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Simon Geissbühler Die verlorenen Synagogen von ... - projekt36

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Projekt 36 - Occasional Papers<br />

Occasional Paper No. 3<br />

<strong>Simon</strong> <strong>Geissbühler</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>verlorenen</strong> <strong>Synagogen</strong> <strong>von</strong> Bukarest. Von<br />

jüdischen Nachbarschaften zu erinnerungsleeren<br />

grossstädtischen Räumen<br />

[The Lost Synagogues of Bucharest.<br />

From Jewish Neighbourhoods to City Spaces void of Memory]<br />

© 2010 Projekt 36, Bern / <strong>Simon</strong> <strong>Geissbühler</strong>


2<br />

<strong>Simon</strong> <strong>Geissbühler</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>verlorenen</strong> <strong>Synagogen</strong> <strong>von</strong> Bukarest<br />

I. Einleitung<br />

Im Jahr 1900 lebten rund 40’000 Juden in der rumänischen Hauptstadt, die somit nach Iaşi das<br />

zweitwichtigste jüdische Zentrum des Landes war (Magocsi 2002: 109). Bis 1940 wuchs die<br />

jüdische Bevölkerung Bukarests auf fast 100’000 oder knapp mehr als zehn Prozent der Bewohner<br />

an (Gruber 2007: 255). Es existierten über 100 <strong>Synagogen</strong> und Gebetshäuser und<br />

mehrere jüdisch geprägte Nachbarschaften. Heute gibt es kaum mehr Juden in Bukarest, vielleicht<br />

noch ein Promille der Bukarester Bevölkerung ist jüdisch. <strong>Die</strong> jüdische Gemeinde ist zudem<br />

stark überaltert. Nur noch zwei <strong>Synagogen</strong> in Bukarest werden als Gotteshäuser genutzt.<br />

Im Gegensatz zu ihren Glaubensbrüdern in der Bukowina, in Bessarabien, in Teilen<br />

Moldawiens und im ungarisch besetzten Nordtranssylvanien blieben die Bukarester Juden vom<br />

Holocaust fast vollständig verschont (Ioanid 2000; <strong>Geissbühler</strong> 2010a; <strong>Geissbühler</strong> 2010b). Sie<br />

hatten „nur“ massive Diskriminierungen, Zwangsarbeit, Enteignungen, willkürliche Verhaftungen<br />

und pogromartige Übergriffe zu erdulden. Etliche Bukarester <strong>Synagogen</strong> wurden<br />

während dem mehrtägigen Pogrom der faschistischen Legionärsbewegung im Januar 1941 beschädigt<br />

oder vernichtet (Catalan 2003; Babeş 2007).<br />

Weit mehr <strong>Synagogen</strong> wurden jedoch gegen Ende der kommunistischen Diktatur zerstört. <strong>Die</strong><br />

in den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts initiierte „Systematisierung“ war ein umfassendes<br />

nationales Programms. Gemäss Dinu C. Giurescu (1990) wurden bis 1989 mindestens<br />

29 Städte in Rumänien fast vollständig „systematisiert“, d.h. „wegrasiert“ und neu aufgebaut,<br />

u.a. Suceava, Botoşani, Iaşi, Bacau, Galaţi, Buzau, Constanţa und Baia Mare. Auch Bukarest<br />

erfuhr in den späten siebziger und insbesondere in den achtziger Jahren eine fundamentale<br />

städtebauliche Umstrukturierung. Eine neue urbane Struktur wurde eingeführt, die die alte verdrängte<br />

oder zumindest überlagerte (Ghenciulescu 2003: 410f.). Rund ein Fünftel des alten<br />

Bukarests wurde dem Erdboden gleich gemacht. Es entstand im Zentrum der Stadt ein Abrissstreifen<br />

<strong>von</strong> rund 4,5 Kilometern Länge und einer Breite <strong>von</strong> 500 Meter bis 2,5 Kilometer<br />

(Vossen 2004: 266). Um diese städtebauliche Umgestaltung überhaupt möglich zu machen,<br />

mussten zehntausende Personen zwangsweise umgesiedelt werden (Oţoiu 2009: 184).<br />

Bukarest während der „Systematisierung“ (Cristian Malide)


3<br />

Das Herz des angeblichen „Paris des Ostens“ – „this dusty town on Dîmbovita’s banks does not<br />

even come close to the banlieux surrounding the City of Lights, let alone its center“ (Ioan 2006)<br />

– wurde gewaltsam in etwas verwandelt, was sich polemisch mit „Pyöngyang des Westens“<br />

beschreiben liesse. Gerade dort, wo Anfang der achtziger Jahre noch viele <strong>Synagogen</strong> standen<br />

und jüdisch geprägte Nachbarschaften waren, wurde im Zuge der megalomanen „Systematisierung“<br />

alles demoliert. Mehr als 60 <strong>Synagogen</strong> sind im Rahmen der „Systematisierung“ zerstört<br />

worden. Wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, sind jetzt Orte ohne Erinnerung (lieux sans<br />

mémoire) (vgl. <strong>Geissbühler</strong> i.E.). Sicher wurden nur noch wenige dieser <strong>Synagogen</strong> in den<br />

achtziger Jahren tatsächlich als Gotteshäuser benutzt. Trotzdem handelte es sich um Bauwerke<br />

mit einem unschätzbaren architektonischen, kulturellen, historischen und religiösen Wert. <strong>Die</strong><br />

Vernichtung dieser Gotteshäuser war daher zweifellos ein Verbrechen des kommunistischen<br />

