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Ein tierisches Vergnügen - Fabeln in verschiedenen Ländern und ...

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Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>tierisches</strong> <strong>Vergnügen</strong><br />

<strong>Fabeln</strong> <strong>in</strong> <strong>verschiedenen</strong> <strong>Ländern</strong> <strong>und</strong> Zeiten<br />

Tiersymbolik: Physiologus<br />

¨ Affe<br />

¨ Adler<br />

¨ Elefant<br />

¨ Schlange<br />

¨ Keuschheit<br />

¨ Laster<br />

¨ Liebe Gottes<br />

¨ Sünde<br />

Tiersymbolik: Bestiario des Leonardo da V<strong>in</strong>ci<br />

¨ Ameise<br />

¨ Schwalbe<br />

¨ Pfau<br />

¨ Hase<br />

¨ Krokodilstränen<br />

¨ Unbeständigkeit<br />

¨ Heuchelei<br />

¨ Ruhmsucht<br />

¨ Feigheit<br />

¨ Vorsicht<br />

Mehrsprachige Redensarten:<br />

Span.: Al más ru<strong>in</strong> ________________, la mejor bellota. - Das mieseste ? f<strong>in</strong>det die<br />

beste Eichel.<br />

Ital.: Meglio un anno come un leone, da cento anni come una ______________ . -<br />

Lieber e<strong>in</strong> Jahr wie e<strong>in</strong> Löwe, als h<strong>und</strong>ert Jahre wie e<strong>in</strong> ?.<br />

Ital./Span.: Aunque la ___________________ se vista de seda, ________________ se<br />

queda. = La _________________ è sempre __________________ , anche vestita di<br />

seta. - ? bleibt immer ? , auch <strong>in</strong> Seide gekleidet.<br />

Franz.: Avoir faim comme ___________________ – e<strong>in</strong>en ?-hunger haben.<br />

Franz.: ___________________ qui aboie ne mord pas. – ?, der bellt, beisst nicht.<br />

Franz.: Une ____________________ ne fait pas le pr<strong>in</strong>temps. - ? macht noch ke<strong>in</strong>en<br />

Frühl<strong>in</strong>g.<br />

Span.: No es tan fiero el _______________ como lo p<strong>in</strong>tan. - ? ist nicht so wild, wie<br />

man ihn malt.<br />

Ital.: Due __________________ non tengono compagnia. – Zwei ? können nicht<br />

zusammen leben.<br />

Ital.: A lavare la testa dell‘ ________________ si spreca tempo e sapone. – Wenn<br />

man ? den Kopf wäscht, vergeudet man Zeit <strong>und</strong> Seife.<br />

Franz.: On n’attrape pas les __________________ avec du v<strong>in</strong>aigre. Man fängt ?<br />

nicht mit Essig.<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

1


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

canis / chien / cane / perro<br />

aquila / aigle / aquila / águila<br />

pecus / agneau / pecora / oveja<br />

as<strong>in</strong>us / âne / as<strong>in</strong>o (ital) / asno<br />

columba / pigeon (colombe) / colomba / paloma<br />

lupus / loup / lupo / lobo<br />

simia / s<strong>in</strong>ge / scimmia / mona<br />

leo / lion / leone / león<br />

porcus / porc / porco / puerco<br />

musca / mouche / mosca / mosca<br />

hir<strong>und</strong>o / hirondelle / rond<strong>in</strong>e / golondr<strong>in</strong>a<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>e Tr<strong>in</strong>l<strong>in</strong>gue:<br />

"Sich wie die ? im Speck fühlen<br />

=<br />

Estar como ? en flor<br />

=<br />

Vivre comme un ? en pâte<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

2


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

Die nackte Wahrheit ertragen wir nur schwer ...<br />

Magnus Gottfried Lichtwer 1719-1783<br />

Die beraubte Fabel<br />

Es zog die Gött<strong>in</strong> aller Dichter,<br />

Die Fabel, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> fremdes Land,<br />

Wo e<strong>in</strong>e Rotte Bösewichter<br />

Sie e<strong>in</strong>sam auf der Straße fand.<br />

Ihr Beutel, den sie liefern müssen,<br />

Befand sich leer; sie soll die Schuld<br />

Mit dem Verlust der Kleider büßen,<br />

Die Gött<strong>in</strong> litt es mit Geduld.<br />

Hier wies sich e<strong>in</strong>e Fürstenbeute<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> Kleid umschloß das andre Kleid;<br />

