaltener Applaus war zu hören, der Rhythmus<br />

drückte die Nummer vorwärts, die Leute standen ruhig<br />

da und beobachteten, was auf der Bühne passierte. Anna<br />

stand mit dem Rücken zum Publikum.<br />

Ich beugte mich zu ihrem Ohr. „Ich weiß, warum so<br />

viele Leute hier sind.“<br />

„Und?“<br />

„MTV hat über uns berichtet.“<br />

„MTV?“ Sie sah mich fragend an.<br />

„Ja!“, rief ich und strahlte übers ganze Gesicht. „Ich habe<br />

ihnen die Presseaussendung noch einmal geschickt und<br />

dann so lange in der Redaktion angerufen, bis ich bei<br />

einem Redakteur durchgekommen bin, den das<br />

interessiert hat.“ Das war gelogen. Max musste das<br />

gedreht haben.


Sie sah mich ungläubig an und ich bekam noch weichere<br />

Knie. Anna verpasste ihren Einsatz, Carlos rief ihr etwas<br />

zu. Sie nickte langsam, wartete auf den richtigen<br />

Zeitpunkt und legte dann los. Sie lächelte mich an,<br />

glücklich, stolz. Nach ein paar Takten drehte sie sich um<br />

und stürmte ans Mikro. Sie sang Babylon mit einer<br />

Intensität wie nie zuvor und das Intro entwickelte sich<br />

zu dem repetitiven, repetitiven Thema. Dmitri stieg ein.<br />

Dann Carlos. Dann ich.<br />

Patam. Pa-ta-ta-tam. Patam. Wir spielten uns die Seele<br />

aus dem Leib.<br />

Samba. Ska. Ska-Punk!<br />

La Defense, die Kreuzung aus Chanson und Blues.<br />

Kinston Stray Cats, die Kreuzung aus Rockabilly und<br />

Ragga. Pa-ta-ta-tam. Flamenco. Rumba. Csardas und<br />

Roma-Musik. Punk. Viernes Negra, die Kreuzung aus<br />

Charleston und Hardrock. Dann wieder langsam. Salsa:<br />

Son, Mambo, Cha Cha Cha. Ich kannte jede Note, ich<br />

kannte jede Nuance. Ich war der König der Welt.


Das Publikum ging mit. Die Menschen tanzten,<br />

streckten ihre Arme in den Himmel, klatschten mit. Das<br />

Mädchen war verschwunden, aber sie interessierte mich<br />

nicht mehr.<br />

Hip-Hop, Rap und Reggae. Hardcore. Punk.<br />

Repetitatam. Patam!<br />

Anna sprang mit ausgestreckten Armen ins Publikum<br />

und ließ sich fangen und von hunderten Händen durch<br />

den Hof tragen und dabei sang sie, das Funk-Mikro fest<br />

umklammert. Ich hielt den Atem an, eine Unendlichkeit<br />

lang, bis das Publikum sie wieder zurückgab, auf die<br />

Bühne, vor die Leinwand. Eugene drückte eine Taste auf<br />

seinem Notebook. Der Atompilz stieg hinter ihr auf,<br />

während sie den Bass anschnallte.<br />

Doch dann war es plötzlich still.<br />

Kein Ton kam von der Bühne. Anna und wir anderen<br />

standen da, die Augen geschlossen, völlig regungslos.<br />

Aus dem Publikum hörte man Gemurmel. Die Leute<br />

waren unruhig. Sie waren gut drauf, betrunken, in<br />

Partylaune, und plötzlich bremste man sie von 180 auf


null, in weniger als einer Sekunde. Es war, als wären sie<br />

gegen eine Betonwand gefahren. Doch dann begannen<br />

einige zu begreifen. Das war es, wovon MTV berichtet<br />

hatte. Die Schweigeminute. Manche zischten, ich hörte<br />

sie „Silenzio“, flüstern, das Wort lief von Mund zu<br />

Mund. Ein paar Menschen zückten Feuerzeuge. Es<br />

wurde leiser. Noch mehr Feuerzeuge. Die Minute war<br />

um, aber Anna hängte noch ein paar Sekunden dran.<br />

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.<br />

Dann sagte Anna auf Italienisch: „Tausend Dank.“<br />

#<br />

Popkultur-Journalisten leben in einem beinharten<br />

Konkurrenzkampf. Sie müssen ihren Kollegen immer<br />

eine Nasenlänge voraus sein. Sie müssen die Band<br />

entdecken, nach der die anderen noch nicht mal suchen.<br />

Erfahrene Popschreiber entwickeln ein feines Sensorium<br />

dafür, welche Band, welcher Film, welcher<br />

Nachwuchsstar the next cool thing sein wird.


Handwerkliche Qualität ist wichtig, reicht aber nicht.<br />

Ein fettes Marketing-Budget im Hintergrund ist da<br />

schon ein viel besserer Indikator. Es ist leicht vorherzusehen,<br />

dass Shakira im Sommer 2002 der Shootingstar<br />

in Europa sein wird, wenn die Plattenfirma schon im<br />

Januar alle namhaften Journalisten nach Barcelona fliegt,<br />

damit sie das Mädchen persönlich kennenlernen<br />

können. Und wenn man dann erste Abzüge der<br />

Promotion-Fotos sieht, wenn man seine Augen kaum<br />

davon lösen kann, wie sich ihre langen Finger um die<br />

Taille krallen – dann weiß man auch schon, welches<br />

Cover-Foto in ein paar Monaten die Hälfte aller<br />

Magazine des Kontinents zieren wird. Shakira ist nur ein<br />

Beispiel, aber kein beliebiges, sondern dasjenige, bei dem<br />

mir selbst das Prinzip klarwurde. Puh, lange her.<br />

Es ist immer dasselbe. Nach der sündteuren Präsentation<br />

und den vielen, vielen Interviews gibt’s am Abend eine<br />

Super-VIP-Party. Geile Location. Hi, lange nicht<br />

gesehen, wie geht’s? Toll, deine neuen Bvlgari-<br />

Sonnenbrillen – hast du die gekauft oder ist das euer


Presseexemplar? Nur Small Talk, aber es ist eine<br />

kritische Situation. Die Produktmanager kleben an den<br />

Journalisten aus den Ländern ihres<br />

Zuständigkeitsbereiches. Jetzt entscheidet sich der<br />

Erfolg. Eher beiläufig erwähnen sie das geplante<br />

Anzeigenbudget, das die Markteinführung begleiten soll.<br />

Die Journalisten rümpfen die Nase, als ginge sie das<br />

nichts an. Es zählt nur die Qualität der Musik. Apropos<br />

... noch viel, viel beiläufiger fragt dann ein Journalist den<br />

anderen: Und, wie findest du’s? Ach so, aha, ja ja, seh<br />

ich auch so ... In weniger als einer Stunde gibt es im<br />

Raum einen Konsens. Wir entscheiden im Kollektiv.<br />

Wenn wir heimfliegen, wissen wir, ob wir das nächste<br />

coole Ding gesehen haben. Eine sich selbst erfüllende<br />

Prophezeiung. Daheim, ein paar Tage später, schreiben<br />

wir die Kritik. Daumen rauf oder Daumen runter. Jeder<br />

Journalist ein kleiner Cäsar, jedes Magazin ein Circus.<br />

#


Eugene setzte sich im Bus neben mich. „Hast du die<br />

Idee mit deinem Roman schon aufgegeben?“<br />

„Nein“, sagte ich. „Aufgegeben nicht, aber aus den<br />

Augen verloren. Warum? Hast du wieder einen<br />

Vorschlag?“<br />

„.Ja, kann sein. Weiß nicht.“<br />

„Lass hören.“<br />

„Ich habe nochmal über die Meta-Ebene nachgedacht.<br />

Und ich glaube, die Geschichte sollte eine Warnung<br />

sein.“<br />

„Eine Warnung?“<br />

„Ja. Dass all diese Freiheiten, die das Internet und<br />

Mobiltelefone und so weiter uns ermöglichen, auch<br />

leicht verloren gehen können.“<br />

„Das weiß man doch ...“<br />

„Trotzdem. Man muss es den Leuten immer wieder<br />

bewusst machen. An einem historischen Beispiel: dem<br />

Buchdruck.“<br />

„Okay ...“<br />

„Ich stelle mir das als dreiteilige Serie vor ...“


Ich lachte auf. „Eine dreiteilige Serie?“<br />

„Ja.“<br />

„Vielleicht ist dir entgangen, dass ich noch nicht einmal<br />

ein einziges Buch geschrieben habe, geschweige denn<br />

einen Verlag gefunden – und jetzt willst du mir gleich<br />

eine Serie vorschlagen?“<br />

„Warte doch mal ab und hör mir zu. Also, erster Teil.<br />

Hier geht’s um die Hardware, um die Entwicklung der<br />

Technik. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, so ab<br />

den frühen 1430er- Jahren, experimentiert in Straßburg<br />

und Mainz ein Mann mit neuartigen Druckmaschinen.<br />

Sein Name lautet ...“<br />

„Gutenberg“, sagte ich.<br />

„Eigentlich Johannes Gensfleisch, aber er nennt sich<br />

Gutenberg. Er hat einen Investor gefunden, der seine<br />

Entwicklungsarbeit finanziert und mit ihm die erste<br />

Druckerei aufbaut. Das Ziel ist es, eine effiziente und<br />

preiswerte Technik für den Buchdruck zu entwickeln,<br />

um damit möglichst viel Geld zu verdienen. Sie sind


keineswegs die Ersten mit dieser Idee, aber Gutenberg<br />

gelingt der Durchbruch.<br />

Der Kern seiner Erfindung ist nicht die Druckerpresse<br />

an sich, die gab es schon davor. Aber es wurden ganze<br />

Seiten aus Holz geschnitzt, wie riesige Stempel. Das war<br />

teuer und unpraktisch. Gutenberg erfindet ein kleines<br />

Handgießinstrument. Damit lassen sich metallene<br />

Typen herstellen, aus denen man schnell und flexibel<br />

beliebige Texte zusammensetzen kann, Buchstabe für<br />

Buchstabe. Der Satz ist geboren. Und bitte die Parallele<br />

zu beachten: Das Herunterbrechen einer Druckseite in<br />

einzelne Typen ist gewissermaßen eine Digitalisierung.<br />

Und es ist eine Industrialisierung, wir reden hier von<br />

Massenfertigung und niedrigen Preisen. Mit seinen<br />

günstigen Bibeln, oder zumindest relativ günstigen<br />

Bibeln, wird Gutenberg praktisch über Nacht berühmt.<br />

Jetzt kommt aber das Spannende: Gutenberg hat kein<br />

Interesse am politischen Potenzial seiner Erfindung.<br />

Dem geht es überhaupt nicht um hehre Werte, der will<br />

einfach nur Geld verdienen. Er legt keinen großen Wert


auf Konkurrenz und bemüht sich sehr, die technischen<br />

Details des Verfahrens geheim zu halten. Solange er lebt,<br />

breitet sich der Buchdruck nur langsam aus. Zum Glück<br />

für den Rest der Menschheit verlässt alle paar Jahre ein<br />

Geselle den Meister, nimmt sein Wissen mit, geht in<br />

eine andere Stadt und eröffnet dort eine eigene<br />

Druckerei. Und warum?“<br />

„Um reich zu werden.“<br />

„Genau. Hier geht’s nur ums Geschäft. Meist wiederholt<br />

sich dieser Prozess ziemlich bald: Nach ein paar Jahren<br />

machen sich die Gesellen der Exgesellen in dem<br />

lukrativen neuen Gewerbe selbständig, dann die<br />

Gesellen der Exgesellen der Exgesellen. Langsam erst,<br />

dann immer schneller, breitet sich die ‚Schwarze Kunst‘<br />

so über Europa aus.“<br />

Ich ließ mich darauf ein. „Der Roman, der erste Teil<br />

zumindest, müsste also von einem jungen<br />

Buchdruckerlehrling handeln. Vielleicht eine Waise, ein<br />

Straßenkind, das von einem Gesellen gerettet und<br />

aufgenommen und ausgebildet wird. Der Geselle ist neu


in der Stadt, er hat gerade seinen Meister verlassen und<br />

möchte seine eigene Druckerei aufbauen, und der Junge<br />

hilft ihm dabei, sich in der fremden Stadt<br />

zurechtzufinden.“ Ich lächelte. Das war wirklich eine<br />

spannende Idee. „Aber wo spielt die Geschichte?“<br />

Eugene nahm einen Notizzettel zur Hand, auf dem eine<br />

Liste von Jahreszahlen und Städten stand. „Such dir was<br />

aus: Bamberg und Straßburg erreicht der Buchdruck<br />

1459, Köln 1464, Basel und Rom 1467, Augsburg<br />

1468, Venedig 1469, Mailand und Paris 1470, Florenz<br />

1471, Lübeck und Aalst 1472, Brügge 1473, Pilsen<br />

1475, London 1476, Valencia und Rostock 1478. Im<br />

Jahr 1490 sind Druckereien in 105 verschiedenen<br />

europäischen Städten bekannt. Amerika ist da noch gar<br />

nicht entdeckt, aber schon 1537 steht in Mexico City<br />

die erste Druckerpresse der Neuen Welt.“<br />

„Mexiko, 1537“, sagte ich.<br />

Eugene schüttelte den Kopf. „Bleib in Europa. 1537 hat<br />

der Buchdruck schon gezeigt, was er vermag: Die


Reformation steht in voller Blüte. Und das ist der zweite<br />

Teil. Software. Inhalte. Nenn es, wie du willst.“<br />

„Okay, die Reformation ...“<br />

„Klar, die unmittelbare Folge des Buchdrucks. Martin<br />

Luther war ja nicht der Erste, der die verweltlichte<br />

Kirche kritisiert hatte. Im 14. Jahrhundert trat zum<br />

Beispiel in England John Wycliff gegen den Papst auf,<br />

kaum war Wycliff tot, forderte Jan Hus in Prag die<br />

Macht der Kirche heraus. Hus endete am<br />

Scheiterhaufen, in seinem letzten Brief schrieb er ...“<br />

Eugene griff zu seinem Notebook, brauchte ein paar<br />

Sekunden und las dann vor: „Das aber erfüllt mich mit<br />

Freude, dass sie meine Bücher doch haben lesen müssen,<br />

worin ihre Bosheit geoffenbart wird. Ich weiß auch, dass<br />

sie meine Schriften fleißiger gelesen haben als die Heilige<br />

Schrift, weil sie in ihnen Irrlehren zu finden wünschten.“<br />

„Ein Scheiterhaufen liefert natürlich ein spektakuläres<br />

Ende für einen Roman.“<br />

„Nein, wir können Jan Hus nicht nehmen.“<br />

„Nicht?“


„Nein. Auch wenn Hus sich über seine Leser gefreut hat,<br />

seine Bücher waren handschriftlich verfasst und<br />

vervielfältigt, die Reichweite seiner Gedanken war<br />

begrenzt. Erst sechzig Jahre nach seinem Tod wurde<br />

seine tschechische Übersetzung des Neuen Testaments<br />

gedruckt. Wir brauchen den Buchdruck, also weder<br />

Wycliff noch Hus. Aber man kann im Roman auf sie<br />

Bezug nehmen, um zu zeigen, wie wesentlich der<br />

Unterschied war, den die Verfügbarkeit und Nicht-<br />

Verfügbarkeit von Massenmedien ausmachte.“<br />

Ich runzelte die Stirn. „Dann muss ich das aber auch<br />

alles recherchieren und irgendwie überfordert mich<br />

schon der bloße Gedanke daran.“<br />

„Ich könnte dir helfen ...“<br />

„Hm. Machen wir mal weiter. Vielleicht kommt ja was<br />

raus dabei.“<br />

Eugene sah wieder auf seine Notizen. „Okay. Der<br />

Nächste in der Reihe ist Girolamo Savonarola, ein<br />

Bußprediger aus Florenz. Er ist der erste ‚Ketzer‘, der das<br />

neue Medium nutzt. Ab 1492 schreibt Savonarola


Pamphlete und lässt sie drucken. Die Schriften finden<br />

reißenden Absatz und machen ihn so einflussreich, dass<br />

er schon zwei Jahre später die Medici aus der Stadt<br />

vertreiben kann. Er versucht, in Florenz einen<br />

Gottesstaat zu errichten. Natürlich, alle Mächtigen der<br />

Welt verbünden sich gegen ihn, der Papst, der Kaiser<br />

und die großen Handelsfamilien, und sie nehmen<br />

Florenz wieder ein, Savonarola wird verhaftet und 1498<br />

hingerichtet. Bis dahin verbreitet er mehr als 100<br />

Schriften. Einige davon gelangen ein Jahrzehnt später<br />

während eines Italienaufenthaltes auch in die Hände von<br />

Martin Luther.<br />

Und mit Luther beginnt die große Erfolgsstory der<br />

Drucktechnik dann wirklich. Im Oktober 1517<br />

veröffentlicht er die 95 Thesen gegen den Ablasshandel,<br />

ab dann verbreiten sich seine Schriften in Windeseile.<br />

Als Luther im Januar 1521 exkommuniziert wird, sind<br />

vermutlich rund 300.000 Exemplare im Umlauf. Die<br />

kritische Masse, der Tipping Point, ist damit erreicht:<br />

Diese Ketzerei ist von Rom nicht mehr zu stoppen. Und


Luther legt nach. Im Herbst 1521 übersetzt er das Neue<br />

Testament, 1523 eine Psalmenbesprechung Savonarolas,<br />

1525 stellt er sich in der Bauernrevolte mit einem Buch<br />

auf die Seite der Fürsten, die den Aufstand daraufhin<br />

brutal niederschlagen und ab dann Luthers politische<br />

Machtbasis sind.“<br />

„Da könnten wir ansetzen. Der Lehrling aus dem ersten<br />

Teil führt nun die Druckerei, er stellt sich auf Luthers<br />

Seite, druckt heimlich seine Schriften. Als die<br />

Bauernrevolte ausbricht, stellt er sich auf die Seite der<br />

Bauern – und kann nicht verstehen, dass Luther das<br />

nicht tut. Er versucht Luther zu überzeugen und gerät<br />

mitten in die Machtkämpfe. Geheimagenten der Fürsten<br />

jagen ihn durch ganz Deutschland, die Kirche ist hinter<br />

ihm her, die Bauern misstrauen ihm auch. Das ist gut.<br />

Das ist großartig!“ Ich war begeistert.<br />

Eugene lachte, aber er hob seine Hand, um mich zu<br />

bremsen. „Moment, nicht so schnell. Wir müssen noch<br />

die Rahmenbedingungen für den dritten Teil festlegen.<br />

Da geht’s jetzt um Zensur, darauf läuft alles hinaus, das


ist das Ziel unserer ganzen Trilogie. Nach Hardware und<br />

Software nennen wir diesen Teil Firewall.“<br />

„Die Inquisition“, sagte ich.<br />

„Natürlich sieht die katholische Kirche dem Treiben der<br />

Reformatoren nicht tatenlos zu: 1534 wird Paul III.<br />

Papst. 1540 erkennt er den Orden der Jesuiten an, die<br />

fortan seine treuesten Soldaten sein werden. 1542<br />

gründet Paul III. mit der Bulle Licet ab initio die<br />

Römische Inquisition. Ihre Aufgabe ist es ab nun, den<br />

intellektuellen Widerstand des katholischen Lagers zu<br />

organisieren. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung<br />

macht das Foltern unschuldig Denunzierter nur einen<br />

kleinen Teil ihrer Arbeit aus. Den Großteil ihrer Zeit<br />

verbringen die Inquisitoren mit dem Lesen von<br />

tausenden Büchern. Sie sind Schreibtischtäter. Finden<br />

sie in einem ‚gefährliche‘ Gedanken, so landet es auf<br />

dem Index Librorum Prohibitorum und Katholiken<br />

dürfen das Buch weder lesen noch besitzen.<br />

Vordergründig scheinen die Inquisitoren die Antwort


auf Luthers Lehre zu sein, in Wahrheit aber sind sie die<br />

Reaktion auf Gutenbergs Technik.<br />

Übrigens kann man hier eine tolle Nebenhandlung<br />

einflechten, die sich durch alle drei Teile zieht: Während<br />

Savonarola in Florenz regiert, nimmt auf der Universität<br />

im nahen Bologna ein junger Gast aus Europas Norden<br />

sein Studium auf: Nikolaus Kopernikus. Und während<br />

Luther die Welt in Unruhe versetzt, verbringt dieser<br />

Mann sein ganzes Leben beschaulich und zurückgezogen<br />

mit mathematischen und astronomischen Studien. Erst<br />

unmittelbar vor seinem Tod im Jahre 1543 lässt er ein<br />

Buch drucken, dass die Inquisition in Zukunft mehr<br />

plagen wird als alle Reformatoren zusammen: Von den<br />

Bewegungen der Himmelskörper.“<br />

„Das heliozentrische Weltbild.“<br />

„Irgendwie kann man ja Kopernikus sicher einbinden.<br />

Oder Galilei. Oder Bruno. Oder...“<br />

„Aber der Hauptstrang dreht sich um einen<br />

Druckerlehrling, der in die Machtkämpfe rund um die


Reformation und schließlich in die Fänge der<br />

Inquisition gerät“, sagte ich.<br />

„Möglich. Da gibt’s aber noch etwas, das meiner<br />

Meinung nach hineinsollte.“<br />

„Und das wäre?“<br />

„Die Entstehung des Copyright. So bin ich ja überhaupt<br />

auf diese Idee gekommen“<br />

„Wie gehört das denn da rein?“, fragte ich.<br />

„Zurück nach 1469. Ein Deutscher kommt nach<br />

Venedig und will dort die erste Druckerei errichten.<br />

Und natürlich will er verhindern, dass ihm die eigenen<br />

Gesellen, die er erst mühsam anlernen muss, in wenigen<br />

Monaten Konkurrenz machen. Die Mächtigen der Stadt<br />

plagt wiederum eine andere Frage: Sie wollen zwar, dass<br />

Venedig über die neue Technik verfügt – aber nicht,<br />

dass sie jeder beliebig nutzen kann. Also einigt man sich<br />

und der Deutsche bekommt ein exklusives<br />

Druckprivileg. So etwas wie ein Monopol. Im Gegenzug<br />

muss er aber alle Druckwerke genehmigen lassen. Beide<br />

Seiten sind zufrieden.“


„Ist das wirklich ein Copyright?“<br />

„Der unmittelbare Vorläufer davon. In England läuft das<br />

kurze Zeit später ähnlich, dort entsteht das Wort<br />

Copyright logischerweise, und es ist eben das Recht,<br />

Kopien eines Werkes anzufertigen. Dieses Recht erhält<br />

aber nicht der Autor, sondern die Druckerei. Wer ein<br />

Buch drucken will, braucht dazu das von der Regierung<br />

ausgestellte Copyright. Also eine Genehmigung.<br />

Gleichzeitig ist das Copyright auch ein Exklusivrecht,<br />

das anderen Druckereien den Nachdruck verbietet. Die<br />

Drucker unterwerfen sich also freiwillig der Kontrolle<br />

der Krone, weil diese im Gegenzug ihre Renditen<br />

schützt. Das ist extrem effizient, weil die Drucker sich<br />

gegenseitig mit Argusaugen beobachten: Wer ein Buch<br />

ohne Copyright druckt, verliert seine Lizenz. Jemandem<br />

so ein Vergehen nachzuweisen, ist die sicherste Art,<br />

Konkurrenz auszuschalten. Die Folge davon: Niemand<br />

wagt es, Bücher ohne staatliche Genehmigung zu<br />

drucken. Toll, oder?“<br />

„Klingt spannend.“


„Dieses Copyright ist eine noch striktere Kontrolle als<br />

die der Inquisition: Eine Liste verbotener Bücher<br />

bedeutet ja, dass alles, was nicht verboten ist, erlaubt ist.<br />

Aber Druckprivilegien bedeuten, dass alles, was nicht<br />

erlaubt ist, verboten ist.“<br />

Ich stöhnte leise auf. „Okay. Aber wo siedle ich die<br />

Romane jetzt an. In Florenz? In Venedig? In Rom? In<br />

Deutschland oder England? Ich bin verwirrt.“<br />

Eugene zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es auch<br />

nicht. Du bist der Autor. Lass dir etwas einfallen. Aber<br />

denke dran: Spannend ist nicht wirklich die<br />

Vergangenheit, sondern die Parallele zu dem, was jetzt<br />

passiert. So. Ich mache mir jetzt was zu essen.“ Damit<br />

klappte er sein Notebook zu und ließ mich alleine<br />

zurück.<br />

#<br />

Michael Gieseke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit:<br />

Die Bindung der Chancen der typographischen


Kommunikation an das ökonomische System hat die<br />

weit reichende Folge, dass man von nun an über einen<br />

wichtigen Zweig der Informationsverbreitung nur noch<br />

unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Prinzipien<br />

nachdenken kann. So wie es wenig fruchtet, über die<br />

mittelalterlichen Formen skriptographischer<br />

Kommunikation zu reden, ohne auf die Bedeutung der<br />

Kirche Rücksicht zu nehmen, so wenig kann man über<br />

die typographische ‚Massen‘-Kommunikation sprechen,<br />

ohne auf die Marktmechanismen der Neuzeit<br />

einzugehen.<br />

Die Utopien der Marktwirtschaft: Kapitalakkumulation,<br />

Wettbewerb, Eigenverantwortung, Fortschritt und<br />

grenzenloses Wachstum beeinflussen die Utopien über<br />

die Nachrichtennetze und über die Autoren und Leser.<br />

Ältere, nicht ökonomisch fundierte Triebkräfte werden<br />

durch die Marktgesetze überformt.<br />

#


Niklas Luhmann, Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation:<br />

Viel von der religiösen Radikalisierung, die<br />

schließlich zu den konfessionellen Spaltungen geführt<br />

hat, geht aufs Konto des Buchdrucks, weil er Positionen<br />

öffentlich verfestigt, die man schwer wieder<br />

zurücknehmen kann, wenn man mit ihnen identifiziert<br />

ist. Für die Politik ergibt sich durch den Buchdruck die<br />

Möglichkeit zu politischem Einfluss und politischen<br />

Karrieren außerhalb des Fürstendienstes; der Verzicht<br />

auf Übernahme eines Amtes am Hofe bedeutet nicht<br />

mehr unbedingt Verzicht auf politischen Einfluss, und<br />

darauf muss die Politik sich dann einstellen.<br />

#<br />

John Seely Brown/Paul Duguid, The Social Life of<br />

Information, Vorwort zur zweiten Ausgabe: Kurz gesagt:<br />

Das Revolutionäre am Buchdruck umfasste auch soziale<br />

Organisation, juristische Neuerungen und die<br />

institutionalisierte Kreativität, das zu entwickeln, was


heute aussieht wie ein einfaches Buch, und die darin<br />

enthaltene Information. Entgegen der Annahme, dass es<br />

nur auf die technische Innovation ankommt, wird auch<br />

die digitale Revolution ähnliche nichttechnische<br />

Entwicklungen brauchen, um ihr Potenzial<br />

auszuschöpfen.<br />

#<br />

Unser Ziel, eine kleine Straße mit dem viel zu groß<br />

geratenen Namen Corso Europa, lag direkt neben der<br />

Fußgängerzone, die den Dom von Mailand umgibt. Es<br />

war eine schmale Einbahn. Wir hielten mit dem Bus vor<br />

dem Haus Nummer 7, mitten auf der Straße. Hinter<br />

uns hupte jemand in einem schicken, dunkelroten Alfa<br />

GT. Eugene und ich stiegen aus und gingen zum Tor.<br />

Auf einem kleinen, unscheinbaren Schild stand: MTV<br />

Italia.<br />

Ich klingelte.


Nach ein paar Sekunden meldete sich eine junge Frauenstimme.<br />

„Si?“<br />

Eugene übernahm das Reden. Er nannte den Namen<br />

eines Redakteurs und behauptete, einen Termin bei ihm<br />

zu haben.<br />

„Einen Moment, bitte“, sagte die Stimme, dann hörten<br />

wir beinahe zwei Minuten lang nichts. Der Kerl im Alfa<br />

brüllte etwas aus dem Fenster. Hinter ihm standen<br />

bereits drei weitere Autos.<br />

Eugene läutete noch einmal.<br />

„Ja, bitte?“ Die Stimme war männlich. „Sie haben einen<br />

Termin bei mir?“<br />

„Ja“, sagte Eugene und zeigte mir den erhobenen<br />

Daumen. „Wir sind die Soundinistas und wir kommen<br />

wegen des Interviews.“ So viel verstand ich auch auf<br />

Italienisch.<br />

„Die Soundinistas?“<br />

„Die Schweigeminute. Die Klage.“<br />

„Oh... Das muss ein Missverständnis sein ...“ Er sagte<br />

noch etwas, aber meine Italienisch-Kenntnisse reichten


nicht mehr, um dem Rest der Unterhaltung zu folgen.<br />

Ich hörte auch kaum noch ein Wort, denn nun begann<br />

ein mehrstimmiges Hupkonzert. Der Fahrer des GT war<br />

ausgestiegen und zu unserem Bus nach vorne gegangen.<br />

Er beschimpfte Carlos, der am Steuer saß, doch der tat,<br />

was er am besten konnte: arrogant wegschauen, als ginge<br />

ihn das alles nichts an.<br />

Eugene schüttelte den Kopf. „Abgeblitzt“, sagte er.<br />

„Welch Überraschung.“<br />

„Dann wollen wir doch mal ein wenig Lärm machen“,<br />

sagte er. „Hast du die Journalisten informiert?“<br />

„Klar“, sagte ich. „Es kann sich nur noch um Minuten<br />

handeln, bis die Ersten eintreffen.“<br />

Eugene gab ein Handzeichen in Richtung Bus. Carlos<br />

drückte auf eine Taste. Eine Sekunde später peitschte ein<br />

Gitarrenriff durch die enge Gasse, in einer Lautstärke,<br />

dass die Fenster wackelten. Dmitri und Anna kletterten<br />

auf das Dach des Busses und entrollten ein Transparent,<br />

das an der rechten Seite hinunterfiel. Darauf stand in<br />

bunten Lettern:


MTV: Let us in!<br />

Carlos und ich kletterten zu ihnen aufs Dach. Die ganze<br />

Band sollte zu sehen sein. Eugene sperrte inzwischen den<br />

Bus ab und hielt draußen die Stellung. Der Hysteriker<br />

mit dem Alfa hatte inzwischen kaum noch Stimme, aber<br />

einen purpurroten Kopf, und hüpfte herum wie<br />

Rumpelstilzchen auf drei E.<br />

Vom Dach des Busses aus sah ich, dass inzwischen die<br />

ganze Straße voll mit Autos war. Die ersten Grüppchen<br />

von Passanten bildeten sich. Ein junger Mann<br />

applaudierte uns, als er das Transparent sah. Vom Dom<br />

kamen ein Paar Touristen rüber, angelockt von der<br />

lauten Rockmusik.<br />

„Wir sollten live spielen“, sagte ich zu Carlos.<br />

„Hier auf dem Dach?“<br />

„Ja.“<br />

Er sah sich prüfend um. „Ein bisschen schweißen heut<br />

Nacht, und das geht schon.“


„Du hast ein Schweißgerät im Bus?“<br />

„Nein, aber wir haben einen Freund, der hat eine<br />

Werkstatt am Stadtrand von Mailand.“<br />

„So was hätte ich mir eigentlich denken können.“<br />

Er schmunzelte. „Wenn wir kleine Bodenstreben ans<br />

Dach schweißen, gegen die wir uns abstützen können,<br />

könnten wir sogar spielen, während wir ganz langsam<br />

durch die Stadt rollen.“<br />

Ein Fotograf tauchte auf. Eugene sprach ihn an. Wenige<br />

Sekunden später kam ein Kamerateam angelaufen,<br />

vorbei an den sich stauenden Autos. Sie hielten auf uns<br />

drauf und wir winkten in die Kamera und Carlos<br />

drängte sich nach vorn und posierte mit seiner Gitarre.<br />

„Hey“, sagte ich. „Wir sind ja nicht Status Quo. Lass<br />

Anna nach vorne.“<br />

„Mach dir nicht gleich in die Hose, Kleiner“, sagte er.<br />

Ich mach dir gleich in deine Hose, dachte ich, aber sagte<br />

nichts. Stattdessen legte ich den Kopf in den Nacken<br />

und beobachtete die Fassade des Hauses Nummer 7.<br />

Irgendwo dahinter befanden sich die MTV-Studios.


Aber ich wusste nicht mal, ob der Sender Fenster zur<br />

Straßenseite hin hatte. Konnten sie uns sehen? An ein<br />

paar Fenstern standen bereits einige Personen, aber man<br />

konnte zu wenig erkennen, um sie einzuordnen.<br />

„Die Polizei ist da“, sagte Carlos.<br />

Ich sah drei Uniformierte. Eugene sprach mit ihnen und<br />

einer davon schrieb irgendetwas in einen kleinen Block.<br />

Der Alfa-Fahrer schrie und gestikulierte wild herum. Die<br />

Fotografen und der Kameramann kreisten die Gruppe<br />

ein. Einer der Polizisten versuchte, den Choleriker<br />

wegzuschieben, und machte beschwichtigende<br />

Bewegungen in die Fernsehkamera.<br />

Eugene ging ein paar Schritte weg von den anderen und<br />

rief mich am Handy an.<br />

„Kommt runter“, sagte er.<br />

„Ich?“<br />

„Alle!“<br />

„Jetzt schon? Sollten wir nicht noch ein wenig ...“<br />

„Nein. Die Bilder sind gemacht. Ich habe den<br />

Journalisten gesagt, dass wir morgen um dieselbe Zeit


wiederkommen. Sie werden es bringen und selbst auch<br />

wiederkommen. Mehr können wir heute nicht<br />

erreichen. Und ich möchte nicht wegen Mordes<br />

verurteilt werden, wenn der Typ mit dem Alfa einen<br />

Herzinfarkt kriegt.“<br />

#<br />

Die Nachricht von unserer Aktion verbreitete sich<br />

rasant. Irgendjemand lud ein offensichtlich mit einem<br />

Handy gefilmtes Video auf YouTube und twitterte den<br />

Link, nicht ohne unseren Account zu erwähnen. Jemand<br />

anders twitterte daraufhin den Link auf unser erstes<br />

Video, das „Original“. Am Abend erschien ein Beitrag in<br />

einem Blog, den ich allerdings nicht verstand. Am<br />

nächsten Morgen war ein Artikel über uns in Il<br />

Manifesto, sogar mit Foto. Zwei Radiosender<br />

berichteten in den Morgen-nachrichten von unserer<br />

Aktion. Zu Mittag waren wir im Fernsehen in den


Lokalnachrichten zu sehen. Und überall hieß es: Heute<br />

werden sie es wieder versuchen, 16 Uhr, Corso Europa.<br />

Während die anderen zu Carlos Freund fuhren, um das<br />

Dach des Busses zur Bühne umzubauen, machten<br />

Eugene und ich Medienarbeit.<br />

In meinem Mail-Account: ein paar Einladungen zu CD-<br />

Präsentationen, Film-Previews und Agentur-Partys. Alle<br />

an anonyme Verteiler geschickt, keine davon an mich<br />

persönlich adressiert. Die Mails von Chefredakteuren<br />

blieben inzwischen gänzlich aus. Niemand fragte mich<br />

um eine Story.<br />

Ich war raus aus dem Geschäft. So weit die schlechte<br />

Nachricht.<br />

Siebenundzwanzig Mails an die Soundinistas. Die<br />

meisten fanden die Klage der Musikindustrie scheiße –<br />

und fragten uns, warum wir auf MTV wollten und<br />

damit auch an diesem Scheißsystem teilnehmen. Tja,<br />

dachte ich. Weil wir hier eine geplante Kampagne fahren<br />

und konventionelle Medien für eine konventionelle


Kampagne leichter planbar sind als Facebook und<br />

Twitter und so weiter.<br />

Google News Italia meldete inzwischen zweiunddreißig<br />

Treffer, davon alleine zwölf Artikel über unseren Auftritt<br />

vor den MTV-Studios.<br />

Google News International, englisch, meldete sieben<br />

Storys.<br />

Google News Deutschland meldete vier Berichte,<br />

Frankreich drei, die spanische Seite auch drei.<br />

#<br />

Ein paar Stunden später. Als wir mit unserem Stockbus<br />

wieder vor den Studios des Senders ankamen, warteten<br />

bereits rund hundert Schaulustige. Fünf Fotografen,<br />

zwei Kamerateams. Ein Dutzend Polizisten.<br />

Eugene hielt den Stockbus auf derselben Stelle wie am<br />

Tag zuvor an. Sofort sprangen zwei der Polizisten vor<br />

ihm auf die Straße. Sie deuteten ihm, die Tür zu öffnen.<br />

Er schüttelte den Kopf.


„Macht schnell“, sagte er und drehte die Musik auf.<br />

Wir eilten in den ersten Stock. Carlos öffnete die<br />

Dachklappe. Er packte Anna um die Hüften und hob sie<br />

hoch. Ich starrte auf ihren nackten Bauch unter dem viel<br />

zu kurzen T-Shirt.<br />

„Hilfst du mir?“, fragte Carlos.<br />

Ich machte ihm die Räuberleiter, dann reichte ich ihm<br />

eine Bongo, meine Gitarre, Annas Bass, eine Trompete<br />

für Carlos. Dmitri hängte sich seine Gitarre um und zog<br />

sich nach oben, ich hinterher.<br />

„Sind die Kabel alle angeschlossen?“, rief Anna.<br />

„Ja“, antwortete Eugene von unten. „Macht schnell!“<br />

„Los geht’s“, sagte sie.<br />

#<br />

Es war ein wenig wie beim legendären U2-Konzert am<br />

Dach eines Hochhauses. Okay, für das Publikum war es<br />

vermutlich nicht ganz so legendär, aber für mich war es<br />

das. Wir rockten und die Leute lachten und klatschten


und die Polizisten versuchten Eugene zu überzeugen, sie<br />

in den Bus reinzulassen.<br />

Wir spielten Babylon und Resistentia und Bella Ciao<br />

und dann hielt Anna eine kurze Rede, die Eugene und<br />

ich mit ihr vorbereitet hatten.<br />

„Das hier ist kein Konzert“, sagte sie. „Das hier ist ein<br />

politischer Protest. Eine unangemeldete politische<br />

Demonstration. Wir demonstrieren hier für unser Recht<br />

auf eine freie Kultur, frei im Sinne von freier Rede, nicht<br />

von Freibier. Einige von euch wissen vielleicht, dass wir<br />

von einem internationalen Medienkonzern verklagt<br />

werden. Wir hätten das Copyright eines Songs verletzt,<br />

behauptet dieser Konzern, und er schickt uns eine ganze<br />

Armee schleimiger Anwälte auf den Hals. Aber was<br />

haben wir getan? Was?“, fragte Anna.<br />

Die Augen der Zuschauer hingen an ihren Lippen.<br />

Meine hingen an ihren Hüften, dort, wo Carlos sie<br />

gepackt und hochgehoben hatte.<br />

„Die Antwort ist: nichts. Wir haben nichts gemacht. Im<br />

wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben nicht einen Ton


von uns gegeben. Wir haben eine Schweigeminute<br />

abgehalten, eine Schweigeminute für eine tote Freundin.<br />

Für meine Mutter. Und wir haben diese<br />

Schweigeminute online gestellt, damit jeder an unserer<br />

Trauer teilhaben kann. Dafür werden wir jetzt geklagt.“<br />

Buhrufe aus dem Publikum. Ich legte wieder den Kopf<br />

in den Nacken, um die Fassade zu beobachten. Heute<br />

sah ich hinter den Fenstern keine Schaulustigen. Sie<br />

boykottierten uns.<br />

„Die Konzerne beherrschen bald unser ganzes Leben“,<br />

sagte Anna und ihre Stimme vibrierte vor Nervosität.<br />

Mein Gott, war das sexy. Ich sah sie wieder an. Ich<br />

begehrte sie, ich konnte nicht anders. Wenn sie so auf<br />

der Bühne stand und die Welt sich nur um sie zu drehen<br />

schien, dann schmerzte das in jeder Faser meines<br />

Körpers.<br />

„Sie bestimmen, was wir anziehen und was wir essen und<br />

was wir besitzen. Aber das ist unwichtig. Das sind bloß<br />

materielle Dinge. Aber sie erobern auch unsere Gehirne<br />

und unsere Herzen. Sie definieren, was wir denken. Sie


pflastern unsere öffentlichen Räume mit Plakaten,<br />

drucken unsere Schulbücher, bestimmen, was in der<br />

Zeitung steht und wer im Fernsehen spricht, sie teilen<br />

sich die Radiofrequenzen und spielen uns Musik vor, die<br />

wir gar nicht wollen, und das so lange, bis wir ihre<br />

Scheißmelodien summen, weil sie uns nicht mehr aus<br />

dem Kopf gehen!“<br />

Applaus. Eine kurze Pause, Anna blickte auf den in ihrer<br />

Hand versteckten Notizzettel.<br />

„Wer hat sich nicht schon einmal dabei ertappt,<br />

irgendeine peinliche Melodie zu summen, die einfach<br />

nicht mehr aus dem Kopf wollte? Eine Melodie einer<br />

Band, auf die man aber so was von gar nicht steht ...<br />

kennt ihr das? Was sind wir? Verdammte Zombies oder<br />

was?“<br />

Wieder Gelächter. Sie hatte das Publikum in der Hand.<br />

„Und jetzt wollen die Großkonzerne auch noch das<br />

Letzte, was uns geblieben ist, das Schweigen“, sagte<br />

Anna. „Sie besitzen alles und sie kontrollieren alles und


wir, wir haben nichts mehr. Und jetzt greifen sie auch<br />

noch nach Vakuum, selbst das wollen sie uns noch<br />

wegnehmen. Sie kontrollieren die Musik, jetzt wollen sie<br />

auch noch die Stille. Ist das nicht völlig krank? Da<br />

erzählt man uns im Fernsehen und im Radio und in den<br />

Zeitungen immer, die Freie Rede sei das höchste Gut in<br />

einer Demokratie, und man erzählt uns, wir hier im<br />

Westen, wir lebten in den besten aller Demokratien,<br />

nicht wahr? Das erzählen sie uns. Und nun müssen wir<br />

nicht nur um die Freie Rede kämpfen, sondern sogar<br />

schon um das Freie Schweigen. Ist das nicht pervers?“<br />

Rufe der Zustimmung drangen zu uns herauf. Anna<br />

machte ihre Sache gut.<br />

„Aber es gibt ein Gegenmittel. Es gibt Bands, die keinen<br />

Plattenvertrag haben, die nicht den Großkonzernen<br />

gehören, die nicht gekauft und gecastet und genormt<br />

sind. Solche Bands sind das einzige Gegenmittel, das es<br />

gibt, und sie gehören in den Bauch des ganzen<br />

verdammten kranken Systems eingeführt. Deswegen<br />

wollen wir da hinein, hinter diese Mauern, direkt in den


Bauch des Systems. Wir wollen in die Studios von<br />

MTV!“<br />

„Die Rede ist scheiße“, sagte Carlos.<br />

„Sie ist von mir“, sagte ich.<br />

„Wir werden uns das Gedenken an einen lieben<br />

Menschen nicht verbieten lassen, von niemandem“, rief<br />

Anna. Und dann schwieg sie.<br />

Wir standen da, eine Minute lang, und machten nichts.<br />

Wir beobachteten die Menschen unter uns, lauschten<br />

dem leisen Gewirr ihrer Stimmen. Nach zehn Sekunden<br />

wurde die Menge leiser, nach einer halben Minute war<br />

sie völlig verstummt. Ich hatte ganz kurz das Gefühl,<br />

dass Totenstille über der Stadt lag.<br />

Dann flüsterte Carlos: „Hörst du das?“<br />

„Was?“<br />

„Die Autos. Die Flugzeuge. Die Touristen drüben in der<br />

Fußgängerzone. Die Fabriken am Stadtrand.“<br />

„Was ist damit?“<br />

„Darauf wollte John Cage mit seinem Stück aufmerksam<br />

machen.“


„Psssst!“, zischte Dmitri.<br />

„Auf die Autos?“ Ich bemühte mich, meine Lippen<br />

möglichst wenig zu bewegen.<br />

„Das ist die wahre Melodie von 4’33’’. Wir hören immer<br />

irgendetwas. Es ist nie völlig still.“<br />

Die Leute auf der Straße schwiegen mit uns. Niemand<br />

bewegte sich. Sogar die Polizisten verharrten und sahen<br />

sich unsicher um, so als ob sie nicht wüssten, ob sie<br />

gerade eine illegale Aktion beobachteten, die sie<br />

eigentlich verhindern sollten.<br />

War das illegal, was wir hier taten?<br />

Die Minute war vorbei. „Warte noch ein bisschen“,<br />

raunte ich Anna zu.<br />

Ich schloss die Augen und lauschte. Ich hörte eine Hupe.<br />

Eine der zahllosen orangefarbenen Mailänder Trams<br />

ratterte durch eine Parallelstraße. Ein Vogel. Sang da<br />

wirklich ein Vogel mitten in dieser lauten,<br />

zubetonierten, stinkenden Millionenstadt?<br />

„Ist es nicht faszinierend?“, flüsterte sie.<br />

„Pssst“, zischte Dmitri noch einmal.


„Das reicht jetzt ohnehin“, sagte ich und öffnete die<br />

Augen.<br />

Anna hob das Mikrofon an ihre Lippen und brüllte: „No<br />

sound is illegal!“<br />

Im Publikum brauste Applaus auf, als ob wir soeben<br />

unsere beste Nummer gespielt hätten – und in einem<br />

gewissen Sinne war das vielleicht auch der Fall. Wir<br />

verließen das Dach und kletterten wieder in den Bus.<br />

Im oberen Stock, durch die Bücherregale von Blicken<br />

abgeschirmt, fielen wir uns um den Hals. Eugene kam<br />

die Stiegen hochgelaufen, er gab Dmitri High Five,<br />

drückte Carlos an sich, und mich, und dann, lange und<br />

fest, Anna. Sie umarmte mich, lachte, nahm meinen<br />

Kopf in beide Hände und drückte mir einen dicken<br />

Kuss auf die Wange. Carlos umarmte Dmitri und mich<br />

und presste uns ganz fest aneinander, während er durch<br />

unsere Haare wuschelte und aus ganzem Hals lachte.<br />

„Los, machen wir, dass wir hier wegkommen“, sagte<br />

Eugene und eilte die Stufen wieder hinunter.


„Eine Anzeige bekommen wir ohnehin“, sagte ich, ihm<br />

auf den Fersen.<br />

Carlos schwang sich hinter das Lenkrad.<br />

„Einen Moment noch“, rief Eugene. Er flüsterte Anna<br />

etwas ins Ohr und drückte ihr einen Gegenstand in die<br />

Hand. Sie beugte sich über ihn, küsste ihn auf die Stirn<br />

und drückte den Knopf, der die Tür öffnete, sprang auf<br />

die Straße und lief zum Eingang des Hauses Nummer 7,<br />

vorbei an zwei überraschten Polizisten. In ihrer rechten<br />

Hand hatte sie einen dicken Stift, einen jener<br />

wasserfesten Marker, mit denen wir unsere technische<br />

Ausrüstung ebenso beschrifteten wie unseren<br />

Privatbesitz, Messer und Bierdosen zum Beispiel.<br />

Anna blieb neben dem Hauseingang stehen, aber ich sah<br />

nicht, was sie tat, sie war umringt von Menschen. Einen<br />

Moment lang fürchtete ich, man würde sie verhaften.<br />

Aber dann löste sie sich aus der Menge, lief zurück und<br />

sprang wieder in den Bus. Eugene schloss die Türe.


Beim Wegfahren sah ich das große, metallene Türschild<br />

mit der Gravur MTV Italia. Und in Rot stand quer<br />

darüber: Das gehört uns!<br />

Der Bus überquerte die Fußgängerzone, die Musik<br />

dröhnte aus den Boxen, die Leute zeigten mit dem<br />

Finger auf uns und lachten, viele begleiteten uns tanzend<br />

und singend, einige auch noch die Via Dante entlang.<br />

Dann bogen wir nach links, drehten die Musik ab und<br />

verschwanden im Gewirr der Straßen. Die Leute<br />

winkten uns nach, die Polizei ließ uns entwischen.<br />

#<br />

Dieter Daniels, Strategien der Interaktivität: Cages<br />

Kompositionen definieren meist keine exakte<br />

musikalische Mensch-Instrument-Interaktion [...] Der<br />

Prozess der Aufführung verbindet die individuelle<br />

Freiheit des Einzelnen zur Modifikation der Struktur<br />

mit der daraus resultierenden sozialen Interaktion in der<br />

Gruppe von Musizierenden. Diese nicht-hierarchische


Form der Kreativität lässt sich mit der so genannten<br />

Bottom-up-Struktur vergleichen, in der eine Open-<br />

Source-Software wie Linux von ihren Nutzern<br />

weiterentwickelt wird. In beiden Fällen kann ein<br />

gegebener Zeichencode so variiert und uminterpretiert<br />

werden, dass die Grenze zwischen Autor und Nutzer<br />

fließend wird.<br />

Der Gegentyp wäre die Top-down-Struktur, die sich in<br />

der präzise fixierten Notation einer klassischen<br />

Komposition ebenso findet wie in der proprietären<br />

Software, die Bill Gates' Microsoft Corp. entwickelt und<br />

für die die Geheimhaltung des Quellcodes die Basis eines<br />

kapitalistischen Monopols bildet. [...]<br />

Komposition soll für Cage kein möglichst perfektes Betriebssystem<br />

für Musikinstrumente liefern, sondern<br />

einen individuellen und sozialen Kreativitätsprozess in<br />

Gang setzen, der sich sukzessive von der Intention seines<br />

Initiators ablösen kann. Die Software von Bill Gates und<br />

anderen proprietären Systemen hält demgegenüber ihre<br />

Nutzer in Unkenntnis der Strukturen, die ihre ,Autoren‘


ihr eingeschrieben haben. Das Modell des tiefen<br />

Geheimnisses aller Kreativität, welches dem guten, alten<br />

idealistischen Kunstbegriff entlehnt ist, wird nur noch<br />

artifiziell aufrechterhalten und statt den hehren Zielen<br />

des Genies dient es dem schnöden Mammon des<br />

Monopols.<br />

#<br />

Früher Nachmittag, kurz vor Turin. Klingeling. Eine<br />

unbekannte Nummer, wie schon so viele heute. Aus<br />

England, diesmal.<br />

Es war eine neue Sekretärin von Max. „Darf ich<br />

verbinden?“<br />

„Natürlich“, sagte ich.<br />

Kurze Pause, My Sweet Lord tönte vom Band. Passende<br />

Wahl.<br />

„Hey, Mann! Coole Aktion gestern bei MTV“, sagte<br />

Max.