Regimes, das bis heute weder systematisch untersucht noch geahndet wurde.<br />

Es steht ausser Zweifel, dass Diktator Nicolae Ceauşescu die treibende Kraft hinter dem Projekt<br />

der „Systematisierung“ war, das es ihm erlauben sollte „to govern collective memory” and “to<br />

remove from the cityscape those mnemonic devices that reference a heritage at odds with the<br />

one that he himself sought to produce“ (O’Neill 2009: 103). <strong>Die</strong> „Systematisierung“ konnte jedoch<br />

nur gelingen, weil Tausende kollaborierten – lokale und nationale Politiker und Parteikader,<br />

Sicherheitskräfte und Geheimdienst, Geistliche, Bauplaner und Architekten, Abreisskommandos,<br />

Handwerker, Bauarbeiter. Proteste gab es nur wenige. <strong>Die</strong> Führung der jüdischen<br />

Gemeinde war in einer schwierigen Situation. Immerhin konnten einige wenige <strong>Synagogen</strong> vor<br />

der Zerstörung gerettet werden. Wäre mehr Widerstand möglich und erfolgreich gewesen?<br />

<strong>Die</strong>se Frage ist bis heute umstritten, und hier ist nicht der Ort, sie zu beantworten.<br />

<strong>Die</strong> Vernichtung der Bukarester <strong>Synagogen</strong> wurde „erleichtert“ durch die massive jüdische<br />

Emigration nach dem 2. Weltkrieg und in den Jahren des Kommunismus. <strong>Die</strong> Erfahrung der<br />

Verfolgung und Diskriminierung im faschistischen Rumänien und des Holocausts, die unvollständige<br />

und zögerliche Wiedergutmachung, das fast vollständige Fehlen einer Aufarbeitung<br />

der Vergangenheit und die Persistenz antisemitischer Stereotype im Nachkriegsrumänien waren<br />

Gründe für den ausgeprägten Emigrationswille vieler Juden. Der jüdische Bevölkerungsanteil<br />

schrumpfte nach dem 2. Weltkrieg bis heute jedenfalls dramatisch. <strong>Die</strong> jüdische Gemeinde<br />

Bukarests zählt nicht einmal mehr 3’500 Personen (Rotman 2008), in ganz Rumänien sind<br />

vielleicht noch 9’000 Juden übrig geblieben (Volovici 2008). So entstand logischerweise bald<br />

ein „Überangebot“ an <strong>Synagogen</strong>. Es ist illusorisch zu glauben, 100 oder mehr <strong>Synagogen</strong> und<br />

Gebetshäuser hätten <strong>von</strong> der rapide schrumpfenden jüdischen Gemeinde Bukarests bewahrt und<br />

unterhalten werden können.<br />

Zudem führten die kommunistische Politik des Atheismus, die forcierte Akkulturation und die<br />

stetige Überwachung durch die Geheimdienste dazu, dass auch Rumäniens Juden „were deprived<br />

of their Judaism and Jewishness“ (Gitelman 2000). <strong>Synagogen</strong> wurden Orte der<br />

politischen Kontrolle und sogar der politischen Propaganda des kommunistischen Regimes<br />

(Oţoiu 2006: 10). Gemäss Angaben <strong>von</strong> Hildrun Glass (2002: 55) sollen schon in den späten<br />

vierziger Jahren <strong>von</strong> den rund 115‘000 Juden in Bukarest nur 6‘000 regelmässig eine Synagoge<br />

besucht haben. <strong>Die</strong>ser Trend verschärfte sich in den kommunistischen Jahren weiter. Vor<br />

diesem Hintergrund musste man in jedem Fall – wie anderswo in Mittel- und Osteuropa – ge-


4<br />

wisse <strong>Synagogen</strong> anders nutzen und einige im schlimmsten Fall sogar abreissen lassen. Das<br />

Problem ist das Wie.<br />

II. Literatur, Fragstellungen und Vorgehen<br />

Es gibt drei Monographien, die sich allgemein mit den Bukarester <strong>Synagogen</strong> beschäftigen<br />

(Stoica et al. 1999; Ionescu-Ghinea/Stoica 2005; Streja/Schwarz 1996). Über die in der<br />

„Systematisierung“ „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> hingegen gibt es kaum Literatur. Insbesondere<br />

fehlt eine fotografische Dokumentation der Orte in Bukarest, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen. <strong>Die</strong><br />

visuelle Darstellung der Veränderungen eines Ortes mit Synagoge und ohne Synagoge war im<br />

Fall <strong>von</strong> Bukarest bis anhin nie Thema der Forschung.<br />

Selbst in den einschlägigen Darstellungen zur „Systematisierung“ wird die Vernichtung der<br />

Bukarester <strong>Synagogen</strong> fast nie explizit erwähnt. Joachim Vossen (2004) spricht zwar <strong>von</strong> der<br />

Zerstörung des jüdischen Viertels, wobei nicht klar wird, was er damit meint, und <strong>von</strong> „über 20<br />

Kirchen“, die „innerhalb weniger Jahre spurlos“ verschwunden seien. <strong>Die</strong> „<strong>verlorenen</strong>“<br />

<strong>Synagogen</strong> erwähnt er nicht. Auch Bruce O’Neill (2009) geht in seinem sonst hervorragenden<br />

Beitrag über die „Systematisierung“ Bukarests mit keinem Wort auf die <strong>Synagogen</strong> ein. <strong>Die</strong><br />

U.S. Commission for the Preservation of America’s Heritage Abroad schreibt in ihrem Bericht<br />

