Simon Geissbühler Die verlorenen Synagogen von ... - projekt36
Simon Geissbühler Die verlorenen Synagogen von ... - projekt36
Simon Geissbühler Die verlorenen Synagogen von ... - projekt36
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Projekt 36 - Occasional Papers<br />
Occasional Paper No. 3<br />
<strong>Simon</strong> <strong>Geissbühler</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>verlorenen</strong> <strong>Synagogen</strong> <strong>von</strong> Bukarest. Von<br />
jüdischen Nachbarschaften zu erinnerungsleeren<br />
grossstädtischen Räumen<br />
[The Lost Synagogues of Bucharest.<br />
From Jewish Neighbourhoods to City Spaces void of Memory]<br />
© 2010 Projekt 36, Bern / <strong>Simon</strong> <strong>Geissbühler</strong>
2<br />
<strong>Simon</strong> <strong>Geissbühler</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>verlorenen</strong> <strong>Synagogen</strong> <strong>von</strong> Bukarest<br />
I. Einleitung<br />
Im Jahr 1900 lebten rund 40’000 Juden in der rumänischen Hauptstadt, die somit nach Iaşi das<br />
zweitwichtigste jüdische Zentrum des Landes war (Magocsi 2002: 109). Bis 1940 wuchs die<br />
jüdische Bevölkerung Bukarests auf fast 100’000 oder knapp mehr als zehn Prozent der Bewohner<br />
an (Gruber 2007: 255). Es existierten über 100 <strong>Synagogen</strong> und Gebetshäuser und<br />
mehrere jüdisch geprägte Nachbarschaften. Heute gibt es kaum mehr Juden in Bukarest, vielleicht<br />
noch ein Promille der Bukarester Bevölkerung ist jüdisch. <strong>Die</strong> jüdische Gemeinde ist zudem<br />
stark überaltert. Nur noch zwei <strong>Synagogen</strong> in Bukarest werden als Gotteshäuser genutzt.<br />
Im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern in der Bukowina, in Bessarabien, in Teilen<br />
Moldawiens und im ungarisch besetzten Nordtranssylvanien blieben die Bukarester Juden vom<br />
Holocaust fast vollständig verschont (Ioanid 2000; <strong>Geissbühler</strong> 2010a; <strong>Geissbühler</strong> 2010b). Sie<br />
hatten „nur“ massive Diskriminierungen, Zwangsarbeit, Enteignungen, willkürliche Verhaftungen<br />
und pogromartige Übergriffe zu erdulden. Etliche Bukarester <strong>Synagogen</strong> wurden<br />
während dem mehrtägigen Pogrom der faschistischen Legionärsbewegung im Januar 1941 beschädigt<br />
oder vernichtet (Catalan 2003; Babeş 2007).<br />
Weit mehr <strong>Synagogen</strong> wurden jedoch gegen Ende der kommunistischen Diktatur zerstört. <strong>Die</strong><br />
in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts initiierte „Systematisierung“ war ein umfassendes<br />
nationales Programms. Gemäss Dinu C. Giurescu (1990) wurden bis 1989 mindestens<br />
29 Städte in Rumänien fast vollständig „systematisiert“, d.h. „wegrasiert“ und neu aufgebaut,<br />
u.a. Suceava, Botoşani, Iaşi, Bacau, Galaţi, Buzau, Constanţa und Baia Mare. Auch Bukarest<br />
erfuhr in den späten siebziger und insbesondere in den achtziger Jahren eine fundamentale<br />
städtebauliche Umstrukturierung. Eine neue urbane Struktur wurde eingeführt, die die alte verdrängte<br />
oder zumindest überlagerte (Ghenciulescu 2003: 410f.). Rund ein Fünftel des alten<br />
Bukarests wurde dem Erdboden gleich gemacht. Es entstand im Zentrum der Stadt ein Abrissstreifen<br />
<strong>von</strong> rund 4,5 Kilometern Länge und einer Breite <strong>von</strong> 500 Meter bis 2,5 Kilometer<br />
(Vossen 2004: 266). Um diese städtebauliche Umgestaltung überhaupt möglich zu machen,<br />
mussten zehntausende Personen zwangsweise umgesiedelt werden (Oţoiu 2009: 184).<br />
Bukarest während der „Systematisierung“ (Cristian Malide)
3<br />
Das Herz des angeblichen „Paris des Ostens“ – „this dusty town on Dîmbovita’s banks does not<br />
even come close to the banlieux surrounding the City of Lights, let alone its center“ (Ioan 2006)<br />
– wurde gewaltsam in etwas verwandelt, was sich polemisch mit „Pyöngyang des Westens“<br />
beschreiben liesse. Gerade dort, wo Anfang der achtziger Jahre noch viele <strong>Synagogen</strong> standen<br />
und jüdisch geprägte Nachbarschaften waren, wurde im Zuge der megalomanen „Systematisierung“<br />
alles demoliert. Mehr als 60 <strong>Synagogen</strong> sind im Rahmen der „Systematisierung“ zerstört<br />
worden. Wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, sind jetzt Orte ohne Erinnerung (lieux sans<br />
mémoire) (vgl. <strong>Geissbühler</strong> i.E.). Sicher wurden nur noch wenige dieser <strong>Synagogen</strong> in den<br />
achtziger Jahren tatsächlich als Gotteshäuser benutzt. Trotzdem handelte es sich um Bauwerke<br />
mit einem unschätzbaren architektonischen, kulturellen, historischen und religiösen Wert. <strong>Die</strong><br />
Vernichtung dieser Gotteshäuser war daher zweifellos ein Verbrechen des kommunistischen<br />
Regimes, das bis heute weder systematisch untersucht noch geahndet wurde.<br />
Es steht ausser Zweifel, dass Diktator Nicolae Ceauşescu die treibende Kraft hinter dem Projekt<br />
der „Systematisierung“ war, das es ihm erlauben sollte „to govern collective memory” and “to<br />
remove from the cityscape those mnemonic devices that reference a heritage at odds with the<br />
one that he himself sought to produce“ (O’Neill 2009: 103). <strong>Die</strong> „Systematisierung“ konnte jedoch<br />
nur gelingen, weil Tausende kollaborierten – lokale und nationale Politiker und Parteikader,<br />
