Alltagswissen und soziologisches Fachwissen
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
Text : Die Soziologen – Notorische Besserwisser?<br />
Manchen erscheint die Soziologie als eine Wissenschaft, die in einer komplizierten Fachsprache<br />
Vorgänge beschreibt, über die wir alle schon etwas wissen. Warum?<br />
Antwort 1<br />
Weil die Soziologen oft von Dingen reden, von denen jeder schon etwas weiß oder zu wissen glaubt.<br />
Sie beschäftigen sich mit Dingen, die wir im alltäglichen Leben tun oder die uns im alltäglichen Leben<br />
begegnen – <strong>und</strong> über diese Sachverhalte haben wir in gar nicht so seltenen Fällen selbst eine mehr<br />
oder minder klare Kenntnis oder Meinung.<br />
Kommentar zu Antwort 1<br />
Die Untersuchungsmethoden der Soziologen mögen uns, weil sie etwas mit Statistik <strong>und</strong> Mathematik<br />
zu tun haben, fremd bleiben, aber wenn sie beispielsweise etwas über die heutige Familie sagen, da<br />
kann man mitreden! Wenn man beim Soziologen liest, eine „atomistische Familie“ sei „die mit<br />
sinkendem Einfluss der Verwandtschaftsgruppe <strong>und</strong> der familistischen Werte entstandene,<br />
desintegrierte, individualistische städtische Familie“ dann könnte man ein wenig verwirrt sein.<br />
Übung 1<br />
Antwort 2<br />
Weil es oft so ist, dass die Soziologen unsere Meinung zu den sog. „Alltagsproblemen“ zur Kenntnis<br />
nehmen <strong>und</strong> in ihren Untersuchungen in Rechnung stellen müssen. Je nach dem, was wir, die wir von<br />
den Soziologen untersucht, erforscht, gemessen werden, wissen, meinen oder glauben, je nach dem<br />
kann sich für die Soziologen ein ganz verschiedenes Bild der sozialen Welt ergeben. Dies unterscheidet<br />
ihren Untersuchungsgegenstand – das sind wir alle! – von den Untersuchungsobjekten der<br />
Naturwissenschaftler. (...)<br />
Kommentar zu Antwort 2<br />
Die Antwort hat wirklich etwas mit Problemen der Soziologen zu tun, auf die sie stoßen können, wenn<br />
sie Vorgänge in unserer Gesellschaft untersuchen. (...) Niemand kommt auf die lächerliche Idee, zu<br />
sagen: Wenn ein Naturwissenschaftler nicht weiß, was seine Gegenstände denken, planen, meinen,<br />
kann er das oft nicht einordnen, was er gerade beobachtet. Auch Biologen, die Lebewesen in der<br />
Tierwelt untersuchen, brauchen nicht darüber nachzudenken, ob z.B. im Bienenstaat plötzlich etwas<br />
anderes als bisher geschieht, weil die Bienen neuerdings der Meinung sind, die Qualität des Honigs<br />
müsse verbessert werden. Chemische Stoffe <strong>und</strong> Bienen unterliegen vielmehr Naturgesetzen bzw.<br />
Instinkten (als Naturgesetzen des Verhaltens), die vom Wissenschaftler aufgedeckt werden können<br />
(wenn seine Theorien etwas taugen).<br />
Für den Soziologen liegen die Verhältnisse in diesem Punkt keineswegs so eindeutig. Es ist möglich,<br />
dass zwei Subjekte A <strong>und</strong> V zwar die gleiche Absicht haben (z.B. den Bus zu erreichen), jedoch auf dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> ihrer Meinung über die Situation (ich schaffe es oder nicht) zwei ganz verschiedene<br />
Handlungen vollziehen (z.B. rennen oder stehen bleiben). In diesem Fall sieht der beobachtende<br />
Soziologe S zwei aufgr<strong>und</strong> des Planens <strong>und</strong> Meinens seiner Gegenstände deutlich voneinander<br />
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
unterschiedene Handlungen, die gewissermaßen aus den „Theorien“ folgen, die nicht er, sondern die<br />
Subjekte über die Situation haben, die S untersucht.<br />
Es kann aber auch umgekehrt sein: der Soziologe S sieht ein gleichförmiges Verhalten der Subjekte A,V<br />
oder beliebig vieler anderer... n. Auch in diesem Fall kann es vorkommen, dass er die Eigenheit dieses<br />