Ich bemühte mich, meine Stimme locker und<br />

selbstbewusst klingen zu lassen. „Ja, nicht wahr?“ sagte<br />

ich. „Und heute haben wir eine noch bessere Aktion<br />

geliefert. Hast du es im Fernsehen gesehen?“<br />

„Nein, ich hab nur den Bericht im Guardian gelesen.<br />

Unsere Presseabteilung sagt, dass auch bei der Times<br />

und ein paar Yellow Papers Artikel darüber recherchiert<br />

werden. Und scheinbar werden auch Der Spiegel, Le<br />

Monde und Liberation Kurzmeldungen bringen.“<br />

Und El Pais, dachte ich. Redakteure all dieser Zeitungen<br />

und noch einiger mehr hatten mich heute angerufen.<br />

Er fuhr fort. „Und El Pais, die NZZ, die Süddeutsche<br />

und die Zeit vermutlich auch. Alles, was zählt.“<br />

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und versuchte es<br />

mit: „Schau mal einer an.“<br />

„Ja, das tun wir sehr genau“, sagte Max. „Ich finde diese<br />

Entwicklung überaus ...“ Die Pause dauerte eine<br />

Ewigkeit. „... interessant. Der Werbe-Wert für Volvox<br />

ist beachtlich. Die Eigentümer sind etwas aus dem<br />

Häuschen, die wollten die Sache schließlich ruhig


angehen. Aber ich bin zufrieden. Wir lassen uns was<br />

einfallen, wir werden nachlegen.“<br />

In den paar Augenblicken, während uns die Sekretärin<br />

verband, hatte ich zu hoffen begonnen, Max würde kalte<br />

Füße bekommen und einfach versuchen, aus der Sache<br />

ohne Gesichtsverlust auszusteigen. Ein kurzer, schneller<br />

Sieg …<br />

Fehlanzeige.<br />

„In diesem Sinne wollte ich dir zu deiner erstklassigen<br />

Pressearbeit gratulieren“, sagte er. „Weiter so, Junge.“<br />

„Danke“, sagte ich.<br />

„Wir hören uns.“<br />

„Ja.“<br />

Brescia, Alessandria, Parma. Ausverkaufte Konzerte.<br />

Okay, wir spielten immer noch in recht kleinen Sälen,<br />

aber es war dennoch ein ganz neues Gefühl, ein sehr<br />

#


gutes Gefühl. Plötzlich merkte ich: Ich hatte Angst, es<br />

wieder zu verlieren.<br />

„Wir sollten nachsetzen“, sagte ich zu Eugene.<br />

„Morgen, in Venedig“, antwortete er.<br />

#<br />

Wir begannen bei der Basilica di Santa Maria della<br />

Salute, die pompös die östliche Spitze der Insel besetzt<br />

und so das Ende des Canale Grande markiert. Dann<br />

ging es weiter zur Accademia. Eine ehemalige Kirche, die<br />

nun als Galerie für alte Meister dient. „Carpaccio,<br />

Giorgione, Bellini, Tizian“, sagte Anna in die Kamera.<br />

Mit dem dicken roten Marker schrieb sie „Das gehört<br />

uns!“ auf eine Informationstafel, die an der Wand der<br />

Accademia angebracht war.<br />

Dann liefen wir wieder etwas weiter. Wir, das waren die<br />

Band und ein TV-Team von RAI Uno, das einen<br />

Bericht über uns drehte. Ich hatte das eingefädelt.<br />

Nächster Halt: die Peggy Guggenheim Collection.


„Picasso, Kandinsky, Chagall, Dalì, Magritte, Mondrian,<br />

Brancusi, Miró“, sagte Anna in die Kamera und sprayte<br />

dann auf den Boden vor den Eingang: Das gehört uns!<br />

Dann weiter zur Markuskirche, zum berühmten<br />

Glockenturm, zum Dogenpalast. Überall hinterließen<br />

wir unser Zeichen.<br />

„Was wollt ihr mit dieser Aktion erreichen?“, fragte die<br />

Fernsehreporterin.<br />

Anna befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze und<br />

sagte dann: „Uns geht es um die Freiheit der Kunst. Wir<br />

wollen zeigen, dass Kultur uns allen gehören muss und<br />

nicht einigen wenigen Konzernen überlassen werden<br />

darf.“<br />

Danke. Schnitt.<br />

Der Beitrag würde achtzig Sekunden dauern, mehr<br />

Material brauchte die Reporterin nicht. Sie hatte es eilig<br />

und wollte ins Studio.<br />

„Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie mich an“, sagte<br />

ich und sie nickte. Aber ich wusste, dass sie keine Fragen<br />

mehr haben würde.


Eugene kam hinzu. „Wissen Sie, was das hier für ein<br />

Gebäude ist?“, fragte er die Reporterin.<br />

Sie blinzelte verwirrt. „Der Dogenpalast.“<br />

„Natürlich“, sagte Eugene. „Aber wissen Sie, welche<br />

Rolle er in dieser Geschichte spielt?“<br />

„Welche Rolle er spielt?“<br />

„In diesem Gebäude wurde praktisch das Copyright<br />

erfunden.“<br />

„Tatsächlich?“ Sie blinzelte wieder.<br />

„Ja, natürlich. Im Jahr 1469 gewährte der Rat von<br />

Venedig ...“<br />

„Wann?“ fragte sie.<br />

„Vierzehnhundertneunundsechzig.“<br />

„Ich glaube nicht, dass das für unsere Story wirklich von<br />

Relevanz ist“, sagte sie. „Wir müssen jetzt zurück ins<br />

Studio.“<br />

Eugene zuckte mit den Achseln und schüttelte den<br />

Kopf. „Dann eben nicht.“<br />

Am Abend setzte er sich mit seinem Notebook und einer<br />

Handvoll Büchern an den Couchtisch im Bus. Er


schrieb einen Eintrag für den Blog, einen Text über die<br />

Erfindung des Buchdrucks, Venedig, seine Herrscher<br />

und das Recht auf Vervielfältigung von Information. Er<br />

gab mir den Text zu lesen und ich straffte ein paar Sätze,<br />

dann luden wir ihn hoch. Ich fand es ganz witzig,<br />

unseren Aktionen den Anstrich einer philosophischen<br />

Grundlage zu geben. Nicht dass ich dem Blog viel<br />

Bedeutung beigemessen hätte. Aber wenn wir schon<br />

einen Professor im Team hatten, warum ihn dann nicht<br />

nutzen?<br />

Anna küsste mich. Nur auf die Wange, aber immerhin.<br />

„Wir waren im Fernsehen!“, jubelte sie.<br />

„Ja, wir waren im Fernsehen.“<br />

„Ich war noch nie im Fernsehen“, sagte sie.<br />

„Tja.“ Ich auch nicht, aber warum sollte ich das<br />

betonen?<br />

#


„Das ist fantastisch, absolut großartig. Das hast du gut<br />

gemacht!“ Sie gab mir mit dem Ellbogen einen<br />

freundschaftlichen Schubs.<br />

„Ich dachte, meine Medienarbeit ist scheiße?“<br />

„Wer hat das gesagt?“<br />

„Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern.“<br />

„Na, dann solltest du es vergessen.“<br />

„Gut. Wird gemacht.“<br />

„Im Ernst: Danke.“<br />

„Im Ernst: Bitte. Gern geschehen.“ Ich versuchte, ihr tief<br />

und irgendwie bedeutungsvoll in die Augen zu blicken,<br />

aber sie wich aus.<br />

Stattdessen sagte sie: „Weißt du, als kleines Mädchen, da<br />

bin ich immer im Jazz-Pub meines Vaters gewesen, ich<br />

war immer lange auf, viel länger, als kleine Mädchen<br />

sonst auf sein dürfen, und ich habe immer die Sänger<br />

und vor allem die Sängerinnen bewundert. Ich musste<br />

mich immer verstecken, weil ich ja noch so jung war,<br />

und ich habe sie immer dafür bewundert, dass sie auf der<br />

Bühne stehen durften. Im Scheinwerferlicht. Einmal ist


Joan Baez bei uns aufgetreten. Das war fantastisch. So<br />

wie sie wollte ich seit dem immer sein. Eine<br />

Protestsängerin. Jemand, der die Leute aufrüttelt, der<br />

ihnen Feuer unterm Arsch macht. Ich war nur nie<br />

politisch genug. Und jetzt haben wir, irgendwie, eine<br />

Message.“<br />

Ihre Augen blitzten, sie provozierte mich. Aber ich hielt<br />

ihrem Blick stand. Nach ein paar Sekunden öffnete sie<br />

ihre Lippen zu einem Spalt, wollte etwas sagen, aber ich<br />

schob meine Hand in ihren Nacken, unter die Haare,<br />

packte zu, zog sie zu mir und küsste sie. Kurz schien es,<br />

als würde sie sich sträuben, aber dann wich die<br />

Anspannung aus ihrem Körper und sie gab nach.<br />

Nach dem Kuss drehte sie sich wortlos um und<br />

schlenderte betont lässig davon. Mein Blick folgte ihren<br />

Hüften.<br />

Und dann fragte ich mich, mit wem sie heute Abend<br />

schlafen würde.<br />

#


Es war der bisher heißeste Tag des Jahres. Die Schwüle<br />

war drückend, der Schweiß lief uns aus allen Poren. Die<br />

Gärten leuchteten in saftigem Grün, aber wir rannten<br />

und lachten und hatten keine Zeit, darauf zu achten. Ich<br />

kann mich noch erinnern, wie Annas T-Shirt nass an<br />

ihrem Körper klebte. Ich lief direkt hinter ihr und<br />

Carlos. Neben mir lief Dmitri. Hinter uns liefen die<br />

beiden Pseudo-Uniformierten. Leute von einem privaten<br />

Wachdienst, ausgerüstet mit nichts als Plattfüßen. Wir<br />

erreichten den Bus mit bequemem Vorsprung und<br />

Carlos schloss die Tür, winkte ihnen freundlich zu und<br />

wir brausten davon.<br />

Wir rasten durch die engen Gassen der Altstadt von<br />

Padua, weg von den Giardini dell`Arena und der am<br />

Rand der Gärten stehenden Kapelle, in der die<br />

berühmten Fresken zu sehen waren. Anfang des<br />

vierzehnten Jahrhunderts hatte der Maler Giotto, ein<br />

Freund Dantes, hier das Leben Jesu auf die Decke der<br />

Kapelle gemalt. Eugene hatte uns empfohlen, uns diese


Fresken anzusehen. „Sie sind berühmt, sie sind genial“,<br />

sagte er. Und wenn wir schon mal dabei wären, meinte<br />

er, könnten wir ja auch die Wachleute ein wenig ärgern.<br />

Während wir also liefen, schrieb Eugene vor dem<br />

Eingang der Kapelle, genau dort, wo zuvor die<br />

Sicherheitsleute gestanden hatten, mit neonrosa Spray<br />

auf den Boden: „Das gehört uns!“<br />

Dann ging er in aller Ruhe in die andere Richtung<br />

davon, stieg schließlich in ein Taxi und fuhr los.<br />

Wir trafen uns an einer Tankstelle am Stadtrand.<br />

#<br />

Dann Verona. Nach dem Konzert im Interzona scharten<br />

sich ein paar Dutzend Leute um uns.<br />

„Wo werdet ihr morgen eure Schweigeminute halten?“,<br />

fragten sie und machten gleich Vorschläge.<br />

„Vor der Arena natürlich!“, rief ein Mädchen, und ein<br />

Bursche antwortete: „Nein, macht es in der Arena!“


„In der Arena? Du spinnst, da kommen wir nie rein“,<br />

sagte sie, und jemand anders sagte: „Na klar, wir zahlen<br />

ganz normal Eintritt. Dann müssen sie uns reinlassen.“<br />

„Nicht mal dann lassen sie die Band hinein“, meinte<br />

jemand, und Eugene sagte sehr bestimmt: „Wir zahlen<br />

ganz sicher keinen Eintritt irgendwo.“<br />

„Dann stürmen wir die Arena eben“, schlug jemand vor.<br />

„Wenn die Bonzen dort ihre Opern aufführen dürfen,<br />

dann können wir auch hinein.“<br />

„Macht es doch im Hof von Julias Haus“, schlug ein<br />

Mädchen vor. Die Männer stöhnten genervt auf. „Oder<br />

warum nicht gleich am Balkon?“, fragte einer.<br />

„Was ist mit Castelvecchio?“, fragte eine Frau. Sie war<br />

attraktiv, Ende zwanzig, Anfang Dreißig. Ein paar Jahre<br />

älter als der Durchschnitt hier. Sie trug auch deutlich<br />

teurere Kleidung. Sie hatte lange, schwarze Haare mit<br />

einer einzelnen blitzblauen Strähne.<br />

Ich beugte meinen Kopf an Carlos’ Ohr. „Polizei?“<br />

„Kaum“, raunte er. „Außer ihre Tarnung ist so schlecht,<br />

dass sie schon wieder gut ist.“


„Gute Idee“, sagte jemand. „Da gibt’s jede Menge<br />

Renaissance-Gemälde. Bellini und so.“<br />

Es kamen noch sechs, sieben andere Vorschläge, Diskussionen<br />

entspannten sich, die Gruppe zerfiel in<br />

Untergruppen, ohne dass eine Entscheidung gefällt<br />

worden wäre.<br />

Eugene, Anna und ich drängten zur Bar, Carlos zog sich<br />

zurück, er wollte schlafen, Dmitri begleitet ihn. Anna<br />

bestellte drei Bier und drei Wodka.<br />

Die Frau mit der blauen Sträne stand plötzlich neben<br />

uns, lächelte.<br />

Eugene lächelte zurück.<br />

„Sophia“, sagte sie.<br />

„Eugene“, sagte er. Und zu Anna: „Vier Bier, vier<br />

Wodka.“<br />

Am nächsten Tag hielten wir unser kleines Konzert und<br />

die Schweigeminute übrigens tatsächlich vor<br />

Castelvecchio. Es waren fast hundert Leute anwesend.<br />

Ich könnte auch Fans schreiben. Hey, wir hatten Fans!


#<br />

Vicenza. (Ich glaube zumindest, dass diese Szene nach<br />

Vicenza gehört.)<br />

Wir parkten im Hinterhof des Lokals, in dem wir am<br />

Abend auftreten sollten. Auf uns wartete ein<br />

Empfangskomitee. Der Wirt – und zwei Polizisten in<br />

Zivil.<br />

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte Eugene auf Englisch.<br />

Es lag leichter Spott in seiner Stimme.<br />

„Sie könnten aufhören, das Eigentum anderer Menschen<br />

zu beschädigen“, antwortete der Jüngere der beiden. Er<br />

hatte einen leichten Akzent, aber sein Englisch war<br />

ausgesprochen gut.<br />

„Okay“, sagte Eugene und ging an ihm vorbei. „Noch<br />

was?“<br />

„Wollen Sie ins Gefängnis?“, fragte der Polizist. „Ist das<br />

ihr Ziel? Ist das ein Marketing-Trick?“<br />

Eugene blieb stehen, drehte sich um. „Nein. Und<br />

warum sollte ich ins Gefängnis kommen? Weil wir ein


Türschild von MTV beschmiert haben? Ist MTV schon<br />

so mächtig?“<br />

„Was ist mit Padua? In den Giardini dell’Arena? Wir<br />

haben die Videoaufnahmen davon, wie Sie ...“<br />

„Sie haben Videoaufnahmen? Das steht dutzendfach auf<br />

YouTube! Und was wollen Sie uns vorwerfen? Wir<br />

haben den Boden besprayt. Öffentlichen Grund.“<br />

„Eben, öffentlicher Grund. Das heißt nicht, dass Sie ihn<br />

für Ihre Privatzwecke nutzen dürfen.“<br />

„Ich habe dadurch niemandem etwas weggenommen.<br />

Die Freiheit des Einzelnen reicht bis zu dem Punkt, wo<br />

die Freiheit des Nächsten beginnt, oder nicht?“<br />

„Klar. Aber das ist trotzdem nicht Ihr Grund und<br />

Boden.“<br />

„Na, wenn es öffentlicher Raum ist, gehört er allen<br />

Menschen. Dann ist es auch mein Raum.“<br />

„Dieser Raum gehört allen Italienern. Sie sind, wenn ich<br />

richtig informiert bin, Amerikaner.“<br />

„Oh. Okay. Gegen diese nationalistische Engstirnigkeit<br />

habe ich keine Argumente mehr“, sagte Eugene.


Die beiden Polizisten gingen. Der Grauhaarige drehte<br />

sich an der Einfahrt zum Hof noch einmal um und rief<br />

mit seinem schweren Akzent „Be carrfull, guyss“, und<br />

weg waren sie.<br />

„Was war das jetzt?“, fragte ich Anna. Sie sah<br />

verunsichert drein.<br />

#<br />

Bevor wir Vicenza am nächsten Morgen verließen, gaben<br />

wir ein kleines Open-Air-Konzert am Dach unseres<br />

Busses in der kleinen Fußgängerzone vor der Basilica<br />

Palladiana. Palladio war einer der bedeutendsten<br />

Architekten der Renaissance, er hat Generationen nach<br />

ihm beeinflusst, sagte Eugene. Meinetwegen.<br />

Nach der Schweigeminute sprang Eugene aus dem Bus<br />

und sprayte direkt vor dem Eingang zur Basilika auf den<br />

Boden: Das gehört uns!<br />

Klick. Klick. Die Touristen und ein paar Presseleute<br />

machten ihre Fotos.


„Zivilpolizisten“, raunte mir Carlos ins Ohr und deutete<br />

auf zwei Männer, die sich möglichst unauffällig hinter<br />

Eugene positionierten. Sie ließen ihn gewähren. Eugene<br />

stieg in den Bus, wir kletterten vom Dach und fuhren<br />

weg.<br />

#<br />

Bologna. Das Konzert war ausverkauft, vor dem Lokal<br />

stand eine riesige Traube von Menschen, die nicht mehr<br />

hineinkamen.<br />

Am nächsten Tag spielten wir vor der Universität. „Die<br />

Erste der Welt“, sagte Eugene mindestens fünfmal. Vom<br />

Dach des Busses aus versuchte ich die Anzahl der<br />

Menschen zu schätzen.<br />

„Fünfhundert?“<br />

„Mehr“, sagte Dmitri.<br />

„Viel mehr“, sagte Carlos.<br />

„Die Freiheit des Wissens ist die Grundlage, die<br />

Existenzberechtigung einer Universität. Ohne die freie


Weitergabe von Wissen an den europäischen<br />

Universitäten wäre die Welt heute noch im finsteren<br />

Mittelalter gefangen“, rief Anna. Eugene hatte ihr das<br />

auf einen Zettel geschrieben. Die Leute stimmten ihr<br />

begeistert zu, viele linke Fäuste wurden in die Höhe<br />

gereckt, ich sah rote Fahnen, rote Sterne, Ché-T-Shirts<br />

und so weiter.<br />

Mehrere Menschen sprayten „Das gehört uns“ auf die<br />

Wände der Universität, auf den Boden, auf benachbarte<br />

Häuser. Die Polizei schaute zu und griff nicht ein.<br />

#<br />

Österreich, Celovec. Kaum Publikum. Entweder<br />

beschränkte sich unser Ruf auf Italien, was eine schlechte<br />

Nachricht gewesen wäre, oder wir waren hier nicht<br />

willkommen. Drei Punks tanzten nach dem Konzert auf<br />

der Straße weiter. Eugene stieg in den Bus, schaltete das<br />

Sound-System ein und spielte eine CD von den<br />

Ramones. Bald waren es fünf Punks, die auf der Straße


tanzten, dann sieben, dann zehn. Nach zwanzig<br />

Minuten fuhren ein paar weiße Kleinbusse vor und<br />

luden drei Dutzend Polizisten aus. Sie kreisten uns ein.<br />

Die Lokalredaktion des staatlichen Rundfunks schickte<br />

ein Kamerateam, aber nach einem kurzen Gespräch mit<br />

dem Kommandanten der Polizei fuhren die Journalisten<br />

wieder ab, ohne eine Sekunde Material gedreht zu<br />

haben.<br />

Der Kommandant kam zu Eugene und forderte ihn auf,<br />

die Musik abzudrehen. Eugene behauptete, kein<br />

Deutsch zu verstehen. Der Kommandant sagte auf<br />

Englisch, dass er wisse, wer wir seien, und dass er uns<br />

nicht den Gefallen tun werde, uns zu verhaften.<br />

Entweder wir würden sofort verschwinden oder die<br />

jungen Punks würden in den nächsten Wochen jede<br />

Menge Probleme bekommen. Denn sie würden bleiben,<br />

wenn wir wieder weg seien, sagte der Kommandant.<br />

Eugene drehte die Musik ab.<br />

„Willst du baden gehen?“, fragte mich Anna.<br />

„Wo?“


„Im Wörthersee.“<br />

Ich schwamm weit hinaus und genoss das kalte Wasser.<br />

Es war fast Neumond und entsprechend dunkel, und ich<br />

mochte das gruselige Gefühl, absolut nichts zu sehen.<br />

Plötzlich berührte mich etwas von hinten an der<br />

Schulter, und ich schrie leise auf.<br />

Anna lachte.<br />

„Hast du mich erschreckt“, flüsterte ich.<br />

„Warum flüsterst du?“, fragte sie, genauso leise.<br />

„Keine Ahnung. Warum flüsterst du?“<br />

Sie kicherte wieder. „Wusste gar nicht, dass du bei<br />

Nacht im Wasser so schreckhaft bist.“<br />

„Wer ist das nicht?“, fragte ich, aber ich wusste, worauf<br />

sie anspielte.<br />

Sie schwamm direkt neben mir, unsere Unterarme<br />

berührten sich. Sie war nackt, ich wusste es, auch wenn<br />

ich nichts sehen konnte. Sie war genauso nackt wie ich.<br />

„Und jetzt?“, fragte sie.<br />

Ich griff nach ihr, zog sie näher zu mir heran, spürte<br />

ihren Busen an meinem Brustkorb. Da packte sie mich


mit beiden Armen an den Schultern und drückte mich<br />

unter Wasser.<br />

Als ich wieder auftauchte, war sie weg.<br />

#<br />

Graz, zwei Tage. Ein Konzert an einem Ort namens<br />

„Dom im Berg“, einem Kulturzentrum in ehemaligen<br />

Luftschutzstollen, die durch einen gigantischen Felsen<br />

mitten in der Stadt getrieben worden waren.<br />

Wir wurden empfangen von einem Kurator, der ganz<br />

aufgeregt war und uns atemlos den größeren Kontext<br />

dessen, was wir taten, erklärte, und warum er sich so auf<br />

unseren Auftritt freue. Er verstehe nichts von<br />

Punkmusik, sagte er, aber das sei gar nicht wichtig. Er<br />

sprach von einer „Leitidee“ seines Projektes, davon,<br />

„Forschungsergebnisse der Kommunikations- und<br />

Informationstechnologien sowie deren Potenziale im<br />

sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext<br />

präsentieren“ und „global kommunizieren“ zu wollen,


von einem „Kommunikationsenvironment, dessen<br />

Kommunikationsebenen sowohl lokaler Natur sind, in<br />

Form von Veranstaltungen, Ausstellungen,<br />

Aufführungen, et cetera, als auch globaler Natur, auf der<br />

Basis der telematischen Kommunikationstechnologien,<br />

Internet, Satellit, et cetera“, er sprach von „globalen<br />

Informationsflüssen im Interesse eines besseren<br />

gegenseitigen Verständnisses“, er sprach davon, „den<br />

Transformationsprozess in die Wissensgesellschaft<br />

begleiten und kommentieren und an vorderster Front<br />

mittels der Informations- und Kommunikationsprozesse<br />

zur Stärkung der sozialen Bindungen in einer offenen<br />

Gesellschaft beitragen“ zu wollen, „um in dieser<br />

hochtechnologischen Kommunikationsgesellschaft die<br />

für die demokratiepolitischen Entscheidungs- und<br />

Evaluierungsprozesse qualifizierten Grundlagen zu<br />

vermitteln“.<br />

Und wegen all dessen, sagte er, war es so wichtig, dass<br />

wir in seinem Kulturzentrum auftraten, denn wir mit<br />

unserem Widerstand gegen die Plattenindustrie wären


Prototypen der Künstler, wie er sie sich wünschte.<br />

Eugene verstand sich prächtig mit ihm.<br />

Wir anderen warfen uns fragende Blicke zu.<br />

„Ist ja irre“, sagte Carlos. „Und ich dachte, wir machen<br />

einfach nur Punk.“<br />

„Von wegen“, sagte Dmitri. „Wir machen offensichtlich<br />

Weltrevolution.“<br />

Das Konzert wurde dann ganz gut, trotz der gewaltigen<br />

Last auf unseren Schultern.<br />

„Weltrevolution zu machen fühlt sich irgendwie gar<br />

nicht so außergewöhnlich an“, sagte ich danach.<br />

„Und wer hat dir versprochen, dass es nicht profan sein<br />

würde?“, fragte Dmitri.<br />

Am nächsten Nachmittag gaben wir ein spontanes<br />

Konzert auf dem Hauptplatz. Das war in Graz jahrelang<br />

der Ort gewesen, an dem die Punks und die<br />

Obdachlosen und andere Menschen ohne Erwerbszwang<br />

ihre Zeit verbracht hatten, erklärten uns Dmitri und<br />

Carlos. Dann seien diese Menschen von der Stadtverwaltung<br />

und der Polizei vertrieben worden, weil sie das


av-sauber-biedere Stadtbild störten und angeblich<br />

schlecht für den Tourismus seien. Das sei geschehen,<br />

kurz nachdem sich die Stadt ein Jahr lang als<br />

Kulturhauptstadt Europas hatte feiern lassen.<br />

„Eine Schande“, sagte Carlos.<br />

Wir fuhren also mit dem Bus vor und gaben ein<br />

Konzert. Die Punks tanzten, die Touristen glotzten und<br />

zwei Obdachlose gingen die Reihen der Zuschauer ab<br />

und baten um Spenden. Zwei Streifenpolizisten, die<br />

gerade zufällig vor Ort waren, riefen über Funk<br />

Verstärkung, die auch kam, aber niemand schritt ein.<br />

Als wir später die Stadt verließen, begleiteten uns eine<br />

Zeit lang zwei Streifenwagen, doch auf der Autobahn<br />

ließ man uns allein.<br />

Wien. Abends ein Konzert in einem ehemaligen<br />

Schlachthof namens Arena, mit über 250 zahlenden<br />

Gästen. Beim Eingang kontrollierte eine Gruppe<br />

#


schwarz gekleideter Schwergewichte die Eintrittskarten.<br />

Ein junger Punk, der versuchte, sich ohne Karte<br />

reinzuschummeln, wurde erwischt. Zwei der Muskelpakete<br />

packen ihn recht unsanft und bugsierten ihn zur<br />

Seite.<br />

„Hey!“, rief Eugene. „Das ist ein Freund von uns! Lasst<br />

ihn los!“<br />

Die Dicken ließen den Jungen laufen. Er kam zu uns<br />

rüber, sah Eugene misstrauisch an. Der klopfte ihm auf<br />

die Schulter, begrüßte ihn wie einen alten Freund.<br />

„Geh ruhig rein!“, sagte er.<br />

„Danke“, sagte der Junge und drückte sich an uns<br />

vorbei.<br />

„Früher war das mal ein autonomes Zentrum“, sagte<br />

Eugene. „Da hätten sie niemanden abgewiesen, nur weil<br />

er kein Geld hatte.“<br />

„Die Zeiten ändern sich“, sagte ich.<br />

„Ja, das tun sie tatsächlich.“<br />

Gegen drei Uhr morgens spazierten Eugene<br />

und ich durch die Innenstadt. Mit rotem Spray


schrieben wir „Das gehört mir“ auf das<br />

Musikvereinshaus, die Staatsoper, das Haus ohne<br />

Augenbrauen, das Kulturhistorische Museum, das<br />

Leopoldmuseum, die Pallas-Athene-Statue vor dem<br />

Parlament, das Burgtheater, die Universität, die<br />

Votivkirche, dann – das fand Eugene besonders lustig –<br />

auf die Börse, das Café Central und schließlich auf den<br />

Stephansdom.<br />

#<br />

Ich dachte viel über Eugenes Vorschläge zu meinem<br />

Roman nach. Aber sie funktionierten für mich nicht.<br />

Mittelalterliche Universitäten, Ketzer, Buchdruck,<br />

Inquisitoren, Reformation und Gegenreformation ... das<br />

war einfach nicht meine Welt. Sicher spannend, aber<br />

einfach nicht meine Welt.<br />

Dennoch gefiel mir Eugenes politisch-philosophischhistorischer<br />

Zugang, ich brauchte nur eine Möglichkeit,<br />

ihn auf meine Möglichkeiten umzulegen. Meine


Möglichkeiten, das hieß Musik-Biz. Und Wien brachte<br />

mich auf eine Idee, und die entwickelte sich zunächst gar<br />

nicht schlecht, als ich zu recherchieren begann: einen<br />

Roman über die Frühzeit der Musikbranche zu<br />

schreiben, über Haydn und Mozart und Beethoven. Mir<br />

fehlte nur die Meta-Ebene, vorerst.<br />

Ich recherchierte einen Tag, dann noch einen, und kam<br />

vom Hundertsten ins Tausendste, von der Klassik zum<br />

Barock, von Wien nach London.<br />

„Was liest du da alles?“, fragte Eugene schließlich.<br />

„Ich recherchiere für meinen Roman“, sagte ich. „Aber<br />

ich komme völlig durcheinander ...“<br />

„Erzähl es mir“, sagte er. „Vielleicht kannst du dabei<br />

deine Gedanken sortieren.“<br />

Ich nickte. Aber wo beginnen? „Im Barock gibt es nur<br />

zwei Möglichkeiten, von der Musik zu leben: Entweder<br />

man ist bei einem Fürsten angestellt – oder bei der<br />

Kirche.“<br />

„Genau genommen war das nicht nur im Barock so,<br />

sondern seit den frühen Hochkulturen“, fiel mir Eugene


sofort ins Wort. Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Er<br />

biss sich auf die Unterlippe.<br />

„Das gemeine Volk hat natürlich auch seine Musik,<br />

Volkslieder eben, die von Generation zu Generation<br />

weiter- gegeben werden, bis sich ihr Ursprung verloren<br />

hat. Nur, davon kann niemand leben. Der Adel und der<br />

Klerus dagegen halten sich Orchester und Organisten<br />

und schmücken sich mit berühmten Komponisten, die<br />

ihnen Kirchenlieder oder Opern widmen. Bach<br />

beispielsweise ist Konzertmeister in Weimar, Händel lebt<br />

und arbeitet in Hamburg, dann in Italien, dann geht er<br />

nach England.<br />

Wir schreiben das Jahr 1710. Händel findet auch in<br />

England Mäzene, bald ist sogar Queen Anne darunter,<br />

die ihm als Entlohnung für eine ihr gewidmete<br />

Komposition eine lebenslange Rente gewährt. Später<br />

erhöht Georg I. Händels Gehalt. Und so weiter. Händel<br />

ist berühmt, er sammelt Mäzene geradezu, ihm Geld<br />

geben zu dürfen scheint in London ein Statussymbol zu<br />

sein. Aber nach ein paar Jahren wird ihm das


offensichtlich zu langweilig. Und dann erfindet er,<br />

gemeinsam mit ein paar Investoren, die Musikindustrie.<br />

Im Jahr 1719 liegt England im Börsenfieber. Das muss<br />

wie beim New-Economy-Boom gewesen sein. Und es ist<br />

auch eine New Economy: Der Südseehandel verspricht<br />

gigantische Gewinne und die Leute tragen ihr ganzes<br />

Erspartes an die Börse. Risikokapital, das nur nach<br />

Unternehmern sucht, die eine neue Idee haben.<br />

Irgendeine Idee.“<br />

„Und Händel hat eine Idee?“, fragte Eugene.<br />

„Ich weiß nicht, ob die Idee wirklich von ihm stammt.<br />

Aber irgendjemand kommt auf den Gedanken, in einem<br />

Londoner Theater italienische Opern aufzuführen und<br />

vom Publikum Eintrittsgeld zu kassieren. Für ein solches<br />

Projekt braucht man keine Mäzene, sondern Teilhaber.<br />

Also gründen ein paar Finanzinvestoren eine<br />

Aktiengesellschaft, der König übernimmt die Patronanz<br />

und Händel wird musikalischer Direktor. Er komponiert<br />

Opern, leitet ihre Aufführungen und reist<br />

zwischendurch durch ganz Europa, um Musiker und


Sänger zu engagieren. Personal. Das Unternehmen heißt<br />

Royal Academy of Music und ist der erste Musikkonzern<br />

der Weltgeschichte.“<br />

„Faszinierend. Ist das gut gegangen?“<br />

„Nicht wirklich. Es lief nicht anders als beim New-<br />

Economy-Boom: Die Börsenblase platzte, England<br />

schlitterte in eine längere Rezession, das Unternehmen<br />

ging pleite. Das Theater gibt es noch, inzwischen ist es<br />

auch kommerziell erfolgreich. Dort läuft inzwischen seit<br />

mehr als zwanzig Jahren Das Phantom der Oper.“<br />

Eugene rümpfte die Nase: „Oh.“<br />

„Tja, der Fluch des Kommerzes. Händel jedenfalls ließ<br />

sich durch den Misserfolg nicht entmutigen, übernahm<br />

die Firma und führte sie noch lange in<br />

Eigenverantwortung. Die Geschäfte dürften die meiste<br />

Zeit nicht besonders gegangen sein, aber gut genug, um<br />

auch Konkurrenzunternehmen entstehen zu lassen. Als<br />

Händel starb, gab es in London also schon tatsächlich so<br />

etwas wie eine Musikbranche.


Und jetzt kommt Joseph Haydn ins Spiel. Haydn und<br />

die Wiener Klassik. Joseph Haydn arbeitete für die<br />

Esterházys, jahrzehntelang, und er trug dabei die<br />

Uniform der Dienerschaft. Dann starb der Fürst und die<br />

Erben entließen den berühmten Kapellmeister, der ging<br />

nach London, führte Konzerte auf und wurde reich. Erst<br />

ihm hohen Alter kehrte er nach Wien zurück, und nun<br />

besaß er ein eigenes Haus und stellte eigene Diener an.“<br />

„Interessant“, sagte Eugene<br />

„Aber noch interessanter ist die Zeit bevor Haydn nach<br />

London ging. Er als livrierter Diener und der eine<br />

Generation jüngere Mozart, der sein Leben lang eine<br />

Festanstellung bei einem Mäzen suchte und nie fand,<br />

beide in einer Stadt. Sie treiben sich gegenseitig zu<br />

Höchstleistungen an. Das war ab 1781. Innerhalb<br />

weniger Jahre erheben diese beiden Wien zur<br />

Welthauptstadt der Musik, praktisch aus dem Nichts.<br />

1787 möchte sich ein junger Mann aus Flandern zum<br />

Komponisten ausbilden lassen und er reist nicht nach<br />

Italien, wie er es nur eine Generation davor sicher


gemacht hätte, auch nicht nach London, sondern er reist<br />

an die Donau. Sein Name ...“<br />

„Aus Flandern, das war Ludwig van Beethoven“, sagte<br />

Eugene.<br />

„Genau. Beethoven ist gerade mal 17 Jahre alt, als er bei<br />

Mozart anklopft und als Schüler aufgenommen werden<br />

will. Aber Amadeus lehnt ab, er schreibt gerade am Don<br />

Giovanni und hat keine Zeit für einen weiteren Schüler.<br />

Enttäuscht kehrt der junge Ludwig heim, bildet sich<br />

selbst weiter, lässt sich von der Begeisterung über die<br />

französische Revolution anstecken, studiert an der<br />

Universität Bonn. Fünf Jahre später kommt er wieder<br />

nach Wien. Mozart ist inzwischen gestorben, aber<br />

Haydn gibt ihm Kompositionsunterricht. Und auch<br />

Salieri nimmt sich des jungen Talents an. Beethoven<br />

wird sein berühmtester Schüler, aber nur einer unter<br />

vielen. Salieri wird alt, über siebzig, und in diesem<br />

langen Leben werden später auch Franz Schubert und<br />

Franz Liszt bei ihm in die Lehre gehen. Er unterrichtet


seinen eigenen Sohn Girolamo und Mozarts Sohn Franz<br />

Xaver ...“<br />

„Salieri hat Mozarts Sohn unterrichtet?“<br />

„Ja. Mozart starb, als sein Sohn gerade mal sechs Monate<br />

alt war. Salieri hat den Knaben dann unterrichtet. Schau<br />

mal, ich habe das mal aufgezeichnet, um einen<br />

Überblick zu bekommen, wer wen beeinflusst hat...“ Ich<br />

zog ein Blatt mit Namen, Kästen, Pfeilen hervor.


Eugene studierte meine Grafik. „Albrechtsberger,<br />

Seyfried, Hummel, Czerny, Süßmayr ... alle nie gehört.“<br />

„Tröste dich, ich auch nicht, bis heute. Aber es ist total<br />

faszinierend, dieses Netzwerk aufzuschlüsseln. Und ich<br />

habe gar nicht alle Verbindungen eingetragen. Im<br />

Grunde ist es so: Im Zentrum hast du die Stars der<br />

Wiener Klassik, oben den Barock, denn die<br />

Barockmusiker, vor allem die Bach-Söhne, haben die<br />

Klassiker geprägt. Nach unten hin beginnt schon die<br />

Musik der Romantik. Der späte Beethoven, Hummel<br />

und Czerny haben den Übergang von der Klassik zur<br />

Romantik vollzogen, Schubert und Liszt sind bereits<br />

Romantiker.“<br />

„Interessant.“<br />

„Aber das ist nicht alles: Liszt war der Schwiegervater<br />

von Richard Wagner, hier rechts ginge es also weiter<br />

nach Bayreuth. Und auf der anderen Seite: Seyfried war<br />

ein Schüler von Mozart und ein Lehrer von Johann<br />

Strauß, dem Vater. Er ist das Bindeglied zwischen


Klassik und Walzer. Links ginge es also an die schöne<br />

blaue Donau.“<br />

Eugene nickte bedächtig. „Wenn man das Blatt groß<br />

genug macht, kriegt man auch noch Britney Spears<br />

drauf.“<br />

Ich lachte. „Ja, aber ich habe etwas besseres: Hummel.“<br />

Ich deutete mit dem Finger auf den entsprechenden<br />

Kasten auf dem Blatt.<br />

„Hummel?“<br />

„Johann Nepomuk Hummel. Er war ein Wunderkind.<br />

Mozart muss sich in ihm wiedererkannt haben, denn er<br />

hat ihn als Schüler angenommen, da war der kleine<br />

Nepomuk gerade mal sieben Jahre alt. Später haben ihn<br />

auch Haydn, Salieri und Albrechtsberger ausgebildet.<br />

Hummel war Haydns Nachfolger als Kapellmeister der<br />

Esterházys. Er war ein enger Freund von Beethoven und<br />

hat die Uraufführung der Neunten Symphonie geleitet,<br />

du weißt schon, die Europahymne, Freude schöner<br />

Götterfunken.“<br />

Eugene summte die Melodie.


„Hummel wird von den Esterházys wegen Faulheit<br />

gekündigt und geht an den Hof nach Weimar. Wiens<br />

große Zeit ist damit vorüber. Beethoven war im Jahr<br />

zuvor gestorben, Schubert hat nur noch wenige Monate<br />

zu leben, Liszt ist nach Paris ausgewandert und Hummel<br />

geht eben nach Weimar. Dort geht die Klassik allerdings<br />

auch zu Ende: Schiller und Herder sind tot, Goethe ein<br />

alter Mann, der nur noch wenige Jahre zu leben hat.<br />

Aber uns interessiert etwas anderes: Hummel wird in<br />

Weimar politisch tätig. Er erkämpft das erste<br />

Urheberrecht für Komponisten.“<br />

Eugene pfiff leise und sah mich überrascht an, sagte aber<br />

nichts. Ich fuhr fort: „Die Musiker haben sich schon<br />

damals mit Raubdrucken herumgeplagt. Tonträger gab<br />

es ja noch keine. Aber es gab Notenbücher, die als<br />

Raubkopien verbreitet wurden, ohne dass die<br />

Komponisten dafür auch nur einen roten Heller sahen.<br />

Hummel hat ein Abkommen erkämpft, in dem sich die<br />

Verleger verpflichteten, Noten nicht mehr ohne<br />

Einverständnis und Entlohnung der Autoren zu


drucken. Das war 1829. Interessant finde ich Folgendes:<br />

Hummels Urheberrecht hat sich ausschließlich gegen das<br />

kommerzielle Raubkopieren gerichtet. Es sollte Künstler<br />

vor Unternehmern schützen und nicht Unternehmer vor<br />

Künstlern. Und schon gar nicht ging es darum, kreative<br />

Nachwuchsmusiker oder musikbegeisterte Kinder zu<br />

kriminalisieren.“<br />

Eugene klatschte in die Hände. „Sehr gut! Und jetzt<br />

musst du irgendwo in diesem Gewirr eine spannende<br />

Handlung für deinen Roman finden.“<br />

„Nein, ich recherchiere noch weiter. Das ist jetzt mal<br />

nur die Grundlage. Diese Musikbranche wurde durch<br />

das Ende der Mäzene zwar kommerziell, aber sie war<br />

immer noch keine Industrie. Dazu hat etwas gefehlt, sagt<br />

der ehemalige Betriebswirtschaftsstudent in mir, nämlich<br />

Massenfertigung. Ab da wird’s wirklich interessant.“<br />

„Okay, dann recherchiere das mal“, sagte Eugene. „Und<br />

schreib alles zusammen. Ist sicher auch interessant für<br />

unseren Blog.“


#<br />

Salzburg. Wir hätten gerne vor Mozarts Geburtshaus ein<br />

kleines Konzert gespielt, aber wir kamen mit dem Bus<br />

nicht in die Getreidegasse. Vor dem Haus war fast ein<br />

Dutzend Polizisten stationiert. Wir ließen es bleiben und<br />

fuhren nach Deutschland weiter.<br />

München, Augsburg, Regensburg.<br />

Wir gaben ein Konzert in Nürnberg und ein Interview<br />

auf Radio Z.<br />

Dann fuhren wir nach Frankfurt am Main, gaben ein<br />

Konzert und ein Interview auf Radio X, einem anderen<br />

freien Sender. In den Interviews redeten Anna und<br />

Eugene. Sie als Sängerin, er als Manager. In beiden<br />

Gesprächen ging es mehr um Politik als unsere Musik,<br />

Eugene redete mehr als Anna. Ich war mir nicht ganz<br />

sicher, ob das optimal war.<br />

#


Als wir durch die Stadt fuhren, deutete Eugene auf einen<br />

der großen Wolkenkratzer mit dem Logo einer Bank<br />

oben drauf.<br />

„Was glaubst du, wie viel Geld die da drin haben?“<br />

„Keine Ahnung“, sagte ich. „Einige Lastwagen voll,<br />

wahrscheinlich.“<br />

„Das glaube ich nicht“, antwortete er. „Ich glaube eher,<br />

da drinnen ist gar kein Geld mehr. Nur noch Computer.<br />

Und darauf lange Reihen von Nullen und Einsen. Wenn<br />

jemand den Stecker zieht, ist der Spuk vorbei.“<br />

#<br />

Thomas Edison erfand 1877 den Phonographen, ein<br />

Gerät, das Sprache auf einer Walze aufzeichnen und<br />

wiedergeben konnte. Er war der erste Mensch, der über<br />

den fremden Klang seiner eigenen Stimme verblüfft war,<br />

als er das Wort „Hello“ aufnahm. Die Aufnahmequalität<br />

war rau und die Technik reichte gerade, um auf


Jahrmärkten für Aufregung zu sorgen. Zur industriellen<br />

Verwertung eignete sie sich aber nicht.<br />

Der Grund dafür lag nicht in der Qualität (die man<br />

verbessern hätte können), sondern der Quantität: Jede<br />

Walze musste einzeln bespielt werden, es gab keine<br />

Möglichkeit, einen Prototypen zu vervielfältigen.<br />

Zehn Jahre später löste ein junger Mann namens Emil<br />

Berliner dieses Problem. Berliner stammte aus dem<br />

deutschen Hannover, war aber schon als 19-Jähriger<br />

nach Amerika ausgewandert. Sein erstes Geld verdiente<br />

er damit, dass er ein Mikrofon für Fernsprecher<br />

entwickelte und das Patent an Graham Bell verkaufte,<br />

der gerade daran arbeitete, sein Telefon tauglich für die<br />

Massenproduktion zu machen.<br />

Massenproduktion war auch Berliners Absicht, als er das<br />

Grammophon entwickelte. Wie Edison zeichnete er<br />

Schallwellen als Vertiefungen auf einem Medium auf,<br />

aber anstatt einer Walze verwendete Berliner eine<br />

Scheibe. Von dieser Scheibe ließ sich durch Abdruck ein<br />

Negativ herstellen – und davon wieder ein Positiv. Oder


mehrere Positive. Viele Positive. Theoretisch<br />

unbegrenzte Mengen identischer Kopien. Die<br />

Schallplattenindustrie war geboren.<br />

1892 gründete Berliner die United States<br />

Grammophone Company in Washington D.C. Der<br />

erste Bestseller des Labels war eine Aufnahme des<br />

Vaterunsers, gesprochen von einem Straßenhändler.<br />

Angeblich setzte Berliner darauf, dass die Menschen bei<br />

einem Gebet mitsprechen und so der kommerzielle<br />

Erfolg nicht an der lausigen Tonqualität mit den vielen<br />

Aussetzern scheitern würde. Natürlich war das kein<br />

zukunftsträchtiges Konzept und so forschte Berliner<br />

weiter. 1895 stieß er schließlich auf das Material<br />

Schellack, eine harzige Substanz, die deutliche bessere<br />

Abbildungsqualität bot.<br />

Emil Berliner hat für die Musik das getan, was<br />

Gutenberg vierhundert Jahre zuvor für die Literatur<br />

geleistet hatte. Das Grammophon war die<br />

Gutenberg’sche Revolution für die Ohren, „the printing<br />

press of sound“. Zu Gutenbergs Zeit waren die meisten


Menschen noch Analphabeten. Wäre das Grammophon<br />

damals schon erfunden worden, es wäre wohl dem<br />

Buchdruck als Massenmedium überlegen gewesen. Wir<br />

könnten heute auch eine ganz andere mediale und<br />

kulturelle Tradition haben, mit berühmten Erzählern<br />

statt Schriftstellern ...<br />

Zunächst hat die Musikindustrie vor allem in Europa<br />

ein Problem: die Vielfalt an Sprachen und musikalischen<br />

Traditionen. Englische Musik verkauft sich nicht in<br />

Österreich-Ungarn, preußische Musik nicht in<br />

Frankreich und so weiter. Also wird für jeden Markt ein<br />

eigenes Repertoire aufgenommen und in kleinen<br />

Auflagen produziert. Das ist natürlich teuer. Berliner<br />

gründet selbst drei Plattenlabels: Die United States<br />

Gramophone Company (Washington D.C., 1892), The<br />

Gramophone Company (London, 1897) und die<br />

Deutsche Grammophon (1898, Hannover). In den USA<br />

verliert er nach einigen Prozessen das Patent, das ihm<br />

eine Monopolstellung am amerikanischen Markt<br />

gewähren sollte. Um für die neue Situation gewappnet


zu sein, wird sein Unternehmen schon 1901 mit einem<br />

der neuen Mitbewerber zur Victor Talking Machine<br />

Corporation verschmolzen. Es ist der erste Merger der<br />

Musikindustrie.<br />

Es dauert nicht lange, bis die Plattenindustrie erstmals<br />

ihr Potenzial, Musik zum weltweiten Massenprodukt zu<br />

machen, unter Beweis stellt. Enrico Caruso, ein junger<br />

Tenor der Mailänder Scala, begeistert 1902 Berliners<br />

europäischen „Talent-Scout“. Als dieser ihm einen<br />

Plattenvertrag anbietet, verlangt Caruso ein stattliches<br />

Honorar. Der Agent telegrafiert an die Zentrale, doch<br />

die lehnt Carusos Forderung mit dem Hinweis ab, dass<br />

man mit einem echten Tenor nicht mehr<br />

Grammophone verkaufen würde als mit einem<br />

italienischen Viehhirten oder Fischer als Interpreten. Die<br />

Musikindustrie ist noch kein Jahrzehnt alt, aber schon so<br />

zynisch wie heute. Letztlich bezahlt der Agent seinen<br />

Star aus eigener Tasche – eine goldrichtige<br />

Entscheidung.


