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„Der Prozess Talaat Pascha“ – Ein Theaterprojekt, Handreichung ...

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Bettina Alavi<br />

<strong>„Der</strong> <strong>Prozess</strong> <strong>Talaat</strong> <strong>Pascha“</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>Ein</strong> <strong>Theaterprojekt</strong>, <strong>Handreichung</strong> und<br />

Material für den interkulturellen<br />

Unterricht


Prof. Dr. Bettina Alavi<br />

Professorin für Geschichte und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg mit einem<br />

Schwerpunkt Interkulturelle Geschichtsdidaktik<br />

Heidelberg 2011 - © Alle Rechte vorbehalten<br />

2


Inhaltsverzeichnis<br />

Kurzbeschreibung .................................................................................................................................... 4<br />

Der armenische Genozid im Spiegel einer deutschen Gerichtsverhandlung als Schauspiel-Lesung ...... 5<br />

Die Armenier ....................................................................................................................................... 6<br />

Vom Berliner Kongress 1878 zum Berliner <strong>Prozess</strong> 1921 ................................................................... 7<br />

Der <strong>Prozess</strong> als Anstoß zur UN-Genozidkonvention 1948 ................................................................ 11<br />

Didaktisch-methodische Überlegungen zur Konzeption der Lesung in der Schule .......................... 12<br />

Das Projekt „Gemeinsame Vergangenheit: Deutschland, Armenien und die Türkei“ .......................... 13<br />

Material ................................................................................................................................................. 15<br />

3


Kurzbeschreibung<br />

In einer szenischen, musikalisch umrahmten Lesung mit fünf Schauspieler/innen und einem Musiker<br />

aus den Herkunftsländern Armenien, Türkei, Österreich, Frankreich und Deutschland werden<br />

Auszüge aus einem Gerichtsprotokoll aus dem Jahre 1921 als dokumentarisches Theater aufgeführt.<br />

Vor dem Schwurgericht des Berliner Landgerichts ist der armenische Student Soromon Thelerjan<br />

angeklagt den früheren türkischen Großwesir <strong>Talaat</strong> Pascha ermordet zu haben. In Anlehnung an die<br />

Behandlung des Genozids im Geschichtsunterricht ist das Theaterstück eine lebendige und<br />

spannende Darstellung der damaligen Verhältnisse in Berlin und im Osmanischen Reich.<br />

Die Lesung kann als Vorbereitung oder Begleitung für folgende Themen im Unterricht eingesetzt<br />

werden:<br />

Völkermord an den Armeniern 1915 1<br />

Terroristisches Attentat in einem Drittland<br />

Osmanisches Reich bis zum Ende des 1. Weltkriegs<br />

Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen<br />

Ablauf in der Schule (Aula mit Klavier):<br />

<strong>Ein</strong>führung in die geschichtlichen Zusammenhänge des Berliner <strong>Prozess</strong>es<br />

„Kilikia“ („Kilikien“) Armenisches Lied mit Piano-Begleitung<br />

Aufführung der szenischen Lesung <strong>„Der</strong> <strong>Prozess</strong> <strong>Talaat</strong> <strong>Pascha“</strong><br />

Beantwortung von Fragen und Diskussion mit den Schülern<br />

10 Min.<br />

5 Min.<br />

65 Min.<br />

30 Min.<br />

1 <strong>Ein</strong> Völkermord oder Genozid ist seit der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes<br />

von 1948 ein Straftatbestand im Völkerstrafrecht. Die Konvention definiert Völkermord in Artikel II als „eine der<br />

folgenden Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe<br />

ganz oder teilweise zu zerstören: 1) das Töten von Angehörigen der Gruppe 2) das Zufügen von schweren<br />

körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe 3) die absichtliche Unterwerfung unter<br />

Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen 4) die<br />

Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung 5) die gewaltsame Überführung von Kindern der<br />

Gruppe in eine andere Gruppe.“ zitiert nach Bundesgesetzblatt Teil II, Nr. 15, 12. August 1954, S. 729.<br />

http://www.bgbl.de/Xaver/text.xav?bk=Bundesanzeiger_BGBl&start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl254<br />

015.pdf%27%5D&wc=1&skin=WC (Stand: 05.08.11)<br />

4


Der armenische Genozid im Spiegel einer deutschen<br />

Gerichtsverhandlung als Schauspiel-Lesung<br />

Die kulturelle Bildung 2 erfährt in der Gesellschaft hohe Aufmerksamkeit und ist für die Lösung<br />

anstehender gesellschaftlicher Herausforderungen, wie etwa die einer zunehmend multiethnisch<br />

zusammengesetzten Gesellschaft, sehr wichtig.<br />

Die „Schauspiel-Lesung mit Musik <strong>–</strong> Nicht ich bin der Mörder“ thematisiert ein misslungenes Beispiel<br />

von Multiethnizität in der Geschichte. „Dies ist im interkulturellen Geschichtsunterricht 3<br />

insbesondere deshalb wichtig, weil anhand dieser Beispiele nach dem Verhältnis zwischen Mehrheit<br />

und Minderheit gefragt werden kann und die Gründe für das Misslingen des Zusammenlebens<br />

kritisch thematisiert werden können.<br />

Bei diesem konkreten Beispiel geht es um den von der Regierung der Jungtürken geplanten und<br />

durchgeführten Völkermord an den Armeniern 1915/1916 und das in Berlin ausgeführte<br />

Racheattentat des armenischen Studenten Soromon Tehlerjan auf einen Hauptverantwortlichen<br />

dieses Genozids, nämlich den ehemaligen Großwesir und Innenminister <strong>Talaat</strong> Pascha. Der<br />

armenische Genozid und das Attentat wurden am 2. und 3. Juni 1921 in einer Gerichtsverhandlung<br />

am Berliner Landgericht behandelt.“ 4<br />

Mit dem stenografischen Protokoll greift das <strong>Theaterprojekt</strong> auf nichtfiktionales Material zurück, um<br />

eine größtmögliche historische Wahrheit anzustreben.<br />

Die offizielle Geschichtsschreibung der Türkischen Republik kennt keinen Völkermord an den<br />

Armeniern. Die „Umsiedlungen“ gelten als unabwendbare Folge des 1. Weltkrieges. 5 Die<br />

