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Zur Genealogie der Moral

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Ludwig-Maximilians-Universität München<br />

Juristische Fakultät<br />

Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht,<br />

Rechtsphilosophie und Rechtssoziologie<br />

Prof. Dr. Bernd Schünemann<br />

Seminararbeit<br />

Rechtsphilosophisches Seminar im Sommersemester 2003:<br />

Die Bedeutung Nietzsches für<br />

die Rechtsphilosophie<br />

Thema:<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Genealogie</strong> <strong>der</strong> <strong>Moral</strong><br />

Jan Wintr<br />

Willi-Graf-Str. 17/221, 80805 München<br />

(Nedašovská 347, 15521 Prag, Tschechien)


2<br />

Inhaltsübersicht<br />

I. Einleitung (S. 4)<br />

II. Inhalt des Werkes (S. 5)<br />

II. 1. Vorrede (S. 5)<br />

II. 2. Erste Abhandlung: “Gut und Böse”, “Gut und Schlecht” (S. 5)<br />

II. 3. Zweite Abhandlung: “Schuld”, “Schlechtes Gewissen” und Verwandtes (S. 7)<br />

II. 4. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale (S. 10)<br />

III. Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong> für die Rechtsphilosophie (S. 13)<br />

III. 1. Die <strong>Genealogie</strong> zum Recht allgemein (S. 13)<br />

III. 2. Die <strong>Genealogie</strong> zum Strafrecht (S. 20)<br />

III. 3. Schlusswort (S. 24)<br />

Literaturverzeichnis<br />

Quellen:<br />

Nietzsche, F.: <strong>Zur</strong> <strong>Genealogie</strong> <strong>der</strong> <strong>Moral</strong>, in: Nietzsche, F.: Werke in drei Bänden, Bd. 2, 2. Aufl., München 1960, S. 761-900 (verkürzt:<br />

GM)<br />

Nietzsche, F.: <strong>Genealogie</strong> morálky, übersetzt von V. Koubová, Praha 2002<br />

Literatur:<br />

Gerhardt, V.: Friedrich Nietzsche, München 1992<br />

Grau, G. G.: Macht, Recht und <strong>Moral</strong> bei Nietzsche, in: Seelmann, K. (Hrsg.): Nietzsche und das Recht, Stuttgart 1999, S. 11-19<br />

Gschwend, L.: Nietzsche und die Strafwissenschaft des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, in: Seelmann, K. (Hrsg.): Nietzsche und das Recht, Stuttgart<br />

1999, S. 127-150<br />

Gschwend, L.: Nietzsche und die Kriminalwissenschaften, Zürich 1999<br />

Jaspers, K.: Zu Nietzsches Bedeutung in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Philosophie, in: Jaspers, K.: Aneignung und Polemik, München 1968, S.<br />

389-401<br />

Kerger, H.: Autorität und Recht im Denken Nietzsches, Berlin 1988<br />

Ries, W.: Nietzsche zur Einführung, 5. Aufl., Hamburg 1995<br />

Stingelin, M.: <strong>Zur</strong> <strong>Genealogie</strong> <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong>, in: Seelmann, K. (Hrsg.): Nietzsche und das Recht, Stuttgart 1999<br />

Thüring, H.: Das Gedächtnis als Grund und Abgrund des Rechts bei F.<br />

Nietzsche. Eine Erwägung zur <strong>Genealogie</strong>, in: Seelmann, K. (Hrsg.): Nietzsche und das Recht, Stuttgart 1999, S. 57-76<br />

White, H.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t in Europa, übersetzt von Peter Kohlhaas, Frankfurt am<br />

Main 1991<br />

<strong>Zur</strong> <strong>Genealogie</strong> <strong>der</strong> <strong>Moral</strong><br />

I. Einleitung<br />

Die Schrift <strong>Zur</strong> <strong>Genealogie</strong> <strong>der</strong> <strong>Moral</strong> schrieb Friedrich Nietzsche (1844-1890) in drei Wochen Juli 1887 1 , sie ist also sein<br />

Spätwerk, ein und halb Jahre vor einem psychischen Zusammenbruch Nietzsches geschrieben. Nietzsche selbst nennt dieses Werk “eine<br />

Streitschrift” im Untertitel und bestimmt es “zur Ergänzung und Verdeutlichung” seines früheren Werk Jenseits von Gut und Böse<br />

(1886). Die <strong>Genealogie</strong> wird für Nietzsches geschlossenes Werk gehalten, das ausnahmsweise nicht in einer aphoristischen Form<br />

ausgefertigt ist.<br />

Die <strong>Genealogie</strong> besteht aus drei Abhandlungen und einer Vorrede; eine Darstellung dieser Teile wird am Anfang meiner Arbeit<br />

stehen. <strong>Zur</strong> <strong>Genealogie</strong> <strong>der</strong> <strong>Moral</strong> bietet mit ihren moralischen, historischen, kulturellen, methodologischen und auch juristischen<br />

Überlegungen einen wichtigen Ausgangspunkt zum Thema Nietzsche und die Rechtsphilosophie an, vor allem die zweite Abhandlung<br />

ist hier von großer Bedeutung; mit Hilfe einer Rezeption <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong>, insbeson<strong>der</strong>e bei Henry Kerger, möchte ich dann einige<br />

Gedanken zur Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong> für die Rechtsphilosophie hinzufügen.<br />

II. Inhalt des Werkes<br />

II. 1. Vorrede<br />

Nietzsche selbst charakterisiert das Thema <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong>: Er werde sich mit <strong>der</strong> “Herkunft unsrer moralischen Vorurteile” 2<br />

beschäftigen. “Unter welchen Bedingungen erfand sich <strong>der</strong> Mensch jene Werturteile gut und böse? und welchen Wert haben sie<br />

selbst?” 3 , lauten die wichtigsten Fragen. Die Antwort wird vorläufig angedeutet: “ich verstand die immer mehr um sich greifende<br />

Mitleids-<strong>Moral</strong>... als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordenen europäischen Kultur, als ihren Umweg... zum -<br />

Nihilismus?” 4 Inspiriert von seinem Kollegen Paul Rée, dessen Ursprung <strong>der</strong> moralischen Empfindungen er jedoch scharf kritisierte,<br />

sucht Nietzsche die Antwort in <strong>der</strong> Geschichte, in “<strong>der</strong> ganzen langen, schwer zu entziffernden Hieroglyphenschrift <strong>der</strong> menschlichen<br />