<strong>von</strong> 2010 zum jüdischen Erbe in Bukarest sogar Folgendes: „For the most part, synagogues<br />

were spared during the massive urban renewal programs of the Ceausescu regime“. <strong>Die</strong>se Aussage<br />

tönt vor dem Hintergrund <strong>von</strong> über 60 allein in Bukarest zerstörten <strong>Synagogen</strong> zynisch,<br />

auch wenn sie sicher auf Unwissenheit und fehlender Recherche beruht.<br />

Damiana Oţoiu (2009: 185) erwähnt die Vernichtung <strong>von</strong> vierzehn Kirchen, zwei Klöstern und<br />

rund 9’400 öffentlichen Gebäuden im Rahmen der „Systematisierung“ Bukarests. <strong>Die</strong><br />

demolierten <strong>Synagogen</strong> erwähnt sie nicht. Augustin Ioan (2000) fordert die „restoration of some<br />

form of sacred architecture“, die im Rahmen der Systematisierung vernichtet wurde. Er bezieht<br />

sich aber ausschliesslich auf orthodoxe Kirchen und Klöster. Von <strong>Synagogen</strong> ist bei ihm keine<br />

Rede. Sogar in Teşu Solomovicis (2007b) Darstellung der Geschichte der Juden in Rumänien<br />

werden die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> nicht erwähnt.<br />

<strong>Die</strong> über 60 in den achtziger Jahren zerstörten <strong>Synagogen</strong> bilden zusammen mit einigen<br />

weiteren <strong>Synagogen</strong>, die entweder bereits früher oder aber später zerstört oder umgenutzt<br />

wurden, die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> Bukarests. Allein das Auffinden der Orte, wo einst<br />

<strong>Synagogen</strong> standen, ist eine Herausforderung. Das Stadtbild Bukarests wurde besonders in den<br />

achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts so radikal verändert, dass es bisweilen nahezu unmöglich<br />

ist, zu rekonstruieren, wo die zerstörten <strong>Synagogen</strong> einst standen. So ist es denn auch undenkbar,<br />

das gelungene Buch „<strong>Die</strong> zerstörten <strong>Synagogen</strong> Wiens“ <strong>von</strong> Bob Martens und Herbert<br />

Peter (2009) als Vorbild für Bukarest zu nehmen (vgl. Martens/Peter 2010). In Wien sind die<br />

meisten Strassenzüge, wo einst <strong>Synagogen</strong> waren, weitgehend intakt. In Bukarest war der<br />

städtebauliche Bruch (zu) extrem.<br />

Nun hätte es den Rahmen dieses Aufsatzes gesprengt, wenn ich versucht hätte, alle <strong>Synagogen</strong>,<br />

die es einmal in Bukarest gab, zu präsentieren und ihre Standorte fotografisch aufzuarbeiten. Ich<br />

musste eine Auswahl treffen. <strong>Die</strong>se Auswahl basiert primär auf der bereits erwähnten Studie


5<br />

<strong>von</strong> Lucia Stoica et al. (1999). Um eine klarere Strukturierung des Forschungsgegenstandes und<br />

der folgenden Präsentation zu ermöglichen, habe ich fünf Cluster gebildet: Unirii, Mircea Vodă,<br />

Moşilor, Antim und Dacia. Bei diesen Cluster handelt es sich um städtische Räume, wo einst<br />

kleinere oder grössere, eher kompakte oder eher durchlässige jüdische Nachbarschaften waren<br />

und somit mehrere <strong>Synagogen</strong> existierten. Einige der unten präsentierten <strong>Synagogen</strong> befinden<br />

sich ausserhalb der Cluster und werden unten als Einzelsynagogen vorgestellt. Alle Angaben zu<br />

einzelnen <strong>Synagogen</strong> (inkl. Namen) stammen – soweit nicht explizit erwähnt – aus der<br />

Publikation <strong>von</strong> Lucia Stoica et al. (1999).<br />

Der vorliegende Aufsatz präsentiert eine Auswahl <strong>von</strong> „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> Bukarests und<br />

dokumentiert sie bzw. die Orte, wo diese <strong>Synagogen</strong> einst standen, fotografisch und mit einem<br />

jeweils kurzen Begleittext. Er ist eine „Dokumentation im Sinne der Beweissicherung“<br />

(Reemtsma 2010). Es geht mir nicht so sehr darum aufzulisten, wann welche Synagoge zerstört<br />

wurde. Lucia Stoica et al. (1999) haben diese wichtige dokumentarische Arbeit bereits geleistet.<br />

Auch interessieren mich hier architektonische oder städtebauliche Fragen weniger. Mein<br />

Interesse ist eher historischer und soziologischer Art.<br />

Meine Forschungsfragen lauten somit einerseits: Wo standen die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong><br />

Bukarests einst? Was ist heute dort, wo früher die <strong>Synagogen</strong> waren? <strong>Die</strong>se Spurensuche ist<br />

eigentlich ein Versuch einer virtuellen Rekonstruktion, einer Rekonstruktion dessen, was nicht<br />

mehr ist und nie mehr sein wird. Andererseits interessiert mich aber auch Folgendes: Weiss<br />

überhaupt jemand, dass es dort, wo heute keine <strong>Synagogen</strong> mehr sind, einst <strong>Synagogen</strong><br />

standen? Sind die <strong>Synagogen</strong> bzw. die Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, in irgendeiner Weise<br />

in die kollektive Erinnerung eingebunden? Wie gingen und gehen die Behörden mit dem<br />

kulturellen Erbe der „<strong>verlorenen</strong>“ Bukarester <strong>Synagogen</strong> um? Wurde und wird eine aktive und<br />

positive Erinnerungskultur im städtischen Raum Bukarest gefördert?<br />

III. Befunde<br />

Cluster Unirii<br />

<strong>Die</strong>s ist der wichtigste und zentrale Cluster. Es handelt sich hier um den städtischen Raum<br />

zwischen dem Unirii-Platz im Westen und dem Boulevard Mircea Vodă im Osten, dem<br />

