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Als PDF herunterladen - Steve Fluid Lindauer

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Ein Amulett gegen die Hitze<br />

Story von <strong>Steve</strong> <strong>Fluid</strong> <strong>Lindauer</strong><br />

"Was will sie?", mein Freund Adi "Vlad Tepes" schaute mich etwas verstört an. Vor ihm<br />

stand ein Mädchen der Pubertät, klein und mit grossen Augen.<br />

"Eine deiner blonden Locken," antwortete ich.<br />

"Ach so!" Vlad wandte sich mit einem Lächeln und einem Schulterzucken wieder der Kleinen<br />

zu.<br />

"Wenn's nur das ist..." Er grub seinen Dolch aus dem Rucksack und schnippte sich kurzerhand<br />

eine Strähne vom Kopf.<br />

Wir sahen der Kleinen nach wie sie im gleissenden Goldlicht der Spätnachmittagssonne<br />

davonrannte, zwischen satten grünen Bäumen hindurch, die blonde Locke fest in der Faust am<br />

Ende des ausgestreckten Armes, wie eine Squaw, die von ihrem Vater der soeben von einer<br />

Stammesfehde zurückgekehrt ist, ihren ersten Skalp als Trophäe geschenkt bekommen hat.<br />

Für Vlad war es das erste Mal, dass er die Karibik besuchte und er war sichtlich am Leiden.<br />

Der Schweiss lief ihm in Strömen runter. Sein schwarzes Sepultura Shirt klebte ihm nicht nur<br />

am Rücken, sondern am gesamten Oberkörper, die schweren Schuhe heizten den Füssen ein<br />

und seine schwarzen Manchester Hosen hätte ich nicht für 100 Pesos in dieser Hitze<br />

anprobiert. Aber er beschwerte sich nicht. Im Gegenteil, er packte sich seinen prallen<br />

Wolfshaut Rucksack auf den Buckel, wischte sich die Fluten aus den Brauen und setzte sein<br />

dämonischstes Grinsen auf: "Vamonos, compadre. Der Teufel kann nicht mehr weit sein bei<br />

dieser Hitze."<br />

Vlad war ein Heide wie er im Buche stand. Ein Vikinger aus vergangenen Zeiten.<br />

Hochgewachsen, hager, lange blonde Haare, keltische Tätowierungen an Rücken und<br />

Unterarm, roter Bart, keltische Amulette, einen kleinen Altar in den Schweizer Wäldern um<br />

Zürich herum, zärtlich religiöse Verehrung der Schönheit der Elemente, der Natur, des<br />

Windes, des Wesentlichen, des Wisperns der Jahreszeiten; keinen Götzendienst, nur ein<br />

einfacher Mensch der einer ursprünglich-wesentlichen Stimme gefolgt ist die nicht von jedem<br />

vernommen wird. Jemand der sich Jahr für Jahr auf den Herbst freut, lange Waldspaziergänge<br />

im Laub des Novembers, zitternde Zweige als Ausgleich zum doppelzüngigen Christentum.<br />

"Die Dunkelheit stimmt feierlich" zitiert er oft Euripides und schrieb mir vor ein paar Jahren<br />

Postkarten vom Loch Ness wo er wochenlang alleine campierte, Postkarten komplett in<br />

Runenschrift, ich hab nie ein Wort verstanden von dem was er mir niedergeschrieben hatte,<br />

aber das machte nichts, ich war mir sicher, es waren gute alte mystische Worte mit einem<br />

Schuss Brüderlichkeit. Vlad war "quite a character" wie mein Freund Fonzie in Hollywood<br />

sagen würde. Ich kannte niemanden der auch nur annähernd so war wie er. So anders, so sehr<br />

besonnen auf uralte europäische Traditionen, auf Nebel und Schamanen, auf Waldgeister und<br />

Elfen...und ich hatte in meinen 6 Monaten auf der Dominikanischen noch niemanden gesehen<br />

der mir so falsch am Platz erschienen war wie mein guter alter Schulfreund Vlad. Ein Druide<br />

in der Karibik. Während ich ihn so betrachtete wie er im Parque Central in La Romana mit<br />

seinem Rucksack hadderte und sich die Seele aus dem Leib schwitzte wie ein Eisbär in der<br />

Hölle, konnte ich mir ein lautes Lachen nicht verkneifen.<br />

"Haha! Mann Vlad, du solltest dich sehen, echt! Zum Brüllen! Sowas gibts hier kein zweites<br />

Mal!"<br />

"Ja, weisst du, ich muss doch denen zu Hause erzählen wie das hier ist in der Karibik, wenn<br />

ich schon mal die Möglichkeit habe meinen Rucksack zu packen um ferne Länder zu<br />

bereisen. Weisst ja wie es ist."<br />

"Oh ja, da bin ich mir sicher."


Ein weiterer auffallender Charakterzug Vlads war, dass er einen umwerfenden und ziemlich<br />

ausgefallenen Sinn für Humor hatte. Oft verbrachten wir ganze Tage ohne ein ernsthaftes<br />

Wort zu wechseln. Wir ergaben uns in endlosen Gesprächen die dermassen klischiert waren,<br />

dass kein Aussenstehender jemals fähig war, auch nur einen Deut von dem was wir da<br />

rausliessen, zu verstehen. Wir beide hatten eine Vorliebe für brutale Horrorfilme, eine<br />

Faszination für das kranke Ende des menschlichen Geistes, für Eingeweide und Serienmörder,<br />

für Rock und Punk, was sich ausführlich in unseren Unterhaltungen niederschlug. Dies<br />

natürlich alles im gesunden zynischen Rahmen - Vlad würde es nicht übers Herz bringen<br />

irgendein Herz zu brechen oder eine Ameise zu zerstampfen. Manchmal hilft es, sich das<br />

Perverse vor Augen zu halten um sich daran zu erinnern, wie man nicht werden will.<br />

Wir waren also in La Romana und meine Mutter und ihr Freund wurden langsam ungeduldig,<br />

sie warteten im Auto keine 100m entfernt und drückten in immer kürzer werdenden<br />

Abständen auf die Hupe des kleinen miserablen Fiat Unos den sie sich gemietet hatten um<br />

diese Insel zu erkunden. Sie waren ebenfalls auf Besuch, unabhängig von Vlad und es war ihr<br />

zweiter Tag im Lande, wir waren unterwegs von Santo Domingo nach Punta Cana, wo sie<br />

sich eine Woche lang den Komfort eines Iberostar Resorts gönnen wollten um danach die<br />

restlichen 10 Tage mit mir auf Roadtrip zu gehen. Aber erst mussten sie mal ins Resort und<br />