<strong>Moral</strong>-Vergangenheit” 5 . Wir werden sehen, dass in jener Hieroglyphenschrift die Rechtsgeschichte eine nicht unbedeutende Rolle<br />

spielen wird.<br />

II. 2. Erste Abhandlung: “Gut und Böse”, “Gut und Schlecht”<br />

Eine Dichotomie “Gut und Böse” versus “Gut und Schlecht” erklärt nach Nietzsche Sieg eines Sklavenaufstandes in <strong>der</strong> <strong>Moral</strong>.<br />

Mit dem Wort “gut” nannte ursprünglich eine Aristokratie, die Mächtigen und Vornehmen, sich selbst. 6 Ein Name “schlecht” gab die<br />

Aristokratie den an<strong>der</strong>en, den ohne Macht, ohne Größe, ohne Glück: “Das Pathos <strong>der</strong> Vornehmheit und Distanz..., das dauernde und<br />

dominierende Gesamt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältnis zu einer nie<strong>der</strong>n Art, zu einem ‘Unten’ - das ist<br />

<strong>der</strong> Ursprung des Gegensatzes ‘gut’ und ‘schlecht’.” 7 Nietzsche argumentiert vor allem etymologisch. Demgegenüber die an<strong>der</strong>e<br />

Variante geht vom “böse” aus und beinhaltet schon eine moralische Bewertung. Mit den Priester, vor allem mit dem priesterlichen Volk<br />

1 Ries, S. 78<br />

2 GM, Vorrede, 2<br />

3 GM, Vorrede, 3<br />

4 GM, Vorrede, 5<br />

5 GM, Vorrede, 7<br />

6 GM I 2<br />

7 GM I 2


<strong>der</strong> Juden, beginnt <strong>der</strong> Sklavenaufstand in <strong>der</strong> <strong>Moral</strong>: “Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Wertgleichung (gut =<br />

vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflößenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit<br />

den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses <strong>der</strong> Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich ‘die Elenden sind allein die Guten,<br />

die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig<br />

Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit<br />

die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und<br />

Verdammten sein!’... Man weiß, wer die Erbschaft dieser jüdischen Umwertung gemacht hat...” 8<br />

Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang über eine “Umwertung aller Werte” und einen Triumph “über alle an<strong>der</strong>en Ideale,<br />

über alle vornehmeren Ideale” 9 . “Das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert” 10 und <strong>der</strong> Starke wird <strong>der</strong> Böse,<br />

während “die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen” 11 wird. Judea hat sich mit dem Sieg des<br />

Christentums gegen Rom durchgesetzt, Versuche um Rückkehr des klassischen Ideals in <strong>der</strong> Renaissance, im französischen 17. und 18.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t und in <strong>der</strong> Persönlichkeit Napoleons wurden besiegt. 12 Neue Ideale werden fabriziert 13 , “das Raubtier, die prachtvolle<br />

nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie” 14 im Mensch soll zahm und zivilisiert werden. Und die Methode dieser<br />

Zähmung und Zivilisierung beschreibt Nietzsche in <strong>der</strong> zweiten Abhandlung.<br />

II. 3. Zweite Abhandlung: “Schuld”, “Schlechtes Gewissen” und Verwandtes<br />

Nietzsche erklärt die Selbstunterdrückung des Menschen mit Hilfe vieler Begriffe von juristischer Bedeutung: Versprechen,<br />

Verantwortlichkeit, Schuld, Vertragsverhältnis. Wie kann man “ein Tier heranzüchten, das versprechen darf” 15 ? Nietzsche sieht eine<br />

lebendige Kraft in <strong>der</strong> Vergeßlichkeit, die erlaubt, völlig in <strong>der</strong> Gegenwart zu leben. Erst Gedächtnis und Versprechen binden den<br />

Menschen mit seiner Gegenwart und seiner Zukunft zusammen. Der Mensch muss berechenbar werden, verantwortlich werden, ein<br />

Gewissen gewinnen. Der Mensch gewann solche Eigenschaften durch die grausamsten Strafen. 16<br />

Nietzsche geht von seiner Auslegung des Gläubiger-Schuldner-Verhältnisses aus. Im Schuldrecht sieht er den Anfang. Der<br />

Schuldner zählt mit seinem Schmerz, wenn er nicht an<strong>der</strong>s zahlen kann: “Die Äquivalenz ist damit gegeben, daß an Stelle eines gegen<br />

den Schaden direkt aufkommenden Vorteils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgendwelcher Art) dem Gläubiger<br />

eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird - das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen<br />

unbedenklich auslassen zu dürfen... Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit.” 17<br />

Das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis besteht auch zwischen dem Gemeinwesen und seinen Glie<strong>der</strong>n: “Man lebt in einem<br />

Gemeinwesen, man genießt die Vorteile eines Gemeinwesens..., man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in<br />

Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen <strong>der</strong> Mensch außerhalb, <strong>der</strong> ‘Friedlose’, ausgesetzt ist... Der<br />

Verbrecher ist ein Schuldner, <strong>der</strong> die ihm erwiesenen Vorteile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, son<strong>der</strong>n sich sogar an<br />

seinem Gläubiger vergreift...” 18 . Der Verbrecher wird ein wehrloser Feind, <strong>der</strong> als solcher nach dem Kriegsrecht zu behandeln ist. Erst<br />

eine wachsende Macht eines Gemeinwesens ermöglicht eine Mil<strong>der</strong>ung und sogar “es wäre ein Machtbewußtsein <strong>der</strong> Gesellschaft nicht<br />

undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie gibt - ihren Schädiger straflos zu lassen” 19 .<br />

Der von den Rechtsphilosophen am meisten zitierte Abschnitt GM II 11 stellt die Ursprung des Rechts dar: “Überall, wo<br />

Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrechterhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in bezug auf ihr unterstehende Schwächere<br />

(seien es Gruppen, seien es einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüten des Ressentiment ein Ende zu machen,<br />

indem sie teils das Objekt des Ressentiment aus den Händen <strong>der</strong> Rache herauszieht, teils an Stelle <strong>der</strong> Rache ihrerseits den Kampf<br />

gegen die Feinde des Friedens und <strong>der</strong> Ordnung setzt, teils Ausgleiche erfindet, vorschlägt, unter Umständen aufnötigt, teils gewisse<br />

Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für allemal gewiesen ist. Das<br />

Entscheidendste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht <strong>der</strong> Gegen- und Nachgefühle tut und durchsetzt - sie tut es immer,<br />

sobald sie irgendwie stark genug dazu ist -, ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt<br />

unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: indem sie nach Aufrichtung des Gesetzes<br />