Caruso wird der erste Plattenstar, mehr noch: der erste<br />

Weltstar. Seine Aufnahme der Arie Vesti la Gliubba aus<br />

Leoncavallos Oper Pagliacci ist der erste Tonträger, der<br />

sich über eine Million Mal verkauft. Emil Berliners<br />

Brüder, die in Hannover das Presswerk (angeblich in<br />

einem ehemaligen Kuhstall) betreiben, kommen<br />

plötzlich mit der Massenproduktion kaum noch nach.<br />

Alle wollen Caruso hören. Als dieser – aufgrund seiner<br />

Plattenaufnahmen – von der New Yorker Metropolitan<br />

Opera engagiert wird, zieht auch in den USA der Markt<br />

an.<br />

Für die Plattenindustrie ebenso wie für Caruso folgt ein<br />

zwanzig Jahre dauernder steiler Aufstieg. Bald gibt es<br />

dutzende Schellack-Produzenten, dann hunderte. Doch<br />

im Rücken der jungen, erfolgsverwöhnten<br />

Musikindustrie schleicht sich schon die nächste<br />

technische Revolution an, die sie in ihre erste ernste<br />

Krise stürzen wird: der Rundfunk.<br />

#


Leipzig, nach einem Konzert in der naTo. Carlos,<br />

Eugene und ich verluden die Instrumente im Bus. Die<br />

anderen feierten schon. Anna flirtete mit zwei Jungs und<br />

ich fragte mich, welchen sie heute abschleppen würde.<br />

Vielleicht beide. Verdammt, ich war eifersüchtig.<br />

„Das ist ein altes Kulturzentrum“, erklärte Carlos. „Hat<br />

eine bewegte Geschichte ... Die Straße hieß früher mal<br />

Adolf-Hitler-Straße. Das Haus wurde im Zweiten<br />

Weltkrieg ausgebombt. Dann hat die SED hier ein<br />

Häuschen für ihre Nationale Front hingebaut.“<br />

„Die Linken hatten eine Nationale Front?“, fragte ich.<br />

Eugene. „Das waren keine Linken. Genauso wenig, wie<br />

die DDR demokratisch war.“<br />

„Okay“, sagte ich. Mir doch egal.<br />

Ich erneuerte eine Saite meiner Gitarre.<br />

„Die Stasi hatte hier noch ein Büro, als das<br />

Kulturzentrum sich schon entwickelte“, fuhr Dmitri<br />

fort.<br />

„Woher weißt du das?“


„Ich hab damals hier gespielt und mit den Stasi-Leuten<br />

gesoffen“, sagte er und mir wurde plötzlich wieder<br />

bewusst, wie alt er eigentlich war.<br />

„Carlos, wir werden alt“, sagte Eugene.<br />

„Aber wir entwickeln uns“, sagte Carlos. „Vorhin hat<br />

mich ein junges Mädchen auf unsere Aktion in Mailand<br />

angesprochen. Schön langsam eilt uns ein Ruf voraus.“<br />

„Na toll. Dann sind wir ja berühmt. Von hier weg es ja<br />

nur noch ein kurzer Weg nach ganz oben.“<br />

„Schon möglich“, sagte ich. „Frag nach bei Rammstein.<br />

Die hatten hier ihren allerersten Auftritt.“<br />

Die 1920er-Jahre. Es ist eine Welt im Umbruch.<br />

Während der Erste Weltkrieg die alte politische<br />

Ordnung erschüttert, erobern Schellacks, Stummfilm,<br />

Telefon und Funk die Medienwelt. Es ist die erste<br />

multimediale Revolution.<br />

#


Später nennt der Medientheoretiker Marshall McLuhan<br />

diesen Umbruch das Ende der „Gutenberg-Galaxis“, die<br />

in etwa von 1500 bis 1900 existiert hatte. Nun befinden<br />

wir uns, McLuhan zufolge, in der Marconi-Galaxis.<br />

Guglielmo Marconi ist ein italienischer<br />

Elektroingenieur. Während Emil Berliner sein<br />

Grammophon konstruiert, befasst sich Marconi mit der<br />

drahtlosen Telegraphie. Erste Experimente führt er auf<br />

dem Landgut seines Vaters durch, ab 1897 betreibt er<br />

ein Labor auf der Isle of Wight vor der britischen Küste.<br />

1899 gelingt ihm eine Funkverbindung über den<br />

Ärmelkanal, 1901 sogar über den Atlantik nach Cape<br />

Cod. Die Kriegsmarine übernimmt daraufhin sein<br />

System.<br />

Auch in den nächsten beiden Jahrzehnten, während<br />

Enrico Caruso die Wohnzimmer erobert, interessieren<br />

sich vor allem Militärs und die Schifffahrt für die<br />

drahtlose Übertragung. Beide benötigen Systeme, mit<br />

denen man senden und empfangen kann. Marconis<br />

Unternehmen baut für diese Zielgruppe das größte


Funknetz rund um den Nordatlantik und betreibt<br />

beinharte Monopolpolitik: Wer ein Funkgerät von<br />

einem anderen Hersteller an Bord hat, erhält keinen<br />

Zugang zum Netz. Der wohl berühmteste Funkspruch,<br />

der je über dieses System ging, war der Notruf der<br />

Titanic. Der Luxusliner hatte einen eigenen „Marconi-<br />

Room“, wo man „Marconigrams“ empfangen oder<br />

abschicken konnte. Dieses transatlantische Service<br />

existierte seit 1907. Die Idee, daraus ein<br />

Empfangssystem für die Masse zu schaffen, entwickelt<br />

sich nur langsam, denn zunächst weiß niemand, wie<br />

man damit Geld verdienen soll.<br />

Im Sommer 1920 beginnt Marconis Firma, von der Isle<br />

of Wright aus Nachrichten zu senden, im Herbst erhält<br />

die erste amerikanische Radiostation eine Lizenz. Das<br />

Geschäftsmodell erinnert an das von Emile Berliner: Das<br />

Programm soll nur dazu dienen, mit dem Verkauf von<br />

Radiogeräten Geld zu verdienen. Das geht nicht lange<br />

gut und man entwickelt zwei andere, unterschiedliche<br />

Modelle: In den USA erfindet man den Werbespot als


Einnahmequelle. Und in Großbritannien gründet John<br />

Reith 1922 die BBC, einen durch Gebühren<br />

finanzierten Sender, der von Regierung und<br />

Werbekunden unabhängig sein soll. Eine bis heute<br />

visionäre Idee für ein neues Medium, für die Reith<br />

später in den Adelsstand erhoben wird.<br />

Die boomende Musikindustrie ist erschrocken und fragt<br />

sich: Wer wird noch Schellacks kaufen, wenn es Musik<br />

plötzlich überall und kostenlos gibt?<br />

Die Antwort lautet: fast niemand. Die Umsätze brechen<br />

ein und das Desaster übertrifft die schlimmsten<br />

Erwartungen. Der amerikanische Markt, mit Abstand<br />

der größte der Welt, schmilzt in nur zwölf Jahren auf<br />

beinahe ein Zwanzigstel zusammen. Die Branche ist de<br />

facto tot.<br />

Doch während die Plattenfirmen zusammenbrechen,<br />

wachsen die Radionetzwerke zu großen Konzernen<br />

heran, allen voran RCA und CBS. Kurz nach dem<br />

Ersten Weltkrieg übernehmen AT&T und General<br />

Electric die Infrastruktur von American Marconi und


gründen die Radio Corporation of America (RCA).<br />

1926 kauft man zwei kleine kommerzielle<br />

Rundfunkstationen und beginnt mit dem Aufbau eines<br />

landesweiten Netzwerkes von Sendestationen. Diese<br />

werden unter dem Dach der National Broadcasting<br />

Corporation (NBC) zusammengefasst.<br />

Kurz darauf, im Januar 1927, nimmt eine neue<br />

Sendestation in New York den Betrieb auf. Im April<br />

steigt Columbia Records in das Unternehmen ein und<br />

nennt es Columbia Phonographic Broadcasting System.<br />

Doch schon im September zeigt sich, dass die Erlöse aus<br />

Werbeeinnahmen unter den Erwartungen bleiben. Man<br />

verkauft die Radiostation an einen Zigarrenfabrikanten,<br />

der sie zur Werbung für seine Produkte einsetzen will.<br />

Sein Sohn William S. Paley erkennt das Potenzial des<br />

Mediums. Er kürzt den Namen der Firma auf Columbia<br />

Broadcasting System (CBS), verdoppelt binnen kurzer<br />

Zeit die Zigarrenumsätze seines Vaters und bekommt<br />

freie Hand für den Aufbau eines Medienimperiums.<br />

Zehn Jahre später wird sein Netzwerk schon 114


Stationen umfassen und die Nummer 2 hinter<br />

RCA/NBC sein.<br />

Beide Konzerne verdienen viel Geld mit Werbung, aber<br />

sie brauchen Musik, um ihre Hörer vor den<br />

Rundfunkgeräten zu halten. Der Zusammenbruch der<br />

Schallplattenindustrie kann ihnen ab einem gewissen<br />

Zeitpunkt nicht mehr gleichgültig sein. Also kaufen die<br />

Radionetzwerke die Überreste der Plattenindustrie auf,<br />

um sich ihr Repertoire zu sichern. 1929 verleibt sich<br />

RCA die Victor Talking Machine Corporation ein, das<br />

Unternehmen heißt ab nun RCA Victor. CBS kauft<br />

einige Jahre später Columbia Records, die ehemalige<br />

Mutterfirma.<br />

Es gelingt den Radionetzwerken, die Plattenbranche zu<br />

stabilisieren und mit massiven Preissenkungen auch<br />

wieder die Absatzzahlen zu steigern. Sie entdecken die<br />

Bedeutung von Synergien im Mediengeschäft: Jedes<br />

Unternehmen kann wie aus dem Nichts seine eigenen<br />

Stars erschaffen, wenn es sie nur oft genug im Radio<br />

spielt.


#<br />

Inzwischen erzielte eine Suche nach uns bei Google<br />

mehrere tausend Treffer, die meisten in Englisch und<br />

Italienisch, aber auch deutsche, französische, spanische,<br />

griechische, tschechische, russische, japanische,<br />

holländische und schwedische Einträge fanden sich.<br />

Mehrere US-Zeitungen und Websites hatten über uns<br />

berichtet. Die Times of India hatte über uns<br />

geschrieben, und die Bangkok Post.<br />

#<br />

Am nächsten Tag, wir waren gerade mit dem Bus<br />

unterwegs nach Chemnitz, läutete mein Handy schon<br />

am Vormittag. Dran war ein gewisser Felix. Redakteur<br />

MTV Deutschland. Man hätte gerade Redaktionssitzung<br />

gehabt und beschlossen, uns für morgen live ins Studio<br />

zu einer Talkshow einzuladen.


Einfach so.<br />

„Klar machen wir das“, sagte ich. Wusste er von der<br />

Aktion in Mailand?<br />

„Wir dachten uns, wir sind lieber proaktiv“, sagte Felix.<br />

„Bevor ihr in Berlin so eine Show abzieht wie bei den<br />

Kollegen in Italien. Ihr habt ja morgen ohnehin euren<br />

Konzerttermin in Berlin, nicht wahr?“<br />

„Äh, ja“, stammelte ich. Dann notierte ich seinen<br />

Namen, Telefonnummer, Adresse und fragte noch:<br />

„Wann sollen wir bei euch sein?“<br />

„Vierzig Minuten vor der Sendung, das reicht für ein<br />

kurzes Vorgespräch und die Maske.“<br />

„Okay.“<br />

„Okay. Bis die Tage“, sagte Felix.<br />

„Tschüss“, sagte ich und freute mich schon darauf, es<br />

Anna zu erzählen.<br />

#


Noch so eine Stroboskop-Szene: Ich gehe mit Eugene<br />

durch Chemnitz und er sagt: „Die Massenmedien sind<br />

das Kokain des Volkes: Sie pushen es auf, geben ihm das<br />

Gefühl – die Sensation –, immer am Puls der Zeit und<br />

an allem nah dran zu sein, alles wirkt viel, viel intensiver,<br />

man fühlt sich zum Bersten voll mit Energie – aber die<br />

ganze Aufgeregtheit ist nur Selbstzweck. Lässt der<br />

Rausch nach, kommt die Müdigkeit und die Apathie.“<br />

#<br />

Der Auftritt sollte etwas weniger als sechs Minuten<br />

dauern, mehr Zeit waren wir MTV nicht wert – und in<br />

dieser Zeit sollte auch noch ein Video abgespielt werden.<br />

Netto blieben uns also ganze zweieinhalb Minuten. Das<br />

war eine ganze Menge, aber Eugene war enttäuscht. Er<br />

hätte Anna gern eine halbstündige Fernsehpredigt halten<br />

lassen.


„Das ist MTV“, sagte ich. „Die sind nicht so erfolgreich,<br />

weil sie halbstündige Predigten zulassen. Zweieinhalb<br />

Minuten sind eine kleine Ewigkeit auf MTV.“<br />

„Und das noch zerlegt in drei Happen ...“, raunzte er.<br />

„Na zum Glück. Alles, was länger als eine halbe Minute<br />

dauert, übersteigt die Aufmerksamkeitsspanne des<br />

Publikums. Nach den ersten dreißig Sekunden hört dir<br />

keiner mehr zu“, sagte ich.<br />

„Außer man macht es wie die Sex Pistols bei ihrem<br />

ersten Fernsehauftritt“, sagte Eugene.<br />

Ich grinste.<br />

„Kennst du die Geschichte?“, fragte er.<br />

„Bin ich Musikjournalist oder nicht?“<br />

Also steckten Eugene und ich die ganze Nacht die Köpfe<br />

zusammen. Zuerst entwickelten wir einen Katalog der<br />

möglichen Fragen, dann die Antworten, die Anna darauf<br />

geben sollte. Wir feilten und schliffen bis zum<br />

Morgengrauen, dann weckten wir Anna und probten<br />

mit ihr, bis es Zeit war, nach Berlin zu fahren. Im Bus


ließen wir sie alleine. Sie sollte entspannt und ruhig<br />

wirken.<br />

Wir waren eine halbe Stunde zu früh in den MTV-<br />

Studios. Eine Sekretärin brachte uns in einen<br />

Warteraum mit bunten Sofas, ein paar Minuten später<br />

kam Joe. Er sagte: „Wir haben eine Überraschung<br />

vorbereitet.“<br />

Ich dachte: „Wir auch ...“<br />

#<br />

Tim Renner, „Kinder, der Tod ist gar nicht so<br />

schlimm“: Am Pop fasziniert mich, dass diese Kultur am<br />

souveränsten mit der Beziehung zum Kapital umgeht.<br />

Klar, die Geschichte der Kunst ist immer auch eine<br />

Geschichte von finanziellen Abhängigkeiten. Aber Pop<br />

heißt, darüber nicht zu jammern. Die Kunst der<br />

Popkultur besteht darin, das Kapital nicht verschämt zu<br />

verneinen, keine unbefleckte Empfängnis des Werks<br />

vorzugaukeln, sondern sich des Kapitals zu bedienen,


mit ihm zu spielen, es sogar ab und an zu verhöhnen. Da<br />

Geld keine Seele hat, ist ihm das übrigens völlig egal.<br />

Elvis hat bei seinem ersten Fernsehauftritt mit den<br />

Hüften gewackelt, die Sex Pistols haben sich betrunken<br />

durchs Studio gepöbelt. Beides war ein Erfolg.<br />

Provokation ist wichtig in diesem Geschäft. Darum<br />

haben sich ja auch die Beatles mit Jesus verglichen, The<br />

Who ihre Instrumente zertrümmert und dutzende<br />

anderer „Rockstars“ irgendwelche unschuldigen<br />

Hotelzimmereinrichtungen zerlegt. Meist nicht, ohne<br />

das zuvor mit dem Hotelmanagement abzuklären.<br />

Wir wollten auch einen Skandal, „aber das ist ja<br />

heutzutage nicht so einfach“ seufzte Eugene.<br />

#<br />

#


Ein alter Freund von mir hat einen Reisebericht über<br />

Berlin mal so begonnen: „Man kann sie noch erkennen,<br />

die Zeiten, als Berlin eine Hochburg der Sub- und<br />

Protestkultur war, man sieht die besprühten Hauswände<br />

und die ehemaligen Autonomen mit ihrer schwarzen<br />

Kapuzen, Lederstiefeln und 80er-Jahre-Punkfrisuren. Aber<br />

sie sind still geworden - und die Sprühdosen schweigen, weil<br />

sich keiner mehr eine leisten kann. Das soll natürlich kein<br />

Vorwurf sein. Es gibt ja nichts mehr, gegen das man noch<br />

protestieren müsste. Nicht nur nicht in Berlin, sondern nirgends<br />

in der gesamten westeuropäischen Welt. Abgesehen<br />

von Mord, Raub, Diebstahl, Kindesmissbrauch etc. ist dem<br />

Individuum heute praktisch jede Freiheit erlaubt. Man kann<br />

sich wie ein Kasperl anziehen und wie ein Idiot aufführen,<br />

alles kein Problem. Wenn einer einen Joint raucht, regt sich<br />

kaum jemand auf. Wer mit langen Zotteln und einem Kilo<br />

Metall im Gesicht herumläuft, wer vom Scheitel bis in die<br />

Arschspalte tätowiert ist, wer sich den Penis abschneiden<br />

und Silikontitten implantieren lässt, wer im Swingerclub<br />

dem Rudelfick mit Wildfremden frönt, wer bis an die


Grenzen des Erträglichen raucht und säuft und pöbelt, der<br />

soll das ruhig tun. Kein Grund, sich aufzuregen: alles gilt,<br />

solange die Betreffenden brav ihre Steuern zahlen. Spucken<br />

wir also in die Hände und packen wir wieder kräftig zu,<br />

damit die Handvoll Ölbarone und Freimaurer,<br />

Großindustrielle, Billiardenschuldner und<br />

Waffenlieferanten der Welt weiterhin ohne<br />

Einschränkungen ihr Leben in Saus und Braus führen<br />

können, und suhlen wir uns weiterhin im pseudotoleranten<br />

Klima der Individualitätsgesellschaft. Wirklich etwas ändern<br />

würde nur noch eine Rebellion bzw. Revolution. In dieser<br />

Hinsicht ist leider alles gesagt.“<br />

Mein alter Freund und Eugene hatten natürlich nicht<br />

ganz recht. Unsere Gesellschaft zu provozieren mag<br />

tatsächlich schwer schein, sei es, weil sie so liberal ist,<br />

oder so teilnahmslos oder so abgehärtet, ich weiß es<br />

nicht. Aber es ist immer noch leicht, zu skandalisieren.<br />

#


Denn: Die Medien müssen sich ja verkaufen, sie<br />

brauchen Auflage, Einschaltquote, Reichweite, und sie<br />

haben ihre Patentrezepte dafür. Verbrechen, Titten und<br />

Skandale. Und die Nazis.<br />

#<br />

Das rote Licht ging an und Anna war auf Sendung. Die<br />

tussige Moderatorin stellte sie als Sängerin einer<br />

Punkband vor, die gerade verklagt wurde. Den Konzern<br />

nannte sie nicht.<br />

„Und ihr verweigert euch total dem Kommerz?“, fragte<br />

sie.<br />

„Nun ...“ sagte Anna.<br />

„Ihr habt ja zum Beispiel bisher kein einziges Video<br />

gedreht!“<br />

Wir hatten kein Geld für so was. Anna sagte: „Videos<br />

sind Werbemittel. Wir wollen nichts verkaufen, wir<br />

wollen uns nicht verkaufen. Was wichtig ist, ist unsere


Musik.“ Es war das erste Mal, dass ich sie Deutsch<br />

sprechen hörte.<br />

„Und die ist gut“, sagte die Tussi. „Und damit sich<br />

unsere Zuseher davon ein Bild machen können, haben<br />

wir selbst ein kleines Video zusammengeschnitten. Bitte<br />

sehr.“<br />

Das war tatsächlich eine Überraschung.<br />

Der Regisseur legte einen Hebel um.<br />

Resistencia erklang, es war die Version, die auf der<br />

Homepage zum Download bereitstand. Gezeigt wurden<br />

Bilder von unserer Aktion vor dem MTV Studio in<br />

Mailand, dazwischengeschnitten immer wieder Bilder<br />

von irgendwelchen Demonstrationen, die mit uns nichts<br />

zu tun hatten. Aber es waren Transparente mit<br />

Antikonzernslogans im Bild. Das Video war ... anders.<br />

Billig produziert, aber wild, kreativ, authentisch. Trash<br />

as trash can. Es passte zu uns.<br />

„Das habe ich zusammengestellt“, sagte Joe.<br />

Das Interview ging weiter. Anna bekam zwanzig<br />

Sekunden, um vom Leben auf Tournee zu erzählen


(„Wir sitzen den ganzen Tag in Bus“) und die nächsten<br />

Konzerttermine aufzuzählen: Hamburg, Bochum, Essen,<br />

Köln, Dortmund, Düsseldorf.<br />

„Und jetzt wieder Musik, es gibt ja noch andere heiße<br />

Newcomer“, sagte die Moderatorin.<br />

Der Regisseur legte wieder einen Hebel um. Ich kannte<br />

die Band nicht, deren Video jetzt eingespielt wurde. Das<br />

wäre mir noch vor zwei, drei Monaten niemals passiert.<br />

War ich wirklich schon so lange bei den Soundinistas?<br />

War ich wirklich schon so lange raus aus dem Geschäft?<br />

„Das Video ist gut“, murmelte ich. Es war offensichtlich<br />

sehr aufwendig produziert. Und die Bikinimädchen<br />

waren vom Feinsten.<br />

„LaChapelle hat das gemacht“, sagte Joe.<br />

Gut, dachte ich. Dann wird’s ja passen, was Anna gleich<br />

sagen wird.<br />

Der Regisseur legte den Hebel wieder um.<br />

Das rote Licht ging an.<br />

„Das meinte ich vorhin“, sagte Anna. „Das ist Konsum-<br />

Propaganda. MTV sollte einen Leni-Riefenstahl-Preis


für Musikvideos vergeben. Der Regisseur wäre ein guter<br />

Tipp.“<br />

Die Tussi lachte nervös auf. „Ach, wir haben ja die<br />

MTV Video Music Awards, dieses Jahr in ...“<br />

„Na dann gebt diesem Preis eine neuen Namen. Das<br />

Eiserne MTV-Riefenstahl-Kreuz.“<br />

„Na ja“, sagte die Tussi. „Das ist ein wenig<br />

geschmacklos.“<br />

Ich lächelte. Sie hatte recht.<br />

„Und für diese Musikmanager könnt ihr gleich auch<br />

einen Preis machen. Den Goebbels-Orden am<br />

Laufenden Band oder so.“<br />

„Ich glaube, wir spielen das nächste Video“, sagte die<br />

Tussi.<br />

„Darf man das hier nicht sagen?“, fragte Anna.<br />

Die Tussi zögerte.<br />

Im Regieraum sah Joe Eugene und mich mit Panik in<br />

den Augen an. Wir lächelten unschuldig.<br />

„Das war nur ein kleiner Test“, sagte Anna in die<br />

Kamera. „Ich wollte nur zeigen, was passiert, wenn du


Dinge sagst, die diesen Medienkonzernen nicht in den<br />

Kram passen. Sie kennen nur eine Reaktion: Zensur.“<br />

Joe sprang auf. „Was zieht die denn da ab?“, fragte er.<br />

„Ruhig Blut, Junge!“, sagte der Regisseur der Sendung.<br />

„Das ist gut!“<br />

„Aber wisst ihr“, sagte Anna, „die Frequenzen, über die<br />

diese Signale gehen, gehören nicht MTV. Sie gehören<br />

nicht dieser Tussi hier und nicht den Krawattenträgern<br />

in den Vorstandsbüros. Sie sind öffentliches Eigentum.<br />

Sie gehören uns allen. Es ist Zeit, dass wir sie<br />

zurückholen!“<br />

Sie griff in die ausgebeulte Seitentasche ihrer Baggy-<br />

Pants und zog eine Spraydose hervor. Sie schüttelte<br />

zweimal und sprayte auf die Studiowand: Das gehört<br />

uns!<br />

„Hey, lass das!“, sagte die Tussi hilflos.<br />

„Sehr gut, Baby, das ist cool“, flüsterte der Regisseur.<br />

Anna drehte sich um und ging ganz langsam auf die<br />

Kamera zu. Sie sah wunderschön aus, und zugleich<br />

gefährlich. Sie ging mit ihrem Gesicht bis auf wenige


Zentimeter an das Objektiv heran und flüsterte: „Wir<br />

sind das Volk. Und wir entscheiden, wann das Licht<br />

ausgeht!“<br />

Dann schob sie die Spraydose vor die Linse und drückte<br />

ab.<br />

#<br />

Wenn wir ehrlich sind: Annas Auftritt war bestenfalls<br />

mittelprächtig, kein echter Skandal. Aber das war nicht<br />

wichtig. Wichtig war, dass die Medien so taten, als wäre<br />

es ein Skandal. Natürlich taten sie das nicht für uns,<br />

sondern aus Selbstnutz. Auch schön.<br />

An diesem Nachmittag brach unsere Website immer<br />

wieder kurzfristig zusammen, weil zu viele Leute sie<br />

gleichzeitig aufriefen.<br />

Wir parkten außerhalb der Stadt und feierten die halbe<br />

Nacht. Alte Freunde von Eugene und Carlos kamen<br />

vorbei und brachten kistenweise Bier und Schnaps.


#<br />

Natürlich haben wir nicht ohne Hintergedanken<br />

provoziert. Dazu waren wir zu politisch korrekt,<br />

zumindest Eugene. Ich entdeckte bei meinen<br />

Recherchen etwas, mit dem ich ihn überzeugen konnte.<br />

Am Abend vor Annas MTV-Auftritt, als Eugene seufzte,<br />

dass das mit den Skandalen heute nicht so einfach sei,<br />

zeigte ich ihm mein Material.<br />

„Es geht um Bert Brecht“, sagte ich.<br />

In den Zwanzigern, als das Radio noch jung war, regte es<br />

die Fantasie der Intellektuellen an, der Künstler ebenso<br />

wie der politischen Aktivisten, und jemand wie Brecht<br />

war natürlich sofort Feuer und Flamme. Er sah in dem<br />

neuen Medium eine große demokratiepolitische Chance:<br />

Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in<br />

einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der<br />

Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat<br />

des öffentlichen Lebens, ein<br />

ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er


es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu<br />

empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern<br />

auch sprechen zu machen, und ihn nicht zu isolieren,<br />

sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.<br />

„Das wovon Brecht hier geträumt hat, war ein Vorläufer<br />

des Internets“, sagte ich zu Eugene. „Jeder kann mit<br />

jedem kommunizieren, kann alles sagen, ohne Zensur,<br />

ohne Kontrolle. Brecht war aber nicht naiv. Er hat auch<br />

geschrieben ...“ Ich suchte den richtigen Ausdruck ...<br />

„Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung,<br />

durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge,<br />

welche doch nur eine natürliche Konsequenz der<br />

technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und<br />

Form dieser anderen Ordnung. [...] Sollten Sie dies für<br />

utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken,<br />

warum es utopisch ist.“<br />

„Und warum ist es utopisch?“, fragte Eugene.<br />

„Weil die Technik, die es der Allgemeinheit erlauben<br />

würde, frei miteinander zu kommunizieren, eben nicht<br />

von der Allgemeinheit kontrolliert wird. Damals wie


heute. Das Radio wurde nie ein freies Medium, sieh dich<br />

um auf der Welt, überall ist es unter Kontrolle von<br />

Regierungen oder Konzernen. Und hin und wieder<br />

erlaubt man ein paar kleinen, freien Radios ihr<br />

Lokalprogramm zu machen. Ein bisschen Anarchie als<br />

Lüftungsventil.“<br />

Eugene zündete sich eine Zigarette an. „Interessant.<br />

Mach weiter.“<br />

„Brechts Vision des freien Radios wurde nie<br />

Wirklichkeit, am wenigsten hier in Deutschland. Du<br />

weißt, was die Deutschen stattdessen bekommen<br />

haben?“<br />

„Was?“<br />

„Den Volksempfänger. Ein kleines, billiges Radiogerät,<br />

von den Nazis in großen Massen an das ganze Volk<br />

verteilt, damit jeder, aber auch wirklich jeder, die Reden<br />

des Führers noch daheim in seinen eigenen vier Wänden<br />

hören konnte. Das ist daraus geworden. Und zur<br />

Sicherheit schrieben die Nazis in den Beipacktext zum<br />

Volksempfänger ...“ Ich suchte das nächste Blatt Papier


... „’Das Abhören ausländischer Sender ist ein<br />

Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres<br />

Volkes. Es wird auf Befehl unseres Führers mit schweren<br />

Zuchthausstrafen geahndet.‘ Das wurde aus dem neuen<br />

Medium, an das die Intellektuellen so viele Hoffnungen<br />

geknüpft hatten. Die Deutschen bekamen Goebbels statt<br />

Brecht.“<br />

„Interessantes Romanthema“, sagte Eugene.<br />

„Nicht nur das“, sagte ich. „Es ist auch wichtig für uns.<br />

Wenn ich mir überlege, wie viel ich in den letzten<br />

Wochen darüber gelesen habe, wie viel Freiheit uns das<br />

Internet, der Mobilfunk und all die anderen neuen<br />

Technologien bringen werden, dann wird mir plötzlich<br />

schlecht. Wer sagt denn, dass es so sein wird? Ist das ein<br />

Naturgesetz? Wer sagt, dass wir uns nicht den totalen<br />

Kontrollapparat heranzüchten? Das sollten wir auf MTV<br />

morgen thematisieren. Nicht die dämliche Klage.<br />

Vergiss Max. Hier geht’s um mehr.“<br />

„Ist das nicht zu kompliziert?“, fragte Eugene.


„Natürlich. Im Fernsehen kann es für uns nur um eines<br />

gehen: Aufmerksamkeit zu provozieren. Erklären müssen<br />

wir das dann in deinem Blog. Ich werde Anna für den<br />

Auftritt briefen und du schreibst den theoretischen<br />

Unterbau dazu“, sagte ich.<br />

#<br />

Lawrence Lessig, „CODE und andere Gesetze des<br />

Cyberspace“: Die erste Generation der Cyberspace-<br />

Bewohner ist von dem unausrottbaren Gedanken<br />

beseelt, der Cyberspace lasse sich nicht regulieren. Es<br />

heißt, er sei „immun gegen staatliche Engriffe“ und<br />

besitze eine „angeborene“ Resistenz gegen jegliche<br />

Regulierung. Das sei die Natur, das Wesen, die<br />

Grundbeschaffenheit des Cyberspace. [...] Seinem<br />

Wesen nach sei der Cyberspace ein von Lenkung und<br />

Kontrolle freier Raum.<br />

Natur. Wesen. Angeboren. Grundbeschaffenheit. Solche<br />

Worte sollten in jedem Zusammenhang unser


Misstrauen wecken. Und ganz besonders in diesem.<br />

Denn wenn es einen Ort gibt, an dem die Natur keine<br />

Rolle spielt, dann ist das der Cyberspace. [...]<br />

Hier wird Sein mit Sollen verwechselt. Natürlich ist der<br />

Cyberspace so, wie er gerade ist. Aber wie er gerade ist,<br />

muss er nicht immer sein. Der Cyberspace muss nicht<br />

immer und überall eine bestimmte Beschaffenheit<br />

haben; es gibt keine Architektur, die das Wesen des<br />

Netzes definiert. Was wir „das Netz“ nennen, kann ganz<br />

verschiedene Architekturen haben, und diese<br />

Architekturen ermöglichen vielfältige Lebensweisen. [...]<br />

Ob das Netz unregulierbar ist, hängt von seiner<br />

Architektur ab.<br />

Bei manchen Architekturen lässt sich das Verhalten im<br />

Netz nur schwer kontrollieren, bei anderen dagegen<br />

leicht. Bei manchen lässt es sich nicht durch eine<br />

Regulierung von oben kontrollieren, bei anderen<br />

dagegen wohl. [Das Netz entwickelt sich] hinsichtlich<br />

seiner Architektur in eine ganz bestimmte Richtung,<br />

nämlich von einem unregulierbaren zu einem


hochgradig regulierbaren Raum. Die „Natur“ des Netzes<br />

mag einmal in seiner Unregulierbarkeit bestanden<br />

haben, aber diese „Natur“ ist dabei zu kippen.<br />

#<br />

Ich griff mir eine Flasche Rum, setzte mich etwas abseits<br />

und beobachtete das Fest. Mir war nicht nach reden.<br />

Meine Augen hingen an Anna. Meine Gedanken<br />

klammerten sich an ihre Hüften.<br />

Und ich war offensichtlich nicht der Einzige, dem nicht<br />

nach Feiern zumute war. Eugene hatte sich in den<br />

Stockbus zurückgezogen, um an seinem Weblog zu<br />

schreiben.<br />

Nach der ersten Flasche holte ich eine zweite und setzte<br />

mich auf den Fahrersitz des kleineren Busses. Ich drehte<br />

das Radio auf und schob eine Johnny-Cash-Kassette<br />

rein, dann schloss ich die Augen, machte es mir bequem<br />

und nuckelte hin und wieder an der Flasche.


Irgendwann, die Kassette lief schon zum x-ten Mal<br />

durch, merkte ich, dass ich nicht mehr alleine war. Mein<br />

Hemd war aufgeknöpft und jemand küsste meinen<br />

Oberkörper, meinen Bauch, spielte mit der<br />

Zungenspitze um meinen Nabel und knöpfte dann<br />

meine Jeans auf.<br />

Ich war zu müde und zu betrunken, um die Augen zu<br />

öffnen, den Kopf zu drehen oder gar etwas zu sagen, und<br />

nur mit Mühe fand ich mit der Flasche noch einmal zu<br />

meinem Mund. Meine Arme waren taub und mein Kopf<br />

war schwer und irgendwie fühlte es sich an, als würde<br />

ich durch den Raum schweben wie auf einer<br />

Luftmatratze im Swimmingpool, und ich schmatzte<br />

zufrieden und genoss es einfach, ein Rockstar zu sein.<br />

#<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg geht es mit den<br />

Massenmedien erst richtig los: Der Farbfilm ist<br />

massentauglich, der verbesserte Offset-Druck ermöglicht


ein pralles Angebot an billigen Magazinen, das<br />

Fernsehen löst das Radio als Leitmedium ab. Das bringt<br />

Machtverschiebungen mit sich: CBS kämpft mit NBC,<br />

beide kaufen sich in Hollywood ein, gleichzeitig drängen<br />

Buch- und Zeitungsverlage in die neuen Medien. Auch<br />

die Musikindustrie beginnt neu: Vinyl ersetzt Schellack;<br />

HiFi-Sound und 45-minütige Langspielplatten sind<br />

nicht weniger als eine Wiedergeburt der Musikindustrie.<br />

Es geht wieder aufwärts, und als 1950 die erste E-Gitarre<br />

(Fender Telecaster) in die Läden kommt, bricht das<br />

Zeitalter des Rock ’n’ Roll an.<br />

Das Zusammenspiel der Industriezweige macht aus Stars<br />

Megastars. Der Erste heißt Elvis.<br />

Elvis Presley ist seit 1953 bei einem unabhängigen,<br />

kleinen, aber exquisiten Label namens Sun Records in<br />

Memphis unter Vertrag (wie übrigens auch Johnny<br />

Cash, Jerry Lee Lewis, B.B. King, Roy Orbison, Howlin'<br />

Wolf, Carl Perkins und, und, und). Elvis’ Talent ist<br />

offensichtlich, aber seine Verkaufszahlen sind eher<br />

dezent.


Anfang 1956 wechselt er zum Großkonzern RCA. Sein<br />

erstes Album präsentiert er in einer landesweiten<br />

Fernseh-Show, die ihn über Nacht berühmt macht.<br />

Sofort wird ihm eine Rolle in einem Spielfilm besorgt,<br />

einem Western mit dem Arbeitstitel The Reno Brothers.<br />

Elvis singt ein Lied für den Soundtrack ein, das auch auf<br />

seinem zweiten Album und als Singleauskopplung<br />

erscheinen soll. Als sich abzeichnet, dass die Single ein<br />

Erfolg wird, benennt man den Film kurzerhand um:<br />

Love Me Tender. Bevor das Jahr vorbei ist, kennt die<br />

halbe Welt den jungen Mann aus Tennessee.<br />

Ab nun produziert er wie am Fließband, unterbrochen<br />

nur von seinem Armeedienst in Deutschland 1959. Im<br />

Jahrzehnt von 1960 bis 1969 nimmt er 25 Alben auf<br />

und dreht 27 Spielfilme, dazu kommen Fernseh-Specials<br />

und Konzerte und stapelweise Berichte über seine<br />

Beziehung zu Priscilla in einem neuen Zeitschriftentyp:<br />

der Illustrierten. Wie Zahnräder greifen die einzelnen<br />

Teile der Vermarktungsmaschinerie ineinander. Ende<br />

der Sechziger hat sich das Publikum etwas sattgesehen,


die Box-Office-Erlöse sinken, vier Jahre lang hat Elvis<br />

keinen Nummer-1-Hit. Er hört mit dem Filmen auf,<br />

sucht sich einen neuen Produzenten und schafft es 1970<br />

zurück an die Spitze der Charts. In diesem Jahr wirft er<br />

sieben Alben auf den Markt, in den nächsten beiden<br />

Jahren je fünf und bis 1977 noch weitere 15 Alben. Alles<br />

wird wiederverwertet: Live-Mitschnitte, Single-<br />

Kompilationen, das Beste aus seinen Soundtracks – und<br />

das alles noch vor seinem Tod.<br />

#<br />

Es war totenstill, aber ich erwachte, weil es im Wagen<br />

bereits kochend heiß war. Mein Körper war schweißnass,<br />

meine Haut stank nach dem Rauch von hunderttausend<br />

Zigaretten und im Mund hatte ich einen Geschmack, als<br />

wäre darin schon vor Tagen ein Iltis verreckt.<br />

Irgendwann in der Nacht musste ich mir das Genick<br />

gebrochen haben, denn ich schaffte es nicht, den Kopf<br />

zu bewegen.


Ich stöhnte.<br />

„Psst“, flüsterte sie. „Störe die Stille nicht ...“<br />

Ich erschreckte und schloss die Augen wieder. Was jetzt?<br />

„Weißt du, was die wahre Melodie von 4‘33“ ist?“, fragte<br />

sie. „Wenn du einige Minuten nichts hörst, keinen Laut,<br />

absolut gar nichts, wenn also eine absolut perfekte Stille<br />

herrscht, dann bemerkst du plötzlich ein ganz leichtes,<br />

kaum wahrnehmbares Rauschen, das aus dem Nichts zu<br />

kommen scheint, das du dein ganzes Leben lang noch<br />

nie bewusst gehört hast und das dir trotzdem<br />

augenblicklich vertraut vorkommt. Das ist dein Blut, das<br />

durch die Adern in deinen Ohren fließt. Du kennst<br />

dieses Geräusch schon seit dem Mutterleib.<br />

Ich habe mal eine Kurzgeschichte gelesen, über einen<br />

Astronauten, der sein Raumschiff verließ, um es zu<br />

reparieren, und bei den Arbeiten hat er sich ein Loch in<br />

den Schutzanzug gerissen und die Luft trat aus. Er wollte<br />

seiner Frau noch über Funk sagen, dass er sie liebt, aber<br />

ohne Luft gibt es keinen Schall, und obwohl er das<br />

Mikrofon direkt vor den Lippen hatte und die


Kopfhörer am Ohr, konnte er sich nicht verabschieden<br />

und er konnte sie auch nicht hören, als sie ihm sagte,<br />

dass sie ihn liebt. Es war eine sehr traurige Geschichte.<br />

Als der Astronaut starb, war das Letzte, was er hörte, das<br />

Pochen seines Blutes im Ohr. Dazu braucht es ja keine<br />

Luft, weil der Klang von innen kommt, aus seinem<br />

eigenen Körper. Das Geräusch erinnerte ihn an seine<br />

Mutter und plötzlich war er glücklich: Der Kreis des<br />

Lebens hatte sich geschlossen. Als sein Leichnam<br />

geborgen wurde, fand man ihn in gekrümmter Haltung,<br />

zusammengerollt wie ein Embryo“, sagte Anna. Und<br />

dann sagte sie: „Guten Morgen, Sweetheart.“<br />

Das beste Zitat aus „Die Hard“: Als Bruce Willis am<br />

Boden liegt und Hans Gruber fragt: „Do you really<br />

think you have a chance against us, Mister Cowboy?“<br />

„Yippie-ki-yay, motherfucker!“<br />

#


delete


Neun Uhr morgens, unterwegs nach Kassel. Mein<br />

Handy läutete.<br />

Es war Max. „Hey Mann, coole Aktion gestern bei MTV<br />

Germany“, sagte er. „Besser noch als in Italien.“<br />

„Man tut, was man kann“, sagte ich.<br />

„Und das scheint eine Menge zu sein.“<br />

„Oh, danke.“<br />

„Joe ist ein netter Kerl, oder?“<br />

„Du kennst Joe?“<br />

Er lachte. „Klar, das ist ein alter Freund von mir. Er<br />

bringt immer wieder mal eine Band von mir auf MTV<br />

Deutschland unter. Dafür sorge ich immer dafür, dass er<br />

eine gute Zeit hat, wenn er nach London kommt.“<br />

„Du, ich muss Schluss machen, ich melde mich wieder“,<br />

sagte ich und legte auf.<br />

Neun Uhr dreißig. Mein Handy läutete.<br />

#


Ein junger Mann aus Prag war dran. In perfektem<br />

Englisch erklärte er mir, dass er unser Konzert in Prag<br />

besucht hatte und es Klasse fand, und dass er das<br />

Radiointerview gehört hatte und das auch Klasse fand,<br />

und dass er einen Merchandising-Versand in der<br />

Tschechischen Republik betreiben würde. „T-Shirts von<br />

Britney bis Biohazard“, sagte er. „Aufkleber, Aufnäher,<br />

Fahnen, alles mögliche. Und ich mache viel für lokale<br />

tschechische Bands. Da kümmere ich mich um die ganze<br />

Herstellung und das Design.“<br />

„Und?“<br />

„Ich möchte das für euch machen.“<br />

„Was? T-Shirts?“<br />

„Das ganze Programm.“<br />

„Soundinistas-Merchandising?“, fragte ich und musste<br />

lachen.<br />

„Klar. Warum nicht?“<br />

„Tja, warum eigentlich nicht. Ich rufe zurück.“<br />

Wie Eugene wohl reagieren würde?


#<br />

Elvis’ Erfolg ist die Blaupause für die moderne Medienindustrie.<br />

Wenig später perfektionieren die Beatles die<br />

Vermarktungsmaschinerie aus Alben, Live-Auftritten,<br />

Filmen und perfekter, totaler Inszenierung. Als sie das<br />

erste Mal in die USA fliegen, erwarten sie am Flughafen<br />

bereits 200 Journalisten zur Pressekonferenz. Einer fragt:<br />

„Was ist das Geheimnis Ihres Erfolges?“, und Ringo<br />

Starr sagt: „Wir haben einen Presseagenten.“ Wenige<br />

Stunden später hört das ganze Land die Beatles im<br />

Radio, sieht sie im Fernsehen und liest über sie in der<br />

Zeitung. Da kennen die Pilzköpfe von Amerika noch<br />

nicht mehr als den JFK-Airport und ein Hotelzimmer.<br />

Zwei Tage später treten sie in der großen Samstagabend-<br />

Show von Ed Sullivan auf CBS auf und spielen im<br />

Wohnzimmer von 74 Millionen Amerikanern. Elvis<br />

gratuliert ihnen zu ihrem Erfolg, sie absolvieren in der<br />

folgenden Woche Auftritte in einigen Städten im Osten,<br />

treffen kurz, aber medienwirksam Muhammad Ali, der


noch Cassius Clay heißt, treten am nächsten Samstag<br />

wieder bei Ed Sullivan auf und fliegen nach gerade mal<br />

zehn Tagen wieder nach England, wo sofort die<br />

Dreharbeiten zum Film Yeah Yeah Yeah losgehen.<br />

Während sie vor der Kamera stehen, zeigt der<br />

Marketing-Ausflug Wirkung: Die Beatles belegen die<br />

ersten fünf Plätze der amerikanischen Single-Charts.<br />

Das Konzept lässt sich wunderbar diversifizieren. Die<br />

Beatles sind nett, also gibt’s vielleicht eine Marktnische<br />

für Bad Boys. Die Wahl fällt auf die Rolling Stones.<br />

Man produziert eine Platte mit zwölf Songs, darunter<br />

zehn (!) Coverversionen. Mick Jagger und Keith<br />

Richards lernen in einem Club John Lennon und Paul<br />

McCartney kennen, saufen eine Nacht mit ihnen und<br />

überreden sie, ihnen einen Song zu überlassen: Wanna<br />

Be Your Man wird die zweite Single der Stones.<br />

#


NeunUhr fünfzig, Kaffeepause. Ich erzählte es ihm und<br />

den anderen.<br />

„Cool“, sagte Anna.<br />

Eugene lachte zunächst nur. „Merchandising ... Ich<br />

glaube, wir machen was richtig.“<br />

„Du hast nichts dagegen?“<br />

„Warum sollte ich?“<br />

„Kommerz und so.“<br />

„Ach was. Habe ich je etwas gegen das Geldverdienen<br />

gesagt?“<br />

„Ein paar Fans werden darauf vielleicht skeptisch<br />

reagieren, ein paar Journalisten auch“, sagte ich. „Ich bin<br />

nicht gegen Merchandising, aber ich will alles<br />

durchdenken. Ich will nicht, dass wir Sympathien<br />

verspielen, nur weil wir ein paar Euros mit T-Shirts<br />

verdienen. Was ist der Unterschied zwischen uns und<br />

einem Major Label, wenn wir zu denselben Marketing-<br />

Maßnahmen greifen?“<br />

„Das tun wir ja nicht. Wir kritisieren an den großen<br />

Medienkonzernen nicht, dass sie Geld verdienen,


sondern ihre Machtkonzentration. Wir prangern die<br />

schleichende Unterwanderung der Demokratie an. Ich<br />

glaube nicht, dass die Machtkonzentration in unseren<br />

Händen schon bedrohliche Ausmaße annimmt, wenn<br />

wir nun T-Shirts und Aufkleber drucken, oder? Und<br />

wenn es so wäre, wäre es die Aufgabe anderer, uns zu<br />

bekämpfen. Ruf den Typen an, er soll uns ein paar<br />

Entwürfe schicken.“<br />

#<br />

Zehn Uhr dreißig. Mein Handy läutete. Es war Harald,<br />

der Veranstalter des Konzertes in Kassel, wieder mal ein<br />

alter Freund von Eugene. Wir sollten dort in einem für<br />

unsere Verhältnisse gar nicht so kleinen Club namens<br />

Musiktheater auftreten.<br />

„Seid ihr schon unterwegs?“, fragte er.<br />

„Ja“, sagte ich, „wir sind sogar gleich da.“


„Gut. Sehr gut. Ich möchte die Location verlegen und<br />

wir werden einen etwas ausgiebigeren Soundcheck<br />

machen müssen.“<br />

„Warum?“, fragte ich.<br />

„Weil seit gestern unser Telefon heißläuft“, sagte Harald.<br />

„Wir hätten ein paar hundert Karten verkaufen können,<br />

aber ins Musiktheater passen gar nicht so viele Leute.<br />

Also habe ich die Stadthalle gemietet. Da gehen<br />

zweitausend Leute rein.“<br />

„Zweitausend?“ Mir fiel fast das Telefon aus der Hand.<br />

„Na ja, tausend in die große Halle. Das reicht auch. Und<br />

keine Sorge, es ist alles gecheckt. Ein Freund von einem<br />

lokalen Radiosender kommt vorbei, um euch heute<br />

Nachmittag noch zu interviewen, und ich habe ein<br />

Dutzend Jugendliche angeheuert, die vor allen Schulen<br />

und am Uni-Campus Flyer verteilen. Und außerdem:<br />

MTV wiederholt seit gestern Abend beinahe jede Stunde<br />

eure Aktion. Wir werden die Halle schon füllen.“<br />

„Okay“, sagte ich, „kein Problem ...“ Aber so ganz<br />

glauben konnte ich es nicht.


#<br />

Zehn Uhr fünfundfünzig. Mein Handy läutete wieder.<br />

Haralds Freund vom Radio rief an, wollte ein Interview<br />

mit Anna. „Klar“, sagte ich. „Kommen Sie vorbei, wir<br />

sehen uns gerade die Bühnentechnik in der Stadthalle<br />

an.“<br />

Der Journalist, ein rotwangiger Typ namens Jens, rückte<br />

eine Stunde später mit Übertragungstechnik an. „Wir<br />

machen das live“, sagte er.<br />

Anna, Eugene, Jens und ich zogen uns in die Garderobe<br />

zurück. Er telefonierte noch mal mit seinem Sender,<br />

testete die Technik. Dann kam das Go. Er hielt Anna<br />

das Mikrofon unter die Nase.<br />

„Wir melden uns hier live aus der Stadthalle Kassel, wo<br />

heute Abend ein außergewöhnliches Konzert stattfinden<br />

wird: Die Soundinistas werden auftreten, jene Band, die<br />

den internationalen Musikkonzernen den Krieg erklärt<br />

hat. Anna, die Sängerin, sitzt mir gegenüber.“


„Hallo“, sagte sie.<br />

„Sie wurden ja verklagt, weil Sie bei Ihren Konzerten<br />

Schweigeminuten abhalten, was angeblich die Rechte<br />

eines großen Konzerns verletzt. Werden Sie das heute<br />

wieder tun?“<br />

„Selbstverständlich“, sagte Anna. „Wir haben keinen<br />

Grund, auf unsere Recht zu verzichten.“<br />

Eugene wollte etwas sagen, aber ich gab ihm einen<br />

Schubs mit dem Ellbogen und beugte mich zu seinem<br />

Ohr. „Lass Anna reden, sie ist die Sängerin, sie war auf<br />

MTV.“<br />

Er nickte und hielt den Mund, obwohl ihm das an<br />

einigen Stellen ganz offensichtlich sehr schwerfiel. Anna<br />

dagegen genoss es, im Mittelpunkt zu stehen.<br />

Als das Interview vorbei war, gingen Jens und Eugene als<br />

Erste hinaus ins Freie. Eugene war es wohl ein<br />

Bedürfnis, noch ein paar wichtige Details loszuwerden,<br />

und er redete intensiv auf den Journalisten ein.<br />

Anna lächelte mich an. „Danke.“<br />

„Wofür?“


„Dass du Eugene gebremst hast.“<br />

„Das ist mein Job als Pressesprecher“, sagte ich.<br />

„Trotzdem sollte ich mich erkenntlich zeigen“ flüsterte<br />

sie in mein Ohr – bevor sie begann, an meinem Nacken<br />

zu knabbern.<br />

#<br />

Nach außen tun die Beatles und die Rolling Stones so,<br />

als wären sie die Antipoden der Musikwelt, und die<br />

Musikjournalisten transportieren diese Marketing-<br />

Masche brav in ihren Massenmedien. Tatsächlich<br />

unterscheiden sich die Bands eher wie Persil von Dixan,<br />

aber Millionen Konsumenten fallen auf die Werbung<br />

und die gesteuerten Medienberichte herein und machen<br />

die Zugehörigkeit zur richtigen Fangemeinde fast zur<br />

Glaubensfrage. Aber Fan kommt bekanntlich von<br />

fanatic, und Fanatiker sind immer leicht zu<br />

manipulieren.


Die industrielle Wertschöpfungskette sieht nun so aus:<br />

Die Band A vom Label B schreibt den Soundtrack zum<br />

Film C vom Studio D. Das Movie läuft in der Kinokette<br />

E, der Song geht auf Radio F in Heavy Rotation, Band<br />

und Hauptdarsteller geben Interviews in Magazin G und<br />

für Fernsehsender H. Und dahinter stehen immer<br />

dieselben Konzerne. Der Film macht uns Lust auf die<br />

Platte oder CD, der Musiksender macht uns Lust auf die<br />

Kinokarte, das Magazin empfiehlt uns das zweistündige<br />

Making-of-Special im Fernsehen. Und ein paar Monate<br />

später versuchen alle zusammen, uns einzureden, dass<br />

wir den Director’s Cut auf der VHS- bzw. inzwischen<br />

DVD-Edition unbedingt brauchen ...<br />

Die Konzerne sind gut geölte Maschinen zur<br />

Reproduktion von Ideen, sie sind Fertigungsstraßen für<br />

Moden und Trends, sie sind die Brutkästen, aus denen<br />

unsere kollektiven Jugenderinnerungen stammen. Das<br />

Resultat sind immer gleich klingende Musik, immer<br />

gleich gestrickte Filme und immer die gleichen


Gefälligkeitsinterviews mit denselben Promis in zum<br />

Verwechseln ähnlichen Magazinen.<br />

Was haben Adorno und Horkheimer gesagt, zu einer<br />

Zeit, als Elvis, John und Paul, Mick und Keith am<br />

Höhepunkt ihrer Karrieren waren? Alle Massenkultur<br />

unter dem Monopol ist identisch.<br />

#<br />

Zum Glück hielten wir uns nicht lange mit dem<br />

Vorspiel auf, denn kaum dreißig Minuten später<br />

bekamen wir schon Besuch. Sieben oder acht<br />

Jugendliche im Alternativ-Look, sozusagen Post-Post-<br />

Hippies, standen plötzlich vor dem Bus.<br />

„Anna, kommst du mal runter?“, rief Eugene.<br />

„Was gibt’s?“, fragte sie, ohne sich zu bewegen. Sie lag in<br />

meinem Arm, den Kopf auf meiner Schulter und die<br />

Augen geschlossen.<br />

„Autogrammwünsche!“, rief Eugene.


Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Überrascht sah sie<br />

mich an, dann lächelte sie.<br />

„Geh schon“, sagte ich. „Du bist jetzt ein Star.“<br />

Sie schlüpfte in ihre Jeans, streifte ihr T-Shirt über und<br />

stürmte die Stufen nach unten.<br />

Ich drehte mich noch einmal um, kuschelte mich in den<br />

Polster und atmete tief und zufrieden ein. Die Luft roch<br />

nach Annas Schweiß.<br />

#<br />

Jean Baptiste le Rond d’Alembert, aus dem Vorwort der<br />

„Encyclopédie“: Bei der lexikalischen Zusammenfassung<br />

alles dessen, was in die Bereiche der Wissenschaften, der<br />

Kunst und des Handwerks gehört, muss es darum gehen,<br />

deren gegenseitige Verflechtungen sichtbar zu machen<br />

und mithilfe dieser Querverbindungen die ihnen<br />

zugrunde liegenden Prinzipien genauer zu erfassen.<br />

#


Gegen vierzehn Uhr stand ich mal kurz auf, ging runter<br />

in die Küche und machte mir zwei Schinken-Käse-<br />

Toasts. Ich hörte Anna draußen singen und schob den<br />

Vorhang beiseite. Sie saß in der Grünfläche neben dem<br />

Bus im Gras, umringt von zwanzig oder fünfundzwanzig<br />

Jugendlichen. Carlos spielte auf der Gitarre, Dmitri auf<br />

der Ziehharmonika. Ein Mädchen, das neben Anna saß,<br />

begleitete sie auf ihrer eigenen Gitarre und mehrere Kids<br />

besorgten die Percussion mit Taburins, Maracas, Bongos<br />

und Congas – offensichtlich alle aus unserem Bestand.<br />

Anna sah glücklich aus, wie ich sie nie zuvor gesehen<br />

hatte, und vielleicht auch danach nie wieder. Ich<br />

beobachtete sie eine Weile, während ich meine beiden<br />

Toasts aß, dann ging ich wieder nach oben, um noch<br />

eine Runde zu schlafen.<br />

#


Denis Diderot, über die „Encyclopédie“: Dieses Werk<br />

wird sicher mit der Zeit eine Umwandlung der Geister<br />

mit sich bringen, und ich hoffe, dass die Tyrannen, die<br />

Unterdrücker, die Fanatiker und die Intoleranten dabei<br />

nicht gewinnen werden.<br />

#<br />

Kurz nach fünfzehn Uhr weckte mich lauter Krach, der<br />

irgendwie versuchte, nach Musik zu klingen. Ein<br />

vielstimmiges Rasseln, Scheppern und Trommeln, eine<br />

Trillerpfeife, die durch Mark und Bein ging, und immer<br />

wieder Rufe, die ich nicht verstand. Was zur Hölle war<br />

das?<br />

Ich seufzte. Es war ohnehin Zeit, aufzustehen. Ich sollte<br />

mal unsere E-Mails checken.<br />

Also zog ich mich also an und verließ den Bus, um in die<br />

Stadthalle hinüberzugehen. Die Gruppe von<br />

Jugendlichen vor unserem Bus war inzwischen auf<br />

mehrere Dutzend angeschwollen. Sie saßen nicht mehr


im Gras, sondern sie tanzten. Und sie musizierten.<br />

Unsere Trommeln, Rasseln und anderen Instrumente<br />

hatten natürlich längst nicht ausgereicht, um alle<br />

auszurüsten, also war man erfinderisch gewesen. Einige<br />

Jungs trommelten auf Eimern, zwei Mädchen<br />

verwendeten die Deckel unserer Kochtöpfe als<br />

Tschinellen, eine große Gruppe von fast zwanzig Leuten<br />

hatte Plastikflaschen mit Kieselsteinen gefüllt und<br />

rasselte im Rhythmus. Apropos Rhythmus: Den gab<br />

Eugene vor. Er stand in der Mitte des ganzen<br />

chaotischen Treibens auf einem Sessel, eine Trillerpfeife<br />

im Mund, einen Stock in der Hand, und dirigierte.<br />

„Samba!“, rief Anna, als sie mich sah, „Mach mit!“<br />

Ich schüttelte den Kopf. „Bin gerade erst aufgestanden.<br />

Ich geh mal E-Mails checken.“<br />

„Ach, bist du langweilig!“, rief sie, aber dann drehte sie<br />

mir auch schon den Rücken zu und tanzte wieder in die<br />

Menge hinein.<br />

#


Ich suchte Harald, um ihn zu bitten, mir einen<br />

Internetzugang zu organisieren, und fand ihn mit<br />

sorgenvoller Miene mit vier andern Männern<br />

beisammenstehen. Der kleinste der Typen gestikulierte<br />

aufgebracht.<br />

Als Harald mich sah, eilte er sofort auf mich zu. Noch<br />

bevor ich etwas sagen konnte, flüsterte er: „Polizei.“<br />

„Was?“<br />

„Sie haben Angst, dass ihr die Stadthalle beschädigt.“<br />

„So ein Blödsinn“, sagte ich.<br />

„Dann komm mit und klär das auf“, sagte er, machte am<br />

Absatz kehrt und eilte zu der Gruppe zurück. Ich folgte<br />

ihm. Harald stellte mir die Leute vor. Zwei waren von<br />

der Verwaltung der Stadthalle, zwei von der Polizei.<br />

„Sie müssen verstehen, das ist ein historischer Bau ...“,<br />

sagte einer von den Stadthallen-Leuten. Es war der<br />

Kleine.<br />

Ich zuckte mit den Achseln. „Ist das nicht jeder Bau,<br />

wenn mal der letzte Ziegelstein gesetzt ist?“


„Ach was. Ich werde nicht dulden, dass Sie und Ihre<br />

Leute diese Hallen beschädigen. Wenn wir gewusst<br />

hätten, dass hier Punks herkommen ... Es war ein Fehler<br />

einer Mitarbeiterin, dass sie die Halle freigegeben hat.<br />

Das hätte nie passieren dürfen.“<br />

„Dürfen Punks nicht in historischen Gebäuden feiern?<br />

Ist das nur etwas fürs Establishment, oder wie soll ich<br />

das verstehen?“<br />

„Ach verstehen Sie doch, was Sie wollen“, fauchte der<br />

Mann. Sein Kopf lief dunkelrot an.<br />

„Jetzt mal in aller Ruhe“, sagte ein anderer Mann, einer<br />

der Polizisten. „Sie wissen, dass Ihre Gruppe sich schon<br />

einige Zeit am Rande der Legalität bewegt. Es gibt einige<br />

dokumentierte Sachbeschädigungen, bei denen Sie<br />

historische Gebäude besprayt haben.“<br />

Ich runzelte die Stirn. „Meines Wissens haben wir<br />

immer auf die Straße oder den Bürgersteig vor einem<br />

solchen Gebäude gesprayt. Öffentlicher Raum.“<br />

„Auch das ist Sachbeschädigung. Und Sie haben<br />

manchmal auch Tafeln und Schilder beschriftet. Und


Ihre Aktion bei MTV gestern hat Privateigentum<br />

beschädigt.“<br />

„Hat uns MTV angezeigt?“, fragte ich.<br />

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Meines Wissens nicht.<br />

Aber ich gehe davon aus, dass die ganze Aktion auch<br />

vorab besprochen war, nicht wahr?“ Er lächelte.<br />

Ich lächelte zurück. „Da täuschen Sie sich.“<br />

„Aber wir werden euch klagen, wenn diesem Haus nur<br />

ein einziges Haar gekrümmt wird!“, schrie der kleine<br />

Choleriker.<br />

„Dieses Haus hat Haare?“, fragte der Polizist, sichtlich<br />

genervt von dem Kerl.<br />

„Es wird nichts passieren“, sagte ich. „Wir sind ja keine<br />

Vandalen.“<br />

„Okay“, sagte der Polizist. „Ich werde meine Leute im<br />

Publikum verteilen und wir beide bleiben in engem<br />

Kontakt.“<br />

„Das könnte kompliziert werden. Ich werde beim<br />

Konzert nämlich auf der Bühne stehen.“


„Und bringen Sie diese Horde da draußen zur<br />

Vernunft!“, schrie der Kleine.<br />

„Welche Horde?“<br />

„Die im Park, die den Lärm hier verursacht.“<br />

„Das ist Samba“, sagte ich.<br />

„Die Jugendlichen sollen ruhig weiter Musik machen“,<br />

sagte der Polizist. „Das beschäftigt sie und kostet eine<br />

Menge Energie. Beides ist gut.“<br />

#<br />

Achtzehn Uhr dreißig. Die Gruppe im Park war auf fast<br />

zweihundert Leute angewachsen, die Samba-Band<br />

bestand schon aus rund fünfzig Mitgliedern, die auf so<br />

ziemlich allem trommelten, worauf man nur Lärm<br />

erzeugen konnte. Inzwischen hatten sie den Rhythmus<br />

wirklich drauf, Eugene hatte Koordination in den Lärm<br />

gebracht.<br />

„Cool“, sagte Anna, und ich nickte.


#<br />

Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie: Mit Emergenz<br />

(von lat.: emergere, „auftauchen“, „hervorkommen“)<br />

bezeichnet man das Entstehen neuer Strukturen oder<br />

Eigenschaften aus dem Zusammenwirken der Elemente<br />

in einem komplexen System. Als emergent werden<br />

Eigenschaften eines „Ganzen“ bezeichnet, die sich aus<br />

den einzelnen „Teilen“ nicht direkt herleiten lassen und<br />

nur aus dem Zusammenwirken der Teile, d.h. aus ihrem<br />

Prozess heraus, erklärbar sind.<br />

#<br />

Das Konzert sollte ursprünglich um neun beginnen, aber<br />

Harald bat uns, erst später anzufangen. All jene Leute,<br />

die von der Verlegung nichts gehört hatten und an die<br />

ursprüngliche Location kamen, sollten die Gelegenheit<br />

erhalten, rechtzeitig in die Stadthalle zu kommen.


„Das sind nur ein paar hundert Meter Luftlinie, aber<br />

trotzdem: Beginnt nicht vor zehn“, sagte er. „Eure<br />

Aktion ist heute den ganzen Tag auf MTV wiederholt<br />

worden und euer Konzert war den ganzen Tag<br />

Gesprächsthema im lokalen Radio, es werden wirklich<br />

viele, viele Leute kommen.“<br />

„Okay“, sagte Eugene.<br />

Um halb neun war die Bude bereits ziemlich voll.<br />

Eugene und ich rauchten vor der Tür zum Backstage-<br />

Bereich eine Zigarette und beobachteten die Menge.<br />

„Was schätzt du?“, fragte er.<br />

„Sechshundert?“<br />

„Mindestens. Vielleicht sogar achthundert.“<br />

„Wow. Um neun ist die Halle gerammelt voll. Es macht<br />

keinen Sinn, bis zehn Uhr zu warten.“<br />

„Wir haben es zugesagt. Außerdem: Wer weiß, vielleicht<br />

übersteigen wir die Tausender-Marke.“<br />

Kurz nach neun Uhr gesellte sich Dmitri zu uns.<br />

„Vielleicht bin ich ja paranoid, aber ich könnte


schwören, wir hatten noch nie so viel Polizei im<br />

Publikum.“<br />

„Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie<br />

nicht hinter dir her sind“, sagte ich und erzählte ihnen<br />

von meinem Gespräch am Nachmittag.<br />

„Die Menge wird unruhig“, sagte er.<br />

Ich: „Tja, jetzt bräuchten wir eine Vorgruppe.“<br />

Carlos: „Was schätzt ihr, sind das schon mehr als<br />

tausend?“<br />

Ich: „Schwer zu sagen. Aber sicher nicht viel weniger.“<br />

Eugene: „Wir haben eine Vorgruppe ...“<br />

Carlos und ich sahen uns fragend an.<br />

„Wen?“, fragte ich schließlich.<br />

„Die Sambanistas“, sagte Eugene.<br />

Im Park spielten immer noch ein paar Dutzend<br />

Jugendliche Samba und tanzten dazu. Sie schienen gar<br />

nicht aufhören zu wollen. Wir hatten schon darüber<br />

gescherzt, ob die überhaupt noch aufs Konzert kommen<br />

würden. Jetzt holten wir sie.


Anna ging mit einem langen Stab als Taktstock in der<br />

Hand vorne weg, aber es war Eugene, der mit seiner<br />

Trillerpfeife den Rhythmus kontrollierte. Wir zogen in<br />

Viererreihen in die große Halle ein, gingen bis in die<br />

Mitte und stellten uns dann im Kreis auf. Rund um uns<br />

bildete das Publikum sofort eine tanzende Masse, die<br />

uns zu verschlucken schien. Die ganze Halle bebte, es<br />

war heiß und feucht, die Luft roch nach Schweiß und<br />

guter Stimmung. Wir waren in Brasilien, wir hatten<br />

unseren Karneval.<br />

Ich weiß nicht mehr, wie lange das dauerte. Wir<br />

begannen das Konzert jedenfalls noch viel später als<br />

geplant, und ehrlich gesagt ist mir davon nichts mehr in<br />

Erinnerung.<br />

Aber diesen ersten Auftritt mit den Sambanistas werde<br />

ich wohl nie vergessen.<br />

#


Während die Megastars der 60er mit ihren Fließband-<br />

Platten die Regale füllen, wird die Musikindustrie schon<br />

von der nächsten neuen Technologie bedroht. 1963<br />

präsentiert Philips die Compact Cassette, bald auch als<br />

Audio- bzw. MusiCasette (MC) bekannt. Tonbänder<br />

waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt<br />

worden, waren aber bislang teuer und unhandlich. Das<br />

neue Format ist robust, praktisch und relativ preiswert.<br />

Es wurde eigentlich für Diktiergeräte entwickelt, aber<br />

nach und nach entdecken Musikfreunde die Vorzüge des<br />

Systems – zunächst vor allem die Möglichkeit, ganze<br />

Alben aufzunehmen und mit Freunden zu tauschen.<br />

Das hätte die Industrie wohl noch weggesteckt, aber<br />

dann erscheinen die ersten kombinierten Radio-<br />

/Kassetterekorder. Für die Musikbranche sind diese<br />

Geräte zweischneidige Schwerter: Um einen Song zum<br />

Hit zu machen, braucht man das Radio als Marketing-<br />

Tool – und liefert damit die Gratiskopie frei Haus.<br />

Mitte der 70er-Jahre hat die Audiokassette die


Kinderzimmer erobert und eine ganze Generation<br />

drückt den Record-Knopf, wenn ihr Lieblingshit läuft.<br />

Die enge Vernetzung zwischen Musikindustrie und<br />

Radiostationen führt dazu, dass Radiomoderatoren<br />

beginnen, jedes Mal in die ersten und letzten Takte eines<br />

Liedes hineinzusprechen, um ungestörte Aufnahmen<br />

unmöglich zu machen. Das hilft nur bedingt: Die<br />

Absätze bei den Singles, bis dahin treue<br />

Gewinnlieferanten mit hohen Margen, brechen ein, die<br />

nächste Krise ist da.<br />

Aber keine Krise ohne Profiteure: 1979 bringt Sony den<br />

ersten Walkman auf den Markt und schafft endgültig<br />

den Sprung von der Reiskocher-Fabrik zum Lifestyle-<br />

Konzern. Sony und Philips, also Konzerne, die<br />

Hardware und Datenträger herstellen, kaufen sich in der<br />

Folge mit viel Geld in die Medienindustrie ein und<br />

werden auch beim Inhalt zu Global Players. Sony<br />

übernimmt CBS Records; Philips startet zunächst eine<br />

Kooperation mit der Deutschen Grammophon namens<br />

Phonogram Records, übernimmt später das DG-Export-


Label Polydor und vereinigt seine Musik-Aktivitäten<br />

schließlich unter dem Namen Polygram.<br />

Als wenige Jahre später die internationale „Home<br />

Taping Is Killing Music“-Kampagne startet, durchschaut<br />

kaum jemand die Ironie, die darin liegt, dass gerade<br />

Hometaping den Leermedien-Produzenten jene Profite<br />

ermöglichte, mit denen sie die Machtkonzentration in<br />

der Musikbranche noch weiter verdichteten.<br />

#<br />

Theodor Adorno/Max Horkheimer, „Dialektik der Aufklärung“:<br />

Von Interessenten wird die Kulturindustrie<br />

gern technologisch erklärt. Die Teilnahme der Millionen<br />

an ihr erzwinge Reproduktionsverfahren, die es<br />

wiederum unabwendbar machten, dass an zahllosen<br />

Stellen gleiche Bedürfnisse mit Standardgütern geliefert<br />

werden. [...] Verschwiegen wird dabei, dass der Boden,<br />

auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft<br />

gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die


Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die<br />

Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der<br />

Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten<br />

Gesellschaft. Autos, Bomben und Film halten so lange<br />

das Ganze zusammen, bis ihr nivellierendes Element am<br />

Unrecht selbst, dem es diente, seine Kraft erweist.<br />

#<br />

Zwei Tage später, Hamburg. Ein Konzert im Logo. Wir<br />

bauten die Technik auf, ich verkabelte gerade die Mikros<br />

für das Schlagzeug. „Zweiundvierzig“, sagte Eugene.<br />

Ich hob den Kopf. „Zweiundvierzig was?“<br />

„Neue Artikel auf Google News seit gestern.“<br />

„Oh.“<br />

„Alleine in der deutschen Version.“<br />

„Doppel-Oh.“<br />

„Achthundert neue Follower auf Twitter. Und auf<br />

Facebook sind keine weiteren Freundschaftsanfragen<br />

möglich, wir haben das Limit erreicht. Es tut sich was.“


„Scheint so“, sagte ich und drückte einen Klinkenstecker<br />

in die vorgesehene Öffnung.<br />

Abends war das Lokal bis zum Bersten gefüllt. Mehrere<br />

hundert Leute durften nicht mehr rein. Wir legten ein<br />

Kabel durch ein Fenster zu unserem Bus, stellten zwei<br />

Boxen aufs Dach und ließen die Menschen an der ersten<br />

halben Stunde des Konzerts teilhaben. Dann trennte die<br />

Polizei das Kabel mit einer Zange ab.<br />

#<br />

Bochum. Ein Dienstag.<br />

Nach dem Erfolg von Kassel hatte der Veranstalter auch<br />

hier im letzten Moment eine größere Halle gebucht, die<br />

Zeche.<br />

Wir kamen am frühen Nachmittag an und sahen uns die<br />

Location an. Carlos und Dmitri gingen in die Stadt zum<br />

Einkaufen, Eugene schnappte sich ein Buch und einen<br />

Klappstuhl und machte es sich in der Sonne bequem,<br />

Anna und ich verschwanden in meiner Koje.


Eine Stunde später schlummerten wir nackt und eng<br />

umschlungen.<br />

Plötzlich hörten wir Eugenes Trillerpfeife.<br />

Trommeln. Rasseln.<br />

Kommandos.<br />

Ich seufzte.<br />

Anna fragte: „Willst du einen Kaffee?“<br />

„Klar.“<br />

Sie stand auf, ich drehte mich zur Seite und zog den<br />

Polster über meinen Kopf. Es nützte nichts. Die<br />

Trillerpfeife nervte.<br />

Ich seufzte nochmals, knöpfte meine Jeans zu, stand auf<br />

und ging hinunter. Anna stand in Jeans und BH in der<br />

Küche und beobachtete durch das Fenster eine Gruppe<br />

von rund zwanzig Personen, die nach Eugenes Pfeife<br />

tanzten und trommelten. Carlos und Dmitri waren auch<br />

dabei, sie gingen durch die Reihen und gaben sozusagen<br />

Einzelunterricht, wenn jemand mit dem Rhythmus<br />

nicht zurechtkam.<br />

Der Kaffee begann zu tropfen.


„Gleich ist er fertig“, sagte Anna, ohne ihre Augen von<br />

der Sambagruppe zu nehmen.<br />

„Okay“, sagte ich und machte mir einen Toast.<br />

„Willst du auch einen?“, fragte ich.<br />

Anna schüttelte den Kopf. „Sie üben, in einer Formation<br />

zu gehen.“<br />

„Was?“, fragte ich und sah auch aus dem Fenster. Sie hatte<br />

recht. Die Samba-Gruppe stand in einer rechteckigen<br />

Formation und alle zwei, drei Minuten ließ Eugene sie ein<br />

paar Meter nach vorne gehen oder eine Drehung im rechten<br />

Winkel machen. Er selbst ging immer vor der Formation her<br />

und gab die Kommandos mit Pfeife und unserm Besen, der<br />

als Taktstock fungierte.<br />

„Was zum Teufel das wohl werden soll?“, fragte Anna.<br />

#<br />

Im Laufe des Nachmittags kamen immer wieder neue<br />

Leute zur Samba-Gruppe dazu, die meisten davon<br />

brachten ihre eigenen Instrumente mit – oft nicht mehr


als ein Plastikeimer und eine Schöpfkelle. Carlos und<br />

Dmitri nahmen sich dieser Leute an, erklärten ihnen<br />

ihre Position, gliederten sie in die Formation ein und<br />

kümmerten sich gleich wieder um die nächsten. Jede<br />

halbe Stunde oder so gab es ein paar Minuten Pause,<br />

dann griffen alle zum Telefon und riefen ihre Freunde<br />

an und erzählten ihnen, wie toll dieser Nachmittag sei<br />

und dass sie unbedingt mitmachen müssten und gleich<br />

Instrumente mitbringen sollten, und wenig später war<br />

die Gruppe schon wieder ein wenig größer.<br />

Gegen sechs Uhr abends waren rund sechzig<br />

Sambanistas ganz gut in Form.<br />

Eugene kam kurz in den Bus, um sein verschwitztes T-<br />

Shirt zu wechseln. „Kommt ihr mit?“, fragte er.<br />

„Wohin?“<br />

„Wir demonstrieren.“<br />

„Aha“, sagte ich. „Wogegen?“<br />

„Für etwas, nicht gegen etwas. Für freie Musik, freie<br />

Kultur und ...“<br />

„Weltfrieden?“


Er lachte. „Genau. Woher wusstest du das?“<br />

„War nur geraten.“<br />

Wir marschierten also los und verursachten sofort ein<br />

Verkehrschaos. Es dauerte nicht lange, und mehrere<br />

Streifenwagen tauchten auf. Die Demonstration war<br />

nicht angemeldet, die Polizei wirkte ratlos.<br />

Ein Beamter kam auf mich zu. Er stellte sich vor, aber<br />

ich verstand seinen Namen nicht, nur das Wort<br />

Einsatzleitung. „Was haben Sie vor?“, fragte er.<br />

„Wenn ich das wüsste“, seufzte ich.<br />

Plötzlich stand Eugene neben uns. Carlos machte nun<br />

den Kapellmeister.<br />

„Das ist eine spontane politische Demonstration“, sagte<br />

Eugene.<br />

„Sie ist nicht angemeldet“, sagte der Einsatzleiter.<br />

„Sonst wäre sie ja wohl auch kaum spontan“, sagte<br />

Eugene mit einem Grinsen.<br />

„Was haben Sie vor?“<br />

„Wir werden uns friedlich verhalten.“


Der Polizist zog einen Stadtplan hervor. „Zeigen Sie mir<br />

die Route.“<br />

Eugene. „Wir sind freie Menschen. Wir gehen, wohin<br />

wir wollen, und fragen nicht um Erlaubnis.“<br />

„Das ist offensichtlich. Aber Sie führen eine<br />

Hundertschaft Jugendlicher zur Stoßzeit quer über die<br />

Hauptverkehrsstraßen. Wollen Sie, dass ein Auto mitten<br />

in Ihre Gruppe rast?“<br />

Eugene überlegte eine Sekunde, dann nahm er den<br />

Stadtplan. „Wir marschieren einmal um die Innenstadt<br />

und lösen die Demonstration in der Fußgängerzone auf.<br />

Hier, rund um den Ring.“<br />

Der Polizist zeichnete die Route auf die Karte. „Ich<br />

werde heute Abend Ihr Konzert besuchen“, sagte er. „Ihr<br />

sollt ganz guten Rock machen und wenn das so ist, freue<br />

ich mich darauf. Aber wenn eines der Kinder hier zu<br />

Schaden kommt, dann nehme ich euch fest, bevor der<br />

erste Ton erklingt.“<br />

Tatsächlich beschränkte sich die Polizei nun darauf, den<br />

Verkehr anzuhalten. Man machte uns freie Bahn, um


niemanden zu gefährden. Wir marschierten nach<br />

Norden, in Richtung Innenstadt, einmal um den Ring,<br />

dann in die Fußgängerzone. Dort spielten wir noch eine<br />

weitere Viertelstunde und lockten ein Publikum von<br />

vier- oder fünfhundert Leuten an, die mitten im<br />

Ruhrpott auf der Straße Samba tanzten und den<br />

Rhythmus mitklatschten.<br />

#<br />

Eugene und der Einsatzleiter tranken nach dem Konzert<br />

bis vier Uhr morgens etliche Biere. Wir würden eine<br />

Anzeige erhalten, sagte der Polizist, „aber verglichen mit<br />

der Klage von diesen Musikbranchenfuzzis, die ihr schon<br />

am Hals habt, ist das nichts.“<br />

„Okay“, sagte Eugene. „Morgen in Essen ...“<br />

„Was ist da?“<br />

„Da machen wir so was wieder. Kannst du uns bei der<br />

Anmeldung der Demo helfen?“<br />

„Nein, nicht mein Revier.“


„Du kennst doch sicher deine Kollegen drüben. Es soll ja<br />

niemand von den Kids zu Schaden kommen.“<br />

Der Polizist nahm noch einen Schluck vom Bier. „Weißt<br />

du genau, was du tust?“<br />

„Ich hoffe es“, sagte Eugene. „Ich hoffe es.“<br />

„Gut, dann morgen in Essen. Ich kümmere mich<br />

darum.“<br />

„Und übermorgen in Duisburg.“<br />

„Gut, also auch Duisburg.“<br />

„Und dann Dortmund. Düsseldorf. Bonn.“<br />

Ich las einen Kommentar in der Online-Ausgabe des<br />

Spiegel: „Die Medienindustrie ist ein brodelnder<br />

Tümpel voller Raubfische, in dem die Großen die<br />

Kleinen fressen, und die Schnellen die Langsamen.<br />

Immer schneller werden Unternehmen gegründet und<br />

liquidiert, gekauft und verkauft, abgespalten und<br />

zusammengelegt. Die mächtigsten Konzerne besitzen<br />

#


mittlerweile hunderte Plattenlabels, Radiosender und<br />

TV-Stationen, Verlage für Zeitungen, Magazine und<br />

Bücher, Filmstudios, Kabelnetze, Webservices, Internet<br />

Provider, Anteile an Telekommunikationsunternehmen,<br />

Softwarefirmen und Hardwareherstellern,<br />

Vergnügungsparks und Sportteams. Sie sind in hundert<br />

Ländern und mehr aktiv und viele ihrer Tochterfirmen<br />

sind nur auf lokalen Märkten tätig. Die schiere Größe<br />

dieser Konzernimperien macht es praktisch unmöglich,<br />

sich einen tagesaktuellen Überblick über die Reiche der<br />

Medien-Oligarchen zu verschaffen. Konstant bleibt am<br />

Bazar der Beteiligungen nur eines: die Tendenz zur<br />

Konzentration.“<br />

#<br />

Mittwoch in Essen.<br />

Rund hundert Fans kamen gegen Mittag zum Samba-<br />

Training. Gut die Hälfte davon war am Tag zuvor schon


in Bochum dabei gewesen, schließlich lagen die Städte<br />

gerade mal eine halbe Stunde voneinander entfernt.<br />

„Wir haben Fans“, stellte Carlos erstaunt fest. „Ich<br />

mache seit über dreißig Jahren Musik, aber ich hatte<br />

noch nie einen einzigen Fan.“<br />

„Und jetzt hast du hundert“, sagte ich.<br />

„Ich war schon immer dein Fan“, sagte Dmitri und gab<br />

ihm einen Kuss.<br />

Am frühen Abend marschierten wir los. Wieder<br />

umrundeten wir den Stadtkern und lösten die Demo<br />

dann in einer Fußgängerzone auf. Wie sich Stadtpläne<br />

doch gleichen konnten. Kopien und Mutationen.<br />

„Wir sehen uns heute Abend beim Konzert – und<br />

morgen in Köln!“ rief Eugene mit einem Megaphon in<br />

die Menge. Jubel brandete auf.<br />

Ein Kommentar auf faz.net: „Als Ende der Zwanziger<br />

das Radio aufkam und ‚gratis‘ Musik spielte, brach der<br />

#


US-Shellack-Markt binnen weniger Jahre um 88 (!)<br />

Prozent ein. Ziemlich bald haben die Radioketten die<br />

Musikfirmen aufgekauft, um überhaupt spielbares<br />

Material zu haben. Und dann haben sie entdeckt, dass<br />

man viel Kohle machen kann, wenn man die eigenen<br />

Künstler massiv im Radio bewirbt.<br />

Das wird jetzt nicht anders laufen. Wenn die<br />

Contentindustrie zusammenbricht, wird sie von den<br />

großen Telekomunternehmen aufgekauft werden.<br />

Schließlich muss man uns ja was bieten für unsere<br />

Breitband-Flatrate. Musik und Film werden nicht<br />

sterben, nur die Konzernzentralen werden andere sein.<br />

Wen kümmert’s?“<br />

Schrieben die von uns ab?<br />

Köln. Donnerstag. Von der Uni in die Fußgängerzone,<br />

150 Sambanistas, rund 200 weitere Demonstranten,<br />

lokale Presse. Transparente und Schilder. Kultur ist<br />

#


Freiheit! Unsere Musik gehört uns! Brecht die Macht der<br />

Banken und Konzerne! Nieder mit dem<br />

Neoliberalismus! Jugendorganisationen der Grünen,<br />

Trotzkisten, der Freie-ArbeiterInnen-Union, anderen<br />

Linken. Eine große Gruppe Nerds.<br />

„Schau mal“, sagte Carlos und deutete auf eine Straßenlaterne.<br />

Ich sah nicht gleich, was er meinte.<br />

„Der Aufkleber“, sagte er, und da sah ich ihn: ein roter<br />

Aufkleber mit einem schwarzen Stern und darüber in<br />

weißen Buchstaben der Schriftzug „Das gehört mir!“<br />

„Ist der von uns?“, fragte ich.<br />

„Nicht dass ich wüsste“, sagte Carlos.<br />

Am Abend, unmittelbar vor dem Konzert, bekamen wir<br />

Besuch von sechs Typen in Anzügen. Zwei in teuren<br />

Nadelstreifen, das waren Anwälte. Zwei in schwarzen<br />

Einreihern mit schwarzen Hemden und schwarzen<br />

Krawatten, dazu schwarze Ray-Ban-Brillen. Das waren<br />

Bodyguards. Zwei in schlecht sitzenden Sakkos, einer<br />

trug dazu Jeans, der andere Bundfaltenhosen. Das waren<br />

Polizisten.


Einer der Anwälte kam auf mich zu, hielt mir einen<br />

Brief unter die Nase. „Heiner Kordmanner. Anwalt. Ich<br />

arbeite für die Volvox Corporation. Sie haben keine feste<br />

Postadresse, also dachte ich, ich bringe das hier<br />

persönlich vorbei“, sagte er.<br />

„Was ist das?“<br />

„Eine einstweilige Verfügung.“<br />

„Aha.“<br />

„Ja, bis die deutschen Gerichte unseren kleinen Urheberrechtsstreit<br />

entschieden haben, ist es Ihnen untersagt,<br />

diese <strong>incommunicado</strong>-Nummer aufzuführen. Keine<br />

Schweigeminute mehr.“<br />

Ich sah ihn an, warf einen Blick zu den Polizisten, dann<br />

zu den Bodyguards.<br />

„Verstehen Sie das?“, fragte er.<br />

Ich kratzte mich am Kinn, langsam, nachdenklich.<br />

„Hallo?“, fragte er. „Jemand zu Hause?“<br />

Ich nahm den Brief, öffnete das Kuvert, nahm den<br />

Inhalt heraus, kratzte mich noch einmal. Dann warf ich


einen Blick auf meine Armbanduhr, beobachtete den<br />

Sekundenzeiger, wartete.<br />

„Sind Sie dumm? Oder irgendwie verhaltensgestört?“,<br />

fragte er. Die Polizisten und die Bodyguards kamen<br />

näher.<br />

Schließlich sagte ich: „Ich habe jetzt eine Minute geschwiegen.<br />

Was wollen Sie dagegen machen? Wollen Sie<br />

mich zwingen, pausenlos durchzusprechen? Ist das Ihr<br />

Ernst?“<br />

Die sechs tauschten ratlos Blicke aus. Der zweite Anwalt<br />

verzog den Mund und seufzte. Er hatte das wohl<br />

vorhergesehen.<br />

Ich zerriss die Verfügung und ging.<br />

#<br />

Andrei Sacharow, „Gedanken über Fortschritt, friedliche<br />

Koexistenz und geistige Freiheit“: Die zweite<br />

Grundthese lautet, dass intellektuelle Freiheit essenziell<br />

für die menschliche Gesellschaft ist – die Freiheit,


Informationen zu erhalten und zu verbreiten, die<br />

Freiheit einer geistig offenen und furchtlosen Debatte<br />

sowie die Freiheit vom Druck von offizieller Seite oder<br />

durch Vorurteile. Diese Dreifaltigkeit der<br />

Gedankenfreiheit ist die einzige Garantie gegen eine<br />

Infektion der Menschen mit Massenmythen, die in den<br />

Händen von scheinheiligen Verrätern und Demagogen<br />

in einer blutigen Diktatur münden können.<br />

Gedankenfreiheit ist die einzige Garantie für die<br />

Machbarkeit eines wissenschaftlich-demokratischen<br />

Zugangs zu Politik, Wirtschaft und Kultur.<br />

#<br />

Noch so eine Stroboskop-Szene, von der ich nicht weiß,<br />

in welche Stadt sie gehört. Irgendwann tranken Eugene<br />

und ich mit einem jungen Inder ein Bier und er erzählte<br />

mir die Geschichte vom Basmati-Reis.<br />

Basmati wird in Indien seit mehr als 2.000 Jahren<br />

angebaut. Er ist eine Züchtung indischer Bauern. Die


Bauern tauschen traditionell ihr Saatgut untereinander<br />

und so ist über Jahrhunderte hinweg diese Sorte<br />

entstanden. Sie ist ein gemeinsames Werk von vielen<br />

tausend kleinen Bauern. Vor einigen Jahren hat eine<br />

Firma namens RiceTec ein paar Gene im Reis verändert<br />

und ihre neue Sorte in den USA zum Patent angemeldet.<br />

Und sie hat versucht, die Markenrechte für den Namen<br />

Basmati zu erhalten. Denn der Name war nicht<br />

geschützt. Markenrechte sind nichts, worüber sich<br />

indische Bauern Gedanken machen.<br />

„Wie kann man bitte eine Pflanze patentieren?“, fragte<br />

ich. „Und wie kann man eine Bezeichnung schützen,<br />

die es seit Jahrtausenden gibt?“<br />

„RiceTec ist ein großer Konzern mit großen finanziellen<br />

Mitteln“, sagte der Inder. „Und wenn die nicht mehr<br />

ausreichen, auch diplomatischer Unterstützung: Das<br />

Unternehmen gehört dem Fürsten von Liechtenstein.“<br />

Eugene sagte: „Der Feudalismus ist nicht tot, er<br />

bekommt nur ein anderes Gesicht. Parteien und<br />

Konzerne statt Kirchen und Adelige.“


„Es hat jahrelange Prozesse gegeben und letztlich haben<br />

die amerikanischen Gerichte noch einmal den indischen<br />

Bauern recht gegeben, und nicht dem europäischen<br />

Fürsten“, sagte der Mann. „Aber die westlichen Agrar-<br />

Konzerne werden es wieder versuchen. Und wieder und<br />

wieder. Wir müssen etwas dagegen tun. Ihr müsst etwas<br />

dagegen tun.“ Bei dem letzten Satz sah er Eugene und<br />

mich an.<br />

„Aber was?“, fragte ich.<br />

„Ihr kommt in die Medien, ihr könnt den indischen<br />

Bauern eine Stimme geben. Und allen anderen“, sagte<br />

er. „Es ist wichtig, wenn ihr für eure Musik kämpft.<br />

Aber es reicht nicht aus. Der Starke darf nicht nur für<br />

sich kämpfen. Es gibt ähnliche Geschichten über<br />

Naturheilmittel aus dem Amazonasbecken und Afrika<br />

oder über ein Fungizid aus den Samen des Neem-<br />

Baumes, das von indischen Farmern seit Ewigkeiten<br />

verwendet wird und von einer westlichen Firma am<br />

Europäischen Patentamt in München patentiert wurde.<br />

Dort werden tatsächlich Patente auf Tiere und Pflanzen


erteilt, mehrere tausend sind angemeldet, mehrere<br />

hundert schon erteilt.“<br />

„Du kennst dich da gut aus“, sagte ich.<br />

„Ich bin Patentanwalt“, sagte er. „Ich verdiene damit<br />

mein Geld. Und ich fühle mich ein Verbrecher.“<br />

#<br />

Wir hatten Schlagzeilen in allen großen Medien. Aber<br />

die größte Überraschung für mich war Eugenes Blog.<br />

Noch einen Monat zuvor hätte ich alles darauf gewettet,<br />

dass ein konfuser Mix aus Mediengeschichte,<br />

Einführung in die politische Philosophie und<br />

zusammenkopierten Zitaten aus Zeitschriften, Büchern<br />

und Song-Lyrics nicht mehr als fünf Leser findet.<br />

Nun hatten wir zwischen fünf- und zehntausend<br />

Zugriffe – pro Tag! Andere Websites verlinkten zu uns,<br />

andere Blogs zitierten Eugene. Seine Artikel wurden<br />

über Mailing-Listen verschickt und in Foren rezensiert


und kommentiert. Oft wurde er verrissen, noch öfter<br />

gelobt.<br />

Eugene war unser Star.<br />

Dabei fand ich, er wurde inzwischen viel zu kompliziert.<br />

Er ließ mich jeden Text lesen und redigieren, bevor er<br />

ihn online stellte. Als er sein Spezialgebiet, die<br />

Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts erreichte,<br />

begannen wir beinahe zu streiten. Er wollte über<br />

Thomas Hobbes schreiben, und John Locke und<br />

Thomas Jefferson und die Französische Revolution.<br />

„Das interessiert doch niemanden“, sagte ich. „Viel zu<br />

kompliziert, viel zu schwer, viel zu abstrakt. Leser wollen<br />

sich nicht plagen, nicht mal eine Sekunde. Hier geht’s<br />

um Popmusik.“<br />

Er bestand darauf. Also schrieb er seinen Text und ich<br />

kürzte. Er jammerte und ich kürzte noch mehr. Und<br />

dann zerlegte ich das Dokument in kurze Abschnitte,<br />

um sie getrennt zu posten.<br />

„Kommt nicht in Frage“, protestierte Eugene.


„Eugene, so funktionieren moderne Medien“, sagte ich.<br />

„Pop-Songs werden immer kürzer, Kinofilme immer<br />

rasanter geschnitten. Die Konsumenten haben keine<br />

Geduld mehr. Sie zappen nicht mehr nur zwischen<br />

Fernsehkanälen. Sie springen von Online-Artikel zu<br />

Online-Artikel, ohne einen zu Ende zu lesen, sie<br />

konsumieren dutzende YouTube-Clips statt eines Films,<br />

wenn sie iPod hören, hüpfen sie jede Minute zum<br />

nächsten Song. One Minute Media, das ist die Zukunft,<br />

ob wir wollen oder nicht. Wenn ich tatsächlich mal ein<br />

Buch schreibe, irgendwann, werde ich es in tausend<br />

kurze Absätze brechen. Schau dir doch mal an, wie die<br />

Leute Bücher lesen: Sieben Minuten im Bus, drei<br />

Minuten in der U-Bahn, vier Minuten beim<br />

Mittagessen, zwei Minuten am Klo.“<br />

Eugene grummelte, aber er vertraute mir letztlich. Ich<br />

kürzte und teilte seine Texte also, ich formulierte sie<br />

umgangssprachlich und im Präsens, wegen der<br />

Dynamik. Auch danach fand ich sie immer noch zu<br />

kompliziert, aber ich checkte jeden Tag die


Zugriffszahlen unserer Homepage und stets waren sie<br />

wieder gestiegen. Der Leser hat immer recht, hat mir<br />

mein erster Chefredakteur eingetrichtert. Eine Story<br />

muss verkaufen. Wenn sie nicht verkauft, ist sie schlecht,<br />

auch wenn du sie gut findest. Wenn sie verkauft, ist sie<br />

gut, auch wenn du sie schlecht findest. So einfach ist<br />

das.<br />

Eugenes Blog verkaufte. Definitiv. Sogar die anderen<br />

Medien sprangen auf seinen Zug auf. Ein Journalist der<br />

taz machte ein stundenlanges Interview mit ihm. Mit der<br />

Band sprach der Kollege nur ein paar Worte, eher aus<br />

Höflichkeit.<br />

„Was soll das?“, fragte Anna.<br />

Ich wusste keine Antwort.<br />

Dortmund. Freitag.<br />

Wieder Besuch von zwei Polizisten, die uns ein Papier<br />

überbrachten. „Die Anmeldung ihrer Demonstration<br />

#


wurde nicht genehmigt, sie ist illegal“, sagte einer.<br />

Eugene nahm den Brief wortlos entgegen, die Polizisten<br />

gingen wieder. Eugene warf den Brief ungeöffnet in den<br />

Müll.<br />

Wieder ein Ring um die Innenstadt, wieder eine<br />

Fußgängerzone mittendrin. Etwa 200 Sambanistas, rund<br />

doppelt so viele weitere Demonstranten. Fernseh-Teams,<br />

Radio-Interviews, ein großer Pulk von Fotografen, klick,<br />

klick, klick die ganze Zeit. Deutschland wusste, was wir<br />

taten, besser als wir selbst.<br />

Jugendliche, die „Das gehört mir“-Aufkleber überall<br />

anbrachten: an öffentlichen Einrichtungen, bei<br />

McDonalds und Karstadt, an der Kirche. Viele Designs,<br />

immer derselbe Schriftzug.<br />

„Wo habt ihr die Aufkleber her?“, fragte ich einen<br />

Jungen.<br />

„Das sind selbst bedruckte Klebeetiketten“, sagte er.<br />

Dann, verschmitzt: „Wir haben jetzt einen Verein gegen<br />

die Diktatur der Medienkonzerne gegründet und<br />

machen Werbung dafür: Elektronische Entropie e.V.“


#<br />

Eugene schrieb: Information ist Macht. Jedes Gesetz, das<br />

den Zugang zu Information regelt, regelt die<br />

Machtverhältnisse in einer Gesellschaft. Deshalb haben die<br />

Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts die<br />

Urheberrechtsgesetze geändert. Sie haben die Rechte und<br />

damit die Kontrolle von den Verlegern und Kaufleuten an<br />

die Autoren und Künstler übertragen. Sie haben die Macht<br />

zu kommunizieren dezentralisiert und jedem Einzelnen in<br />

die Hand gegeben. Wenn sich heute die Großkonzerne<br />

diese Macht durch Knebelverträge und ihre Kontrolle über<br />

die Technik wieder holen, so stellen sie damit Weichen für<br />

die Zukunft. Sie übernehmen die Kontrolle der<br />

Informationsgesellschaft.<br />

Dennoch wäre es falsch, Urheberrechte einfach<br />

abzuschaffen. Auch wer das fordert, macht einen Schritt<br />

hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück. Wo es<br />

kein Gesetz gibt, gilt das Faustrecht. Homo homini lupus,


der Mensch ist des Menschen Wolf, schrieb Thomas<br />

Hobbes im 17. Jahrhundert. Heute würde er vielleicht<br />

schreiben: Dog eat dog.<br />

Okay, Hobbes mag einem nicht als Erstes in den Sinn<br />

kommen, wenn man über Freiheit nachdenkt, immerhin<br />

ist er ein Verfechter des Absolutismus. Aber trotzdem<br />

beginnt alles irgendwie mit ihm. Hobbes trifft als junger<br />

Mann Galileo Galilei und ist schockiert über den<br />

Umgang der Inquisition mit dem großen Gelehrten. In<br />

ihm reift der Gedanke, für die politische Philosophie das<br />

zu tun, was die Astronomen zu dieser Zeit auf dem<br />

Gebiet der Wissenschaft erreichen: sie auf das<br />

Fundament der Vernunft zu stellen.<br />

Seit Menschengedenken haben Herrscher ihre Macht<br />

stets von den Göttern abgeleitet, aber Hobbes macht<br />

damit in seinem Buch Leviathan Schluss. Ihm zufolge<br />

lebten die Menschen früher in einem Naturzustand, in<br />

dem sie zwar völlig frei waren, aber auch keine Sicherheit<br />

hatten. Sie waren ständig in der Gefahr, von anderen<br />

Menschen überfallen, beraubt oder getötet zu werden.


Also geben die Menschen laut Hobbes ein Stück ihrer<br />

Freiheit auf, wenn ein Monarch ihnen Sicherheit bietet.<br />

Herrschaft ist gewissermaßen ein Geschäft. Gott kommt<br />

in diesem Vertrag nicht vor.<br />

Die Kirchen toben und auch die Monarchen sind wenig<br />

glücklich damit, von Gottes auserwählten Werkzeugen<br />

zu profanen Vertragspartnern zu werden. Dass Thomas<br />

Hobbes’ Phantasie nicht weiter reichte als bis zur<br />

absoluten Monarchie, ist aus heutiger Sicht ein schwerer<br />

Makel, tatsächlich war sein Buch aber ein Meilenstein in<br />

der politischen Geschichte.<br />

Die nächste Meile zum nächsten Stein geht ein paar<br />

Jahrzehnte später ein anderer britischer Philosoph: John<br />

Locke. Im Jahr 1690 entwickelt er in seinem Buch Two<br />

Treatises on Government die Theorie vom<br />

Gesellschaftvertrag weiter. Auch Locke sagt, Menschen<br />

sollen eine Regierung gewissermaßen dulden, weil sie<br />

ihnen Vorteile bringt. Im Gegensatz zu Hobbes räumt er<br />

der Bevölkerung aber ein weit reichendes Wider-


standsrecht ein. Eine Regierung, die ihre Aufgaben nicht<br />

erfüllt, kann abgesetzt werden, sagt er.<br />

Locke, der übrigens mit Isaac Newton in regelmäßigem<br />

Briefverkehr stand, streicht auch Folgendes hervor:<br />

Damit Menschen einige ihrer Rechte an eine Regierung<br />

abtreten können, brauchen sie zunächst eines: natürliche<br />

Rechte. Rechte, die ihnen eine Regierung weder<br />

gewähren kann noch gewaltsam nehmen darf. Dazu<br />

gehören für Locke die Rechte auf Freiheit, Gleichheit,<br />

Unverletzlichkeit der Person und – wichtig für den<br />

Gegenstand unserer Untersuchung – das Eigentumsrecht<br />

des Einzelnen an den Früchten seiner Arbeit.<br />

Zwanzig Jahre später wird in England das Statute of<br />

Anne erlassen: das erste moderne Copyright. In Lockes<br />

Sinn garantiert es den Autoren, nicht mehr den<br />

Verlegern, für 14 Jahre die Verfügungsrechte über die<br />

Früchte ihrer Arbeit.<br />

Lockes Buch findet viele aufmerksame Leser, neben<br />

Immanuel Kant ist Jahrzehnte später auch Thomas<br />

Jefferson darunter, der Autor der amerikanischen


Unabhängigkeitserklärung: „Wir halten diese<br />

Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich<br />

erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit<br />

gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden,<br />

worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach<br />

Glückseligkeit. Dass zur Versicherung dieser Rechte<br />

Regierungen unter den Menschen eingeführt worden<br />

sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung<br />

der Regierten herleiten; dass sobald eine Regierungsform<br />

diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des<br />

Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen ...“<br />

#<br />

Wir recherchierten natürlich die Sache mit den<br />

Pflanzen-Patenten und fanden noch etwas: Terminator-<br />

Gene.<br />

Traditionelle Bauern legen immer einen Teil ihrer Ernte<br />

zur Seite, um ihn im nächsten Jahr wieder auszusäen. In<br />

Dürre-zeiten mussten sie immer abwägen: Hunger


versus Saatgut-Reserven. Eine globale Wirtschaft könnte<br />

dieses Problem beheben, denn nun lässt sich das Saatgut<br />

für die nächste Ernte kaufen – und dann wieder Jahr für<br />

Jahr weiterverwenden.<br />

Aber genau das ist natürlich nicht maximal profitabel.<br />

Dank Gentechnik haben es Saatgutkonzerne geschafft,<br />

sehr preiswertes Saatgut herzustellen, das genau einmal<br />

keimt. Die Früchte dieses Saatguts – Getreide zum<br />

Beispiel – sehen zwar aus wie normale Früchte und<br />

schmecken auch so, aber wenn man sie anpflanzt,<br />

passiert nichts.<br />

Wer einmal Saatgut mit Terminator-Genen kauft<br />

(kaufen muss), muss das im nächsten Jahr wieder tun.<br />

Und im nächsten Jahr wieder. Die Großkonzerne<br />

drängen mit Kampfpreisen in diesen Markt und erobern<br />

bei jeder Dürre und jeder Naturkatastrophe wieder eine<br />

der ärmsten Gegenden der Welt.<br />

„Kopierschutz für Pflanzen“, sagte Eugene und schrieb<br />

einen gleichnamigen Blogpost.


#<br />

Düsseldorf. Samstag.<br />

Von der Heinrich-Heine-Universität bis zur<br />

Fußgängerzone, dann ein Abschlusskonzert im<br />

Hofgarten, so lautete der Plan. „Qualität vor Quantität“,<br />

sagte Eugene und beschränkte die Zahl der Sambanistas<br />

auf hundert. Drei- oder viermal so viele Menschen<br />

mussten wir vertrösten.<br />

Nach der Demo zogen wir in den Hofgarten, einen<br />

großen Park, und gaben dort vom Dach des Busses aus<br />

ein Konzert. Der Park war vollkommen überlaufen und<br />

wir fürchteten ein wenig, dass niemand auf unser<br />

„richtiges“ Konzert am Abend ins Zakk kommen würde.<br />

Wir waren ja finanziell immer noch von den Eintritten<br />

abhängig und lebten praktisch von der Hand in den<br />

Mund.<br />

Aber die Sorge war unbegründet. Das Zakk, ein linksalternatives<br />

Kultur- und Veranstaltungszentrum, war<br />

ausverkauft. Wir spielten also unser zweites Konzert an


diesem Tag. Meine Finger taten weh und meine<br />

Stimmbänder waren schon heiser, aber es war<br />

fantastisch. Auch die anderen spielten wie in Trance.<br />

Das war es, wofür wir geboren waren. Es war nicht<br />

anstrengend. Es war wunderschön.<br />

Nach dem Konzert folgte die größte Überraschung. Ich<br />

drängte mich durchs Publikum an die Bar, ließ mir<br />

gratulieren und auf die Schulter klopfen, und plötzlich<br />

stand er vor mir. Lederjacke, zerrissene Jeans, unrasiert,<br />

die Ray Ban über der Stirn: Max. Er grinste mich an.<br />

„Was tust du hier?“, fragte ich.<br />

„Scouting“, sagte er. „Ich habe einen Tipp bekommen.<br />

Ein alter Freund hat gemeint, ich soll mir die Band mal<br />

ansehen. Könnte ja sein, dass sie in absehbarer Zeit einen<br />

Plattenvertrag bekommt. Willst du was trinken?“<br />

„Und? Wie hast du uns gefunden?“<br />

Er überlegte, schürzte die Lippen, rang sich ein kurzes<br />

Nicken ab. Dann war plötzlich Anna da. „Hi, ist das ein<br />

Freund von dir?“, fragte sie.


Max lächelte sein frechstes Lächeln und sah sie sich ganz<br />

genau von oben bis unten an. Dann streckte er ihr die<br />

Hand entgegen.<br />

„Ja, das ist ein alter Freund“, sagte ich, „Das ist …“<br />

„Peter“, sagte Max. „Und du bist Anna.“<br />

Sie nahm seine Hand und lächelte zurück. „Wolltet ihr<br />

gerade etwas trinken?“<br />

Max drehte sich zur Bar und bestellte eine Flasche<br />

Tequila.<br />

„Eine Flasche?“, fragte ich. Verdammt noch mal, wollte<br />

er jetzt mit uns feiern?<br />

Carlos und Eugene tauchten auf. Max drückte ihnen<br />

Gläser in die Hand und schenkte ein.<br />

„Auf die Soundinistas!“, rief er.<br />

Wir stießen an, tranken ex, dann sagte ich: „Wir sollten<br />

rübergehen in den Park, nachsehen, was sich dort tut!“<br />

Eugene nickte. „Gute Idee!“<br />

„Ich bleibe hier“, sagte Anna.<br />

So war das nicht gedacht.<br />

Da kam Dmitri. „Wir müssen in den Park!“, sagte er.