Verhalten nur bestimmen kann, wenn er die „Alltagstheorien“ (Pläne, Meinungen, Vorstellungen)<br />
dieser Subjekte kennt. (...) Angenommen, ein Soziologe untersuche menschliche Tätigkeiten <strong>und</strong><br />
Beziehungen an einem Arbeitsplatz (...) <strong>und</strong> wolle wissen, wie die Beziehungen des Betriebsmitgliedes<br />
A zu dessen Vorgesetzten V aussehen. In diesem Falle muss er schon etwas darüber wissen oder<br />
erahnen, was A <strong>und</strong> V selbst von ihrer Beziehung halten. Angenommen, sie seien der Meinung, ihre<br />
Beziehung sei eine „partnerschaftliche“, dann geht im Betrieb, in der Wirklichkeit, etwas ganz anderes<br />
vor, als dann, wenn A <strong>und</strong>/ oder V glauben, sie stünden in einem „Ausbeutungsverhältnis“ zueinander.<br />
Der Soziologe muss schon eine gewisse Ahnung von dem haben, was in den Köpfen seiner<br />
„Gegenstände“, der Leute, vor sich geht, um genaue Beobachtungen machen zu können. Er muss ihr<br />
Handeln „verstehen“. Anderenfalls kann er die Situation verkennen!<br />
Quelle: Arbeitsgruppe Soziologie : Denkweisen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>begriffe der Soziologie - Eine Einführung, 2004, 15.<br />
Auflage, Campus Verlag (aus Kapitel 1, mit Änderungen)<br />
Mit folgendem Schema sollen die Ansprüche des Soziologen deutlicher gemacht werden:<br />
Schema 1<br />
Der Soziologe untersucht einen Einzelvorgang, der in breiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen steht (die Beziehung<br />
zwischen A <strong>und</strong> V)<br />
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
Übung 2<br />
Schema 1 rückt die Frage nach dem Nutzen des Soziologen in ein anderes Licht: Wozu braucht man ihn<br />
überhaupt, wenn er doch nur beobachtet, was die Leute ohnehin wissen <strong>und</strong> tun?<br />
Nun – wenn seine Begriffe <strong>und</strong> Methoden etwas taugen, wird er (1) genauer wissen, was die Leute<br />
denken, wollen <strong>und</strong> tun als diese selbst; (2) erkennen können, dass in vielen Fällen mehr im Spiel ist, als<br />
die Leute glauben (...) Wenn seine Theorie stichhaltig ist, wird er möglicherweise den Einfluss<br />
gesellschaftlicher Faktoren erkennen.<br />
(3) Der Soziologe kann aber auch (...) zum Eindruck gelangen: Was die Leute von ihren sozialen<br />
Beziehungen wissen <strong>und</strong> meinen, das entspricht oft nicht den tatsächlichen Gegebenheiten in der<br />
Gesellschaft. In diesem Augenblick fängt er an, zum Kritiker zu werden (...). Er weiß beispielsweise, wie<br />
Vorurteile zustande kommen <strong>und</strong> wirksam werden.<br />
(4) Seine Kritik kann indes noch weitergehend sein. Unter Umständen glaubt er, mit Mitteln<br />
soziologischen Denkens zeigen zu können, dass das, was Leuten in unserer Gesellschaft an<br />
Unangenehmem zustößt – man denke etwa an Arbeitslosigkeit -, davon abhängt, wie die Gesellschaft<br />
als Ganzes aufgebaut ist.<br />
Der Soziologe redet von Dingen, die uns alle angehen, in die wir alle eingespannt sind. Er redet<br />
allerdings über diese Dinge nicht immer so, wie man es gewohnt ist. (...) Aller Anspruch auf<br />
Wissenschaft wäre hinfällig, entsprächen Bef<strong>und</strong>e der Wissenschaft immer dem, was ohnehin gewusst<br />
wird. Sich irren, unklare, versponnene Aussagen machen, das kann jeder Wissenschaftler, der Physiker<br />
wie der Soziologe. Es ist aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen, dass beide mit ihrer<br />
Wissenschaft erweiterte Einsichten vermitteln.<br />
Mit der Linie 4 hängen drei wesentliche Fragen der theoretischen Soziologie zusammen:<br />
a. Was sind im Rahmen eines bestimmten Ansatzes die Bedingungen des Zusammenhalts, der Einheit<br />
der Gesellschaft als Ganzer? (Synthesis)<br />