Vlad und ich waren sozusagen die Eskorte. Nur um sicherzustellen, dass die beiden auch heil<br />

in Punta Cana ankamen und nicht unterwegs irgendwo in einem Merengue Schuppen<br />

hängenblieben, mit grossen Rumgläsern in der Hand auf den Tischen tanzend - meine Mutter<br />

hatte da so eine Art...<br />

Es war 17.00 Uhr und wir waren bereits wieder am Trinken, grosse kalte Presidentes,<br />

während wir mit Ächzen und Stöhnen auf unsere Sitze im hoffnunglos überladenen Fiat<br />

kletterten. Meine Mutter hatte ihre Koffer mit der Gründlichkeit eines Englischen<br />

Aristokraten gepackt, mit der Absicht, eine 9-monatige Afrika Expedition abzuspulen. Ich<br />

glaube, sie hat sogar Toilettenrollen aus der Schweiz mitgebracht..."man weiss ja nie...."<br />

(vielleicht was das sogar meine Schuld, denn ich hatte ihr in einem Email mal spasseshalber<br />

geschrieben, dass ich mir hier den Hintern mit Palmenblättern abwische.)<br />

Während Hans sich am Lenkrad die Ehre gab, hatte man mir den Lotsensitz zugewiesen. Vlad<br />

und meine Mom teilten sich die Rücksitze mit 2 überdimensionalen Koffern.<br />

Das Leben war grossartig. Wir hatten Bier, wir hatten Sonne, wir kurvten mit 80 Sachen<br />

durch die Karibik. Ich schrie regelmässig vor Lebensfreude aus dem Fenster, sehr zur<br />

Belustigung der zahllosen Strassenverkäufer, die gärenden Fisch, Kokosmilch und ganze<br />

Wohnungseinrichtungen entlang der Strasse feilboten. Ich hatte keine Ahnung ob wir<br />

überhaupt auf dem richtigen Weg waren, aber es fühlte sich alles so richtig an, dass ich mir<br />

darüber keine weiteren Gedanken machte.<br />

Bis es nächtigte und wir noch immer nicht in Punta Cana waren.<br />

"Hör mal, <strong>Steve</strong>, jetzt nimm diese Karte in die Hand und finde raus wo wir sind." Hans wurde<br />

langsam ungeduldig.<br />

"Und gib mir diese Flasche, ich brauch jetzt selbst einen Schluck."<br />

"<strong>Als</strong>o gut. Kein Problem. Alles unter Kontrolle....gib mir nur einen Moment, ich werd dir<br />

gleich sagen wo wir sind....also....wir sind.....hmmm....also, wie hiess das letzte Ortsschild<br />

doch gleich?"<br />

"Da war kein Ortsschild", tönt es aus den hinteren Reihen.<br />

"Nur ein paar fahle Grabsteine im silbernen Licht und ruchlose Meuchelmörder auf der Suche<br />

nach schwarzem Blut..." Vlad hatte sein eigenes Bier.<br />

"<strong>Als</strong>o, ja, lass mich mal sehen...also...wir sind....hmm....wir sind irgendwo zwischen Higuey<br />

und Samana...."<br />

"Was? Wo??" Hans wusste nichts mit meiner Information anzufangen.<br />

"<strong>Als</strong>o...ähem...wir sind....nun ja....ich würde meinen....wir... wir sind hoffnungslos am Arsch.<br />

Ich habe keine Ahnung wo wir sind."


Hans trat auf die Bremse und ich versuchte mich in meinem Sitz zu verstecken.<br />

"Was soll das heissen? Wir haben uns verfahren?"<br />

Mir gefiel sein Unterton nicht besonders.<br />

"Nun....ja....sieht so aus", hörte ich mich selbst kleinlaut murmeln. Dann griff ich nach der<br />

Flasche, um das Gleichgewicht wieder zu herzustellen.<br />

"Ja, also...tut mir echt leid, aber irgendwie...irgendwo haben wir was verpasst, naja, tut mir<br />

leid, wirklich, ich dachte, wir fahren einfach immer geradeaus bis wir ans Meer kommen. So<br />

schwer kann das doch nicht sein."<br />

Hans warf mir einen kurzen Blick zu und liess dann den Motor aufheulen. Es war keine<br />

weiteren Worte mehr nötig.<br />

"Und wie gehts nun weiter?"<br />

"<strong>Als</strong>o, ich würde sagen wir drehen um und -"<br />

Hans fiel mir ins Wort: "Nein. Du bist entlassen. Gib die Karte deiner Mutter. Und gib mir<br />

das Bier."<br />

Ich gehorchte und setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf. Alles was ich wollte, war dass die<br />

beiden einen wundervollen Urlaub in der Karibik verbrachten. Dass wir eine lockere<br />

Spritztour unternahmen und gesund und munter im Resort ankamen. Dass uns der warme<br />

Fahrtwind durchs Haar rauschte während wir unsere Ellbogen in die honigartige<br />

Nachmittagssonne hängten und rechtzeitig fürs Abendessen an einem weissgedeckten Tisch<br />

im Iberostar erschienen, frisch geduscht und mit der zufriedenen Genugtuung des<br />

rechtschaffenen Reisenden. Aber nicht einmal das brachte ich zustande. Man hatte mir<br />

vertraut und ich hatte versagt. Ich war zu nichts zu gebrauchen. Meine Ex-Freundin hatte<br />

Recht gehabt. Ich widmete mich wieder der Flasche und starrte aus dem Fenster. Das Leben<br />

war unfair.<br />

Doch als Hans den Wagen schliesslich wendete und den Staub unter den Rädern<br />

emporfauchen liess, zwinkerte er mir zu und lächelte in die Nacht. Ich war froh darum, drehte<br />

die Musik etwas lauter und zündete mir eine Zigarette an. Das Leben war grossartig. Am<br />

Firmament glühten dieselben Sterne die Kolumbus schon damals den Weg gewiesen hatten.<br />

Nun konnte nichts mehr schiefgehen.<br />

Kurz vor 22.00 Uhr kamen wir schliesslich an. Der Plan war, dass Vlad und ich eine Nacht<br />

hier verbrachten und morgen weiterzogen, zurück nach Santo Domingo, zurück ins Chaos.<br />

Mom und Hans würden für die Unkosten aufkommen, schliesslich konnte ich mir bei meinem<br />

mageren Lehrerlohn unmöglich eine Nacht im Iberostar leisten. Und Vlad schon gar nicht.<br />

Seine Währung waren Buchenrinde und Tannenzapfen. "Thor wird mir einen Blitz ins<br />

Gesicht schleudern wenn er mich hier in diesem kapitalistischen Sündenpfuhl erwischt",<br />

raunte er mir zu, bevor einen schnellen Blick über die Schulter warf. Wir waren noch immer<br />

mit dem Ausladen beschäftigt als plötzlich ein Geschenk der Götter auftauchte: Ein riesiger<br />

gelber Car randvoll mit europäischen Touristen. Zuerst fluchten wir, denn wir sahen uns<br />

bereits am Ende einer langen Schlange vor der Rezeption zugeschüttet mit ohrenbetäubendem<br />

Gequäke seichter Nord-und Zentraleuropäer. Die Touris strömten aus dem Bus wie Ameisen<br />

aus ihrem Haufen nachdem der Regen eingesetzt hat. Emsiges Treiben erfüllte den Parkplatz,<br />

