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International Yearbook for Hermeneutics<br />

12 · 2013


International Yearbook<br />

for Hermeneutics<br />

Internationales Jahrbuch für Hermeneutik<br />

edited by<br />

Günter Figal<br />

in cooperation with<br />

Damir Barbarić, Béla Bacsó, Gottfried Boehm,<br />

Luca Crescenzi, Ingolf Dalferth, Nicholas Davey,<br />

Donatella Di Cesare, Jean Grondin, Pavel Kouba,<br />

Joachim Lege, Hideki Mine, Hans Ruin,<br />

John Sallis, Dennis Schmidt<br />

12 · 2013<br />

Focus: Reading<br />

Schwerpunkt: Lesen<br />

<strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong>


Editorial team/Redaktion:<br />

Dr. David Espinet<br />

Tobias Keiling, Ph.D.<br />

Jerome Veith, Ph.D.<br />

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg<br />

Philosophisches Seminar<br />

Platz der Universität 3<br />

79085 Freiburg<br />

Germany<br />

The Yearbook calls for contributions on topics in Philosophical Hermeneutics and bordering<br />

disciplines. Please send manuscripts to: jahrbuch@philosophie.uni-freiburg.de. All<br />

articles, except when invited, are subject to blind review.<br />

We assume that manuscripts are unpublished and have not been submitted for publication<br />

elsewhere.<br />

Citations are to be made according to the style in the present volume. Detailed information<br />

on formatting manuscripts can be downloaded from: http://www.philosophie.<br />

uni-freiburg.de/ijh.<br />

Das Jahrbuch bittet um Zusendungen zu Themen der Philosophischen Hermeneutik und<br />

angrenzender Disziplinen. Bitte senden Sie Manuskripte an: jahrbuch@philosophie.unifreiburg.de.<br />

Alle Artikel, die nicht auf Einladung des Heraugebers verfasst worden sind,<br />

werden in einem blind review-Verfahren begutachtet.<br />

Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei eingereichten Manuskripten um unveröffentlichte<br />

Originalbeiträge handelt, die nicht an anderer Stelle zur Veröffentlichung<br />

vorgelegt worden sind.<br />

Literaturhinweise bitte wie im vorliegenden Band. Ausführliche Hinweise für Manuskripte<br />

können unter http://www.philosophie.uni-freiburg.de/ijh heruntergeladen<br />

werden.<br />

ISBN 978-3-16-152711-1<br />

ISSN 2196-534X<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliographie;<br />

detailed bibliographic data are available on the Internet at http://dnb.dnb.de.<br />

© 2013 by <strong>Mohr</strong> <strong>Siebeck</strong> Tübingen, Germany. www.mohr.de<br />

This book may not be reproduced, in whole or in part, in any form (beyond that permitted<br />

by copyright law) without the publisher’s written permission. This applies particularly<br />

to reproductions, translations, microfilms and storage and processing in electronic systems.<br />

The book was typeset by Martin Fischer in Tübingen using Bembo Antiqua and OdysseaU,<br />

printed by Laupp & Göbel in Nehren on non-aging paper and bound by Buchbinderei<br />

Nädele in Nehren.<br />

Printed in Germany.


Inhaltsverzeichnis<br />

Schwerpunkt: Lesen<br />

Heike Gfrereis (Deutsches Literaturarchiv Marbach)<br />

Nicht-Lesen. Die Entzauberung einer alten Vorstellung . ......... 1<br />

Bernhard Zimmermann (Universität Freiburg)<br />

Ovid liest Klassiker .................................... 12<br />

John Sallis (Boston College)<br />

Doubly Slow Reading .................................. 27<br />

Luca Crescenzi (Università di Pisa)<br />

Sich wandelnde Wahrheit und selbstkritisches Lesen.<br />

Nietzsche-Variationen .................................. 35<br />

Ben Vedder (Radboud Universiteit Nijmegen)<br />

The Historicity of Reading .............................. 47<br />

Dennis J. Schmidt (Pennsylvania State University)<br />

The Garden of Letters. Reading Plato’s Phaedrus on Reading . ...... 61<br />

Daniela Vallega-Neu (University of Oregon)<br />

At the Limit of Word and Thought.<br />

Reading Heidegger’s Das Ereignis .......................... 77<br />

Gert-Jan van der Heiden (Radboud Universiteit Nijmegen)<br />

Reading Bartleby, Reading Ion. On a Difference between Agamben<br />

and Nancy .......................................... 92<br />

Nicholas Davey (University of Dundee)<br />

Critical Excess and the Reasonableness of Interpretation ......... 109


VI<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

David Espinet (Universität Freiburg)<br />

Read thyself! Hobbes, Kant und Husserl über die Grenzen<br />

der Selbsterfahrung .................................... 126<br />

Beiträge<br />

Andrea Kern (Universität Leipzig)<br />

Das Kunstwerk zwischen Autonomieanspruch und Wahrheit ...... 147<br />

Alexander Schnell (Universität Paris-Sorbonne)<br />

Kontingenz und Entzug. Zum Transzendentalismus Heideggers .... 165<br />

Enrique V. Muñoz Pérez (Universidad Católica del Maule)<br />

Heidegger und Scheler. Ein vergessener Bezug ................ 182<br />

Csaba Olay (Eötvös Universität Budapest)<br />

Die Überlieferung der Gegenwart und die Gegenwart<br />

der Überlieferung. Heidegger und Gadamer über Tradition ....... 196<br />

Eberhard Geisler (Universität Mainz)<br />

Hölderlin und die Gabe ................................. 220<br />

Autoren und Herausgeber ............................... 257<br />

Namenverzeichnis ..................................... 259<br />

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261


Schwerpunkt: Lesen<br />

1<br />

Nicht-Lesen<br />

Die Entzauberung einer alten Vorstellung<br />

von<br />

Heike Gfrereis (Deutsches Literaturarchiv Marbach)<br />

Die Erfüllung der Literatur (auch aller anderen Texte) scheint darin zu liegen,<br />

gelesen zu werden. „Die einzige Bedingung, unter der Literatur steht“,<br />

so Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode, „ist ihre sprachliche<br />

Überlieferung und ihre Einlösung durch die Lektüre.“ 1 In diesem idealen<br />

Reich der Literatur ist Lesen existentiell, teleologisch und absolut. Literatur<br />

gibt es, damit und weil gelesen wird, und gelesen wird, weil und damit es<br />

Literatur gibt. Das eine geht im anderen auf und ist um des anderen willen<br />

da: „Wirkung ist daher weder ausschließlich im Text noch ausschließlich<br />

im Leserverhalten zu fassen; der Text ist ein Wirkungspotential, das im<br />

Lesevorgang aktualisiert wird.“ 2 „Im Gelesenwerden geschieht die für jedes<br />

literarische Werk zentrale Interaktion zwischen seiner Struktur und seinem<br />

Empfänger.“ 3 Der Sinn der Literatur liegt ganz im Leser selbst, in seiner<br />

„Einbildungskraft“. 4 Nicht zu lesen oder nur wenig oder unaufmerksam,<br />

gilt dann als Verweigerung, wenn nicht als Sakrileg: Nicht-Lesen scheint<br />

der Literatur ihre Grundlage und ihr Ziel zu entziehen.<br />

In den Dichterbibliotheken des Deutschen Literaturarchivs Marbach<br />

zeugen die Bücher beim genauen Hinsehen jedoch mehr vom Nicht-Lesen<br />

1<br />

Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode: Grundzüge einer<br />

philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke (im Folgenden: GW) Band 1, fünfte<br />

durchgesehene und erweiterte Auflage, Tübingen 1986, S. 165.<br />

2<br />

Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München<br />

1976, S. 7.<br />

3<br />

Iser, Der Akt des Lesens, S. 38.<br />

4<br />

Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung<br />

literarischer Prosa, in: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie<br />

und Praxis, München 1975, S. 228–252, hier S. 248: „Es charakterisiert diesen [den literarischen<br />

Text], daß er in der Regel seine Intention nicht ausformuliert. Das wichtigste<br />

seiner Elemente also bleibt ungesagt. Wenn dies so ist, wo hat dann die Intention des<br />