Zivilgesellschaft in der Türkei und die in Deutschland lebenden türkischen Migranten sind bei der<br />

Bewältigung der Armenier-Massaker des 1. Weltkrieges weiter. 6<br />

2 Aus dem Abschlussbericht der Enquete Kommission "Kultur in Deutschland": Kulturelle Bildung fördert soziale<br />

Handlungskompetenz und Teilhabe und qualifiziert den Menschen für neue gesellschaftliche<br />

Herausforderungen: Indem kulturelle Bildung die Möglichkeit bietet, sich interkulturelle Kompetenzen<br />

anzueignen, fördert sie die Verständigung zwischen Kulturen im In- und Ausland, baut Vorbehalte von Kindern<br />

und Jugendlichen vor dem „Fremden“ ab und verbessert die gegenseitige Akzeptanz in hohem Maße.<br />

11.12.2007, S. 379, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607000.pdf (Stand 01.05.2011)<br />

3 „<strong>Ein</strong>e Aufgabe der Bildungspolitik sollte“ laut einer am 16. Juni 2005 einstimmig verabschiedeten Resolution<br />

des Deutschen Bundestages “die Aufarbeitung der Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Teil der<br />

Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland“ sein. , S. 2.<br />

http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/15/056/1505689.pdf (Stand 01.05.2011)<br />

4 Alavi, Bettina: Geschichtsunterricht in der multiethnischen Gesellschaft. <strong>Ein</strong>e fachdidaktische Studie zur<br />

Modifikation des Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen, 1998, S. 333-334.<br />

5 Thelen, Sibylle: Die Armenierfrage in der Türkei, 2010, S.40 : „In Zeiten von Migration und Globalisierung<br />

lassen sich Informationsströme weniger denn je kontrollieren [...] <strong>Ein</strong>en internationalen Austausch pflegen<br />

nicht nur die ambitionierten Privatuniversitäten des Landes, die im Zuge der allgemeinen Öffnung und<br />

Annäherung an die EU entstanden sind, sonder auch staatliche Hochschulen. So wird die Aufarbeitung von<br />

1915 längst grenzübergreifend vorangetrieben. <strong>Ein</strong> Beispiel illustriert die Folgen: Noch in den neunziger Jahren<br />

veröffentlichte Taner Akçam als erster türkischer Wissenschaftler, der von einem Völkermord gesprochen hat,<br />

seine Werke zunächst in Deutschland und in den USA. Heute liegen sie auch auf Türkisch vor. Die türkische<br />

Geschichtsgesellschaft verfügt nicht mehr über die alleinige Deutungshoheit. Dennoch ist ein Dialog zwischen<br />

den Lagern noch immer schwierig und über ideologische Gräben hinweg so gut wie unmöglich.“<br />

6 Thelen, Sibylle, Die Armenierfrage in der Türkei, 2010, S. 57: „Die türkische Zivilgesellschaft hat mit der<br />

Aufarbeitung begonnen - zaghaft, aber mutig. Ihren bisher deutlichsten Ausdruck hat dieser <strong>Prozess</strong> Anfang des<br />

Jahres 2009 mit dem Aufruf der Internetkampagne "Ich entschuldige mich" gefunden, den über 30000 Bürger<br />

5


Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Behandlung eines Völkermordes um ein emotional<br />

belastendes Thema handelt und dazu die relativ komplizierte historisch-politische Lage zu dieser Zeit<br />

(Das Osmanisches Reich am Beginn des 20. Jahrhunderts im Übergang zur Türkischen Republik, der 1.<br />

Weltkrieg, die Geschichte der Armenier, die Rolle Deutschlands zur Zeit der Weimarer Republik)<br />

Berücksichtigung finden muss, ist die Lesung ab Klassenstufe 10 geeignet.<br />

Die Armenier<br />

„Die Armenier sind armenisch-apostolische Christen mit einem eigenen Ritus, einer eigenen Sprache<br />

und Schrift. Der historische Siedlungsraum 7 der Armenier umfasste ein Gebiet von 400.000<br />

Quadratkilometern, dessen Kern das armenische Hochland bildete. Es grenzt im Osten an das<br />

iranische Hochland, im Nordosten an den Kleinen Kaukasus, im Süden an die Mesopotamische<br />

Tiefebene und das Tauros-Gebirge, sowie im Westen an den Mittellauf des Euphrat.“ 8<br />

„Die Armenier lebten jahrhundertelang als religiöse und ethnische Minderheit in fremden Reichen,<br />

so z.B. im Osmanischen Reich, im Iran und im zaristischen und sozialistischen Russland. Dort lebten<br />

sie als relativ geschlossene Gemeinden, die ihre Traditionen pflegten und meist nur innerhalb der<br />

Gemeinde heirateten. Vermischungen mit anderen Bevölkerungsgruppen blieben selten, so dass sich<br />

die Armenier im Laufe der Jahrhunderte zwar an die politischen Verhältnisse des jeweiligen Landes<br />

anpassten, sich aber keineswegs assimilierten. In den jeweiligen Ländern genossen sie teilweise<br />

Minderheitenrechte, wie z.B. die Erlaubnis, im islamischen Iran der Schahzeit Alkohol konsumieren zu<br />

dürfen.<br />

unterzeichneten. [..] "Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass die Katastrophe, welche die<br />

Armenier 1915 im Osmanischen Reich ereilte, verleugnet und ihr weiterhin teilnahmslos begegnet wird. *...+.“<br />

Für die Internetkampagne „Ich entschuldige mich“ vgl. http://www.ozurdiliyoruz.com/<br />

7 http://www.spiegel.de/img/0,1020,462285,00.jpg (Stand 04.06.2011)<br />

8 Hofmann, Tessa: Armenier in Berlin <strong>–</strong> Berlin und Armenien, Der Beauftragte des Senats von Berlin für<br />

Integration und Migration, 2005, S. 8.<br />

6


Im Osmanischen Reich gab es Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl armenischer Dörfer und<br />