Leiber stürzten über Gepäckstücke, Knöchel verstauchten sich, kleine Schwestern wurden zur<br />

Seite geschubst; niemand schenkte uns Beachtung. Wir waren mit Moms Koffern beschäftigt,<br />

zerrend und stossend, leise fluchend, mit Zigaretten in den müden Mundwinkeln. Dann<br />

plötzlich erscheint diese Fee, eine Angestellte des Hotels, freundlich lächelnd, mit einem<br />

Bündel Plastikarmbänder - die Eintrittskarten ins Iberoparadies. Am Fusse der enormen<br />

Eingangstreppe machte sie Halt und räusperte sich, um die Aufmerksamkeit der Ameisen zu<br />

bekommen: "Welcome to Iberostar!"<br />

Die Bleichgesichter drehten sich ihr zu. Einer nach dem anderen strömten sie Richtung<br />

Rezeption wie willenlose Wesen die von ihrem Meister gerufen worden waren und jeden<br />

einzelnen fragte die Fee im Vorbeigehen: "All inclusive?"


Worauf zumeist mit einem stumpfen Nicken geantwortet wurde und ruckzuck glänzte das<br />

magische Armband am käsigen Handgelenk. "All inclusive?" - Nicken. - Drin sind sie.<br />

Vlad und ich warfen uns einen Blick zu. Und im nächsten Moment stürmten wir in den<br />

Ameisenhaufen, stellten uns dumm, stellten uns hinten an bis wir selbst an der Reihe waren:<br />

"All inclusive?" - "Yes! Eh - jaja! Si, si!! Hoho...!" wir stiessen uns gegenseitig in die Rippen<br />

wie idiotische kleine Schuljungs die sich mit aufgeklebten Bärten beim Dessertschöpfen in<br />

der Skilagerkantine ein zweites Mal hinten anstellten.<br />

Aber es funktionierte. Vlad, der Schlächter und ich bezahlten keinen Cent für den Luxus des<br />

Iberostars.<br />

"So wütend können deine Jungs da oben nicht sein", sagte ich zu Vlad und machte mit dem<br />

Kopf eine Bewegung Richtung Himmel.<br />

Das Zimmer das Hans und Mom im voraus gebucht hatten, war gross genug für 4 Personen,<br />

bei weitem: es enthielt 2 Doppelbetten sowie eine riesige Couch in L-Form.<br />

Während die beiden Erwachsenen ihren Check-In abwickelten, suhlten Vlad und ich uns<br />

bereits in turmhohen Lehnstühlen mit fetten Cuba Libres an den Lippen, mit dem Blick frei<br />

auf stramme Schenkel und kurze Röcke, mit dem vielsprechenden Rauschen der Ewigkeit in<br />

den Ohren, die göttlich warmen Wellen des Ozeans der sich wie ein schnurrendes Kätzchen<br />

ans Fussgelenk des Strandes schmiegte.<br />

Vlad fing manch argwöhnischen Blick ein, doch er konterte mit Gleichgültigkeit und<br />

Zufriedenheit und liess sich nur einmal zu einem eisigen Gegenblick mit zugekniffenen<br />

Augen hinreissen, was jedoch ausreichte um einen wahren englischen Aristokraten, der sich<br />

für einen Afrika-Expeditionsleiter hielt, sich seiner Werte zu besinnen und den Tisch zu<br />

räumen und seine unterkühlte Geliebte am Arm zu nehmen und sie kopfschüttelnd in<br />

sicherere Gefilde zu führen. Wahrscheinlich hielt er uns für amerikanische Spione, von seiner<br />

eifersüchtigen Frau zu Recht angeheuert um obskuren Liebschaften in der Karibik auf den<br />

Grund zu gehen. Doch dem war nicht so und deshalb bestellten wir uns 2 weitere Drinks. Ich<br />

entschloss mich für einen Whiskey ohne Eis und Vlad - selbstredend - für einen Bloody Mary.<br />

Frisch gestärkt packten wir Moms Koffer auf unsere rechtschaffenen Schultern und trugen sie<br />

schweigend in unsere Höhle, wie stumme, still leidende indische Elefanten. Die nächste<br />

Fütterung würde bald stattfinden, der Tag neigte sich zu Ende.<br />

Mit Vlad im Rücken wie eine bösartige Fledermaus setzten wir uns eine gute halbe Stunde<br />

später an die Bar. Mom und Hans gaben sich im Hotelzimmer den Freuden der Zweisamkeit<br />

hin und wir waren einsichtlich genug, dies zu respektieren. Ausserdem hatte die Bar weitaus<br />

mehr zu bieten als ein nettes Hotelzimmer. Gewisse Dinge ändern sich nie.<br />

Vlad bestellte einen Orgasmus, bekam ihn nicht und gab sich mit einem Cuba Libre<br />

zufrieden. Er schlich um die Tische wie ein Wolf auf Nahrungssuche. Ich wusste nicht, was<br />

genau er suchte. Wohl kaum ein Mädchen, solche Dinge standen nicht zuoberst auf seiner<br />

Speisekarte. Mädchen waren Prinzessinnen. Prinzessinnen fand man nicht in einem Touristen<br />

Resort in Punta Cana. Wahrscheinlich wollte er herausfinden, wie betrunken die Leute<br />

wirklich waren, ob sie wirklich die Sau rausliessen oder ob sie sich noch immer<br />

zurückhielten. Auf jeden Fall kreuzte er schon bald wieder auf, mein Freund, die Hyäne, mit<br />

warmen Blick im Antlitz und nacktem Leder auf den triefenden Poren.<br />

"Lauter Zombies hier. Lass uns ein paar Jungfrauen schlachten und den weiteren Verlauf aus<br />

einem christlichen Eingeweideschauer lesen."<br />

"Okay. Tönt gut. Bin dabei."<br />

Vlad liess sich neben mir nieder. Seine roten Augen suchten die Meute ab. Schliesslich<br />

meinte er: "Hier gibts keine Jungfrauen. Nicht eine einzige. Die Römer waren bereits hier."<br />

Noch bevor ich etwas erwidern konnte, quetschte sich eine fette Frau zwischen uns. Sie schob<br />

mich beiseite und starrte Vlad unverholen an.<br />

"Sowas hätte ich hier wirklich nicht erwartet. Ein echter Arier in diesem Saustall."<br />

Vlad stellte seinen Drink ab.


