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HOLODOMOR – der unbekannte Völkermord 1932 – 1933 - das ...

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Aus dem Vereinsleben 66 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

<strong>HOLODOMOR</strong> <strong>–</strong> <strong>der</strong> <strong>unbekannte</strong> <strong>Völkermord</strong> <strong>1932</strong> <strong>–</strong> <strong>1933</strong><br />

und <strong>der</strong> Besuch von Zeitzeugen im Bunker am Blochplatz<br />

Von Marina Schubarth und Katharina Goebel (Text) unter Verwendung von Fotos von<br />

Holger Happel und Christian Hermann<br />

… <strong>das</strong> dokumentartheater berlin im Berliner Unterwelten e.V. verabschiedet sich zur<br />

Winterpause mit zwei außergewöhnlichen Projekten im Bunker am Blochplatz …<br />

Eigentlich sollte es in diesem Jahr keine Premiere mehr geben … eigentlich. Doch es<br />

kam an<strong>der</strong>s, als die Ukrainische Botschaft auf Katharina Goebel und mich zukam und<br />

uns ein sehr interessantes Kooperationsprojekt vorschlug: eine Ausstellung zum 76.<br />

Gedenktag <strong>der</strong> Hungersnot <strong>1932</strong> <strong>–</strong><strong>1933</strong> in <strong>der</strong> Ukraine in Kombination mit szenischer<br />

Lesung und Gesang vom dokumentartheater berlin im Berliner Unterwelten e.V..<br />

Und es sollte eine Ausstellung werden, die<br />

einem Thema auch in Deutschland ein Gesicht<br />

geben konnte, <strong>das</strong> weltweit selbst<br />

heute noch kontrovers diskutiert wird und<br />

polarisiert <strong>–</strong> handelte es sich doch um die<br />

künstlich herbeigeführte Hungersnot in <strong>der</strong><br />

Ukraine unter Stalins Diktatur. Der Begriff<br />

<strong>HOLODOMOR</strong> setzt sich übrigens aus den<br />

ukrainischen Wörtern holod = Hunger und<br />

moryty = Leid veranlassen, Tötung, Vernichtung<br />

zusammen.<br />

In <strong>der</strong> Sowjetzeit durfte man kaum über<br />

dieses Thema sprechen, und in <strong>der</strong> westlichen<br />

Welt war es fast gänzlich aus <strong>der</strong> Historie<br />

und dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden.<br />

Erst mit <strong>der</strong> Perestrojka begann<br />

man, darüber mehr und mehr zu sprechen,<br />

wenn auch mit großer Vorsicht. Heute steht<br />

Anranka, Tanja und Johanna.<br />

Eröffnungsszene.


Aus dem Vereinsleben 67 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

<strong>der</strong> letzte Samstag des Monats November in<br />

<strong>der</strong> Ukraine für den offiziellen Gedenktag für<br />

die Millionen verhungerter, unschuldiger Menschen<br />

in <strong>der</strong> ehemaligen Kornkammer <strong>der</strong><br />

Sowjetunion. Heute darf man darüber endlich<br />

auch offiziell reden und diskutieren.<br />

Die Arbeit an diesem schweren Thema<br />

begann, und je mehr die Ensemblemitglie<strong>der</strong><br />

in die Materie eintauchten, desto schneller<br />

wurde allen bewusst, <strong>das</strong>s die ehemaligen<br />

Zwangsarbeiter, die aus <strong>der</strong> Ukraine im<br />

Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppt<br />

wurden und für die <strong>das</strong> dokumentartheater<br />

berlin sich seit Jahren engagiert, in<br />

<strong>der</strong> Zeit des <strong>HOLODOMOR</strong>S entwe<strong>der</strong> geboren<br />

worden o<strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> waren. Damals<br />