Übergriffe und Willkür-Akte einzelner o<strong>der</strong> ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst<br />

behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten Schaden ab und erreicht<br />

damit auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht, allein<br />

gelten läßt -: von nun an wird das Auge für eine immer unpersönliche Abschätzung <strong>der</strong> Tat eingeübt, sogar das Auge des Geschädigten<br />

selbst... - Demgemäß gibt es erst von <strong>der</strong> Aufrichtung des Gesetzes an ‘Recht’ und ‘Unrecht’... An sich von Recht und Unrecht reden<br />

entbehrt alles Sinns; an sich kann natürlich ein Verletzen, vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts ‘Unrechtes’ sein, insofern das<br />

Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht<br />

gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muß sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: daß, vom höchsten<br />

biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als teilweise Restriktionen des eigentlichen<br />

Lebenswillens, <strong>der</strong> auf Macht aus ist, und sich dessen Gesamtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, größere Macht-<br />

Einheiten zu schaffen.” 20<br />

Am Beispiel des Strafrechts unterscheidet Nietzsche in GM II 12-15 zwischen einer genealogischen und einer teleologischen<br />

Erklärung: aus dem Zweck <strong>der</strong> Strafe kann man nicht die Ursprung <strong>der</strong> Strafe ableiten; hier möchte ich auf den III. Teil meiner Arbeit<br />

hinweisen.<br />

Endlich kommt Nietzsche zum schlechten Gewissen, zum zentralen Begriff dieser Abhandlung. Die grausamsten Strafen<br />

wendeten Instinkte des Menschen nach innen, gegen ihm selbst 21 : “Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt <strong>der</strong> Freiheit..., dieser<br />

8 GM I 7<br />

9 GM I 8<br />

10 GM I 10<br />

11 GM I 13<br />

12 GM I 16<br />

13 GM I 14<br />

14 GM I 11<br />

15 GM II 1<br />

16 GM II 2,3<br />

17 GM II 5<br />

18 GM II 9<br />

19 GM II 10<br />

20 GM II 11<br />

21 GM II 16


zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere eingekehrte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt<br />

<strong>der</strong> Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.” 22 Diese Verän<strong>der</strong>ung war we<strong>der</strong> allmählich noch friedlich<br />

und hat mit <strong>der</strong> Gründung des Staates was zu tun: “...daß <strong>der</strong> älteste ‘Staat’ demgemäß als eine furchtbare Tyrannei, als eine<br />

zerdrückende Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbtier endlich nicht nur durchgeknetet<br />

und gefügig, son<strong>der</strong>n auch geformt war.” 23<br />

Auf ähnlicher Weise erklärt Nietzsche die Ursprung <strong>der</strong> Religion. Das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis sieht Nietzsche auch im<br />

Verhältnis zu den Vorfahren: “Hier herrscht Überzeugung, daß das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen <strong>der</strong><br />

Vorfahren besteht - und daß man ihnen diese durch die Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld an,<br />

die dadurch noch beständig anwächst, daß diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte<br />

neue Vorteile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren.” 24 Die Ahnherrn wandeln sich im Fall <strong>der</strong> mächtigsten Geschlechter in<br />

Götter.<br />

Wie in <strong>der</strong> ersten Abhandlung (und auch in <strong>der</strong> dritten) schließt Nietzsche auch hier mit einem Angriff an die christliche<br />

Religion. Die privatrechtlichen Schulden wurden nämlich moralisiert und im Verhältnis zum Gott zugespitzt: “...jener Wille zur<br />

Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Tiermenschen, des zum<br />

Zweck <strong>der</strong> Zähmung in den ‘Staat’ Eingesperrten, <strong>der</strong> das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich wehzutun, nachdem <strong>der</strong><br />

natürlichere Ausweg dieses Weh-tun-wollens verstopft war - dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich religiösen Voraussetzung<br />

bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben... (...) um sich aus diesem Labyrinth<br />

von ‘fixen Ideen’ ein für allemal den Ausweg abzuschneiden, sein Wille, ein Ideal aufzurichten - das des ‘heiligen Gottes’ -, und<br />

angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreiflich gewiß zu sein. O über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch!” 25<br />

II. 4. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale<br />

Über Beispiele asketischer Künstler und Philosophen kommt Nietzsche zum tatsächlichen Objekt seiner Abhandlung, zum<br />

asketischen Priester, <strong>der</strong> da wie<strong>der</strong> ein neues Ideal fabrizierte.<br />

Das asketische Ideal stellt eine weiter Umwertung <strong>der</strong> Werte vor: “Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwi<strong>der</strong>spruch: hier<br />

herrscht ein Ressentiment son<strong>der</strong>gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, <strong>der</strong> Herr werden möchte, nicht über<br />

etwas am Leben, son<strong>der</strong>n über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen; hier wird ein Versuch gemacht,<br />

die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen <strong>der</strong> Kraft zu verstopfen; hier richtet sich <strong>der</strong> Blick grün und hämisch gegen das<br />

physiologische Gedeihen selbst, inson<strong>der</strong>heit gegen dessen Ausdruck, die Schönheit, die Freude; während am Mißraten, Verkümmern,<br />

am Schmerz, am Unfall, am Häßlichen, an <strong>der</strong> willkürlichen Einbuße, an <strong>der</strong> Entselbstung, Selbstgeißelung, Selbstopferung ein<br />

Wohlgefallen empfunden und gesucht wird.” 26 Paradoxerweise folgt dieses Leben gegen Leben aus dem Instinkt, ein krankhaftes Leben<br />

zu schützen und zu heilen. 27 Wie<strong>der</strong> stehen die Schwachen und Schlechten und ihr Ressentiment im Vor<strong>der</strong>grund: “...wann würden sie<br />

eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph <strong>der</strong> Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen gelänge, ihr eigenes<br />

Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen<br />

begännen und vielleicht untereinan<strong>der</strong> sich sagten ‘es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!’ ... Aber es könnte gar<br />

kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn <strong>der</strong>gestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen<br />

an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln”. 28<br />

“Der asketische Priester muß uns als <strong>der</strong> vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt <strong>der</strong> kranken Herde gelten” 29 und so kann<br />

man seine Tätigkeit ansehen: “‘Ich leide: daran muß irgend jemand schuld sein’ - also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt,<br />

<strong>der</strong> asketische Priester, sagt zu ihm: ‘Recht so, mein Schaf! irgendwer muß daran schuld sein: aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du<br />

selbst bist daran allein schuld - du selbst bist an dir allein schuld!’...Das ist kühn genug, falsch genug: aber eins ist damit wenigstens<br />

erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment - verän<strong>der</strong>t.” 30<br />