Sicherheitskräfte und Geheimdienst, Geistliche, Bauplaner und Architekten, Abreisskommandos,<br />
Handwerker, Bauarbeiter. Proteste gab es nur wenige. <strong>Die</strong> Führung der jüdischen<br />
Gemeinde war in einer schwierigen Situation. Immerhin konnten einige wenige <strong>Synagogen</strong> vor<br />
der Zerstörung gerettet werden. Wäre mehr Widerstand möglich und erfolgreich gewesen?<br />
<strong>Die</strong>se Frage ist bis heute umstritten, und hier ist nicht der Ort, sie zu beantworten.<br />
<strong>Die</strong> Vernichtung der Bukarester <strong>Synagogen</strong> wurde „erleichtert“ durch die massive jüdische<br />
Emigration nach dem 2. Weltkrieg und in den Jahren des Kommunismus. <strong>Die</strong> Erfahrung der<br />
Verfolgung und Diskriminierung im faschistischen Rumänien und des Holocausts, die unvollständige<br />
und zögerliche Wiedergutmachung, das fast vollständige Fehlen einer Aufarbeitung<br />
der Vergangenheit und die Persistenz antisemitischer Stereotype im Nachkriegsrumänien waren<br />
Gründe für den ausgeprägten Emigrationswille vieler Juden. Der jüdische Bevölkerungsanteil<br />
schrumpfte nach dem 2. Weltkrieg bis heute jedenfalls dramatisch. <strong>Die</strong> jüdische Gemeinde<br />
Bukarests zählt nicht einmal mehr 3’500 Personen (Rotman 2008), in ganz Rumänien sind<br />
vielleicht noch 9’000 Juden übrig geblieben (Volovici 2008). So entstand logischerweise bald<br />
ein „Überangebot“ an <strong>Synagogen</strong>. Es ist illusorisch zu glauben, 100 oder mehr <strong>Synagogen</strong> und<br />
Gebetshäuser hätten <strong>von</strong> der rapide schrumpfenden jüdischen Gemeinde Bukarests bewahrt und<br />
unterhalten werden können.<br />
Zudem führten die kommunistische Politik des Atheismus, die forcierte Akkulturation und die<br />
stetige Überwachung durch die Geheimdienste dazu, dass auch Rumäniens Juden „were deprived<br />
of their Judaism and Jewishness“ (Gitelman 2000). <strong>Synagogen</strong> wurden Orte der<br />
politischen Kontrolle und sogar der politischen Propaganda des kommunistischen Regimes<br />
(Oţoiu 2006: 10). Gemäss Angaben <strong>von</strong> Hildrun Glass (2002: 55) sollen schon in den späten<br />
vierziger Jahren <strong>von</strong> den rund 115‘000 Juden in Bukarest nur 6‘000 regelmässig eine Synagoge<br />
besucht haben. <strong>Die</strong>ser Trend verschärfte sich in den kommunistischen Jahren weiter. Vor<br />
diesem Hintergrund musste man in jedem Fall – wie anderswo in Mittel- und Osteuropa – ge-
4<br />
wisse <strong>Synagogen</strong> anders nutzen und einige im schlimmsten Fall sogar abreissen lassen. Das<br />
Problem ist das Wie.<br />
II. Literatur, Fragstellungen und Vorgehen<br />
Es gibt drei Monographien, die sich allgemein mit den Bukarester <strong>Synagogen</strong> beschäftigen<br />
(Stoica et al. 1999; Ionescu-Ghinea/Stoica 2005; Streja/Schwarz 1996). Über die in der<br />
„Systematisierung“ „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> hingegen gibt es kaum Literatur. Insbesondere<br />
fehlt eine fotografische Dokumentation der Orte in Bukarest, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen. <strong>Die</strong><br />
visuelle Darstellung der Veränderungen eines Ortes mit Synagoge und ohne Synagoge war im<br />
Fall <strong>von</strong> Bukarest bis anhin nie Thema der Forschung.<br />
Selbst in den einschlägigen Darstellungen zur „Systematisierung“ wird die Vernichtung der<br />
Bukarester <strong>Synagogen</strong> fast nie explizit erwähnt. Joachim Vossen (2004) spricht zwar <strong>von</strong> der<br />
Zerstörung des jüdischen Viertels, wobei nicht klar wird, was er damit meint, und <strong>von</strong> „über 20<br />
Kirchen“, die „innerhalb weniger Jahre spurlos“ verschwunden seien. <strong>Die</strong> „<strong>verlorenen</strong>“<br />
<strong>Synagogen</strong> erwähnt er nicht. Auch Bruce O’Neill (2009) geht in seinem sonst hervorragenden<br />
Beitrag über die „Systematisierung“ Bukarests mit keinem Wort auf die <strong>Synagogen</strong> ein. <strong>Die</strong><br />
U.S. Commission for the Preservation of America’s Heritage Abroad schreibt in ihrem Bericht<br />
<strong>von</strong> 2010 zum jüdischen Erbe in Bukarest sogar Folgendes: „For the most part, synagogues<br />
were spared during the massive urban renewal programs of the Ceausescu regime“. <strong>Die</strong>se Aussage<br />
tönt vor dem Hintergrund <strong>von</strong> über 60 allein in Bukarest zerstörten <strong>Synagogen</strong> zynisch,<br />
auch wenn sie sicher auf Unwissenheit und fehlender Recherche beruht.<br />
Damiana Oţoiu (2009: 185) erwähnt die Vernichtung <strong>von</strong> vierzehn Kirchen, zwei Klöstern und<br />
rund 9’400 öffentlichen Gebäuden im Rahmen der „Systematisierung“ Bukarests. <strong>Die</strong><br />
demolierten <strong>Synagogen</strong> erwähnt sie nicht. Augustin Ioan (2000) fordert die „restoration of some<br />
form of sacred architecture“, die im Rahmen der Systematisierung vernichtet wurde. Er bezieht<br />
sich aber ausschliesslich auf orthodoxe Kirchen und Klöster. Von <strong>Synagogen</strong> ist bei ihm keine<br />
Rede. Sogar in Teşu Solomovicis (2007b) Darstellung der Geschichte der Juden in Rumänien<br />
werden die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> nicht erwähnt.<br />