Textes ihren Ort? Nun, in der Einbildungskraft des Lesers.“


2 Heike Gfrereis<br />

als vom Lesen: unaufgeschnittene Bögen, makellos unbenutzte Bände,<br />

mittendrin vergessene Buchzeichen, eingelegte Blumen-, Blatt‐ und Bildersammlungen;<br />

manchmal wurden Seiten einfach auch überklebt oder<br />

ganze Kapitel ausgerissen; ihre Handhabung, Lagerung, die Umzüge und<br />

Umnutzungen haben mehr Spuren hinterlassen als die Lektüre. 5 Eduard<br />

Mörike hat sein lateinisches Lexikon zum Blumenschemel zweckentfremdet,<br />

Gadamer selbst sein Exemplar von Kants Kritik der Urteilskraft zerpflückt<br />

und dafür mit anderen Dingen angereichert wie einem Kalender und einer<br />

Taxiquittung. Lesen selbst – im herkömmlichen Sinne von: einen schriftlichen<br />

Text verstehen, Buchstaben entziffern und interpretieren – scheint<br />

spurlos zu geschehen, sichtbar nur dann, wenn es ins Noch-Nicht oder<br />

Nicht-Mehr-Lesen, ins buchstäbliche Begreifen, Selber-Schreiben oder<br />

überkonzentrierte Abschweifen übergeht. Eselsohren, Büroklammern, Unterstreichungen,<br />

Kommentare, Einkreisungen, Nummerierungen, Linien,<br />

Pfeile, Verknüpfungen und Vernetzungen, Anheftungen, Einmalungen und<br />

Überschreibungen sind die Zeichen der intensiven Lektüren, die an die<br />

Grenzen des Lesens führen. Sie wuchern immer nur stellenweise, manchmal<br />

beschränkt auf einen einzigen Satz oder Vers, der markiert wird, um ihn<br />

aus seinem Kontext herauszulösen und aus dem Buch in die eigene Welt<br />

hinauszunehmen; so wie diese den Büchern einverleibt wird, indem man<br />

sie wie W. G. Sebald und Paul Celan als Sammelstätte für Wörter und Fundstücke<br />

nutzt.<br />

Das Nicht-Lesen, das möchte ich im Folgenden näher ausführen, ist ein<br />

auch hermeneutisch notwendiger Teil des Lesens. Lesen selbst bedeutet<br />

als Kulturtechnik sehr viel mehr als einen Text zu lesen und zu verstehen:<br />

Lesen ist ein ästhetischer Zustand.<br />

1. Schreiben als Lesen<br />

In den Büchern aus Martin Heideggers Bibliothek tauchen immer wieder<br />

intensive, oft mehrfarbige, aber auf wenige Seiten konzentrierte Einlassungen<br />

auf, die manchmal sogar an Umfang den zu lesenden Text überschreiten.<br />

Als habe er immer nur ein bisschen gelesen, ein Stückwerk, nie<br />

5<br />

Beispiele für diese Marbacher Lesespuren sind u. a. veröffentlicht in: Deutsches Literaturarchiv<br />

Marbach (Hrsg.), Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der<br />

Moderne, Marbach 2006; Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.), Ordnung. Eine<br />

unendliche Geschichte, Marbach 2007; Ulrich von Bülow/Heike Gfrereis/Ellen Strittmatter<br />

(Hrsg.), Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt, Marbach 2008; Deutsches<br />

Literaturarchiv Marbach (Hrsg.), Schicksal. Sieben mal sieben unhintergehbare Dinge,<br />

Marbach 2011.


Nicht-Lesen<br />

3<br />

das Ganze – oder zumindest in einem Teil schon alles, als unterzöge er es<br />

der extremen strukturalistischen Lektüre, die Roland Barthes an Balzac<br />

versucht, 6 oder erspähe das unendliche Buch, das Jorge Luis Borges immer<br />

wieder beschwört und das wir nur nicht sehen, weil wir vergessen: „strenggenommen<br />

würde ein einziger Band gewöhnlichen Formats, gedruckt in<br />

Corpus neun oder zehn, genügen, wenn er aus einer unendlichen Zahl<br />

unendlich dünner Blätter bestünde. (Cavalieri sagte zu Anfang des 17. Jahrhunderts,<br />

daß jeder feste Körper die Überlagerung einer unendlichen Zahl<br />

von Flächen ist.) Die Handhabung dieses seidendünnen Vademecums wäre<br />

nicht leicht; jedes anscheinende Einzelblatt würde sich in andere gleichgeartete<br />

teilen; das unbegreifliche Blatt in der Mitte hätte keine Rückseite.“ 7<br />

Gerade der Versuch, die Struktur des Textes zu erkennen, seine Ursprungsformel<br />

zu entschlüsseln und somit alles zu sehen und ihn dennoch<br />

punktgenau zu lesen, entzieht den Text der Lektüre und führt dazu, dass wir<br />

ihn nicht mehr lesen. Die Literatur entgleitet uns, je mehr wir sie begreifen<br />

wollen: „Denn das Lesen wird erst dort zum Vergnügen, wo unsere Produktivität<br />

ins Spiel kommt, und das heißt, wo Texte eine Chance bieten,<br />

unsere Vermögen zu betätigen.“ 8 „[D]er Vorgang des Schreibens schließt<br />

als dialektisches Korrelativ den Vorgang des Lesens ein, und diese beiden<br />

zusammenhängenden Akte verlangen zwei verschieden tätige Menschen.<br />

Die vereinte Anstrengung des Autors und des Lesers läßt das konkrete und<br />

imaginäre Objekt erstehen, das das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur<br />

für und durch den anderen.“ 9 Bei Hans-Georg Gadamer heißt es fünfzehn<br />

Jahre vor Wolfgang Iser, acht Jahre vor Roland Barthes’ La mort de l‘auteur<br />

und zwei Jahre vor Umberto Ecos Opera aperta: „Wie wir zeigen konnten,<br />

daß das Sein des Kunstwerks Spiel ist, welches sich erst mit der Aufnahme<br />

durch den Zuschauer vollendet, so gilt von Texten überhaupt, daß erst im<br />

Verstehen die Rückverwandlung toter Sinnspur in lebendigen Sinn geschieht.“<br />

10 „Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines<br />

Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern<br />

stets auch ein produktives Verhalten.“ 11<br />

Hermeneutisch problematisch ist, dass sich die Texte einer durchgängigen<br />

Lektüre entziehen, dass sie nicht auf einen Blick sichtbar und als Ganzes<br />

6<br />

Roland Barthes, S/Z, Frankfurt 1987, S. 7: „Mit Hilfe der Askese soll es manchen<br />

Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen.“<br />

7<br />

Jorge Luis Borges, Die Bibliothek von Babel, in: Ders., Erzählungen. 1933–1944,<br />

Gesammelte Werke Bd. 3/I, München 1981, S. 145–154, hier S. 154.<br />

8<br />

Iser, Der Akt des Lesens, S. 176.<br />

9<br />

Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur? Ein Essay, übers. von Hans Georg Brenner,<br />

Hamburg 1958, S. 35, zitiert bei Iser, Der Akt des Lesens, S. 176–177.<br />

10<br />

Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 169.<br />

11<br />

Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 301.


4 Heike Gfrereis<br />

unmittelbar verständlich sind, sondern erst in der Abwesenheit, im Nicht-<br />

Mehr‐ oder Noch-Nicht-Lesen als solches erscheinen und damit das Nicht-<br />

Lesen – das Produzieren von Texten, das Schreiben – unumgänglich Teil des<br />

Lesens ist: „Gewiß zeigt die Literatur und ihre Aufnahme in der Lektüre ein<br />

Höchstmaß an Entbundenheit und Beweglichkeit. Das bezeugt schon die<br />

Tatsache, daß man ein Buch nicht in einem Zuge zu lesen braucht, so daß<br />

das Daranbleiben eine eigene Aufgabe des Wiederaufnehmens ist, die im<br />

Anhören oder Anschauen kein Analogon hat.“ 12 Man muss etwas verstehen,<br />

was seine Referenz nur im Leser selbst hat und dort selten als festes und<br />

gebundenes Gegenüber gegenwärtig ist. Einen Text zu lesen, in der Hand<br />

zu halten, die Buchstaben mit den Augen zu verfolgen, Wörter zu formulieren,<br />