Choraltempel im Norden und dem Unirii-Boulevard im Süden. In diesem Cluster existierten<br />

einst über 20 <strong>Synagogen</strong> und Gebetshäuser. Er war gewissermassen das Herz des jüdischen<br />

Bukarests (Ciuciu 2005: 197). Gleichzeitig ist hier die Zerstörung besonders evident.<br />

Besonders eindrücklich war – so lassen es jedenfalls die Fotografien erahnen – der grosse<br />

sephardische Tempel „Cahal Grande“, der an der Str. Negru-Vodă 12 stand. <strong>Die</strong> sephardische<br />

Gemeinde Bukarests war einst einflussreich und vermögend (Solomovici 2007a: 97-101), heute<br />

existiert sie faktisch nicht mehr. <strong>Die</strong> „Cahal Grande“ wurde ursprünglich 1819 erbaut. Sie<br />

wurde <strong>von</strong> den Legionären im Januar 1941 massiv beschädigt und danach offenbar nie mehr<br />

vollständig wieder aufgebaut. 1955, 1966 oder 1985 wurden die Ruinen der „Cahal Grande“<br />

abgerissen. Es ist bezeichnend, dass selbst in der Forschung kein Konsens darüber herrscht,<br />

wann eines der bedeutsamsten Gotteshäuser Bukarests zerstört wurde. Dort, wo die „Cahal<br />

Grande“ einst stand, sind heute Wohnblocks.


6<br />

Cahal Grande (Archiv des CSIER – Centrul pentru Studiul Istoriei Evreilor din România)<br />

Ganz in der Nähe der „Cahal Grande“ war die Synagoge „Rabin D. Schöfeld“ (Str. Negru-<br />

Vodă 14). Über diese Synagoge ist fast nichts bekannt. Sie soll 1987 zerstört worden sein.<br />

Ebenfalls in nächster Nachbarschaft zur „Cahal Grande“ stand die kleine sephardische<br />

Synagoge, der Tempel „Mic Spaniol“ (Str. Banu Mărăcine 37). Der Tempel hatte 300 Plätze<br />

und war – wie die „Cahal Grande“ – 1941 <strong>von</strong> den Legionären schwer beschädigt worden.<br />

Nach dem Erdbeben <strong>von</strong> 1977 wurde der Tempel renoviert und 1978 wieder eröffnet. 1986<br />

wurde die Synagoge abgerissen. Heute gibt es auf keine dieser <strong>Synagogen</strong> nur den kleinsten<br />

Hinweis. Es ist, als hätte es diese Gotteshäuser nie gegeben.<br />

„Mic Spaniol“ (Archiv des CSIER / Autor)<br />

Einige Meter nördlicher, dort, wo heute Markthallen, Parkplätze, Wohnblöcke und die Str.<br />

Mămulari sind, war bis in die achtziger Jahre eine Vielzahl <strong>von</strong> <strong>Synagogen</strong>. Nur noch der<br />

Tempel „Unirea Sfântă“ steht an der Str. Mămulari 3 (Ciuciu 2005: 198). Er beherbergt heute


7<br />

das Museum der jüdischen Gemeinschaft Rumäniens (FCER). An der Str. Mămulari gab es zudem<br />

den Tempel „Fraterna“ (Str. Mămulari 10), die Synagoge der Damenschneider (Ciuciu<br />

2005: 198), die Synagoge „A. B. Zissu“ (Str. Mămulari 8) und die Synagoge „Lumina“ (Str.<br />

Mămulari 21). Der Tempel „Or Chudoş“ (Intr. Sticlari 17-19) existierte seit dem frühen 19.<br />

Jahrhundert, in seiner definitiven Form wurde er 1903/04 gebaut. <strong>Die</strong>ser Tempel im Herzen des<br />

jüdischen Bukarests wurde 1985 oder 1987 zerstört. Andere <strong>Synagogen</strong> in der unmittelbaren<br />

Nähe des Tempels „Or Chudoş“ waren der Tempel „Asriel Gaster“ (Str. Sticlari 18), die<br />

Synagoge „Beth Israel“ (Str. Sf. Ion Nou 15), die Synagoge „Sare Ţedek“ (Str. Sf. Ion Nou<br />

18) und die Synagoge „Rabin Rubin“ (Str. Sf. Ion Nou 9).<br />

Bauplan der Fraterna-Synagoge (Archiv der Gemeinde Bukarest, PMB)<br />

Das Herz des jüdischen Bukarests heute (Autor)


8<br />

Ebenfalls zum Cluster Unirii gehört die Synagoge „Craiover Ruf“ (Str. Măcin 14), die aus der<br />

Mitte des 19. Jahrhundert stammte und 1903 vollständig renoviert wurde. <strong>Die</strong> Synagoge hatte<br />

Platz für 300 Gläubige. Sie wurde 1986 demoliert. Das Unirii-Einkaufszentrum, Parkplätze,<br />

Markthallen und Wohnblocks stehen heute dort, wo einst <strong>Synagogen</strong> waren.<br />

Bauplan des Tempels „Or Chudoş“ (Archiv der Gemeinde Bukarest, PMB)<br />

Cluster Mircea Vodă<br />

Wohnblock an der Mămulari-Strasse (Autor)<br />

Der zweite Cluster <strong>von</strong> ehemaligen <strong>Synagogen</strong> erstreckt sich entlang der Nord-Süd-Achse, die<br />

heute <strong>von</strong> der Mircea-Vodă-Strasse gebildet wird. Er schliesst östlich am Cluster Unirii an.<br />