Man fand verschiedner<br />

Tiere Häute, Bald die, bald jene Kostbarkeit.<br />

Hilf Himmel, Kleider <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e Ende!<br />

Ihr Götter schrien sie, habet Dank<br />

Ihr gebt e<strong>in</strong> Weib <strong>in</strong> unsre Hände,<br />

Die mehr trägt als e<strong>in</strong> Kleiderschrank.<br />

Sie fuhren fort, noch mancher Pl<strong>und</strong>er<br />

Ward preis; doch eh´man sich´s versah,<br />

Da sie noch schrien, so st<strong>und</strong>, o W<strong>und</strong>er!<br />

Die helle Wahrheit nackend da.<br />

Die Räuberschar sah vor sich nieder<br />

Und sprach: Geschehen ist geschehn,<br />

Man gibt ihr ihre Kleider wieder,<br />

Wer kann die Wahrheit nackend sehn?<br />

Botticelli Die Verleumdung des Apelles (1494-1495, Uffizien, Florenz). Die nackte Wahrheit ganz l<strong>in</strong>ks.<br />

http://de.wikipedia.org<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

3


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

Alciatus 1492 - 1550: Emblematum Libellus<br />

Cocncordia<br />

Cornicum mira <strong>in</strong>ter se<br />

concordia vitae est, Mutua statque illis<br />

<strong>in</strong>temerata fides.<br />

H<strong>in</strong>c volucres haec<br />

sceptra gerunt, quod<br />

scilicet omnes consensu<br />

populi stantque caduntque duces:<br />

Quem si de medio tollas, discordia<br />

praeceps advolat, et secum regia fata<br />

trahit<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>tracht<br />

Die <strong>E<strong>in</strong></strong>tracht der Krähen unter sich<br />

ist w<strong>und</strong>erbar, Ihre gegenseitige Treue<br />

bleibt unverrückt bestehen.<br />

Daher tragen diese Vögel<br />

das Szepter, weil alle Könige<br />

durch die Zustimmung des<br />

Volkes walten <strong>und</strong> stürzen.<br />

Wenn du sie entfernst, stürzt<br />

sofort Zwietracht herbei <strong>und</strong> reisst das<br />

Schicksal der Könige mit sich.<br />

<strong>Fabeln</strong>: Aufbau – Phaedrus 20/15 v.C. – 50/60 n.C.<br />

I.5 vacca et capella, ovis et leo<br />

Numquam est fidelis cum potente<br />

societas.<br />

Testatur haec fabella propositum meum.<br />

Vacca et capella et patiens ovis <strong>in</strong>iuriae<br />

socii fuere cum leone <strong>in</strong> saltibus.<br />

Hi cum cepissent cervum vasti corporis,<br />

sic est locutus<br />

partibus factis leo:<br />

Aufrichtig ist e<strong>in</strong> Bündnis mit dem Mächtgern<br />

nie.<br />

Für me<strong>in</strong>en Satz ist diese Fabel e<strong>in</strong> Beweis:<br />

Kuh, Zieg' <strong>und</strong> e<strong>in</strong> geduldges Schaf gesellten<br />

sich zum Löwen, Jagd zu treiben <strong>in</strong> dem<br />

Waldrevier. Da sie zusammen e<strong>in</strong>en mächtgen<br />

Hirsch erlegt<br />

<strong>und</strong> ihn geteilt,<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