„Das diskutieren wir gerade“, sagte Eugene.<br />

„Nicht diskutieren, tun. Es scheint Probleme mit der<br />

Polizei zu geben.“<br />

„Was für Probleme?“, fragte ich.<br />

„Keine Ahnung, aber das sollten wir uns ansehen“, sagte<br />

Dmitri und machte sich auf den Weg zur Tür. Eugene<br />

drängte hinter ihm nach, wir anderen folgten. Auf der<br />

Straße vor dem Lokal herrschte aufgeregte Stimmung.<br />

Hundert oder zweihundert Menschen standen in kleinen<br />

Gruppen beisammen. „Alles voll Polizei“, hörte ich<br />

jemanden sagen, und jemand anderen: „Wir müssen sie<br />

befreien.“<br />

„Los, zum Park“, rief Eugene und lief los. Ich zögerte.<br />

Max und Anna waren nicht bei uns, sie blieben wohl<br />

tatsächlich an der Bar. Ich lief hinter den anderen her.<br />

Eine Wolke blaues Licht wies uns den Weg.<br />

Als wir am Hofgarten ankamen, sahen wir, dass eine<br />

Gruppe von etwa hundert Leuten von der Polizei<br />

umstellt war. Beamte in Rüstungen bildeten mit<br />

Plexiglasschilden einen Kessel. Auf dem Dach eines


Polizeibusses standen drei Uniformierte. Einer filmte die<br />

Menge, einer leuchtete ihm mit einem starken<br />

Suchscheinwerfer, der dritte kniete vor ihnen und<br />

schützte sie mit zwei hoch gehaltenen Schilden. Die<br />

Leute im Kessel trugen Kapuzen und Mützen, viele<br />

hatten sich Tücher oder T-Shirts vors Gesicht gebunden.<br />

„Was ist hier los?“, fragte Eugene einen Polizisten, der<br />

die Seitengasse beobachtete, aus der wir kamen.<br />

„Das sehen Sie doch“, antwortete der Mann barsch.<br />

Eugene sah ihn verständnislos an. „Es gibt keinen<br />

Grund, unhöflich zu sein, oder?“<br />

Der Polizist überlegte kurz. „Jemand aus der Menge hat<br />

einen Pflasterstein auf einen Kollegen geworfen und ihn<br />

ins Gesicht getroffen. Kieferbruch.“<br />

„Und der Täter ist in dieser Gruppe?“<br />

„Ja.“<br />

„Was geschieht jetzt mit den Leuten?“<br />

„Sie dürfen den Kessel verlassen, aber nur einzeln und<br />

wenn sie ihre Personalien angeben. Bis wir den Täter<br />

haben.“


„Was machen wir jetzt?“, fragte Carlos.<br />

„Darum kümmere ich mich“, sagte Eugene. „Und ihr<br />

geht zurück in die Bar.“<br />

Ich dachte an Anna und Max. Ich wollte zurück.<br />

„Kommt, wir sollten uns um unser Publikum<br />

kümmern“, sagte ich. Dmitri und Carlos folgten nur zu<br />

bereitwillig.<br />

Wir kamen wahrscheinlich keine Minute zu spät wieder<br />

im Zakk an. Max und Anna verstanden sich prächtig<br />

und standen schon ziemlich nah beieinander. Ich schob<br />

mich dazwischen, legte ihr einen Arm um die nackte<br />

Hüfte und küsste sie. Sie lachte.<br />

„Gibt’s hier noch Tequila?“, rief ich.<br />

#<br />

Eugene kam an diesem Abend nicht mehr ins Zakk. Er<br />

brauchte bis vier Uhr morgens, bis er einen Kompromiss<br />

zwischen den Eingekesselten und der Polizei aushandeln<br />

konnte. Schließlich durften die Leute den Kessel in


Vierergruppen verlassen, sie wurden gefilzt, aber wenn<br />

keine Waffen oder stichhaltige Beweise für eine Straftat<br />

gefunden wurden, nahm die Polizei ihre Daten nicht<br />

auf. Der Steinewerfer wurde nicht gefunden. Viele<br />

behaupteten: Es gab nie einen Steinewerfer und auch<br />

keinen verletzten Beamten.<br />

„Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit<br />

gekommen ist“, sagte Victor Hugo einmal, zwischen<br />

zwei französischen Revolutionen.<br />

Die amerikanische Revolution inspiriert die<br />

europäischen Aufklärer, unter denen der Ruf nach der<br />

Tat immer lauter wird. Auch daran hat Thomas<br />

Jefferson wesentlichen Anteil: Nach der<br />

Unabhängigkeitserklärung wird er Benjamin Franklins<br />

Nachfolger als amerikanischer Botschafter in Paris und<br />

pflegt engen Kontakt mit den intellektuellen Zirkeln.<br />

#


Dem Ancien Régime entgleiten seine absolutistischen<br />

Zügel.<br />

Das französische Zensursystem kann als Musterbeispiel<br />

dafür herhalten, wie das Bürgertum Schritt für Schritt zu<br />

Selbstbewusstsein und Macht findet. Mit der Errichtung<br />

der absolutistischen Monarchie wurde auch die Vergabe<br />

von Druckprivilegien zentralisiert und direkt dem König<br />

unterstellt, die zuständige Behörde hieß Direction de la<br />

Librairie. Jedes Manuskript muss nun vor seiner<br />

Drucklegung begutachtet und von der Direction<br />

genehmigt werden. Im Gegenzug erhalten die Verleger<br />

durch die Genehmigung Monopolrechte für die<br />

Vermarktung des Buches, das bewährte Spiel also.<br />

Auch die Anzahl der genehmigten Druckereien pro<br />

Stadt oder Landstrich wird von den Behörden streng<br />

reglementiert, ebenso wie die Anzahl der Druckpressen.<br />

Eine eigene Buchpolizei überwacht mit regelmäßigen<br />

Razzien die Einhaltung der Bestimmungen, fahndet<br />

nach nicht genehmigten Büchern sowie nach solchen,<br />

die zwar genehmigt, aber illegal von anderen


Druckereien nachgedruckt wurden. Raubkopien würde<br />

man heute dazu sagen. In diesem System wäscht eine<br />

Hand die andere: Die Monarchie ermöglicht bequeme<br />

Profite auf einem streng reglementierten Markt, die<br />

Verleger danken es mit leichter Zerstreuungsliteratur.<br />

Doch das Drucken von nicht genehmigten Inhalten ist<br />

ein lukratives Geschäft, das sich viele nicht entgehen<br />

lassen wollen, vor allem kleine Druckereien, die keine<br />

Genehmigungen bekommen. Um der Direction ein<br />

Schnippchen zu schlagen, siedeln sich viele darauf<br />

spezialisierte Betriebe in Nachbarländern nahe der<br />

Grenze an und schmuggeln ihre Ware nach Frankreich.<br />

Die illegal verbreiteten Schriften tragen wesentlich zur<br />

Erosion der Macht der Monarchie bei. In den Pariser<br />

Salons und Cafés brummt es wie in einem Bienenstock,<br />

Ideen werden geboren, diskutiert, verworfen oder<br />

verbessert, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Im Le Procope im<br />

Quartier Latin streiten und saufen französische Autoren<br />

(Voltaire, d’Alembert, Diderot, Rousseau) mit<br />

amerikanischen Diplomaten (Franklin und Jefferson)


und schottischen Philosophen (David Hume und dessen<br />

Freund Adam Smith), mitten drin der Revolutionär<br />

Robespierre und ein korsischer Offizier namens<br />

Bonaparte. Über die Auseinandersetzung mit Kunst und<br />

Literatur und Philosophie entsteht in Paris ein<br />

Publikum, das die Kritik selbst zur Kunst erhebt, dem<br />

nichts heilig ist und das nichts unhinterfragt lässt.<br />

Montesquieu fordert die Gewaltenteilung, Voltaire<br />

verkracht sich mit dem König und der Direction,<br />

wandert kurz ins Gefängnis, publiziert dann in Genf,<br />

geht nach England und studiert den Parlamentarismus<br />

und die sich bereits zart abzeichnende industrielle<br />

Revolution, liest John Locke und Isaac Newton, kommt<br />

zurück, geht dann nach Preußen, erneut nach Genf und<br />

schließlich wieder nach Paris, nur um von Benjamin<br />

Franklin bei den Freimaurern eingeführt zu werden und<br />

kurz darauf, alt und berühmt, zu sterben. Sein<br />

Intimfeind Rousseau frequentiert dieselben Salons und<br />

Cafés, reist auch nach Genf, nach Preußen und nach<br />

England, schafft es dabei, Voltaire aus dem Weg zu


gehen, und stirbt schließlich ebenfalls in Paris, nur fünf<br />

Wochen später.<br />

Auf ihren Reisen verbreiten sie die Gedanken der<br />

Aufklärung, stecken Europa mit der brodelnden<br />

Stimmung der Pariser Cafés an, so dass sogar der<br />

Preußenkönig und die russische Zarin sich interessiert<br />

zeigen werden, freilich nicht genug, um Demokraten zu<br />

werden. In Deutschland entbrennt der Sturm und<br />

Drang, Goethes Götz beraubt die Reichen und gibt den<br />

Armen, Schiller ruft dem König zu: „Ich kann nicht<br />

Fürstendiener sein. Ein Federstrich von dieser Hand,<br />

und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie<br />

Gedankenfreiheit!“<br />

Doch bleiben wir in Paris: Denis Diderot und Jean<br />

Baptiste d’Alembert versuchen währenddessen, das<br />

kreative Chaos zu durchdringen, sich einen Überblick zu<br />

verschaffen und alles Wissen ihrer Zeit in einer einzigen<br />

Enzyklopädie zu vereinen, für die die klügsten Köpfe<br />

Beiträge leisten sollen – darunter Turquet und<br />

Montesquieu, sogar Rousseau und Voltaire arbeiten


eide daran mit, ohne miteinander arbeiten zu müssen.<br />

Die Enzyklopädie wird schon nach zwei Bänden<br />

verboten, weil sie zu kirchenfeindlich ist, die römische<br />

Inquisition setzt sie auf den Index der verbotenen<br />

Bücher, aber keine Geringere als Madame Pompadour,<br />

die mächtige Mätresse des Königs, findet Gefallen daran<br />

und hält die Direction in Schach. Sie sorgt dafür, dass<br />

die Enzyklopädisten trotz Verbots weiterarbeiten<br />

können. Aber natürlich: Abhängig von der persönlichen<br />

Gunst einer Person am Hof zu sein, ist kein akzeptabler<br />

Zustand. Beinahe zwangsläufig gerät die Zensur selbst<br />

immer mehr ins Kreuzfeuer der politischen Kritik. Rede-<br />

, Meinungs- und Pressefreiheit wird zu einem Wert an<br />

sich, unabhängig von der Information, die man damit<br />

übermitteln will.<br />

Voltaire treibt es auf die Spitze, als er einem Gegner<br />

schreibt: „Ich verabscheue, was Sie schreiben, aber ich<br />

würde mein Leben dafür hingeben, dass Sie<br />

weiterschreiben können.“


Dann der Sturm auf die Bastille, der Kampf auf den<br />

Barrikaden. Die Französische Revolution schafft die<br />

willkürliche Zensur ab, die Literaten haben gesiegt,<br />

zumindest vorerst. Als die Nationalversammlung 1789<br />

die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, lautet<br />

der Artikel 11: Die freie Äußerung von Meinungen und<br />

Gedanken ist eines der kostbarsten Menschenrechte;<br />

jeder Bürger kann also frei reden, schreiben und<br />

drucken, vorbehaltlich seiner Verantwortlichkeit für den<br />

Missbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz<br />

bestimmten Fällen.<br />

#<br />

Frankreich also.<br />

Unser erstes Konzert im Land spielten wir in Straßburg;<br />

Eugene gab ein Radiointerview und er sagte: „Die<br />

Menschenrechte, so wie sie die Franzosen vor 200 Jahren<br />

entwickelt haben, reichen doch nicht mehr aus. Es reicht<br />

nicht mehr, die Rechte des Einzelnen gegenüber dem


Staat zu definieren. Die Macht liegt immer weniger bei<br />

den Staaten, die Aristokratie von heute ist international,<br />

ihre einflussreichsten Familien heißen Google und<br />

Facebook, Apple und Microsoft, Disney und Sony und,<br />

was uns angeht, Volvox. In einer durchkapitalisierten,<br />

globalen und vernetzten Gesellschaft müssen wir klären,<br />

welche Rechte wir ihnen gegenüber behaupten wollen.<br />

Wir brauchen neue Menschenrechte für ein neues<br />

Zeitalter. Und wir brauchen einen symbolischen Akt,<br />

um unserer Forderung Nachdruck zu verleihen. Wir<br />

brauchen einen Sturm auf die Bastille 2.0.“<br />

Wir spielten am Abend in einem verrauchten<br />

Kellerlokal, dessen Namen ich vergessen habe, und<br />

danach spielten wir eine Zugabe auf dem Dach unseres<br />

Busses, dann wurde es noch ein feuchtfröhliches Fest.<br />

Morgens standen zwei Polizisten vor unserem Bus.<br />

#


„Kommen Sie bitte mit“, sagte der eine, ein<br />

graugesichtiger Mann Ende fünfzig. Eugene und ich<br />

stiegen zu ihnen ins Auto und sie brachten uns zu einem<br />

großen Gebäude, dessen Fassade mit Farbspray<br />

beschmiert war. Ich konnte die französischen Parolen<br />

nicht verstehen.<br />

„Wissen Sie, was das ist?“, fragte der Polizist. Wir<br />

schüttelten beide den Kopf.<br />

„Der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte. Das<br />

ist heute Nacht passiert.“<br />

„Damit haben wir nichts zu tun“, sagte Eugene. Wir<br />

machten uns nicht die Mühe, aus dem Wagen zu<br />

steigen.<br />

„Natürlich nicht“, sagte der Polizist. „Dass Sie im Radio<br />

über Menschenrechte reden, ausgerechnet während Sie<br />

in Straßburg sind, ist nur Zufall.“<br />

Eugene zuckte mit den Achseln.<br />

„Was steht da?“, fragte ich.<br />

„Jeder Mensch hat das Recht auf ungehinderten und<br />

ungefilterten Zugang zu öffentlichen Informationen.


Jeder Mensch hat das Recht, private Informationen<br />

privat zu halten. Jeder Mensch hat das Recht, mit jedem<br />

Menschen zu kommunizieren, anonym und vertraulich.<br />

Jeder Mensch hat das Recht ... weiter sind sie nicht<br />

gekommen.“<br />

„Wir haben sie erwischt und festgenommen. Zwei junge<br />

Burschen, fünfzehn und sechzehn Jahre alt. Das sind<br />

noch Kinder, denen Sie da Flausen in den Kopf setzen.<br />

Ich hätte gute Lust, Sie beide wegen Anstiftung zur<br />

Sachbeschädigung festzunehmen.“<br />

„Dann tun Sie’s“, sagte ich trotzig.<br />

„Im Innenministerium ist jemand dagegen“, sagte der<br />

Polizist. „Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat: Verlassen<br />

Sie das Land. Wir werden nicht mehr lange zusehen, wie<br />

Sie Unruhe stiften.“<br />

Jemand postete einen bemerkenswerten Kommentar in<br />

Eugenes Blog: Nicht Geld regiert die Welt, sondern<br />

#


Aufmerksamkeit. Denn Aufmerksamkeit ist Auswahl<br />

von Information im Informationsüberfluss. Die Leute<br />

müssen einem zuhören, damit man sie beeinflussen<br />

kann. Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zu allem.<br />

Gut, mit Geld kann man Aufmerksamkeit kaufen, das<br />

beweist ja Paris Hilton. Aber in dem Ausmaß, in dem<br />

Kommunikationskanäle vom Kapital unabhängig<br />

werden, schwindet dessen Einfluss. Deswegen ist es für<br />

die Herrschenden so wichtig, Kommunikation und<br />

Information knapp zu halten. Nur durch Knappheit<br />

bleiben sie an der Macht.<br />

Sie müssen die Aufmerksamkeit der Massen fokussieren,<br />

auf Paris Hiltons Nippel oder sonstwas. Wenn die<br />

Aufmerksamkeit von Millionen und Abermillionen von<br />

Menschen sich plötzlich ungesteuert auf die Welt<br />

richten würde, wenn sie in jede Ecke und in jede Nische<br />

des Systems blicken würden ... was würden sie sehen?<br />

#


Die erste Raubkopie von „Der Glöckner von Notre<br />

Dame“ war kein VHS-Band des Disney-Films, sondern<br />

ein belgischer Nachdruck des in Frankreich erschienenen<br />

Buches. Amerikaner stahlen Oliver Twist, Kanadier<br />

Huckleberry Finn. Ein Verlag in Toronto veröffentlichte<br />

eine Raubkopie von Tom Sawyer sogar bevor der<br />

amerikanische Originalverlag das Buch auf den Markt<br />

brachte. Das gab es also schon vor den Internet-<br />

Tauschbörsen.<br />

Victor Hugo, Charles Dickens und Mark Twain waren<br />

folglich vehemente Befürworter eines strengen<br />

Urheberrechts – und vor allem waren sie für<br />

internationale Abkommen darüber. Alle drei engagierten<br />

sich dafür politisch, heute würde man sie wohl<br />

„Aktivisten“ nennen, oder „Akteure der<br />

Zivilgesellschaft“.<br />

Aber: Sie haben niemals eine Beschränkung der<br />

Bevölkerung beim Zugang zu Informationen gefordert.<br />

Niemals. Wenn sie gegen den freien Büchernachdruck<br />

argumentiert haben, dann wollten sie die Autoren vor


den Krämern schützen. Vor kommerziellen<br />

Raubkopierern. Damit standen sie in der Tradition der<br />

großen Aufklärer, Kant etwa oder auch Fichte. Es ging<br />

um eine Regulierung des Profitstrebens, nicht der Leser.<br />

Kein halbwegs intelligenter Mensch hat je die<br />

Rechtmäßigkeit des Lesens kopierter Bücher bestritten –<br />

zumindest bis vor kurzem. Plötzlich werden rund um<br />

den Erdball Menschen verklagt, weil sie Musik<br />

konsumieren, oder Bücher oder Filme oder sonstwas.<br />

Und sie werden nicht von den Kreativen verklagt,<br />

sondern von den Krämern. Etwas ist in den letzten<br />

hundert Jahren schiefgelaufen, könnte man meinen.<br />

Das Gesetz gibt den Künstlern alle Rechte an ihren<br />

Werken, aber über juristische Winkelzüge knöpfen die<br />

Konzerne sie ihnen wieder ab. Die Knebelverträge der<br />

Musikindustrie machen jene Unabhängigkeit<br />

rückgängig, die die Aufklärung erkämpft hat. Das muss<br />

sich wieder ändern.<br />

Es ist eine Frage der Macht. Die Konzerne kontrollieren<br />

die Vertriebswege, auf die die Künstler angewiesen sind.


Die Konzerne diktieren die Bedingungen, unter denen<br />

Künstler sich an ihr Publikum wenden. Die Konzerne<br />

entscheiden, wer überhaupt auf dem Markt zugelassen<br />

wird. Wer nicht mit den Konzernen ist, ist<br />

<strong>incommunicado</strong>.<br />

Das Recht muss zu den Künstlern zurückkehren, zu den<br />

Autoren, den Musikern, den Videofilmern, den<br />

Webdesignern und den Programmierern. Aber die<br />

Konzerne werden das Recht nicht freiwillig wieder<br />

herausrücken. So viel steht auch fest.<br />

#<br />

Immanuel Kant, Von der Unrechtmäßigkeit des<br />

Büchernachdrucks, 1785, erste Fußnote: Würde es wohl<br />

ein Verleger wagen, jeden bei dem Ankaufe seines<br />

Verlagswerks an die Bedingung zu binden, wegen<br />

Veruntreuung eines fremden ihm anvertrauten Guts<br />

angeklagt zu werden, wenn mit seinem Vorsatz, oder<br />

auch durch seine Unvorsichtigkeit, das Exemplar, das er


verkauft, zum Nachdrucke gebraucht würde? Schwerlich<br />

würde jemand dazu einwilligen: weil er sich dadurch<br />

allerlei Beschwerlichkeit der Nachforschung und<br />

Verantwortung aussetzen würde. Der Verlag würde<br />

jenem also auf dem Halse bleiben.<br />

#<br />

Johann Gottlieb Fichte, Beweis der Unrechtmäßigkeit<br />

des Büchernachdrucks, 1793: Gedanken übergeben sich<br />

nicht von Hand in Hand, werden nicht durch klingende<br />

Münze bezahlt, und nicht dadurch unser, dass wir ein<br />

Buch, worin sie stehen, an uns nehmen, es nach Hause<br />

tragen und in unserm Bücherschranke aufstellen. Um sie<br />

uns zuzueignen, gehört noch eine Handlung dazu: Wir<br />

müssen das Buch lesen, seinen Inhalt, wofern er nur<br />

nicht ganz gemein ist, durchdenken, ihn von mehreren<br />

Seiten ansehen, und so ihn in unsre eigne<br />

Ideenverbindung aufnehmen. Da man indess, ohne das<br />

Buch zu besitzen, dies nicht konnte, und um des bloßen


Papiers willen dasselbe nicht kaufte, so muss der Ankauf<br />

derselben uns doch auch hierzu ein Recht geben: Wir<br />

erkauften uns nämlich dadurch die Möglichkeit, uns die<br />

Gedanken des Verfassers zu eigen zu machen; diese<br />

Möglichkeit aber zur Wirklichkeit zu erheben, dazu<br />

bedurfte es unsrer eignen Arbeit.<br />

„Hey Mann. Kannst du reden oder soll ich später noch<br />

mal anrufen?“<br />

„Ich bin alleine. Was gibt’s?“<br />

„Hast du schon mal Kant gelesen?“<br />

„Kant?“<br />

„Immanuel.“<br />

„Nein, nicht wirklich. Ich hab nur gestern einen Text<br />

von Eugene redigiert ...“<br />

„Ich habe ihn auch noch nie gelesen. Aber einer meiner<br />

Assistenten hat ein abgebrochenes Philosophiestudium.<br />

Er hat Kant gelesen.“<br />

#


„Und?“<br />

„Und er liest regelmäßig die Einträge in eurem Weblog.“<br />

„Wo Eugene über Kant geschrieben hat. Und weiter?“<br />

„Tja, dabei ist er auf eine Idee gekommen. Keine völlig<br />

neue Sache. Er hat einfach die Gedanken von Immanuel<br />

Kant und Eugene Jersey kombiniert. Und Kurt Cobain<br />

hat auch ein bisschen beigesteuert.“<br />

„Immanuel Kant, Kurt Cobain und Eugene Jersey?“,<br />

wiederholte ich.<br />

„Genau.“<br />

„Was ist dabei rausgekommen?“<br />

„Eine weitere Geschäftsidee. Sozusagen eine Ausweitung<br />

der Kampfzone.“<br />

„Worum geht’s?“<br />

„Ich versuche, es dir zu erklären. Zumindest, so weit ich<br />

es verstanden habe. Der alte Kant hat scheinbar viel über<br />

das Wesen der Kunst und der Schönheit nachgegrübelt.<br />

Jede Kunst unterliegt ästhetischen Regeln, aber die<br />

Anwendung der Regeln reicht nicht aus, um gute Kunst<br />

hervorzubringen. Dieses Problem hat den guten


Immanuel scheinbar besonders gefesselt. Und ich finde<br />

es auch spannend, schließlich leite ich ein<br />

Medienunternehmen. Wenn mir jemand sagen könnte,<br />

wie ich mit ein paar einfachen Regeln einen Welthit<br />

produziere, wäre das die Lizenz zum Gelddrucken. Wir<br />

sind zwar schon ganz gut darin, Hits am Fließband zu<br />

produzieren, aber wenn ich einen Song höre, der sich an<br />

alle Regeln hält und mir trotzdem nicht gefällt, dann<br />

gefällt er mir einfach nicht. Punkt. Das ist eben Kunst.<br />

Jetzt, in dieser Sekunde, sitzen auf diesem Planeten ein<br />

paar tausend Musiker in ihren Tonstudios und<br />

versuchen, den nächsten Nummer-1-Hit zu produzieren.<br />

Und die meisten von ihnen kennen alle Tricks und<br />

Kniffe. Aber nur einer oder zwei werden es schaffen.“<br />

„Okay, komm zum Punkt.“<br />

„Der Punkt ist das, was der alte Kant Genie nannte. Er<br />

schrieb, Moment ...“ Ich hörte Papier rascheln. „Hier ist<br />

es ... Genie ist das Talent, welches der Kunst die Regel<br />

gibt.“<br />

„Das Talent, welches der Kunst die Regel gibt?“


„Genau.“<br />

„Was soll das heißen?“<br />

„Hör dir das an, Moment, wo ist das jetzt. Ah, hier:<br />

Jeder echte, also geniale Künstler schafft sich selbst die<br />

Regeln, die er braucht, um seine Zwecke zu erreichen.<br />

Er ist damit zugleich originell und exemplarisch<br />

(mustergültig), weil er sich zwar keiner Vorschrift<br />

verpflichtet weiß, sein Werk aber durchaus neue<br />

Maßstäbe setzt, indem es die Beurteilungskriterien<br />

verändert. Reine Originalität ohne Mustergültigkeit ist<br />

eine Spielerei, die schnell an Reiz verliert. Reine<br />

Mustergültigkeit ohne Originalität ist simple Nachäfferei<br />

– stupides Material, um Hitparaden zu füllen.“<br />

„Das mit der Hitparade hat Kant sicher nicht gesagt.“<br />

„Nein, die letzten Sätze waren von meinem Mitarbeiter.“<br />

„Womit wir jetzt hoffentlich beim neuen Business-Plan<br />

wären“, drängte ich.<br />

„Langsam. Jetzt sind wir mal bei Kurt Cobain. Oder<br />

besser gesagt, bei Nirvana. Verstehst du: Jeder geniale


Künstler schafft sich selbst die Regeln, die er braucht,<br />

um seine Zwecke zu erreichen!“<br />

Es dauerte eine Sekunde, dann fiel der Groschen.<br />

„Nevermind“, flüsterte ich.<br />

„Genau. Als Nevermind erschien, hat eine ganze<br />

Generation gesagt: Wow, was für ein geniales Album!<br />

Wir haben sogar dasselbe Wort wie Kant verwendet:<br />

genial. Plötzlich war alles anders. Elf Songs, und der<br />

Heavy Metal war Geschichte. Aber warum?“<br />

„Weil plötzlich neue Regeln definiert waren ...“<br />

„Die Regeln des Grunge. Eine ganze Generation hat sie<br />

sofort verstanden. Wir haben Nirvana gehört und haben<br />

die Regeln verstanden. Intuitiv. Es gibt keine klar<br />

umrissenen zehn Gebote des Grunge. Kurt Cobain selbst<br />

hätte seine Regeln wohl nicht niederschreiben können,<br />

aber sie waren da. Come As You Are und Smells Like<br />

Teen Spirit. Zwei völlig unterschiedliche Songs, aber<br />

derselbe Sound, dieselben Regeln, das spürt man<br />

einfach.“


Ich dachte zurück an unsere Zeit in der gemeinsamen<br />

Band. „Und plötzlich wollten wir alle so klingen wie<br />

Nirvana ...“<br />

Er lachte. „Ja. Wir hatten neue Regeln gelernt und<br />

wollten sie anwenden. Mir wird plötzlich einiges klar.<br />

Ich weiß jetzt zum Beispiel endlich, was der Unterschied<br />

zwischen Nirvana und Pearl Jam ist. Ich war immer der<br />

Meinung, dass Pearl Jam rein technisch die besseren<br />

Musiker waren. Aber trotzdem waren sie für mich<br />

immer eine Stufe unter Nirvana. Ich konnte mir das nie<br />

erklären. Jetzt weiß ich: Nirvana haben mir die Regeln<br />

beigebracht. Pearl Jam haben sie bloß perfekt beherrscht.<br />

Ob das jetzt stimmt oder nicht, spielt keine Rolle. Beide<br />

Bands haben in Seattle gemeinsam gespielt, bevor sie<br />

berühmt wurden. Sie haben sich gegenseitig geprägt, den<br />

Grunge gemeinsam entwickelt. Wichtig ist, was wir<br />

wahrnehmen. Kurt Cobain hat uns die Augen geöffnet.<br />

Er ist das Genie, Eddie Vedder ist die Kopie. So grausam<br />

ist das Leben. Das erklärt auch, warum kein anderes<br />

Nirvana-Album an Nevermind herankommt. Und die


Foo Fighters werden nie an das Original herankommen,<br />

mögen sie noch so gut sein.“<br />

„Weil die Regeln nur einmal defniert werden.“<br />

„Stimmt genau, Kleiner. Ich sehe, du verstehst. Und<br />

instinktiv hat das die Musikbranche schon lange<br />

verstanden. Limp Bizkit gelingt der Durchbruch mit<br />

etwas, das sie Nu Rock nennen – und schon bringen alle<br />

Konkurrenzlabels ähnlich klingende Bands raus. Linkin<br />

Park wären nie so gepusht worden, wenn sie nicht<br />

dieselben Regeln befolgen würden, die Limp Bizkit<br />

bekannt gemacht haben. Wir wollten einfach eine sich<br />

öffnende Marktlücke abdecken.“<br />

„Linkin Park verhält sich zu Limp Bizkit wie Pearl Jam<br />

zu Nirvana?“<br />

„Das sagt zumindest Immanuel Kant, denke ich.“<br />

„Kluger Bursche.“<br />

„Ja, nicht wahr? Man sollte mehr alte Klassiker lesen.“<br />

„Wir haben einige davon bei uns im Bus. Eugene könnte<br />

dir ein paar borgen.“<br />

„Eugene. Danke für das Stichwort.“


„Kommen wir jetzt endlich zum neuen Business-Plan?“<br />

„Der ist jetzt ganz einfach erklärt: Wir werden<br />

Musikstile patentieren.“<br />

„Was?“<br />

„Na klar. Das wird die nächste Stufe. Warum soll ich<br />

mich mit dem Urheberrecht für ein paar Noten<br />

zufrieden geben, wenn ich einen ganzen Stil patentieren<br />

kann? Das ist doch viel besser. Und viel gerechter.“<br />

„Geht das überhaupt?“<br />

„Derzeit nicht. Ich habe mit Joanna darüber gesprochen<br />

und sie sagt, dafür gibt es überhaupt keine gesetzliche<br />

Handhabe. Aber, hey Mann, Gesetze lassen sich ändern.<br />

Das steht auch in eurem Blog. Wirklich, da stehen<br />

interessante Sachen. Was Mickey Mouse kann, kann<br />

Joanna schon lange, da bin ich überzeugt davon. Sie sagt<br />

zwar, sie kann sich noch gar keine Vorstellung davon<br />

machen, wie so ein Gesetz aussehen müsste, aber wenn<br />

es genug Geld bringt, wird ihr schon was einfallen.<br />

Richte Eugene jedenfalls meinen Dank aus. Ich werde<br />

mich erkenntlich zeigen, wenn diese Sache hier endet.


Ich glaube übrigens, wir sollten bald zu einem Ende<br />

kommen.“<br />

„Apropos ... ich muss aufhören.“ Ich legte einfach auf.<br />

Mir war schlecht.<br />

#<br />

Wir verließen die Stadt, machten aber bald Pause auf<br />

einem Parkplatz. Eugene lag in seiner Koje und las ein<br />

Buch über Peer-to-peer-Tauschbörsen. Ich lag in meiner<br />

Koje und blätterte in ein paar Musikmagazinen. Carlos<br />

lümmelte auf der Couch und klimperte auf einer<br />

Gitarre, die anderen saßen im unteren Teil des Busses<br />

und spielten Karten. Ein ruhiger Nachmittag. Mein<br />

Handy läutete. Eine unbekannte Nummer. Ich hob ab.<br />

Der Mann sprach viel, schnell und Französisch. Ich<br />

fragte ihn, ob er auch Englisch spreche. Oder zumindest<br />

langsamer sprechen könne, aber er holte nicht mal Luft.<br />

Ich gab das Handy wortlos an Eugene weiter.


„Ah, Conny“, sagte er nach ein paar Sekunden.<br />

Offensichtlich kannte er den Anrufer. Es folgte ein<br />

kurzer Dialog. Eugenes Miene verfinsterte sich, seine<br />

Stimme klang zuerst überrascht, dann verärgert, dann<br />

regelrecht wütend. Ich verstand kaum ein Wort. Carlos<br />

legte die Gitarre weg und kam näher. Ich sah ihn<br />

fragend an, aber er konzentrierte sich auf Eugene.<br />

Der sprang nun aus seiner Koje und redete laut und<br />

erregt auf den Anrufer ein. Mit der freien Hand<br />

gestikulierte er wild in der Luft herum.<br />

Plötzlich sagte er „Fuck you, Conny!“ und schleuderte<br />

mein Handy durch den Raum. Meine Augen folgten der<br />

Flugbahn quer durch den Bus. Anna und Carlos standen<br />

auf der Treppe, lugten neugierig ums Eck. Das Telefon<br />

verfehlte sie nur knapp und landete dann sanft auf der<br />

Couch, wo Carlos zuvor gesessen hatte.<br />

„Fuck!“, zischte Eugene noch einmal.<br />

„Was ist los?“, fragte Carlos.<br />

Eugene atmete tief ein, setzte sich auf sein Bett und ließ<br />

die Luft langsam wieder entweichen.


Anna setzte sich neben ihn, legte ihren Arm um ihn.<br />

„Was ist denn los?“, fragte sie.<br />

„Wer war das?“, fragte ich.<br />

„Der Veranstalter unseres Konzerts in Dijon heute<br />

Abend.“<br />

„Und? Will er es in eine größere Halle verlegen?“<br />

„Nein. Er hat es abgesagt.“<br />

„Wie? Was?“<br />

„Das Konzert. Er hat es abgesagt. Die Nachricht geht<br />

schon über die Radiosender, sagt er.“<br />

„Warum?“, fragte Anna.<br />

„Er sagt, es sei ihm zu riskant. Er habe Angst, dass eine<br />

Demonstration daraus wird, dass die Leute ihm das<br />

Lokal beschädigen.“<br />

„So ein Blödsinn“, zischte Anna. „Unser Publikum hat<br />

noch nie etwas beschädigt.“<br />

„Das habe ich ihm auch gesagt. Aber es war nichts zu<br />

machen.“<br />

„Und was tun wir jetzt?“, fragte ich.


„Wir warten bis zum Abend, dann fahren wir mit dem<br />

Bus direkt vor Connys Lokal und spielen vom Dach des<br />

Busses aus.“<br />

„Im Radio sagen sie das Konzert doch schon ab“, wandte<br />

ich ein.<br />

„Und wozu gibt’s Facebook, Twitter und unseren Blog?<br />

Mal sehen, ob uns unsere Fans im Stich lassen.“<br />

Eugene und ich schwangen uns in den Kleinbus und<br />

kurvten durch die Stadt, auf der Suche nach einem<br />

ungeschützten WLAN.<br />

Plötzlich läutete mein Handy wieder. Wieder eine<br />

unbekannte Nummer, wieder ein Mann der zu viel, zu<br />

schnell und zu französisch sprach. Ich gab Eugene das<br />

Telefon.<br />

Er sagte nicht viel. Ein paar Mal „Mhm“ und „Aha“, am<br />

Schluss noch mit ausgesuchter Freundlichkeit „Merci,<br />

Henri!“, dann legte er auf und tippte weiter.<br />

„Und?“, fragte ich nach einer Minute.<br />

„Das war Henri. Ihm gehört die Bar in Paris, in der wir<br />

morgen auftreten wollten.“


„Und?“<br />

„Er hat abgesagt.“<br />

„Warum?“<br />

„Dieselbe Begründung wie Conny.“<br />

„Ist das nicht verdächtig?“<br />

„Kaum. Es ist offensichtlich. Die Polizei hat die<br />

Konzerte abgedreht. Wetten, dass bald die Veranstalter<br />

aus Rouen, Tours und Nantes anrufen? Wir werden in<br />

Frankreich keinen einzigen Gig in einem Lokal spielen<br />

können.“<br />

„Und was tun wir dagegen?“, fragte ich.<br />

„Wir spielen auf der Straße“, sagte Eugene, ohne seine<br />

Tipperei zu unterbrechen. „Die Straßen sind öffentlich.<br />

Die können sie uns nicht wegnehmen.“<br />

Welch ein Irrtum.<br />

Wir wollten nicht nachgeben. Die Polizei auch nicht.<br />

Unser Publikum schon gar nicht. Sieben- oder<br />

#


achthundert kamen am Abend, viel mehr, als in Connys<br />

Lokal gepasst hätten. Die Bar selbst war leer, davor<br />

standen in vier Reihen Polizisten mit blauen Helmen,<br />

schwarzen Gesichtsmasken und runden<br />

Plexiglasschilden. So, als müssten sie das Lokal vor dem<br />

Publikum schützen. Idiotisch.<br />

Ihr Kommandant forderte die Menschen über ein<br />

Megafon auf, die Straße zu räumen und sich zu<br />

zerstreuen.<br />

Wir rollten mit dem Bus langsam durch das Publikum,<br />

nahe an das Lokal heran. Die Polizei änderte ihre<br />

Formation. Eine dünne Reihe aus sieben oder acht<br />

Beamten sperrte nun die Straße.<br />

Eugene, der am Steuer saß, zündete sich eine Zigarette<br />

an.<br />

„Wenn du langsam weiterrollst, müssen sie zur Seite<br />

treten“, sagte Carlos.<br />

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte Anna.


„Aber medienwirksam allemal“, sagte ich und deutete<br />

auf ein paar Fotografen, die zwischen dem Bus und der<br />

Polizei Stellung bezogen.<br />

„Komm schon, Eugene, fahr bis vor das Lokal“, sagte<br />

Carlos.<br />

„Nein“, sagte Eugene. „Wir wollen Musik machen. Ob<br />

hier oder zehn Meter weiter, macht keinen Unterschied.<br />

Rauf mit euch!“<br />

Wir kletterten aufs Dach. Wir spielten. Das Publikum<br />

grölte und sang mit und tanzte. Pogo. Die Menschen<br />

sprangen und hüpften und drängten sich zwischen den<br />

Bus und die Polizei. Immer mehr und mehr, immer<br />

dichter, immer wilder. Sie drückten mit ihren Rücken<br />

gegen die Polizeischilde, klatschten mit den<br />

Handflächen dagegen. Ich beobachtete zwei Jungen, die<br />

ihre Gesichter gegen die durchsichtigen Plexiglasschilde<br />

pressten. Vermutlich schnitten sie den Polizisten<br />

dahinter Grimassen. Ich sah ein Mädchen, das sein T-<br />

Shirt hochzog und die nackten Brüste gegen einen<br />

Schild presste. Auch nicht schlecht.


Die Polizei wich schrittweise zurück unter diesem Druck<br />

– im ganz konkreten, physikalischen Sinne – der Masse.<br />

In der Pause zwischen zwei Liedern forderte der<br />

Kommandant die Leute über sein Megafon auf, einen<br />

Sicherheitsabstand zu den Polizisten zu halten, doch die<br />

Tanzenden scherten sich darum einen Dreck. Sobald wir<br />

das nächste Lied anstimmten, drängten sie wieder gegen<br />

die Schilde. Die Polizisten begannen, dagegen-<br />

zuschieben. Es waren zunächst Kleinigkeiten,<br />

Rangeleien. Ein Rücken krachte gegen ein Schild, ein<br />

Schild gegen einen Rücken. Wir sahen es vom Dach des<br />

Busses aus, und es wirkte harmlos.<br />

Und dann, plötzlich, eine Schlägerei. Ein stark<br />

tätowierter junger Mann mit nacktem Oberkörper und<br />

ein Polizist. Keine Ahnung, wer anfing. Keine Ahnung<br />

warum. Plötzlich lagen sie am Boden und<br />

umklammerten sich. Wir spielten weiter.<br />

Drei, vier, fünf Polizisten versuchten, ihrem Kameraden<br />

zu helfen. Einige Leute kamen dem Tätowierten zu<br />

Hilfe. Ein Polizist kniete auf seiner Brust. Ein


Jugendlicher in einem roten Mao-Shirt schubste ihn<br />

hinunter. Ein anderer Polizist schnappte sich den<br />

Jugendlichen, wollte ihn hinter die Polizeilinie ziehen.<br />

Zwei Männer aus dem Publikum packten ihn an den<br />

Beinen, zogen in die Gegenrichtung. Der geschubste<br />

Polizist kam auf die Beine und packte den Maoisten an<br />

den Haaren. Der Tätowierte stand plötzlich neben ihm,<br />

schlug ihm mit dem Ellbogen ins Gesicht und<br />

verschwand sofort in der Menge. Ein Polizist ging mit<br />

dem Schlagstock auf die beiden Leute los, die den Mao<br />

festhielten. Ein anderer Polizist schlug auf einen<br />

unbeteiligten Typen ein, der danebenstand. Geschrei,<br />

Panik. Dann zehn, fünfzehn Leute, die nach vorne<br />

drängten, um den Mao zu packen und der Polizei zu<br />

entreißen. Der Zerrissene schrie wie am Spieß, bekam<br />

ein Bein frei und trat einem Polizisten ins Gesicht.<br />

Dieser revanchierte sich und schlug ihm mit dem Stock<br />

in die Weichteile. Der Mao sackte zusammen,<br />

verstummte, wurde von zwei Polizisten weggetragen,<br />

nach hinten, durch die Reihen. Ein Beamter legte ihm


Handschellen an, einer schlug ihm auf den Hinterkopf,<br />

ein anderer trat ihm im Vorbeigehen in den Arsch.<br />

Rund um den Bus herrschte nun Chaos. Die meisten<br />

Menschen wollten der Polizei ausweichen, aber zwischen<br />

dem Bus und den Hauswänden war nicht viel Platz und<br />

die Leute hinter dem Bus blockierten die Straße und<br />

wichen nicht aus, weil sie nicht wussten, was vorne<br />

geschah. Und dann, plötzlich, brannten unsere Augen<br />

und unsere Lungen wie Sau.<br />

„Pfefferspray!“, rief Carlos. „Los, rein in den Bus!“<br />

Wir kletterten durch die Luke hinunter.<br />

Die Leute begannen zu laufen. Durch die Seitenfenster<br />

des Busses sahen wir das gefährliche Gedränge. Sie<br />

schoben und stießen und kratzten, die Angst im Nacken.<br />

Ein Mädchen wurde gegen die Scheibe der Bustür<br />

gepresst. Sie schrie vor Schmerzen und Angst.<br />

„Scheiße!“, fluchte Eugene.<br />

„Tu was!“, schrie Anna.<br />

Eugene hechtete hinter den Fahrersitz. Eine Sekunde<br />

lang fürchtete ich, er würde den Bus starten und durch


die Menge zu fahren versuchen. Aber Eugene öffnete die<br />

Tür. Das Mädchen fiel in den Bus. Carlos und Anna<br />

fingen sie auf, halfen ihr auf die Beine. Andere strömten<br />

herein.<br />

„Weiter, weiter!“, rief Carlos. Er deutete den Leuten,<br />

dass sie in den ersten Stock ausweichen sollten.<br />

„Langsam, keine Panik“, rief Eugene. Mehr Menschen<br />

kamen, auf den Stufen begann es sich zu stauen.<br />

„Geht nach hinten, in die Küche“, sagte Carlos. Er füllte<br />

den ganzen Bus mit Menschen. Und mit dem<br />

Pfefferspray, der durch die offene Tür hereindrang.<br />

Meine Augen waren verschwollen, Tränen liefen über<br />

die gefühllosen Wangen.<br />

Ein Krachen ließ meinen Kopf herumfahren.<br />

Undeutlich sah ich die Polizisten vor der<br />

Windschutzscheibe des Busses. Einer hatte mit dem<br />

Schlagstock dagegengeprügelt. Noch einer.<br />

„Sie kommen!“, rief Carlos.


Eugene drückte den Knopf, die Tür schloss sich. Anna<br />

half einem Mädchen, das beinahe eingeklemmt worden<br />

wäre, noch hinein.<br />

Schotten dicht.<br />

Dann waren wir eingekreist von schwarz vermummten<br />

Polizisten. Im Bus verstummte das aufgeregte<br />

Gemurmel. Jemand weinte.<br />

„Sieht jemand nach hinten?“, fragte ein Mädchen.<br />

Eugene beobachtete die Szene im Rückspiegel. „Sieht so<br />

aus, als hätten sich die Leute zurückgezogen, es ist kaum<br />

jemand zu sehen“, sagte er. „Scheint so, als wäre nichts<br />

passiert. Hinter dem Bus ist ja jede Menge Platz!“<br />

„Was passiert jetzt mit uns?“, fragte ein Mann.<br />

„Gute Frage.“<br />

„Fahren wir!“, rief jemand.<br />

Eugene überlegte. „Wir sind von der Polizei eingekreist.“<br />

„Die springen sicher zur Seite!“<br />

„Oder sie schießen auf unsere Reifen“, sagte jemand.<br />

„Du hast wohl zu viele Krimis gesehen.“<br />

„Wenn sie uns stoppen wollen, können sie das.“


Der Kommandant trat an die Tür und klopfte gegen das<br />

Glas.<br />

„Aufmachen!“, sagte er.<br />

Eugene schüttelte langsam den Kopf.<br />

„Seid mal einen Moment ruhig“, rief Carlos in den Bus.<br />

„Aufmachen!“, sagte der Polizist noch einmal.<br />

Eugene schüttelte noch einmal den Kopf. „Was wollen<br />

Sie?“<br />

„Es besteht der Verdacht, dass sich in diesem Bus<br />

kriminelle Elemente aufhalten!“<br />

Ein Raunen ging durch den Bus. Eugene lachte.<br />

„Kriminelle Elemente? Hier sind ein paar Musiker und<br />

ein paar Musikfans.“<br />

Der Polizist schüttelte den Kopf und zog sich von der<br />

Tür zurück. Andere nahmen seinen Platz ein,<br />

blockierten uns. Ein Streifenwagen fuhr vor uns quer<br />

über die Straße und verstellte den Weg.<br />

„Kommen wir nach hinten raus?“, fragte ich.<br />

Eugene beobachtete den Rückspiegel. „Nicht ohne ein<br />

Blutbad anzurichten.“


„Hey, könnt ihr eure Zigaretten ausmachen?“, rief ein<br />

Mädchen. „Wer weiß, wie lange wir hier drinnen<br />

bleiben müssen ...“<br />

Ihre Sorge sollte berechtigt sein. Fast eine Stunde lang<br />

geschah fast gar nichts. Die Polizei räumte den Platz<br />

hinter dem Bus, versperrte uns aber mit einem zweiten<br />

Streifenwagen auch diesen Weg. Maskierte Beamte in<br />

voller Rüstung nahmen vor den Türen des Busses<br />

Aufstellung, aber keinen Kontakt auf, nicht einmal mit<br />

den Augen. Wir versuchten, es uns so angenehm wie nur<br />

möglich zu machen. Jeder suchte eine Position, in der er<br />

möglichst bequem stehen konnte, aber das war nicht<br />

leicht. Wir fühlten uns wie Hühner in einer<br />

Legebatterie. Es war heiß und schwül, wir schwitzten<br />

und es stank bald. Einmal öffnete Eugene eine Türe,<br />

aber die Polizisten nahmen sofort ihre Schilde hoch und<br />

rückten vor. Die Leute im Bus schrien und Eugene<br />

schloss die Tür sofort wieder.<br />

Irgendwann trat der Kommandant wieder an den Bus<br />

und klopfte ans Fahrerfenster. Eugene öffnete.


„Sie können da drinnen nicht ewig aushalten“, sagte der<br />

Polizist. Anna übersetzte für mich.<br />

„Dann lassen Sie uns gehen“, antwortete Eugene.<br />

„Das werden wir“, sagte der Polizist.<br />

„Aber?“, fragte Eugene.<br />

„Wir können Straftäter nicht davonkommen lassen.“<br />

„Hier sind keine Straftäter“, sagte Eugene.<br />

„Wissen Sie das genau?“<br />

„Und wissen Sie das genau?“<br />

„Nein“, sagte der Polizist. „Also schlage ich eine salomonische<br />

Lösung vor. Sie steigen einzeln aus dem Bus,<br />

wir kontrollieren Ihre Personalien, wer bei der Schlägerei<br />

vorhin nicht mitgemacht hat, darf gehen.“<br />

„Das ist Ihr Angebot?“<br />

„Ja.“<br />

„Gut“, sagte Eugene. „Wir werden uns beraten.“ Damit<br />

machte er das Fenster wieder zu.<br />

„Was wollte er?“, riefen mehrere Leute.<br />

Eugene stand auf und versuchte in eine Position zu<br />

kommen, wo er möglichst gut gesehen werden konnte.


Dann erklärte er die Situation und die Forderung der<br />

Partei.<br />

Die Reaktion der Leute im Bus war spontan und<br />

eindeutig. Niemand war bereit, seine Personalien von<br />

der Polizei überprüfen zu lassen.<br />

„Wir haben nichts getan, warum sollten unsere Namen<br />

auf irgendwelchen schwarzen Listen landen?“, fragte ein<br />

Junge.<br />

„Also lehnen wir das Angebot ab“, sagte Eugene.<br />

„Gegenstimmen?“ Schweigen.<br />

Eugene kurbelte das Fenster wieder nach unten und<br />

überbrachte dem Polizisten unsere Antwort. Der<br />

schüttelte den Kopf. „Sie können nicht ewig hier<br />

drinnen bleiben“, wiederholte er.<br />

„Das haben Sie schon gesagt“, antwortete Eugene und<br />

schloss das Fenster.<br />

Und so warteten wir. Dreißig Minuten. Fünfundvierzig.<br />

Eine Stunde. Bewegung gab es im Bus nur, wenn Leute<br />

versuchten, auf die Toilette zu gelangen und sich quer<br />

durch die Masse schlängeln mussten, die Treppe


hinunter oder wieder hinauf. Die Luft wurde sehr<br />

stickig, aber eigentlich hatten wir es recht lustig. Es<br />

wurden eine Menge trockener Witze gemacht, wir<br />

lachten viel und irgendwann begannen wir zu singen. All<br />

we are saying is give peace a chance. Immer nur diese<br />

eine Textzeile, immer und immer wieder, mal lauter,<br />

mal leiser, mal schneller, mal langsamer, mal mit<br />

Gitarren begleitet, dann mit unseren selbst gebauten<br />

Rhythmusinstrumenten, dann wieder a cappella, einmal<br />

rappte jemand die Zeile.<br />

„Hey, wir sind im Fernsehen!“, rief plötzlich ein junger<br />

Mann mit roten Haaren und Bart. Er hatte ein Handy<br />

ans Ohr gepresst. „Das ist meine Mutter, sie sieht uns<br />

gerade, wir sind live im Fernsehen!“<br />

Ich presse meinen Kopf gegen die Scheiben. Auf einem<br />

Balkon entdeckte ich ein Kamerateam. „Vielleicht<br />

sollten wir lauter singen?“, fragte ich.<br />

Der Polizist klopfte wieder an die Scheibe.<br />

„Wir sollten zu einer Lösung kommen.“<br />

„Das sehe ich genau so“, sagte Eugene.