<strong>Die</strong>ser Cluster umfasste rund 20 <strong>Synagogen</strong>. Da<strong>von</strong> steht heute keine einzige mehr, da sämt-


9<br />

liche im breiten Abrissband der achtziger Jahre standen. Während im Cluster Unirii wenigstens<br />

noch eine Synagoge steht, gibt es im Cluster Mircea Vodă nicht den geringsten Hinweis auf die<br />

frühere Präsenz <strong>von</strong> <strong>Synagogen</strong>. <strong>Die</strong> folgenden Fotos aus der Gegenwart vermitteln den Eindruck<br />

eines urbanen Raums, der keinerlei Bezüge mehr hat zur Geschichte und zu den<br />

Geschichten der Vergangenheit. Es handelt sich um einen erinnerungsleeren Raum.<br />

1864 legte Rabbi Meïr Weiser (1809-1879), besser bekannt als „Malbim“, den Grundstein einer<br />

grossen Synagoge an der Str. Bravilor 4. Malbim war ein Vertreter der Orthodoxie und kam<br />

rasch in Konflikt mit den reformierten Juden Bukarests. Malbim wurde schliesslich sogar gezwungen,<br />

Bukarest zu verlassen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde an der Str. Bravilor<br />

eine neue, die so genannte Malbim-Synagoge erbaut. Sie war das Zentrum des orthodoxen<br />

Judentums in Bukarest (Rotman 2008; Streja/Schwarz 1996: 65), hatte 1’200 Plätze, eine<br />

Bibliothek sowie einen kleineren Gebetsraum. Heute finden sich keine Hinweise mehr auf die<br />

Malbim-Synagoge. Dort, wo das Gotteshaus einst stand, ist heute die Baustelle der Nationalbibliothek.<br />

Briefkopf (Archiv des CSIER)<br />

Malbim-Synagoge einst und Nationalbibliothek heute (Archiv des CSIER / Autor)<br />

Ziemlich genau entlang der heutigen Mircea-Vodă-Strasse existierten u.a. folgende <strong>Synagogen</strong>:<br />

<strong>Die</strong> Synagoge „Cismarilor“ (Str. Labirint 6-8), die Synagoge „Beth Avram“ (Str. Mircea-<br />

Vodă 67) mit 300 Plätzen, die kleine, orthodoxe Synagoge „Şoarei Tefilin“ (Str. Olteni 19) aus<br />

den dreissiger Jahren, die Synagoge „Beth Şmil“ (Str. Olteni 10) mit 200 Plätzen, die<br />

Synagoge „Bohuser Klaus“ (Str. Olteni 38) <strong>von</strong> 1930 mit 400 Plätzen, die Synagoge „Beth<br />

Şlomo“ (Str. Avram Goldfaden 28) <strong>von</strong> 1937, der Tempel „Unirea Fraternă“ (Str. Olteni 72),<br />

der 1898 erbaut und 1941 <strong>von</strong> den Legionären verwüstet wurde, die Synagoge „Şcolilor<br />

Unite“ (Str. Avram Goldfaden 28), der Tempel „Caritatea“ <strong>von</strong> 1908 an der Str. Legislatorului<br />

7 mit 300 Plätzen und die Synagoge „Zissu Landman“ an der Str. Bradului 3.


10<br />

Briefkopf (Archiv des CSIER)<br />

(Autor)<br />

Auf der vergeblichen Suche nach einer Synagoge… (Autor)<br />

Stempel (Archiv des CSIER)


11<br />

Cluster Moşilor<br />

Synagoge (links) an der Labirint-Strasse kurz vor ihrer Zerstörung (Cristian Malide)<br />

Im Norden und Nordosten geht der Cluster Unirii in den Cluster Moşilor über. Auch hier<br />

existierten einst mehrere <strong>Synagogen</strong>, <strong>von</strong> denen heute nur noch eine steht. <strong>Die</strong> Synagoge „Bet<br />

Hamidraş“, die leicht zurückversetzt an der Calea Moşilor 78 steht, hat eine lange Geschichte.<br />

An dieser Stelle war offenbar schon im frühen 18. Jahrhundert eine Synagoge. 1830 wurde hier<br />

eine neue Synagoge gebaut, die 1847 bei einem grossen Feuer vernichtet, danach aber wieder<br />

aufgebaut wurde. Während dem Pogrom der Legionäre 1941 wurde die Synagoge schwer beschädigt.<br />

Sie wurde repariert und blieb bis 1978 ein Gotteshaus. Seit 1978 ist sie „verloren“ und<br />

fungiert als Lagerhaus.<br />

Synagoge „Bet Hamidraş“ (Dragoş Brataşanu)


12<br />

In unmittelbarer Nähe gab es drei weitere <strong>Synagogen</strong>, nämlich die kleine Synagoge „Beth<br />

Iosef“ (Calea Moşilor 56) mit 30 Plätzen, die 1921 eröffnet wurde und nach dem Erdbeben<br />

1977 abgebrochen wurde, die Synagoge „Soifer Nachman“ (Str. Decebal 9) mit 100 Plätzen<br />

und die Synagoge „Paşcaner Klaus“ (Str. General I. Em. Florescu 16) mit 300 Plätzen, die<br />

durch das Erdbeben <strong>von</strong> 1977 zerstört wurde. Dort, wo einst die <strong>Synagogen</strong> „Beth Iosef“ und<br />

„Soifer Nachman“ standen, sind Parkplätze. Dort, wo die Synagoge „Paşcaner Klaus“ war, ist<br />

heute ein seit mehreren Jahren bestehender Rohbau.<br />

Cluster Antim<br />

Erinnerungsleere grossstädtische Räume, wo <strong>Synagogen</strong> standen(Autor)<br />