<strong>Die</strong> über 60 in den achtziger Jahren zerstörten <strong>Synagogen</strong> bilden zusammen mit einigen<br />
weiteren <strong>Synagogen</strong>, die entweder bereits früher oder aber später zerstört oder umgenutzt<br />
wurden, die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> Bukarests. Allein das Auffinden der Orte, wo einst<br />
<strong>Synagogen</strong> standen, ist eine Herausforderung. Das Stadtbild Bukarests wurde besonders in den<br />
achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts so radikal verändert, dass es bisweilen nahezu unmöglich<br />
ist, zu rekonstruieren, wo die zerstörten <strong>Synagogen</strong> einst standen. So ist es denn auch undenkbar,<br />
das gelungene Buch „<strong>Die</strong> zerstörten <strong>Synagogen</strong> Wiens“ <strong>von</strong> Bob Martens und Herbert<br />
Peter (2009) als Vorbild für Bukarest zu nehmen (vgl. Martens/Peter 2010). In Wien sind die<br />
meisten Strassenzüge, wo einst <strong>Synagogen</strong> waren, weitgehend intakt. In Bukarest war der<br />
städtebauliche Bruch (zu) extrem.<br />
Nun hätte es den Rahmen dieses Aufsatzes gesprengt, wenn ich versucht hätte, alle <strong>Synagogen</strong>,<br />
die es einmal in Bukarest gab, zu präsentieren und ihre Standorte fotografisch aufzuarbeiten. Ich<br />
musste eine Auswahl treffen. <strong>Die</strong>se Auswahl basiert primär auf der bereits erwähnten Studie
5<br />
<strong>von</strong> Lucia Stoica et al. (1999). Um eine klarere Strukturierung des Forschungsgegenstandes und<br />
der folgenden Präsentation zu ermöglichen, habe ich fünf Cluster gebildet: Unirii, Mircea Vodă,<br />
Moşilor, Antim und Dacia. Bei diesen Cluster handelt es sich um städtische Räume, wo einst<br />
kleinere oder grössere, eher kompakte oder eher durchlässige jüdische Nachbarschaften waren<br />
und somit mehrere <strong>Synagogen</strong> existierten. Einige der unten präsentierten <strong>Synagogen</strong> befinden<br />
sich ausserhalb der Cluster und werden unten als Einzelsynagogen vorgestellt. Alle Angaben zu<br />
einzelnen <strong>Synagogen</strong> (inkl. Namen) stammen – soweit nicht explizit erwähnt – aus der<br />
Publikation <strong>von</strong> Lucia Stoica et al. (1999).<br />
Der vorliegende Aufsatz präsentiert eine Auswahl <strong>von</strong> „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> Bukarests und<br />
dokumentiert sie bzw. die Orte, wo diese <strong>Synagogen</strong> einst standen, fotografisch und mit einem<br />
jeweils kurzen Begleittext. Er ist eine „Dokumentation im Sinne der Beweissicherung“<br />
(Reemtsma 2010). Es geht mir nicht so sehr darum aufzulisten, wann welche Synagoge zerstört<br />
wurde. Lucia Stoica et al. (1999) haben diese wichtige dokumentarische Arbeit bereits geleistet.<br />
Auch interessieren mich hier architektonische oder städtebauliche Fragen weniger. Mein<br />
Interesse ist eher historischer und soziologischer Art.<br />
Meine Forschungsfragen lauten somit einerseits: Wo standen die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong><br />
Bukarests einst? Was ist heute dort, wo früher die <strong>Synagogen</strong> waren? <strong>Die</strong>se Spurensuche ist<br />
eigentlich ein Versuch einer virtuellen Rekonstruktion, einer Rekonstruktion dessen, was nicht<br />
mehr ist und nie mehr sein wird. Andererseits interessiert mich aber auch Folgendes: Weiss<br />
überhaupt jemand, dass es dort, wo heute keine <strong>Synagogen</strong> mehr sind, einst <strong>Synagogen</strong><br />
standen? Sind die <strong>Synagogen</strong> bzw. die Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, in irgendeiner Weise<br />
in die kollektive Erinnerung eingebunden? Wie gingen und gehen die Behörden mit dem<br />
kulturellen Erbe der „<strong>verlorenen</strong>“ Bukarester <strong>Synagogen</strong> um? Wurde und wird eine aktive und<br />
positive Erinnerungskultur im städtischen Raum Bukarest gefördert?<br />
III. Befunde<br />
Cluster Unirii<br />
<strong>Die</strong>s ist der wichtigste und zentrale Cluster. Es handelt sich hier um den städtischen Raum<br />
zwischen dem Unirii-Platz im Westen und dem Boulevard Mircea Vodă im Osten, dem<br />
Choraltempel im Norden und dem Unirii-Boulevard im Süden. In diesem Cluster existierten<br />
einst über 20 <strong>Synagogen</strong> und Gebetshäuser. Er war gewissermassen das Herz des jüdischen<br />
Bukarests (Ciuciu 2005: 197). Gleichzeitig ist hier die Zerstörung besonders evident.<br />
Besonders eindrücklich war – so lassen es jedenfalls die Fotografien erahnen – der grosse<br />
sephardische Tempel „Cahal Grande“, der an der Str. Negru-Vodă 12 stand. <strong>Die</strong> sephardische<br />
Gemeinde Bukarests war einst einflussreich und vermögend (Solomovici 2007a: 97-101), heute<br />
existiert sie faktisch nicht mehr. <strong>Die</strong> „Cahal Grande“ wurde ursprünglich 1819 erbaut. Sie<br />
wurde <strong>von</strong> den Legionären im Januar 1941 massiv beschädigt und danach offenbar nie mehr<br />
vollständig wieder aufgebaut. 1955, 1966 oder 1985 wurden die Ruinen der „Cahal Grande“<br />
abgerissen. Es ist bezeichnend, dass selbst in der Forschung kein Konsens darüber herrscht,<br />
wann eines der bedeutsamsten Gotteshäuser Bukarests zerstört wurde. Dort, wo die „Cahal<br />
Grande“ einst stand, sind heute Wohnblocks.