Nietzsche zählt die Heilmittel des asketischen Priesters sarkastisch aus: “die Gesamt-Dämpfung des Lebensgefühls, die<br />

machinale Tätigkeit, die kleine Freude, vor allem die <strong>der</strong> ‘Nächstenliebe’, die Herden-Organisation...” 31 und das schlimmste Mittel,<br />

“das asketische Ideal im Dienste einer Absicht auf Gefühls-Ausschweifung” 32 : “Daß eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in<br />

diesem Falle <strong>der</strong> asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich von selbst versteht,<br />

insgleichen durchdrungen von <strong>der</strong> Heiligkeit seines Zwecks), irgendeinem Kranken wirklich genützt habe, wer hätte wohl Lust, eine<br />

Behauptung <strong>der</strong> Art aufrechtzuhalten?... Will man damit ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen<br />

verbessert, so wi<strong>der</strong>spreche ich nicht: nur daß ich hinzufüge, was bei mir ‘verbessert’ heißt: ebenso viel wie ‘gezähmt’, ‘geschwächt’,<br />

‘entmutigt’, ‘raffiniert’, ‘verzärtlicht’, ‘entmannt’ (also beinahe so viel als geschädigt...).” 33<br />

Dem asketischen Ideal fehlt jedes Gegenstück, selbst die Wissenschaft sei nur eine Form dieses Ideals; <strong>der</strong> Zusammenhang liegt<br />

im Glauben an die Wahrheit. 34 Im Finale erklärt Nietzsche eine große Macht des asketischen Ideals: “Sieht man vom asketischen Ideale<br />

ab: so hatte <strong>der</strong> Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; ‘wozu Mensch überhaupt?’ -<br />

war eine Frage ohne Antwort; <strong>der</strong> Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein<br />

noch größeres ‘Umsonst!’ Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand<br />

- er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. (...) ...und das asketische Ideal<br />

bot (ihm) einen Sinn! (...) Die Auslegung - es ist kein Zweifel - brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerliches, giftigeres, am Leben<br />

nagen<strong>der</strong>es: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive <strong>der</strong> Schuld... Aber trotz alledem - <strong>der</strong> Mensch war damit gerettet, er hatte<br />

einen Sinn, er war für<strong>der</strong>hin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des ‘Ohne-Sinns’, er konnte nunmehr etwas<br />

22 GM II 17<br />

23 GM II 17<br />

24 GM II 19<br />

25 GM II 22<br />

26 GM III 11<br />

27 GM III 13<br />

28 GM III 14<br />

29 GM III 15<br />

30 GM III 15<br />

31 GM III 19<br />

32 GM III 20<br />

33 GM III 21<br />

34 GM III 24


wollen - gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: <strong>der</strong> Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht<br />

verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Haß<br />

gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor <strong>der</strong><br />

Vernunft selbst, die Furcht vor dem Glück und <strong>der</strong> Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod,<br />

Wunsch, Verlangen selbst - das alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Wi<strong>der</strong>willen gegen das<br />

Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichen Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille!.. Und, um es noch<br />

zum Schluß zu sagen, was ich anfangs sagte: lieber will noch <strong>der</strong> Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen...” 35<br />

Nietzsche betonte hier seine wichtigen Begriffe des Willens und des Nihilismus. Nietzsche selbst verweist am Ende <strong>der</strong><br />

<strong>Genealogie</strong> auf sein künftiges Werk Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, wo er über Geschichte des<br />

europäischen Nihilismus schreiben wollte 36 ; die <strong>Genealogie</strong> gilt tatsächlich, unter an<strong>der</strong>em, als eine Einführung zu den spätesten<br />

Schriften Nietzsches.<br />

III. Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong> für die Rechtsphilosophie<br />

Wie gesagt, die Rechtsphilosophen widmen ihre Aufmerksamkeit vor allem <strong>der</strong> zweiten Abhandlung <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong>. Ich werde<br />

insbeson<strong>der</strong>e von einem monographischen Versuch zum Thema Nietzsche und Recht, dem Buch Autorität und Recht im Denken<br />

Nietzsches von Henry Kerger, ausgehen: zuerst mit allgemein rechtlichen Gedanken, dann spezieller mit dem Strafrecht. Am Ende füge<br />

ich einige ergänzende und abschließende Wörter hinzu.<br />

III. 1. Die <strong>Genealogie</strong> zum Recht allgemein<br />

Für Henry Kerger stellt die <strong>Genealogie</strong> eine wichtige Quelle für Nietzsches Rechtsdenken vor. Ausgehend von <strong>der</strong><br />

systematischen Darstellung Kergers, können wir jetzt einige ausgewählte Rechtsprobleme <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong> bestimmen und besprechen.<br />

1. Entstehung des Rechts durch Vertrag. Kerger betont den Zusammenhang einiger Stellen <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong> mit zwei Büchern<br />

von R. Jhering, dem Geist des römischen Rechts und dem Zweck im Recht. 37 Nietzsche selbst verweist bei dem Gläubiger-Schuldner-<br />

Verhältnis auf das römische Obligationen-Recht. 38 Dieses Verhältnis ist das älteste Rechtsverhältnis überhaupt, ein Staat kommt viel<br />

später. Aus diesem Verhältnis folgt <strong>der</strong> Begriff Schuld: Das Gefühl <strong>der</strong> Schuld, <strong>der</strong> persönlichen Verpflichtung, um den Gang unsrer<br />

Untersuchung wie<strong>der</strong> aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältnis,<br />

das es gibt, gehabt, in dem Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner: hier trat zuerst Person gegen Person,<br />

hier maß sich zuerst Person an Person.” 39 Nietzsche verbindet solches Verhältnis mit <strong>der</strong> Abmessung <strong>der</strong> Werte, mit <strong>der</strong><br />

Abschätzungsfähigkeit des ältesten Menschen. “Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist <strong>der</strong> gute Wille unter ungefähr<br />

Gleichmächtigen, sich miteinan<strong>der</strong> abzufinden, sich durch einen Ausgleich wie<strong>der</strong> zu ‘verständigen’ - und, in bezug auf weniger<br />

Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu zwingen.” 40 Angesichts solcher Stellen spricht Stingelin über Ethnologie des Rechts<br />

bei Nietzsche.<br />

2. Herren-Rechte des Gläubigers. Nietzsche behauptet, inspiriert wie<strong>der</strong> vom ältesten römischen Recht (wir können uns z. B.<br />

auf die noxae datio erinnern), eine Machtfülle des Gläubigers gegenüber dem Schuldner 41 : “Der Schuldner, um Vertrauen für sein<br />