Das historische Quartier Antim existiert nicht mehr. Es ist im Rahmen der „Systematisierung“<br />

durch den Bau des Parlaments, des Unirii-Boulevards und der entlang dieser Achse gebauten<br />

Wohnblöcke weitgehend zerstört worden (Catalan 2010). <strong>Die</strong> <strong>Synagogen</strong> in diesem Teil der<br />

Stadt sind allesamt verschwunden.<br />

Im Cluster Antim befanden sich die Synagoge „Eizig“ (Str. Vânători 12) aus dem Jahr 1890<br />

mit rund 300 Plätzen, der Tempel „Reşit Daath“ (Str. Mitropolitul Antim Ivireanu 13) aus dem<br />

Jahr 1897 mit 500 Plätzen, die Synagoge „Hudoş“ (Bd. Bucureşti Noi 123), die im Januar 1941<br />

<strong>von</strong> den Legionären angezündet und vollständig vernichtet wurde, sowie die kleine Synagoge<br />

„Adath Ieşurim“ (Str. Emigrantului 6).


13<br />

Bauplan des Tempels „Reşit Daath“ (Archiv der Gemeinde Bukarest, PMB))<br />

Hier stand früher eine Synagoge (Autor)<br />

Cluster Dacia<br />

Was ich das Cluster Dacia nenne, bezieht sich auf den nördlichsten Teil der Moşilor-Strasse,<br />

den östlichsten Abschnitt der heutigen Dacia-Strasse sowie die Umgebung des Obor-Marktes.<br />

Hier bildete sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine jüdische Nachbarschaft mit<br />

mehreren <strong>Synagogen</strong> heraus (Rotman 2008). Auch in dieser Gegend gibt es überhaupt keine<br />

Anhaltspunkte mehr, die auf eine jüdische Nachbarschaft oder eine Synagoge verweisen<br />

würden.<br />

Briefkopf (Archiv des CSIER)


14<br />

Einzelsynagogen<br />

Einige <strong>Synagogen</strong> liessen sich nicht eindeutig einem Cluster zuordnen. Sie werden daher in<br />

diesem Abschnitt als Einzelsynagogen aufgeführt. Ich möchte nochmals betonen, dass es sich<br />

auch hier um eine Auswahl handelt, die noch deutlich erweitert werden könnte.<br />

<strong>Die</strong> Synagoge „Filderman“ (Str. Slt. Zaharia 44) liegt ganz in der Nähe der Calea Griviţei,<br />

einer Hauptverkehrsachse, an der ebenfalls relativ viele Juden lebten (Ciuciu 2005: 199). <strong>Die</strong><br />

Synagoge wurde 1925 eingeweiht und soll 200 Gläubigen Platz geboten haben. <strong>Die</strong> Synagoge<br />

war benannt nach Wilhelm Filderman (1881-1963), der die jüdische Gemeinde Rumäniens<br />

durch beide Weltkriege geführt hatte. Nach Filderman ist auch eine Strasse in Bukarest benannt.<br />

Interessanterweise wird jedoch die Rolle Fildermans als Präsident der jüdischen Gemeinschaft<br />

auf dem Strassenschild nicht erwähnt. An der Str. Slt. Zaharia 44 findet sich heute ein unansehnliches<br />

Wohnhaus. Davor stehen ein Firmenwagen und ein Dacia mit einem platten Rad. An<br />

eine Synagoge erinnert nichts. Vielleicht haben in den letzten zehn Jahren die Häusernummern<br />

gewechselt? Aber wahrscheinlich ist einfach nichts übrig geblieben vom einstigen Gotteshaus.<br />

War hier einst die Filderman-Synagoge? (Autor)<br />

(Autor)<br />

Der zu Beginn der dreissiger Jahre im modernen, relativ strengen (Streja/Schwarz 1996: 60),<br />

Art-Déco-Stil erbaute Tempel „Credinţa“ (Str. Vasile Toneanu 48) wird erst seit wenigen<br />

Jahren nicht mehr benutzt. Er ist als historisches Monument klassifiziert und unterscheidet sich


15<br />

<strong>von</strong> den übrigen <strong>Synagogen</strong> in diesem Aufsatz durch die Tatsache, dass er noch nicht „verloren“<br />

ist. Der Tempel „Credinţa“ steht noch immer dort, wo er immer stand. Hinter ihm baut<br />

sich die Bukarester Shopping Mall auf. Es bleibt zu hoffen, dass die Synagoge erhalten bleibt<br />

und vielleicht irgendwann auch wieder öffentlich zugänglich gemacht wird.<br />

(Autor)<br />

(Dragoş Brataşanu)<br />

Als die Synagoge noch benutzt wurde… (George Nicolae)


16<br />

<strong>Die</strong> Synagoge „Ajutorul“ (Str. Andrei Bârseanu 6) liegt unweit des Tempels Credinţa in einer<br />

Seitenstrasse, die <strong>von</strong> der Verwüstung in der Ceauşescu-Periode in ihrer unmittelbaren Nähe<br />

verschont blieb. Auch diese Synagoge wurde in den dreissiger Jahren gebaut. Seit 1986 wird sie<br />

nicht mehr als Gotteshaus genutzt. Sie diente lange als Lagerhaus, heute ist sie – so bizarr es<br />

klingen mag – ein Fitnesszentrum. Nichts erinnert daran, dass der „Oxygen Fitness Club“ einst<br />

eine Synagoge war.<br />

(Autor)<br />

Auf der vom rumänischen Geheimdienst geführten Liste der <strong>Synagogen</strong> Bukarests entdecke ich<br />

den Eintrag „Mosav Zekenim“. <strong>Die</strong> Synagoge befand sich demnach an der Str. Ion Filibiliu 9.<br />