„Wir verzichten darauf, die Ausweise aller Personen im<br />

Bus zu kontrollieren. Aber wir sehen uns die Gesichter<br />

an, niemand steigt vermummt aus dem Bus. Wenn<br />

Verbrecher darunter sind, nehmen wir sie fest. Das ist<br />

nicht verhandelbar.“<br />

„Woher wissen Sie überhaupt, ob wir Gesetzesbrecher an<br />

Bord haben?“<br />

Der Polizist lachte. „Das wissen wir nicht. Wie auch.<br />

Eure Scheiben sind so angelaufen, dass wir nicht mal die<br />

Leute erkennen, die ihr Gesicht dagegenpressen.“<br />

„Da gibt’s nur ein Problem“, sagte Eugene. „Wenn die<br />

Leute hier aus dem Bus steigen, dann werden sie von der<br />

Fernsehkamera gefilmt. Die Leute könnten Probleme<br />

bekommen, mit ihrem Chef oder wem auch immer.“<br />

„Das hätten sie sich vorher überlegen müssen. Das ist<br />

nicht meine Sorge.“<br />

„Aber es ist meine Sorge“, sagte Eugene. „Außerdem ist<br />

doch ganz klar, wie die Sache läuft. Sie besorgen sich das<br />

Filmmaterial. Wahrscheinlich filmen Sie sogar selbst<br />

versteckt mit. Sie können leicht darauf verzichten, die


Personalien der Leute aufzunehmen, wenn Sie sie<br />

filmen. Ich glaube, wir müssen das nicht noch einmal<br />

abstimmen. Unsere Forderung ist klar: Wir wollen<br />

diesen Bus anonym verlassen. Sie haben die Namen der<br />

Bandmitglieder, wir laufen Ihnen nicht davon. Alle<br />

anderen dürfen in keiner Kartei landen.“<br />

„Das ist nicht möglich“, sagte der Polizist.<br />

„Dann eben nicht“, sagte Eugene und kurbelte die<br />

Scheibe wieder hoch.<br />

Es wurde zehn Uhr, elf Uhr, Mitternacht. Wir sangen so<br />

ziemlich alles, was uns einfiel. If You Are Going To San<br />

Francisco von Scott McKenzie, Patience von<br />

Guns’n’Roses, die alte Partisanennummer Bella Ciao<br />

und natürlich Ring Of Fire. Aber irgendwann hörten wir<br />

auch mit dem Singen auf, vielleicht weil uns nichts mehr<br />

einfiel, vielleicht weil die Luft schon so schlecht war,<br />

dass wir den Rest Sauerstoff zum Atmen brauchten. Die<br />

Gemeinschaft zerfiel in viele kleine Gruppen, die sich<br />

unterschiedlichen Gesprächsthemen zuwandten, dem<br />

Copyright, der Weltrevolution, der morgigen Vorlesung


oder ganz banalem Tratsch. Die Toiletten waren<br />

inzwischen ein Schlachtfeld, in unseren Kojen lungerten<br />

wildfremde Menschen herum, der Boden war dicht<br />

bedeckt mit Papier und Taschentüchern und anderem<br />

Müll. Über unsere Handys hielten wir Kontakt zur<br />

Außenwelt. Wir waren immer noch in den Nachrichten.<br />

Fernsehen, Radio, Internetplattformen berichteten über<br />

uns, kein Zweifel, morgen würden wir der Aufmacher<br />

aller großen Tageszeitungen sein.<br />

Im Abstand von vierzig oder fünfzig Minuten kam der<br />

Polizeikommandant zu unserem Fenster und tat so, als<br />

wollte er verhandeln. Aber nur selten fiel ihm ein neuer<br />

Vorschlag ein.<br />

„Der kommt doch nur für die Fernsehkameras“, sagte<br />

Eugene.<br />

Und tatsächlich, um halb zwei Uhr morgens löste sich<br />

die Situation wie von selbst plötzlich auf. Ein paar<br />

Befehle wurden gerufen und die Polizei zog ab, machte<br />

die Straße vor und hinter uns frei, ohne uns über das<br />

Wie und Warum zu informieren.


„Ist das eine Falle?“, fragte der Rothaarige mit dem Bart.<br />

„Ich glaube nicht“, sagte ich. „Ich glaube, die haben nur<br />

gewartet, bis es spät genug ist. Es sollen einfach<br />

möglichst wenige Menschen live sehen, wie sie<br />

abziehen.“<br />

„Aber warum geben sie auf?“<br />

„Weil sie nicht viele Möglichkeiten haben“, sagte ich.<br />

„Entweder sie stürmen den Bus mit Gewalt oder sie<br />

hungern uns aus. In beiden Fällen machen die Medien<br />

daraus eine Riesenshow, die morgen den ganzen Tag die<br />

Nachrichten dominiert. Oder eben drittens: Sie lassen<br />

uns mitten in der Nacht einfach ziehen. Ich glaube, sie<br />

haben eine aus ihrer Sicht sehr kluge Entscheidung<br />

getroffen.“<br />

Für Paris, klar, ließen wir uns etwas Besonderes<br />

einfallen. Gerne hätten wir die Bastille gestürmt und<br />

„Das gehört uns“ draufgesprayt, aber das Gebäude war<br />

#


schon vor langer Zeit geschliffen worden. Also<br />

entschieden wir uns für Disneyland.<br />

„Free Mickey!“ lautete unser Schlachtruf, als wir von<br />

Dijon aus nordwärts fuhren, mit dreißig oder vierzig<br />

Autos im Schlepptau, und via Internet trugen wir ihn in<br />

die Welt hinaus. Die Chaoten kommen, die Hunnen,<br />

hörten wir die Moderatoren der Radiostationen sagen,<br />

sie werden kleine Kinder gefährden mit ihrem<br />

Wahnsinn. Die TV-Nachrichten zeigten Bilder von<br />

glücklichen Familien mit Donald und Goofy, und dazu<br />

schnitten sie Szenen von der vergangenen Nacht, von<br />

Polizeieinheiten, Vermummten, von einem blutenden<br />

Demonstranten, der einen brennenden Molotowcocktail<br />

in der Hand hielt.<br />

„Ich habe gestern keinen Moli gesehen“, sagte Dmitri,<br />

als wir bei einer Tankstelle aufs Klo gingen und dabei an<br />

einem Fernseher vorbeikamen.<br />

„Ich auch nicht“, sagte ich.<br />

Der Tankwart sagte: „Viel Glück, zeigt es den<br />

Arschlöchern!“


Wir fuhren langsam und hörten Radio, Eugene<br />

übersetzte für mich, ich breitete die Straßenkarte auf<br />

meinen Knien aus und griff zum Filzstift. Der<br />

Verkehrsbericht meldete Staus und Verzögerungen im<br />

Osten von Paris, ich trug sie auf der Karte ein, die<br />

Sprecherin vermied das Wort Disneyland, aber es war<br />

klar, was sich da abspielte: Mehrere Autokolonnen<br />

bewegten sich aus allen Richtungen auf Disneyland zu,<br />

wir kreisten sie ein. Die A4, die Ostausfahrt von Paris,<br />

war vollkommen zu, es staute auf der A86, der<br />

Ringautobahn um die Stadt, sowohl im Norden als auch<br />

im Süden, von der A10, dem Zubringer aus dem<br />

Südwesten, wurde dichter Verkehr gemeldet, ebenso auf<br />

der A4 im Westen, ab Reims. Wir kamen von<br />

Südwesten auf der A5, das Ende unserer Kolonne war<br />

nicht mehr zu sehen, aber immer noch schien es, als<br />

würden sich neue Autos anschließen. Die Leute warteten<br />

am Pannenstreifen, winkten uns zu, wenn wir<br />

vorbeifuhren, und schwangen sich dann hinter das<br />

Lenkrand.


„Das ist fantastisch!“, rief Anna.<br />

„Ja, das ist es“, sagte ich und gab ihr einen Kuss.<br />

Eugene warf einen Blick auf die Karte. „Wir werden<br />

von der Autobahn abfahren, sonst geraten wir in den<br />

Stau. Wir nehmen diese Route!“, sagte er und tippte mit<br />

dem Zeigefinger auf eine Landstraße.<br />

„Die N36“, sagte ich. „Okay! Dann müssen wir in etwa<br />

fünf Kilometern runter.“<br />

Aber wir kamen nie in Disneyland an.<br />

#<br />

Auf der Landstraße kam unsere kleine Karawane zügig<br />

voran, sehr zügig sogar. So gingen wir in die Falle. In<br />

den Dörfern und Kleinstädten entlang der Route war<br />

wenig Verkehr und überhaupt keine Polizei zu sehen. In<br />

unserer adrenalingeladenen Vorfreude auf Disneyland<br />

übertraten wir in einigen Ortschaften die<br />

Geschwindigkeitslimits – später sollte das den Behörden


als Rechtfertigung dafür dienen, dass sie uns gestoppt<br />

hatten.<br />

Nach 20 oder 25 Kilometern sahen wir die ersten<br />

Beamten. Streifenwagen sperrten Seitenstraßen. Wir<br />

fuhren einfach weiter, denn schließlich wollten wir<br />

ohnehin auf der Hauptstraße geradeaus. Aber als<br />

plötzlich jedes kleine Gässchen gesperrt war und die<br />

Polizeiwagen sich an uns hängten, nachdem wir sie<br />

passierten, hatten wir gar keine andere Möglichkeit<br />

mehr, als geradeaus zu fahren.<br />

„Sie wollen uns unbedingt auf dieser Straße halten“,<br />

sagte ich.<br />

„Irgend etwas bereiten sie vor“, sagte Eugene, „und was<br />

immer es ist, wir fahren scheinbar direkt darauf zu.“<br />

„Vielleicht sollten wir einfach stehen bleiben?“, fragte<br />

ich.<br />

Eugene überlegte kurz. „Und was soll das bringen?“,<br />

fragte er.<br />

Ich wusste es nicht.


Aber mitten in einer Stadt stehen zu bleiben, wo es<br />

Zeugen gibt, wäre tatsächlich das Beste gewesen, was wir<br />

zu diesem Zeitpunkt noch tun hätten können.<br />

So stoppten sie uns mitten auf der Landstraße. Es war<br />

eine Allee mit großen, alten Bäumen, die Sichtschutz<br />

boten. Mehrere Mannschaftsbusse standen in einer<br />

Kurve auf beiden Seiten des Straßenrands, dahinter die<br />

Polizeieinheiten in voller Rüstung. Wir fuhren langsam<br />

durch dieses Spalier, bis wir am Ende der Kurve zwei<br />

Bagger stehen sahen. Endstation.<br />

Dann ging alles recht schnell. Allen Autos unserer<br />

Karawane wurden Krallen angelegt, damit wir weder vor<br />

noch zurück konnten. Dann wurden wir aufgefordert,<br />

auszusteigen.<br />

„Was machen wir?“, fragte ich.<br />

„Keine Ahnung“, sagte Eugene.<br />

Bei unseren Begleitern in den Autos hinter uns fackelte<br />

die Polizei nicht lange. Stieg jemand nach der ersten<br />

Aufforderung nicht aus, öffnete sie die Türen und zerrte<br />

die Leute raus. Schloss jemand die Türen ab, schlug sie


die Scheiben ein. Die Leute mussten sich entweder mit<br />

gespreizten Beinen und Händen am Dach an ihr Auto<br />

stellen oder wurden mit Gewalt am Boden fixiert. Sie<br />

wurden durchsucht und dann wurden ihre Hände mit<br />

Plastikbändern, die an Kabelbinder erinnerten, hinter<br />

dem Rücken gefesselt. Es dauerte keine zehn Minuten<br />

und alle saßen in Bussen, bereit zum Abtransport. Nur<br />

wir fehlten noch.<br />

„Das ist ja wie bei den Sowjets“, sagte Dmitri.<br />

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Anna.<br />

„Wir haben nicht viele Möglichkeiten“, sagte Eugene<br />

und drückte den Türöffner-Knopf.<br />

Sofort stürmte ein Dutzend Polizisten in den Bus. Sie<br />

drückten uns mit Gewalt gegen die Wände und legten<br />

auch uns Fesseln an.<br />

„Hey, es gibt keine Notwendigkeit, grob zu sein“, sagte<br />

ich auf Englisch.<br />

„Richtig“, sagte der Polizist, der mir gegenüberstand. Er<br />

trug kein Abzeichen, keine Dienstnummer. Ich sah nur<br />

seine grauen Augen hinter dem Maskenschlitz. Er hielt


meinem Blick stand, legte den Kopf etwas schräg, als<br />

würde er nachdenken, und schlug mir dann in die<br />

Magengrube.<br />

#<br />

Sie brachten uns an einen Ort, der vermutlich eine<br />

Polizeikaserne war. Wir wurden in Gruppen von acht bis<br />

zwölf Personen geteilt, ich wurde von den anderen<br />

Mitgliedern der Band getrennt. Ich versuchte, bei<br />

Eugene zu bleiben, aber ein Polizist in Rüstung drängte<br />

sich zwischen uns, drückte mir seine behandschuhte<br />

Faust in die Rippen<br />

Eugenes Gruppe wurde abgeführt, ich blieb mit acht<br />

anderen am Gang zurück, bewacht von einem halben<br />

Dutzend Beamter. Keiner von ihnen nahm seine<br />

schwarze Maske ab, keiner sprach. Wir hörten Schreie<br />

aus dem Raum, in den Eugenes Gruppe gebracht<br />

worden war, und Schreie aus anderen Räumen.


„Was tut ihr mit ihnen?“, fragte einer aus meiner<br />

Gruppe einen Polizisten, aber der sah ihn nicht mal an.<br />

Nach einigen Minuten kam ein Dutzend Polizisten, in<br />

voller Rüstung, maskiert, und der Kommandant sagte<br />

einfach: „Mitkommen!“<br />

Wir folgten ihm in den Keller, einen langen, kahlen, nur<br />

von einzelnen Neonröhren beleuchteten Gang entlang.<br />

Wenn wir hier verschwinden, dachte ich, findet uns<br />

niemand. Aber ich ging einfach weiter. Wir waren in<br />

Frankreich, nicht in Chile. Verdammt noch mal.<br />

Wir wurden in einen Lagerraum geführt, mit Regalen<br />

bis an die Decken hoch, alles voller Akten. Bis auf die<br />

Regale und eine Leiter war der Raum leer. Wir mussten<br />

uns zu neunt in einer Reihe aufstellen, jedem von uns<br />

bezog ein Polizist gegenüber Stellung, die Hände hinter<br />

dem Rücken verschränkt.<br />

Ich versuchte, meinem Gegenüber in die Augen zu<br />

schauen. Er hatte blaue Augen, die aus den Sehschlitzen<br />

seiner Maske hervorleuchteten. Ich versuchte, mir das<br />

Gesicht dazu vorzustellen. Irgendein Gesicht. Ich erfand


sein Gesicht und ich erfand sein Leben, seine Frau, seine<br />

Kinder, wie er am Sonntag mit ihnen im Garten spielte<br />

und ein liebender Vater war. Ich wollte mir unbedingt<br />

vorstellen, dass mir gegenüber ein sensibler Mensch und<br />

keine Kampfmaschine mit Rüstung, Maske und<br />

Schlagstock stand. Ich hatte Angst.<br />

Er sah durch mich hindurch. Ich konnte gar nichts in<br />

seinen Augen erkennen.<br />

„Wir werden euch jetzt durchsuchen“, sagte der<br />

Kommandant, der am Ende der beiden Reihen stand.<br />

„Ihr tretet der Reihe nach vor und leert eure Taschen<br />

aus. Du fängst an.“ Er zeigte mit seinem Schlagstock auf<br />

den Ersten aus unserer Gruppe, der ihm am nächsten<br />

stand. Es war ein hagerer, junger Mann mit kurzen<br />

Haaren. Er schüttelte den Kopf.<br />

„Dazu haben Sie kein Recht“, sagte er. „Sie müssen mich<br />

schon zwingen.“<br />

Der Kommandant lachte. „Du würdest wohl gerne ein<br />

wenig verprügelt werden, damit du dann vor deinen<br />

Freunden als Held dastehst, hm?“


Keine Antwort.<br />

„Masken auf“, sagte der Kommandant. In die Polizisten<br />

kam Bewegung, sie griffen nach hinten, lösten ihre<br />

Gasmasken von den Gürteln und zogen sie übers<br />

Gesicht. Das ging schnell und wortlos. Nun sah ich<br />

nicht einmal mehr die blauen Augen meines<br />

Gegenübers.<br />

Der Kommandant hob den rechten Arm und ich sah<br />

den Pfefferspray in seiner Hand. Er drückte nur ganz<br />

kurz ab, ohne jemandem direkt in die Augen zu<br />

sprühen. Aber der kleine, stickige Raum füllte sich sofort<br />

mit dem Reizgas.<br />

Mir schossen Tränen in die Augen, ich musste husten.<br />

Ich ging in die Knie, zog mein T-Shirt über das Gesicht.<br />

„Aufstehen!“, hörte ich jemanden brüllen, zwei starke<br />

Arme packten mich wie ein Schraubstock um die<br />

Schultern und zerrten mich wieder hoch. Es war wohl<br />

„mein“ Polizist. Er gab mir mit der flachen Hand einen<br />

Stoß gegen den Brustkorb und ich taumelte nach hinten<br />

gegen das Regal.


„Also, noch mal“, sagte der Kommandant. „Der Erste<br />

tritt vor und leert seine Taschen aus.“<br />

Der Junge tat nun wie ihm geheißen.<br />

„Zieh das T-Shirt aus“, sagte der Kommandant. „Und<br />

die Schuhe.“<br />

Der Polizist gegenüber dem Jungen nahm die Sachen an<br />

sich, durchsuchte sie, warf sie nach hinten. „Die Jeans“,<br />

brummte er.<br />

Der Junge zog seine Hosen aus, der Polizist durchsuchte<br />

auch sie.<br />

„Die Unterhose.“<br />

„Dann bin ich nackt“, rief der Junge.<br />

Der Kommandant hob die Hand mit dem Pfefferspray.<br />

„Okay, okay“, sagte der Junge. Als er nackt dastand, die<br />

Hände vor seinen Lenden überkreuzt wie ein<br />

Fußballspieler vor dem Freistoß, sagte der<br />

Kommandant: „Niederknien. Und dann der Nächste.“<br />

Und so zogen wir uns aus und knieten dann vor den<br />

Polizisten nieder, einer nach dem anderen. Ich war der<br />

vierte oder fünfte, und als ich meine Sachen abgegeben


hatte und auf den Boden durfte und die<br />

Aufmerksamkeit sich dem Nächsten zuwandte, da spürte<br />

ich ein Gefühl der Erleichterung, dass ich es überstanden<br />

hatte, und ich schämte mich.<br />

Ich weiß nicht, wie lange wir in diesem Raum in einer<br />

Reihe am Boden knieten. Es schien ewig zu dauern.<br />

Niemand durfte ein Wort sprechen. Wir wurden nichts<br />

gefragt und mussten nichts antworten. Hin und wieder<br />

hörten wir Schreie vor der Türe oder aus anderen<br />

Zimmern. Es war kalt, ich bekam Gänsehaut und<br />

begann zu zittern. Die Kniescheiben schmerzten, und<br />

das Rückgrat auch.<br />

Einer von uns bat nach ein paar Stunden, auf die<br />

Toilette zu dürfen, aber die Polizisten lachten nur. Er<br />

bat zehn Minuten später noch einmal, und zwanzig<br />

Minuten später ein drittes Mal. Dann pinkelte er in den<br />

Raum, im Knien.<br />

„Wage ja nicht, dich zu bewegen“, sagte einer der<br />

Polizisten und die anderen lachten. Der Mann blieb in<br />

seiner eigenen Lacke knien und weinte.


Einmal kam ein kleiner, maskierter Polizist herein, ging<br />

die Reihe ab, betrachtete uns prüfend, dann ging er die<br />

Reihe in unserem Rücken ab. Er beugte sich über den<br />

Mann, der rechts von mir kniete, streichelte ihm über<br />

die Schulter und über den Rücken, tätschelte seinen<br />

Hintern und griff ihm dann an die Eier. Ich bemühte<br />

mich, immer nach vorne zu schauen und nicht<br />

aufzufallen.<br />

„Sehr schön, meine Jungs“, sagte der kleine Polizist,<br />

richtete sich wieder auf und verließ den Raum.<br />

Und das war es dann.<br />

Ein paar Stunden später durften wir uns wieder<br />

anziehen, wurden in einen Polizeitransporter verladen<br />

und nach Paris gebracht. Wir erhielten alle unsere<br />

Sachen zurück, darunter auch unsere Handys. Die<br />

Polizei hatte sie wohl gründlich durchsucht, so<br />

gründlich, dass aus den Geräten sogar die Akkus<br />

herausgenommen worden waren.<br />

Der Polizeibus fuhr uns durch die Nacht und<br />

irgendwann ließ man uns am Straßenrand aussteigen.


Wir waren frei.<br />

Sie haben unsere Namen nicht aufgeschrieben, keine<br />

Fingerabdrücke genommen, uns nicht gefilmt oder<br />

fotografiert, uns nur mit Handschuhen berührt. Es gibt<br />

keinen Beweis, dass wir je dort waren. Wo immer wir<br />

waren.<br />

#<br />

Ariel Dorfman und Armand Mattelart, „How To Read<br />

Donald Duck – Imperialist Ideology In The Disney<br />

Comic“, geschrieben 1971 in Chile: Die Autoren dieses<br />

Buches müssen wie folgt beschrieben werden:<br />

Unanständig und unmoralisch (während Disneys Welt<br />

rein ist); hyper-kompliziert und hyper-anspruchsvoll<br />

(während Walt einfach, offen und aufrichtig ist);<br />

Mitglieder einer bösen Elite (während Disney der<br />

populärste Mensch der Welt ist); politische Agitatoren<br />

(während Disney unparteiisch ist, über der Politik<br />

stehend); berechnend und verbittert (während Walt D.


spontan und gefühlsbetont ist, es liebt zu lachen und zu<br />

scherzen); Zerrütter der Jugend und Zersetzer des<br />

häuslichen Friedens (während W.D. lehrt, dass man<br />

seine Eltern respektieren, seine Anhänger lieben und<br />

Schwache schützen sollte); unpatriotisch und<br />

antagonistisch zum nationalen Geist (während Herr<br />

Disney, international wie er ist, das Beste und Liebste<br />

unserer ursprünglichen Traditionen repräsentiert); und<br />

schließlich Hüter der „Marxistischen Fiktion“, einer von<br />

auswärts importierten Theorie von „boshaften<br />

Ausländern“ (während Onkel Walt gegen Ausbeutung<br />

auftritt und für die klassenlose Gesellschaft der Zukunft<br />

wirbt).<br />

#<br />

Ich rief Eugene an. Die anderen waren schon frei.<br />

„Wir holen dich ab“, sagte Eugene. „Zwanzig Minuten.“


Kaum hatte ich aufgelegt, läutete mein Handy. Es war<br />

Max. Ich hob nicht ab. Er rief noch dreimal<br />

hintereinander an, aber ich wollte mit ihm nicht reden.<br />

Als der Stockbus endlich kam, stieg ich ein. Niemand<br />

sprach ein Wort. Wir fuhren einfach drauflos, ohne zu<br />

reden. Ich sah Anna an, aber sie starrte aus dem Fenster.<br />

Nach einer Stunde blieb Eugene an einer Tankstelle<br />

stehen.<br />

„Wir verlassen das Land“, sagte er, als er den Motor<br />

wieder startete.<br />

Wir saßen alle vorne im Passagierraum, nahe<br />

beisammen.<br />

„Warum?“, fragte Carlos.<br />

„Wir sollten die Sache hier nicht eskalieren lassen.“<br />

„Es ist unser Recht, aufzutreten, wo immer wir wollen“,<br />

sagte ich. „Unser verdammtes Recht. Niemand darf es<br />

uns wegnehmen. Kultur ist Freiheit, das hast du selbst<br />

gesagt.“<br />

„Ja, das habe ich. Es ist unser Recht, hier aufzutreten“,<br />

sagte Eugene. „Aber es ist nicht unsere Pflicht. Die Sache


entgleitet uns. Wir tragen auch Verantwortung für unser<br />

Publikum.“<br />

„Das kann selbst beurteilen, worauf es sich einlässt. Wir<br />

sollten es nicht bevormunden“, sagte ich.<br />

Eugene schwieg.<br />

„Wenn wir jetzt aufgeben, haben sie gewonnen“, sagte<br />

Carlos leise.<br />

„Wir geben nicht auf“, sagte Eugene.<br />

„Tatsache ist, sie sind stärker“, sagte Dmitri langsam und<br />

bedächtig. „Sie haben Knüppel und Wasserwerfer und<br />

Tränengas und Schäferhunde und Pistolen.“<br />

„Wir haben unsere Musik!“, sagte ich, aber meine<br />

Stimme war schwach und verzagt.<br />

„Verdammt noch mal!“, fluchte Eugene.<br />

„Das ist so verdammt ungerecht!“, sagte Anna. Sie kaute<br />

an ihrem Daumennagel herum. „So verdammt<br />

ungerecht ...“<br />

„Wir kneifen also“, sagte ich.


„Wir weichen der Gewalt“, sagte Eugene. „Aber wir<br />

geben nicht auf. Wir gehen nach England. Wir fahren<br />

noch heute Nacht nach London.“<br />

Pause.<br />

Anna kaute weiter auf ihrem Daumennagel herum und<br />

wischte sich eine Träne aus dem Auge. Carlos vergrub<br />

sein Gesicht in den Händen. Ohnmacht überall.<br />

„Und wo spielen wir?“, fragte ich schließlich.<br />

„Im Hyde Park“, sagte Eugene.<br />

Ich runzelte die Stirn. Dmitri lachte heiser und klopfte<br />

sich auf den Schenkel.<br />

„Speaker’s Corner“, flüsterte er.<br />

#<br />

Die Informatisierung ändert unsere Gesellschaft von<br />

Grunde auf, sie zerstört die derzeitigen Machtstrukturen<br />

und wird neue schaffen. Ähnlich wie Grundbesitz vor<br />

einigen Jahrhunderten an Bedeutung verlor, verlieren<br />

Kapital und industrielle Güterproduktion nun ihre


Bedeutung. Wir erleben gerade live den Aufstieg einer<br />

neuen Schlüsselressource: Information.<br />

„Geistiges Eigentum ist das Öl des 21 Jahrhunderts“, hat<br />

Mark Getty, ein Erbe des Öl-Imperiums, vor einigen<br />

Jahren gesagt. Statt eines Industriekonzerns gründete er<br />

eine der weltgrößten Fotoagenturen und handelt nun<br />

mit Bildern, also mit visueller Information.<br />

Bis vor kurzem war das Gewerbe der Bildagenturen eng<br />

an physische Prozesse gebunden: Fotos mussten<br />

entwickelt werden, dann kopiert, dann in<br />

Ablagesystemen eingeordnet und schließlich bei<br />

Anfragen wieder herausgesucht und per Post oder<br />

Botendienst an die Redaktionen und Werbeagenturen<br />

geschickt werden. Dort lagen sie dann einige Zeit herum<br />

und wurden schließlich wieder zurückgesandt.<br />

Heute werden Bilder digital angeboten. Die Kunden<br />

bekommen einen Zugangscode zur Datenbank, stöbern<br />

online im Archiv und laden runter, was gefällt. Der<br />

Vorteil dabei: Digitale Information lässt sich praktisch<br />

ohne Kosten und Qualitätsverlust vervielfachen. Der


Nachteil: Digitale Information lässt sich praktisch ohne<br />

Kosten und Qualitätsverlust vervielfachen. Jede Kopie ist<br />

ein Original ist eine Kopie.<br />

Das ist kein kleiner, gradueller Unterschied, sondern ein<br />

grundlegend anderer Prozess als in der industriellen<br />

Produktion. Man sieht es schon daran, dass die Kunden<br />

digitale Bilder nicht mehr nach einer gewissen Frist an<br />

die Agenturen zurückschicken müssen. Alleine die<br />

Vorstellung, ein File in eine Mail zu stecken und an die<br />

Agentur zurückzuschicken, ist lächerlich. Und selbst<br />

wenn die Kunden es täten – das Bild bliebe immer noch<br />

auf ihrer Festplatte zurück. In der Mail wäre nur ein<br />

weiteres File, eine neuerliche Kopie, ein weiteres<br />

Original.<br />

Die Industriegesellschaft kannte „Produkte“ mit einer<br />

solchen Eigenschaft bisher nicht und hat daher auch<br />

kaum Mechanismen, damit umzugehen. Die<br />

Marktwirtschaft beruht ganz fundamental auf dem Spiel<br />

von Angebot und Nachfrage, doch digitale Information<br />

widersetzt sich diesem Mechanismus zunächst.


Nachdem sie erst einmal geschaffen wurde, lässt sie sich<br />

praktisch ohne Aufwand und Kosten im Überfluss<br />

erzeugen. Das bedeutet, dass es immer ein Überangebot<br />

am Markt gibt. Jede Nachfrage kann auf Knopfdruck<br />

befriedigt werden. Auf diese Weise lässt sich kein Profit<br />

erzielen. Damit das Produkt „digitale Information“ in<br />

unser ökonomisches System passt, muss es künstlich<br />

verknappt werden. Nur wenn es knapp bleibt, kann<br />

geistiges Eigentum das Öl des 21 Jahrhunderts sein.<br />

Adam Smith hat in seinem Buch „Der Wohlstand der<br />

Nationen“ das Prinzip der Arbeitsteilung in der<br />

industriellen Produktion geschildert. Das war 1776, im<br />

Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung.<br />

Smith zählte all die Schritte auf, die zur Herstellung<br />

einer Stecknadel notwendig sind; vom Ziehen des<br />

Drahtes bis zum Verpacken der Nadeln kommt er auf<br />

18 Schritte. Aber einen hat er vergessen: den ersten. Das<br />

Design der Nadel, die kreative Arbeit, das Erstellen eines<br />

Prototypen. Selbst ein so simpler Gegenstand wie eine


Stecknadel muss wenigstens ein Mal entworfen und<br />

gestaltet werden.<br />

Den Unterschied sehen wir sofort: Das, was Adam<br />

Smith so unbedeutend erschien, dass er es nicht einmal<br />

erwähnte, macht bei digitaler Information 99,99 Prozent<br />

der Arbeit aus. Die Arbeitsschritte zum Vervielfältigen<br />

des Prototypen, auf deren Beschreibung Smith alle<br />

Mühe verwendete, sind plötzlich ein Klacks.<br />

Warum ist das so wichtig? Weil die Schlüsselressource<br />

unserer Zeit plötzlich an Bedeutung verliert. Für<br />

industrielle Produktion braucht man viel Kapital, so wie<br />

man für landwirtschaftliche Produktion viel Grund<br />

brauchte. Doch digitale Produktion funktioniert beinahe<br />

ohne Kapital, ihr Grundstoff, die wichtigste Ressource<br />

der Zukunft, ist eben Information. Geld regiert die Welt<br />

– aber wer sagt, dass das so bleibt?<br />

Die meisten von uns verfügen nicht über die finanziellen<br />

Mittel, um ein so einfaches Ding wie eine Stecknadel ein<br />

paar tausend Mal zu vervielfältigen. Aber wir können auf<br />

Knopfdruck ein Softwarepaket wie OpenOffice


kopieren, das aus Millionen Zeilen Programmcode<br />

besteht. Oder eine über Jahre aufgebaute und sorgfältig<br />

gepflegte Kundendatenbank. Oder eine Opernaufnahme<br />

– nein, eine ganze Sammlung von Aufnahmen.<br />

(Nebenbei, der Begriff „Rarität“ wird aus dem<br />

Vokabular der Musikfreunde gestrichen werden.)<br />

Dass Millionen Menschen all diese Möglichkeiten<br />

haben, wird nicht ohne gravierende Folgen für die<br />

politischen und wirtschaftlichen Strukturen bleiben. Das<br />

letzte Mal, als eine neue Schlüsselressource auftrat, hat<br />

das ein paar hundert Jahre Revolutionen und Kriege<br />

nach sich gezogen. Und in vielen Teilen der Welt ist<br />

noch nicht mal dieser Prozess abgeschlossen. Da kann ja<br />

einiges auf uns zukommen. Keine Ahnung was, aber<br />

irgendetwas wird passieren.<br />

Irgendetwas muss passieren. Die Frage ist nur wann.<br />

#


Wir setzten mit der Fähre über den Kanal. Der Himmel<br />

war grau, der Wind kalt. Ich zitterte, aber ich wusste<br />

nicht, ob es am Wetter lag, oder an meiner<br />

Verunsicherung. Ich fühlte mich müde, elend,<br />

ausgelaugt, allein. Anna stand neben mir, wir hielten uns<br />

umschlungen und starrten auf die Wellen, aber trotzdem<br />

war ich einsam.<br />

Man kann das, was uns widerfahren ist, wohl nicht mit<br />

der Folter von politischen Dissidenten in Diktaturen<br />

vergleichen. Wir wurden nicht misshandelt wie unter<br />

Pinochet, Saddam oder Pol Pot. Von den Nazis ganz zu<br />

schweigen. Das wäre eine Verharmlosung dieser Regime,<br />

das wäre falsch. Wir wurden geschlagen und gedemütigt,<br />

aber wir hatten immer Hoffnung, wir wussten immer,<br />

dass wir nicht einfach in einer Grube verschwinden<br />

würden. Das war wichtig, um nicht verrückt zu werden.<br />

Aber trotzdem: Die Nacht in der Polizeikaserne<br />

veränderte alles. Sie war eine Kriegserklärung, eine letzte<br />

Warnung. Bis hierher und nicht weiter, sagte das


System. Wir wussten nicht, wie wir darauf reagieren<br />

sollten.<br />

#<br />

Robert Kurz, „Antiökonomie und Antipolitik“: Das<br />

Problem, das hier aufscheint, ist das der „Keimform“.<br />

Der historische Materialismus hat analytisch bewiesen<br />

und anerkannt, dass die bürgerlich-warenförmige,<br />

kapitalistische Vergesellschaftung als Keimform im<br />

Schoße der feudalen Gesellschaft entstanden ist. Sie<br />

begann nicht mit der politischen Revolution (etwa der<br />

großen französischen), sondern weit früher, um sich<br />

nach einer bereits langen Entwicklung erst allmählich als<br />

selbstbewusste Kraft hinsichtlich der politischen<br />

Machtfrage geltend zu machen. Die sozialökonomischen<br />

Keimformen des Kapitalismus entwickelten sich,<br />

während noch lange Zeit „darüber“ und „daneben“ die<br />

feudale Macht bestand. Als in den bürgerlichen<br />

Revolutionen „die feudale Hülle gesprengt“ wurde, war


die bürgerliche, warenförmige Gesellschaftlichkeit schon<br />

praktisch da; nicht bloß indirekt als politische und<br />

negatorische Kraft, sondern direkt und positiv als reale<br />

sozialökonomische Reproduktionsform. Die politische<br />

Bewegung ging der neuen Reproduktionsform nicht als<br />

abstrakte und symbolische Willenskundgebung voraus,<br />

sondern war im Gegenteil ihre sekundäre Konsequenz<br />

und ihre notwendige Erscheinungsform.<br />

„Das ist spannend“, sagte Eugene. „Was glaubst du,<br />

entsteht die Keimform der Informationsgesellschaft<br />

schon im Schoße der Medienindustrie?“<br />

#<br />

Die Angst fiel von mir in der Sekunde ab, als wir in<br />

Dover das Gelände des Fährhafens verließen. Wir<br />

wurden von einer großen, bunten, jubelnden<br />

Menschenmasse empfangen. Zwanzigtausend, vielleicht<br />

dreißigtausend Leute hatten uns erwartet (Die Polizei<br />

sprach später von fünf- bis achttausend, und die meisten


Mainstream-Medien übernahmen diese Zahlen.<br />

Vollkommen lächerlich). Sie kamen mit Fahnen,<br />

Transparenten, Schildern und vor allem vielen selbst<br />

gebastelten Trommeln und Rasseln. Sie forderten ein<br />

Konzert.<br />

„Nicht hier“, sagte Eugene über die Lautsprecher.<br />

„Kommt mit uns! Auf zu Speaker’s Corner!“<br />

Und wir fuhren los und bildeten die Spitze einer<br />

Karawane, die um ein Vielfaches größer war als jene von<br />

Paris. Wir fuhren die Küste entlang nach Folkestone,<br />

dort auf die Autobahn und auf schnellstem Weg nach<br />

London. Einige freie Radiosender und BBC berichteten<br />

darüber und obwohl wir kaum mehr als eine Stunde bis<br />

zur Stadtgrenze brauchten, erwartete uns dort schon die<br />

nächste Menschenmenge. Wir kämpften uns im<br />

Nachmittagsverkehr durch Südlondon und immer mehr<br />

Autos schlossen sich uns an. Wir verursachten Staus, im<br />

Radio wurde vor uns gewarnt, aber viele der anderen<br />

Autofahrer schienen uns freundlich gewogen zu sein. Sie


winkten, einige hupten und nicht wenige schlossen sich<br />

uns an. Wir sahen keinen einzigen Polizisten.<br />

„Glaubst du, das ist eine Falle?“, fragte ich.<br />

„Das werden wir hier sehen“, sagte Eugene und tippte<br />

mit dem Zeigefinger auf eine Stelle auf dem Stadtplan,<br />

den er auf den Knien liegen hatte. „Vauxhall Bridge. Wir<br />

fahren direkt darauf zu. Wenn sie uns dort nicht<br />

stoppen, dann gar nicht.“<br />

Er behielt recht – es blieb bei gar nicht. Wir überquerten<br />

die Brücke ungehindert, fuhren nach Norden, zwischen<br />

Victoria Station und Westminster Abbey durch, an den<br />

Buckingham Palace Gardens vorbei, und kamen so ans<br />

südöstliche Ende des Hyde Park. Auch der war voller<br />

Menschen, so weit das Auge reichte: eine einzige, bunte,<br />

fröhliche, Party machende Masse. Ich konnte es kaum<br />

glauben.<br />

Unsere Karawane fuhr mit einem Hupkonzert einmal<br />

rund um den Park, dann steuerten wir den Bus durch<br />

eine Einfahrt zu Speaker’s Corner. Kaum blieben wir<br />

stehen, waren wir auch schon dicht umringt. Die Leute


pressten ihre Gesichter an die Scheiben, winkten uns zu,<br />

riefen unsere Namen.<br />

„Rauf auf die Bühne!“, rief Eugene und klappte die<br />

Dachluke auf. Ich griff mir meine Gitarre.<br />

Wir spielten bis lange nach Sonnenuntergang, zuerst<br />

unsere eigenen Nummern, dann Coverversionen, Stunde<br />

um Stunde. Der Zustrom an Menschen ließ nicht nach.<br />

„Im Radio berichten sie, dass sich aus ganz<br />

Großbritannien die Leute auf den Weg hierher machen,<br />

sogar aus Schottland ist schon eine Autokarawane<br />

unterwegs“, sagte Eugene in einer Pause.<br />

„Bis die da sind, können wir aber nicht durchspielen“,<br />

sagte ich.<br />

„Tja, dann müssen wir morgen wohl wieder spielen“,<br />

sagte Anna. Sie strahlte über das ganze Gesicht, es hatte<br />

etwas Künstliches, Aufgesetztes. Sie schien die Erlebnisse<br />

auf der Polizeistation völlig zu verdrängen. Ich fragte<br />

mich, was sein würde, wenn die Euphorie dieses Tages<br />

und das Adrenalin nachließen.


Irgendwann sagte Anna: „Wir haben nun nur noch eine<br />

Zugabe“, und wir hielten die Schweigeminute. Binnen<br />

weniger Sekunden verstummte jedes Gespräch im<br />

Publikum, die Leute erhoben sich aus dem Gras,<br />

nahmen ihre Kopfbedeckungen ab, zündeten Feuerzeuge<br />

an. Es wurde ein riesiges Lichtermeer, bis nach hinten<br />

zum See.<br />

Dann verließen wir das Dach, mischten uns unter die<br />

Leute, tranken ein paar Bier mit ihnen, erzählten von<br />

Paris und den Übergriffen der Polizei. Der Alkohol löste<br />

unsere Zungen und irgendwann begannen wir, unsere<br />

Angst ins Lächerliche zu ziehen. Aber diese gelöste<br />

Stimmung hielt nicht lange. Wir waren alle todmüde,<br />

vollkommen erschöpft, und krochen bald in unsere<br />

Kojen. Anna kam nicht zu mir, und als ich zu ihr in die<br />

Koje wollte, schüttelte sie den Kopf.<br />

„Ich möchte ein wenig alleine sein“, sagte sie.<br />

Ich verkroch mich also in meiner Koje. Vor dem<br />

Einschlafen checkte ich noch mal mein Telefon, das


erste Mal an diesem Tag. Vier verpasste Anrufe von<br />

Max.<br />

#<br />

Am nächsten Morgen stieg ich aus dem Bus und<br />

blinzelte ungläubig in die Morgensonne. Die Menschen<br />

waren immer noch da. Ein Pärchen, das offensichtlich<br />

auf einer Decke im Gras vor dem Bus übernachtet hatte,<br />

teilte sich zum Frühstück ein Sandwich. Die beiden<br />

lächelten mich an, ich nickte freundlich.<br />

Dann wanderte ich langsam durch den Park und fand<br />

überall das gleiche Bild: Kleine Gruppen, Pärchen,<br />

Einzelpersonen, junge Familien mit kleinen Kindern,<br />

Menschen aller Altersklassen, sozialer Schichten und<br />

Hautfarben lagen oder saßen im Gras, Punks neben<br />

Hip-Hopern, Skater neben Rockern, Studenten neben<br />

Rentnern, Birkenstockträger neben Anzugträgern (okay,<br />

davon wenige). Ich kam mir vor wie in einem großen<br />

Pfadfinderlager. Und alle grüßten mich. Hey, ich war


ein Star zum Anfassen. „Das ist toll, was ihr macht“,<br />

sagte ein junges, wunderschönes Mädchen, einfach so,<br />

im Vorbeigehen. Es gefiel mir.<br />

Aber irgendwie hatte ich das dringende Bedürfnis, in<br />

Ruhe nachzudenken. Unsere Verhaftung in Paris, die<br />

Schläge, die Angst ... all das war noch keine 36 Stunden<br />

her. Ich wusste nicht, wo ich stand. Wo wir standen.<br />

Klar, unser Bus parkte im Speaker’s Corner im Hyde<br />

Park in London, umringt von ein paar tausend... was?<br />

Fans? Mitstreitern? Aber was hatte das zu bedeuten? Was<br />

sollten wir damit anfangen?<br />

Ich verließ den Park im Süden, überquerte die Straße,<br />

suchte einen kleinen Shop, um mir Frühstück zu kaufen.<br />

Ich nahm Kaffee und ein Sandwich, aber als ich zahlen<br />

wollte, winkte der Mann hinter der Kasse ab.<br />

„Sie sind eingeladen, Sir.“<br />

„Oh, danke“, sagte ich überrascht.<br />

„Es ist mir ein Vergnügen“, sagte er. „Ich finde es gut,<br />

was Sie tun. Und außerdem verhelfen Sie mir zu einem<br />

Umsatzrekord“, sagte er und machte eine ausladende


Handbewegung. Ich sah mich um. Sein kleines Geschäft<br />

war voll mit jungen Menschen, die so aussahen, als<br />

hätten sie im Park übernachtet. Die meisten gaben sich<br />

Mühe, mich nicht anzustarren. Ich nickte dem Mann zu<br />

und beschloss, mir einen ruhigeren Ort zu suchen.<br />

Eine Stunde etwa lief ich planlos durch Kensington,<br />

Brompton und Chelsea, frühstückte im Gehen, grübelte.<br />

Der Tag war mild, es war hell, aber nicht zu heiß. Ich<br />

begann, mich wohl zu fühlen.<br />

Max rief an. Ich drückte die rote Taste. Kurz darauf kam<br />

eine SMS. Hey Mann, mache mir Sorgen. Alles okay?<br />

Ich antwortete nicht, lief einfach immer weiter.<br />

Schließlich landete ich im Victoria & Albert Museum.<br />

Freier Eintritt, freier Zugang zur Kultur. Ich musste<br />

lächeln. War es denn so schwer zu verstehen?<br />

Also nahm ich mir Zeit. Griechische und römische<br />

Statuen, indische Textilien, viel Silberhandwerk, alte<br />

Schreibmaschinen, Telegraphen und Radios. Radios!<br />

Dann fand ich zwei große Räume mit Gipsabdrucken<br />

antiker und mittelalterlicher Kunstwerke. Ein


<strong>Michel</strong>angelo-David in Originalgröße. Die Hadrian-<br />

Säule. Das gesamte Portal einer Kathedrale. In der<br />

englischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts gehörten<br />

solche Plaster-Caster zum guten Ton in der klassisch<br />

gebildeten Oberschicht, stand auf einer erklärenden<br />

Tafel. Darunter hatte jemand gekritzelt: meum esse aio!<br />

Wie gesagt, ich nahm mir Zeit. Aber irgendwann landete<br />

ich doch bei den beiden Bildern, die ich suchte. Ich<br />

hatte über sie in einem der Bücher gelesen, die ich in<br />

London gekauft hatte. Damals. Vor langer, langer Zeit.<br />

Es waren zwei Kupferstiche, jeweils von der Größe einer<br />

Taschenbuchseite. Auf den ersten Blick sahen sie<br />

identisch aus. Ich ging näher ran, und da wurden die<br />

Unterschiede offensichtlich. Einer war unglaublich fein<br />

gezeichnet, der andere grob, ungelenk, viele Details<br />

fehlten.<br />

Ein Original und eine Kopie. Beide trugen das<br />

Monogramm AD. Albrecht Dürer.<br />

Ich setzte mich auf den Boden und betrachtete die<br />

Bilder in Ruhe. Ich könnte sie fotografieren, dachte ich.


Wir könnten sie im Blog posten und über sie schreiben.<br />

Die Geschichte dahinter ist sehr interessant ...<br />

Dann seufzte ich. Nicht noch eine Geschichte. Es war<br />

genug erzählt.<br />

Zeit für Taten.<br />

#<br />

Als ich am frühen Nachmittag in den Hyde Park<br />

zurückkam, war ich überrascht. Erstens, die Leute waren<br />

immer noch da. Zweitens, es wurden immer mehr,<br />

ständig kamen neue an. Und drittens: Sie schienen<br />

bleiben zu wollen. Die Menschen kamen mit Iso-<br />

Matten, Schlafsäcken, dicken Decken und sogar Zelten.<br />

Sie richteten sich ein Lager ein.<br />

Ich sah Leute, die große schwarze Plastiksäcke trugen<br />

und Müll sammelten. Ich sah Männer, die vier oder fünf<br />

Dixi-Klos aufstellten. Viel zu wenig, aber immerhin. Ich<br />

sah mehrere Diskussionsgruppen, die im Kreis oder


Halbkreis beisammen- saßen. Bei der größten davon traf<br />

ich Eugene.<br />

Er saß in der Mitte, aber er sprach nicht. Ein Junge<br />

stand neben ihm und er redete laut und aufgeregt. Ich<br />

verstand immer nur „neue Menschenrechte“.<br />

Dann sah ich Anna. Sie stand am Rand der Gruppe und<br />

kaute an ihren Fingernägeln.<br />

„Worum geht’s hier?“, fragte ich.<br />

„Wenn ich das wüsste“, antwortete sie. „Lauter Spinner,<br />

und Eugene mittendrin. Weißt du, was ich mich frage?“<br />

„Hm?“<br />

„Was glaubst du, wie viele von denen hier sind Polizisten<br />

oder Geheimdienstleute oder so was?“<br />

Ich zuckte zusammen. Daran hatte ich noch gar nicht<br />

gedacht.<br />

„Egal“, sagte sie, bevor ich antworten konnte.<br />

„Wahrscheinlich bin ich einfach schon paranoid.“<br />

„Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie<br />

nicht hinter dir her sind“, sagte ich und wir rangen uns<br />

beide ein gequältes Lächeln ab.


#<br />

<strong>Michel</strong> Foucault, „Omnes et Singulatim: Towards A<br />

Criticism Of Political Reason“, 1979; in Bezug auf<br />

Turquet de Mayenne, „Aristo-Demokratische<br />

Monarchie“, 1611; zitiert nach Michael Hardt/Antonio<br />

Negri, „Empire – Die neue Weltordnung“, 2000: Die<br />

„Polizei“ erscheint als Administration, die den Staat<br />

lenkt, gemeinsam mit der Gerichtsbarkeit, der Armee<br />

und der Staatskasse. Wohl wahr. Tatsächlich jedoch<br />

umfasst sie alles andere. Wie Turquet ausführt, breitet<br />

sie sich mit ihrem Tun in jeder Situation aus, in allem,<br />

was Menschen machen oder unternehmen. Ihr Bereich<br />

umgreift Justiz, Finanzen und Armee. Die Polizei<br />

schließt alles ein.<br />

#


Eugene und ich gingen in ein Pub mit freiem WLAN,<br />

um die Nachrichtenlage zu checken. Der Wirt erkannte<br />

uns und lud uns auf ein Bier ein. Eugene hoffte auf<br />

freundliche Bericht-erstattung, weil unsere Besetzung des<br />

Parks den ganzen Tag über friedlich verlaufen war. Ich<br />

befürchtete eine Negativkampagne in allen klassischen<br />

Medien, eine Fortführung der Berichterstattung der<br />

letzten Tage.<br />

Aber was wir lasen, war nicht weniger als eine Sensation.<br />

Ein Blogger hatte in der Nacht ein Video auf YouTube<br />

hochgeladen, ein Video von dem vermummten Mann,<br />

der den Molotowcocktail warf. Es war eindeutig derselbe<br />

Mann und derselbe Wurf, aber die Aufnahme war aus<br />

einem anderen Winkel gemacht worden. Im<br />

Hintergrund war ein Geschäft zu sehen und darüber<br />

stand: METZGEREI.<br />

„Das ist in Deutschland!“, rief ich.<br />

Das Video verbreitete sich rasant im Netz, auf Facebook<br />

waren wir dutzende Male getaggt und hunderte Tweets<br />

mit dem Hashtag #<strong>incommunicado</strong> wiesen auf einen


deutschen Blogger hin, der das Video hochgeladen und<br />

in einen Blogbeitrag eingebettet hatte. Dort stand: Diese<br />

Szenen stammen aus meinem Video-Archiv, ich habe sie<br />

vor etwas mehr als einem Jahr aufgenommen, in Berlin,<br />

bei den Demonstrationen zum<br />

1. Mai.<br />

„Sie wollten uns was unterschieben!“, rief Eugene.<br />

„Diese Arschlöcher! Methoden wie bei den Nazis. Oder<br />

den Sowjets“, sagte der Wirt, der uns über die Schulter<br />

blickte. „Wollt ihr noch ein Bier?“<br />

Noam Chomsky & Edward Herman, „Manufacturing<br />

Consent“: Die Massenmedien sind ein System zur<br />

Übermittlung von Botschaften und Symbolen an die<br />

ganze Bevölkerung. Sie sollen amüsieren, unterhalten<br />

und informieren, und sie sollen Individuen jene Werte,<br />

Vorstellungen und Verhaltensregeln einimpfen, welche<br />

sie in die institutionellen Strukturen der Gesellschaft<br />

#


integrieren. In einer Welt konzentrierten Reichtums und<br />

gegensätzlicher Klasseninteressen bedarf es dazu systematischer<br />

Propaganda.<br />

Adolf Hitler, „Mein Kampf“: Der Presseeinfluss auf die<br />

Masse ist der weitaus stärkste und eindringlichste, da er<br />

nicht vorübergehend, sondern fortgesetzt zur<br />

Anwendung kommt.<br />

#<br />

#<br />

In Windeseile verbreiteten sich die Bilder aus Berlin und<br />

jene, die angeblich aus Dijon stammten, durch das Netz.<br />

Kein Zweifel, man hatte uns etwas anhängen wollen.<br />

Nicht uns als Band, sondern ... der Bewegung.<br />

Im Lager im Hyde Park gab es kein anderes<br />

Gesprächsthema. Die Leute standen und saßen in


Gruppen beisammen, diskutierten die Bilder, waren<br />

aufgebracht, zornig, fühlten sich persönlich angegriffen.<br />

Ich auch.<br />

Als ich ein Kind war, gab es den Kalten Krieg noch.<br />

Nicht dass ich mich bewusst an viel aus dieser Zeit<br />

erinnern könnte, aber eines weiß ich: Wir waren die<br />

Guten. Davon war ich überzeugt. Davon waren meine<br />

Eltern überzeugt. Davon waren die seriösen Herren<br />

offensichtlich überzeugt, die im Fernsehen die<br />

Nachrichten verlasen. Wir hatten Wahlen und<br />

Redefreiheit und Kapitalismus und irgendwie schien das<br />

alles zusammenzugehören, und die anderen hatten<br />

Diktatur und Zensur und Kommunismus, und das<br />

schien auch alles zusammenzugehören. Dass wir die<br />

Guten waren, wussten wir, weil die Leute aus dem Osten<br />

in den Westen flüchteten und nicht umgekehrt. Ja,<br />

unser System war gut, vielleicht nicht perfekt, aber sehr<br />

gut, und als Kind lernte man nicht, es in Frage zu<br />

stellen. Ich zumindest lernte es nicht. Wie auch immer.<br />

Ich war durch und durch unpolitisch.