6<br />
Cahal Grande (Archiv des CSIER – Centrul pentru Studiul Istoriei Evreilor din România)<br />
Ganz in der Nähe der „Cahal Grande“ war die Synagoge „Rabin D. Schöfeld“ (Str. Negru-<br />
Vodă 14). Über diese Synagoge ist fast nichts bekannt. Sie soll 1987 zerstört worden sein.<br />
Ebenfalls in nächster Nachbarschaft zur „Cahal Grande“ stand die kleine sephardische<br />
Synagoge, der Tempel „Mic Spaniol“ (Str. Banu Mărăcine 37). Der Tempel hatte 300 Plätze<br />
und war – wie die „Cahal Grande“ – 1941 <strong>von</strong> den Legionären schwer beschädigt worden.<br />
Nach dem Erdbeben <strong>von</strong> 1977 wurde der Tempel renoviert und 1978 wieder eröffnet. 1986<br />
wurde die Synagoge abgerissen. Heute gibt es auf keine dieser <strong>Synagogen</strong> nur den kleinsten<br />
Hinweis. Es ist, als hätte es diese Gotteshäuser nie gegeben.<br />
„Mic Spaniol“ (Archiv des CSIER / Autor)<br />
Einige Meter nördlicher, dort, wo heute Markthallen, Parkplätze, Wohnblöcke und die Str.<br />
Mămulari sind, war bis in die achtziger Jahre eine Vielzahl <strong>von</strong> <strong>Synagogen</strong>. Nur noch der<br />
Tempel „Unirea Sfântă“ steht an der Str. Mămulari 3 (Ciuciu 2005: 198). Er beherbergt heute
7<br />
das Museum der jüdischen Gemeinschaft Rumäniens (FCER). An der Str. Mămulari gab es zudem<br />
den Tempel „Fraterna“ (Str. Mămulari 10), die Synagoge der Damenschneider (Ciuciu<br />
2005: 198), die Synagoge „A. B. Zissu“ (Str. Mămulari 8) und die Synagoge „Lumina“ (Str.<br />
Mămulari 21). Der Tempel „Or Chudoş“ (Intr. Sticlari 17-19) existierte seit dem frühen 19.<br />
Jahrhundert, in seiner definitiven Form wurde er 1903/04 gebaut. <strong>Die</strong>ser Tempel im Herzen des<br />
jüdischen Bukarests wurde 1985 oder 1987 zerstört. Andere <strong>Synagogen</strong> in der unmittelbaren<br />
Nähe des Tempels „Or Chudoş“ waren der Tempel „Asriel Gaster“ (Str. Sticlari 18), die<br />
Synagoge „Beth Israel“ (Str. Sf. Ion Nou 15), die Synagoge „Sare Ţedek“ (Str. Sf. Ion Nou<br />
18) und die Synagoge „Rabin Rubin“ (Str. Sf. Ion Nou 9).<br />
Bauplan der Fraterna-Synagoge (Archiv der Gemeinde Bukarest, PMB)<br />
Das Herz des jüdischen Bukarests heute (Autor)
8<br />
Ebenfalls zum Cluster Unirii gehört die Synagoge „Craiover Ruf“ (Str. Măcin 14), die aus der<br />
Mitte des 19. Jahrhundert stammte und 1903 vollständig renoviert wurde. <strong>Die</strong> Synagoge hatte<br />
Platz für 300 Gläubige. Sie wurde 1986 demoliert. Das Unirii-Einkaufszentrum, Parkplätze,<br />
Markthallen und Wohnblocks stehen heute dort, wo einst <strong>Synagogen</strong> waren.<br />
Bauplan des Tempels „Or Chudoş“ (Archiv der Gemeinde Bukarest, PMB)<br />
Cluster Mircea Vodă<br />
Wohnblock an der Mămulari-Strasse (Autor)<br />
Der zweite Cluster <strong>von</strong> ehemaligen <strong>Synagogen</strong> erstreckt sich entlang der Nord-Süd-Achse, die<br />
heute <strong>von</strong> der Mircea-Vodă-Strasse gebildet wird. Er schliesst östlich am Cluster Unirii an.<br />
<strong>Die</strong>ser Cluster umfasste rund 20 <strong>Synagogen</strong>. Da<strong>von</strong> steht heute keine einzige mehr, da sämt-
9<br />
liche im breiten Abrissband der achtziger Jahre standen. Während im Cluster Unirii wenigstens<br />
noch eine Synagoge steht, gibt es im Cluster Mircea Vodă nicht den geringsten Hinweis auf die<br />
frühere Präsenz <strong>von</strong> <strong>Synagogen</strong>. <strong>Die</strong> folgenden Fotos aus der Gegenwart vermitteln den Eindruck<br />
eines urbanen Raums, der keinerlei Bezüge mehr hat zur Geschichte und zu den<br />
Geschichten der Vergangenheit. Es handelt sich um einen erinnerungsleeren Raum.<br />
1864 legte Rabbi Meïr Weiser (1809-1879), besser bekannt als „Malbim“, den Grundstein einer<br />
grossen Synagoge an der Str. Bravilor 4. Malbim war ein Vertreter der Orthodoxie und kam<br />
rasch in Konflikt mit den reformierten Juden Bukarests. Malbim wurde schliesslich sogar gezwungen,<br />
Bukarest zu verlassen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde an der Str. Bravilor<br />
eine neue, die so genannte Malbim-Synagoge erbaut. Sie war das Zentrum des orthodoxen<br />
Judentums in Bukarest (Rotman 2008; Streja/Schwarz 1996: 65), hatte 1’200 Plätze, eine<br />
Bibliothek sowie einen kleineren Gebetsraum. Heute finden sich keine Hinweise mehr auf die<br />
Malbim-Synagoge. Dort, wo das Gotteshaus einst stand, ist heute die Baustelle der Nationalbibliothek.<br />
Briefkopf (Archiv des CSIER)<br />
Malbim-Synagoge einst und Nationalbibliothek heute (Archiv des CSIER / Autor)<br />
Ziemlich genau entlang der heutigen Mircea-Vodă-Strasse existierten u.a. folgende <strong>Synagogen</strong>:<br />
<strong>Die</strong> Synagoge „Cismarilor“ (Str. Labirint 6-8), die Synagoge „Beth Avram“ (Str. Mircea-<br />
Vodă 67) mit 300 Plätzen, die kleine, orthodoxe Synagoge „Şoarei Tefilin“ (Str. Olteni 19) aus<br />
den dreissiger Jahren, die Synagoge „Beth Şmil“ (Str. Olteni 10) mit 200 Plätzen, die<br />
Synagoge „Bohuser Klaus“ (Str. Olteni 38) <strong>von</strong> 1930 mit 400 Plätzen, die Synagoge „Beth<br />
Şlomo“ (Str. Avram Goldfaden 28) <strong>von</strong> 1937, der Tempel „Unirea Fraternă“ (Str. Olteni 72),<br />
der 1898 erbaut und 1941 <strong>von</strong> den Legionären verwüstet wurde, die Synagoge „Şcolilor<br />
Unite“ (Str. Avram Goldfaden 28), der Tempel „Caritatea“ <strong>von</strong> 1908 an der Str. Legislatorului<br />
7 mit 300 Plätzen und die Synagoge „Zissu Landman“ an der Str. Bradului 3.