"Wie bitte?"<br />

Sein Eispickelblick verunsicherte sie für einen Moment, doch sie fing sich schnell wieder.<br />

"Naja, Sie wissen schon. Ein echter Mann unter all den Affen."<br />

Ich glaubte meinen Ohren nicht zu trauen und schielte kurz zu Vlad rüber. Ich hatte keine<br />

Ahnung wie er reagieren würde. Ich selbst hatte Lust der Alten meinen Drink in die Augen zu<br />

spucken.<br />

Doch Vlad regelte die Sache auf seine Weise. Er brachte sein Gesicht gefährlich nahe an das<br />

ihrige, bis sich ihre Nasen beinahe berührten.<br />

"Jetzt hör mir gut zu, denn ich werds dir nur einmal sagen. Meine Seele ist schwarz, meine<br />

Eltern sind schwarz und mein Herz ist schwarz. Ich bin ein Albino, ein Missgeschick der<br />

Natur. Mein Wesen ist schwarz und damit meine ich die schwarze Rasse. Ich bin schwarz. Ich<br />

liebe schwarz. Es gibt keine Arier, nur kranke Fanatiker. Wenn du willst, zeige ich dir meine<br />

Katze. Sie hängt an der Telephonschnur im Zimmer 666. Sie hat gemiaut als im Discovery<br />

Channel ein Bericht über Hitler lief. Sie hat im falschen Moment gemiaut. Ich konnte mich<br />

nicht zurückhalten. Es tut mir leid."<br />

Er nahm einen Schluck von seinem schwarzen Drink. "Du hast ebenfalls im falschen Moment<br />

gemiaut." Die Nasen waren sich erneut nahe.<br />

Er stellte seinen Drink wieder ab. Dann hob er seinen Kopf und schaute mich an, mit einer<br />

Haltung die verlauten liess, dass er genug gesagt hatte und nun mir das Wort übergab.<br />

Ich räusperte mich und legte der Frau sanft meine Hand auf die Schulter.<br />

"Wenn du noch einmal einen solchen Bullshit auskotzst, dann schick ich dir ein paar<br />

haitianische Misanthropen auf den Hals die deine Arierscheisse mit Macheten kurzhacken<br />

werden." Ich schenkte ihr mein goldigstes Lächeln.<br />

Die Frau stiess einen erschrockenen Laut aus ihrem knotigen Leguanenhals aus und rollte<br />

sichtlich angeschlagen davon, jedoch nicht ohne noch zweimal verstört zurückzublicken.<br />

Vlad machte seinem Namen alle Ehre und schleuderte flammende Holzpfähle in Richtung<br />

ihres Herzens.<br />

Erst als sie aus unserem Blickwinkel verschwunden war, kehrte er sich wieder der Bar zu und<br />

schaute mich mit einer Mischung aus Traurigkeit und Wut an: "<strong>Als</strong>o ehrlich, sowas gibts doch<br />

nicht."<br />

Ich konnte ihm nur zustimmen. Und ich wusste nun, dass es auch für einen friedliebenden<br />

Menschen wie Vlad Grenzen gab.<br />

5 Minuten später schauten wir uns unverwandt an und brachen in schallendes Gelächter aus.<br />

"Meine Seele ist schwarz! Haha! Das glaubt ja kein Schwein! Ah-haha! Mann, der hast du's<br />

aber schön gegeben, haha! Ich bin ein Albino!! Hahaha!!"<br />

"Ahaha!! Nein ehrlich! Haitianische Misanthropen! Wo hast du denn den Scheiss her!! Meine<br />

Güte, hast du ihr Gesicht gesehen!!"<br />

"Hahahaha!!!"<br />

Vlad lachte Tränen und mir ging es genauso. Hier waren wir also, in einem typischen Touri-<br />

Resort, halb besoffen, mit Gratis-Drinks in unseren Fäusten, alles umsonst, all inclusive, wir<br />

zwei betrügerische Idioten: der Strassenpunk und Rotweinpoet fern der herzergreifenden<br />

Melancholie Buenos Aires' und der norwegische Eiskönig, im Herzen seine Fichtenwälder<br />

vermissend und mit Gwin App Nutt im Bunde - in der Karibik und wir schlugen uns mit<br />

rechtsradikalen westdeutschen Irrgeistern rum, während die Piratenbrise die Kokosnüsse<br />

liebkoste - die Absurdität der Umstände war weiss Gott zum Lachen. Wir bestellten weitere<br />

Drinks und wagten uns auf die Tanzfläche, sehr zur Unterhaltung der lokalen Salsagöttinnen.<br />

Nachdem wir genug Zehen zertrampelt hatten, beschlossen wir, dass die Nacht erst so richtig<br />

begonnen hatte.<br />

Ein Hotelshuttle, ähnlich der Gefährte der Golfcaddies im angelsächsischen Amerika brachte<br />

uns in den nächsten Iberokomplex. So weit, so gut, hier sah alles gleich aus. Wir einigten uns<br />

auf die 50ies Bar und bestellten Drinks mit unserem Plastikbändel während Bruce Springsteen


über die 80er Jahre jammerte. Das Leben war grossartig. Kostenlose Drinks, Bruce,<br />

Billardtische, die ganze Nacht zum versauen frisch ausgebreitet vor uns.<br />

Wir bestellten und bestellten und waren noch immer halbwegs nüchtern. Nach dem 4. Cuba<br />

Libre stieg ich auf puren Rum um. Ich wollte endlich die Kugeln daneben schiessen, wollte<br />

mich Kugeln vor Lachen, wollte dem Schicksal ins Gesicht lachen, wollte über mich selbst<br />

lachen. Wie Hemingway schon sagte: "Sometimes a man needs to get drunk to spend time<br />

with his fools."<br />

Die 50er Jahre waren so gut wie ausgestorben. Ausser Dracula und mir trieben sich nur ein<br />

paar wohlbeleibte amerikanische Teenager auf dem Friedhof rum. Wir forderten sie zum Spiel<br />

heraus. Die typischen fetten selbstgefälligen Amerikaner. Ein junger Kerl in meinem Alter,<br />

um die 20 herum, mit seiner jüngeren Schwester. Jedoch ziemlich wohlgesinnt die beiden,<br />

ehrlich gesagt mussten wir unsere Vorurteile schon bald revidieren und unter dem konstant<br />

anschwellenden Gewicht des Rumumhangs wuchs schon bald eine gegenseitige Zuneigung<br />

und hier waren wir also, Amerika und Europa und Europa während seiner Inquisition.<br />

Mittlerweile war es bereits nach Mitternacht, Vlad hatte die Geisterstunde verpasst, obwohl er<br />

sich dessen wohl kaum bewusst war: Er hing wie ein toter schottischer Priester an der Bar und<br />

spielte mit Schwefelkopf Streichhölzern. Amerika und ich kämpften nach wie vor um die<br />

Löcher im Tisch und übergingen dabei manch internationale Regel.... - aber hey! Schliesslich<br />

waren wir hier im Urlaub! Wir befanden uns in der Freizone, keine Regeln, keinen Stress,<br />

keine Mahnfinger! Der Alkohol floss in Strömen und schon bald beschlossen wir, die 50er<br />