Gemeinden, besonders im Gebiet um Adana, Aleppo, Van und Erzerum. <strong>Ein</strong>e große Kolonie<br />

armenischer Intellektueller bestand in der Hauptstadt Konstantinopel. Das Osmanische Reich<br />

verstand sich als Vielvölkerstaat, in dem die christlichen Minderheiten ihre Religion relativ ungestört<br />

ausüben konnten, rechtlich und steuerlich aber benachteiligt waren.“ 9<br />

Vom Berliner Kongress 1878 zum Berliner <strong>Prozess</strong> 1921<br />

„1877/1878 griff Russland, das sich als Schutzmacht der Christen im Osmanischen Reich verstand,<br />

militärisch in Westarmenien (Türkisch-Armenien) ein, musste sich aber auf den Druck Englands hin<br />

weitgehend aus Westarmenien zurückziehen. Dieses russische <strong>Ein</strong>greifen hatte zur Folge, dass im<br />

Osmanischen Reich die Armenier teilweise als illoyale Untertanen und russische Kollaborateure<br />

angesehen wurden und im deutschen Kaiserreich die Angst vor einem russischen <strong>Ein</strong>greifen im<br />

Osmanischen Reich bestehen blieb.“ 10 Während des Russisch-Türkischen Krieges kam es zu<br />

Massakern an den Armeniern. Deswegen wurde das Osmanische Reich nach seiner Kriegsniederlage<br />

auf dem Berliner Kongress 1878 verpflichtet den Armeniern in den Ostprovinzen eine gewisse<br />

Autonomie zuzugestehen und sie gegen Übergriffe zu schützen.<br />

„Die europäischen Großmächte setzten Verwaltungsreformen in den sechs westarmenischen<br />

Provinzen des osmanischen Reichs durch, die den Armeniern eine stärkere Beteiligung an der<br />

Verwaltung und Schutz vor Übergriffen anderer Minderheiten (Kurden, Tscherkessen) bieten sollte.<br />

Die Kontrolle der Durchführung war jedoch nicht gewährleistet, so dass eine erfolgreiche Umsetzung<br />

von Anfang an wenig erfolgversprechend war.“ 11<br />

Die europäischen Großmächte maßen der Umsetzung der im Artikel 61 des Berliner Vertrags<br />

aufgezwungenen Reformen kein allzu großes Gewicht bei. Es wurden lediglich einige britische<br />

Beobachter in die Gegend geschickt.<br />

„Das Osmanische Reich war zu Beginn des 20. Jahrhunderts schon längst von Auflösungstendenzen<br />

gekennzeichnet. Es bildeten sich oppositionelle Strömungen wie die Jungtürken 12 und ihre İttihat-<br />

Partei („Komitee für <strong>Ein</strong>heit und Fortschritt“).“ 13 Die Rückschrittlichkeit des Sultanats rief diese innertürkische<br />

Opposition auf den Plan. Im Juli 1908 begann unter Führung von Enver Pascha und Talat<br />

Pascha eine erfolgreiche Militärrevolte gegen den Sultan. Diese „jungtürkische“ Bewegung wollte<br />

durch Reformen und Modernisierung des Staatswesens den drohenden Zerfall abwenden. Darauf<br />

setzten auch die Armenier ihre Hoffnung. Dieser demokratisch-parlamentarische Versuch zur<br />

Reformierung des Reiches blieb jedoch weitgehend erfolglos. Dazu trugen nicht nur konservative<br />

Widerstände in der osmanischen Elite bei, sondern auch die enormen Modernitätsdefizite in weiten<br />

Teilen der Gesellschaft. Entscheidend aber waren der ungebrochene Wunsch von Minderheitsvölkern<br />

nach nationaler Unabhängigkeit und der sich damit verbindende Imperialismus benachbarter<br />

9 Alavi, Bettina: Studie, S. 336.<br />

10 Ebd., S. 337.<br />

11 Ebd. S. 337<br />

12 „Jungtürken (türk.-osman. Eigenbezeichnung: Ittihâd ve teraqqî jemaîyeti, "Komitee für <strong>Ein</strong>heit und<br />

Fortschritt"), nationalist.-reformist. Gruppierung, die zwischen 1908-1918 de facto den osman. Staat<br />

beherrschte und dem Sultan die Annahme einer Verfassung aufzwang. Die Jungtürken inspirierten den Gründer<br />

der Republik Türkei Atatürk u. a. Nationalisten des Nahen Ostens“, zitiert aus dem Lexikon der Bundeszentrale<br />

für politische Bildung http://www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=XXR4MW (Stand: 08.08.2011)<br />

13 Ebd. S. 337.<br />

7


christlicher Staaten. 14 So blieb die Idee eines zentralistischen, ethnisch homogenen türkischen<br />

Nationalstaates vorrangig - auch unter den Jungtürken.<br />

„Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im ersten Balkankrieg 1912 fürchteten die<br />

Jungtürken eine russisch armenische Allianz und eine damit bestehende Bedrohung ihrer Ostgebiete.<br />

Zu dieser Zeit setzte sich in der İttihat-Partei der extrem nationalistische Flügel durch, der die<br />

armenische Frage durch Ausrottung „erledigen“ wollte. Seit dieser Zeit wurde ein Anlass gesucht, um<br />

damit beginnen zu können.<br />

Im 1. Weltkrieg traten das Osmanische Reich unter der jungtürkischen Regierung auf der Seite<br />

Deutschlands und Österreich-Ungarns in den Krieg ein. Während des 1. Weltkrieges begannen die<br />

Jungtürken unter dem Vorwand einer angeblichen armenischen Kollaboration 15 mit den türkischen<br />

Kriegsgegnern Russland, England und Frankreich die Verfolgung, die in den Genozid mündete. Die<br />

Verfolgung der armenischen Bevölkerung war im Voraus bedacht, systematisch organisiert und<br />

verfolgte die Absicht eines Genozids:<br />

Nachdem die wehrfähigen Männer und die im osmanischen Heer dienenden Armenier entwaffnet<br />

worden waren, begann am 24. April 1915 der Auftakt zum Massenmord mit einer Verhaftungswelle<br />

unter den führenden armenischen Intellektuellen in Konstantinopel. Unmittelbar darauf begannen<br />

die Massendeportationen aus den Siedlungsgebieten der Armenier in Ostanatolien. In<br />