Versprechen <strong>der</strong> <strong>Zur</strong>ückbezahlung einzuflößen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um<br />

bei sich selbst die <strong>Zur</strong>ückbezahlung als Pflicht, Verpflichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet kraft eines Vertrags dem<br />

Gläubiger für den Fall, daß er nicht zahlt, etwas, das er sonst noch ‘besitzt’, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen<br />

Leib o<strong>der</strong> sein Weib o<strong>der</strong> seine Freiheit o<strong>der</strong> auch sein Leben...” 42 Hier wird auch <strong>der</strong> Kampf des Versprechens, des Gedächtnisses, des<br />

Gewissens gegen die Vergeßlichkeit angesprochen; den Zusammenhang zwischen Gedächtnis und Recht wählte sich H. Thüring zum<br />

Thema. Und wir kennen bereits den Weg zum Gedächtnis und Gewissen, das ist die Grausamkeit.<br />

3. “Inwiefern kann Leiden eine Ausgleichung von ‘Schulden’ sein?” 43 “Wie kann Leiden-machen eine Genugtuung sein?” 44<br />

Mit Hilfe <strong>der</strong> anthropologischen und psychologischen Behauptungen musste Nietzsche dieses wichtige Glied seiner Gedankenkette<br />

verstärken. Für uns werden die rechtlichen Vorstellungen interessanter sein: Nietzsche spricht über Äquivalenz im Wohlgefühl, über ein<br />

Herren-Recht, “<strong>der</strong> Ausgleich besteht... in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit” 45 . Die Grausamkeit macht Freude dem<br />

Menschen und beim Nietzsche findet sie ihre Anerkennung als Rechtsobjekt: auch mit dieser Freude kann man “zahlen”.<br />

4. Das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis zwischen dem Staat und dem Einzelnen. Das Thema haben wir bereits im II. Teil<br />

angesprochen. Der Einzelne genießt die Güter des Gemeinwesens, etwa den Schutz und Frieden, und ist dem Gemeinwesen verpflichtet.<br />

Ein Verbrechen gilt dann als Bruch dieser Pflicht, <strong>der</strong> Verbrecher ist als Feind aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen und befindet sich<br />

in einem Kriegszustand mit dem Gemeinwesen. Solche Vorstellung hat mit Vertragstheorien viel gemeinsam: gegenseitige Rechte und<br />

Pflichte, Ausschluss des Verbrechers (Nietzsche selbst schreibt: “...ist <strong>der</strong> Verbrecher vor allem ein ‘Brecher’, ein Vertrags- und<br />

Wortbrüchiger gegen das Ganze” 46 ); jedoch <strong>der</strong> Gesellschaftsvertrag fehlt. Das Gemeinwesen basiert in diesem Fall nicht auf einem<br />

Vertrag, son<strong>der</strong>n entstand durch Macht <strong>der</strong> Aristokratie. Und Folgen? Keine natürliche Menschenrechte, son<strong>der</strong>n Recht des Stärkeren.<br />

Die Überlegung über den Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> Härte <strong>der</strong> Strafe und <strong>der</strong> Macht des Gemeinwesens weist darauf hin.<br />

5. Entstehung des Staates durch Macht. Man kann wirklich nicht über einen Vertrag sprechen: Der älteste Staat auftrat und<br />

35 GM III 28<br />

36 GM III 27<br />

37 Kerger, S. 11ff.<br />

38 GM II 6<br />

39 GM II 8<br />

40 GM II 8<br />

41 Kerger, S. 18<br />

42 GM II 5<br />

43 GM II 6<br />

44 GM II 6<br />

45 GM II 5<br />

46 GM II 9


fortarbeitete als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie. 47 Nietzsche fügt hinzu, welche Macht<br />

den Staat gegründet hat: “Ich gebrauchte das Wort ‘Staat’: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist - irgendein Rudel blon<strong>der</strong><br />

Raubtiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisiert und mit <strong>der</strong> Kraft, zu organisieren, unbedenklich ihre<br />

furchtbare Tatzen auf eine <strong>der</strong> Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung<br />

legt.” 48 Und auf <strong>der</strong>selben Stelle grenzt Nietzsche seine Vorstellung streng von je<strong>der</strong> Vertragstheorie ab: “Dergestalt beginnt ja <strong>der</strong><br />

‘Staat’ auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgetan, welche ihn mit einem ‘Vertrage’ beginnen ließ. Wer befehlen kann, wer<br />

von Natur ‘Herr’ ist, wer gewalttätig in Werk und Gebärde auftritt - was hat <strong>der</strong> mit Verträgen zu schaffen!”<br />

Die Aristokratie gründete mit dem Staat auch eine Gesetzesordnung, wie uns die Entstehungsgeschichte des Rechts in GM II 11<br />

zeigt. “...in welcher Sphäre ist denn bisher die ganze Handhabung des Rechts, auch das eigentliche Bedürfnis nach Recht auf Erden<br />

heimisch gewesen? ...vielmehr in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Aktiven, Starken, Spontanen, Agressiven.” 49 <strong>Zur</strong> Beendigung <strong>der</strong> Rachen und zur Erlangung<br />

des Friedens wurden die Gesetze aufgerichtet und erst dann gibt es “Recht” und “Unrecht”. Wir werden das Zitat nicht wie<strong>der</strong>holen, wir<br />

müssen nur die Hauptgedanke betonen: Macht bestimmt das Recht; nur aus den Machtsverhältnissen kann man das Recht erklären<br />

(mehr dazu im Punkt 8). Nietzsche selbst bestätigt diese These: “Eine Rechtsordnung souverän und allgemein gedacht, nicht als Mittel<br />

im Kampf von Macht-Komplexen, son<strong>der</strong>n als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, etwa gemäß <strong>der</strong> Kommunisten-Schablone<br />

Dührings, daß je<strong>der</strong> Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Prinzip...” 50<br />

6. Rechtszustände als Ausnahmezustände. Am Rande des erwähnten Abschnittes GM II 11 steht ein interessanter Satz: “Man<br />

muß sich sogar etwas Bedenkliches eingestehn: daß, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur<br />

Ausnahme-Zustände sein dürfen, als teilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, <strong>der</strong> auf Macht aus ist, und sich dessen<br />

Gesamtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, größere Macht-Einheiten zu schaffen.” Der Ausnahmezustand erinnert<br />

natürlich an den Begriff des Souveräns von Carl Schmitt: Der Souverän ist, wer im Ausnahmezustand entscheidet. Wie sind jedoch die<br />