b. Was sind gr<strong>und</strong>legende Annahmen über die Entwicklungsbedingungen einer Gesellschaft? (Dynamis)<br />
c. Welches Bild wird von den Handlungsmöglichkeiten der Subjekte in einer Gesellschaft entworfen?<br />
(Praxis)<br />
Übung 3<br />
Übung 4<br />
Wortschatz: Übungen 5-7<br />
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
Übungen<br />
1. Kommentar zu Antwort 1: Verstehen Sie das Zitat? Was wird eigentlich damit gemeint? Nennen Sie drei<br />
Punkte <strong>und</strong> kontrollieren Sie mit der Deutung der Autoren (Lösung 2).<br />
2. Schema 1: Was bedeuten die einzelnen Linien? Ergänzen Sie im Text die passende Nummer (1, 2, 3, 4, 4a<br />
<strong>und</strong> 4b).<br />
Die Linie .... bedeutet: Der Soziologe beobachtet einen Vorgang R. Er sieht, was A <strong>und</strong> V im Verhältnis<br />
zueinander (Relation R) tun (z.B. V kritisiert dauernd die Tätigkeit von A etc.).<br />
Die Linie .... bedeutet die Information über breitere gesellschaftliche Zusammenhänge, auf die der Soziologe<br />
bei der Untersuchung des Vorgangs R zurückgreift. Allgemein-gesellschaftliche Prozesse können direkt oder<br />
indirekt auf die Beziehung R einwirken.<br />
Die gestrichelte Linie .... bedeutet: Der Soziologe muss „verstehen“ können, was die Leute selbst vom<br />
Vorgang R halten, wissen, in Bezug auf diesen wollen usw.<br />
.... <strong>und</strong> .... deuten an, dass es auch bei den Untersuchten in die Richtung auf Gesellschaft zielende<br />
Vermutungen geben kann.<br />
Die gestrichelte Linie .... bedeutet: Die Personen A <strong>und</strong> V haben selbst Meinungen über ihre Relation R. Für<br />
jeden von ihnen verbindet sich mit dem Tun des anderen ein bestimmter „Sinn“ <strong>und</strong> diese Auffassungen über den<br />
„Sinn“ haben einen Einfluss darauf, wie ihre Beziehung wirklich ausfällt.<br />
3. Die Information über „breitere gesellschaftliche Zusammenhänge, auf die der Soziologe zurückgreift“, um<br />
Situationen <strong>und</strong> Entwicklungen zu deuten, wird mittels der griechischen Begriffe näher erläutert.<br />
Wie werden diese Begriffe gedeutet? Geben Sie eine freie Übersetzung der Fragen 1-3.<br />
4. Was ist die Hauptabsicht des Textes? Die Autoren wollen ...<br />
a) ... dem Leser zeigen, dass die Soziologen eigentlich nur das, was wir glauben <strong>und</strong> tun, exakt beschreiben<br />
b) ... den Leser überzeugen, dass die Soziologie trotz einer komplizierten Fachsprache neues Wissen vermitteln<br />
kann.<br />
c) ... dem Leser gegenüber zugeben, dass sich die Soziologen in vielen Fällen einfacher ausdrücken sollten.<br />
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
Wortschatzerweiterung<br />
5. Manchmal kann man die Verben haben, sein, machen vermeiden <strong>und</strong> elegantere Formulierungen auswählen,<br />
z.B.: er macht Fehler er irrt sich.<br />
Die Verben im Rahmen helfen Ihnen, die Ausdrücke im Text aufzudecken.<br />
liegen, kommen auf, gelangen zu, halten von, einwirken, stehen in, aussehen,<br />
stoßen auf, tun, vollziehen<br />
1. wir hatten ein Problem <br />
2. wir hatten die Idee, dass ... wir sind auf die Idee gekommen, dass ...<br />
3. die Verhältnisse sind nicht so eindeutig<br />
4. eine falsche Handlung machen <br />
5. wie ist die Beziehung? <br />
6. welche Meinung haben Sie darüber? <br />
7. sie haben ein partnerschafliches Verhältnis zueinander <br />
8. die Ereignisse hatten einen Einfluss auf die Situation <br />
9. er beobachtet, was die Leute wissen <strong>und</strong> machen <br />
10. nach seinen Beobachtungen hat er den Eindruck, dass ... <br />
6. Bilden Sie Paare mit sinnähnlichen Wörtern, z.B.:<br />
der Ansatz der theoretische Gr<strong>und</strong>gedanke<br />
1) der Vorgang die Bedeutung<br />
2) der Gegenstand die Wirkung<br />
3) das Ergebnis die Erkenntnis<br />
4) die Lage die Tat<br />