schon erlebten viele, was es heißt, ausgeplün<strong>der</strong>t<br />

zu werden, was es heißt, Angst zu haben,<br />

und was es heißt zu hungern, zu sehen, wie<br />

Freunde, Nachbarn und eigene Familienangehörige<br />

um einen herum einfach sterben. Und<br />

nicht vor Hunger sterben, weil es damals eine<br />

schlechte Ernte gab, wie auch heute noch<br />

einer <strong>der</strong> häufigsten Erklärungsversuche lautet,<br />

son<strong>der</strong>n zu verhungern, weil die Bolschewiki,<br />

Stalins Handlanger und überzeugt<br />

von Stalins politischen und wirtschaftlichen<br />

Zielen, den Bauern <strong>das</strong> letzte Korn wegnahmen,<br />

um in <strong>der</strong> gesamten Ukraine und in den<br />

überwiegend von Ukrainern bevölkerten<br />

Sowjetgebieten wie dem Kuban die Entkulakisierung<br />

und Zwangskollektivierung vorzunehmen.<br />

Die Ukrainische Botschaft stellte uns fantastisches<br />

Buchmaterial zur Verfügung, aus<br />

dem nun Texte gesucht und aufgeschrieben<br />

wurden, unter an<strong>der</strong>em fast <strong>unbekannte</strong> Akten<br />

des Deutschen Auswärtigen Amtes / Konsulat<br />

Charkow aus den Jahren <strong>1932</strong> und <strong>1933</strong><br />

<strong>–</strong> ein einmaliges Geschichtszeugnis.<br />

So tastete sich <strong>das</strong> Theater langsam geschichtlich<br />

und künstlerisch voran. Da im Ensemble<br />

hervorragende Gesangsstimmen vorhanden<br />

sind, entschieden wir uns dafür, die<br />

Ausstellung mit viel Gesang zu brechen, denn<br />

auch viele altukrainische Lie<strong>der</strong> sind in <strong>der</strong><br />

Zeit des <strong>HOLODOMOR</strong>S und in <strong>der</strong> Sowjetzeit<br />

fast ausgestorben.<br />

Fre<strong>der</strong>ik.


Aus dem Vereinsleben 68 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

In diesem Stück sollten sie nun wie<strong>der</strong><br />

aufleben. Also begannen die Sängerinnen in<br />

<strong>der</strong> Gruppe, einmal mehr in unserer jahrelangen<br />

Arbeit, ukrainisch zu lernen.<br />

Und man kann sagen, sie lernten die<br />

Volkslie<strong>der</strong> so, <strong>das</strong>s sogar Ukrainer kaum einen<br />

Akzent heraushören können! Hut ab!!!<br />

Eine große Hilfe fanden wir in <strong>der</strong> Sängerin<br />

Tanja, selbst einmal Mitglied des legendären<br />

Kalyna <strong>–</strong> Chors aus Poltava, die uns Noten<br />

aus dieser Region <strong>der</strong> Ukraine besorgte<br />

und an <strong>der</strong> Aussprache feilte. Dann ging es an<br />

die Stimmverteilung. Wie<strong>der</strong> kam unverhoffte<br />

Hilfe: Borjana, eine in Berlin lebende Dirigentin<br />

und Leiterin des Frauenchors Bulgarian<br />

Voices Berlin, nahm sich unseres Ensembles<br />

an. Ihre konzentrierte Arbeit, ihr strenges<br />

und gleichzeitig glückliches Händchen wirkte<br />

Wun<strong>der</strong> und brachte in kürzester Zeit ein hörenswertes<br />

Ergebnis hervor. Mit einem Lächeln<br />

und den Worten: »Ich sage eigentlich<br />

nie, <strong>das</strong>s ich zufrieden bin. Aber jetzt bin ich<br />

zufrieden!« verließ sie die Probe und ließ unseren<br />

neugeborenen Chor ganz stolz zurück.<br />

Szene mit Johanna, Frieda, Fre<strong>der</strong>ik, Daniel und Michael.<br />

Maritschka, Yurii Nikitjuk und Natalia Zarudna.<br />

Mit <strong>der</strong> Akkordeon-Spielerin Ulrike war <strong>der</strong><br />