Nietzsches Ausnahmezustände auszulegen? Man könnte versuchen, dahinter den Freiheitsgrundsatz zu sehen: Je<strong>der</strong> darf tun, was das<br />

Recht nicht verbietet. Es gibt eine primäre Sphäre <strong>der</strong> Freiheit, die das Recht erst sekundär beschränkt, bildend so die<br />

“Ausnahmezustände”. Es ist aber sichtbar, dass solche Freiheit bei Nietzsche nur für diejenigen gilt, die eine entsprechende Macht<br />

halten. Für die Unterworfenen bestimmt das Gesetz, “die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt... als erlaubt, als recht, als<br />

verboten, als unrecht zu gelten habe”. Der Begriff des Ausnahmezustandes bekräftigt also den Vorrang <strong>der</strong> Macht vor dem Recht, das<br />

Recht ist von <strong>der</strong> Macht ableitet. Wir können auch die Einleitung “vom höchsten biologischen Standpunkte aus” bemerken, diesen<br />

Standpunkt erklärt uns <strong>der</strong> Begriff Wille zur Macht, die mit folgenden Wörtern charakterisiert ist: “das Wesen des Lebens, sein Wille<br />

zur Macht, <strong>der</strong> prinzipielle Vorrang, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und<br />

gestaltenden Kräfte haben, auf <strong>der</strong>en Wirkung erst die ‘Anpassung’ folgt...” 51<br />

Kergers Auslegung spitzte das Macht-Recht-Verhältnis noch zu: Rechtszustände seien nur Übergangslösungen zur größeren<br />

Macht und das Recht ist fest mit <strong>der</strong> obersten Gewalt <strong>der</strong> übergeordneten Macht verbunden. 52<br />

7. Rache und Gerechtigkeit. Immer noch im Abschnitt GM II 11, in <strong>der</strong> Polemik mit Dühring, erörtert Nietzsche seine<br />

Auffassung <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Nietzsche lehnt die Behauptung Dührings ab, Gerechtigkeit stamme aus <strong>der</strong> Rache. Gerechtigkeit ist nach<br />

Nietzsche kein reaktiver Affekt: “Wenn es wirklich vorkommt, daß <strong>der</strong> gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt<br />

(und nicht nur kalt, maßvoll, fremd, gleichgültig: Gerecht-sein ist immer ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz<br />

persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des<br />

richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden... Der aktive, <strong>der</strong> angreifende,<br />

übergreifende Mensch ist immer noch <strong>der</strong> Gerechtigkeit hun<strong>der</strong>t Schritte näher gestellt als <strong>der</strong> reaktive; es ist eben für ihn durchaus<br />

nicht nötig, in <strong>der</strong> Art, wie es <strong>der</strong> reaktive Mensch tut, tun muß, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Tatsächlich hat<br />

deshalb zu allen Zeiten <strong>der</strong> aggressive Mensch, als <strong>der</strong> Stärkere, Mutigere, Vornehmere, auch das freiere Auge, das bessere Gewissen<br />

auf seiner Seite gehabt...” 53 Man sieht den Zusammenhang mit <strong>der</strong> Fähigkeit des Menschen, zu messen, zu berechnen, abzuschätzen,<br />

die im Gläubiger-Schuldner-Verhältnis entstand 54 : “Gerechtigkeit... ist <strong>der</strong> gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich<br />

miteinan<strong>der</strong> abzufinden, sich durch einen Ausgleich wie<strong>der</strong> zu ‘verständigen’ - und, in bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu<br />

einem Ausgleich zu zwingen.” 55 Konsequenterweise fährt Nietzsche im Falle des unbestraften Verbrechers fort: “Die Gerechtigkeit,<br />

welche damit anhob ‘alles ist abzahlbar, alles muß abgezahlt werden’, endet damit, durch die Finger zu sehn und den<br />

Zahlungsunfähigen laufen zu lassen - sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, sich selbst aufhebend. Diese Selbstaufhebung <strong>der</strong><br />

Gerechtigkeit: man weiß, mit welch schönem Namen sie sich nennt - Gnade; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des<br />

Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts.” 56 Mehrere Themen sind in diesem Zitat angesprochen: die Abschätzungsfähigkeit<br />

des Menschen, die Gerechtigkeit als Ausgleich (Kerger ist <strong>der</strong> Meinung, dass Nietzsche die Gerechtigkeit zuerst mit Gleichgewicht,<br />

später mit Vergeltung verbindet 57 ) und Vorrang <strong>der</strong> Macht vor dem Recht.<br />

8. Noch einmal zur Bedingtheit des Rechts durch Macht. “Mit erstarken<strong>der</strong> Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen<br />

des einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maße wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich<br />

und umstürzend gelten dürfen: <strong>der</strong> Übeltäter wird nicht mehr ‘friedlos gelegt’ und ausgestoßen, <strong>der</strong> allgemeine Zorn darf sich nicht<br />

mehr wie früher <strong>der</strong>maßen zügellos an ihm auslassen - vielmehr wird von nun an <strong>der</strong> Übeltäter gegen diesen Zorn, son<strong>der</strong>lich den <strong>der</strong><br />

unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von seiten des Ganzen verteidigt und in Schutz genommen. (...) Wächst die Macht und das<br />

Selbstbewußtsein eines Gemeinwesens, so mil<strong>der</strong>t sich immer auch das Strafrecht; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem<br />

bringt dessen härtere Formen wie<strong>der</strong> ans Licht. Der ‘Gläubiger’ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher<br />

47 GM II 17<br />

48 GM II 17<br />

49 GM II 11<br />

50 GM II 11<br />

51 GM II 12<br />

52 Kerger, S. 33<br />

53 GM II 11<br />

54 siehe GM II 8<br />

55 GM II 8<br />

56 GM II 10<br />

57 Kerger, S. 42


geworden ist; zuletzt ist es selbst das Maß seines Reichtums, wieviel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es<br />

wäre ein Machtbewußtsein <strong>der</strong> Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten gönnen dürfte, den es für sie gibt -<br />

ihren Schädiger straflos zu lassen. ‘Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an?’ dürfte sie dann sprechen. ‘Mögen sie leben und<br />

gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!’” 58 Das Recht scheint ein bloßes Werkzeug <strong>der</strong> Macht zu sein. Das Recht ist abhängig von<br />

den Machverhältnissen, Kerger spricht über eine “Bedingtheit des Rechts durch die gesellschaftliche Macht” 59 . Nietzsches Erklärung<br />

aller politischen, sozialen, kulturellen und psychologischen Phänomene mit dem Wille zur Macht umfasst auch das Recht; ähnlich wie<br />