4


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

'Ego primam tollo nom<strong>in</strong>e hoc quia rex<br />

cluo;<br />

sec<strong>und</strong>am, quia sum consors, tribuetis<br />

mihi;<br />

tum, quia plus valeo, me sequetur tertia;<br />

malo adficietur si quis quartam tetigerit'.<br />

Sic totam praedam sola improbitas<br />

abstulit.<br />

f<strong>in</strong>g also an der Leu <strong>und</strong> sprach:<br />

Ich nehme, weil ich Löwe b<strong>in</strong>, den ersten Teil;<br />

den zweiten müsst ihr lassen mir als me<strong>in</strong>en<br />

Teil; der dritte soll mir werden wegen me<strong>in</strong>er<br />

Kraft. Doch wer den vierten an anrührt dem<br />

soll's übel gehn!<br />

So nahm für sich die Beute ganz der Frevler<br />

h<strong>in</strong>.<br />

Übersetzung: H.J. Kerler<br />

<strong>Fabeln</strong>: Aufbau - La Fonta<strong>in</strong>e 1621-1695<br />

I.3 la grenouille qui se veut faire aussi grosse que le boeuf<br />

Une Grenouille vit un Boeuf<br />

Qui lui sembla de belle taille.<br />

Elle, qui n'était pas grosse en tout comme<br />

un oeuf,<br />

Envieuse, s'étend, et s'enfle, et se travaille,<br />

Pour égaler l'animal en grosseur,<br />

Disant : "Regardez bien, ma soeur ;<br />

Est-ce assez ? dites-moi ; n'y suis-je po<strong>in</strong>t<br />

encore ?<br />

- Nenni. - M'y voici donc ? - Po<strong>in</strong>t du tout. -<br />

M'y voilà ?<br />

- Vous n'en approchez po<strong>in</strong>t.". La chétive<br />

pécore<br />

S'enfla si bien qu'elle creva.<br />

Le monde est ple<strong>in</strong> de gens qui ne sont pas<br />

plus sages :<br />

Tout bourgeois veut bâtir comme les grands<br />

seigneurs,<br />

Tout petit pr<strong>in</strong>ce a des ambassadeurs,<br />

Tout marquis veut avoir des pages.<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> Frosch sah e<strong>in</strong>en Ochsen gehen.<br />

Wie stattlich war der anzusehen!<br />

Er, der nicht größer als e<strong>in</strong> Ei, war neidisch<br />

drauf,<br />

Er spreizt sich, bläht mit Macht sich auf,<br />

Um gleich zu se<strong>in</strong> dem großen Tier,<br />

Und rief: »Ihr Brüder achtet <strong>und</strong> vergleicht!<br />

Wie, b<strong>in</strong> ich nun so weit? Ach, sagt es mir!« –<br />

»Ne<strong>in</strong>!« – »Aber jetzt?« – »Was denkst du<br />

dir!« –<br />

»Und jetzt?« – »Noch lange nicht erreicht!« –<br />

Das Fröschle<strong>in</strong> hat sich furchtbar<br />

aufgeblasen,<br />

Es platzte <strong>und</strong> verschied im grünen Rasen.<br />

Die Welt bevölkern viele solcher dummen<br />

Leute:<br />

Jedweder Bürger möchte baun wie große<br />

Herrn,<br />

Der kle<strong>in</strong>e Fürst – er hält Gesandte heute,<br />

Das kle<strong>in</strong>ste Gräfle<strong>in</strong> prunkt mit Pagen gern.<br />

La Fonta<strong>in</strong>e, Jean de: <strong>Fabeln</strong>. Berl<strong>in</strong> 1923, S. 6-7<br />

5


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

http://verheugen.chez-alice.fr<br />

Neue <strong>Fabeln</strong>: Leonardo da V<strong>in</strong>ci 1452-1519<br />

La noce e il campanile<br />

Trovandosi la noce essere dalla cornacchia<br />

portata sopra un alto campanile, e per una<br />

fessura, dove cadde, fu liberata dal mortale<br />

suo becco,<br />

pregò esso muro, per quella grazia che Dio<br />

li aveva dato dell’essere tanto em<strong>in</strong>ente e<br />

magno e ricco di sì belle campane e di tanto<br />

onorevole suono, che la dovessi soccorrere;<br />

perché, poi che le non era potuta cadere<br />

sotto i verdi rami del suo vecchio padre, e<br />

essere nella grassa terra, ricoperta dalle<br />

sue cadenti foglie, che non la volessi lui<br />

abbandonare:<br />

imperò ch’ella trovandosi nel fiero becco<br />

della cornacchia, ch’ella si botò, che,<br />

scampando da essa, voleva f<strong>in</strong>ire la vita sua<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