Todeskarawanen zogen monatelang Hunderttausende in Richtung der Wüsten Mesopotamiens und<br />

Syriens. Bei diesen von den Jungtürken geplanten und von einer Spezialorganisation der Partei<br />

durchgeführten Vernichtungsaktionen starben in der Zeit von 1915-1917 ca. 1,5 Millionen Armenier.<br />

<strong>Talaat</strong> Pascha war damals ein exponierter Hauptvertreter der jungtürkischen Regierung und als<br />

Innenminister maßgeblich für den Genozid verantwortlich.“ 16<br />

Die besondere Stellung des Deutschen Kaiserreiches hatte schon während des Krieges den Ländern<br />

Frankreich, England und Russland den Verdacht erweckt, die Deutschen seien die eigentlichen<br />

Urheber des Verbrechens an den Armeniern bzw. trügen zumindest eine Mitschuld. 17<br />

Für die direkte Beteiligung von deutschen Offizieren finden sich vereinzelte Beispiele. Z.B. Major<br />

Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, der in die Deportationen von Zeytun involviert war. 18<br />

Die Frage, inwieweit Deutschland sich beim Völkermord an den Armeniern engagiert hat, ist in der<br />

Forschung noch nicht endgültig geklärt. Dass Deutsche in verantwortlicher Position Armenier retten<br />

14 Taner, Açam: Armenien und der Völkermord, 2004, S. 39 <strong>–</strong> 51.<br />

15 Schaefgen, Annette: Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern, 2006, S. 28 -29. “Trotz der<br />

Kriegsereignisse wurden die Vorgänge im Osmanischen Reich vom Ausland aufmerksam beobachtet und von<br />

Protesten begleitet. Aus diesem Grund hatte sich die jungtürkische Regierung bemüht, das Ausland davon zu<br />

überzeugen, dass es sich bei den Deportationen um eine kriegsbedingte Maßnahme handele, die aufgrund der<br />

Illoyalität der Armenier durchgeführt werden müsse, da sich diese *…+ mit dem Feind Russland verbündet und<br />

gegen den Staat rebelliert hätten. <strong>Ein</strong>en Vorwand, diese These zu unterlegen, bot der angebliche armenische<br />

Aufstand von Van im April 1915, der bis heute von der türkischen Regierung als Rechtfertigungsgrund<br />

angeführt wird. In Van hatten sich am 20. April 1915, nachdem Türken innerhalb von drei Tagen, vom 15. bis<br />

18. April 1915, etwa 80 armenische Dörfer nördlich der Stadt zerstört und die Bevölkerung niedergemetzelt<br />

hatte, die Armenier gegen die türkische Armee erhoben.“<br />

16 Alavi, Bettina: Studie, S. 337 <strong>–</strong> 338.<br />

17 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatten deutsche Offiziere das osmanische Heer reformiert und ausgebildet.<br />

18 Schaefgen, Annette: Schwieriges Erinnern, 2006, S. 36.<br />

8


konnten, zeigte der Fall Smyrna, wo General Liman von Sanders das Sagen hatte und die Deportation<br />

der Armenier verhinderte. 19<br />

Die Regierung des deutschen Kaiserreichs enthielt sich jeder Stellungnahme und Kritik. Der<br />

Reichskanzler Bethmann Hollweg entgegnete deutschen Diplomaten, Konsuln und Missionaren, die<br />

genau und entsetzt über die Massaker berichteten: „Unser Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des<br />

Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ 20<br />

Die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Russlands hatten im Mai 1915 die osmanische<br />

Regierung in einer gemeinsamen Erklärung davon in Kenntnis gesetzt, dass sie alle Mitglieder der<br />

osmanischen Regierung und deren Beauftragte persönlich verantwortlich machen würden, sollte sich<br />

deren Verwicklung in die an den Armeniern verübten Gräueltaten herausstellen. Unter ihrem Druck,<br />

allen voran dem Großbritanniens, ordnete Sultan Mehmed V. im Dezember 1918 die strafrechtliche<br />

Verfolgung der für den Genozid verantwortlichen jungtürkischen Funktionäre an. 21 Die osmanischen<br />

Gerichtshöfe wurden allerdings bereits am 11. August 1920 aufgelöst.<br />

Unter den damaligen Angeklagten befand sich auch der ehemalige Innenminister und Großwesir<br />

<strong>Talaat</strong> Pascha. Er hatte sich dem <strong>Prozess</strong> durch Flucht nach Deutschland entzogen und wurde in<br />

Abwesenheit zum Tode verurteilt. Mit Hilfe des deutschen Generals Hans von Seeckt gelangte er mit<br />

einem deutschen Torpedoboot im November 1918 von Konstantinopel nach Berlin, wo er mit seiner<br />

Frau eine großbürgerliche Wohnung in Berlin-Charlottenburg bezog. In seinem Berliner Exil musste<br />

<strong>Talaat</strong> keine Auslieferung fürchten.<br />

Drei Monate, nachdem ein osmanischer Militärgerichtshof am 5. Juli 1919 in Konstantinopel die<br />

Mitglieder des jungtürkischen Kriegskabinetts in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte, beschloss<br />

im Herbst 1919 der 9. Parteitag der damals in der Republik Armenien (1918-1920) allein regierenden<br />

Daschnakzutjun (Föderation), die Hauptverantwortlichen des Genozids weltweit aufzuspüren und zu<br />

töten. Aus einer 650 Personen umfassenden Liste wurden die 41 wichtigsten Täter ausgesucht und<br />

ein geheimes Netzwerk geschaffen, das die nach der altgriechischen Rachegöttin Nemesis benannte<br />

Vergeltungsaktion logistisch und operativ umsetzen sollte. Das Führungsgremium der Operation<br />

Nemesis leitete der einstige osmanische Parlamentsabgeordnete für Erzurum, Armen Garo, der 1919<br />

Botschafter der Republik Armenien in den USA wurde.<br />

Im Herbst 1920 erhält Soromon Thelerjan 22 in den USA den Auftrag <strong>Talaat</strong> Pascha zu ermorden.<br />

"Am 15.03.1921 passierte <strong>Talaat</strong> den Steinplatz in Berlin-Charlottenburg, während Thelerjan ihm auf<br />

der anderen Straßenseite, entlang der damaligen Hochschule der Künste, der heutigen Industrie- und<br />