Sätze zu verstehen, ist die Ausnahme unsrer Literaturerfahrung,<br />

nicht der Regelfall. Wolfgang Isers Theorie des Lesens ist auch ein (sicher<br />

nicht bewusster) Versuch, dieses ‚Wiederaufnehmen‘ und das vorangehende<br />

Nicht-Lesen als notwendigen hermeneutischen Bestandteil des Lesens einzuführen<br />

und zugleich eine Technik zu entwickeln, die das Nicht-Lesen<br />

kontrolliert: „Wenn wir den Text pauschal als Ansammlung von Zeichen<br />

verstehen, so geschieht im Lesen ein ständiges Gruppieren solcher Zeichen,<br />

worin sich eine elementare Aktivität des Strukturierungsprozesses der Lektüre<br />

zum Ausdruck bringt. Gruppierungen verkörpern den Versuch, das<br />

zusammen zu sehen, was man im jeweiligen Lektüreausschnitt zu übersehen<br />

vermag, so daß das Lesen als ein Vorgang der Konsistenzbildung verläuft.“ 13<br />

Isers idealer Leser konstituiert den Text permanent neu, er blättert hin und<br />

her, liest auf der Stelle und kreuz und quer, aber nicht streng sukzessiv. Er<br />

verlässt den Text, um an einer anderen Stelle zu ihm zurückzukommen.<br />

Zusammensehen, „was man im jeweiligen Lektüreabschnitt zu übersehen<br />

vermag“, das heißt auch: alles andere nicht sehen, das Lesen abbremsen<br />

und beschleunigen, vergessen und vorausblättern. Der ideale Leser betreibt<br />

ein potenziertes Lesen, ein Lesen hoch drei, eine legitime, weil heuristisch<br />

motivierte Methode der Lektürevermeidung. „Diese Intellektuellen lesen<br />

ja nie ein Buch von vorne bis hinten, das machen eben nur Kinder wie wir,<br />

wie H. und ich“, steht 1975 in der Anthologie Erste Lese-Erlebnisse. 14 Wer<br />

schon besser lesen kann, so könnte man sagen, schreibt selber.<br />

12<br />

Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 166.<br />

13<br />

Wolfgang Iser, Der Lesevorgang. Eine phänomenologische Perspektive, in: Rainer<br />

Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 253–276,<br />

hier S. 264.<br />

14<br />

Gertrud Leutenegger, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt<br />

am Main 1972, S. 145–154, hier S. 145.


Nicht-Lesen<br />

5<br />

2. Lesen als ästhetischer Zustand<br />

Lesen heißt viel mehr als Lesen, bedeutet immer auch: Umgang mit dem<br />

Buch, Nicht-Verstehen und Herumblättern, Überblättern, Hängenbleiben,<br />

Abbrechen und Aussortieren, Langeweile, Übermüdung, nur noch Buchstaben<br />

sehen, Staub und Fliegen fortwischen, Weglegen und Wiederherholen,<br />

Über-einem-Buch-Einschlafen und Wieder-Aufwachen, ein<br />

„Lebensstil“, 15 in dem das Buch Gegenüber, Begleiter, manchmal Freund<br />

und manchmal Feind und unumgänglicher Teil der Welt ist. Je kleiner und<br />

zahlreicher die Bücher werden, je schneller und unkörperlicher das Lesen,<br />

was um 1800 der Fall ist, 16 desto mehr nehmen die Ablenkungen vom Lesen<br />

zu, wobei auch das laute Lesen diese zulässt und sogar noch provoziert: Wer<br />

ein Gedicht auf den Takt und Reim hin vorliest, versteht zunächst selten,<br />

was er liest. Erinnerungen an das Lesen – und nicht nur die eindruckvollsten<br />

darunter (diejenigen von Jean-Paul Sartre in Les mots) – erzählen immer<br />

auch vom Nicht-Lesen, vom Nicht-Lesen-Dürfen, ‐Wollen oder ‐Können.<br />

Lesen ist ein Übergangzustand, keine Tätigkeit. Es ist ein Wahrnehmen von<br />

Schwellen, ein immer wieder Ins-Lesen-Kommen und Aus-dem-Lesen-<br />

Treten. Man muss nur in den Ersten Lese-Erlebnissen blättern: „Bücher, die<br />

man immer wieder las, weil man sie vergaß wie einen Traum.“ 17 – „Ich war<br />

als Kind viel krank, und ich lag lange im Bett“. 18 – „Ich zerriß den Bindfaden<br />

und blies den Staub von den Büchern. Auf jedem der kartonierten<br />

Bände war dasselbe Deckelbild“. 19 – „Der geborene Leser, für den ich mich<br />

halte, hatte das Glück, schon bevor er lesen lernte und die Kraft erwarb, nie<br />

ganz verloren zu sein, Bücher geschenkt oder geliehen zu bekommen, sie in<br />

der Hand zu wiegen, sie rundherum zu stapeln, eine Burg nicht aus Sand,<br />

und eine literarische Welt, das unermeßliche Reich der Gedanken, der<br />

Phantasie und der energischen Gefühle neben oder über der Erde der vernünftigen<br />

Leute zu ahnen.“ 20 – „Das erste Lese-Erlebnis ist das hundertste<br />

Buch, oder das zweihundertunderste. Jeweils bleibt es sperrig stecken in der<br />

15<br />

Hannelore Schlaffer, Goethe und ein Ende – Lektüre und Lebensstil, Süddeutsche<br />

Zeitung, 10. Mai 2012.<br />

16<br />

Vgl. Erich Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des<br />

Lesers. Mentalitätswandel um 1800, Stuttgart 1987.<br />

17<br />

Ernst Bloch, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 17–18, hier S. 17.<br />

18<br />

Anna Seghers, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 19–22, hier S. 19.<br />

19<br />

Peter Huchel, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 25–33, hier S. 26.<br />

20<br />

Wolfgang Koeppen, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt<br />

am Main 1972, S. 34–42, hier S. 34.


6 Heike Gfrereis<br />

Erinnerung; manchmal nur wegen der befremdlichen Umstände, mit denen<br />

es verlorenging.“ 21 – „Wie es sich für ein Erlebnis gehört, sind auch jetzt<br />

noch alle Details gegenwärtig: ein sehr klarer Tag, indian summer, mit dem<br />

dicken Buch ging ich am Sportfeld vorbei, auf dem die Football-Mannschaft<br />

trainierte, dann ein Pfad in einem Waldstreifen am Rand des Campus,<br />

eine Wiese, ein Baum mitten auf dieser Wiese, unter diesen Baum setzte<br />

ich mich, blätterte in den rund 1600 Dünndruckseiten herum, las das erste<br />

Kapitel mit der Überschrift ‚Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht‘<br />

– schon hakte sich etwas fest.“ 22 – „[I]ch war plötzlich erstaunt, wie<br />

tief ich in die Geschichte eingedrungen war. Es war ein angenehmes Gefühl<br />

der Schwere, ein leichter Druck im Kopf, eine Müdigkeit, auf die ich stolz<br />

war, und dann wieder die Anstrengung und der Zwang weiterzulesen, um<br />

das körperlose Gefühl beim Tagträumen wiederzugewinnen: Das Sichselbstverlieren,<br />

eine andere Identität anzunehmen, WO ANDERS ZU<br />

SEIN, ohne dort zu sein“. 23 – „Mein größtes Lese-Erlebnis war ursprünglich<br />

das Nicht-Lesen. In meiner Kindheit und frühen Jugend verfügte ich<br />

nicht über Bücher und Sprache und Dichtung.“ 24 „[J]etzt denke ich oft,<br />

die Augen fallen mir aus und sind zu klein und zu schwach“. 25 – „Nimmt<br />

doch alles Gelesene in den frühen Jahren als Literatur nur einen schmalen,<br />

unscheinbaren Platz ein. Hingegen die Umstände, die Nachwirkungen sind<br />

das Erregende, das sich im Gedächtnis Ausbreitende.“ 26 Aus einer anderen<br />

Anthologie, Mein erstes Buch: „Der Bücherschrank der frühen Kindheit ist<br />

ein Begleiter des Menschen für sein ganzes Leben. Die Anordnung seiner<br />

Fächer, die Auswahl der Bücher, die Farbe der Buchrücken gilt ihm als die<br />

Farbe, Höhe und Anordnung der Weltliteratur“. 27 – „Wenig nur habe ich<br />

genau gelesen, bestimmte Stellen jedoch allzu eingehend und den Rest gerade<br />

so aus den Augenwinkeln … Ich blättere, überfliege; selten einmal lasse ich<br />

mich nieder, aber wenn, dann gründlich. […] Es genügt mir oft schon, in<br />

einem Buch zu blättern, damit ich dem Reiz nachgebe, mir zu denken, was<br />

21<br />

Uwe Johnson, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 107–110, hier S. 107.<br />

22<br />

Dieter Kühn, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 111–118, hier S. 112.<br />

23<br />

Gerhard Rothe, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 119–121, hier S. 119.<br />

24<br />

Karin Struck, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 133–144, hier S. 133.<br />

25<br />

Struck, in: Erste Lese Erlebnisse, S. 134.<br />

26<br />

Leutenegger in: Erste Lese-Erlebnisse, S. 145.<br />

27<br />

Ossip Mandelstam, Der Bücherschrank, in: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.), Mein<br />

erstes Buch. Autoren erzählen vom Lesen, Frankfurt am Main 2002, S. 13–16, hier S. 13.