10<br />
Briefkopf (Archiv des CSIER)<br />
(Autor)<br />
Auf der vergeblichen Suche nach einer Synagoge… (Autor)<br />
Stempel (Archiv des CSIER)
11<br />
Cluster Moşilor<br />
Synagoge (links) an der Labirint-Strasse kurz vor ihrer Zerstörung (Cristian Malide)<br />
Im Norden und Nordosten geht der Cluster Unirii in den Cluster Moşilor über. Auch hier<br />
existierten einst mehrere <strong>Synagogen</strong>, <strong>von</strong> denen heute nur noch eine steht. <strong>Die</strong> Synagoge „Bet<br />
Hamidraş“, die leicht zurückversetzt an der Calea Moşilor 78 steht, hat eine lange Geschichte.<br />
An dieser Stelle war offenbar schon im frühen 18. Jahrhundert eine Synagoge. 1830 wurde hier<br />
eine neue Synagoge gebaut, die 1847 bei einem grossen Feuer vernichtet, danach aber wieder<br />
aufgebaut wurde. Während dem Pogrom der Legionäre 1941 wurde die Synagoge schwer beschädigt.<br />
Sie wurde repariert und blieb bis 1978 ein Gotteshaus. Seit 1978 ist sie „verloren“ und<br />
fungiert als Lagerhaus.<br />
Synagoge „Bet Hamidraş“ (Dragoş Brataşanu)
12<br />
In unmittelbarer Nähe gab es drei weitere <strong>Synagogen</strong>, nämlich die kleine Synagoge „Beth<br />
Iosef“ (Calea Moşilor 56) mit 30 Plätzen, die 1921 eröffnet wurde und nach dem Erdbeben<br />
1977 abgebrochen wurde, die Synagoge „Soifer Nachman“ (Str. Decebal 9) mit 100 Plätzen<br />
und die Synagoge „Paşcaner Klaus“ (Str. General I. Em. Florescu 16) mit 300 Plätzen, die<br />
durch das Erdbeben <strong>von</strong> 1977 zerstört wurde. Dort, wo einst die <strong>Synagogen</strong> „Beth Iosef“ und<br />
„Soifer Nachman“ standen, sind Parkplätze. Dort, wo die Synagoge „Paşcaner Klaus“ war, ist<br />
heute ein seit mehreren Jahren bestehender Rohbau.<br />
Cluster Antim<br />
Erinnerungsleere grossstädtische Räume, wo <strong>Synagogen</strong> standen(Autor)<br />
Das historische Quartier Antim existiert nicht mehr. Es ist im Rahmen der „Systematisierung“<br />
durch den Bau des Parlaments, des Unirii-Boulevards und der entlang dieser Achse gebauten<br />
Wohnblöcke weitgehend zerstört worden (Catalan 2010). <strong>Die</strong> <strong>Synagogen</strong> in diesem Teil der<br />
Stadt sind allesamt verschwunden.<br />
Im Cluster Antim befanden sich die Synagoge „Eizig“ (Str. Vânători 12) aus dem Jahr 1890<br />
mit rund 300 Plätzen, der Tempel „Reşit Daath“ (Str. Mitropolitul Antim Ivireanu 13) aus dem<br />
Jahr 1897 mit 500 Plätzen, die Synagoge „Hudoş“ (Bd. Bucureşti Noi 123), die im Januar 1941<br />
<strong>von</strong> den Legionären angezündet und vollständig vernichtet wurde, sowie die kleine Synagoge<br />
„Adath Ieşurim“ (Str. Emigrantului 6).
13<br />
Bauplan des Tempels „Reşit Daath“ (Archiv der Gemeinde Bukarest, PMB))<br />
Hier stand früher eine Synagoge (Autor)<br />
Cluster Dacia<br />
Was ich das Cluster Dacia nenne, bezieht sich auf den nördlichsten Teil der Moşilor-Strasse,<br />
den östlichsten Abschnitt der heutigen Dacia-Strasse sowie die Umgebung des Obor-Marktes.<br />
Hier bildete sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine jüdische Nachbarschaft mit<br />
mehreren <strong>Synagogen</strong> heraus (Rotman 2008). Auch in dieser Gegend gibt es überhaupt keine<br />
Anhaltspunkte mehr, die auf eine jüdische Nachbarschaft oder eine Synagoge verweisen<br />
würden.<br />
Briefkopf (Archiv des CSIER)
14<br />
Einzelsynagogen<br />
Einige <strong>Synagogen</strong> liessen sich nicht eindeutig einem Cluster zuordnen. Sie werden daher in<br />
diesem Abschnitt als Einzelsynagogen aufgeführt. Ich möchte nochmals betonen, dass es sich<br />
auch hier um eine Auswahl handelt, die noch deutlich erweitert werden könnte.<br />
<strong>Die</strong> Synagoge „Filderman“ (Str. Slt. Zaharia 44) liegt ganz in der Nähe der Calea Griviţei,<br />
einer Hauptverkehrsachse, an der ebenfalls relativ viele Juden lebten (Ciuciu 2005: 199). <strong>Die</strong><br />
Synagoge wurde 1925 eingeweiht und soll 200 Gläubigen Platz geboten haben. <strong>Die</strong> Synagoge<br />
war benannt nach Wilhelm Filderman (1881-1963), der die jüdische Gemeinde Rumäniens<br />
durch beide Weltkriege geführt hatte. Nach Filderman ist auch eine Strasse in Bukarest benannt.<br />
Interessanterweise wird jedoch die Rolle Fildermans als Präsident der jüdischen Gemeinschaft<br />
auf dem Strassenschild nicht erwähnt. An der Str. Slt. Zaharia 44 findet sich heute ein unansehnliches<br />
Wohnhaus. Davor stehen ein Firmenwagen und ein Dacia mit einem platten Rad. An<br />
eine Synagoge erinnert nichts. Vielleicht haben in den letzten zehn Jahren die Häusernummern<br />
gewechselt? Aber wahrscheinlich ist einfach nichts übrig geblieben vom einstigen Gotteshaus.<br />
War hier einst die Filderman-Synagoge? (Autor)<br />
(Autor)<br />
Der zu Beginn der dreissiger Jahre im modernen, relativ strengen (Streja/Schwarz 1996: 60),<br />
Art-Déco-Stil erbaute Tempel „Credinţa“ (Str. Vasile Toneanu 48) wird erst seit wenigen<br />
Jahren nicht mehr benutzt. Er ist als historisches Monument klassifiziert und unterscheidet sich
15<br />
<strong>von</strong> den übrigen <strong>Synagogen</strong> in diesem Aufsatz durch die Tatsache, dass er noch nicht „verloren“<br />
ist. Der Tempel „Credinţa“ steht noch immer dort, wo er immer stand. Hinter ihm baut<br />
sich die Bukarester Shopping Mall auf. Es bleibt zu hoffen, dass die Synagoge erhalten bleibt<br />
und vielleicht irgendwann auch wieder öffentlich zugänglich gemacht wird.<br />
(Autor)<br />
(Dragoş Brataşanu)<br />
Als die Synagoge noch benutzt wurde… (George Nicolae)
16<br />