Jahre zu verlassen und stattdessen im Hause Amerikas das WM Spiel Schweden - Senegal zu<br />

verfolgen.<br />

In die Höhle des Löwens also. Vlad knurrte und schnappte nach Eulen, aber Amerika drückte<br />

ihm ein paar kameradschaftliche Biere in die Klauen und schon bald war auch dieser Weg<br />

geebnet. Es war die letzte Nacht Amerikas. Amerika wollte einen draufmachen und wir<br />

schienen gerade rechtzeitig gekommen zu sein um dieses Vorhaben zu unterstützen. Auf<br />

jeden Fall liess Amerika nichts unversucht um uns von der Partyseite des Lebens zu<br />

überzeugen. Wir betraten Amerikas Höhle und als ersten Freundschaftsbeweis prügelte der<br />

wohlbeleibte Teenager seinen jüngeren Bruder aus dem Schlaf und schüttete der jüngsten<br />

Schwester einen Krug Wasser übers Gesicht, um uns dann im selben Atemzug den beiden<br />

vorzustellen, so als ob dies eine angemessene Art wäre, neue Freunde in die Gunst der<br />

Familie einzuweisen.<br />

"Das hier ist <strong>Steve</strong>, ein irrer Schweizer, den ihr lieben werdet und dies hier ist, nun, ja, dies<br />

hier ist ein - , wie heisst du eigentlich? - was?? - also dies hier ist ein schwedischer Indianer<br />

bevor die Indianer ausgerottet wurden.... - ist das richtig?", mit einem Blick zu Vlad der sich<br />

aus lauter Scham hinter einem Vorhang aus blondem Haar versteckte.<br />

"Jaja, das ist okay so. Aber sag mal, willst du nicht - also ich meine - tut mir leid, dass wir<br />

euch so mitten in der Nacht wecken, ich meine, es war nicht meine Idee - das mit dem Wasser<br />

und der Lärm - tut mir wirklich leid, wir sind hier nur auf Besuch und euer Bruder hier - hey<br />

sag mal, bist du eigentlich okay?" er wandte sich an den kleinen Bruder. Dieser nickte bloss<br />

und brachte keinen Ton heraus.<br />

Stattdessen ergriff Mr. Amerika wieder das Wort.<br />

"Hey Mann, mach dir keine Sorgen, die hier sind cool." Mit diesen Worten drosch Amerika<br />

dem Kleinen die Rechte in die Rippen, worauf dieser sich kurz schmerzverzerrt unter der<br />

Bettdecke verkroch, sich dann jedoch schnell wieder erholte und seine ganze Aufmerksamkeit<br />

Vlad widmete, wie seine Schwester übrigens auch.<br />

"Wow, du bist also aus Skandinavien? Du isst Bären und solches Zeug, nicht wahr?"<br />

Vlad warf mir einen kurzen Blick zu, den ich sanft nickend bestätigte. Dann antwortete er.<br />

"Ja, das ist richtig, mein Sohn. Bären. Und Säbelzahntiger."<br />

Der Kleine kam ins Schwitzen:


"Säbelzahnwow! Er knuffte seine Schwester in die Seite. "Siehst du! Ich habs doch schon<br />

immer gewusst! Die Skandinavier sind die wahren Teufelskerle! Die fressen Eisberge und<br />

Sägezahntiere!"<br />

Auf dem Bildschirm schossen die Afrikaner ein Tor während sich die Schweden fragten, was<br />

zum Teufel sie hier bloss verloren hatten.<br />

"Nun ja..." erwiderte Vlad, "vielleicht nicht ganz so extrem..."<br />

Doch als sich die Enttäuschung auf dem Gesicht des Jungen abspiegelte, fügte er schnell<br />

hinzu: "Aber wir trinken Pinguinblut und kleiden uns in frisch abgezogenen Eisfuchsfellen.<br />

Manchmal übernachen wir auch in ausgeweideten Pottwalen, wenns draussen wirklich kalt<br />

ist. Du weisst schon. An Neujahr undso."<br />

Der Kleine begann wieder zu strahlen.<br />

"Siehst du! Ich habs gewusst! Es ist wahr! Der Herr der Ringe ist nicht bloss eine Geschichte!<br />

Es gibt sie tatsächlich! Die Barbaren leben!"<br />

Vlad runzelte die Stirne. Herr der Ringe? Barbaren?<br />

"Du meinst wohl die Kelten."<br />

"Kelten, Barbaren, Goten! Sie alle leben! Und du bist einer von ihnen!"<br />

Er schmiss seiner noch immer leicht schläfrigen Schwester ein Kissen ins Gesicht.<br />

"Siehst du! Es ist nicht so wie Mutter immer sagt! Es gibt auch noch andere neben dem<br />

Christentum!"<br />

Vlad warf mir einen erstaunten Blick zu.<br />

Der Kleine fuhr weiter, während sein älterer Bruder, Amerika, mich zu einem Bier und zur<br />

Anteilnahme am Fussballspiel zwang. Mir wars recht. Im Hintergrund hörte ich den Kleinen<br />

weiterfaseln: "Konstantin, der erste christliche Kaiser war der grösste Lügner seiner Zeit!<br />

Aber er hat es nicht geschafft, die Mythen auszurotten!"<br />

Vlad warf mir einen letzten Blick zu, mit hochgezogenen Augenbrauen: "Hey <strong>Steve</strong>, dieser<br />

Junge ist in der Tat aussergewöhnlich." Dann wandte er sich mit einem väterlichen Ausdruck<br />

und ehrlichem Interesse dem Kleinen zu. Während die Schweden sich die Beine müde<br />

strampelten und meine Augen langsam zufielen, hörte ich, wie Vlad sich erhob und nach<br />

einem ausgiebigen Schluck langsam sein wahres Ich ausbreitete und sich den Kleinen<br />

vornahm, mit nachsichtiger Geduld:<br />

"Nun denn. Setz dich mal hierher, komm ein bisschen näher, mein Freund. Du scheinst mir<br />

beflissen zu sein auf dem Gebiet der Vielgötterei. Hast du schon jemals etwas vom Kult des<br />

Osiris gehört? Und was hältst du von den Lügen Eusebs?"<br />

"<strong>Als</strong>o, Osiris sagt mir nichts, dass muss ein Grieche gewesen sein, oder irgendsowas, ein<br />

Persier....aber Euseb, also Euseb ist einer der schlimmsten Geschichtsverfälscher seit es<br />

Geschichte gibt und wenn es okay ist, dann gib ich dir gern meine eigene Meinung zu ihm...<br />

"Nur zu, mein Freund, nur zu....", mit verschränkten Händen und einem Gemüt so geduldig<br />

wie Kerzenwachs.<br />

Bevor ich komplett abtauchte, glaubte ich Sirenengesänge zu vernehmen und das letzte an das<br />

ich mich mit Sicherheit erinnern konnte, waren Vlads strohblonde Haare die im Licht der<br />

Fussball WM beinahe golden die Mitte des Zimmers markierten.<br />

Dann überspülte mich die gleissende Weisheit des Schlafes. Und im Vergleich dazu gibt es<br />

nichts besseres. Wie ein Tod den wir überleben werden. Ein Polarstern unter dem eigenen<br />

Laken. Der Ursprung von Schwarz und Weiss und alles was dazwischen liegt und der<br />