Handelskammer - ca. 200 Meter vom Bahnhof "Zoologischer Garten" - auf den Fersen war."<br />

Hier überquerte <strong>Talaat</strong> die Straße. <strong>Ein</strong>e Minute später war <strong>Talaat</strong> tot <strong>–</strong> aus nächster Nähe erschossen.<br />

„Ich habe einen Menschen getötet“, sagte der spätere Angeklagte Thelerjan, „aber ein Mörder bin<br />

ich nicht gewesen“. 23<br />

19 Vgl. Korrespondenz mit der deutschen Botschaft, nachzulesen auf der Website www.armenocide.de - z.B.<br />

Schreiben vom 12. November 1916, dort Dokument Nr. 1916-11-12-DE-001<br />

20 www.armenocide.net Dokument 1915-12-07-DE-001<br />

21 Hofmann, Tessa: Annäherung an Armenien, 2006, S. 108.<br />

22 Soromon Tehlerjan, auch Soghomon Tehlirian geschrieben, in den Berliner <strong>Prozess</strong>akten: Salomon Teilirian<br />

23 Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis, 2009, S. 23.<br />

9


„Am 2. Juni 1921 begann der <strong>Prozess</strong> gegen ihn am Landgericht in Berlin-Moabit. Soromon Thelerjan<br />

ist 25 Jahre alt, aber dem Gericht gibt er bei Beginn der Verhandlung sein Alter mit 24 an. Er wird das<br />

mit Bedacht getan haben, denn ein wesentliches Detail seiner Biographie wird dadurch<br />

unwahrscheinlicher. Keineswegs war er, wie er dem Gericht erzählt, im Sommer 1915 in Erzincan, wo<br />

seine Familie deportiert und anschließend ermordet wurde. Er war zu dieser Zeit Angehöriger eines<br />

auf russischer Seite kämpfenden armenischen Freiwilligenbataillons, das von Eriwan aus Operationen<br />

auf türkischem Staatsgebiet unternommen hatte. Die kleine Korrektur seines Alters sollte diese<br />

Möglichkeit bei eventuellen Fragen des Gerichts von vornherein ausschließen.<br />

Soromon Thelerjan folgt, nachdem er die protestantische Realschule in Erzincan beendet hat, dem<br />

Vater nach Belgrad. Nach dem Beginn des Weltkriegs verlässt er Serbien und schließt sich den<br />

armenischen Freiwilligen in Tblissi an. Von den Massakern, über die er dem Gericht in aller<br />

Ausführlichkeit berichtet, hat er nur gehört, wahrscheinlich aber immer wieder und mit allen Details.<br />

Er hört Geschichten von Flüchtlingen, die ihr Leben gerettet hatten, als sie über die russische Grenze<br />

kamen. Er selbst sieht all die 1915 durch Plünderung, Vandalismus und Massaker verursachten<br />

Zerstörungen in den armenischen Dörfern Ostanatoliens. Am Ende des Krieges ist er, eine sensible<br />

Natur, nur noch von einem Gedanken beherrscht: sich an den Verantwortlichen für all dies zu<br />

rächen.“ 24<br />

Das Gericht wusste nicht, dass Tehlerjan, ein Jahr zuvor im März 1920, in Konstantinopel den<br />

Armenier Harutjun Mkrttschjan erschossen hat. 25 Dieser hatte für die osmanischen Behörden eine<br />

Liste von Armeniern zusammengestellt. Die Liste ermöglichte die Massenverhaftung vom 24. April<br />

1915 unter der hauptstädtischen Elite der Armenier. Das Gericht wusste auch nicht, dass Tehlerjan<br />

nicht bei den Massakern zugegen war, ebenso wenig wie es von der Operation „Nemesis“ wusste.<br />

Über die Generalstaatsanwaltschaft versuchten das deutsche Außenministerium und das preußische<br />

Justizministerium zu verhindern, dass das Strafverfahren gegen Tehlerjan zum Medienereignis<br />

wurde. Insbesondere fürchtete man, dass bei einer ausführlichen Erörterung der politischen<br />

Hintergründe im Ausland Vergleiche mit der „Oberschlesischen Frage“ 26 zuungunsten Deutschlands<br />

gezogen werden könnten. Zudem standen in Leipzig die eigenen Kriegsverbrecherprozesse bevor. 27<br />

Darum wurde die Beweisaufnahme auf einen Verfahrenstag beschränkt und die Vernehmung der<br />

fünfzehn von der Verteidigung beantragten Zeugen auf vier gekürzt.<br />

In seinem Plädoyer forderte der Staatsanwalt die Geschworenen auf, den Angeklagten des Mordes<br />

schuldig zu sprechen, nannte als Motiv Rachsucht und skizzierte <strong>Talaat</strong> Pascha als einen, „der die<br />

Geschicke seines Vaterlandes gelenkt hat und als ein treuer Verbündeter des deutschen Volkes auf<br />

den Höhen der Geschichte gewandelt ist.“ 28<br />

Die Verteidiger des Angeklagten sahen in <strong>Talaat</strong> Pascha einen landesflüchtigen Verbrecher und<br />

plädierten auf Freispruch wegen vorrübergehender Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten<br />

24 Ebd. S. 24<br />

25 Hofmann, Tessa: Annäherung an Armenien, 2006, S. 110<br />

26 Hitze, Guido: Die Politische Meinung - Monatszeitschrift zu Fragen der Zeit, <strong>Ein</strong> fast vergessenes<br />

Stück Geschichte „Die oberschlesische Frage im Jahre 1921“, Dez. 2002, S. 61 -67.<br />

http://www.kas.de/wf/doc/kas_1185-544-1-30.pdf?040415180501 (Stand 08.05.2011)<br />

27 Barth, Boris: Genozid: Völkermord im 20. Jahrhundert : Geschichte, Theorien, Kontroversen, 2006, S. 75.<br />

28 Auszug aus dem Gerichtsprotokoll S. 84.<br />

10


während der Tat. Die Geschworenen befanden den Angeklagten für „nicht schuldig“ wegen<br />

mangelnder Zurechnungsfähigkeit. 29 <strong>Ein</strong> Schuldspruch hätte die Todesstrafe zur Folge gehabt.<br />