Und jetzt das. Das System wandte sich gegen uns. Es<br />

zensurierte uns, verhaftete uns, misshandelte uns,<br />

verleumdete uns als Gewalttäter. Ja, es stimmt, wir<br />

hatten versucht, es zu verändern. Das war unser gutes<br />

Recht, hatten wir von Kindesbeinen an gehört. Das war<br />

es doch, was uns im Westen von all den Diktaturen<br />

unterschied, das war es doch, warum wir die Guten<br />

waren, oder? Wir hatten uns an die demokratischen<br />

Spielregeln gehalten. Das System hatte kein Recht, sich<br />

gegen uns zu wehren. Nicht so! Nicht mit Lügen und<br />

Folter und Gewalt. Die Wut über diese Ungerechtigkeit<br />

trieb mir fast die Tränen in die Augen, und damit war<br />

ich nicht allein.<br />

„Wir können jetzt nicht aufhören“, sagte eine ältere Frau<br />

und ihre Stimme bebte dabei. „Wir müssen irgendetwas<br />

tun!“<br />

„Wir brauchen ein Zeichen, das dem System sagt: Wir<br />

werden dich verändern, ob du willst oder nicht. Etwas<br />

das sagt: Der Kampf hat begonnen“, sagte einer. „Etwas<br />

wie den Sturm auf die Bastille.“


„Aber was machen wir?“, fragte ein Mann.<br />

#<br />

Jack Balkin, Information Society Project, Yale<br />

University: Zugang zum Wissen ist eine Frage der<br />

Gerechtigkeit, gesunder Entwicklungspolitik und ganz<br />

generell menschlicher Freiheit und Teilhabe an einer<br />

global vernetzten Wirtschaft. Menschen sterben an<br />

Krankheiten, die hätten behandelt werden können,<br />

wären die Medikamente nicht überteuert;<br />

Bevölkerungen bleiben ohne Bildung, weil Gesetze über<br />

geistiges Eigentum die Verbreitung von<br />

Unterrichtsmaterial blockieren. Innovation wird<br />

verhindert durch Patent- und Urheberrechte, die weit<br />

über das gerechtfertigte Ziel hinausgehen, Innovation zu<br />

fördern und der Zugang zu Informationen über<br />

Regierungshandeln wird durch einen Mangel an<br />

Transparenz unterminiert. Die Liste der Probleme, die<br />

durch die Verweigerung des Zugangs zu Wissen für die


Entwicklung, für die Gerechtigkeit in der Gesellschaft<br />

und die Menschenrechte entsteht, ist endlos.<br />

#<br />

Eugene und ich schlenderten durch den Park. Es hatten<br />

sich rund zwei Dutzend Gruppen gebildet, die zu<br />

verschiedenen Themen diskutierten. Und die Vielfalt<br />

dieser Themen überraschte mich.<br />

Da war eine Gruppe, in der es um die Privatisierung und<br />

Ökonomisierung des Bildungssystems ging. „Eine<br />

Wissensgesellschaft, die ihre Ausbildung in die Hand<br />

von Konzernen legt, liefert sich diesen aus“, sagte<br />

jemand, und ein anderer rief dazwischen „Ausbildung ist<br />

die Bildung der Beherrschten, Bildung ist die<br />

Ausbildung der Revolutionäre.“<br />

„Guter Spruch“, sagte ich zu Eugene.<br />

„Von Engels“, antwortete er. „Aber deswegen nicht<br />

schlecht.“


Die nächste Gruppe widmete sich der Pharmabranche.<br />

Man sprach über Medikamente, die in Afrika dringend<br />

benötigt, von westlichen Konzernen aber nicht mehr<br />

hergestellt wurden, weil es im Westen keinen Bedarf gab<br />

und Afrika kein lukrativer Markt war. „Wir könnten das<br />

Medikament in Indien billig herstellen lassen“, sagte eine<br />

Aktivistin, „aber das Labor, das das Mittel entwickelt<br />

hat, verbietet uns das. Sie wollen Geld sehen, Geld, das<br />

wir nicht haben. Das Patent läuft noch neun Jahre.<br />

Neun Jahre lang werden Menschen sterben, die wir<br />

heilen könnten. Diese Menschen sterben am<br />

Patentrecht!“<br />

Empörtes Raunen unter den Zuhörern, dann stand<br />

jemand auf und rief: „Das ist doch in der AIDS-<br />

Forschung nicht anders. Die Forschungslabors halten<br />

doch ihre wirklich brisanten Erkenntnisse so lange<br />

zurück, bis sie patentierbar sind. Die blockieren sich alle<br />

gegenseitig. Wenn alle Labors ihr Wissen frei teilen<br />

würden, könnten wir AIDS vielleicht schon längst<br />

heilen. Nur Profit gäbe es dann keinen ...“


In der nächsten Gruppe wurden keine großen Reden<br />

geschwungen. Dutzende junge Leute saßen mit<br />

Notebooks am Boden. Viele von ihnen trugen schwarzweiße<br />

T-Shirts mit der Aufschrift Penguin Resistance<br />

Army.<br />

Ein Mädchen sprach Eugene und mich an: „Habt ihr ein<br />

Notebook dabei? Wir helfen euch gerne dabei, Linux zu<br />

installieren. Kennt ihr Linux? Das ist ein freies<br />

Betriebssystem, das ...“<br />

„Danke, kenne ich“, sagt ich. „Aber ich habe einen<br />

Mac.“<br />

Sie rümpfte die Nase. „Apple ist ja noch schlimmer als<br />

Microsoft“, sagte sie. „Aber das lässt sich beheben. Auch<br />

auf Macs läuft Linux. Ich kann euch einen Spezialisten<br />

...“<br />

„Später vielleicht“, sagte ich und zog es ernsthaft in<br />

Betracht.<br />

„Wir sollten das tun“, sagte Eugene.<br />

„Okay. Ich sag ja, später.“


In diesem Moment drückte uns ein anderes Mädchen im<br />

Vorbeigehen einen Flugzettel in die Hand. Darauf stand:<br />

Demonstration: No Sound is illegal<br />

„Was ist das?“, fragte ich sie.<br />

„Steht doch drauf: Wir machen am Samstag eine<br />

Demonstration vor der Volvox-Zentrale.“<br />

Tatsächlich, das stand drauf. „Vor der Volvox-Zentrale?<br />

Warum?“<br />

„Wir fordern, dass sie die Klage gegen die Soundinistas<br />

zurückziehen.“ Sie schien uns nicht zu erkennen.<br />

„Wann wurde denn das beschlossen?“, fragte Eugene.<br />

„Vor einer Stunde, in einem Plenum.“<br />

„Von wem?“<br />

„Ich sag ja, in einem Plenum. Da waren sicher<br />

zweihundert Leute anwesend.“<br />

„Und was sagen die Soundinistas dazu?“, fragte Eugene.<br />

Sie zuckte mit den Schultern. „Die werden sich sicher<br />

freuen darüber.“


„Ja, wahrscheinlich“, sagte Eugene.<br />

Das Mädchen lief schon wieder weiter.<br />

„Wie findest du das?“, fragte ich.<br />

Er lächelte. „Großartig natürlich! Du nicht?“<br />

„Weiß nicht ... Warum habe ich gerade das Gefühl, dass<br />

uns die Sache endgültig entgleitet?“<br />

„Das ist halt Demokratie.“<br />

„Ach so. Klar. Na dann.“<br />

Plötzlich klopfte mir von hinten jemand auf die<br />

Schulter. Ich drehte mich um und mein Vater stand vor<br />

mir. Mein Vater.<br />

„Wow“, sagte ich.<br />

„Hallo.“<br />

„Was machst du hier?“<br />

„Ich habe mit Max gesprochen. Er sagt, du gehst nicht<br />

ran, wenn er anruft.“<br />

„Du bist hier weil ich Max’ Anrufe nicht annehme?“,<br />

fragte ich, fassungslos. „Ich bin in Frankreich verhaftet<br />

und verprügelt worden und du bist hier, weil ich nicht<br />

mit Max reden will?“


„Nein. Weil ich mir Sorgen mache.“<br />

„Da kommst du ja rechtzeitig drauf. Danke der<br />

Nachfrage, die blauen Flecken werden schon gelb.“<br />

„Da hast du dir ja einiges eingebrockt“, sagte er.<br />

„Ich habe mir etwas eingebrockt? Man verprügelt mich<br />

grundlos und ich bin schuld?“<br />

Er setzte seinen missbilligenden Blick auf. „Es war nicht<br />

‚man‘, es war die Polizei. Ihr habt für Unruhe gesorgt.<br />

Ihr sorgt immer noch für Unruhe. Und wenn ich mir<br />

das hier so ansehe, dann soll das ja weitergehen.“ Er hielt<br />

mir einen der Flugzettel mit dem Demonstrationsaufruf<br />

unter die Nase.<br />

„Was willst du?“, fragte ich.<br />

„Weißt du eigentlich, was das für Max bedeutet?“<br />

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Sag, dass das nicht<br />

dein Ernst ist.“<br />

„Es ist mein voller Ernst. Ich war bei ihm. Ich rede ja<br />

mit ihm.“<br />

„Öfter als mit mir.“


„Ja, das stimmt. Und das hat auch seinen Grund. Max<br />

braucht jetzt unsere Hilfe. Und nicht so eine<br />

Demonstration auch noch. Bist du eigentlich völlig<br />

wahnsinnig?“<br />

„Äh...“<br />

„Du kannst das nicht wissen, denn du gehst ja nicht an<br />

dein Telefon, aber der Aufsichtsrat sitzt ihm im Nacken.<br />

Seine Chefs finden, dass diese ganze Sache hier eskaliert<br />

und dem Unternehmen Schaden zufügt. Sie überlegen,<br />

seine neue Firma wieder zu schließen.“<br />

Das überraschte mich nun wirklich. „Ist nicht wahr.“<br />

„Doch. Und wenn jetzt diese Demonstration auch noch<br />

stattfindet, wird ihm das noch mehr schaden.“<br />

Ich spürte einen kleinen Anflug von Schadenfreude. „So.<br />

Ein. Pech.“<br />

„Max hat mir von eurer Vereinbarung erzählt. Dass das<br />

alles nur ein Marketing-Trick für seine Firma ist, dass du<br />

nur deswegen in dieser Band bist. Das verstehe ich jetzt.<br />

Aber diese Sache muss jetzt beendet werden, sie<br />

entgleitet euch.“


Zur letzten Erkenntnis war ich ja auch schon gelangt.<br />

„Ich weiß gar nicht, ob sich das so einfach beenden<br />

ließe. Sieh dich um. Ich kann diesen Leuten keine<br />

Befehle erteilen.“<br />

„Es sind deine Fans.“<br />

„Vielleicht. Vielleicht glauben sie auch nur an gewisse<br />

Ideale. Vielleicht sind sie deswegen da, und nicht<br />

unseretwegen.“<br />

„Was für Ideale denn? Grüne Haare und möglichst viel<br />

Eisen im Gesicht?“<br />

Ich zündete mir eine Zigarette an. Mein Vater hasste es,<br />

dass ich rauchte. „Du kannst das alles hier überhaupt<br />

nicht verstehen, oder?“<br />

„Nein. Ich kann es nicht verstehen. Nicht im<br />

Geringsten“, sagte er. „Ich weiß wirklich nicht, was ihr<br />

hier tut, aber wenn es eine erfolgreiche Marketing-<br />

Schiene war, bitte schön. Dann ist das halt das<br />

Musikgeschäft. Ich halte es für idiotisch und kindisch.“


„Das ist beruhigend“, sagte ich. „Dann stehen die<br />

Chancen ja ganz gut, dass wir hier etwas ziemlich Cooles<br />

machen. Was immer wir hier tun.“<br />

Dann drehte ich mich um und ließ ihn stehen.<br />

„Ruf Max an!“, rief er mir noch nach.<br />

„Sprich zu meiner Hand“, murmelte ich.<br />

#<br />

Am Abend ging ich mit Eugene wieder in das Pub und<br />

der Wirt lud uns wieder auf zwei Bier ein.<br />

„Das war heute alles ein wenig viel“, sagte ich. „So viele<br />

Themen, eine Demonstration und dann noch mein<br />

Vater.“<br />

Aber Eugene hörte kaum zu, er konzentrierte sich schon<br />

auf die Fernsehnachrichten. Und die waren kaum<br />

weniger sensationell als am Tag zuvor. Die französische<br />

Polizei sagte, man würde die Herkunft des Molotow-<br />

Videos untersuchen und bis dahin keinen weiteren<br />

Kommentar abgeben. Die deutsche Polizei bestritt, ihren


Kollegen das Band überlassen zu haben. In Spanien<br />

hatten zweihundert Menschen ein Feld gerodet, auf dem<br />

ein Saatgut-Konzern patentierten Mais zu Versuchszwecken<br />

angebaut hatte. In New York war ein Mann<br />

festgenommen worden, der in einem Computergeschäft<br />

auf mehreren ausgestellten Geräten Linux installieren<br />

wollte. In Nairobi demonstrierten tausende Bauern vor<br />

der Niederlassung eines Pharmakonzerns, warum, sagte<br />

der Nachrichtensprecher nicht. Die Polizei löste die<br />

Demo mit Wasserwerfern und Tränengas auf, es gab<br />

Schwerverletzte. In Sydney besetzten Studenten eine<br />

Privatuniversität und forderten leistbaren Zugang zu<br />

Bildung für alle. In Genf stürmte eine lokale Band<br />

zusammen mit ihren Fans das Hauptquartier der World<br />

Intellectual Property Organisation und spielte in der<br />

Lobby ein Konzert, bis nach fünfzehn Minuten die<br />

Polizei eintraf und alle festnahm. Und in Berlin hatten<br />

Demonstranten den Virgin Megastore am<br />

Hauptbahnhof gestürmt, Scheiben eingeschlagen und<br />

ein paar tausend CDs gestohlen. Wenn ihr uns wie


Piraten behandelt, können wir uns auch so verhalten,<br />

hatte jemand auf die Fassade gesprayt.<br />

„Wow“, sagte Eugene. „Das war heute wirklich alles ein<br />

wenig viel.“<br />

„Jungs, da habt ihr ja was angefangen“, sagte der Wirt<br />

und stellte uns die Biere hin.<br />

Mein Handy läutete. Es war Max.<br />

Diesmal hob ich ab.<br />

„Warte kurz“, sagte ich und ging raus auf die Straße,<br />

damit niemand mithörte. Vor allem nicht Eugene.<br />

„Wir müssen reden“, sagte er.<br />

„Scheint so.“<br />

„Dann komm in mein Büro. Heute Nacht.“<br />

„Das geht nicht“, sagte ich. Ich wollte Zeit schinden.<br />

Wofür wusste ich nicht.<br />

„Dann morgen. Mehr Zeit haben wir nicht mehr. Der<br />

Aufsichtsrat macht mir die Hölle heiß. Wenn eure<br />

Demo losgeht, muss unser Deal unter Dach und Fach<br />

sein. Joanna hat den Vertrag aufgesetzt. Du wirst<br />

überrascht sein. Positiv überrascht.“


„Hmmmm.“<br />

„Irgendein Problem?“<br />

„Nein, kein Problem ...“, sagte ich langsam. „Morgen<br />

Abend, wenn deine Mitarbeiter weg sind.“<br />

„Die arbeiten derzeit die Nächte durch. Treffen wir uns<br />

besser in meiner Wohnung, die liegt direkt über dem<br />

Büro. Du kannst den Hintereingang nehmen.“<br />

„Gut. Schick mir die Adresse.“<br />

„Okay. Aber eine Bedingung habe ich.“<br />

Ich musste lachen. „Du hast Bedingungen?“<br />

Max lachte nicht. „Bring Anna mit!“, sagte er und legte<br />

auf.<br />

Also suchte ich Anna. Aber ich fand sie nicht. Ich fragte<br />

Eugene; er drückte ein wenig herum und gab mir keine<br />

Antwort. Ich wurde eifersüchtig und betrank mich.<br />

Gegen Mitternacht tauchte sie auf, Arm in Arm mit<br />

einem groß gewachsenen, dünnen Typen mit schwarzen<br />

Locken und Metallica-T-Shirt.<br />

Ich trank weiter.


#<br />

Unser vierter Tag im Hyde Park war der Freitag.<br />

Bei den Morgenbesprechungen, die in hunderten<br />

kleinen Gruppen durchgeführt wurden, gab es zunächst<br />

nur ein Thema: Max und seine Idee, Musikstile zu<br />

patentieren. Der Idiot hatte ein Interview in der<br />

Financial Times gegeben und den Plan in die ganze<br />

Welt hinausgeblasen. Ich glaube, damit verdoppelte er<br />

auf einen Streich die Anzahl der Demonstranten.<br />

Ich ging ins Internet-Café, um die Geschichte<br />

nachzulesen. Selbst im Diskussionsforum der FT, das ja<br />

nun wirklich kein antikapitalistisches Plenum ist, hagelte<br />

es Kritik. Auf den uns wohlgesonnenen Blogs und<br />

Websites brachen alle Dämme. Jetzt reicht’s, stand da.<br />

Enough is enough. Ya basta. Rien ne va plus.<br />

Zurück im Hyde Park war die Planung bereits in vollem<br />

Gang. Ich fand die anderen Bandmitglieder in einer<br />

Organisationsgruppe in der Nähe des Busses.


„Ach, hier bist du“, sagte ich zu Anna, so leise, dass die<br />

anderen mich nicht hörten.<br />

„Hast du mich gesucht?“<br />

„Was machst du heute Abend?“<br />

„Warum?“<br />

„Weil es was zu besprechen gibt.“<br />

„Hör mal ...“<br />

„Nein, es geht nicht um uns“, fiel ich ihr ins Wort. „Ich<br />

... hätte gerne, dass du mich zu einem Termin<br />

begleitest.“<br />

„Einem Termin?“<br />

„Sozusagen. Es ist eine Überraschung. Und es ist<br />

geheim. Nur du und ich, vorerst.“<br />

„Okay“, sagte sie. „Klingt ja mysteriös.“<br />

„Und worum geht’s hier?“, fragte ich.<br />

„Hör zu, dann weißt du’s“, sagte Anna.<br />

„Wir sollten Kleingruppen bilden. Affinity Groups,<br />

Bezugsgruppen. Das sollte die kleinste Einheit sein, in<br />

der wir operieren“, sagte ein alter bärtiger Aktivist,<br />

dessen wettergegerbtes Gesicht aussah, als würde er jeden


Winter mit Greenpeace durch die Antarktis schippern.<br />

Er sprach mit der natürlichen Autorität eines Menschen,<br />

der weiß, wovon er redet. „Diese Gruppen setzen sich<br />

aus Leuten zusammen, die einander kennen und sich<br />

aufeinander verlassen können. In jeder Situation. Leute,<br />

die auch unter Stress zusammenhalten. Okay?“<br />

Alle nickten brav.<br />

„Jede Affinity Group ist für sich selbst verantwortlich. Es<br />

gibt keine zentrale Planung, keine Hierarchie. Alle<br />

Affinity Groups sind gleichrangig. So kann uns die<br />

Polizei nicht lähmen, indem sie unsere<br />

Kommandostrukturen blockiert. Es gibt einfach keine<br />

Kommandanten. Es gibt nur uns. Jede Affinity Group<br />

stellt sich eine Aufgabe – etwa die Kreuzung X/Y zu<br />

blockieren. Oder sich über Soho zu verteilen und die<br />

Bewegungen der Polizei zu beobachten. Oder<br />

Sanitätsdienste zu leisten oder Wasser zu verteilen. Oder<br />

einfach nur aufzutauchen und vor Ort zu entscheiden,<br />

was getan werden sollte. Jede Gruppe, wie sie will. Die<br />

Masse macht’s.“


„Bilden die Soundinistas eine Gruppe?“, fragte ich.<br />

„Psst“, machte Eugene. „Klar.“<br />

„Bei großen Demonstrationen gibt es meist monatelange<br />

Vorbereitungen auf beiden Seiten“, sagte der bärtige<br />

Mann. „Das gibt der Polizei die Möglichkeit, Festungen<br />

aus Stahlzäunen und Mauern zu errichten. Diese<br />

Möglichkeit hatte sie hier nicht. Wir werden nur auf<br />

kleine, mobile Straßensperren treffen. Die Polizei wird<br />

sehr beweglich sein müssen, wird sich nicht verschanzen<br />

können. Das ist unsere Chance: Sie müssen die<br />

Befehlskette einhalten, wir nicht. Wir können sofort<br />

reagieren, jede Affinity Group entscheidet vor Ort und<br />

autonom. Sie ist dabei in der Wahl ihrer Mittel frei. Sie<br />

kann kommen, wann sie will, gehen, wohin sie will, tun,<br />

was sie will. Letztlich muss nur mindestens eine Affinity<br />

Group durch die Polizeisperren gelangen und die<br />

Zentrale von Volvox erreichen. Und sie sollte eine<br />

Spraydose dabeihaben, um es beweisen zu können.“<br />

Lachen und zustimmendes Klatschen von einigen<br />

Zuhörern. „Es muss nur eine Gruppe durchkommen,


aber das können wir nur alle gemeinsam erreichen.<br />

Mitglieder verschiedener Affinity Groups sollten Handy-<br />

Nummern austauschen, um vernetzt zu sein. Und ein<br />

Tipp aus Erfahrung: Innerhalb größerer Gruppen solltet<br />

ihr Arbeitsteilung betreiben: Scouts, Koordinatoren,<br />

Proviantmeister, Sanitäter etc.“<br />

In den nächsten beiden Stunden entwickelte sich so<br />

etwas wie ein Konsens, wie am nächsten Tag<br />

vorgegangen werden sollte. Geplant war eine zweigeteilte<br />

Aktion: Die Hauptdemonstration sollte vom Hyde Park<br />

die Oxford Street entlanggehen und dann rechts nach<br />

Soho hinein abbiegen, direkt auf das Hauptquartier von<br />

Volvox zu. Wir erwarteten eine große Straßensperre<br />

irgendwo auf diesem Weg. Daher sollten gleichzeitig<br />

Affinity Groups aus allen Himmelsrichtungen in Soho<br />

einsickern und auf unterschiedlichen Routen versuchen,<br />

zu dem Gebäude zu gelangen.<br />

Der Hyde Park war inzwischen ein unüberschaubares,<br />

buntes Durcheinander aus Gruppen und Arbeitskreisen.<br />

Es gab so viel zu tun ... Übersicht verschaffen konnte


man sich an einer Leinwand, die jemand zwischen zwei<br />

Bäume gespannt hatte. Auf meist mit Hand bekritzelten<br />

Blättern fanden sich alle nötigen Informationen: 14:00<br />

Erste-Hilfe-Kurs, Treffpunkt hier / 15:30 Digitale<br />

Anarchie, Diskussion, Nordwestliche Ecke /<br />

Hauptmarsch: Strategiesitzung 17:00 / Juristische<br />

Auskünfte beim Tisch rechts / Englisch-Italienisch-<br />

Übersetzer gesucht / Affinity Groups: Schickt Vertreter<br />

zu allen Diskussionsforen / Ab morgen: Piratenradio<br />

107,5 / Pre-Paid-Telefonkarten und Freischaltung<br />

ausländischer Geräte (alle Marken) bei der Adresse ...<br />

Die meisten Zettel waren in mehreren Sprachen<br />

beschriftet, wer eine Übersetzung beisteuern konnte,<br />

schrieb sie einfach darunter.<br />

Ein dürrer Amerikaner mit Vollbart und Holzfällerhemd<br />

hielt einen kleinen Selbstverteidigungskurs und zeigte<br />

simple, aber effektive Tricks, wie man sich aus der<br />

liebevollen Umarmung eines Polizisten befreien konnte.<br />

Zwei besonders eifrige Schüler wollten das Repertoire<br />

um einige Schlag- und Tritttechniken erweitert sehen,


aber der Amerikaner winkte ab. „Was auch passiert,<br />

schlagt nie zurück“ sagte er, „oder ihr landet für lange<br />

Zeit im Gefängnis. Ihr solltet, wenn ihr weggetragen<br />

werdet, noch nicht mal eure Beine anwinkeln. Das<br />

könnte als Versuch zu treten gedeutet werden.“<br />

Wenige Meter weiter setzte eine Deutsche auf noch<br />

mehr Pazifismus und hielt einen Deeskalations-<br />

Workshop. Die Teilnehmer teilten sich in<br />

Zweiergruppen, einer spielte einen aufgebrachten<br />

Bewohner von London, der zweite einen Demonstranten<br />

– also sich selbst. Der „Einheimische“ musste sich<br />

furchtbar über all die Unannehmlichkeiten durch die<br />

Demonstration aufregen, der andere ihn beruhigen, zu<br />

einer sachlichen Diskussion bringen und ihm erklären,<br />

warum er hier war. Das Ganze war, trotz des ernsten<br />

Hintergrundes, ein ziemlicher Spaß. Das Highlight war<br />

ein dänisches Pärchen mit Dreadlocks, beide keine<br />

zwanzig Jahre alt. Sie beschimpfte ihn mit einem<br />

Schwall von Kraftausdrücken und schrie dann mit sich<br />

überschlagender Stimme: „Geh doch arbeiten, statt hier


zu demonstrieren, du Idiot, du arbeitsscheues Element!“<br />

Er stand nur da, den Mund offen, die Hände abwehrend<br />

erhoben und sagte nichts. Die Trainerin kam zu ihm.<br />

„Lass die Hände unten, du wirkst aggressiv. Und bring<br />

deine Argumente.“<br />

Im Freien vor der Halle hatte eine holländische<br />

Kommune eine mobile Küche aufgebaut und kochte.<br />

Bio und vegan natürlich. Das Essen kostete nur ein paar<br />

Pennies, aber ein Schild wies darauf hin, dass niemand<br />

abgewiesen würde, wenn er kein oder zu wenig Geld<br />

hatte. Hinter der Küche saß ein gutes Dutzend<br />

Freiwilliger im Gras und schälte Kartoffeln, schnitt<br />

Karotten oder wusch das Plastikgeschirr.<br />

Südlich des Sees waren Aktivisten mit dem Anfertigen<br />

von Transparenten, Schildern und dergleichen<br />

beschäftigt. Selbstorganisation war alles: Es lagen eine<br />

Menge Stoffe, Papier, Farben und vor allem Holz<br />

herum. Wer etwas brauchte, nahm es sich und steckte<br />

einen Kostenbeitrag in eine Kartonschachtel. Wer<br />

eigenes Material mitgebracht hatte, tauschte oder


schenkte Überschüssiges her. An einen Baum gelehnt<br />

standen massenhaft Schilder mit aufgeklebten Slogans:<br />

„Das gehört uns!“ in allen möglichen Sprachen und<br />

„Don’t hate the media, be the media“ und so weiter.<br />

Ich sah eine Gruppe in Kostümen von Disney-Figuren.<br />

Mickey, Goofy, Minnie, Donald, A-Hörnchen und B-<br />

Hörnchen, alle waren sie da. Sie malten Schilder, auf<br />

denen stand: „Ich gehöre dir“ und „Freiheit für Mickey!“<br />

Aber die wohl witzigste Gruppe waren die Nerds von der<br />

Penguin Resistance Army. Sie waren beinahe<br />

zweihundert Leute und verkleideten sich allesamt als<br />

Pinguine. Als Kopf nahmen sie schwarze Fahrrad- oder<br />

Motorradhelme, auf die sie Schnäbel aus<br />

orangefarbenem Karton klebten. Dazu schlüpften sie in<br />

extrem weite – und ich meine extrem weite – selbst<br />

genähte Kostüme in Schwarz und Weiß, die sehr<br />

entfernt an Pinguine erinnerten. Diese Kostüme stopften<br />

sie dick mit Schaumgummi aus. Eine ganze Armee von<br />

pummeligen Pinguinen. Ich fand das echt lustig.


Dann besuchte ich gemeinsam mit Eugene ein paar der<br />

„Seminare“. Wir lernten, dass man Tränengas am besten<br />

mit reinem Wasser aus den Augen wäscht und dass man<br />

daher besser keine Kontaktlinsen tragen sollte, auch weil<br />

das Reizmittel sich auf den Linsen ablagern kann. Wir<br />

lernten, dass Tücher, die in Essig oder Zitronensaft<br />

getränkt sind, eine neutralisierende Wirkung haben und<br />

das Atmen erleichtern. Wir lernten, dass Tränengas<br />

schwerer ist als Luft, dass man sich daher nicht<br />

niedersetzen sollte, wenn es verschossen wird. Und dass<br />

man rauchende Tränengasgranaten am besten in die<br />

Kanalisation wirft, oder in einen Eimer mit Wasser,<br />

damit sie keinen Schaden anrichten. „Und woher<br />

bekomme ich auf einer Demo einen Eimer mit<br />

Wasser?“, fragte ich. Der Mann, ein dünner, kleiner<br />

Bartträger, lächelte und öffnete einen weißen<br />

Lieferwagen, der offensichtlich einem Malereibetrieb<br />

gehörte. Auf der Ladefläche standen dicht gestapelt leere<br />

Farbeneimer. „Wir werden eine Menge davon haben“,<br />

sagte er.


Wir lernten, wie man eine Menschenkette bildet und die<br />

Arme dabei so verschränkt, dass es wirkungsvoll ist und<br />

man sich trotzdem gegenseitig nicht verletzt, wenn die<br />

Polizei die Kette gewaltsam auseinanderreißt. Wir<br />

lernten auch, wie man eine Strahlenkanone baut, die die<br />

Sensorchips von Überwachungskameras zerstört. Dazu<br />

braucht man nur Teile eines Mikrowellenherdes, eine<br />

Satellitenschüssel und eine Autobatterie.<br />

Wir lernten, dass ganz normale Handys von der Polizei<br />

als Wanzen verwendet werden können. Dass die<br />

Netzbetreiber das Freisprechmikrofon jedes Handys<br />

aktivieren und mithören können, ohne dass das am<br />

Display angezeigt wird. Dass die Positionsortung via<br />

Handy ganz leicht ist, war mir schon davor klar. Dass<br />

das aber auch geht, wenn das Gerät abgeschaltet ist, war<br />

mir neu. „Moderne Elektronik wird durch das<br />

Ausschalten nur in einen Schlummerzustand versetzt“,<br />

dozierte ein junger Typ. „Der Stromkreislauf wird aber<br />

nicht tatsächlich unterbrochen wie bei einem<br />

altmodischen Lichtschalter. Daher kann auch ein


abgeschaltetes Handy fernaktiviert werden. Und zwar<br />

ohne dass man es auf dem Display sieht. Daher:<br />

Abschalten reicht nicht. Ihr müsst den Akku<br />

rausnehmen. Nur dann seid ihr weder zu orten noch<br />

abzuhören.“<br />

„Spooky“, sagte jemand.<br />

#<br />

Wir begannen gegen Mittag, die Sambanistas zu formen.<br />

Inzwischen hatten wir ja schon Übung darin.<br />

Für viele, sehr viele Menschen, die noch keine Ahnung<br />

hatten, was sie bei der Demo eigentlich tun sollten,<br />

schien das eine tolle Möglichkeit zu sein. Als die<br />

mitgebrachten Instrumente vergeben waren, wurden<br />

eifrig weitere gebastelt: Ölfässer, Topfdeckel, leere<br />

Eimer, alles wo man lautstark draufhauen konnte, wurde<br />

ins Konzert integriert. Eugene gab mit Trillerpfeife und<br />

Stock den Takt vor. Unermüdlich, immer und immer


wieder, machte er neu Hinzugekommene auf Fehler<br />

aufmerksam und hielt das Werk zusammen.<br />

Am Nachmittag begannen wir, den Marsch in<br />

Formation zu üben. Der Plan war, die<br />

Hauptdemonstration anzuführen. Das sollte auch<br />

deeskalierend wirken: Wir hofften, dass die Polizei nicht<br />

versuchen würde, eine fröhlich musizierende Samba-<br />

Band zu attackieren.<br />

Max hatte mir per SMS die Adresse geschickt. Ich sollte<br />

nicht den Haupteingang nehmen, sondern eine<br />

unversperrte Hintertür in einer kleinen Seitengasse.<br />

„Was machen wir hier?“, fragte Anna.<br />

„Lass dich überraschen“, sagte ich und öffnete die Tür.<br />

„Fünfter Stock, kein Lift auf dieser Seite des Hauses.“<br />

Das Treppenhaus war für Londoner Verhältnisse<br />

weitläufig, es war gepflegt und sauber und roch sogar<br />

noch frisch gestrichen. Im zweiten Stock kamen wir an<br />

#


einer Rauchglastüre vorbei, die zwei Schilder trug:<br />

Emergency Exit stand auf dem einen. Volvox Ltd auf<br />

dem anderen. Anna zog eine Augenbraue hoch. Ich legte<br />

den Zeigefinger auf meine Lippen. Identische Türen mit<br />

identischen Schildern im dritten und vierten Stock.<br />

Im fünften standen wir vor einer großen, schwarzen<br />

Feuerschutztüre. Keine Schilder.<br />

„Wo sind wir hier?“, fragte Anna.<br />

„In der Höhle des Löwen“, antwortete ich und öffnete<br />

die Tür.<br />

Aber das war ein Irrtum: Es war ein Hund.<br />

Das riesige Vieh fuhr mit lautem Gebell auf mich los.<br />

Ich schrie laut auf und warf die Türe wieder zu.<br />

„Aus!“, hörte ich Max’ Stimme. Und: „Guter Junge,<br />

guuuuter Junge. Platz jetzt. Platz!“<br />

„Du hättest mir sagen können, dass du einen Hund<br />

hast“, rief ich durch die Tür.<br />

„Du hättest dir denken können, dass ich mich etwas<br />

unsicher fühle“, rief Max. „So, er hat sich beruhigt. Ihr<br />

könnt reinkommen.“


„Sicher?“<br />

„Jetzt mach schon!“<br />

Ich öffnete die Türe wieder<br />

Max stand direkt dahinter. Er setzte sein strahlendstes<br />

Lächeln auf, zu viel des Guten, fand ich. „Hey Mann!“,<br />

sagte er. „Schön euch zu sehen.“ In der Rechten hielt er<br />

eine Flasche Schampus, in der Linken drei Gläser.<br />

Anna war überrascht: „Du bist doch ... Peter. Dich<br />

haben wir in Köln getroffen. Oder Dortmund.“<br />

„Düsseldorf“, sagte ich.<br />

„Ich heiße Max“, sagte Max.<br />

„Und er ist mein Cousin“, sagte ich.<br />

„Dein Cousin ...“, wiederholte Anna. „Und was soll das<br />

Ganze?“<br />

„Ich will euch ein Angebot machen, das ihr nicht<br />

ablehnen könnt“, sagte Max mit gespielt tiefer Stimme.<br />

Dann lachte er. Wie lustig. Er musste ziemlich nervös<br />

sein. „Kommt erst mal rein“, sagte er. „In meine<br />

bescheidene Hütte.“


Die bescheidene Hütte hätte einer Fußballmannschaft<br />

genug Platz geboten. Max führte uns in ein riesiges<br />

Wohnzimmer, das zu einer sehr durchdesignten Küche<br />

hin offen war, alles sehr geräumig, viel Chrom, viel Glas,<br />

teures Holz, sogar eine lange Bar mit sechs Hockern. Im<br />

Wohnzimmer stand die größte Couch, die ich je gesehen<br />

habe, und darauf lag jetzt der Hund. Er wirkte<br />

vollkommen desinteressiert. Das war gut.<br />

Ich sah mich um und Max deutete meinen Blick richtig.<br />

„Papsch ist weg. Er hat ein paar Tage hier gewohnt, aber<br />

er ist heute morgen abgereist. Der ist vielleicht sauer auf<br />

dich ...“<br />

„Papsch?“, fragte Anna.<br />

„Mein Vater“, sagte ich.<br />

„Ich dachte, ihr beide seid Cousins. Warum sagst du<br />

dann Papsch zu seinem Vater?“, fragte sie Max.<br />

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete ich<br />

stattdessen, „und wir wollen sie heute nicht diskutieren.<br />

Wir haben etwas anderes zu besprechen.“


„Richtig. Aber erst Champagner“, sagte Max, ging an die<br />

Bar und schenkte ein.<br />

„Haben wir etwas zu feiern?“, fragte Anna.<br />

„Natürlich. Euren Plattenvertrag“, sagte Max.<br />

„Unseren was?”<br />

„Plattenvertrag. Wie besprochen“, sagte Max und<br />

lächelte. „Ich habe euch Kopien auf den Couchtisch<br />

gelegt, ihr könnt sie gleich durchlesen. Aber erst den<br />

Champagner.“<br />

Anna lief sofort zum Couchtisch und schnappte sich<br />

einen der dort liegenden Verträge. Der Hund<br />

beobachtete sie aufmerksam. Max auch. Ich wusste jetzt,<br />

warum ich sie mitbringen sollte. Nun hatte ich zwei<br />

Gegner, und einen davon aus den eigenen Reihen.<br />

„Max, was soll das?“, fragte ich.<br />

„Was soll was?“<br />

„Diese Show.“<br />

„Das würde ich gerne von euch beiden wissen“, rief<br />

Anna, ohne von dem Papier aufzublicken.<br />

„Du hast es ihr nicht gesagt?“, fragte Max.


Anna: „Was nicht gesagt?“<br />

Ich schüttelte den Kopf.<br />

Max: „Und den anderen?“<br />

Ich schüttelte wieder den Kopf.<br />

„Nicht mal Eugene?“<br />

„Ich habe ihm gesagt, dass ich dich jederzeit anrufen<br />

kann und du wirst die Klage zurückziehen.“<br />

„Aber nicht, dass wir einen Plattendeal vereinbart<br />

haben?“<br />

„Wir haben keinen Plattendeal vereinbart.“<br />

„Ich habe das anders in Erinnerung. Ihr helft mir,<br />

Volvox in die Medien zu bringen, dann einigen wir uns,<br />

ich lasse die Klage fallen, und ihr bekommt einen<br />

Plattenvertrag und erzählt der ganzen Welt, dass Volvox<br />

eigentlich doch die Guten sind. So war das vereinbart.<br />

Und vor allem zum letzten Teil würde ich jetzt schön<br />

langsam gerne kommen ...“<br />

Anna streichelte inzwischen den Hund. „Stimmt das?“<br />

Ich. „Nein. Max hat so etwas vorgeschlagen, aber ich bin<br />

nie darauf eingestiegen.“


Anna: „Moment mal, du hast mir doch erzählt, du<br />

hättest Max das Video vorgespielt, weil du uns für einen<br />

Plattenvertrag vorschlagen wolltest.“<br />

Max lachte. „Ja. Genau. Erinnerst du dich?“<br />

Ich. „Es gab keinen Deal.“<br />

„Das ist jetzt auch egal. Dort drüben liegt der Vertrag.<br />

Lies ihn durch. Du wirst begeistert sein. Ihr seid ja zur<br />

völligen Überraschung aller eine große Nummer<br />

geworden. Erstklassige Pressearbeit übrigens, ich muss<br />

dir gratulieren. Und wir machen euch noch größer. Eine<br />

gewaltige Marketing-Kampagne. Und wir releasen das<br />

erste Album in ganz Europa, 100.000 Stück Auflage.<br />

Das wird ein Wahnsinn!“<br />

„Das ist ja großartig!“, rief Anna. Sie lächelte mich an.<br />

„Ich hatte solche Angst wegen der Klage. Jetzt weiß ich,<br />

warum du die ganze Zeit so ruhig warst.“<br />

„Jetzt kommt mal her, lasst uns endlich anstoßen“, sagte<br />

Max.


„Max“, sagte ich gedehnt. „Es ist mein Ernst. Wir<br />

werden den Champagner nicht brauchen. Es gibt keinen<br />

Deal.“<br />

„Was soll das heißen?“, fragte Anna.<br />

Max: „Ja, genau: Was soll das heißen? Bist du verrückt?“<br />

Ich: „Nein. Ich war noch nie so normal.“<br />

Max: „Du spinnst. Komplett. Papsch hat recht.“<br />

Ich: „Lass Papsch aus dem Spiel.“<br />

Anna: „Erklärst du mir bitte, was das jetzt soll?“<br />

Ich: „Das ist ganz einfach. Im Hyde Park campen<br />

unseretwegen ein paar tausend Menschen, die morgen<br />

für uns demonstrieren wollen. Wir können sie nicht an<br />

einen Konzern verkaufen.“<br />

Max: „Die wollen dafür demonstrieren, dass wir die<br />

Klage zurückziehen. Und das tun wir. Das wird morgen<br />

eine extrem erfolgreiche Demonstration, ihr werdet<br />

etwas zu feiern haben! Wo ist das Problem?“<br />

Ich: „Du verstehst das nicht.“<br />

Anna: „Ich auch nicht.“<br />

Ich: „Es geht ums Prinzip.“


Anna: „Um welches Prinzip?“<br />

Ich sah Max an. „Dir steht das Wasser bis zum Hals,<br />

oder? Dein raffinierter Plan ist vollkommen<br />

danebengegangen ...“ Dann wandte ich mich Anna zu.<br />

„Er wird die Klage morgen ohnehin zurückziehen. Er<br />

muss. Sein Aufsichtsrat wird ihm Druck machen. Die<br />

Demonstration wird erfolgreich sein, ja, aber auch ohne<br />

Deal.“<br />

„Moment mal“, sagte Anna. „Schön und gut, aber dann<br />

haben wir noch keinen Plattenvertrag!“<br />

Max lachte, plötzlich, laut und gekünstelt. „Er will, dass<br />

ich mich erniedrige. Oder? Das ist es doch. Du willst<br />

deinen Sieg auskosten.“<br />

„Nein.“<br />

„Was soll ich tun? Soll ich dich bitten?“<br />

„Nein.“<br />

„Willst du mehr Geld?“<br />

„Ich habe den Vertrag ja noch nicht mal angesehen,<br />

woher sollte ich wissen, ob ich mehr wollen würde.“


„Du pokerst einfach hoch, das ist es, oder? Pass auf, dass<br />

du nicht zu viel riskierst.“<br />

Ich schüttelte den Kopf. „Komm Anna, wir gehen<br />

wieder.“<br />

„Hör zu, ich mache dir wirklich ein Angebot, das du<br />

nicht ablehnen kannst“, sagte Max. „Wenn du diese<br />

Demonstranten nicht enttäuschen willst, verstehe ich<br />

das. Ihr bringt die Demonstration bis vor dieses Haus<br />

und dann empfange ich euch. Wir tun ein paar Stunden<br />

so, als würden wir verhandeln und dann präsentieren wir<br />

die Einigung.“<br />

„Nein.“<br />

„Ich werde die Klage zurückziehen ...“<br />

„Das wirst du ohnehin tun.“<br />

„Ihr bekommt einen Plattenvertrag.“<br />

„Nein.“<br />

„Und Volvox gibt alle Pläne auf, Lobbying für die<br />

Patentierbarkeit von Musikstilen zu machen.“<br />

Ich lachte. „Das wirst du ohnehin tun müssen. Damit<br />

hast du es übertrieben. Das liegt dir im Magen, hm?“


„Komm schon, ihr könnt morgen hier rausgehen und<br />

Helden sein. Und eure Fans auch. Wann haben sich<br />

schon tausende Fans so für eine Band eingesetzt? Die<br />

werden noch ihren Enkeln davon erzählen und ihr<br />

werdet berühmter werden als die Beatles.“<br />

„Wir sollten das mit Eugene besprechen“, sagte Anna.<br />

„Und was glaubst du, was er sagen würde?“, fragte ich<br />

sie. „Er weiß, dass Max und ich Freunde sind. Er weiß,<br />

dass ich die ganze Sache mit einem Anruf beenden kann.<br />

Ich habe es ihm garantiert, bevor wir begonnen haben.<br />

Aber er hat mich bis jetzt noch nicht darum gebeten.“<br />

Da schlug sie die Augen nieder. „Er würde Nein sagen.<br />

Eugene will die Revolution, er wollte nie etwas anderes,<br />

sein ganzes Leben lang.“<br />

Damit war das Thema erledigt.<br />

Aus „π“: „It’s survival of the fittest, Max, and we’ve got<br />

the fucking gun!“<br />

#


#<br />

Der Morgen war kalt und verregnet. Noch vor Einsetzen<br />

der Dämmerung huschten drei schemenhafte Gestalten<br />

durch London. Ihr Ziel: eine Großbaustelle im Herzen<br />

der Stadt. Dort angekommen, stiegen sie über den Zaun,<br />

durchquerten vorsichtig das Gelände und steuerten auf<br />

einen Kran zu. Schnell und geübt kletterten sie daran<br />

hoch und dann hinaus auf den Lastarm. Dort entrollten<br />

die Aktivisten ein riesiges Transparent. Weithin sichtbar<br />

zeigte es zwei Pfeile in entgegengesetzten Richtungen. In<br />

dem einen stand Democracy, in seinem Widerpart Mass<br />

Media.<br />

Die erste Affinity Group war im Einsatz. Es hatte<br />

begonnen.<br />

#


Bald darauf sammelten sich andere Affinity Groups in<br />

der Umgebung von Soho, vorwiegend am Leicester<br />

Square und am James Square und rund um das British<br />

Museum. Kurz vor acht Uhr morgens machten sich<br />

Anna und ich auf den Weg, besuchten all diese Plätze,<br />

schüttelten Hände, sprachen mit den Leuten. Die<br />

meisten waren aufgeregt und voller Tatendrang. Die<br />

letzten Tage der Meetings, Diskussionen und Vorbereitungen<br />

hatten sie zusammengeschweißt und<br />

entschlossen gemacht: Sie wollten unsere Deklaration an<br />

die Tür von Volvox kleben. Unbedingt.<br />

Wir schickten SMS an Eugene, der im Hyde Park<br />

geblieben war: JamesSq: ca. 1500 Leute und LeicSq:<br />

2000 Leute und BritMuseum: 2000 Leute – und bei<br />

euch? Und Eugene antwortete: Schwer zu sagen ...<br />

20.000, vielleicht mehr. Beeilt euch mit dem<br />

Zurückkommen, sonst verpasst ihr hier das Beste ...<br />

Für den Weg zurück nahmen wir die kürzeste<br />

Verbindung, die Oxford Street. Deren unterer Teil<br />

bildete den Anfang unserer geplanten


Demonstrationsroute – und das System traf<br />

Vorbereitungen. Die Straße blieb für den privaten<br />

Autoverkehr gesperrt, viele Geschäfte hatten geschlossen,<br />

die U-Bahn-Stationen wurden mit Tretgittern<br />

abgesperrt. Überall war Polizei, in praktisch jeder<br />

Seitengasse parkten mehrere Mannschaftsbusse und<br />

Streifenwagen. Beamte halfen sich gegenseitig dabei, ihre<br />

schwarzen RoboCop-Rüstungen anzulegen, Helm,<br />

Brustpanzer, Schienbeinschoner, Handschuhe. Schwarze<br />

Masken. Plexiglasschilde. Schlagstöcke. Tränengasgewehre.<br />

Ein großer, schwer gepanzerter Wasserwerfer<br />

kam uns langsam und bedrohlich entgegen, fuhr dann<br />

an uns vorbei und verschwand in einer Seitengasse.<br />

„Mir wird jetzt etwas mulmig zumute“, sagte Anna.<br />

Ich lachte verlegen und versuchte, meine Nervosität zu<br />

verbergen.<br />

#


Als wir wieder im Hyde Park ankamen, waren wir von<br />

den Massen überwältigt. Im Laufe des Morgens waren<br />

noch tausende neue Leute gekommen. Der Park war<br />

voller Menschen, schlicht und einfach voll.<br />

Die Samba-Gruppe hatte sich zwischen unserem Bus<br />

und dem Ausgang des Parks formiert. Eugene stand am<br />

Dach des Busses, die Trillerpfeife im Mund, das Mikro<br />

in der rechten Hand, und gab so seine Anweisungen. Als<br />

die Sambanistas ihren Rhythmus gefunden hatten,<br />

kletterte er hinunter und stellte sich an ihre Spitze. Der<br />

Lärm war ohrenbetäubend, selbst für einen<br />

Rockmusiker, der fast jeden Abend auf der Bühne stand.<br />

„Wann geht’s los?“, schrie ich.<br />

Eugene lachte. „Wenn wir so weit sind.“<br />

„Und wann sind wir so weit?“<br />

„Ich glaube jetzt.“ Er gab der Samba-Gruppe das Signal,<br />

zwei Takte auszusetzen. Es wurde schlagartig leise.<br />

Eugene brüllte ins Mikro: „Hey! Ho! Let’s go!“<br />

Das Menschenmeer, das die Sambanistas einschloss,<br />

teilte sich langsam, als wir uns auf den Weg machten.