Die Nuss <strong>und</strong> der Kirchturm<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>e Krähe pickte e<strong>in</strong>e Nuss auf <strong>und</strong> trug sie<br />

auf die Höhe e<strong>in</strong>es Kirchturms. Die Frucht<br />

zwischen den Krallen, versuchte sie mit<br />

Schnabelhieben die Nuss zu öffnen; aber<br />

unversehens entrollte sie ihr <strong>und</strong> verschwand<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Spalt des Mauerwerks.<br />

"Mauer, gute Mauer!" flehte die Nuss, die<br />

glücklich war, aus dem tödlichen Schnabel<br />

der Krähe befreit zu se<strong>in</strong>. "Im Namen Gottes,<br />

der zu dir so gut gewesen ist, <strong>in</strong>dem er dich<br />

so hoch <strong>und</strong> fest geschaffen hat <strong>und</strong> reich an<br />

schönen Glocken, die so herrlich tönen, hilf<br />

mir, habe Mitleid mit mir! Ich war ausersehen,<br />

unter die Zweige me<strong>in</strong>es alten Vaters zu<br />

fallen, um mich auszuruhen <strong>in</strong> der fetten<br />

Erde, von gelben Blättern zugedeckt. Verlass<br />

mich nicht, ich bitte dich.<br />

Als ich im rohen Schnabel der Krähe war,<br />

habe ich e<strong>in</strong> Gelübde getan: Wenn Gott mich<br />

daraus entr<strong>in</strong>nen lässt, verspreche ich, den<br />

6


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

’n un picciolo buso.<br />

Alle quali parole, il muro, mosso a<br />

compassione, fu contento rigettarla nel loco<br />

ov’era caduta.<br />

E <strong>in</strong>fra poco tempo, la noce com<strong>in</strong>ciò<br />

aprirsi, e mettere le radici <strong>in</strong>fra le fessure<br />

delle pietre, e quelle allargare, e gittare i<br />

rami fuori della sua caverna; e quegli <strong>in</strong><br />

brieve levati sopra lo edifizio e <strong>in</strong>grossate le<br />

ritorte radici, com<strong>in</strong>ciò aprire i muri e<br />

cacciare le antiche pietre de’ loro vecchi<br />

lochi.<br />

Allora il muro tardi e <strong>in</strong>darno pianse la<br />

cagione del suo danno, e, <strong>in</strong> brieve aperto,<br />

rov<strong>in</strong>ò gran parte delle sua membra.<br />

Rest me<strong>in</strong>er Tage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Loch zu<br />

verbr<strong>in</strong>gen."<br />

Die Glocken warnten mit leichtem Murmeln<br />

die Mauer des Kirchturms, Acht zu geben,<br />

weil die Nuss gefährlich werden könnte;<br />

aber die Mauer, von Mitleid bewegt,<br />

beschloss, sie zu beherbergen, <strong>und</strong> erlaubte<br />

ihr, <strong>in</strong> dem Spalt zu bleiben, <strong>in</strong> den sie<br />

gefallen war.<br />

In kurzer Zeit nun begann die Nuss sich zu<br />

öffnen <strong>und</strong> ihre Wurzeln zwischen den<br />

Ste<strong>in</strong>en zu entfalten, <strong>und</strong> die Wurzeln<br />

machten sich breit, <strong>in</strong>des die Zweige aus<br />

dem Spalt sprossen. Und die Zweige<br />

wuchsen, wurden stärker, sie erhoben sich<br />

hoch bis zur Turmspitze, <strong>und</strong> die Wurzeln,<br />

anwachsend <strong>und</strong> sich wölbend, begannen,<br />

das Mauerwerk zu sprengen <strong>und</strong> die Ste<strong>in</strong>e<br />

beiseite zu stoßen.<br />

Zu spät begriff die Mauer, dass die<br />

Bescheidenheit der Nuss <strong>und</strong> ihr Gelöbnis,<br />

im Spalt verborgen zu bleiben, nicht aufrichtig<br />

waren, <strong>und</strong> sie bereute, den Glocken ke<strong>in</strong><br />

Gehör geschenkt zu haben. Die Nuss wuchs<br />

weiter, herausfordernd <strong>und</strong> ungerührt, <strong>und</strong><br />