Das Urteil rief geteilte Meinungen in der Öffentlichkeit hervor: Armenophile Kreise, aber auch viele<br />

Sozialdemokraten äußerten sich zufrieden darüber, dass Deutschland nun endlich dazu stehe, mit<br />

einem „Großkriegsverbrecher“ 30 verbündet gewesen zu sein. Im rechten politischen Spektrum wurde<br />

dagegen heftig kritisiert, dass dieses Urteil einem <strong>Ein</strong>geständnis deutscher Schuld gleichkomme und<br />

ausschließlich der ausländischen Propaganda zu verdanken sei. Die Verteidiger Thelerjans seien<br />

„vaterlandslose Gesellen.“ 31<br />

Die Ausweisung Tehlerjans aus Deutschland unmittelbar nach seiner Freilassung verhinderte, dass es<br />

zu Revisionsverfahren kam.<br />

Der <strong>Prozess</strong> als Anstoß zur UN-Genozidkonvention 1948<br />

Auf den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin (1890-1959) hinterließ der Strafprozess von 1921<br />

einen tiefen <strong>Ein</strong>druck, auch wenn er nur aus der Presse von ihm erfuhr. Lemkins Verdienst bestand<br />

vor allem darin, die legislative Lücke erkannt zu haben, die verhinderte, dass Staats- und<br />

Großverbrechen wie das an den Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich begangene<br />

geahndet oder gar verhindert werden konnten. Von seinem Heidelberger Juraprofessor hörte er,<br />

dass es kein Gesetz zur Verhütung von Verbrechen eines Staates an seinen Bürgern gebe. 32 Lemkins<br />

Lebensaufgabe wurden der Entwurf und die Durchsetzung eines internationalen Vertragswerks zur<br />

Verhütung und Bestrafung von Genozid. Erste Versuche, eine solche Konvention in den Völkerbund<br />

einzubringen, scheiterten. Erst nach einem weiteren Weltkrieg und einem Genozid noch größeren<br />

Ausmaßes verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 die in ihren wesentlichen Teilen von Lemkin<br />

verfasste Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Genozid. Die darin enthaltene Definition von<br />

Völkermord beruht empirisch auf den historischen Beispielen der Vernichtung der Armenier 1915/16,<br />

des so genannten Simele-Massakers an Aramäern und Assyrern im Irak 1933 und selbstverständlich<br />

der Schoah im Zweiten Weltkrieg. 33<br />

29 Alavi, Bettina: Studie, S. 341.<br />

30 Kieser, Hans-Lukas/Schaller, Dominik J.: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian<br />

Genocide and the Shoah, 2002, S. 535. Vorwärts vom 4. Juni 1921.<br />

31 Kieser, Hans-Lukas/Schaller, Dominik J.: Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah/The Armenian<br />

Genocide and the Shoah, 2002, S. 535. Schaller zitiert hier unter anderem Das Deutsche Abendblatt Nr. 27 vom<br />

3. Juni 1921.<br />

32 "What is true is that the fate of Anatolian Armenians during the first World War, especially the inability of the<br />

victorious Allies to prosecute the leading Young Turks, shocked the young Lemkin deeply." (Schaller/Zimmerer:<br />

The Origins of Genocide - Raphael Lemkin as a historian of mass violence, 2009, S. 3)<br />

33 "The destruction of Carthage, the destruction of the Albigenses and Waldenses, the Crusades, the march of<br />

the Teutonic Knights, the destruction of the Christians under the Ottoman Empire, the massacres of the Herero<br />

in Africa, the extermination of the Armenians, the slaughter of the Christian Assyrians in Iraq in 1933, the<br />

destruction of the Maronites, the progroms of Jews in Tsarist Russia and Romania -- all these are classical<br />

genocide cases." (Lemkin: War against Genocide, Christian Science Monitor, 31. January 1948, 2. On the<br />

relationship between genocide and warfare.)<br />

11


Didaktisch-methodische Überlegungen zur Konzeption der Lesung in der<br />

Schule<br />

Die Schüler erhalten einen Flyer mit Hinweisen, einer historischen Karte und historischen Eckdaten,<br />

sowie Fotomaterial.<br />

Vor Beginn der Lesung wird den Schülern eine kurze historische <strong>Ein</strong>führung vorgetragen. Der Vortrag<br />

besteht aus Elementen aus den Kapiteln “Die Armenier“ und „Vom Berliner Kongress 1878 zum<br />

Berliner <strong>Prozess</strong> 1921“. Im Verlauf der Lesung, insbesondere durch den geladenen Sachverständigen<br />

Johannes Lepsius 34 , werden weitere ergänzende historische Hintergründe vorgetragen.<br />

Das darauf folgende Lied „Kilikia“ stimmt die Schüler auf das Thema ein und die Lesung beginnt.<br />

Durch den Nachvollzug des Gerichtsverfahrens gegen den Angeklagten Thelerjan schlüpfen die<br />

Schüler in die Rolle der Geschworenen, die einen klar umrissenen Fall zu entscheiden haben: Ist<br />

Thelerjan des Mordes schuldig oder muss er wegen Unzurechnungsfähigkeit nicht schuldig<br />

gesprochen werden? 35<br />

Durch diese methodische Entscheidung gibt es einen klaren zeitlichen und inhaltlichen<br />

Ausgangspunkt, nämlich das Attentat, einen klaren Handlungsort, nämlich das Berlin der Weimarer<br />

Republik sowie eine fokussierte Perspektive als Geschworene. Durch den Nachvollzug des<br />

Gerichtsverfahrens wird eine gewisse Spannung erzeugt (Wie geht der <strong>Prozess</strong> weiter? Zu welchem<br />

Urteil sind die Geschworenen gekommen?), andererseits handelt es sich um das Nachvollziehen<br />

eines authentischen historischen Falles. Durch die Lesung eines Gerichtsprotokolls von 1921 wird<br />

eine historische Situation für die Schüler heute „geöffnet“, sie können sich in die historische Zeit<br />