<strong>Die</strong> Synagoge „Ajutorul“ (Str. Andrei Bârseanu 6) liegt unweit des Tempels Credinţa in einer<br />
Seitenstrasse, die <strong>von</strong> der Verwüstung in der Ceauşescu-Periode in ihrer unmittelbaren Nähe<br />
verschont blieb. Auch diese Synagoge wurde in den dreissiger Jahren gebaut. Seit 1986 wird sie<br />
nicht mehr als Gotteshaus genutzt. Sie diente lange als Lagerhaus, heute ist sie – so bizarr es<br />
klingen mag – ein Fitnesszentrum. Nichts erinnert daran, dass der „Oxygen Fitness Club“ einst<br />
eine Synagoge war.<br />
(Autor)<br />
Auf der vom rumänischen Geheimdienst geführten Liste der <strong>Synagogen</strong> Bukarests entdecke ich<br />
den Eintrag „Mosav Zekenim“. <strong>Die</strong> Synagoge befand sich demnach an der Str. Ion Filibiliu 9.<br />
An einem Sonntagmorgen fahre ich an diese kleine Strasse etwas hinter der Mircea-Vodă-<br />
Strasse. Eigentlich erwarte ich nichts. Vielleicht ein Nichts sagendes Wohngebäude. Sicher erwarte<br />
ich keine Synagoge. Aber da steht sie. Eine echte Synagoge, der man sogar noch ansieht,<br />
dass sie einst eine Synagoge war.<br />
(Autor)
17<br />
IV. Schlussfolgerungen<br />
<strong>Synagogen</strong> können Erinnerungsorte sein. <strong>Die</strong> Situation in Bezug auf die <strong>verlorenen</strong> Bukarester<br />
<strong>Synagogen</strong> ist komplex. <strong>Die</strong> <strong>Synagogen</strong> existieren eben nicht mehr, man kann sie nicht mehr<br />
sehen, besuchen, berühren, man kann nicht mehr in ihnen beten. <strong>Die</strong> Erinnerung kann sich somit<br />
auch nicht mehr auf “the materiality of the trace” und “the visibility of the image” stützen<br />
(Nora 1989: 13).<br />
Bukarests jüdisches Erbe wurde nicht nur vernachlässigt, es ist besonders während der<br />
kommunistischen Diktatur vernichtet worden. Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, wurden in<br />
Wohnblöcke, Einkaufszentren, Strassen oder Fitnesszentren ohne den geringsten Bezug zum<br />
Judentum verwandelt. Aus jüdischen Nachbarschaften mit Dutzenden <strong>von</strong> Gotteshäusern<br />
wurden erinnerungslose grossstädtische Räume. Für Bukarest gilt, dass am nationalen<br />
kulturellen Erbe der <strong>Synagogen</strong> kaum Interesse bestand und besteht. <strong>Die</strong> meisten <strong>Synagogen</strong><br />
bzw. Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, werden <strong>von</strong> der nichtjüdischen Mehrheit aus ihrer<br />
Wahrnehmung und ihrem Diskurs über die Stadt verdrängt – oder sie sind längst vergessen.<br />
Ehemalige Synagoge an der heutigen Str. Pascal – Briefkopf (Archiv des CSIER)<br />
Str. Pascal, ein erinnerungsleerer Raum (Autor)<br />
Damit die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> (wieder) Erinnerungsorte werden könnten, bräuchte es vor<br />
allem einen Willen zur Erinnerung. <strong>Die</strong>ser Wille fehlt jedoch (noch). Ich stelle in Bezug auf die<br />
jüdische Vergangenheit Bukarests bei vielen Rumäninnen und Rumänen entweder schlichtes<br />
Unwissen oder aber „a semi-passive, semi-active behavior“ fest, das sich am besten als „forgetting<br />
by avoidance“ (Ricoeur 2006: 448) charakterisieren lässt.<br />
Es ist kaum gewagt zu behaupten, dass sich Rumänien mit seiner Vergangenheit schwer tut.<br />
Sowohl Teile der (politischen) Elite Rumäniens als auch breite Bevölkerungsschichten verschliessen<br />
sich der Vergangenheitsbewältigung weitgehend. Weder vom 2004/2005 publizierten<br />
Schlussbericht der internationalen Kommission über den Holocaust in Rumänien, noch vom<br />
Kommissionsbericht zu den Verbrechen des Kommunismus 2006 (Cesereanu 2008) und vom
18<br />
Literaturnobelpreis 2009 für die rumäniendeutsche Autorin Herta Müller sind echte Impulse für<br />
eine breite Debatte über Rumäniens Vergangenheit ausgegangen. Es fehlt in Rumänien zudem<br />
eine echte Erinnerungskultur, die nicht mit Mahnmalfetischismus und trockenen Geschichtslektionen<br />
verwechselt werden darf. <strong>Die</strong> ehemals blühende jüdische Präsenz in Rumänien, wo<br />
bis zum 2. Weltkrieg eine der grössten jüdischen Gemeinschaften der Welt lebte, wird weitgehend<br />
verschwiegen und vergessen (<strong>Geissbühler</strong> 2010b). Der Holocaust wird zwar mittlerweile<br />
in Schulbüchern erwähnt, aber die Lehrer sind oft in einer schwierigen Lage, weil sie<br />
etwas unterrichten müssen, „wo<strong>von</strong> sie nichts wissen oder – noch schlimmer – worüber sie<br />
falsch informiert worden sind“ (Waldman 2009: 222). Ein wichtiges, aber eher isoliertes<br />
Gegenbeispiel ist die Einweihung des Holocaust-Monuments in Bukarest im Herbst 2009. Doch<br />
auch in diesem Fall bleiben gewisse Zweifel – nicht am Mahnmal selber, das beeindruckend ist,<br />
sondern ob es <strong>von</strong> den Menschen überhaupt in einen (historischen) Kontext gesetzt, verstanden<br />
und „gelebt“ werden kann.<br />
Aus meiner Sicht ging und geht die Vernichtung der Bukarester <strong>Synagogen</strong> Hand in Hand mit<br />
der Verdrängung <strong>von</strong> Religion im Allgemeinen und der jüdischen Geschichte und der jüdischen<br />
Präsenz in dieser Stadt im Besonderen. Ceauşescus „Systematisierungspolitik“ war nicht nur<br />
und nicht einmal in erster Linie das Werk eines grössenwahnsinnigen Psychopathen. Sie war<br />
ein Versuch, eine neue sozialistische Stadt zu schaffen. Um dies zu erreichen, musste das „alte“<br />
Bukarest und die Erinnerungen an dieses „alte“ Bukarest zerstört werden: „In a very straightforward<br />
way, the construction of the heart of the ‚socialist city‘ was also the destruction of the<br />