Ursprung von allem das uns verbindet...<br />

Ein paar Stunden wachte ich auf dem Sofa in unserem Zimmer auf, Hans war soeben dabei,<br />

meiner Mutter den Rücken mit Piz Buin einzureiben. Ich hatte keine Ahnung wie ich hierher<br />

zurückgekommen war und so drehte ich mich erst einmal um, um zu sehen ob Vlad auch hier<br />

war. Er war es nicht. Ich fing an zu schwitzen. Am Gesichtsausdruck meiner Mutter liess sich<br />

nicht erkennen, ob sie über irgendetwas verärgert oder besorgt war. Sie hatte noch nicht


emerkt, dass ich wach war, also machte ich mich mit einem lauten Räuspern bemerkbar und<br />

bereitete mich innerlich auf einen Anschiss erster Güte vor. Der blieb jedoch aus. Sie hoben<br />

kurz ihre Köpfe und drehten sie dann sogleich nach links, denn im nächsten Moment tauchte<br />

Vlad in dichten Schwaden heissen Dampfes in der Badezimmertüre auf, wie die Gallionsfigur<br />

eines norwegischen Geisterschiffes das still schweigend durch die Nebel der grauen Nordsee<br />

treibt.<br />

Meine Mutter wandte sich wieder mir zu: "Guten Morgen, Sohnemann!", flötete sie.<br />

Mit einem erleichterten Seufzer liess ich meinen Kopf wieder aufs Kissen sinken. Ich würde<br />

mir nochmals 5 Minuten gönnen.<br />

Und dann wachte ich wirklich auf.<br />

Meine Mutter rüttelte an meiner Schulter, ihr Haar war zerzaust, ihr Gesicht in Falten: "Hey,<br />

aufstehen! Wach auf!!" Sie schmiss mich beinahe vom Sofa.<br />

"Wo ist Vlad?"<br />

Ich begriff nicht ganz was los war, meine Gedanken waren immer noch im Traum.<br />

"Ich...was? Ich....eh? Vlad? Komm in 5 minuten nochmals, okay? Nur noch 5 Minuten..."<br />

"Hey! NEIN! Jetzt wach auf!" Sie zog mir das Kissen unter dem Kopf weg.<br />

"He! Was ist denn los?! Warum...? Was...Vlad? Der ist doch im Badezimmer, Himmel<br />

nochmal, was soll denn das, jetzt lass mich noch 5 Minuten schlafen, nur 5 Minuten, ich<br />

versprechs..."<br />

Plötzlich musste sie lachen.<br />

"Was sagst du? Im Badezimmer? Hahaha!" Sie wandte sich an Hans:<br />

"Hans. <strong>Steve</strong> spinnt." Dann drehte sie sich wieder mir zu. Mit ihrem ganzen mütterlichen<br />

Ernst. (Und das will was heissen.)<br />

"Vlad ist nicht hier. Und warum sind deine Kleider so schmutzig? Was habt ihr denn bloss<br />

getrieben? Habt ihr dermassen viel getrunken? Und wo ist Vlad?" Sie glich nun mehr einem<br />

Kondor als meiner Mutter.<br />

So langsam kam ich zu Bewusstsein. Mein Gehirn war nichts als Matsch. Brei. Müsli.<br />

Zerstossen mit dem Alkohol-Mörser. Ich hatte keine Ahnung was los war. Vlad, meine<br />

Kleider, vergangene Nacht. Das letzte an was ich mich erinnern konnte, war wie wir mit<br />

irgendwelchen Amerikanern Billard gespielt hatten in der 50ies Bar.<br />

Meine Mutter warf mir die Kleider der letzten Nacht auf die Brust. Das weisse Hemd stand<br />

vor Dreck und auch die Hosen wiesen mehrere Flecken und Spuren auf, besonders an den<br />

Knien und um den Arsch herum. Ich schnupperte daran. Erde. Hmm. Seltsam. Ich konnte mir<br />

keinen Reim darauf machen.<br />

Erde? Keine Ahnung. Wo zum Teufel hatten wir uns bloss rumgetrieben? Und WO WAR<br />

VLAD? Ich fing an mir dieselbe Frage im selben ernsten Ton wie meine Mutter zu stellen.<br />

Doch alles was ich in meinem Schädel fand, war eine leere Gedächtnistruhe die nach<br />

feuchtem Staub, schalem Bier und heftigem Tabakniederschlag roch.<br />

Die Vorhänge waren zurückgezogen und die Sonne knallte mir geradewegs in die Fresse. Und<br />

dann plötzlich erinnerte ich mich. Die 50ies Bar. Die Drinks. Bruce Springsteen. Die Amis.<br />

Ihr Hotelzimmer, das Fussballspiel, Vlad und der Kleine, Senegal am Tore ballern. Und dann?<br />

Dann muss ich weggesackt sein. Aber ich erinnerte mich wieder daran wie Vlad und ich mit<br />

zerknitterten Augen vor dem Zimmer der Amis rumstanden und eine Zigarette rauchten. Und<br />

dann hatten wir die schlaue Idee, ein Wettrennen zu machen, da das Hotel Shuttle um diese<br />

Zeit nicht mehr verkehrte. Ein Wettrennen mitten durch den Resort Dschungel hindurch. Wer<br />

von uns beiden am schnellsten zurück in unserem Zimmer sein würde. Dabei wussten wir<br />

nicht einmal wo wir uns befanden. Oder was der Preis für den Gewinner sein würde. Die<br />

50ies Bar war bereits im anliegenden Resort und nicht mehr in unserem Iberostar. Ich<br />

erinnerte mich daran wie wir losrannten, querfeldein, über Rasen und Gebüsch, unter Palmen


hindurch, über die gepflasterten Gehwege und an hübschen kleinen Teichen und Brunnen<br />

vorbei, wir wussten ungefähr in welcher Richtung unser Zimmer lag und PÄNG! haute es<br />

Vlad auf die Knochen, daran konnte ich mich noch erinnern, ich sah nur noch wie seine<br />

weisse Mähne in die Luft flog, wie die Flamme einer Kerze und dann sah ich nichts mehr von<br />

ihm, nur noch dunkles Gebüsch. Er hatte versucht, mitten hindurch zu rennen, anstatt darüber<br />

zu springen wie ich es getan hatte. Ich musste dermassen lachen, dass ich anhalten musste.<br />

Von Vlad war noch immer nichts zu sehen. Es tat sich überhaupt nichts, keinen Laut, kein<br />

Gefluche aus dem Blätterwerk. Ich wollte schon die 10m zurückgehen um nach dem Rechten<br />

sehen als er plötzlich emporschnellte und mit vollem Tempo an mir vorbeirannte. "Verflucht<br />

nochmal!"<br />

Er hatte mich voll erwischt und nun musste ich mir alle Mühe geben ihn wieder einzuholen.<br />

Es schien unmöglich, ich konnte ihn kaum mehr sehen, manchmal flackerte seine weisse<br />