„hineinbegeben“ und die Handlungsspielräume der damaligen Menschen durchdenken. Die Schüler<br />

können eine Beziehung zur damaligen Geschichte aufbauen, indem sie überlegen, wie sie damals in<br />

der konkreten Situation entschieden hätten. 36<br />

Bevor der Obmann der Geschworenen seinen Urteilsspruch verkündet, kann in Absprache mit dem<br />

Lehrer die Lesung unterbrochen werden, damit die Schüler selbst ihr Urteil „Schuldig oder Nicht<br />

Schuldig“ kundgeben und begründen können.<br />

Nach der Verkündung des Urteilsspruchs könnte eine Vertiefungsphase folgen, in der die Schüler ihr<br />

Urteil und das des damaligen Gerichts auf dem Hintergrund des heutigen Informationsstands<br />

durchdenken. „Würdet ihr euer Urteil revidieren, wenn ihr folgende später bekannt gewordene<br />

Informationen hinzuzieht? (kein Augenzeuge der Massaker, Attentat auf einen Armenier in<br />

Konstantinopel, Operation Nemesis)<br />

Aus den bisherigen Erfahrungen und dem Feedback aus dem Publikum hinterlässt dieses<br />

Theaterstück bei Jugendlichen einen starken <strong>Ein</strong>druck und bleibt im Gedächtnis. Es ist davon<br />

auszugehen, dass diese sich anschließend motivierter mit dem Thema Völkermord im Unterricht und<br />

den Problemen in unserer multiethnischen Gesellschaft beschäftigen.<br />

34 Im <strong>Prozess</strong> war Lepsius als Sachverständiger geladen, um darüber Auskunft zu geben, ob die Schilderungen<br />

des Angeklagten und von Zeugen über die Massaker an der armenischen Bevölkerung im Jahre 1915 glaubhaft<br />

seien oder nicht. Siehe auch: www.lepsiushaus-potsdam.de (Johannes-Lepsius-Archiv, Bibliothek und<br />

Dauerausstellung und ein Gedenkraum)<br />

35 Alavi, Bettina: Studie, S. 342.<br />

36 Ebd.<br />

12


In einer anschließenden Diskussion können folgenden Themen besprochen werden:<br />

Das Problem der Gewalt als politisches Mittel <strong>–</strong> Terroristische Aktionen haben das Ziel, mit<br />

Gewalt zu zerstören, was einen selbst zerstört (hat) und durch Destruktivität und Anarchie<br />

beim Gegner Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Thematisierung des Terrorismus ist<br />

didaktisch-pädagogisch wichtig, weil es hierzu Gegenwartsbezüge (PKK besetze die<br />

türkischen Generalkonsulate, Mykonos-Prozeß 1996) in Deutschland gibt. 37<br />

Erhöhte Gewaltbereitschaft bei einem Teil der Jugendlichen <strong>–</strong> <strong>Ein</strong> weiterer Grund, der die<br />

Thematisierung von Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung wichtig macht, ist die<br />

derzeit erkennbare erhöhte Gewaltbereitschaft bei einem Teil der Jugendlichen. Dies gilt für<br />

Jugendliche aus der autochthonen Mehrheit (Rechtsradikale und antisemitische Gewalttaten,<br />

Skinheads) ebenso wie für Teile der Jugendlichen aus zugewanderten Minderheiten, die<br />

fundamentalistische Neigungen zeigen. Pubertierende Jugendliche, die sich ungerecht<br />

behandelt fühlen und häufig sozial benachteiligt sind, sind empfänglich für terroristisches<br />

Gedankengut und haben die Neigung, in ihren Gewaltphantasien die Täter zu Helden zu<br />

stilisieren. 38<br />

Keine Schuldzuweisung <strong>–</strong> Es muss deutlich gemacht werden, dass es nicht darum geht den<br />

Menschen aus der Türkei und den türkischen Migranten eine Schuld zuzuweisen, sondern,<br />

dass es um die Behandlung eines von dem Jungtürken-Regime organisierten Völkermordes<br />

geht, der auch im Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik <strong>–</strong> möglichst sachlich und ohne<br />

pauschalen Schuldzuweisungen <strong>–</strong> thematisiert werden kann und muss. 39 Es muss deutlich<br />

werden, dass es kein Volksverbrechen sondern ein Staatsverbrechen war. Auch Deutschland,<br />

das mit zur Verdrängung der Verbrechen am armenischen Volk beigetragen hat, ist in der<br />

Pflicht, sich der eigenen Verantwortung zu stellen. 40<br />

Nach der Aufführung soll es für die Jugendlichen möglich sein, Fragen zu stellen, relevante<br />

Informationen zu erhalten und im Sinne eines theaterpädagogischen Ansatzes, das eben Gesehene<br />

mit den Schauspielern, dem Projektleiter des Theaterstücks und den Lehrkräften zu reflektieren.<br />

Das Projekt „Gemeinsame Vergangenheit: Deutschland, Armenien und<br />

die Türkei“<br />

Das Projekt wurde Anfang 2009 privat initiiert und wird ehrenamtlich geleitet. Der Projektleiter Heinz<br />

Böke wohnt in Berlin und ist hauptberuflich als Beamter in der Verwaltung des Deutschen<br />

Bundestages tätig. In den ersten zwei Jahren wurde das Projekt durch die Armenologin und Autorin<br />

Dr. Tessa Hofmann vom Osteuropa-Institut der FU Berlin fachlich beraten und begleitet.<br />

37 Ebd. S. 343.<br />

38 Ebd. S. 343.<br />

39 Ebd. S. 335.<br />

40 <strong>Ein</strong>stimmiger Bundestagsbeschluss „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den<br />

Armeniern 1915 <strong>–</strong> Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ vom<br />

16.06.2005, S. 2, http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/15/056/1505689.pdf (Stand 01.05.2011)<br />

13


Seit Februar 2010 wurde die szenische Lesung in verschiedenen Orten 41 in Deutschland aufgeführt.<br />

Das Theater-Projekt besteht aus sieben Schauspielern und einem Pianisten. 42 Für eine Aufführung<br />

sind jedoch nur fünf Schauspieler und ein Pianist notwendig.<br />

Die szenische Lesung von <strong>„Der</strong> <strong>Prozess</strong> <strong>Talaat</strong> <strong>Pascha“</strong> zielt darauf ab, möglichst viele Angehörige<br />

jener Länder anzusprechen, die das Thema unmittelbar betrifft, ebenso wie solche Zuschauer, denen<br />

die Thematik, die Rolle und die politische Verantwortung Deutschlands bei dem ersten modernen<br />