Nicht-Lesen<br />

7<br />

darin stehen mag.“ 28 – „Oft nahm ich das Buch mit heim und hielt es noch<br />

in der Hand, wenn ich einschlief “. 29<br />

Lesen, das ist auch und nicht selten: mit dem Buch einschlafen. In vielen<br />

Religionen ist Lesen ein ritueller Akt, der sehr viel mehr ist als nur Entziffern,<br />

was da steht. Die Bibel, der Talmud oder der Koran entfalten – wie<br />

Reliquien und Monstranzen, die nur an Festtagen gezeigt werden – ihre<br />

Macht auch da, wo sie nicht gelesen werden. Ihre Anschauung und selbst<br />

ihre durch ihren Verschluss verstärkte Gegenwärtigkeit genügen, um an<br />

ihnen teilzuhaben, ohne in ihnen zu lesen. Der gute Rat, es genüge, ein<br />

Buch unter das Kopfkissen zu legen, um zu wissen, was darin stehe, bewahrt<br />

diese Vorstellung noch. „Stimmungen des Lesens“, wie sie Hans Ulrich<br />

Gumbrecht beschreibt – dieses Als-ob-man-von-innen-berührt-werde –, 30<br />

sind nicht an die Lektüre eines konkreten Textes gebunden, sondern an die<br />

Umgebung des Buchs und der Literatur. Lesen und Vorlesen sind nicht die<br />

einzigen kulturellen Praktiken, in denen sich die Literatur, die Welt der<br />

Schrift, der Geschichten und der Ideen erfüllt. Der Leser Borges entdeckt<br />

das unendliche Buch, das alle anderen enthält, durch Abschweifen, durch<br />

die Erinnerung an Lektüren, durch ein Leben mit Büchern, das sich nicht<br />

auf das Lesen begrenzt. 31 Eine der schönsten Liebesgeschichten des Mittelalters,<br />

jene von Paolo und Francesca, beginnt in Dantes Divina Commedia<br />

mit dem Lesen und endet damit, dass die Liebenden das Lesen vergessen<br />

und selbst Literatur werden:<br />

Wir lasen einst zur Kurzweil, wie die Minne<br />

Den Lanzelot bestrickt in ihren Banden;<br />

Wir waren einsam, sonder Arg im Sinne.<br />

Bei diesem Lesen oft einander fanden<br />

Die Augen sich, entfärbten sich die Wangen;<br />

Doch eines wars, wo wir nicht widerstanden:<br />

Die Stelle, wo dem liebenden Verlangen<br />

Ersehnten Kusses lächelnd ward Gewähr.<br />

Da küßt’, an dem ich ewig werde hangen,<br />

28<br />

Paul Valéry, Fragereiz, in: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.), Mein erstes Buch. Autoren<br />

erzählen vom Lesen, Frankfurt am Main 1972, S. 129–130, hier S. 129.<br />

29<br />

Ilse Aichinger, Der Engländer im Wiener Klosterinternat, in: Hans Jürgen Balmes<br />

(Hrsg.), Mein erstes Buch. Autoren erzählen vom Lesen, Frankfurt am Main 1972,<br />

S. 135–137, hier S. 137.<br />

30<br />

Hans Ulrich Gumbrecht zitiert Tony Morrison: „touched like from inside“ (Hans<br />

Ulrich Gumbrecht, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur,<br />

München 2011, S. 3.).<br />

31<br />

Vgl. Heinz Schlaffer, Borges, Frankfurt am Main 1993, S. 7–13.


8 Heike Gfrereis<br />

Da küßte bebend meinen Mund auch Er.<br />

Verführer war das Buch und ders verfaßte –<br />

An jenem Tage lasen wir nicht mehr. 32<br />

3. Sich lesen<br />

Man muss wissen, was Lesen ist und was ein Buch, Erinnerungen haben an<br />

Namen und Geschichten, Zustände, Stimmungen und Atmosphären des<br />

Lesens, aber man muss nicht lesen, um der Literatur und den Büchern zu<br />

sich selbst zu verhelfen. Dazu gibt es auch andere Wege. Pierre Bayard hat<br />

das in Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat zugespitzt und<br />

die Arten des Nichtlesens rubriziert: „Bücher, die man nicht kennt“ 33 –<br />

„Bücher, die man quergelesen hat“ 34 – „Bücher, die man vom Hörensagen<br />

kennt“ 35 – „Bücher, die man vergessen hat“ 36 . Die letzte von ihm im Fall<br />

der Nichtlektüre „empfohlene Haltung“ 37 ist: „Von sich sprechen in dem<br />

man mit Oscar Wilde zur Schlussfolgerung gelangt, dass die angemessene Lesedauer<br />

eines Buches zehn Minuten beträgt, da man sonst vergessen könne, dass die Begegnung<br />

mit einem Text hauptsächlich eine Anregung ist, seine Autobiografie zu<br />

schreiben“. 38<br />

Damit schließt sich der Kreis zum Lesen, wie es sich in den Marbacher<br />

Büchern und den Erzählungen vom Lesen findet und wie er auch ohne<br />

Lesen vorkommen kann, als Erscheinung einer ästhetischen Gestimmtheit<br />

oder eines Denkprozesses: Lesen ist ein Zustand zwischen Sich-Vergessen<br />

und Sich-Finden. Heideggers intensive, nicht extensive Lektürespuren markieren<br />

die Arbeit an der Grenze, sie rücken den primären Text weg vom<br />

Leser, legen Schichten (oder mit Borges: Blätter) dazwischen, sie positionieren<br />

aber auch den Leser im Text, helfen ihm, ihn für sich zu verstehen. Die<br />

Energie des Lesers ist immer auch auf sich selbst und seine Beziehung zur<br />

Welt gerichtet, ganz in der etymologischen Bedeutung von legere: sammeln,<br />

auswählen, lesen und der Urverwandtschaft von read: erraten. Wer liest, gibt<br />

der Schrift seine Stimme, den Wörtern seine Ohren und den Sätzen seine<br />

Augen. Er kommt ins Denken und Schreiben, liest dann aber auch nicht<br />

32<br />

Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. von Karl Bartsch, Wiesbaden<br />

2010, S. 66.<br />

33<br />

Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, übers.<br />

von Liz Künzli, München 2007, S. 21.<br />

34<br />

Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 33.<br />

35<br />

Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 52.<br />

36<br />

Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 69.<br />

37<br />

Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 141.<br />

38<br />

Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, S. 199.


Nicht-Lesen<br />

9<br />

mehr nur den Text. Der ‚Sinn‘ in Gadamers Satz „Lesendes Verstehen ist<br />

nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem<br />

gegenwärtigen Sinn“ 39 liegt im Leser selbst. Lesen ist Sich-Selbst-Finden:<br />

„Schriftlichkeit ist Selbstentfremdung. Ihre Überwindung, das Lesen des<br />

Textes, ist also die höchste Aufgabe des Verstehens.“ 40 Martin Walser greift<br />

bei seinen Lese-Erinnerungen auf Marcel Proust zurück: „Bei Proust las<br />

ich später, ein Leser sei, wenn er liest, ‚ein Leser seiner selbst‘. Das Werk<br />

des Schriftstellers sei ‚dabei lediglich eine Art von optischem Instrument,<br />

das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich<br />

selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.‘ […] Manchmal wird<br />

dann aus einem Gedicht eine Lebens‐ und Zeitlandschaft, und wenn man<br />

es wieder liest, ist man wieder dort, wo man auf keinem anderen Weg mehr<br />

hinkommen könnte, und jetzt beim Wiederlesen ist man vielleicht noch<br />

mehr dort als damals, man weiß jetzt ein bißchen besser, warum einem das<br />

Gedicht damals so gut in den eigenen Kram paßte“. 41<br />

Lesen ist Zeitvertreib, Sich-Vergessen auf der einen Seite und Sich-Gemeint-Fühlen<br />

auf der anderen. „Der Leser beginnt einen Dialog mit dem<br />

Autor und, im Falle der liebsten und wesentlichsten Bücher, den Dialog<br />

mit sich selbst“, führt Siegfried Unseld in die Ersten Lese-Erlebnisse ein. 42<br />