Eugene ging rückwärts, um die Musiker immer im Auge<br />

zu haben, und gab Anweisungen mit Taktstock und<br />

Trillerpfeife. Ich ging links von ihm, Anna rechts. Wir<br />

steuerten ihn aus dem Park auf die Oxford Street.<br />

Hinter den Sambanistas formierte sich die<br />

Demonstration, die Menschen folgten uns tanzend und<br />

singend, mit Transparenten und Schildern, und es war<br />

ein recht bunter Zug, der sich da formierte. Kurz bevor<br />

wir den Park aus den Augen verloren, drehte ich mich<br />

noch einmal um, und da sah ich, wie sich der große,<br />

schwarz-weiße Block der Pinguine eingliederte. Viele<br />

von ihnen trugen große, schwarze Gummischläuche aus<br />

LKW-Reifen, wie man sie zum Wildwasser-Rafting<br />

verwendet. Was wollen die denn damit, dachte ich, aber<br />

dann ging es schon weiter.<br />

Wir erreichten die ersten Polizisten. Sie standen in je<br />

zwei Reihen rechts und links entlang der Häuserfront,<br />

ganz dicht, Schulter an Schulter. Ihre Schilde standen<br />

vor ihnen am Boden, die Helme hatten sie demonstrativ<br />

abgenommen, sie trugen auch noch keine


Strumpfmasken. Ich beobachtete ihre Gesichter. Ein<br />

paar lächelten demonstrativ freundlich, so als würden sie<br />

uns zu verstehen geben wollen, dass sie insgeheim mit<br />

uns sympathisierten. Aber der Großteil hatte<br />

angespannte, sehr ernste Mienen. Mir fiel auf, dass dieses<br />

Spalier an den Querstraßen nicht unterbrochen wurde,<br />

im Gegenteil, diese waren mit Tretgittern und<br />

quergestellten Polizeiwagen gezielt abgesperrt. Wir<br />

konnten uns jetzt nur noch in eine Richtung bewegen:<br />

nach vorne. Anna und ich führten also Eugene, und<br />

Eugene führte die Sambanistas, und die Sambanistas<br />

führten die ganze Demonstration immer tiefer in diesen<br />

Polizeikorridor.<br />

Auf der Kreuzung Regent Street stand ein einzelner<br />

Polizeibeamter, ohne Rüstung. Er winkte mich zu sich<br />

heran.<br />

„Diese Demonstration ist illegal“, sagte er. Er musste<br />

brüllen, um den Lärm zu übertönen. „Lösen Sie sie<br />

sofort auf, sonst müssen meine Leute das tun.“


Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann diese Demonstration<br />

jetzt nicht mehr absagen. Niemand kann das, das wissen<br />

Sie“, sagte ich.<br />

Er nickte. „Ich weiß. Aber ich muss Sie informieren. So<br />

sind die Spielregeln.“<br />

„Ich verstehe“, sagte ich.<br />

„Sie verstehen gar nichts“, sagte er. Dann drehte er sich<br />

um, gab mit der Hand ein Signal und verschwand nach<br />

rechts. Die Polizeireihen teilten sich kurz und nahmen<br />

ihn auf. Kommandos wurden gebrüllt und die Polizisten<br />

setzten zuerst ihre schwarzen Strumpfmasken und dann<br />

ihre Helme auf.<br />

Eugene warf mir einen fragenden Blick zu.<br />

Ich zuckte mit den Achseln. Er lächelte und ging weiter.<br />

Wenige Minuten später erreichten wir die Kreuzung mit<br />

der Berwick Road. Das Volvox-Büro lag nun nur noch<br />

wenige hundert Meter südlich von uns, aber zwischen<br />

ihm und uns standen sechs Reihen Tretgitter, dahinter<br />

ein dichter schwarzer Block aus Polizisten in ihren


martialischen Rüstungen und mittendrin der<br />

Wasserwerfer.<br />

Wir waren da.<br />

Und plötzlich wussten wir nicht, was wir nun tun<br />

sollten. Die Sambanistas blieben an der Kreuzung<br />

stehen, spielten weiter und weiter, die anderen<br />

Demonstranten schoben nach, schlossen uns ein – und<br />

warteten darauf, dass irgendwas geschah.<br />

„Wie sollen wir bitte durch diese Polizeiabsperrungen<br />

durchkommen?“, fragte Carlos, der den Block der<br />

Sambanistas verließ und zu mir kam.<br />

„Ich habe keine Ahnung“, sagte ich.<br />

Einige junge Leute hatten Blumen mitgebracht und<br />

boten diese den Polizisten in der ersten Reihe an, über<br />

die Gitter hinweg, aber die RoboCops formten mit ihren<br />

Schilden eine lückenlose Wand aus Plexiglas und hinter<br />

den schwarzen Masken war keine Reaktion erkenntlich.<br />

Ein Junge kletterte auf die Gitter, reckte beide Hände<br />

zum Victory-Zeichen in die Höhe, die Masse jubelte,<br />

aber dann stand er dort oben und kratzte sich


nachdenklich am Kopf. Er klopfte gegen eines der<br />

Schilde. Keine Reaktion.<br />

Die Sambanistas spielten immer noch, aber das<br />

Gedränge wurde inzwischen gefährlich dicht, weil<br />

immer noch Menschen vom Hyde Park nachdrängten.<br />

So weit ich sehen konnte, war die gesamte Oxford Street<br />

bis zum Park hinunter voll mit Menschen, und es<br />

schien, als hätte das Ende der Demonstration sich noch<br />

gar nicht in Bewegung gesetzt.<br />

„Das ist riesig“, sagte ich.<br />

„Und völlig planlos“, sagte Carlos. „Wo sind jetzt die<br />

Leute, die wissen, wie man das macht?“<br />

They hang the man and flog the woman<br />

That steal the goose from off the common,<br />

But let the greater villain loose<br />

That steals the common from the goose<br />

The law demands that we atone<br />

#


When we take things we do not own,<br />

But leaves the lords and ladies fine<br />

Who take the things that are yours and mine<br />

The law locks up the man or woman<br />

Who steals the goose from off the common,<br />

And geese will still be a common lack<br />

Till they go and steal it back<br />

Englisches Volkslied, 18. Jahrhundert<br />

#<br />

Die Menge lachte laut. Der Junge auf den Gittern hatte<br />

die Hose heruntergelassen und zeigte den Polizisten den<br />

nackten Hintern. Ich lachte auch und deutete Eugene,<br />

sich mal umzudrehen. Da teilte sich die Wand aus<br />

Plexiglas blitzschnell, zwei Hände in schwarzen<br />

Handschuhen packten den Jungen an den Unterarmen<br />

und rissen ihn zurück. Er verlor das Gleichgewicht und<br />

kippte in die Polizeireihen. Ob sie ihn auffingen oder zu


Boden fallen ließen, war nicht zu sehen, die Wand<br />

schloss sich sofort wieder.<br />

Uns blieb das Lachen im Hals stecken.<br />

Eugene gab den Sambanistas das Schlusszeichen, nach<br />

einem letzten Trommelwirbel kehrte Stille ein.<br />

„Was machen wir jetzt?“, rief er. Aber statt einer<br />

Antwort bekam er dutzende. Die Leute schrien,<br />

begannen zu diskutieren, und ehe wir uns versahen,<br />

standen wir dicht gedrängt mitten auf der Oxford Street<br />

und versanken im basisdemokratischen Chaos. Dieser<br />

Prozess breitete sich von der Spitze nach hinten aus, dort<br />

wuchs die Unzufriedenheit, rund um die U-Bahnstation<br />

Oxford Circus bildete sich eine große Gruppe, die mit<br />

lauten Sprechchören forderte: „Hey! Ho! Let’s go!“, aber<br />

wir an der Spitze wussten nicht, wie. Die Polizeireihen<br />

waren so dicht geschlossen, keiner von uns sah irgendwie<br />

eine Möglichkeit, da durchzubrechen. Und dann,<br />

plötzlich, kam Bewegung in die Menge.


Die Penguin Revolutionary Army, deren Block an der<br />

Kreuzung zur Poland Street zu stehen gekommen war,<br />

ging an die Arbeit.<br />

Das Ganze war ein perfekt durchorganisiertes<br />

Schauspiel: Ein paar Dutzend Pinguine bildeten<br />

zunächst zwei Reihen und schoben die anderen<br />

Demonstranten so weit zur Seite, dass sie einen in etwa<br />

quadratischen Platz frei bekamen, auf dem sich dann nur<br />

noch die etwa zweihundert übrigen Pinguine und ihre<br />

Ausrüstung befanden.<br />

Eugene, Anna und ich kämpften uns durch die Massen<br />

zu ihnen durch. Ich glaube wir schafften das nur, weil<br />

die Leute irgendwie annahmen, dass wir als Band in die<br />

Vorgänge eingeweiht waren. Dabei staunten wir dann<br />

über das Spektakel, das sich uns bot, genau wie alle<br />

anderen.<br />

Zwischen den Pinguinen und den Polizisten befanden<br />

sich auch hier sechs Reihen aneinandergekettete<br />

Sperrgitter. Auf ein verstecktes Kommando hin rückte<br />

ein Pulk von etwa hundertfünfzig Pinguinen dicht


geschlossen gegen die Polizeisperre vor. Und plötzlich<br />

wurde klar, dass ihre Kostüme Rüstungen waren: Die<br />

mit Papierschnäbeln beklebten Motorrad- oder<br />

Fahrradhelme, die zehn Zentimeter dicken<br />

Schaumgummipolster unter dem Pinguin-Dress, die<br />

Schultern, Nacken und Bauch schützten, dazu<br />

Schienbein- und Ellbogenschoner aus aufgeschnittenen<br />

Plastikrohren. Die vordersten Reihen hielten zusätzlich<br />

die Schläuche der LKW-Reifen vor sich und über ihren<br />

Köpfen.<br />

„Was sollen diese Schläuche bringen?“, fragte ich.<br />

„Weiß nicht. Sichtschutz?“, riet Eugene.<br />

Die erste Reihe der Pinguine presste sich auf einer Länge<br />

von etwa 15 Metern gegen die Absperrung. Das Ganze<br />

lief mit Präzision und fast gespenstischer Ruhe ab. Es<br />

wurde weder geschlagen noch gestoßen, ja nicht einmal<br />

ein lautes Wort gegen die Polizisten gerichtet. Die waren<br />

offensichtlich aufgeregt, aber behielten die Nerven und<br />

warteten ab. Aber nichts geschah, obwohl nur einige<br />

Gitter und maximal ein Meter Abstand zwischen den


eiden Fronten lagen. Nach zwei, drei Minuten zogen<br />

sich die Pinguine wieder zurück.<br />

„Das war alles?“, fragte ich.<br />

„Hm, vielleicht haben sie es sich anders überlegt“, sagte<br />

Eugene.<br />

Dann traten vier Pinguine vor, nahmen die Gitter der<br />

ersten Reihe der Absperrung und trugen sie weg. Einfach<br />

so. Die Ketten, die diese Gitter eben noch fixiert hatten,<br />

lagen durchtrennt am Boden.<br />

Während der schwer gerüstete Pulk sich vor der Polizei<br />

aufgebaut hatte, waren einige Aktivisten zwischen den<br />

Beinen ihrer Freunde nach vorne gerobbt und hatten die<br />

Ketten mit Bolzenschneidern geknackt. Unbemerkt von<br />

der Polizei und den Zusehern. Uns fehlten die Worte.<br />

Der Polizei nicht. „Diese Demonstration ist illegal!“,<br />

verkündete sie über Lautsprecher. „Oh, tut uns leid, das<br />

wussten wir nicht!“, antwortete einer der Pinguine.<br />

Dann formierte sich die Angriffsspitze zum zweiten Mal.<br />

Wieder drückten sie gegen die Sperren und diesmal<br />

erhaschte ich einen Blick auf eine der Personen mit den


Bolzenschneidern. Die Polizisten begannen, mit ihren<br />

Stöcken auf die vorderen Reihen einzuschlagen – doch<br />

außer LKW-Reifen und Motorradhelmen trafen sie<br />

nicht viel. Jetzt war auch klar, welche Funktion die<br />

Reifenschläuche hatten. Einige Polizisten gingen in die<br />

Knie und stocherten durch die Gitter, um die Ketten zu<br />

schützen, doch vergeblich. Wenige Minuten später<br />

wurde die zweite Gitterreihe unter lautem Jubel der<br />

anderen Demonstranten davongetragen.<br />

„Die sind toll“, hörte ich jemanden hinter mir sagen.<br />

„So unglaublich durchorganisiert!“ Neben uns stand ein<br />

Jugendlicher mit einem Anarchy-Zeichen auf dem T-<br />

Shirt, hörte mit und zuckte mit den Schultern. „Sind<br />

sicher Kommunisten.“<br />

Als die Gruppe das dritte Mal vorrückte, setzte die<br />

Polizei Pfefferspray ein. Damit war der Spaß vorbei.<br />

Mehrere Pinguine, die direkte Treffer erhalten hatten,<br />

wurden von ihren Freunden in Sicherheit gebracht.<br />

Während ihnen mit reinem Wasser die Augen<br />

ausgewaschen wurden, nahmen neue Leute ihre


Positionen ein. Wir Zuseher hielten uns Tücher vor die<br />

Augen, aber sie begannen dennoch zu tränen.<br />

Die Penguin Resistance Army reagierte ohne Panik.<br />

Etwa die Hälfte bildete stets die Angriffsspitze, der Rest<br />

versorgte sie mit Wasser, Nahrung, neuen<br />

Autoschläuchen und Essigtüchern, leistete Erste Hilfe,<br />

sperrte die Straße oder rastete sich bis zum nächsten<br />

Einsatz aus.<br />

So ging es weiter: Viel Tränengas, etwas Pfefferspray,<br />

immer wieder Schlagstockeinsatz – der wirkungsvoller zu<br />

werden schien, je weniger Gitter sich zwischen Polizei<br />

und Aktivisten befanden. Bald wurde alle paar Minuten<br />

jemand aus der Gefahrenzone gebracht, dessen<br />

improvisierte Rüstung ihn nicht genügend geschützt<br />

hatte. Dennoch brandete regelmäßig Jubel auf, wenn<br />

wieder eine Sperre weggetragen wurde.<br />

Nach einer halben Stunde waren alle Gitter weg. Aber<br />

damit war nur die leichteste Hürde genommen, denn in<br />

der Poland Street standen mehrere hundert Polizisten<br />

und dutzende quer geparkte Fahrzeuge – da gab es kein


Durchkommen. Die Pinguine versuchten es trotzdem.<br />

„Unser Widerstand“, sagte einer durch ein Megafon, „ist<br />

ein symbolischer Akt des Ungehorsams. Ob wir<br />

durchkommen oder nicht, ist nicht wichtig. Aber wir<br />

müssen es versuchen. Schließt euch uns an und schiebt,<br />

schiebt, schiebt!“<br />

Sie rückten eng zusammen, hielten die Reifenschläuche<br />

über die Köpfe, rückten vor – und verschwanden in<br />

einem Meer aus Tränengas. Keine Chance.<br />

Und dann ging die Polizei zum Gegenangriff über.<br />

Wir hielten die Augen offen, so lange wir konnten, bis<br />

uns das Tränengas langsam eingeschlossen hatte. Die<br />

RoboCops stießen und knüppelten sich ihren Weg<br />

durch uns durch und an uns vorbei. Wir bedeckten<br />

unsere Gesichter mit Lappen und Tüchern und<br />

erhaschten noch flüchtige Bilder von Menschen, die mit<br />

Schlagstöcken verprügelt wurden, bevor wir unsere<br />

Augen schlossen. Das Gas war ein Nebel, in dem sich<br />

die Leute vor Schock und Schmerz wie mit langsamen,<br />

seltsamen Tanzschritten bewegten. „Tränengas“ ist eine


Fehlbezeichnung. Man fühlt sich, als ob man erstickt<br />

und erblindet. Das Atmen fällt schwer. Die Sicht ist<br />

verschwommen. Der Verstand ist durcheinander. Die<br />

Nase und die Kehle brennen. Es ist kein Gas, es ist eine<br />

Droge. Polizisten mit Gasmasken schlugen, drängten<br />

und stießen uns mit den Enden ihrer Knüppel. Wir<br />

setzten uns nieder, krümmten uns und klammerten uns<br />

noch enger aneinander. Zu diesem Zeitpunkt war das<br />

Tränengas schon so dicht, dass wir die Augen nicht<br />

mehr öffnen konnten. Einem nach dem anderen wurde<br />

der Kopf zurückgerissen und Pfeffer direkt in beide<br />

Augen gesprüht. Das war sehr professionell. Wie<br />

Haarspray vom Stylisten. Sssst. Sssst.<br />

Natürlich brach Panik aus. Menschen, die sich etwas<br />

weiter weg befanden, flohen entsetzt. Einige Besonnene<br />

riefen: „Walk, don’t run!“ Diese Aufforderung wurde<br />

dauernd wiederholt und schließlich kam die Menge zur<br />

Ruhe. Einige Leute waren gestolpert, doch zum Glück<br />

war niemand dabei verletzt oder niedergetrampelt<br />

worden. Aus geringer Entfernung beobachteten die


anderen Demonstranten die Szene, die sich vor ihren<br />

Augen abspielte, viele ungläubig, dass so etwas mitten in<br />

einer europäischen Großstadt geschah.<br />

Mit der Tränengaswolke verflüchtigte sich auch der<br />

Schock, der die Aktivisten gelähmt hatte. Bewegung kam<br />

in die Menschen. Freiwillige holten die von den<br />

Kampfstoffen blind Gemachten aus der Gefahrenzone.<br />

Ein paar Jugendliche griffen Eugene, Anna und mir<br />

unter die Arme und brachten uns in Sicherheit. Sanitäter<br />

versorgten uns und viele andere, indem sie unsere Augen<br />

mit reinem Wasser spülten und uns beruhigten. Zwei<br />

Männern mit Platzwunden am Kopf wurden sofort<br />

Verbände angelegt.<br />

Und dann schlug die Stunde der Affinity Groups.<br />

#<br />

Gil Scott-Heron, „The Revolution will not be televised“:<br />

The revolution will not be televised.<br />

The revolution will not be brought to you by Xerox


In four parts without commercial interruptions.<br />

The revolution will not show you pictures of Nixon blowing<br />

a bugle and leading a charge by John Mitchell, General<br />

Abrams and Spiro Agnew to eat hog maws confiscated from<br />

a Harlem sanctuary.<br />

The revolution will not be televised.<br />

There will be no highlights on the eleven o’clock news and<br />

no pictures of hairy armed women liberationists and Jackie<br />

Onassis blowing her nose.<br />

The theme song will not be written by Jim Webb, Francis<br />

Scott Key, nor sung by Glen Campbell, Tom Jones, Johnny<br />

Cash, Engelbert Humperdink, or the Rare Earth.<br />

The revolution will not be televised.<br />

The revolution will not be televised, will not be televised,<br />

will not be televised, will not be televised.<br />

The revolution will be no re-run, brothers.<br />

The revolution will be live.


#<br />

Kaum dass eine Kreuzung geräumt war und die Polizei<br />

zur nächsten weiterzog, stürmten aus einer Seitengasse<br />

neue Demonstranten an und bildeten dort wieder eine<br />

Menschenkette. Die Cops räumten die nächste<br />

Kreuzung mit Tränengas und Pfefferspray und<br />

Gummigeschossen und Schlagstöcken, dann eilten sie<br />

zurück und machten sich wieder daran, den ersten Platz<br />

freizukämpfen. So entwickelte sich ein Katz-und-Maus-<br />

Spiel, das sich bald über ganz Soho erstreckte. Kaum<br />

hatten die RoboCops einen Abschnitt gesichert,<br />

umgingen einige Demonstranten sie und blockierten<br />

eine Kreuzung in ihrem Rücken.<br />

Der Aktivist mit dem wettergegerbten Gesicht hatte<br />

recht gehabt: Die Polizei war zahlenmäßig und<br />

organisatorisch unterlegen. Ihre hierarchische<br />

Kommandostruktur war zu schwerfällig für die Affinity<br />

Groups, die keinen Befehl abwarten mussten, um ihren<br />

Standort zu wechseln. Eine SMS, eine Facebook-


Statusmeldung, ein Tweet reichte, um blitzschnell<br />

dutzende Demonstranten an jeden beliebigen Ort zu<br />

dirigieren. Polizeieinheiten haben fixe Größen; alle Cops<br />

müssen in Rufweite ihres Kommandanten bleiben. Die<br />

Affinity Groups dagegen teilten und sammelten sich<br />

nach Belieben, wurden zerstreut und verschmolzen neu,<br />

ganz wie es der Augenblick erforderte. Menschen, die<br />

sich noch nie zuvor gesehen hatten und nicht wussten,<br />

welche Erfahrungen und Ideen den anderen<br />

hierhergeführt hatten, klammerten sich aneinander und<br />

leisteten Widerstand.<br />

Der Kampf verlegte sich immer mehr in die Gegend<br />

westlich der Berwick Street. In diesem System aus<br />

schmalen Gassen und kleinen Plätzen versuchten<br />

Demonstranten, die Polizei zu umgehen, und die Polizei<br />

versuchte, Demonstranten einzukesseln. Die Frontlinien<br />

verschoben sich in Sekundenschnelle, es war ein einziges<br />

Vorwärts-Rückwärts-Seitwärts-Stopp, man wusste nie,<br />

welche Seite gerade die nächste Kreuzung kontrollierte.<br />

Einmal wäre ich fast verhaftet worden, während ich


einen kurzen Blick auf den Stadtplan warf. Hier musste<br />

man viel laufen. Die Polizisten schossen ihre Tränengasgranaten<br />

aus der Distanz in hohem Bogen in die<br />

Menge, mit Wucht schlugen die Metallbehälter ein,<br />

meist am Asphalt, doch immer wieder wurde ein<br />

Demonstrant getroffen. Ein Mädchen erlitt so schwere<br />

Kopfverletzungen, dass sie ins Krankenhaus gebracht<br />

werden musste. Kurz darauf entstand das Gerücht, sie sei<br />

gestorben, während der Operation ihren Verletzungen<br />

erlegen. Ich konnte, wollte das nicht glauben.<br />

Alles, was wir wollten, war ein Zeichen zu setzen: einen<br />

Schritt weiter zu gehen, als Polizei und Konzerne uns<br />

erlaubten. Wir waren bereit, dafür durchs Tränengas zu<br />

laufen, uns verhaften zu lassen, und mit steigendem<br />

Adrenalinspiegel sank sogar die Angst davor, verprügelt<br />

zu werden. Aber sterben? Das hatte niemand in Betracht<br />

gezogen.<br />

Warum auch? Trotz all des Tumults war dieser „Angriff“<br />

friedlich. Unser schlimmstes Vergehen war zu Beginn,<br />

dass wir die Tränengas-Geschosse zurück zur Polizei


warfen. Doch irgendwann flogen nicht nur Gasgranaten<br />

zurück zur Polizei, sondern auch Steine und<br />

Fahnenstangen. Das waren Einzelfälle, doch sie kamen<br />

immer häufiger vor, je später es wurde. Die Brutalität im<br />

Vorgehen der Polizei schockierte uns, wir platzten fast<br />

vor ohnmächtiger Verzweiflung.<br />

Wenn Affinity Groups eine Kreuzung besetzten, rief<br />

jemand: „Whose Streets?“, und die anderen antworteten:<br />

„Our Streets!“ Wenn die Polizei anrückte, zückten die<br />

Demonstranten ihre Smartphones und fotografierten<br />

und filmten und skandierten: „The whole world is<br />

watching“. Wenn das Gas kam, protestierten sie: „This is<br />

what democracy looks like!“, oder: „The people, united,<br />

will never be defeated!“ Gleichzeitig füllten sich die<br />

Mauern der Innenstadt mit Graffiti.<br />

Als die Polizei versuchte, ihre Truppen mit Bussen zu<br />

verlegen, errichteten Demonstranten Barrikaden aus<br />

Mülltonnen, Parkbänken, Verkehrsschildern oder was<br />

eben zu finden war.


Eugene, Anna, Carlos, Dmitri und ich blieben<br />

zusammen; wir waren nun keine Band, wir waren eine<br />

Affinity Group. Wir blieben im Bereich der Poland<br />

Street, wo die Pinguine und ein paar hundert andere<br />

immer noch versuchten, durchzubrechen.<br />

Einzeln und in kleinen Gruppen versuchten wir,<br />

vorzudringen. Die Polizei nebelte die ganze Gegend mit<br />

Tränengas ein. In der Wolke herrschte eine andere<br />

Wirklichkeit. Es gab keine Farben, alles war grau, die<br />

Sicht betrug nur wenige Meter, auch weil das Gas<br />

höllisch in den Augen brannte und die Tränen in<br />

Strömen flossen. Schutzbrillen waren sinnlos, weil sie<br />

sofort anliefen. Atemfilter waren sinnlos, weil in der Luft<br />

mehr Tränengas als Sauerstoff lag. Bei jedem Einatmen<br />

hätte man sich am liebsten angekotzt. Sirenen hallten<br />

von den Wänden wider, von allen Seiten durcheinander.<br />

Wenn Stimmfetzen durch den Nebel drangen, war es<br />

unmöglich zu bestimmen, aus welcher Richtung sie<br />

kamen. Tränengas ist eine Droge, kein Zweifel.


Dreißig Sekunden, vielleicht eine Minute, länger hielt<br />

man es in dieser Wolke nicht aus. Dann musste man<br />

sich zurückziehen, zur Plexiglaswand oder noch weiter.<br />

Die Glücklichen kotzten und ließen sich die Augen<br />

auswaschen. Die Unglücklichen, die im Nebel einem<br />

RoboCop begegnet waren, wurden von Sanitätern<br />

verarztet. Viele taumelten blutüberströmt zurück und<br />

mussten in Krankenhäuser gebracht werden.<br />

Einmal, als wir gerade wieder vorstürmten, löste sich ein<br />

Wasserwerfer aus dem Nebel und donnerte direkt auf<br />

uns zu. Mit dem vorderen Teil der Gruppe flüchteten<br />

wir in eine Seitengasse. Das schwere Panzerfahrzeug raste<br />

an uns vorbei, auf die Menge zu. Dort musste es<br />

stoppen, das wussten wir, sonst gab es dutzende Tote.<br />

Es waren vielleicht zwanzig oder dreißig Leute in dieser<br />

Seitengasse und plötzlich stand für einen magischen<br />

Augenblick die Zeit still. Es war, als würde gleichzeitig<br />

jeder jedem in die Augen schauen und fragen: Bist du<br />

dabei? Einer, irgendjemand, brüllte „Hasta la victoria!“<br />

und mit einem lang gezogenen „Siempreeeee!“ stürmten


wir wieder hinaus, jeder ein kleiner, zorniger Che<br />

Guevara, und rannten hinter dem fünfzehn oder zwanzig<br />

Tonnen schweren Wasserwerfer her, um ihn<br />

einzukesseln. Schön pathetisch. Und schön blöd. Aber<br />

rational war an diesem Tag niemand mehr.<br />

Als wir ihn einholten, schlugen die Leute mit Schilden<br />

und Fahnenstangen und leeren Gasgranaten auf den<br />

Stahlkoloss ein. Einer krallte sich mit der Linken in das<br />

Gitter vor der Windschutzscheibe und trommelte mit<br />

der Rechten mit bloßer Faust dagegen.<br />

Natürlich kochten die Emotionen hoch. Alle hatten<br />

damit gerechnet, dass dieser friedliche Marsch gestoppt<br />

werden würde. Aber die unglaubliche Brutalität, mit der<br />

die Polizei auf die vorderen Reihen eindrosch,<br />

überraschte und schockierte uns.<br />

Dann warf jemand einen Molotowcocktail in ein<br />

Polizei-Auto. Diesmal geschah es wirklich. Die beiden<br />

Beamten darin konnten nur mit Glück entkommen, der<br />

Land Rover stand binnen weniger Sekunden vollständig


in Flammen. Eine dicke, schwarze Rauchsäule stieg in<br />

die Luft.<br />

Auf der Oxford Street brach Panik aus. Die Leute vorne<br />

drehten um, wollten weglaufen, flüchten, doch die<br />

hinten, weit weg von der Polizei, bekamen das nur<br />

langsam mit. Der Wasserwerfer kam, drängte die Leute<br />

noch enger zusammen, wie ein Hund, der Schafe hetzt.<br />

Diesmal attackierte ihn niemand. Gasgranaten krachten<br />

in die Masse, es gab keine Chance, auszuweichen. Zum<br />

Glück konnte man auch kaum umfallen, denn wer jetzt<br />

stürzte, würde wohl zertrampelt werden. Polizisten<br />

stürmten heran, sie trugen keine Schilde, nur noch<br />

Schlagstöcke. Sie griffen Einzelne aus der panischen<br />

Masse heraus, zerrten sie an Armen und Beinen davon,<br />

traten ihnen dabei in die Rippen. Andere rissen sie zu<br />

Boden, ließen sich mit den Knien auf ihren Kopf fallen,<br />

zerquetschten das Gesicht am Asphalt der Oxford Street,<br />

während sie ihren Opfern Plastikhandschellen anlegten<br />

und sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt<br />

festnahmen. Ich sah die Gruppe in den Disney-


Kostümen, sie flüchtete. Mickey verlor den viel zu<br />

großen Kopf, er rollte über die Straße, ein Polizist kickte<br />

ihn zur Seite.<br />

Wir wurden mit einigen anderen von den Ereignissen in<br />

eine Einfahrt gespült, irgendwie, weg von der Masse.<br />

Polizisten tauchten auf, schnitten uns von der Straße ab,<br />

taxierten uns. Dann knallten zwei Granaten neben uns<br />

auf den Boden und füllten den ganzen Hof mit<br />

Tränengas.<br />

„Hierher“, rief eine Stimme, ich taumelte in diese<br />

Richtung, konnte schemenhaft eine Türe erkennen.<br />

Dann brach ich zusammen.<br />

#<br />

„Hey, bist du in Ordnung?“<br />

Ich hörte Eugenes Stimme, bevor ich wieder etwas sehen<br />

konnte. „Keine Ahnung“, brummte ich, aber es war<br />

vermutlich kaum verständlich.


„Na immerhin bist du wieder bei Bewusstsein. Ich habe<br />

mir schon Sorgen gemacht.“<br />

Meine Augen waren verschwollen. Nur mit Mühe<br />

schaffte ich es, die Lider zu öffnen.<br />

„Du hast wohl einen direkten Treffer abbekommen. Wir<br />

haben literweise Wasser über deine Augen geleert, bis ich<br />

schon befürchtet habe, wir waschen dir die Farbe aus<br />

den Pupillen.“<br />

Ich versuchte zu lächeln. „Danke. Wie lange war ich<br />

bewusstlos?“<br />

„Eine halbe Stunde. Vielleicht etwas länger.“<br />

„Wo sind wir hier?“<br />

„Im Lagerraum einer kleinen Boutique. Die Besitzerin<br />

hat uns reingelassen und vor der Polizei versteckt. Die<br />

ganze Band ist da, und noch sieben oder acht Fremde.<br />

Die sind alle drüben im Geschäft. Aber wir wollen<br />

aufbrechen.“<br />

„Aufbrechen?“<br />

„Die Sache ist die: Die Demonstration ist vollkommen<br />

zusammengebrochen. Wir hören Radio und die anderen


telefonieren mit ihren Freunden da draußen, das heißt,<br />

sofern sie jemanden erreichen. Aus unseren eigenen<br />

Handys habe ich übrigens die Akkus rausgenommen.“<br />

„Gute Idee. Was heißt das, die Demo ist zusammengebrochen?“<br />

„Die Polizei treibt die Leute durch die Stadt, weg von<br />

Soho. Scheinbar haben sich ein paar hundert Leute im<br />

British Museum verschanzt und in der Nähe das<br />

Parlaments hat man Barrikaden errichtet. Und im Hyde<br />

Park soll die Polizei laut Radioberichten über<br />

zweitausend Leute eingekesselt haben. Aber wir wissen<br />

nichts Genaues. Nur dass es hier in Soho inzwischen<br />

gespenstisch ruhig ist. Hier ist niemand mehr. Wir<br />

fürchten, dass die Polizei nun beginnt, die Häuser hier<br />

zu durchsuchen und wir wollen der Frau, die uns<br />

geholfen hat, nicht zur Last fallen. Wir haben also<br />

beschlossen, aufzubrechen.“<br />

„Wo wollen wir hin?“<br />

„Gute Frage. Einfach weg von hier.“<br />

„Na dann, hilf mir auf“, sagte ich.


Wir gingen hinüber in den Geschäftsraum.<br />

„Er ist in Ordnung“, sagte Eugene, als wir eintraten.<br />

Carlos und Dmitri lächelten mir zu. Anna starrte aus<br />

dem Fenster und ignorierte mich.<br />

„Geht nach rechts, immer geradeaus, so kommt ihr zur<br />

Charing Cross Street“, sagte die Boutiquen-Besitzerin,<br />

und: „Viel Glück.“<br />

Die Gruppe machte sich auf den Weg, aber ich blieb<br />

stehen. Eugene drehte sich um.<br />

„Was ist?“, fragte er.<br />

Ich legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete<br />

ihm zu warten. Auch Anna, Carlos und Dmitri blieben<br />

stehen und sahen mich fragend an. Es war gespenstisch<br />

leise. Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Ich<br />

roch das Tränengas und den Pfefferspray in der Luft,<br />

dazu den Essig meines Halstuches. Weit entfernt hörte<br />

ich Schüsse, quietschende Reifen, Sirenen, Hilferufe,<br />

Kampfgebrüll.<br />

„Was ist?“, fragte Eugene.


Ich öffnete meine Augen wieder. Wir fünf waren alleine<br />

auf der Straße.<br />

„Folgt mir“, flüsterte ich.<br />

Zweimal ums Eck, dann eine kleine Gasse entlang, noch<br />

mal rechts herum. Ein zerbeulter Streifenwagen, durch<br />

dessen Windschutzscheibe ein Pflasterstein geworfen<br />

worden war, stand verlassen auf einer Kreuzung.<br />

Hundert Meter entfernt befand sich ein Trupp von etwa<br />

zwanzig RoboCops. Sie schienen die Gegend zu<br />

durchkämmen, aber sie entfernten sich von uns.<br />

„Was machen wir hier?“, fragte Eugene.<br />

Anna biss sich auf die Lippen. Sie wusste, wohin ich<br />

wollte. Ich deutete auf die kleine rote Tür, keine dreißig<br />

Meter entfernt.<br />

„Volvox“, sagte ich.<br />

Eugene riss die Augen auf vor Überraschung, Carlos pfiff<br />

durch die Zähne. „Worauf warten wir?“, fragte Dmitri.<br />

Ich lief als Erster los, versuchte gleichzeitig schnell und<br />

lautlos zu sein und die Polizisten nicht auf mich<br />

aufmerksam zu machen. Erst mitten auf der Straße kam


mir der Gedanke, dass Max die Tür abgesperrt haben<br />

könnte. Aber dem war nicht so. Dieser Idiot. Ich trat<br />

ein. Im Haus war es vollkommen ruhig. Ich schloss die<br />

Augen, um mich aufs Lauschen zu konzentrieren. Ich<br />

hörte langsame Schritte im Haus und schnelle auf der<br />

Straße.<br />

Eugene kam als Erster nach. „Ich frage dich besser nicht,<br />

woher du diese Hintertür kennst“, sagte er. Bevor ich<br />

antworten konnte, kam Dmitri, dann Carlos und, mit<br />

ein wenig Abstand, Anna. Als die anderen ins Haus<br />

vordrangen, hielt sie mich am Arm zurück.<br />

„Das ist jetzt hoffentlich nicht zu spät“, fauchte sie.<br />

„Das kommt darauf an, was du willst“, sagte ich.<br />

„Und was willst du?“<br />

Ich gab keine Antwort und lief hinter den anderen her<br />

die Stufen hoch. Carlos und Dmitri waren schon einen<br />

Stock voraus, und Eugene war noch mal einen Stock vor<br />

ihnen, und so schraubten wir uns im Kreis die fünf<br />

Stockwerke hoch. Im vierten holte ich Carlos und<br />

Dmitri ein und wir hörten, wie Eugene oben die Türe


öffnete, diese schwere schwarze Feuerschutztüre. Wir<br />

hörten es, konnten es aber nicht sehen. Dann war da<br />

Max’ Stimme, und der Hund bellte, und Eugene schien<br />

etwas sagen zu wollen, aber keine Luft zu bekommen.<br />

Ich blieb stehen, um besser hören zu können.<br />

Und dann krachte der Schuss.<br />

#<br />

In Natural Born Killers, da gibt es diesen alten Indianer,<br />

der eine Geschichte erzählt. Es war einmal eine Frau, die<br />

Feuerholz sammelte. Dabei fand sie im Schnee eine<br />

Giftschlange, die eingefroren war. Sie nahm die Schlange<br />

mit nach Hause und pflegte sie wieder gesund. Eines<br />

Tages biss die Schlange sie in die Wange. Als die Frau<br />

im Sterben lag, fragte sie die Schlange: „Warum hast du<br />

mir das angetan?“<br />

Das Tier antwortete: „Nun, du Schlampe wusstest ja,<br />

dass ich eine Schlange bin.“


#<br />

Das Blut strömte aus Eugenes Brustkorb, literweise, und<br />

es rann über den Boden, bildete schnell eine Lacke, die<br />

sich über die Fliesen ausbreitete, in den Fugen kanalisiert<br />

wurde, in dutzende Äste zerrann, immer schön im<br />

rechten Winkel zueinander, links, rechts, links ...<br />

Er war schon tot, als wir den obersten Stock erreichten.<br />

Max stand vor dem Leichnam, die Waffe in der Hand,<br />

Angst im Gesicht. Er zielte auf uns. Dann erkannte er<br />

mich. Und Anna. Er brauchte eine Sekunde, um zu<br />

verstehen. Seine Augen weiteten sich.<br />

Irgendwo in der Wohnung bellte der Hund wie<br />

verrückt.<br />

„Eugene!“, schrie Anna und kniete neben ihrem Vater<br />

nieder. „Halt durch!“ Und dann zu Max: „Ruf die<br />

Rettung, verdammt!“<br />

Dmitri sagte: „Er ist tot.“


„Sie können ihn wiederbeleben!“, sagte Anna. Aber dann<br />

sanken ihre Schultern kraftlos nach unten. Sie kniete<br />

mitten in einem Meer von Blut. Es war sinnlos.<br />

„Es tut mir leid“, sagte Max. Das war so banal, und doch<br />

war es vermutlich das Einzige, was er sagen konnte.<br />

Anna streichelte Eugenes Wange, aber sie weinte nicht.<br />

Max ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand kippen,<br />

sank zu Boden, legte die Waffe weg. Ich setzte mich<br />

neben ihn.<br />

Es war, als wäre die Szene auf Standbild eingefroren.<br />

Carlos und Dmitri übernahmen schließlich die<br />

Initiative. „Eugene kann nicht am Gang liegen bleiben.<br />

Carlos und ich werden ihn in die Wohnung tragen“,<br />

sagte Dmitri. „Du da“, er deutete auf Max, „du zeigst<br />

uns einen Platz, wo wir ihn hinlegen können. Anna, du<br />

kommst mit. Und du“, er nickte mir zu, „wirst das Blut<br />

hier aufwischen.“<br />

„Müssen wir nicht die Polizei rufen?“, fragte Max.


Dmitri schnaubte. „Ja klar, wir werden die Polizei rufen.<br />

Und was dann? Ich meine, nachdem sie uns verprügelt<br />

und verhaftet haben. Was dann? Was glaubst du?“<br />

„Keine Ahnung“, sagte Max.<br />

„Ich schon“, sagte Dmitri, „ich bin in einer Diktatur<br />

aufgewachsen. Ich kann mir ausmalen, wie es dann<br />

weitergeht. Sie würden die ganze Sache vertuschen“,<br />

sagte Dmitri.<br />

„Wer? Was?“, fragte Max.<br />

„Das System. Da draußen prügeln ein paar tausend<br />

Polizisten die halbe Bevölkerung nieder, um dieses Haus<br />

zu schützen. Und wir schaffen es, über den<br />

Hintereingang reinzukommen – das würden die doch<br />

nie zugeben. Nein, sie haben eine viel bessere<br />

Möglichkeit. Sie werden den Leichnam auf die Straße<br />

rauszerren und fotogen platzieren, vielleicht vor einer<br />

eingeschlagenen Schaufensterscheibe, irgend so etwas.<br />

Die Waffe wird nie gefunden, der Schütze nie ermittelt.<br />

Eugene starb als Plünderer, das ist perfekt, das gibt<br />

keinen guten Märtyrer und das rechtfertigt das riesige


Polizeiaufgebot und die ganze Gewalt. Und morgen<br />

steht in allen Zeitungen: Die Demonstranten waren<br />

eben nur kriminelle Elemente, die bekämpft werden<br />

mussten. Wir verschwinden für zwanzig Jahre hinter<br />

Gittern und wenn wir die Wahrheit erzählen, klingt es<br />

wie eine Verschwörungstheorie, man wird<br />

Dokumentationen darüber drehen, wie es wirklich war,<br />

aber während diese ausgestrahlt werden, verrotten wir in<br />

einer Zelle. Aber du, du bist auch erledigt. Der Staat hat<br />

dich den Rest deines Lebens an den Eiern. Du wirst<br />

nicht ins Gefängnis gehen, aber du wirst jeden Tag dafür<br />

bezahlen, verlass dich darauf.“<br />

Das war die längste Rede, die ich von Dmitri je gehört<br />

hatte.<br />

Anna stand auf. „Okay“, sagte sie. „Lasst ihn uns<br />

reinbringen.“<br />

#


Das Blut aufzuwischen war also meine Aufgabe und ich<br />

erledigte sie gründlich. Sehr gründlich.<br />

Zuerst nahm ich ein paar Handtücher und Decken und<br />

baute einen Wall, damit das Blut nicht bis in den vierten<br />

Stock hinabfloss. Dann brachte mir Max wortlos einen<br />

Wischmob und einen Kübel. Ein Mensch hat doch nur<br />

ein paar Liter Blut, aber man macht sich sonst keine<br />

Vorstellung davon, wie viel das ist. Ich musste das<br />

Wasser im Kübel alle paar Minuten wechseln und dazu<br />

immer wieder in die Wohnung.<br />

Die anderen legten Eugene auf ein Leintuch, auf eine<br />

Ledercouch in einem Raum, der offensichtlich Max’<br />

Arbeitszimmer war. Carlos und Dmitri zogen ihn aus<br />

und wuschen seinen Körper. Anna saß auf der Couch im<br />

Wohnzimmer und streichelte den Hund. Sie sah kein<br />

einziges Mal auf, wenn ich an ihr vorbeiging. Sie sagte<br />

auch kein Wort. Aber ich wusste, dass sie mir die Schuld<br />

gab.<br />

Max stellte eine Flasche Wodka auf den Tisch, und ein<br />

paar Gläser. Er setzte sich neben sie und schwieg auch.


Ich schloss die Tür und wusch weiter auf. Er erschießt<br />

ihren Vater und sie trinkt mit ihm. Und ich bin an allem<br />

schuld. Ich schüttelte den Kopf.<br />

Als ich das nächste Mal in die Wohnung ging, saßen<br />

Carlos und Dmitri neben den beiden auf der Couch und<br />

tranken auch. Niemand sprach ein Wort. Ich leerte das<br />

rote Wasser in die Toilette, drückte die Spülung und<br />

füllte in der Dusche den Eimer wieder auf.<br />

„Hast du eine Bürste?“, fragte ich Max.<br />

Er stand wortlos auf, suchte in einem Schrank und gab<br />

mir gleich zwei Bürsten. Als ich zurück ins Stiegenhaus<br />

ging, sah ich, wie Carlos nach dem auf dem Couchtisch<br />

liegenden Vertrag griff.<br />

Er warf nur einen kurzen Blick darauf, dann fragte er:<br />

„Was ist das?“<br />

Ich schloss die Türe wieder hinter mir, kniete nieder und<br />

begann, die Fugen zwischen den Fliesen mit einer der<br />

Bürsten zu reinigen. Es dauerte Stunden.<br />

Stunden.


Irgendwann kamen Dmitri und Carlos zu mir. Ich<br />

kniete da, sie standen vor mir und stemmten die Hände<br />

in die Hüften. Sie wackelten bedenklich und rochen<br />

nach mehr als einer Flasche Wodka.<br />

„Du Idiot“, fauchte Carlos schließlich.<br />

„Arschloch“, sagte Dmitri.<br />

Ich konzentrierte mich auf einen besonders hartnäckigen<br />

Fleck in der Kreuzung zweier Fugen, stemmte mich mit<br />

beiden Händen auf die Bürste und rieb in langsamen<br />

Kreisbewegungen. „Jungs, sparen wir uns das doch<br />

einfach“, sagte ich schließlich.<br />

Sie stiegen nicht darauf ein.<br />

„Du bist nur ein provisorisches Mitglied der Band“,<br />

sagte Dmitri und das Wort provisorisch fiel ihm<br />

ziemlich schwer. „Du hättest den Vertrag nicht ablehnen<br />

dürfen. Du hättest nicht einmal darüber abstimmen<br />

dürfen.“<br />

„Interessant“, sagte ich ohne aufzublicken. „Dann hätte<br />

ich ihn ja einfädeln auch nicht gedurft.“


„Wir haben beschlossen, zu unterschreiben“, sagte<br />

Carlos. „Wir glaube, dass das im Sinne von Eugene<br />

wäre.“<br />

„Natürlich“, sagte ich.<br />

„Aber wir wollen dich nicht dabeihaben.“<br />

Ich musste lächeln. „Na, wenn das so ist, dann muss ich<br />

nicht unbedingt dabei sein.“<br />

„Bist du auch nicht.“<br />

„Dann wäre das geklärt und ich kann jetzt weiter<br />

Eugenes Blut von den Fliesen waschen. Verschwindet,<br />

ihr steht darauf.“<br />

„Tu du jetzt nicht so, als wärst du Eugenes bester<br />

Freund gewesen. Wir waren jahrelang mit ihm auf<br />

Tournee. Wir wissen besser, was er gewollt hätte. Du<br />

hättest ihm nicht verschweigen dürfen, dass Max uns<br />

einen Plattenvertrag angeboten hat.“<br />

Kurz war ich versucht, zu erklären, wie sich das ergeben<br />

hatte. Aber es wäre sinnlos gewesen. Ich stand auf und<br />

nahm den Eimer. „Entschuldigt, ich sollte mal wieder<br />

das Wasser wechseln.“


Max saß auf der Couch und starrte ins Leere. In der<br />

rechten Hand hielt er ein randvolles Whisky-Glas, mit<br />

der linken streichelte er Annas Busen. Ihr Kopf lag auf<br />

seinem Schoß und sie beobachtete mich, als ich durch<br />

den Raum ging, aber ihr Blick war seltsam ausdruckslos.<br />

Als ich von der Toilette zurückkam, waren die beiden<br />

weg und Carlos und Dmitri machten es sich auf der<br />

Couch bequem.<br />

Ich fand noch eine Flasche Wodka, nahm sie mit und<br />

trank sie beinahe aus, bis ich zwei oder drei Stunden<br />

später auch den letzten Blutstropfen von den Fliesen<br />

gerieben hatte. Ich wollte nicht, dass auch nur ein<br />

Molekül von Eugene hier zurückblieb. Meine Hände<br />

waren voller Blasen und an einigen Stellen wund.<br />

Ich ging zurück in die Wohnung. Meine Kleidung war<br />

voller Blut. Eugenes Blut, mein Blut, und vielleicht von<br />

noch ein paar Menschen. Ich zog mich aus, bis auf die<br />

Unterhose, dann suchte ich einen Platz, um zu schlafen.<br />

Anna und Max lagen nackt im Bett. Die rote<br />

Digitalanzeige eines Weckers war das einzige Licht.


04:12 Uhr.<br />

Ich erkannte die Konturen eines Sofas in der Ecke des<br />

Schlafzimmers und ließ mich einfach darauf fallen.<br />

Beck, „Pay No Mind“:<br />

Give the finger to the Rock ’n’ Roll singer<br />

As he’s dancing upon your paycheck<br />

The sales climb high through the garbage-pail sky<br />

Like a giant dildo crushing the sun<br />

That’s why<br />

I pay no mind<br />

Sleep in slime<br />

I just got signed<br />

Es ist 12:17 Uhr. Max betritt das Arbeitszimmer. „Du<br />

bist also munter“, sagt er.<br />

#<br />

#


„Ja. Wo warst du?“<br />

„Im Büro, Besprechung mit der Polizei.“<br />

„Der Hund war hier im Arbeitszimmer.“<br />

Er wirft einen Blick auf Eugene. „Oh. Das tut mir leid.“<br />

Ich antworte nicht. Der Text, den ich in der letzten<br />

halben Stunde für den Blog geschrieben habe, ist<br />

Scheiße. CTRL A. CTRL X.<br />

Max. „Willst du wissen, was die Polizei sagt?“<br />

„Sag schon.“<br />

„Sie suchen euch. Sie sind ratlos, weil sie eure Handys<br />

nicht orten können.“<br />

„Wir haben die Akkus rausgenommen, als das mit dem<br />

Tränengas losging“, sage ich. „Wir haben damit<br />

gerechnet, bevorzugte Ziele zu sein.“<br />

„Das stellt sich jedenfalls als Glück heraus. Hör zu, wir<br />

werden das Ganze so deichseln können, dass die Band<br />

unbeschadet aus der Sache rauskommt. Die Polizei wird<br />

sich auf Eugene konzentrieren. Aber der bleibt leider für<br />

alle Zeiten untergetaucht. Eugene wird ein Mythos<br />

werden.“


„Sie wissen Bescheid?“<br />

„Bist du verrückt? Natürlich nicht. Sie werden ernsthaft<br />

nach ihm fahnden, und das ist auch gut so.“<br />

„Wie willst du die Leiche beseitigen?“<br />

„Wie im Film. Wir wickeln sie in ein Leintuch, fahren<br />

mit dem Lift in die Tiefgarage und legen sie in den<br />

Kofferraum meines Autos. Und dann brauche ich nach<br />

all dem Stress hier ein Wochenende in Schottland an<br />

irgendeinem abgelegenen Fjord. Joannas Eltern besitzen<br />

da so ein Wochenendhaus mit einem großen<br />

Grundstück.“<br />

Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Mich<br />

beschäftigt der Blog. Eugene verschwindet einfach. Also<br />

kann der Blog auch einfach abreißen. Ohne richtiges<br />

Ende. Ohne Schlusspunkt. Einfach so.<br />

„Du kannst immer noch den Vertrag unterschreiben“,<br />

sagt Max. „Es ist egal, was die anderen sagen. Wenn ich<br />

dich in der Band haben will, dann gilt das. Es liegt an<br />

dir.“<br />

Ich schüttle den Kopf.


„Dann hole ich jetzt Dmitri und Carlos, damit sie mir<br />

helfen, Eugene runterzutragen. Es gibt keinen Grund,<br />

das rauszuzögern.“<br />

„Die machen da mit?“<br />

„Ja, klar. Sie fahren auch mit nach Schottland, das ist<br />

schon geklärt. Anna auch. Sie räumt gerade den<br />

Kofferraum aus.“<br />

„Tja. Dann ruf die beiden mal“, sage ich.<br />

Max schüttelt den Kopf. „Du bist ein verficktes Superduperarschloch“,<br />

sagt er. Dann verlässt er den Raum.<br />

Ich stehe auf und gehe zu Eugenes Klamotten. Ich leere<br />

Eugenes Rucksack aus und stopfe die blutige Wäsche<br />

hinein. Die sollte auch in Schottland vergraben werden,<br />

sicher ist sicher. Dann setze ich den Akku in Eugenes<br />

Handy und stecke das Gerät zwischen die Wäsche tief in<br />

den Rucksack.<br />

Wie lange es wohl dauern wird, frage ich mich.<br />

„Was machst du da?“, fragt Max, als er den Raum wieder<br />

betritt.


„Ihr solltet auch seine Wäsche entsorgen. Kommt nicht<br />

gut, wenn die Polizei seine blutigen Klamotten hier<br />

findet“, sage ich.<br />

Max nimmt mir den Rucksack wortlos ab und hängt ihn<br />

sich um. Carlos und Dmitri wickeln Eugenes Leichnam<br />

in das Leintuch. Wortlos heben sie ihn hoch und tragen<br />

ihn aus dem Raum. Ohne Gruß, ohne letzten Blick<br />

gehen sie. Max zögert, aber ich schenke ihm keine<br />

Beachtung. Er schließt die Tür.<br />

Ich starre auf den Monitor des Notebooks. Jede Sekunde<br />

kommen mehrere Tweets zu den Ereignissen von<br />

gestern. Blogger erzählen, was sie erlebt haben,<br />

analysieren, wie es dazu kommen konnte, ziehen<br />

Schlüsse für die Zukunft. Dutzende von ihnen, wenn<br />

nicht gar hunderte. Ich lächle. Die Welt braucht keinen<br />

abschließenden Blogbeitrag von uns. Im Gegenteil, die<br />

Diskussion hat gerade erst begonnen.<br />

Und dann höre ich auch schon Polizeisirenen.<br />

„Gerade mal vier Minuten“, murmle ich vor mich hin.<br />

„Nicht schlecht.“


Ich lehne mich zurück und zünde mir eine Zigarette an.<br />

Plötzlich fürchte ich mich nicht mehr vor dem<br />

Gefängnis. Ich werde dann Zeit haben, meinen Roman<br />

zu schreiben. Es wird um die Medienbranche gehen, um<br />

einen Toten, und ich werde damit auch etwas zu sagen<br />

haben. Eugene wäre stolz auf diese Idee.<br />

And You Will Know Us By The Trail Of Dead,<br />

„Worlds apart“:<br />

Random lost souls have asked me<br />

„What’s the future of Rock ’n’ Roll?“<br />

I say „I don’t know, does it matter?“<br />

#


This is not the end.<br />

Expect us.

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