An einem Sonntagmorgen fahre ich an diese kleine Strasse etwas hinter der Mircea-Vodă-<br />

Strasse. Eigentlich erwarte ich nichts. Vielleicht ein Nichts sagendes Wohngebäude. Sicher erwarte<br />

ich keine Synagoge. Aber da steht sie. Eine echte Synagoge, der man sogar noch ansieht,<br />

dass sie einst eine Synagoge war.<br />

(Autor)


17<br />

IV. Schlussfolgerungen<br />

<strong>Synagogen</strong> können Erinnerungsorte sein. <strong>Die</strong> Situation in Bezug auf die <strong>verlorenen</strong> Bukarester<br />

<strong>Synagogen</strong> ist komplex. <strong>Die</strong> <strong>Synagogen</strong> existieren eben nicht mehr, man kann sie nicht mehr<br />

sehen, besuchen, berühren, man kann nicht mehr in ihnen beten. <strong>Die</strong> Erinnerung kann sich somit<br />

auch nicht mehr auf “the materiality of the trace” und “the visibility of the image” stützen<br />

(Nora 1989: 13).<br />

Bukarests jüdisches Erbe wurde nicht nur vernachlässigt, es ist besonders während der<br />

kommunistischen Diktatur vernichtet worden. Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, wurden in<br />

Wohnblöcke, Einkaufszentren, Strassen oder Fitnesszentren ohne den geringsten Bezug zum<br />

Judentum verwandelt. Aus jüdischen Nachbarschaften mit Dutzenden <strong>von</strong> Gotteshäusern<br />

wurden erinnerungslose grossstädtische Räume. Für Bukarest gilt, dass am nationalen<br />

kulturellen Erbe der <strong>Synagogen</strong> kaum Interesse bestand und besteht. <strong>Die</strong> meisten <strong>Synagogen</strong><br />

bzw. Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, werden <strong>von</strong> der nichtjüdischen Mehrheit aus ihrer<br />

Wahrnehmung und ihrem Diskurs über die Stadt verdrängt – oder sie sind längst vergessen.<br />

Ehemalige Synagoge an der heutigen Str. Pascal – Briefkopf (Archiv des CSIER)<br />

Str. Pascal, ein erinnerungsleerer Raum (Autor)<br />

Damit die „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> (wieder) Erinnerungsorte werden könnten, bräuchte es vor<br />

allem einen Willen zur Erinnerung. <strong>Die</strong>ser Wille fehlt jedoch (noch). Ich stelle in Bezug auf die<br />

jüdische Vergangenheit Bukarests bei vielen Rumäninnen und Rumänen entweder schlichtes<br />

Unwissen oder aber „a semi-passive, semi-active behavior“ fest, das sich am besten als „forgetting<br />

by avoidance“ (Ricoeur 2006: 448) charakterisieren lässt.<br />

Es ist kaum gewagt zu behaupten, dass sich Rumänien mit seiner Vergangenheit schwer tut.<br />

Sowohl Teile der (politischen) Elite Rumäniens als auch breite Bevölkerungsschichten verschliessen<br />

sich der Vergangenheitsbewältigung weitgehend. Weder vom 2004/2005 publizierten<br />

Schlussbericht der internationalen Kommission über den Holocaust in Rumänien, noch vom<br />

Kommissionsbericht zu den Verbrechen des Kommunismus 2006 (Cesereanu 2008) und vom


18<br />

Literaturnobelpreis 2009 für die rumäniendeutsche Autorin Herta Müller sind echte Impulse für<br />

eine breite Debatte über Rumäniens Vergangenheit ausgegangen. Es fehlt in Rumänien zudem<br />

eine echte Erinnerungskultur, die nicht mit Mahnmalfetischismus und trockenen Geschichtslektionen<br />

verwechselt werden darf. <strong>Die</strong> ehemals blühende jüdische Präsenz in Rumänien, wo<br />

bis zum 2. Weltkrieg eine der grössten jüdischen Gemeinschaften der Welt lebte, wird weitgehend<br />

verschwiegen und vergessen (<strong>Geissbühler</strong> 2010b). Der Holocaust wird zwar mittlerweile<br />

in Schulbüchern erwähnt, aber die Lehrer sind oft in einer schwierigen Lage, weil sie<br />

etwas unterrichten müssen, „wo<strong>von</strong> sie nichts wissen oder – noch schlimmer – worüber sie<br />

falsch informiert worden sind“ (Waldman 2009: 222). Ein wichtiges, aber eher isoliertes<br />

Gegenbeispiel ist die Einweihung des Holocaust-Monuments in Bukarest im Herbst 2009. Doch<br />

auch in diesem Fall bleiben gewisse Zweifel – nicht am Mahnmal selber, das beeindruckend ist,<br />

sondern ob es <strong>von</strong> den Menschen überhaupt in einen (historischen) Kontext gesetzt, verstanden<br />

und „gelebt“ werden kann.<br />

Aus meiner Sicht ging und geht die Vernichtung der Bukarester <strong>Synagogen</strong> Hand in Hand mit<br />

der Verdrängung <strong>von</strong> Religion im Allgemeinen und der jüdischen Geschichte und der jüdischen<br />

Präsenz in dieser Stadt im Besonderen. Ceauşescus „Systematisierungspolitik“ war nicht nur<br />

und nicht einmal in erster Linie das Werk eines grössenwahnsinnigen Psychopathen. Sie war<br />

ein Versuch, eine neue sozialistische Stadt zu schaffen. Um dies zu erreichen, musste das „alte“<br />