Lesen ist in der Erinnerung und Vorahnung gegenwärtig und auch nur hier<br />

eine ganz glückliche, ungestörte Erfahrung. Wenn wir lesen, so werden wir<br />

immer wieder dabei gestört, wir können keinen ganzen Text mit ein und<br />

derselben Aufmerksamkeit, Intensität und Faszination lesen, mit demselben<br />

Grad der Ich-Vergessenheit und des Bei-Sich-Seins lesen, selbst wenn wir<br />

ihn ‚verschlingen‘. Wir blenden dann bewusst immer wieder Zeit und<br />

Raum und die Bedürfnisse des Körpers aus. Die ästhetische Erfahrung<br />

des Lesens und Betrachtens hat ebenso ihre Grenzen wie das Verstehen:<br />

„knappe Zeit, äußere Störung, innere Zerstreutheit“. 43 So gesehen ist weder<br />

das Lesen noch das Betrachten von Kunst einem historischen Wandel unterworfen,<br />

der Wandel ist Folge einer Idealisierung, eines ewigen Traums vom<br />

idealen Lesen, das es nicht gibt: „Walter Benjamin hat zerstreute Wahrnehmung<br />

als Folge der modernen Massen sowie ihrer Medien erklärt und<br />

ihnen die Versenkung ins originale Kunstwerk entgegengehalten, wie sie<br />

39<br />

Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 396.<br />

40<br />

Gadamer, Wahrheit und Methode, GW 1, S. 394.<br />

41<br />

Martin Walser, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt am<br />

Main 1972, S. 79–90, hier S. 89.<br />

42<br />

Siegfried Unseld, in: Siegfried Unseld (Hrsg.), Erste Lese-Erlebnisse, Frankfurt<br />

am Main 1972, S. 9–13, hier S. 13.<br />

43<br />

Heinz Schlaffer, Flüchtige Wahrnehmung von Kunst. Ein Adonisfest in Alexandrien,<br />

in: Merkur, Nr. 710, Juli 2008, S. 555–564, hier S. 561.


10 Heike Gfrereis<br />

früher (wann war das wohl?) Sitte gewesen sei. […] Vermutlich ist es nicht<br />

einem historischen Wandel, sondern der menschlichen Grundausstattung<br />

geschuldet, wenn selbst so auffällige und bedeutsame Sinnbilder, wie die<br />

Kunst sie geschaffen hat, nur flüchtig bemerkt werden. Zur Meditation ist<br />

nicht jeder fähig, weshalb sich dafür die Spezialberufe des Mönchs und des<br />

Kunstgelehrten herausgebildet haben. Beider Tätigkeit orientiert sich an<br />

der erst spät erfundenen Technik der Schrift. Lesen erfordert, im Unterschied<br />

zum Sehen, Konzentration und Ausdauer.“ 44<br />

Lesen, dieses Sich-Vergessen und Anders-Finden, ist der Traum dessen,<br />

der gerade nicht liest. Das Nicht-Lesen ist seine Voraussetzung, aber auch<br />

seine höchste Erfüllung. Die poetischen Existenzen, die die Literatur selbst<br />

entwirft – alles deutliche Gegenbilder zum Mönch, Kunstgelehrten und<br />

Literaturwissenschaftler: Musensöhne, göttliche Kinder, Abenteurer und<br />

Taugenichtse, Dandys und Bohemiens –, lesen nicht. Sie sind ganz bei<br />

sich, weil sie in sich aufgehen. Eichendorffs Taugenichts und Goethes<br />

Mignon können nicht lesen, die letzte stirbt gar, als sie es dann lernt. Der<br />

Musensohn pfeift, was er im Blut hat, nicht, was er liest. Sein Lindenbaum<br />

ist ohne Lesezeichen und dennoch scheint er uns einen Idealzustand des<br />

Lesens vorzuführen:<br />

Durch Feld und Wald zu schweifen,<br />

Mein Liedchen wegzupfeifen,<br />

So geht’s von Ort zu Ort!<br />

Und nach dem Takte reget,<br />

Und nach dem Maß beweget<br />

Sich alles an mir fort.<br />

Ich kann sie kaum erwarten,<br />

Die erste Blum’ im Garten,<br />

Die erste Blüt’ am Baum.<br />

Sie grüßen meine Lieder,<br />

Und kommt der Winter wieder,<br />

Sing’ ich noch jenen Traum.<br />

Ich sing’ ihn in der Weite,<br />

Auf Eises Läng’ und Breite,<br />

Da blüht der Winter schön!<br />

Auch diese Blüte schwindet,<br />

Und neue Freude findet<br />

Sich auf bebauten Höhn.<br />

Denn wie ich bei der Linde<br />

Das junge Völkchen finde,<br />

Sogleich erreg’ ich sie.<br />

44<br />

Schlaffer, Flüchtige Wahrnehmung von Kunst, S. 561.


Nicht-Lesen<br />

11<br />

Der stumpfe Bursche bläht sich,<br />

Das steife Mädchen dreht sich<br />

Nach meiner Melodie.<br />

Ihr gebt den Sohlen Flügel,<br />

Und treibt durch Tal und Hügel<br />

Den Liebling weit von Haus.<br />

Ihr lieben holden Musen,<br />

Wann ruh’ ich ihr am Busen<br />

Auch endlich wieder aus? 45<br />

Summary<br />

One has long assumed that reading amounts to the fulfillment of literature. It arises and is<br />

actualized in the reader. Yet this view omits the fact that a not-reading attaches to every<br />

reading, and that not-reading is a necessary element in the analysis and the understanding<br />

of literature. Thus, one could conversely state: the prerequisite for the understanding of<br />

literature is not-reading.<br />

Zusammenfassung<br />

Lesen, davon ist man lange ausgegangen, ist die Erfüllung der Literatur. Sie entsteht und<br />

realisiert sich erst im Leser. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass zu jedem Lesen das<br />

Nicht-Lesen gehört und sogar notwendiges Element der Analyse und des Verstehens von<br />

Literatur ist. Umgekehrt ließe sich daher sagen: Die Voraussetzung für das Verstehen von<br />

Literatur ist das Nicht-Lesen.<br />

45<br />

Johann Wolfgang von Goethe, Der Musensohn, in: Sämtliche Werke. Briefe,<br />

Tagebücher und Gespräche, Frankfurter Ausgabe in 40 Bänden, Band 1 (Gedichte<br />

1756–1799), hrsg. von Karl Eibl, Frankfurt am Main 1987, S. 644.


12<br />

Ovid liest Klassiker<br />

von<br />

Bernhard Zimmermann (Universität Freiburg)<br />

1.<br />

Wenn man die antike, griechisch-römische Literatur unter der Fragestellung<br />

des Lesens betrachtet, denkt man natürlich zunächst an die am Paradigma<br />

des frühgriechischen Epos, an Homer und Hesiod, sowie an der<br />

archaischen Lyrik entfachte Diskussion über oral poetry, über das Verhältnis<br />

von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in dieser frühen Phase griechischer<br />

Literatur. Man denkt vielleicht weniger an die römische Literatur, obwohl<br />

gerade deren Beginn im Jahre 240 v. Chr. dazu Anlass gibt, als ein als<br />

freigelassener Sklave in Rom lebender Grieche namens Livius Andronicus<br />

im Auftrag der für den Festbetrieb in der Stadt zuständigen Beamten ein<br />

Drama aus dem Griechischen ins Lateinische übertrug – später ließ er eine<br />

Übersetzung der homerischen Odyssee folgen – und damit den Beginn der<br />

römischen Literatur einleitete. Die nachfolgenden römischen Tragiker und<br />

Komödiendichter – Plautus, Terenz, Naevius, Ennius, Pacuvius und Accius,<br />

um nur einige wenige zu nennen – verfuhren in ähnlicher Weise. Sie übertrugen<br />

griechische Originale ins Lateinische, wobei bis heute extensiv und<br />

kontrovers der Grad der Freiheit diskutiert wird, den sich die Römer bei<br />

ihren Bearbeitungen nahmen.<br />

Römische Autoren sind also von Anfang an ‚lesende Dichter‘, die sich<br />

mit griechischer Literatur auseinandersetzten und aus dieser Auseinandersetzung<br />

im Verlauf kurzer Zeit eine eigene Literatursprache schufen und<br />

die wichtigsten Gattungen der Griechen in Rom heimisch machten, und<br />

sie bleiben – vor allem in augusteischer Zeit – lesende Dichter, die mit<br />

einem an der alexandrinischen Literaturtheorie geschulten theoretischen<br />

Bewusstsein der griechischen eine qualitativ genauso hochstehende lateinische<br />