Massenmord eines Staates an seinen Bürgern nicht hinreichend bekannt ist. Durch seinen<br />

interkulturellen Ansatz soll das Projekt zur Versöhnung beitragen und die Verständigung zwischen<br />

Türken, Kurden, Armeniern und Deutschen verbessern. 43 Die Erfahrung hat allerdings gezeigt, dass<br />

ein entstehender Dialog mit Bürgern der beteiligten Länder ein Fortschritt ist, aber der Weg zur<br />

Versöhnung noch ein weiter ist. 44<br />

Mit jungem und erwachsenem türkischem Publikum konnte in der Vergangenheit nach der Lesung<br />

ein sachlicher Dialog geführt werden, auch wenn man nicht der gleichen Meinung war, aber sich<br />

offen und freundlich unterhalten konnte. 45<br />

41 https://sites.google.com/site/nichtichbindermoerder/lesungsorte (Stand 01.05.2011)<br />

42 https://sites.google.com/site/nichtichbindermoerder/die-akteure (Stand 01.05.2011)<br />

43 Sechstes Kamingespräch der Kultusministerkonferenz mit Kulturschaffenden zum Thema „Integration und<br />

interkultureller Dialog“: „Auf der Basis einer grundsätzlichen Bereitschaft aller betroffenen gesellschaftlichen<br />

Gruppen zur Öffnung und Teilnahme“, so die Ministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, „bietet der<br />

interkulturelle Dialog sowohl Chancen für ein besseres Miteinander der Menschen als auch für die Entstehung<br />

eines neuen, erweiterten und vielgestaltigeren gemeinsamen kulturellen Selbstverständnisses.“ Man kam<br />

überein, dass - angesichts der zunehmenden Internationalisierung der Gesellschaft - alle Kultureinrichtungen<br />

(Theater, Museen, Konzerthäuser, Kulturverbände etc.) sich der Aufgabe stellen sollten, im Sinne<br />

zielgruppenspezifischer Angebote und Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen vermehrt<br />

Migranten als Publikum zu gewinnen, während umgekehrt auch eine verstärkte Sensibilisierung des<br />

einheimischen Publikums für die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der Migranten erfolgen müsse. Als<br />

Grundlage zur Entwicklung nachhaltiger Zielsetzungen und wirksamer Handlungsstrategien sei es zudem<br />

wünschenswert, den Stand der Bemühungen der Länder bezüglich des <strong>Ein</strong>satzes und Erfolges des<br />

interkulturellen Dialoges als unverzichtbarem Element der Integration festzustellen.<br />

http://www.kmk.org/presse-und-aktuelles/meldung/sechstes-kamingespraech-der-kultusministerkonferenzmit-kulturschaffenden-zum-thema-integration-u.html<br />

(Stand 01.05.2011)<br />

44 Hrant Dink sprach von einem 1915 Meter tiefen Brunnen, auf dessen Grund Armenier und Türken sitzen.<br />

Gemeinsam müssten sie sich aus diesem Abgrund heraufarbeiten, aus diesem Gefängnis befreien. Zitiert nach:<br />

Baskin Oran, Vortrag und anschließendes Interview bei der Gedenkveranstaltung in Köln für Hrant Dink des<br />

Kulturforum TürkeiDeutschland am 19.1.2009<br />

45 Bei einer Lesung in Hannover fand das türkische Publikum die Lesung „ganz gut gemacht“. Das Problem war<br />

aber nicht die Frage, ob es sich um eine Umsiedlung der Armenier oder einen Genozid an den Armeniern<br />

handelte, sondern dass der Angeklagte, der Mörder von <strong>Talaat</strong> Pascha von der deutschen Justiz freigesprochen<br />

wurde. Dass die Geschworenen im Deutschen Reich, allerdings nur bis 1924, alleine über die Schuld des<br />

Angeklagten befinden konnten ist natürlich problematisch. Darüber hat sich ein Teil des deutschen Publikums<br />

mit dem türkischen Publikum unterhalten.<br />

14


Material<br />

Es wird der Schule Informationsmaterial zu der Lesung in schriftlicher und digitaler Form <strong>–</strong><br />

www.voelkermord-armenien.de/schule - bereitgestellt:<br />

Das vollständige Gerichtsprotokoll vom 02/03. Juni 1921 46<br />

Der Text der Lesung und eine historische <strong>Ein</strong>führung<br />

<strong>Ein</strong>e Fotostrecke (Lesung, beteiligte Personen, historische Orte, Karten)<br />

<strong>Ein</strong> 4-seitiger Flyer (Kurzübersicht für die Schüler)<br />

Der Prozeß <strong>Talaat</strong> Pascha. Der armenische Genozid im Spiegel einer deutschen<br />

Gerichtsverhandlung. S. 333 <strong>–</strong> 360 von Bettina Alavi, Geschichtsunterricht in der<br />

multiethnischen Gesellschaft. <strong>Ein</strong>e fachdidaktische Studie zur Modifikation des<br />

Geschichtsunterrichts aufgrund migrationsbedingter Veränderungen. Frankfurt/M.: Verlag<br />

für interkulturelle Kommunikation, 1998.<br />

Definition Genozid (Bundesgesetzblatt 1954, II, S.730, Artikel II)<br />

46 Hofmann, Tessa: Der <strong>Prozess</strong> <strong>Talaat</strong> Pascha: Stenographischer Bericht über die Verhandlungen gegen den des<br />

Mordes an <strong>Talaat</strong> Pascha angeklagten armenischen Studenten Salomon Teilirian vor dem Schwurgericht des<br />

Landgerichts III zu Berlin. Mit einem Vorwort von Armin T. Wegner und einem Anhang. Berlin: Deutsche<br />

Verlagsgesellschaft für Politik, 1921 (Neuausgabe.: Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht: Der <strong>Prozess</strong><br />

<strong>Talaat</strong> Pascha. Herausgegeben und eingeleitet von Tessa Hofmann, 1985)<br />

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