city’s cultural heritage […] as well as the collective memories and practices that [it] expressed”<br />
(O’Neill 2009: 103).<br />
So wie das „alte“ Bukarest mit seinen <strong>Synagogen</strong>, seinen jüdischen Nachbarschaften, seinen<br />
jüdischen Geschichten dem „neuen“ Bukarest weichen musste und muss, so wurde und wird<br />
auch die Erinnerung an dieses andere Bukarest <strong>von</strong> der nichtjüdischen Mehrheit verdrängt. <strong>Die</strong><br />
unter Ceauşescu aus politischen und ideologischen Gründen vorangetrieben und heute <strong>von</strong><br />
Gleichgültigkeit, Arroganz oder Geldgier alimentierte Eliminierung des historischen kulturellen<br />
Erbes Bukarests – und dazu gehört auch das jüdische Erbe – machte und macht die Stadt ärmer,<br />
eintöniger, uninteressanter.<br />
Das Vergessen ist in diesem Zusammenhang “an obscure will not to inform oneself”, “a<br />
wanting-not-to know” and “a strategy of avoidance, of evasion, of flight” (Ricoeur 2006: 449).<br />
Während ein penetranter, <strong>von</strong> oben oder <strong>von</strong> aussen aufoktroyierter Erinnerungsimperativ<br />
wenig sinnvoll ist, so ist das “wanting-not-to-know” sicher auch keine echte Option. Omer<br />
Bartov schreibt treffend, dass diejenigen, “who stare at [the] past with eyes wide shut can only<br />
conjure fictions, legends, nightmares, and phobias, however much they seek a pure, good,<br />
cleansed identity.”<br />
Grundsätzlich will dieser Artikel eine Reflexion, vielleicht eine Debatte anstossen über das<br />
Thema der Erinnerung im Allgemeinen und die jüdische Vergangenheit Bukarests im<br />
Speziellen. <strong>Die</strong>s würde wohl auch eine Verstärkung der innovativen, interaktiven Bildungsarbeit<br />
auf allen Ebenen – in Grund- und Mittelschulen und an den Universitäten – bedingen.<br />
Einsicht, Verantwortungsbewusstsein und ethisches Verhalten lassen sich nicht eintrichtern<br />
(Reemtsma 2010). <strong>Die</strong> Vermittlung <strong>von</strong> Werten – und darum geht es letztlich – gehört auch
19<br />
nicht primär ins Schulzimmer, sondern ins Elternhaus. Aber es braucht sehr wohl eine kritische<br />
Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in den Bildungsinstitutionen. Vielleicht lassen<br />
sich so kommende Generationen sensibilisieren für den Wert kultureller, sozialer und religiöser<br />
Vielfalt im Allgemeinen und die bewundernswerte jüdische Vergangenheit Bukarests im<br />
Speziellen.<br />
Es wäre für Bukarest eine Bereicherung, wenn einige Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, in<br />
irgendeiner Form gekennzeichnet und Eingang in das kollektive Gedächtnis dieser Stadt finden<br />
würden. <strong>Die</strong>se virtuelle Wiederherstellung der „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> ist durchaus möglich:<br />
„[E]ven totally bulldozed places can be marked to restore some shared public meaning, a<br />
recognition of spatial conflict, or bitterness, or despair“ (Hayden 1997: 9). Ich glaube nicht, dass<br />
es realistisch und sinnvoll ist, den Wiederaufbau <strong>von</strong> einer oder mehreren <strong>Synagogen</strong> zu<br />
fordern. Es sei aber immerhin erwähnt, dass Augustin Ioan (2000) ernsthaft für den Wiederaufbau<br />
des im Rahmen der „Systematisierung“ zerstörten Văcăreşti-Klosters im Zentrum<br />
Bukarests plädiert. <strong>Die</strong>s wäre, so schreibt Ioan, “a gesture towards recuperating the demolished<br />
history of Bucharest and, in doing so, towards healing the ruptured memories of the city and its<br />
inhabitants.” Ioans Ansatz ist interessant, nur konzentriert er sich ausschliesslich auf die Mehrheitsbevölkerung<br />
und blendet die Bukarester Juden bewusst oder unbewusst aus, obwohl diese<br />
einst mehr als zehn Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten und auch integraler Teil der<br />
Geschichte und Identität Bukarests sind.<br />
Ich plädiere eher für virtuelle Rekonstruktionen oder Teilrekonstruktionen. Es braucht gar nicht<br />
viel Vorstellungskraft, sich einfache, aber wirkungsvolle künstlerische Formen der Erinnerung<br />
auszumalen. Ohne grossen Aufwand liessen sich beispielsweise Bilder der „<strong>verlorenen</strong>“<br />
<strong>Synagogen</strong> auf die heutigen Gebäude projizieren. <strong>Die</strong>s wäre eine innovative visuelle und<br />
virtuelle Form der Darstellung dessen, was einst war und somit der temporären „Rekonstruktion“<br />
der „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong>. Ein solches visuelles Projekt im städtischen Raum<br />
müsste <strong>von</strong> den Bewohnern zumindest zur Kenntnis genommen werden und könnte eine<br />
Debatte auslösen.<br />
Babeş, Adina-Franciska (2007). Ianuarie 1941. Istoria, evenimentele şi victimele pogromului<br />
legionar de la Bucureşti, Studia Hebraica 7: 227-257.<br />
Bartov, Omer (2007). Erased. Vanishing Traces of Jewish Galicia in Present-Day Ukraine.<br />
Princeton.<br />
Bartov, Omer (2008). Eastern Europe as the Site of Genocide, The Journal of Modern History<br />
80: 557-593.<br />
Catalan, Gabriel (2003). Aspecte ale rebeliunii legionare în carterul Antim din Bucureşti, in<br />
Despre Holocaust şi Comunism. Iaşi, pp. 142-151.<br />
Catalan, Gabriel (2006). Demolarea unei sinagogi bucureştene în anii ’80 – un document<br />
inedit, Vatra 11/12: 157-158.<br />
Catalan, Gabriel (2010). Distrugerea patrimoniului arhitectural mozaic din Bucureşti în<br />
timpul demolărilor ceauşiste. Bern: Projekt 36 (Occasional Paper No. 2).