musikalische Teil <strong>der</strong> Vorstellung komplett,<br />

und diese wun<strong>der</strong>schönen, alten ukrainischen<br />

Lie<strong>der</strong> waren nun tatsächlich in einem Bunker<br />

in Berlin wie<strong>der</strong> zum Leben erweckt worden.<br />

Das Ensemble war in <strong>der</strong> Probephase, die<br />

aus Zeitgründen nur ein paar Wochen umfasste,<br />

unglaublich engagiert und half mir so auch<br />

in <strong>der</strong> Regie, konzentriert und zügig zu arbeiten.<br />

Die Mitwirkenden hatten sich alle sehr<br />

gut auf <strong>das</strong> Projekt vorbereitet, im Internet<br />

recherchiert und stellten viele Fragen. Sie fanden<br />

ihre Rollen, gaben mir viele tolle Impulse<br />

<strong>–</strong> liehen den Opfern ihre Stimmen und gaben<br />

so ihren Schicksalen einfühlsam ein Gesicht.<br />

Martine, unsere leise, aber starke Helferin,<br />

war während <strong>der</strong> gesamten Proben mit<br />

<strong>der</strong> Ausstattung des Bunkers beschäftigt,<br />

denn es hieß ja, eine gesamte Ausstellung einzurichten,<br />

Requisiten ausfindig zu machen,<br />

Ausstellungstafeln auf die Lesungen maßzuschnei<strong>der</strong>n.<br />

Doch dann kam ein unerwartetes Problem.<br />

Das im Blochplatz vorhandene Licht<br />

machte die ganzen Ausstellungstafeln matt<br />

und schlecht lesbar. Doch dank einer genialen<br />

Idee von Jörg Porepp und Arno Würfel war<br />

<strong>das</strong> Problem binnen kürzester Zeit gelöst! Tag<br />

und Nacht wurden neue Stromkabel gelegt,<br />

es wurde gebohrt und hart gearbeitet. Tag für<br />

Tag verwandelte sich <strong>der</strong> Bunker in eine professionelle<br />

Anlage für eine Ausstellung. Mehr


Aus dem Vereinsleben 69 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

und mehr Tafeln fanden ihren Platz an den<br />

kahlen Bunkerwänden. Große Bil<strong>der</strong> wurden<br />

von Charly Noack gerahmt und stabil gemacht.<br />

Die Referenten <strong>der</strong> regulären Touren<br />

bauten die Proben in ihre Führungen ein. An<br />

dieser Stelle ein riesiges »Danke schön!« für<br />

diese tolle, kollegiale Zusammenarbeit!<br />

In Zusammenarbeit von Katharina Goebel<br />

und Holger Happel entstand ein neuer Flyer,<br />

die PR- Arbeit lief auf Hochtouren.<br />

Und dann kam <strong>der</strong> 26. November 2009<br />

… <strong>der</strong> Tag <strong>der</strong> Premiere. Das bedeutete für<br />

<strong>das</strong> Ensemble gleich eine Doppelvorstellung:<br />

zunächst eine Presseaufführung und dann<br />

gleich darauf die offizielle Premiere.<br />

Eröffnet wurde sie durch die Botschafterin<br />

<strong>der</strong> Ukraine Natalia Zarudna, Christian<br />

Kruse vom Vorstand des Berliner Unterwelten<br />

e.V., durch den Kulturattaché <strong>der</strong> Botschaft<br />

Yurii Nikitjuk und durch mich als Leiterin<br />

des dokumentartheaters berlin.<br />

Ich weiß nicht, ob man diese Premiere,<br />

wie auch die übrigen Vorstellungen, die folgen<br />

sollten, an dem anschließenden Applaus gemessen,<br />

als ein »Erfolg für <strong>das</strong> Theater« bezeichnen<br />

kann. Genauso war es unmöglich,<br />

vor diesem Stück eine »Schöne Vorstellung«<br />

zu wünschen. Und doch standen am Ende <strong>der</strong><br />

Premiere Publikum und Ensemble gleichermaßen<br />

schweigend wie bewegt im Finalsaal.<br />

War es für viele doch ein ganz <strong>unbekannte</strong>s<br />

Kapitel einer tragischen Geschichte mit verheerenden<br />

Opferzahlen an Menschen, die<br />

in Millionenhöhe reichten. We<strong>der</strong> war dem<br />

Publikum nach Applaus zumute, noch dem<br />

Ensemble nach Verbeugungen. Vielen Anwesenden<br />

fehlten schlichterdings die Worte, Tränen<br />

flossen … und <strong>das</strong> ist <strong>der</strong> eigentliche »Erfolg«<br />

von »<strong>HOLODOMOR</strong> <strong>–</strong> <strong>der</strong> <strong>unbekannte</strong><br />

<strong>Völkermord</strong> <strong>1932</strong> <strong>–</strong> <strong>1933</strong>«. Das hatten wir uns<br />

so gewünscht.<br />

Die Geschichten <strong>der</strong> Zeitzeugen, die offiziellen<br />

Berichte <strong>der</strong> verschiedenen Diplomaten<br />

und Auswärtigen Ämter, <strong>das</strong> Bekenntnis<br />

von Lew Kopelew aus seinem Buch<br />

»Aufbewahrung für alle Zeit«: er habe selbst<br />

im Auftrag <strong>der</strong> bolschewistischen Täter den<br />

Bauern <strong>das</strong> letzte Korn weggenommen, <strong>der</strong><br />

Schlussszene.