Mähne in der undurchdringlichen Dunkelheit auf, ich hatte keine Ahnung wo wir waren, im<br />

Moment sah es nicht grade nach Resort aus, obwohl es natürlich unmöglich war, dass wir<br />

irgendwo sonst waren. Dies hier war ALLES Resort, die ganze verdammte Ecke dieser<br />

brütenden Insel. Nach einer Weile kamen wir wieder in eine Bungalow Anlage und das Ganze<br />

sah wieder etwas vertrauter aus. Auch gab es hier wieder etwas mehr Licht und ich sah, dass<br />

Vlad keine 30 m vor mir war. Er rannte als ob der Leibhaftige hinter ihm her wäre. Wir waren<br />

nun schon sicher 2 Minuten am Rennen und am liebsten wäre ich stehengeblieben und hätte in<br />

die Büsche gekotzt. Aber daran war nicht zu denken. Der Suff trieb mich manisch weiter. Ich<br />

spuckte einen Klumpen Teer aus und verfeinerte meine Beinarbeit noch ein bisschen. Das<br />

Terrain wurde nun erneut etwas uneben und man musste aufpassen, dass man nicht auf die<br />

Schnauze fiel. Ich gab noch mehr Stoff, Vlad kam immer näher, es fehlten höchstens noch 10<br />

m, er drehte sich nach mir um und als er mich sah, brach er in brüllendes Gelächter aus,<br />

welches ihn nochmals gut 5 Meter zurückwarf. Yes, Baby! Jetzt würde ich ihn einsacken, es<br />

fehlte nur noch ein kleines Stück, nur noch ein paar wenige Meter und - und ich fiel in voller<br />

Geschwindigkeit kopfüber auf die Fresse. Wie ein Verteidiger auf dem Fussballfeld der<br />

verzweifelt hinter dem schnelleren Stürmer hinterher rennt und schliesslich stolpernd das<br />

Gleichgewicht verliert weil er sich übernommen hat und zu schnell gerannt ist und mit<br />

rudernden Armen und hochfliegenden Schienbeinen in den Dreck stürzt. Wie ein Pinguin auf<br />

einer antarktischen Rutschbahn schlitterte ich auf dem Bauch einige Meter weit bis eine<br />

Kokospalme meiner Fahrt ein abruptes Ende bereitete. Ich krachte mit der rechten Schulter in<br />

sie hinein. Für einen Moment hielt ich den Atem an und legte meine Hände über den Kopf -<br />

für den Fall dass sich eine Kokosnuss gelöst hatte.<br />

Aber es geschah nichts. Nichts ausser Vlads tierischem Gejohle. Er war stehengeblieben und<br />

krümmte sich vor Lachen. Ich musste selbst lachen, denn trotz allem tat mir so gut wie nichts<br />

weh. Wahrscheinlich würde ich es erst morgen beim Aufwachen so wirklich wissen. Zurzeit<br />

hätte man mir den kleinen Finger abhacken können und ich hätte dabei wahrscheinlich noch<br />

dumm gegrölt.<br />

<strong>Als</strong>o rappelte ich mich wieder auf, klopfte mich kurz ab und rannte dann los als ob ich<br />

Eidechsen im Arsch hätte. Vlad liess sich jedoch nicht täuschen und behielt seinen 10m<br />

Vorsprung wohlweislich bei. Wir rannten weiter für - sagen wir - 20 Sekunden. Dann wurde<br />

es wieder dunkler und zum ersten Mal hatte ich ernsthafte Zweifel ob wir unser Zimmer<br />

jemals finden würden. Ich dachte schon daran, nach Vlad zu schreien und ihn zum Anhalten<br />

zu bewegen. Doch dann erkannte ich eine Menge Lichter nicht allzu weit vor uns und ich<br />

legte nochmals einen Zahn zu. Und dann knallte es Vlad aufs Maul. Mitten in einem seichten<br />

Teich. Ich konnte es mir nur vorstellen, aber es musste ein Anblick zum Brüllen gewesen<br />

sein: Ich sah ihn vor mir, wie er in vollem Lauf in diesen Tümpel gerät und plötzlich<br />

realisiert, dass er nicht mehr festen Boden unter seinen fliegenden Füssen hat. Er muss dann<br />

wohl irgendwie versucht haben, die Geschwindigkeit zu drosseln, aber man weiss ja wie das<br />

ist, wenn man erst mal mit Höchstgeschwindigkeit am Rennen ist, kopflos und sich dann


plötzlich inmitten von unerwarteten Problemen befindet, so als ob man völlig unerwartet<br />

einen Schuh verliert oder ein Reifen platzt auf der Autobahn...auf jeden Fall hatte er das<br />

Gleichgewicht verloren und war bäuchlings in den seichten Tümpel geklatscht und wie es das<br />

ungeschriebene Gesetz vorschrieb, hatte auch er sich in seiner Betrunkenheit nicht verletzt.<br />

Dieses Mal würde ich also nicht anhalten und auf ihn warten, sondern geradewegs an ihm<br />

vorbeirauschen. Im Vorbeirennen warf ich einen Blick auf ihn: Wie ein Untoter erhob er sich<br />

aus den dunklen Fluten mit strähnigem Haar und Pflanzen auf den Schultern, die Kleider<br />

triefend und das schwarze Wasser bis hin zu den Knien. Ich lachte mir einen ab und fiel<br />

sogleich erneut auf die Fresse: Ein Hotelangestellter hatte seine Gärtner Ausrüstung vergessen<br />

einzupacken und ich verhedderte mich in vollem Fluge darin. Ich krachte kopfüber in die<br />

Dunkelheit, wurde jedoch von weichem Rasen empfangen. Ich war schnell wieder auf den<br />

Beinen und raste weiter. Die Lichter waren nun beinahe in Greifweite und ich rannte weiter<br />

ohne mich nach Vlad umzusehen. Ich erreichte ein Restaurant an welches ich mich zu<br />

erinnern glaubte und drehte nach dem grossen Buffet hart nach links ab, ich war mir ziemlich<br />

sicher, dass dort unser Bungalow lag. Es wurde wieder wieder dunkel und ich rannte weiter,<br />

in gutem Glauben, wie ein Knecht, der im Dienst seines ehrwürdigen Königs alle Mühen auf<br />

sich schultert. Nach einer Weile drehte ich mich nach Vlad um, doch es war nichts von ihm zu<br />

sehen. Zum zweiten Mal während dieser Jagd, dachte ich daran stehenzubleiben, doch dann<br />

hielt ich mir vor Augen, dass Vlad aus hartem Holz geschnitzt war und rannte grinsend<br />

weiter. Eigentlich rannte ich schon gar nicht mehr, es war eher ein Laufen. Aber ich kam gut<br />

vorwärts. Und nach einer weiteren falschen Abzweigung an der ich vorerst kurz<br />

stehengeblieben war um mich zu orientieren und zu welcher ich schon schnell wieder<br />

zurückkehrte, weil mir bewusst geworden war, dass ich den falschen Weg eingeschlagen<br />

hatte, begab ich mich schliesslich in die korrekte Richtung und stand kurz darauf vor unserem<br />