die Mauer, die arme Mauer, fuhr fort,<br />

abzubröckeln <strong>und</strong> e<strong>in</strong>zustürzen.<br />

Übersetzung: Isolde Rieger<br />

Epimythion?<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

7


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

<strong>Fabeln</strong>: Variationen Phaedrus I.1<br />

Lupus et agnus<br />

Ad rivum e<strong>und</strong>em lupus et agnus venerant<br />

siti compulsi; superior stabat lupus<br />

longeque <strong>in</strong>ferior agnus. Tunc fauce improba<br />

latro <strong>in</strong>citatus iurgii causam <strong>in</strong>tulit:<br />

«Cur» <strong>in</strong>quit «turbulentam fecisti<br />

mihi aquam bibenti?» Laniger contra timens:<br />

«Qui possum, quaeso, facere, quod quereris,<br />

lupe? A te decurrit ad meos haustus liquor.»<br />

Repulsus ille veritatis viribus:<br />

«Ante hos sex menses male » ait «dixisti mihi.»<br />

Respondit agnus: «Equidem natus non eram.»<br />

«Pater hercle tuus » ille <strong>in</strong>quit «male dixit mihi.»<br />

Atque ita correptum lacerat <strong>in</strong>iusta nece.<br />

Haec propter illos scripta est hom<strong>in</strong>es fabula, qui<br />

fictis causis <strong>in</strong>nocentes opprimunt. <br />

An e<strong>in</strong>em Bach erschienen Wolf <strong>und</strong> Lamm<br />

zugleich,<br />

Vom Durst getrieben: weiter oben stand der Wolf,<br />

Das Lamm fern unten. Siehe, da erfand des<br />

Streites<br />

Ursache gleich der Räuber, von Mordlust gereizt.<br />

"Was", sprach er, "hast du trübe mir den Bach<br />

gemacht,<br />

Da ich hier tr<strong>in</strong>ke?" Zitternd sprach darauf das<br />

Lamm:<br />

"Was du mich, Wolf, beschuldigst, wie ist's<br />

möglich mir?<br />

Fließt doch von dir zu me<strong>in</strong>em Tr<strong>in</strong>ken her der<br />

Quell."<br />

Doch jener, abgewiesen durch der Wahrheit Kraft,<br />

Begann: "Du hast gescholten vor sechs Monden<br />

mich."<br />

Darauf das Lamm: "Geboren war ich da noch<br />

nicht."<br />

"De<strong>in</strong> Vater", sprach er, "aber schimpfte mich<br />

fürwahr!"<br />

Und also griff <strong>und</strong> würgte er es grausam h<strong>in</strong>.<br />

Die Fabel ist auf solche Menschen abgefasst,<br />

Die e<strong>in</strong>en Frommen drängen mit Betrug <strong>und</strong> List.<br />

Übersetzung H.J.Kerler<br />

Gotthold E. Less<strong>in</strong>g 1729 - 1781<br />

Der Wolf <strong>und</strong> das Schaf<br />

Der Durst trieb e<strong>in</strong> Schaf an den Fluss, e<strong>in</strong>e gleiche Ursache führte auf der anderen Seite<br />

e<strong>in</strong>en Wolf herzu. Durch die Trennung des Wassers gesichert <strong>und</strong> durch die Sicherheit<br />

höhnisch gemacht, rief das Schaf dem Räuber h<strong>in</strong>über: "Ich mache dir doch das Wasser<br />

nicht trübe, Herr Wolf? Sieh mich recht an, habe ich dir nicht etwa vor sechs Wochen<br />

nachgeschimpft? Wenigstens wird es me<strong>in</strong> Vater gewesen se<strong>in</strong>." Der Wolf verstand die<br />

Spötterei; er betrachtete die Breite des Flusses <strong>und</strong> knirschte mit den Zähnen. "Es ist de<strong>in</strong><br />

Glück," antwortete er, "dass wir Wölfe gewohnt s<strong>in</strong>d, mit euch Schafen Geduld zu haben",<br />

<strong>und</strong> g<strong>in</strong>g mit stolzen Schritten weiter.<br />

Situation:<br />

Aktion 1:<br />

PHAEDRUS<br />

superior - <strong>in</strong>ferior<br />

W: du trübst Wasser<br />

LESSING<br />

Reaktion 1: L: widerlegt W.<br />

Aktion 2:<br />

W: du hast beleidigt<br />

Reaktion 2: L: widerlegt W.<br />

Aktion 3:<br />

W: de<strong>in</strong> Vater hat beleidigt<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