Literatur an die Seite stellen wollten. Als poetae docti schrieben sie für<br />

ebenso literarisch gebildete Leser. Die Werke eines Vergil und Horaz, eines<br />

Properz oder Tibull sind Palimpseste ganz im Sinne Genettes, sie enthalten<br />

eine Vielzahl von Prätexten, die die Autoren zu einem neuen Ganzen


Ovid liest Klassiker<br />

13<br />

zusammenfügen. Prätext und neuer Text stehen dabei in einer spannungsreichen<br />

Beziehung: Die Prätexte tragen entscheidend zum Sinn des neuen<br />

Werkes bei und können ihrerseits in dem neuen Zusammenhang eine neue<br />

Deutung erhalten. Viele dieser Prätexte sind für uns heute nicht mehr<br />

greifbar, so dass einige der Schichten des Palimpsests für uns unentschlüsselt<br />

bleiben müssen, ohne dass wir dies überhaupt bemerken. Wir müssen uns<br />

also immer bewusst sein, dass uns Dimensionen antiker Texte aufgrund des<br />

bruchstückhaften Erhaltungszustandes der griechisch-römischen Literatur<br />

verschlossen bleiben müssen.<br />

In besonderer Weise kann man Ovid als lesenden Dichter bezeichnen. Er<br />

steht am Ende der augusteischen Periode – er stirbt im Exil am Schwarzen<br />

Meer um 17 n. Chr. – und blickt somit sowohl auf eine eigene römische<br />

Klassik als auch auf die exemplaria Graeca, die als vorbildhaft angesehene<br />

griechische Literatur, zurück. Man könnte in allen seinen Werken die<br />

produktive Lektüre griechischer und lateinischer Werke nachzeichnen, besonders<br />

deutlich allerdings an den Heroides.<br />

2.<br />

Die Heroides sind eine Sammlung von 15 poetischen Briefen, die – mit<br />

Ausnahme des 15. Briefes – aus dem Mythos bekannte Frauen an ihre abwesenden<br />

Ehemänner oder Geliebten schreiben. Der 15. Brief – Sappho<br />

an Phaon – ist in seiner Authentizität in der Forschung umstritten. 1 In<br />

den Heroides spielen mehrere Dominaten und Subdominanten zusammen:<br />

Durch die metrische Form des elegischen Distichons werden die poetischen<br />

Briefe der Gattung Elegie zugewiesen. 2 Dies wird auf der inhaltlichen<br />

Ebene durch die ständige Verwendung elegischer ‚termini technici‘ und<br />

elegischer Vorstellungen wie der Liebe als Wahn und Raserei (insania,<br />

furor amoris), der Liebe als verzehrender Flamme (urere) sowie der Liebe als<br />

Sklaven‐ oder Kriegsdienst (servitium amoris, militia amoris) verstärkt. Als<br />

Subdominante kommt die Form sowohl des Briefes und des dramatischen<br />

Monologs als auch der tragischen Klage, des Threnos, hinzu. Da Ovid<br />

schließlich seine schreibenden Frauen der Mythologie entlehnt, erschließt<br />

sich für den zeitgenössischen Leser eine weitere Dimension: der Mythos<br />

und vor allem die literarischen Bearbeitungen des jeweiligen Mythos in den<br />

1<br />

Zur Diskussion vgl. Peter E. Knox, Ovid. Heroides. Select Epistles, Cambridge<br />

1995, S. 86–315, hier S. 278–315.<br />

2<br />

Man muss sich immer wieder vergegenwärtigen, dass für den Rezipienten der Antike<br />

zunächst das Metrum das visuelle und akustische Signal der Gattungszuordnung abgab.


14 Bernhard Zimmermann<br />

verschiedenen literarischen Gattungen, insbesondere in der Tragödie und<br />

des Epos, auf die der Brief Ovids anspielen könnte.<br />

Doch zunächst sind einige allgemeine Worte zu Ovid als Elegiker vonnöten.<br />

Man kann drei Gruppen elegischer Dichtungen im Oeuvre Ovids<br />

unterscheiden: die Liebesdichtungen – Amores (Liebeselegien in der Nachfolge<br />

des Gallus, Tibull und Properz), Heroides, Ars amandi (Liebeskunst),<br />

Remedia amoris (Heilmittel gegen die Liebe) und im weiteren Sinne die<br />

Medicamina (Kosmetikhandbüchlein) –, die Verbannungsdichtungen – Tristia<br />

(Trauergedichte), Epistulae ex Ponto (Briefe vom Schwarzen Meer) und<br />

Ibis (ein Spottgedicht) – und als einen erratischen Block die Fasten (Festkalender).<br />

Ovid spielt in diesen drei Gruppen die Möglichkeiten durch, die<br />

nach dem antiken Verständnis die Gattung Elegie bietet. In der Gruppe der<br />

Liebesdichtungen führt er, wie er an zahlreichen Stellen betont, die typisch<br />

römische Form der subjektiven Liebeselegie in vielfältiger Weise zur Vollendung.<br />

In der Verbannungsdichtung, in den Tristia und den Epistulae ex<br />

Ponto, isoliert er ein Element, das seit den frühen griechischen Elegikern<br />

mit der Gattung verbunden ist und auch in einer falschen Etymologie des<br />

Wortes „Elegie“ seinen Niederschlag findet: das Element der Klage – Elegie<br />

wurde von dem griechischen ἒ λέγειν (wehklagen) abgeleitet. Einen Vorläufer<br />

dieser speziellen Form finden wir im 3. Buch der Amores im Nachruf<br />

auf Tibull, in dem die personifizierte Gattung Elegie angerufen wird,<br />

ganz ihrem Namen gemäß in die Klagen um den toten Dichterkollegen<br />

einzustimmen. 3 Im Ibis erweitert Ovid die Klage des Verbannten um das<br />

Element der Verfluchung (Schetliasmos) eines einflussreichen, anonymen<br />

Feindes, den er in Rom hat. In den Fasten schließlich schließt er sich den<br />

aitiologischen Dichtungen des Kallimachos an, die Properz in Rom heimisch<br />

gemacht hatte.<br />

Auffallend ist, dass Ovid in allen elegischen Dichtungen versucht, verschiedene<br />

Rollen, verschiedene personae, durchzuspielen: In den Amores<br />

mimt er – ganz in der Tradition der römischen Liebeselegie – den seiner<br />

Herrin Corinna ergebenen elegischen Liebhaber. In der Ars amandi, den<br />

Remedia amoris und den Medicamina übernimmt er in der Tradition der<br />

Lehrdichtung die Rolle des mit Autorität ausgestatteten magister amoris und<br />

praeceptor cultus, des Lehrers der Liebe und der Kultur, der unabdingbaren<br />

Voraussetzung der Liebe; in den Fasten schlüpft er in die Rolle des, wenn<br />

man so will, Fremdenführers durch Roms Festkalender, eine Rolle, die Properz<br />

im 4. Buch seiner Elegien vorgeprägt hatte. In den Tristia und Epistulae<br />

3<br />

Ovid, Amores III 9, 3–4.: Flebilis indignos, Elegia, solve capillos / A! nimis ex vero nunc<br />

tibi nomen erit – „Tränenreiche Elegie, löse deine Haare, die es nicht verdient haben. Weh!<br />

Allzusehr der Wahrheit entsprechend wirst du deinen Namen jetzt tragen.“ Die Übersetzungen<br />

aus dem Lateinischen stammen vom Verfasser.