Bungalow. Ich schlug mir lachend auf die Schenkel. Dann schnappte ich nach Luft und<br />

erbrach mich in die Büsche, gleich vor die Türe unserer Nachbarn.<br />

Und dann muss ich wohl nach oben gegangen sein, direkt ins Bett. Vielleicht hatte ich auch<br />

eine Weile auf Vlad gewartet. Vielleicht war ich ihn sogar suchen gegangen. Wie auch<br />

immer, es war auf jeden Fall klar, dass er den Weg zurück nie gefunden hatte und somit die<br />

Nacht irgendwo da draussen verbracht haben musste. Haha! Irgendwie tat er mir leid, aber<br />

andererseits musste ich auch lachen. Etwas Schlimmes konnte ihm ja nicht zugestossen sein,<br />

schliesslich waren wir hier in einer zivilisierten Oase, einer kapitalistischen Gummizelle,<br />

einem mit Plüschteppich gepanzerten Konsum-Paradies, kurz: in einem 5-Sterne<br />

Hotelkomplex. Die einzigen wilden Tiere waren Cucarachas und übergewichtige fettleibige<br />

Menschen auf der Suche nach konstantem Spass.<br />

Ich raffte mich auf, setzte mir meine Kontaktlinsen ein und schlüpfte in frische Kleider. Die<br />

Sonne vor dem Zimmer traf mich mit voller Wucht, doch ich knackte eine Bierdose und<br />

machte mich auf den Weg. <strong>Als</strong> erstes richtete ich meinen Blick gen Himmel und suchte die<br />

vier Himmelsrichtungen nach kreisenden Geiern ab. Ich fand nichts als beruhigendes,<br />

freundliches Blau.<br />

Keine Viertelstunde später traf ich auf Vlad, am Strand. Er lag im Schatten einer Kokospalme<br />

und nuckelte an einem Drink. Er schien einen äusserst zufriedenen Eindruck zu machen. <strong>Als</strong><br />

ich mich neben ihn in den Schatten stellte, hob er kurz den Kopf und wies mich dann mit<br />

einer nonchalanten Handbewegung an, ihm Gesellschaft zu leisten, so als ob er mich jede<br />

Minute erwartet hätte.<br />

Es stellte sich heraus, dass er sich tatsächlich verirrt und die Suche irgendwann aufgegeben<br />

hatte. Doch er war keineswegs verärgert deswegen, im Gegenteil. Er hatte eine der besten<br />

Nächte seines Lebens verbracht, in einem bequemen Liegestuhl unter einem wunderschönen<br />

Sternenhimmel, mit dem Gesang des Ozeans als Wiegenlied. Er strahlte vor Zufriedenheit<br />

und ich war froh darüber meinen Freund gesund und glücklich gefunden zu haben. Ich war


dankbar für mein gesamtes Leben, wir genossen einzig und allein diesen gleissenden<br />

Augenblick, die Vergangenheit war unwichtig, ist immer unwichtig, das einzige was zählt ist<br />

die Gegenwart und zu jenem Zeitpunkt hätte ich meine Gegenwart für nichts in der Welt<br />

eingetauscht.<br />

Über unseren Köpfen rauschten die Palmen unbeirrt weiter und die Wellen kamen und gingen<br />

und kamen und gingen und kamen und gingen bis wir selbst aufbrachen und gingen.<br />

Um 16.00 Uhr ging ein Bus direkt vom Resort nach Higuey, von dort aus würden wir<br />

weiterziehen nach San Pedro de Macoris, wo wir erneut umsteigen würden um eine Nacht bei<br />

Papucho, meinem Voodoopriesterfreund, im Batey Jalonga, zwischen San Pedro und Hato<br />

Mayor verbringen würden. Doch wir verpassten den Bus nach Higuey, weil er ausnahmsweise<br />

pünktlich fuhr. Ich war mir solche Sachen in der Dominikanischen nicht mehr gewohnt. Um<br />

16.10 Uhr standen wir wie zwei übergossene Pudel auf dem Ibero Parkplatz.<br />

"Und was nun?"<br />

Vlad kratzte sich am Bart. "Was fragst du mich? Auf einem Elchrücken werden wir hier wohl<br />

kaum rauskommen."<br />

Wir beschlossen, uns noch ein letztes kostenloses Bier geben zu lassen und dann vor Hans auf<br />

die Knie zu fallen. Die Fahrt bis Higuey konnte nicht mehr als eine halbe Stunde dauern.<br />

Er willigte widerstandslos ein. Dafür, dass er der Direktor einer Computerfirma war, war er<br />

verdammt relaxed. Die Karibik hatte ihn bereits eingesackt.<br />

Kurz vor halb fünf bogen wir mit quietschenden Reifen auf die einwandfreie Einfahrt, welche<br />

uns schon bald auf die löchrige Landstrasse Richtung Higuey brachte. Einmal mehr was das<br />

Leben schlichtweg grossartig.<br />

Eigentlich sollte diese Geschichte an dieser Stelle weitergehen, mit Sätzen wie: "Die<br />

dunkelgrüne Echsenschönheit der karibischen Hügel durchleuchtete unsere Kopfstützen<br />

während der Bus auf sattfeuchtem Asphalt seine Kokosrunden drehte und wir von Rum<br />

träumten, der auf eben diesen Feldern geernet wurde, von schwieligen Händen und<br />

schweisstropfenden Strohhüten mit dem Schwirren der Grillen im Hintergrund und - "<br />

Aber so wird diese Geschichte nicht weitergehen.<br />

Sie wird so enden.<br />

Mit schwarz-grünen Spuren unter den Reifen, mit höllisch heisser Luft in den Tränendrüsen,<br />

mit nie endendem Verlangen nach mehr, mehr Hitze, mehr unsinnigen Meilensteilen, von<br />

Kaugummi und Spucke verklebt, eher ein Zeichen für Dinge die sich nicht messen lassen, als<br />

ein Merkmal für Erreichtes; für Fragen die mit Fragen beantwortet werden, für<br />

disharmonische Melodien, für Kriege die mit einem Grinsen gelöst werden und für Picknicks<br />

die mit blutigen Marmeladen bestrichen sind und für lang vergessene Photographien die dich<br />

dazu bewegen, dein Leben auf den Kopf zu stellen, um 3.30 Uhr in der Nacht.<br />

Wer gedacht hat, dass das Leben in der Karibik anders ist - hat sich nicht getäuscht: Es ist<br />

anders. Aber nicht so, wie du es dir vorgestellt hast. Die Palmen gehören auf deinen Traum-<br />

Estrich, die Wirklichkeit nimmt alle deine restlichen Sinne in Anspruch.<br />

Und während wir alle auf Neuigkeiten warten, hält unser Bus an einem Ort wo die einzigen<br />

Neuigkeiten darin bestehen, dass dann und wann ein Bus hält.

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