5) die Einsicht das Wissen<br />
6) die Beziehung das Ding<br />
7) die Auffassung das Geschehen<br />
8) der Sinn die Bedingung<br />
9) das Ereignis die Situation<br />
10) die Kenntnis das Resultat<br />
11) die Sache der Prozess<br />
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
12) der Einfluss die Hypothese<br />
13) die Handlung das Objekt<br />
14) die Annahme das Verhältnis<br />
15) der Umstand - die Bedingung die Meinung<br />
7. Verben <strong>und</strong> Verbalausdrücke mit ähnlicher Bedeutung: Ergänzen Sie die Wortreihen mit dem passenden<br />
Verb aus dem Kasten, z.B.<br />
bedeuten aussagen meinen .............heißen.............<br />
sich entwickeln heißen treffen reflektieren finden hören<br />
analysieren passieren hervorgehen brauchbar sein wahrnehmen<br />
1. geschehen stattfinden ............................................ vorkommen<br />
2. begegnen über den Weg laufen ............................... stoßen auf<br />
3. entstehen hervorkommen ...................................... erwachsen<br />
4. nachdenken überlegen ............................... sich durch den Kopf gehen lassen<br />
5. taugen stichhaltig sein ...................................... geeignet sein<br />
6. erkennen zur Kenntnis nehmen .................................... erfassen<br />
7. aufdecken ans Licht bringen .................................... aufzeigen<br />
8. untersuchen erforschen ....................................... recherchieren<br />
9. sich ergeben resultieren ............................................. eintreten<br />
10. erfahren herausbekommen ......................................... Kenntnis erhalten<br />
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<strong>Alltagswissen</strong> <strong>und</strong> <strong>soziologisches</strong> <strong>Fachwissen</strong><br />
Lösungen<br />
Übung 1<br />
a) In der neueren Zeit tritt der Einfluss der Verwandten, von Großeltern, Onkeln, Tanten, kurz: der ganzen Sippschaft,<br />
immer mehr zurück. Man vergleiche damit nur eine Bauernfamilie, wo Großmutter, Großvater, Mutter, Vater Kinder<br />
unter einem Dach lebten <strong>und</strong> zusammenarbeiteten.<br />
b) Heute haben althergebrachte „familistische Werte“, Wertvorstellungen in einer Familie, wie z.B. die Ansicht: „Was<br />
der Vater sagt, ist für die Kinder immer verbindlich, richtig <strong>und</strong> gerecht.“, an Verbindlichkeit verloren. Insgesamt<br />
sinkt der Einfluss von „Familienwerten“ auf das Leben.<br />
c) Die Familienbeziehungen werden ohnehin immer lockerer <strong>und</strong> sind von kürzerer Dauer als früher. Familiengruppen<br />
lösen sich schneller auf. Man braucht nur an die Scheidungsraten zu denken. („Desintegration“)<br />
d) Das, was die Punkte a-c beschreiben, findet man immer noch häufiger in Städten der Industriegesellschaften als auf<br />
dem Land oder gar in Entwicklungsländern. In der Stadt sieht jede Familie zu, wo sie bleibt. Keiner kann sich so<br />
recht um den anderen kümmern.<br />
Übung 2<br />
1, 4, 3, 4a <strong>und</strong> 4b, 2<br />
Übung 4<br />
b)<br />
Übung 5<br />
1. sind auf ein ... gestoßen, 2. kamen auf die ..., 3. liegen, 4. vollziehen, 5. sieht ... aus, 6. was halten Sie davon?, 7. stehen in<br />
einem..., 8. wirken auf die ..., 9. tun, 10. ist zu dem ... gelangt<br />
Übung 6<br />
1. der Prozess, 2. das Objekt, 3. das Resultat, 4. die Situation, 5. die Erkenntnis, 6. das Verhältnis, 7. die Meinung, 8. die<br />
Bedeutung, 9. das Geschehen, 10. das Wissen, 11. das Ding, 12. die Wirkung, 13. die Tat, 14. die Hypothese, 15. die<br />
Bedingung<br />
Übung 7<br />
1. passieren, 2. treffen, 3. sich entwickeln, 4. reflektieren, 5. brauchbar sein, 6. wahrnehmen, 7. finden, 8. analysieren, 9.<br />
hervorgehen, 10. hören<br />
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