Ovid liest Klassiker<br />

15<br />

ex Ponto schließlich wird die Elegie zum Ausdruck der Klage, ja, man ging<br />

sogar soweit, auch in der Klage ein Rollenspiel zu sehen und deshalb Ovids<br />

Verbannung ans Schwarze Meer, ans Ende der Welt als literarische Fiktion<br />

abzutun. 4<br />

Aus dieser Reihe fallen, was die Erzählhaltung und das Rollenspiel des<br />

Dichters angeht, die Heroides ganz und gar heraus: In ihnen sprechen die<br />

verlassenen Frauen direkt zu uns, in personaler Erzählweise teilen sie sich<br />

mit. 5 Sie sind also schon unter narratologischen Gesichtspunkten ein literarisches<br />

Experiment: Sie sind der Versuch, unmittelbar, ohne die Zwischeninstanz<br />

eines wie auch immer gearteten Erzählers in geradezu dramatischer<br />

Weise die Situation der Frauen darzustellen.<br />

Das literarische Experiment findet dabei in einem steten Zusammenspiel<br />

zwischen poeta doctus und lector doctus auf mehreren Ebenen statt: Durch die<br />

metrische Form, das elegische Distichon, verweist Ovid den römischen<br />

Leser zunächst auf die Basisgattung, 6 die Liebeselegie mit ihren bekannten<br />

Situationen und Begriffen wie der Liebe als Sklaven‐ und Kriegsdienst; dem<br />

Liebhaber wird – in der für die römische Elegie typischen Um‐ oder Neubewertung<br />

traditioneller Begriffe – ein Treueschwur (fides) auf ewig abverlangt,<br />

der ihn zu einem ewigwährenden Bündnis (foedus aeternum) seinem<br />

Mädchen (puella) gegenüber verpflichtet, die er als seine Herrin, als seine<br />

domina, ansieht. Vor diesem Hintergrund gewinnen gewisse inhaltliche Besonderheiten<br />

der Heroides ihren eigenen Reiz: Wirbt in der Liebeselegie der<br />

Mann um seine Geliebte, ist das Verhältnis in den Heroides umgekehrt. Hier<br />

bemüht sich die Frau um den Mann. Dadurch geraten unweigerlich die<br />

dem Leser aus den Liebeselegien bekannten Begriffe in ein anderes, häufig<br />

ironisch gefärbtes Licht. Exempli gratia sei auf den 4. Brief, das Liebeswerben<br />

Phaedras um den spröden Hippolytus, verwiesen. Gleich im zweiten<br />

Vers bezeichnet sich Phaedra mit dem aus den Amores geläufigen Begriff<br />

als puella, als Mädchen, das gerade seine ersten Liebeserfahrungen macht, 7<br />

obwohl klar ist, dass sie um einiges älter als Hippolytus ist und bereits zwei<br />

Kinder von Theseus hat.<br />

Eine starke Spannung besteht zwischen Form und Inhalt: Zur leichten<br />

elegischen Kleinform passen ganz und gar nicht die schreibenden Personen,<br />

die mit Ausnahme Sapphos aus den hohen Gattungen Epos und Tragödie<br />

stammen. Das heißt: In den Heroides werden Personen der erhabenen li-<br />

4<br />

Vgl. gegen diese immer wieder durch die Forschung geisternde Meinung zuletzt<br />

überzeugend Niklas Holzberg, Ovid. Dichter und Werk, München 1997, S. 36.<br />

5<br />

Zum monologischen Charakter der Heroides vgl. zuletzt Ulrike Auhagen, Der<br />

Monolog bei Ovid, Tübingen 1999, S. 63–92.<br />

6<br />

Vgl. Friedrich Spoth, Ovids Heroides als Elegie, München 1992.<br />

7<br />

Vgl. Ovid, Heroides 4, 21–24.