Aus dem Vereinsleben 70 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

Szene mit Dietmar.<br />

In <strong>der</strong> Ausstellung.<br />

Gästebucheintrag <strong>der</strong> Enkelin einer 94-jährigen<br />

Überlebenden aus dem Jahr 2007 <strong>–</strong> <strong>das</strong><br />

alles geht unter die Haut und nimmt einen mit<br />

in eine Historie, die vor über 75 Jahren stattfand<br />

und die für eines <strong>der</strong> schlimmsten Verbrechen<br />

an <strong>der</strong> Menschlichkeit im zwanzigsten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t steht: dem <strong>HOLODOMOR</strong>.<br />

»Ein großes Lob an die Darsteller!«, hörte<br />

man an diesem Abend immer wie<strong>der</strong> und<br />

wie<strong>der</strong>.<br />

Ein weiteres wichtiges Stück über <strong>unbekannte</strong>,<br />

verdrängte Geschichte ist entstanden,<br />

welches <strong>das</strong> dokumentartheater berlin in sein<br />

reguläres Repertoire aufnehmen wird. Denn<br />

es gab sie, die Menschen, die in den Bunker<br />

kamen, <strong>das</strong> Stück sahen und es weitersagten.<br />

So konnten wir uns unter an<strong>der</strong>em über einen<br />

Besuch von Vertretern <strong>der</strong> Berliner Senatskanzlei<br />

<strong>–</strong> Kulturelle Angelegenheiten, des<br />

Fonds Darstellende Künste e.V., <strong>der</strong> Kulturstiftung<br />

des Bundes, von Historikern im Publikum,<br />

über einen Artikel in <strong>der</strong> Berliner Zeitung<br />

und im Ukrainischen Fernsehen INTER<br />

freuen.<br />

Sätze wie die folgenden wurden von vielen<br />

Menschen nach den Vorstellungen ins<br />

Gästebuch geschrieben:<br />

… eine fürwahr großartige Form <strong>der</strong> zeitgeschichtlichen<br />

Information.<br />

Rainer E. Klemke / Gedenkstättenreferent<br />

Senatskanzlei für kulturelle Angelegenheiten<br />

Vielen Dank, meisterhaft vorbereitetes<br />

Thema, ein wichtiges … Lucia<br />

Eine faszinierende Arbeit. Ich bin tief beeindruckt.<br />

Natalia Zarudna, Botschafterin <strong>der</strong> Ukraine<br />

Respekt und Hochachtung.<br />

Karin Paulshofen-Zenglein<br />

… <strong>der</strong> beste Geschichtsunterricht, den ich je<br />

hatte. Berco<br />

Szene mit Katharina.<br />

Die Premiere war kaum vorbei, da stand<br />

schon <strong>der</strong> nächste, wichtige Abend vor <strong>der</strong><br />