20<br />
Cesereanu, Ruxandra (2008). The Final Report on the Holocaust and the Final Report on the<br />
Communist Dictatorship in Romania, East European Politics and Societies 22(2): 270-281.<br />
Ciuciu, Anca (2005). Martori tăcuţi. Magazinele evreieşti din cartierul Dudeşti-Văcăreşti,<br />
Studia Hebraica 5: 196-209.<br />
<strong>Geissbühler</strong>, <strong>Simon</strong> (2010a). Like Shells on a Shore. Synagogues and Jewish Cemeteries of<br />
Northern Moldavia. Bern.<br />
<strong>Geissbühler</strong>, <strong>Simon</strong> (2010b). Spuren, die vergehen. Auf der Suche nach dem jüdischen<br />
Sathmar/Satu Mare. Berlin.<br />
<strong>Geissbühler</strong>, <strong>Simon</strong> (i.E.). Bucharest’s “Lost” Synagogues as “Lieux sans Mémoire”, Studia<br />
Hebraica.<br />
Ghenciulescu, Ştefan (2003). Everyone’s Space, Someone’s Space, No One’s Space, in Ioan,<br />
Augustin (ed.). Lost in Space. Bucharest, pp. 398-429.<br />
Gitelman, Zvi (2000). Reconstructing Jewish Communities and Jewish Identities in Post-<br />
Communist East-Central Europe, Yearbook. Jewish Studies at the CEU (1996-1999)<br />
[http://web.ceu.hu/jewishstudies/pdf/01_gitelman.pdf, accessed on May 28, 2010].<br />
Giurescu, Dinu C. (1990). The Razing of Romania’s Past. New York.<br />
Glass, Hildrun (2002). Minderheit zwischen zwei Diktaturen. Zur Geschichte der Juden in<br />
Rumänien 1944-1949. München.<br />
Gruber, Ruth Ellen (2007). Jewish Heritage Travel. A Guide to Eastern Europe. Washington.<br />
Hayden, Dolores (1997). The Power of Place. Urban Landscapes as Public History.<br />
Cambridge/London.<br />
Ioan, Augustin (2000). Healing the Rupture, ArtMargins (26.8.2000)<br />
[http://www.artmargins.com, accessed on June 5, 2010].<br />
Ioan, Augustin (2006). The History of Nothing: Contemporary Architecture and Public Space<br />
in Romania, ArtMargins (3.12.2006) [http://www.artmargins.com, accessed on June 5, 2010].<br />
Ioanid, Radu (2000). The Holocaust in Romania. The Destruction of Jews and Gypsies under<br />
the Antonescu Regime, 1940-1944. Chicago.<br />
Ionescu-Ghinea, Neculai/Stoica, Lucia (2005). Enciclopedia lăcaşurlior de cult din Bucureşti.<br />
Bucureşti.<br />
Magocsi, Paul Robert (2002). Historical Atlas of Central Europe. Seattle.<br />
Martens, Bob/Peter, Herbert (2009). <strong>Die</strong> zerstörten <strong>Synagogen</strong> Wiens. Virtuelle Stadtspaziergänge.<br />
Wien.
21<br />
Martens, Bob/Peter, Herbert (2010). Displacing the Frontiers of Reconstructed Cultural<br />
Heritage. Representation of the Non-Existing within an Urban Context, in Dave, B. et al.<br />
(eds.). New Frontiers: Proceedings of the 15 th International Conference on Computer-Aided<br />
Architectural Design Research in Asia. Hong Kong, pp. 63-72.<br />
Nora, Pierre (1989). Between Memory and History: Les Lieux de Mémoire, Representations<br />
26: 7-24.<br />
O’Neill, Bruce (2009). The Political Agency of Cityscapes. Spatializing Governance in<br />
Ceausescu’s Bucharest, Journal of Social Archaeology 9(1): 92-109.<br />
Oţoiu, Damiana (2006). Restitution in Post-communist Romania: Keeping the “Others” out?<br />
The Case of the Jewish Community (Paper, Conference “Teaching Anthropology: Means and<br />
Meanings”, Cluj-Napoca).<br />
Oţoiu, Damiana (2009). Construind “Victoria Socialismului”, in Ivan, Ruxandra (ed.).<br />
“Transformarea socialistă”. Politici ale regimului communist între ideologie şi administraţie.<br />
Iaşi, pp. 175-191.<br />
Reemtsma, Jan Philipp (2010). Wozu Gedenkstätten?, Aus Politik und Zeitgeschichte 25/26:<br />
3-9.<br />
Ricoeur, Paul (2006). Memory, History, Forgetting. Chicago/London.<br />
Rotman, Liviu (2008). Bucharest, The YIVO Encyclopedia [http://www.yivoencyclopedia.org,<br />
accessed on June 6, 2010].<br />
Solomovici, Teşu (2007a). Istoria evreilor din România. 2000 de ani de existenţă. Volumul I.<br />
Bucureşti.<br />
Solomovici, Teşu (2007b). Istoria evreilor din România. 2000 de ani de existenţă. Evreimea<br />
română în anii comunismului şi după. Bucureşti.<br />
Stoica, Lucia et al. (1999). Atlas-Ghid. Istoria şi arhitectura lăcaşurilor de cult din Bucureşti<br />
din cele mai vechi timpuri până astăzi. Volumul I. Bucureşti.<br />
Streja, Aristide/Schwartz, Lucian (1996). Sinagogi din România. Bucureşti.<br />
U.S. Commission for the Preservation of America’s Heritage Abroad (ed.) (2010). Historic<br />
Jewish Sites in Romania. Washington.<br />
Volovici, Leon (2008). Romania, in Hundert, Gershon D. (ed.). The YIVO Encyclopedia of<br />
Jews in Eastern Europe. New Haven, pp. 1568-1578.<br />
Vossen, Joachim (2004). Bukarest – <strong>Die</strong> Entwicklung des Stadtraums. Berlin<br />
* * *