Marx kommt auch Nietzsche mit einer außerrechtlichen Erklärung des Rechts.<br />

III. 2. Die <strong>Genealogie</strong> zum Strafrecht<br />

Nietzsche benutzte in <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong> viele strafrechtliche Beispiele und Überlegungen. Vier Themen können wir, wie<strong>der</strong> mit<br />

Hilfe Kergers 60 , näher erörtern.<br />

1. Schuld. Nach Nietzsche hängt die Strafe mit den schädlichen Folgen und nicht mit <strong>der</strong> Schuld im strafrechtlichen Sinne:<br />

“...daß die Strafe als eine Vergeltung sich vollkommen abseits von je<strong>der</strong> Voraussetzung über Freiheit o<strong>der</strong> Unfreiheit des Willens<br />

entwickelt hat? - und dies bis zu dem Grade, daß es vielmehr immer erst einer hohen Stufe <strong>der</strong> Vermenschlichung bedarf, damit das<br />

Tier ‘Mensch’ anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen ‘absichtlich’, ‘fahrlässig’, ‘zufällig’, ‘zurechnungsfähig’ und <strong>der</strong>en<br />

Gegensätze zu machen und bei <strong>der</strong> Zumessung <strong>der</strong> Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und scheinbar so natürliche,<br />

so unvermeidliche Gedanke, <strong>der</strong> wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zustande gekommen ist,<br />

hat herhalten müssen, ‘<strong>der</strong> Verbrecher verdient Strafe, weil er hätte an<strong>der</strong>s handeln können’, ist tatsächlich eine überaus spät<br />

erreichte, ja raffinierte Form des menschlichen Urteilens und Schließens; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben<br />

Fingern an <strong>der</strong> Psychologie <strong>der</strong> älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit <strong>der</strong> menschlichen Geschichte hindurch durchaus nicht<br />

gestraft worden, weil man den Übelanstifter für seine Tat vernatwortlich machte, also nicht unter <strong>der</strong> Voraussetzung, daß nur <strong>der</strong><br />

Schuldige zu strafen sei - vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kin<strong>der</strong> strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, <strong>der</strong> sich am<br />

Schädiger ausläßt - dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifiziert durch die Idee, daß je<strong>der</strong> Schaden irgendworin sein<br />

Äquivalent habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen Schmerz des Schädigers.” 61 <strong>Zur</strong> strafrechtlichen<br />

Debatte über Willensfreiheit und Vorwerfbarkeit trägt Nietzsche also nicht bei; eher verweist er wie<strong>der</strong> an die Machtursprung des<br />

Rechts und an die Vergeltung. Die mo<strong>der</strong>nen Theorien des Strafrechts scheint ein Ausdruck <strong>der</strong> Macht des heutigen Staates zu sein; <strong>der</strong><br />

Staat darf seinen Schädiger ohne Strafe laufen lassen...<br />

2. Zweck und Entstehung. Teleologie versus <strong>Genealogie</strong>. Der Abschnitt GM II 12 ist das Methodenkapitel <strong>der</strong> <strong>Genealogie</strong>;<br />

das Strafrecht dient als Beispiel. “Der ‘Zweck im Recht’ ist aber zuallerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden:<br />

vielmehr gibt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, <strong>der</strong> mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich<br />

errungen sein sollte - daß nämlich die Ursache <strong>der</strong> Entstehung eines Dings und dessen schließliche Nützlichkeit, dessen tatsächliche<br />

Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinan<strong>der</strong> liegen; daß etwas Vorhandenes, irgendwie Zustande-<br />

Gekommenes immer wie<strong>der</strong> von einer ihm überlegnen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen<br />

Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; daß alles Geschehen in <strong>der</strong> organischen Welt ein Überwältigen, Herr-werden und daß<br />

wie<strong>der</strong>um alles Überwältigen und Herr-werden ein Neu-Interpretieren, ein <strong>Zur</strong>echtmachen ist, bei dem <strong>der</strong> bisherige ‘Sinn’ und<br />

‘Zweck’ notwendig verdunkelt o<strong>der</strong> ganz ausgelöscht werden muß.” 62 Das gilt ebenso im Strafrecht: “So hat man sich auch die Strafe<br />

vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, daß ein Wille zur Macht über<br />

etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte<br />

eines ‘Dings’, eines Organs, eines Brauchs kann <strong>der</strong>gestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und<br />

<strong>Zur</strong>echtmachungen sein, <strong>der</strong>en Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich<br />

bloß zufällig hintereinan<strong>der</strong> folgen und ablösen. (...) Die Form ist flüssig, <strong>der</strong> ‘Sinn’ ist aber noch mehr...” 63 Solche Gedanken werden<br />

im konkreten Fall des Zwecks <strong>der</strong> Strafe angewandt.<br />

3. Zweck <strong>der</strong> Strafe. Nietzsche unterscheidet das Dauerhafte an <strong>der</strong> Strafe, “den Brauch, den Akt, das ‘Drama’, eine gewisse<br />

strenge Abfolge von Prozeduren” 64 , und das Flüssige, also gerade den Sinn und Zweck, die Erwartung. Nietzsche demonstriert eine<br />

bunte Palette von “Sinnen” und folgt sie mit Skepsis: “Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird...” 65<br />

Trotzdem ist die Palette von Sinnen nicht uninteressant: “Strafe als Unschädlichmachen, als Verhin<strong>der</strong>ung weiteren Schädigens. Strafe<br />

als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgendeiner Form (auch in <strong>der</strong> einer Affekt-Kompensation. Strafe als Isolierung<br />

einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen <strong>der</strong> Störung zu verhüten. Strafe als Furcht-einflößen vor denen, welche die Strafen<br />

bestimmen und exekutieren. Strafe als eine Art Ausgleich für Vorteile, welche <strong>der</strong> Verbrecher bis dahin genossen hat... Strafe als<br />

Ausscheidung eines entartenden Elements... Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich<br />

nie<strong>der</strong>geworfnen Feindes. Strafe als Gedächtnis-machen, sei es für den, <strong>der</strong> die Strafe erleidet - die sogenannte ‘Besserung’, sei es für<br />

die Zeugen <strong>der</strong> Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen seitens <strong>der</strong> Macht, welche den Übeltäter vor den<br />

Ausschweifungen <strong>der</strong> Rache schützt. Strafe als Kompromiß mit dem Naturzustand <strong>der</strong> Rache, sofern letzterer durch mächtige<br />