Tür. Wir bauten die gesamte Ausstellung zu<br />

<strong>HOLODOMOR</strong> ab und installierten alle Ex-


Aus dem Vereinsleben 71 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

ponate für unser Stück »OST-Arbeiter«. Denn<br />

es wurden Gäste aus <strong>der</strong> Ukraine erwartet.<br />

20 Opfer des Zweiten Weltkrieges <strong>–</strong> unter<br />

ihnen Zeitzeugen des <strong>HOLODOMOR</strong>S, aber<br />

eben auch ehemalige, nach Deutschland verschleppte<br />

Zwangsarbeiter/Innen <strong>–</strong> allen voran<br />

Soja Ivanowna Kriwitsch, die Frau, <strong>der</strong>en Biografie<br />

nun seit 6 Jahren regelmäßig im Bunker<br />

am Blochplatz gelesen wird!<br />

Ella Späth, die an diesem Abend die Soja<br />

spielen sollte, und Anton als Leonid Sitko<br />

bereiteten sich fleißig darauf vor, ihre beiden<br />

Biographien in russischer Sprache zu lesen.<br />

Und so war nicht nur <strong>das</strong> Ensemble wegen<br />

<strong>der</strong> »Massenszenen« furchtbar aufgeregt, vor<br />

diesen Menschen ihr grausames Schicksal<br />

nachzuspielen.<br />

Wir wissen, es sind ohnehin die schwersten<br />

Aufführungen, wenn wir vor Zeitzeugen<br />

spielten und spielen. Aber nach Jahrzehnten<br />

genau dem Menschen hautnah seine eigene,<br />

traumatische Geschichte auf zwei Meter Entfernung<br />

noch einmal in die Gegenwart zu holen,<br />

ist für unsere jungen Darsteller mehr als<br />

eine Herausfor<strong>der</strong>ung, denn sie begreifen,<br />

<strong>das</strong>s vor ihnen dieser Mensch sitzt. Und es ist<br />

dessen Leben, was sie in ihrem Spiel erzählen!<br />

Am 5. Dezember 2009 kamen sie dann:<br />

unsere Gäste aus <strong>der</strong> Ukraine. Das Ensemble<br />

hatte einen langen Tisch gedeckt, je<strong>der</strong><br />

packte mit an, damit man diese Menschen<br />

nach <strong>der</strong> tränenreichen Aufführung mit etwas<br />

Schönem aus dem Bunker wie<strong>der</strong> in ihre Heimat<br />

verabschieden konnte.<br />

In <strong>der</strong> Gruppe mit dabei: Nadeschda Slessarewa,<br />

die Frau, die mich vor zwölf Jahren<br />

auf <strong>das</strong> Thema OST-Arbeiter brachte, unsere<br />

wichtigste Partnerin in Bezug auf Projekte in<br />

<strong>der</strong> Ukraine. Sie prophezeite uns vor sechs<br />

Jahren, <strong>das</strong>s dieses Theater einmal um die<br />

ganze Welt gehen würde. Sie behielt recht damit!<br />

Nadeschda hat die Hungersnot noch persönlich<br />

sehr in Erinnerung. Sie wohnte damals<br />

in einer Stadt, wo <strong>der</strong> Hunger noch nicht so<br />

verheerend Einzug genommen hatte wie inmitten<br />

<strong>der</strong> ländlichen Bevölkerung. Eines Tages<br />

brachte ihr Vater ein ausgehungertes<br />

Mädchen mit nach Hause und rettete sie so<br />

vor dem Hungertod. 1937 wurde <strong>der</strong> Vater<br />

vom NKWD geholt und erschossen. Nadesch<strong>das</strong><br />

Mama kam nach Sibirien in einen<br />

GULAG <strong>–</strong> als Ehefrau eines Staatsfeindes. Nadeschda<br />

kam in ein Kin<strong>der</strong>heim für staatsfeindliche<br />

Kin<strong>der</strong> zur Umerziehung. Ein paar<br />

Jahre später, im Zuge <strong>der</strong> Verschleppung<br />

durch die Nationalsozialsozialisten, ging sie als<br />

13-jährige von Dnepropetrowsk zu Fuß nach<br />

Deutschland <strong>–</strong> nicht nur aus heutiger Sicht<br />

schier unvorstellbar. Sie passierte mehrere<br />

Konzentrationslager, war wi<strong>der</strong>wärtigen, medizinischen<br />

Experimenten ausgesetzt, aus denen<br />

sie ein schweres Lungenleiden mit nach<br />

Hause nahm, an dem sie bis heute leidet. Und<br />

zudem leistete sie, ein Kind noch, schwerste<br />

Zwangsarbeit.<br />

Auch Lida Chodirewa vom Opferverband<br />

Simferopol ist Teil <strong>der</strong> Gruppe. Die Nationalsozialisten<br />

trennten die 6-jährige im Gefängnis<br />

Unsere Gäste im Finalraum.<br />

Am Tisch.


