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Zur Genealogie der Moral

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es ist <strong>der</strong> letzte Zweck, die Kriegserklärung, <strong>der</strong> am besten in sein System passt.<br />

Nietzsche lehnt die Besserung als tauglicher Zweck <strong>der</strong> Strafe mit starken Argumenten ab: “Der echte Gewissenbiß ist gerade<br />

unter Verbrechern und Sträflingen etwas äußerst Seltnes, die Gefängnisse, die Züchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese<br />

Spezies von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht... Ins große gerechnet; härtet und kältet die Strafe ab; sie konzentriert; sie verschärft das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Entfremdung; sie stärkt die Wi<strong>der</strong>standskraft. (...) Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern <strong>der</strong> Verbrecher gerade durch<br />

den Anblick <strong>der</strong> gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhin<strong>der</strong>t wird, seine Tat, die Art seiner Handlung an sich als<br />

verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst <strong>der</strong> Gerechtigkeit verübt und dann<br />

gutgeheißen, mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und<br />

durchtriebene Polizisten- und Anklägerkunst...” 68 Und weiter: “Nicht an<strong>der</strong>s als Spinoza haben die von <strong>der</strong> Strafe ereilten Übel-<br />

Anstifter jahrtausendelang in betreff ihres ‘Vergehens’ empfunden: ‘hier ist etwas unvermutet schiefgegangen’, nicht ‘das hätte ich<br />

nicht tun sollen’... (...) ...ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung <strong>der</strong> Strafe vor allem in einer Verschärfung <strong>der</strong> Klugheit<br />

suchen, in <strong>der</strong> Verlängerung des Gedächtnisses, in einem Willen, für<strong>der</strong>hin vorsichtiger, mißtrauischer, heimlicher zu Werke zu<br />

gehn...” 69<br />

4. Verbrechen und Gesellschaft. Im Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Verbrecher und <strong>der</strong> Gesellschaft können wir nur<br />

die zwei wichtigsten Thesen wie<strong>der</strong>holen. Das Verbrechen sei nach Nietzsche ein Verhalten eines verwegenen Schuldners, <strong>der</strong> seine<br />

Pflicht gegen das Ganze verletzte. Die Gesellschaft habe freie Hand, ihn zu bestrafen; die Härte <strong>der</strong> Strafe ist von <strong>der</strong> Macht des<br />

Gemeinwesens abhängig: ein mächtiges Gemeinwesen kann sich leisten, den Schädigen sogar ohne Strafe lassen. Im Strafrecht spiegelt<br />

sich <strong>der</strong> Machtscharakter des Rechts also sehr deutlich.<br />

III. 3. Schlusswort<br />

Die <strong>Genealogie</strong> bietet viele Gedanken zu den rechtsphilosophischen Überlegungen an, und zwar 1. als ein Gesamtwerk, als<br />

eine Auffassung <strong>der</strong> <strong>Moral</strong> und <strong>der</strong> Gesellschaft, die fast einen Gegenteil unserer humanistischen und menschenrechtlichen<br />

Vorstellungen bildet, und 2. als eine Sammlung <strong>der</strong> Aphorismen, <strong>der</strong> kürzen, wirksamen, scharfen Stellungnahmen zu vielen Fragen.<br />

Als Beispiel für die zweite Möglichkeit werde ich noch einmal eine Stelle zitieren: “...wann würden sie (d. h. die Schwachen<br />

und Schlechten) eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph <strong>der</strong> Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen<br />

gelänge, ihr eigenes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks<br />

zu schämen begännen und vielleicht untereinan<strong>der</strong> sich sagten ‘es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!’ ...Aber es<br />

könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn <strong>der</strong>gestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die<br />

Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln”. 70 Auf solcher Weise kritisiert Nietzsche das<br />

Sozialstaatsprinzip, die Solidaritätsgedanke.<br />

Die einzelnen Stellen sowie das ganze Werk Nietzsches zwingen uns jede Idee, jedes Institut unserer Rechts- und<br />

<strong>Moral</strong>auffassung noch einmal nachzudenken. Die Vorstellung Nietzsches als eines Gegenteils unserer <strong>Moral</strong>welt thematisiert und seinen<br />

Wert für uns thematisiert Jaspers: “Wir können durch ihn unsere eigene Redlichkeit för<strong>der</strong>n, wenn wir lernen, das An<strong>der</strong>e,<br />

Vernunftwidrige in uns selbst zu bemerken als das, was ständig auf dem Sprung ist, uns zu erobern.” 71<br />

Das ist zwar eine zu einseitige Ansicht, Vieles wurde von Nietzsche übernommen, seine Auffassung steht nicht mehr im totalen<br />

Wi<strong>der</strong>spruch zu unserer Gedankenwelt. Man kann z. B. die Machtinterpretation des Rechts erwähnen. Trotzdem sehe ich gerade dort die<br />

größte Bedeutung Nietzsches für die Rechtsphilosophie, wo er uns als eine Art advocatus diaboli zu unseren herrschenden Lehren<br />

dienen könnte. Dazu trägt <strong>der</strong> Vorteil bei, dass Nietzsche die Konkurrenzposition mit unvergleichbarer Prägnanz erfasst hat.<br />

München, 11. Juni 2003<br />

68 GM II 14<br />

69 GM II 15<br />

70 GM III 14<br />

71 Jaspers, S. 400

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