Geschlechter noch aufrechterhalten und als Privilegium in Anspruch genommen wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaßregel<br />

gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, <strong>der</strong> Ordnung, <strong>der</strong> Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als<br />

vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen, als einen Empörer, Verräter und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie<br />

sie eben <strong>der</strong> Krieg an die Hand gibt.” 66 Nach Gschwend sind hier viele mo<strong>der</strong>ne Strafzwecke erwähnt: Sicherung und Elimination,<br />

Generalprävention, Spezialprävention, Besserung, Vergeltung. 67 Es scheint sich aber klar, welchen Zweck Nietzsche selbst bevorzugt:<br />

58 GM II 10<br />

59 Kerger, S. 83<br />

60 Kerger, S. 170ff.<br />

61 GM II 4<br />

62 GM II 12<br />

63 GM II 12<br />

64 GM II 13<br />

65 GM II 13<br />

66 GM II 13<br />

67 Gschwend, in: Nietzsche und das Recht, S. 133-135


es ist <strong>der</strong> letzte Zweck, die Kriegserklärung, <strong>der</strong> am besten in sein System passt.<br />

Nietzsche lehnt die Besserung als tauglicher Zweck <strong>der</strong> Strafe mit starken Argumenten ab: “Der echte Gewissenbiß ist gerade<br />

unter Verbrechern und Sträflingen etwas äußerst Seltnes, die Gefängnisse, die Züchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese<br />

Spezies von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht... Ins große gerechnet; härtet und kältet die Strafe ab; sie konzentriert; sie verschärft das<br />

Gefühl <strong>der</strong> Entfremdung; sie stärkt die Wi<strong>der</strong>standskraft. (...) Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern <strong>der</strong> Verbrecher gerade durch<br />

den Anblick <strong>der</strong> gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhin<strong>der</strong>t wird, seine Tat, die Art seiner Handlung an sich als<br />

verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst <strong>der</strong> Gerechtigkeit verübt und dann<br />

gutgeheißen, mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und<br />

durchtriebene Polizisten- und Anklägerkunst...” 68 Und weiter: “Nicht an<strong>der</strong>s als Spinoza haben die von <strong>der</strong> Strafe ereilten Übel-<br />

Anstifter jahrtausendelang in betreff ihres ‘Vergehens’ empfunden: ‘hier ist etwas unvermutet schiefgegangen’, nicht ‘das hätte ich<br />

nicht tun sollen’... (...) ...ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung <strong>der</strong> Strafe vor allem in einer Verschärfung <strong>der</strong> Klugheit<br />

suchen, in <strong>der</strong> Verlängerung des Gedächtnisses, in einem Willen, für<strong>der</strong>hin vorsichtiger, mißtrauischer, heimlicher zu Werke zu<br />

gehn...” 69<br />

4. Verbrechen und Gesellschaft. Im Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Verbrecher und <strong>der</strong> Gesellschaft können wir nur<br />

die zwei wichtigsten Thesen wie<strong>der</strong>holen. Das Verbrechen sei nach Nietzsche ein Verhalten eines verwegenen Schuldners, <strong>der</strong> seine<br />

Pflicht gegen das Ganze verletzte. Die Gesellschaft habe freie Hand, ihn zu bestrafen; die Härte <strong>der</strong> Strafe ist von <strong>der</strong> Macht des<br />

Gemeinwesens abhängig: ein mächtiges Gemeinwesen kann sich leisten, den Schädigen sogar ohne Strafe lassen. Im Strafrecht spiegelt<br />

sich <strong>der</strong> Machtscharakter des Rechts also sehr deutlich.<br />

III. 3. Schlusswort<br />

Die <strong>Genealogie</strong> bietet viele Gedanken zu den rechtsphilosophischen Überlegungen an, und zwar 1. als ein Gesamtwerk, als<br />

eine Auffassung <strong>der</strong> <strong>Moral</strong> und <strong>der</strong> Gesellschaft, die fast einen Gegenteil unserer humanistischen und menschenrechtlichen<br />

Vorstellungen bildet, und 2. als eine Sammlung <strong>der</strong> Aphorismen, <strong>der</strong> kürzen, wirksamen, scharfen Stellungnahmen zu vielen Fragen.<br />

Als Beispiel für die zweite Möglichkeit werde ich noch einmal eine Stelle zitieren: “...wann würden sie (d. h. die Schwachen<br />

und Schlechten) eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph <strong>der</strong> Rache kommen? Dann unzweifelhaft, wenn es ihnen<br />

gelänge, ihr eigenes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen ins Gewissen zu schieben: so daß diese sich eines Tags ihres Glücks<br />

zu schämen begännen und vielleicht untereinan<strong>der</strong> sich sagten ‘es ist eine Schande, glücklich zu sein! es gibt zu viel Elend!’ ...Aber es<br />

könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn <strong>der</strong>gestalt die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die<br />

Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem Recht auf Glück zu zweifeln”. 70 Auf solcher Weise kritisiert Nietzsche das<br />

Sozialstaatsprinzip, die Solidaritätsgedanke.<br />

Die einzelnen Stellen sowie das ganze Werk Nietzsches zwingen uns jede Idee, jedes Institut unserer Rechts- und<br />

<strong>Moral</strong>auffassung noch einmal nachzudenken. Die Vorstellung Nietzsches als eines Gegenteils unserer <strong>Moral</strong>welt thematisiert und seinen<br />

Wert für uns thematisiert Jaspers: “Wir können durch ihn unsere eigene Redlichkeit för<strong>der</strong>n, wenn wir lernen, das An<strong>der</strong>e,<br />

Vernunftwidrige in uns selbst zu bemerken als das, was ständig auf dem Sprung ist, uns zu erobern.” 71<br />

Das ist zwar eine zu einseitige Ansicht, Vieles wurde von Nietzsche übernommen, seine Auffassung steht nicht mehr im totalen<br />

Wi<strong>der</strong>spruch zu unserer Gedankenwelt. Man kann z. B. die Machtinterpretation des Rechts erwähnen. Trotzdem sehe ich gerade dort die<br />

größte Bedeutung Nietzsches für die Rechtsphilosophie, wo er uns als eine Art advocatus diaboli zu unseren herrschenden Lehren<br />

dienen könnte. Dazu trägt <strong>der</strong> Vorteil bei, dass Nietzsche die Konkurrenzposition mit unvergleichbarer Prägnanz erfasst hat.<br />

München, 11. Juni 2003<br />

68 GM II 14<br />

69 GM II 15<br />

70 GM III 14<br />

71 Jaspers, S. 400

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