Aus dem Vereinsleben 72 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

Lida während <strong>der</strong> Schweigeminute.<br />

Görlitz von ihrer Mama, die im Konzentrationslager<br />

Ravensbrück noch in den letzten<br />

Kriegstagen des Jahres 1945 umkam. Lida<br />

wuchs nach ihrer Rückkehr in die ehemalige<br />

Sowjetunion als Vollwaise auf. 1<br />

In unserem so genannten Finalraum, in<br />

dem die Portraits von Zeitzeugen hängen, erkannten<br />

an diesem Abend viele Anwesende<br />

ihre Verwandten und Freunde <strong>–</strong> o<strong>der</strong> auch<br />

gar sich selbst <strong>–</strong> und konnten ihre Tränen<br />

nicht zurückhalten. Natürlich rang auch Soja<br />

Kriwitsch, <strong>der</strong>en Biographie von Ella soeben<br />

gerade erst vorgelesen worden war, um Fassung,<br />

fand kaum Worte. Umso wichtiger war<br />

es, <strong>das</strong>s Ella sofort bei Soja war, sie stützte,<br />

umarmte, ihr ein Röschen überreichte.<br />

Eine Schweigeminute wurde gehalten <strong>–</strong><br />

für diejenigen Menschen, die damals nicht in<br />

ihre Heimat zurückkehrten und für diejenigen,<br />

<strong>der</strong>en Bil<strong>der</strong> auf uns herabblicken und<br />

die mittlerweile, seitdem wir »OST-Arbeiter«<br />

spielen, gestorben sind.<br />

Dazu gehört auch Sinas Mama. Sie<br />

schenkte unserem Theater vor einigen Jahren<br />

einige Kopftücher. Sie war eine sehr liebe<br />

Frau, die durch den Spendenaufruf »SO-<br />

FORTHILFE« beim Verein KONTAKTE-<br />

KOHTAKTbI e.V. bis zu ihrem Lebensende<br />

unterstützt wurde. Bei je<strong>der</strong> Reise in die Ukraine<br />

fuhren wir zur Sina und ihrer Mama, die<br />

bettlägerig war, und brachten ihr eine kleine<br />

Unterstützung.<br />

Auf einem Bild, <strong>das</strong> in diesem letzten<br />

Raum hängt, ist nun Sinas Mama abgebildet.<br />

Eine alte Frau mit einer dicken Beule an <strong>der</strong><br />

Inessa mit Katharina und Eberhard Radczuweit.<br />

Stirn. Als wir sie kurz vor ihrem Tod in <strong>der</strong><br />

Ukraine besuchten und danach fragten,<br />

winkte sie schmerzlich lächelnd und lakonisch<br />

mit den Worten ab: »Ach, ein Geschenk aus<br />

Deutschland …!«<br />

Eine an<strong>der</strong>e Frau gab uns ein Buch und ein<br />

paar handgeschriebene Seiten in die Hand:<br />

»Hier, ein Szenario für ein neues Stück.«<br />

Es ist Inessa Mirtschewska. Sie hat vor<br />

einiger Zeit ein Buch unter dem Titel »Und er<br />

schenkte mir meine Mama« herausgebracht.<br />

Die kleine Inessa wurde gemeinsam mit<br />

ihrer Mama nach Deutschland zur Zwangsarbeit<br />

verschleppt. Eines Tages, es war <strong>der</strong><br />

Geburtstag <strong>der</strong> kleinen Inessa, gab es einen<br />

Appell, und <strong>der</strong> Nazi zeigte auf ihre Mama.<br />

Die Mutter sollte selektiert werden. Das bedeutete<br />

den Tod. Das Kind begann fürchterlich<br />

zu weinen und zu schreien. Da fragte <strong>der</strong><br />

Nazi, warum sie denn so schreie, und Inessa<br />

antwortete ihm, <strong>das</strong>s es ihre Mama sei, und<br />

<strong>das</strong>s doch heute ihr 9. Geburtstag sei! Da<br />

beugte sich <strong>der</strong> Nazi zu ihr und sagte: »An<br />

diesen Tag wirst du dich dein ganzes Leben<br />

lang erinnern!« Und er verschonte ihre Mutter<br />

und »schenkte« <strong>der</strong> Inessa ihre Mama.<br />

Das sind nur ein paar Geschichten <strong>der</strong><br />

Menschen, die diese furchtbare Zeit durchlebt<br />

und überlebt haben und die wir, als dokumentartheater<br />

berlin, unsere Gäste nennen<br />

durften. Dieser Besuch von Zeitzeugen des<br />

<strong>HOLODOMOR</strong>S und des Zweiten Weltkrieges<br />

im Winter 2009 war für alle eine unvergessliche<br />