Bukarest und die Erinnerungen an dieses „alte“ Bukarest zerstört werden: „In a very straightforward<br />

way, the construction of the heart of the ‚socialist city‘ was also the destruction of the<br />

city’s cultural heritage […] as well as the collective memories and practices that [it] expressed”<br />

(O’Neill 2009: 103).<br />

So wie das „alte“ Bukarest mit seinen <strong>Synagogen</strong>, seinen jüdischen Nachbarschaften, seinen<br />

jüdischen Geschichten dem „neuen“ Bukarest weichen musste und muss, so wurde und wird<br />

auch die Erinnerung an dieses andere Bukarest <strong>von</strong> der nichtjüdischen Mehrheit verdrängt. <strong>Die</strong><br />

unter Ceauşescu aus politischen und ideologischen Gründen vorangetrieben und heute <strong>von</strong><br />

Gleichgültigkeit, Arroganz oder Geldgier alimentierte Eliminierung des historischen kulturellen<br />

Erbes Bukarests – und dazu gehört auch das jüdische Erbe – machte und macht die Stadt ärmer,<br />

eintöniger, uninteressanter.<br />

Das Vergessen ist in diesem Zusammenhang “an obscure will not to inform oneself”, “a<br />

wanting-not-to know” and “a strategy of avoidance, of evasion, of flight” (Ricoeur 2006: 449).<br />

Während ein penetranter, <strong>von</strong> oben oder <strong>von</strong> aussen aufoktroyierter Erinnerungsimperativ<br />

wenig sinnvoll ist, so ist das “wanting-not-to-know” sicher auch keine echte Option. Omer<br />

Bartov schreibt treffend, dass diejenigen, “who stare at [the] past with eyes wide shut can only<br />

conjure fictions, legends, nightmares, and phobias, however much they seek a pure, good,<br />

cleansed identity.”<br />

Grundsätzlich will dieser Artikel eine Reflexion, vielleicht eine Debatte anstossen über das<br />

Thema der Erinnerung im Allgemeinen und die jüdische Vergangenheit Bukarests im<br />

Speziellen. <strong>Die</strong>s würde wohl auch eine Verstärkung der innovativen, interaktiven Bildungsarbeit<br />

auf allen Ebenen – in Grund- und Mittelschulen und an den Universitäten – bedingen.<br />

Einsicht, Verantwortungsbewusstsein und ethisches Verhalten lassen sich nicht eintrichtern<br />

(Reemtsma 2010). <strong>Die</strong> Vermittlung <strong>von</strong> Werten – und darum geht es letztlich – gehört auch


19<br />

nicht primär ins Schulzimmer, sondern ins Elternhaus. Aber es braucht sehr wohl eine kritische<br />

Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte in den Bildungsinstitutionen. Vielleicht lassen<br />

sich so kommende Generationen sensibilisieren für den Wert kultureller, sozialer und religiöser<br />

Vielfalt im Allgemeinen und die bewundernswerte jüdische Vergangenheit Bukarests im<br />

Speziellen.<br />

Es wäre für Bukarest eine Bereicherung, wenn einige Orte, wo einst <strong>Synagogen</strong> standen, in<br />

irgendeiner Form gekennzeichnet und Eingang in das kollektive Gedächtnis dieser Stadt finden<br />

würden. <strong>Die</strong>se virtuelle Wiederherstellung der „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong> ist durchaus möglich:<br />

„[E]ven totally bulldozed places can be marked to restore some shared public meaning, a<br />

recognition of spatial conflict, or bitterness, or despair“ (Hayden 1997: 9). Ich glaube nicht, dass<br />

es realistisch und sinnvoll ist, den Wiederaufbau <strong>von</strong> einer oder mehreren <strong>Synagogen</strong> zu<br />

fordern. Es sei aber immerhin erwähnt, dass Augustin Ioan (2000) ernsthaft für den Wiederaufbau<br />

des im Rahmen der „Systematisierung“ zerstörten Văcăreşti-Klosters im Zentrum<br />

Bukarests plädiert. <strong>Die</strong>s wäre, so schreibt Ioan, “a gesture towards recuperating the demolished<br />

history of Bucharest and, in doing so, towards healing the ruptured memories of the city and its<br />

inhabitants.” Ioans Ansatz ist interessant, nur konzentriert er sich ausschliesslich auf die Mehrheitsbevölkerung<br />

und blendet die Bukarester Juden bewusst oder unbewusst aus, obwohl diese<br />

einst mehr als zehn Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten und auch integraler Teil der<br />

Geschichte und Identität Bukarests sind.<br />

Ich plädiere eher für virtuelle Rekonstruktionen oder Teilrekonstruktionen. Es braucht gar nicht<br />

viel Vorstellungskraft, sich einfache, aber wirkungsvolle künstlerische Formen der Erinnerung<br />

auszumalen. Ohne grossen Aufwand liessen sich beispielsweise Bilder der „<strong>verlorenen</strong>“<br />

<strong>Synagogen</strong> auf die heutigen Gebäude projizieren. <strong>Die</strong>s wäre eine innovative visuelle und<br />

virtuelle Form der Darstellung dessen, was einst war und somit der temporären „Rekonstruktion“<br />

der „<strong>verlorenen</strong>“ <strong>Synagogen</strong>. Ein solches visuelles Projekt im städtischen Raum<br />

müsste <strong>von</strong> den Bewohnern zumindest zur Kenntnis genommen werden und könnte eine<br />

Debatte auslösen.<br />

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