259<br />

Namenverzeichnis<br />

Adonis 72<br />

Adorno, Theodor W. 220–256<br />

Aeneas 20–22, 24<br />

Agamedes 30<br />

Ambrosius von Mailand 47<br />

Anselm von Canterbury 51<br />

Aquin, Thomas von 51<br />

Aristoteles 47, 52–53, 57<br />

Augustinus von Hippo 47, 50–51<br />

Bartleby 94–95, 101, 103–105<br />

Bayard, Pierre 8<br />

Benjamin, Walter 106<br />

Bonaventura 51<br />

Bourignon, Antoinette 136<br />

Carson, Anne 61, 65<br />

Circe 31<br />

Cosmus, Oliver 168<br />

Culler, Jonathan 110–111<br />

Davis, Colin 112, 114, 117, 125<br />

Deleuze, Gilles 137<br />

Derrida, Jacques 220–256<br />

Descartes, René 128<br />

Dido 19–25<br />

Eco, Umberto 57<br />

Euripides 64–65<br />

Faye, Jan 115<br />

Fichte, Johann Gottlieb 171–172, 176–177<br />

Figal, Günter 36<br />

Gadamer, Hans-Georg 1, 3–4, 9, 53, 55, 57,<br />

110, 116–117, 120–121, 123<br />

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 33–34,<br />

118, 124, 147, 152–154, 157–158, 162,<br />

173, 196–219<br />

Heidegger, Martin 50, 52, 58–59, 61, 74,<br />

147 –164, 182–195, 221<br />

Hobbes, Thomas 126–128<br />

Hölderlin, Friedrich 81<br />

Hume, David 55<br />

Husserl, Edmund 128–129, 133, 137–146,<br />

184, 204<br />

Ion 95, 101<br />

Iser, Wolfgang 1, 3–4<br />

Kant, Immanuel 32–33, 120–121, 129–137,<br />

142, 145–146, 149, 165–171, 177, 181<br />

Keiling, Tobias 180<br />

Lacan, Jacques 119<br />

Leibniz, Gottfried Wilhelm 104<br />

Levinas, Emmanuel 173<br />

Lysias 64, 67–71, 75<br />

Marion, Jean-Luc 50<br />

Marx, Karl 223<br />

Meister Eckhart 51<br />

Midas 70–71<br />

Milbank, John 121<br />

Nietzsche, Friedrich 27–34, 35–45, 59, 81,<br />

104<br />

Odysseus 31<br />

Pascal, Blaise 136<br />

Pausanias 30<br />

Phaedrus 61–62, 64, 67–71, 73, 75<br />

Philon von Alexandria 50–51<br />

Platon 31, 36, 47, 61–62, 64–76<br />

Properz 14, 25<br />

Proust, Marcel 137<br />

Redding, Paul 118–119<br />

Robespierre, Maximilien de 32<br />

Rousseau, Jean-Jacques 32, 252<br />

Sartre, Jean-Paul 3<br />

Scheler, Max 182–185<br />

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 171–172


260 Namenverzeichnis<br />

Schmidt, Dennis 70, 72<br />

Schnell, Alexander 171–172, 178<br />

Sokrates 37, 45, 63, 66–76<br />

Spinoza, Baruch de 52<br />

Steiner, George 109<br />

Svenbro, Jesper 63–64, 75<br />

Trophonios 30–31<br />

Vattimo, Gianni 116<br />

Vergil 19, 21<br />

Wagner, Richard 45<br />

Wright, Dale 113<br />

Žižek, Slavoj 109, 115, 117–122, 124–125<br />

Zeus 30


Sachverzeichnis<br />

7. Brief 19–20, 24<br />

abandonment 96–97, 101<br />

abandonment of being 106, 108<br />

Abschied 85<br />

abyss 33<br />

actuality 103<br />

Affektion 144–146<br />

agent provocateur 110–111, 114–115, 120,<br />

122, 124<br />

Akt 187<br />

alphabet 61–65, 75–76<br />

alter ego 140<br />

Anfang 138–142<br />

announce 107<br />

announcement 95, 97<br />

Anthropologie 189<br />

Appräsentation 140<br />

a priori 121<br />

Ästhetik 147–148, 152, 157, 162<br />

attunement 88<br />

Aufhebung 34<br />

Äußerlichkeit 140–141, 143, 146<br />

Ausstehen 179<br />

author 49<br />

Autonomie 148–149, 160–161, 163<br />

Autorität 209<br />

avant-garde 110<br />

axioms, hermeneutical 116<br />

ban 96, 100–101<br />

Bedenklichste(s) 177–180<br />

beginning 81<br />

being in the world 61–62<br />

being singular plural 95, 99<br />

being with 95, 99<br />

beingless 85<br />

Berührung 132<br />

constructivism, phenomenological 116–117, 122,<br />

124<br />

contradiction 33–34<br />

creation 103–105<br />

credibility 114–115, 122<br />

critical edition 59<br />

Dank 233<br />

dead 62, 65, 69, 71, 75<br />

decreation 103, 108<br />

desire 66, 70, 72–74<br />

Destruktion 201<br />

Dialektik 40<br />

Differenz (difference) 85, 129, 132<br />

Ding 185<br />

Ding an sich 131, 133<br />

dionysisch/Dionysos 37, 41–42<br />

dispropriation 86<br />

divine dispensation 98<br />

divine force 98<br />

divine power 96–97<br />

double 29–30<br />

downgoing 82–84<br />

economy 28<br />

ego 128, 137–139, 141, 144–145<br />

ego cogito 127<br />

εἴδωλον 71, 75<br />

Einbildungskraft 1<br />

Elegie 14<br />

Endlichkeit 130<br />

enthusiasm 96<br />

Entwindung 84<br />

equivocality 89<br />

Erde 156, 159–162<br />

Ereignis 77–78<br />

Erkenntnis 132–133, 148, 157<br />

Ermöglichung 171–172, 174–176<br />

Erscheinung 167–170<br />

event 77, 85, 92<br />

excess 109–110, 112–114, 116, 122, 124<br />

explication 95<br />

falsification 119<br />

fore-structure of understanding 87<br />

Form 13, 15, 16–18<br />

Frage 37–39, 43–45


262 Sachverzeichnis<br />

Freiheit 131, 134<br />

Freitod 240<br />

Fremdheit 215<br />

Fuge 78–79<br />

fundamentalism 48<br />

Gabe 221<br />

garden 61, 72–75<br />

garden of letters (γράμμασι κήπους) 61, 73<br />

Gastfreundschaft 239<br />

Gebrauchswert 242<br />

Geburt 141<br />

Gegenwart 197<br />

Geschehen 211<br />

Geschichtlichkeit 214<br />

glossolalia 95<br />

God 50<br />

ground 31–32, 92, 106<br />

Habitualitäten 205<br />

hermeneutic reading 80, 86–87<br />

Hermeneutik (hermeneutics) 57–58, 109–120,<br />

122, 124–125, 199<br />

hermeneutischer Zirkel 214<br />

Heroides 13–23<br />

historical-critical 47<br />

historicality 47<br />

horizon 52, 111, 113, 116, 118, 123–124<br />

humanities 114–116, 121, 123–125<br />

Ich 135, 139<br />

Identitätsdenken 225<br />

identity 56<br />

Illusion (illusion) 56, 137<br />

imagination 56<br />

inception 83<br />

inceptual 81<br />

inceptual saying 88<br />

inceptual thinking 90<br />

in-common 106<br />

Indifferenz 143<br />

Individuierung 141–142, 145<br />

Individuum 127<br />

Innestehen 179<br />

Inszenierung 36<br />

interpretation 109–112, 114–117, 120,<br />

122–125<br />

inventive thinking 81<br />

Ironie 44<br />

junctures 78–79<br />

Kinästhese 144<br />

Kindheit 138, 140, 142<br />

Klassizität 212<br />

knowledge 117, 120–121<br />

Konstitution 140<br />

Kontingenz (contingency) 93, 101, 105, 145,<br />

165–166, 172, 176, 178–180<br />

Kontinuität 212<br />

Kritik 35, 40–42<br />

Kunst 39<br />

Kunstwerke 147, 149–151, 153–162<br />

language 55, 61, 63, 70–71, 73–74, 109–110,<br />

112, 114–115, 117–118<br />

leap 83<br />

Leib 141–142<br />

Leitmotiv 16<br />

Leser (s.a. reader) 25<br />

letter 61, 63–66, 73<br />

Lichtung 154–156<br />

Liebe 14–16, 25<br />

linguisticality 110, 114, 116<br />

List der Tradition 217<br />

literarisches Experiment 15<br />

Literarisierung 36<br />

literature 59<br />

Logos 231<br />

Mangel 235<br />

meaning 49, 52, 109–110, 112–114, 116–<br />

120, 122–124<br />

meditative thinking 80<br />

Mehrdeutigkeit 89<br />

Mensch 135–136<br />

metaphor 52–55<br />

Metaphysik 189<br />

Metaphysik des Daseins 190–194<br />

Möglichkeit 172–174<br />

mole 29–30, 32–33<br />

morality 31–33<br />

multiplicity of texts 59<br />

non-determination 91<br />

non-partage 98<br />

Normativität 152<br />

not-being 86<br />

novitas 25<br />

novum opus 16<br />

Offenheit 215<br />

Ökonomie 220


Sachverzeichnis<br />

263<br />

ontology 92, 103, 106<br />

ontotheology 92<br />

over-interpretation 110–112<br />

overreading 109–110, 112, 114–115, 117,<br />

120, 122–123<br />

painting 69–71<br />

Palimpsest 12–13, 19<br />

partage 93, 98, 100, 106<br />

pass by 83–84<br />

perception 55<br />

Person 183–184<br />

Phänomen 167–170, 180<br />

Phänomenalität 137<br />

Phänomenologie 143<br />

philology 27–28<br />

φρόνησις 61<br />

plurality 93<br />

poietic 78<br />

poietic words 90<br />

potentiality 93, 105<br />

Prätext 12–13, 19, 25<br />

Present 58<br />

primordial potentiality 107<br />

principle of reason 97, 104–105<br />

Privatschrift 129<br />

Protestantismus 233<br />

Prototext 138<br />

psychoanalysis 119<br />

Raum 135<br />

reader 49, 63–65, 68, 71, 73, 113, 118–120,<br />

123<br />

reading 48, 56, 61–76<br />

Realität (reality) 110, 121, 133<br />

realm of significance 96<br />

reanimation 70, 75<br />

reconstruction 48<br />

Rekonstruktion 138–139, 143, 145–146<br />

repitition 63<br />

resistance 83<br />

resonating 83<br />

rhapsode 93, 95, 98–100<br />

Schrift 129–130, 143<br />

scriptio continua 63<br />

scrivener 93–94, 103<br />

Sein 170<br />

Seinseinheit von Akten 186<br />

Seinsgeschick 50<br />

Seinlose 85–87<br />

Selbst 129, 135<br />

Selbstaffektion 134–135<br />

Selbstbewusstsein 180<br />

Selbsterkenntnis 127, 129, 133–134, 136<br />

Selbstlektüre 126, 128, 136, 143<br />

Selbstphänomenalismus 130, 142, 145<br />

Selbstverständlichkeit 200<br />

Selbstzuschreibung 136<br />

sense 61–63<br />

sharing 93<br />

silence 47<br />

Sinnlichkeit 131–133<br />

solitude 31<br />

sovereignty 107<br />

speech writer (λογογράφον) 69<br />

Stiftung 222<br />

Subjektivität (subjectivity) 114, 124, 131<br />

Substanz 185<br />

superfluity of meaning 110, 113, 116, 120,<br />

122, 124<br />

systematic reading 79<br />

Tauschprinzip 221<br />

Tauschwert 242<br />

text 47, 49, 58<br />

theodicy 104<br />

thinking of the event 80–81<br />

Tod 172–174<br />

Tradition 196<br />

tradition 48, 53, 57<br />

transformation 113, 122–124<br />

transformational experience 113, 119, 121, 123<br />

transformational practice 113–115, 120, 122<br />

transitional thought 79<br />

translation 63<br />

transzendental 170–172, 174, 177,<br />

Transzendentalismus 165–166, 171, 174, 177<br />

Transzendentalphilosophie 166<br />

Transzendenz 178–180<br />

truth 115, 118–120<br />

Überlieferung 196<br />

understanding 48, 54, 61–63, 68, 71, 75–76<br />

Unseiendes 86<br />

Un-Sinn 142–146<br />

Untergang 84<br />

Unterschied 85<br />

Unvertretbarkeit 141<br />

Unzeit 142–146<br />

ventriloquism 68<br />

Vergessen 139<br />

verification 119


264 Sachverzeichnis<br />

Verlassenheit 97<br />

Vernunft 39, 146<br />

Verstand 131–133<br />

Verstehen 151–157, 159–163, 208<br />

Verstehensprozess 210<br />

voice 65–65, 67, 71, 75<br />

Voraussetzungen 203<br />

Vorstruktur des Verstehens 214<br />

Vorurteile 213<br />

Verwindung 84<br />

Wahnsinn 254<br />

Wahrheit (s.a. truth) 147–149, 151–152,<br />

155–156, 158, 161–163<br />

Welt 154, 156, 159, 161–162<br />

Weltentwurf 174–176<br />

Welterschließung 155<br />

Weltverständnis 155, 162–163<br />

Wirkungsgeschichte 208<br />

word 110, 113, 116–118<br />

work 80<br />

write 66, 74, 76<br />

writer 64–65<br />

writing 62, 65–66, 69–71, 73–76<br />

writing tablet 103<br />

Zeichen 137<br />

Zeit 134, 141<br />

Zeitbewusstsein 144<br />

Zuschreibung 142, 145

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