Begegnung. Es war auch schön<br />

zu sehen, <strong>das</strong>s es so manche Vereinsmit-


Aus dem Vereinsleben 73 Schattenwelt 3- 4 / 2009<br />

Ella liest Sojas Biographie.<br />

Nina und Soja.<br />

glie<strong>der</strong> des Berliner Unterwelten e.V. gab, die<br />

an diesem Abend zu <strong>der</strong> Begegnung zwischen<br />

Län<strong>der</strong>n und Generationen an diesem Abend<br />

dazu gestoßen sind. Wir haben alle gemeinsam<br />

gesessen und gegessen, mit den alten<br />

Menschen getanzt und gesungen. Die Mitglie<strong>der</strong><br />

des Vereins Berliner Unterwelten e.V.<br />

erwiesen sich, gemeinsam mit dem fleißigen<br />

Ensemble des dokumentartheaters berlin, als<br />

wun<strong>der</strong>bare Helfer, die diesen Menschen, die<br />

so viel Grausamkeit erleben mussten, einen<br />

Moment <strong>der</strong> Freundschaft, aber vor allem des<br />

»Nicht-Vergessen-Seins« kurz vor <strong>der</strong> Abfahrt<br />

in ihre Heimat ermöglichen konnten. Noch<br />

einmal ein ganz dolles DANKE SCHÖN dafür!<br />

So ist also 2009 schon wie<strong>der</strong> vergangen<br />

<strong>–</strong> ein sehr intensives Jahr für <strong>das</strong> dokumentartheater<br />

berlin im Berliner Unterwelten e.V.<br />

Es gab viele Son<strong>der</strong>aufführungen, mehr als in<br />

all den Jahren zuvor, sowie viele wichtige Reisen.<br />

Ein großes Publikum konnte die Arbeit<br />

des Vereins durch <strong>das</strong> Theater und somit über<br />

den Weg <strong>der</strong> Kunst für sich neu entdecken.<br />

Über <strong>das</strong> dokumentatheater berlin wurde<br />

auf INTER TV in <strong>der</strong> Ukraine (in etwa <strong>das</strong><br />

ZDF <strong>der</strong> Ukraine) und in <strong>der</strong> Abendschau<br />

vom RBB (Radio Berlin-Brandenburg) über<br />

die <strong>HOLODOMOR</strong>- Ausstellung ausführlich<br />

berichtet.<br />

Auf <strong>der</strong> Internetseite des rbb könnt ihr<br />

unter »Weihnachten in <strong>der</strong> Ukraine« lernen,<br />

wie man die traditionelle Bortscht-Suppe<br />

kocht und sehen, wie <strong>der</strong> Bunker am Blochplatz<br />

vom und durch <strong>das</strong> Theater präsentiert<br />

wird.<br />

In <strong>der</strong> Berliner Zeitung gab es einen wichtigen<br />

Artikel über die <strong>HOLODOMOR</strong>-Ausstellung<br />

(Feuilleton, 30.11.2009) und wie<strong>der</strong>um<br />

auf rbb, in dem deutsch-polnischen<br />

Magazin »Schmidt trifft Kowalski« (Sendetermin,<br />

So.13.12.2009 / 19.00 Uhr) einen Bericht<br />

über <strong>das</strong> Ensemble und Ausschnitte von <strong>der</strong><br />

Aufführung »Tänzerin hinter Stacheldraht« im<br />

LabSaal Lübars am 28. November.<br />

Wir möchten allen denjenigen danken,<br />

die gemeinsam mit uns gegen <strong>das</strong> Vergessen<br />

antreten, und zum Schluss den <strong>–</strong> unseren gemeinsamen<br />

<strong>–</strong> Leitsatz von Georges Santayana<br />

(1863 <strong>–</strong>1952) zitieren, <strong>der</strong> über dem Schleuseneingang<br />

des Vereinsbunkers Gesundbrunnen<br />

angebracht ist: »Wer die Vergangenheit<br />

nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wie<strong>der</strong>holen.«<br />

Im Namen des gesamten Ensembles wünschen<br />

wir Euch allen einen gesunden, ideenreichen,<br />

erfolgreichen und gemeinsamen Einstieg<br />

ins Neue Jahr! Auf 2010!!!<br />

Marina (Maritschka) Schubarth<br />

Regie + Leitung<br />

Katharina Goebel<br />

Organisation + Leitung<br />

Anmerkungen<br />

1 Mehr dazu findet sich in dem Aufsatz: Schubarth,<br />

Marina: Auf den Spuren von Li<strong>das</strong><br />

Mama. In Schattenwelt Jahrband 2008. S. 73<strong>–</strong><br />

79.

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