8


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

Reaktion 3: L: - (wird gefressen)<br />

Ergebnis:<br />

W frisst Lamm<br />

Unrecht ist entblösst<br />

von falschem<br />

Mantel des Rechts<br />

(Macht geht vor Recht)<br />

<strong>Fabeln</strong>: Variationen – Thurber 1894 – 1961<br />

The Lion and the Foxes<br />

The lion had just expla<strong>in</strong>ed to the cow, the<br />

goat, and the sheep that the stag they had<br />

killed belonged to him, when three little<br />

foxes appeared on the scene:<br />

«I will take a third of the stag as a penalty»<br />

said one, «for you have no hunter’s<br />

license.»<br />

«I will take a third of the stag for your<br />

widow», said another, «for that is the law.»<br />

«I have no widow.» said the lion.<br />

«Let us not split hairs», said the third fox,<br />

and he took his share of the stag as a<br />

withhold<strong>in</strong>g tax (=<strong>E<strong>in</strong></strong>kommenssteuer).<br />

«Aga<strong>in</strong>st a year of fam<strong>in</strong>e», he expla<strong>in</strong>ed.<br />

«But I am k<strong>in</strong>g of beasts», roared the lion.<br />

«Ah, then you will not need the antlers, for<br />

you have a crown», said the foxes, and they<br />

took the antlers, too.<br />

Moral: It is not as easy to get the lion’s<br />

share nowadays as it used to be.<br />

Gerade hatte der Löwe dem Schaf, der Ziege<br />

<strong>und</strong> der Kuh ause<strong>in</strong>andergesetzt, dass der<br />

von ihnen erlegte Hirsch e<strong>in</strong>zig <strong>und</strong> alle<strong>in</strong> ihm<br />

gehöre, als drei Füchse erschienen <strong>und</strong> vor<br />

ihn h<strong>in</strong>traten.<br />

„Ich nehme e<strong>in</strong> Drittel des Hirsches als<br />

Strafgebühr“, sagte der erste Fuchs. „Du hast<br />

nämlich ke<strong>in</strong>en Jagdsche<strong>in</strong>.“<br />

„Und ich“, sagte der zweite, „nehme e<strong>in</strong>en<br />

Drittel des Hirschen für de<strong>in</strong>e Witwe, denn so<br />

steht es im Gesetz.“<br />

„Ich habe gar ke<strong>in</strong>e Witwe“, knurrte der Löwe.<br />

„Lassen wir doch die Haarspaltereien“, sagte<br />

der dritte Fuchs <strong>und</strong> nahm sich ebenfalls<br />

se<strong>in</strong>en Anteil. „Als <strong>E<strong>in</strong></strong>kommenssteuer“,<br />

erklärte er. „Das schützt mich e<strong>in</strong> Jahr lang<br />

vor Hunger <strong>und</strong> Not.“<br />

„Aber ich b<strong>in</strong> der König der Tiere“, brüllte der<br />

Löwe.<br />

„Na, dann hast du ja e<strong>in</strong>e Krone <strong>und</strong> brauchst<br />

das Geweih nicht“, bekam er zur Antwort,<br />

<strong>und</strong> die drei Füchse nahmen auch noch das<br />

Hirschgeweih mit.<br />

Moral: Heutzutage ist es nicht mehr so leicht<br />

wie <strong>in</strong> früheren Zeiten, sich den Löwenanteil<br />

zu sichern.<br />

fames - bestia - habere -<br />

apparere - scaena - leo -<br />

licentia <br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

9


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

<strong>Fabeln</strong> ironisch: Augusto Monterosso 1921 – 2003 – La parte del Leòn<br />

La Vaca, la Cabra y la paciente Oveja se<br />

asociaron un día con el León para gozar<br />

alguna vez de una vida tranquila, pues las<br />

depredaciones del monstruo (como lo<br />

llamaban a sus espaldas) las mantenían<br />

en una atmósfera de angustia y zozobra<br />

de la que difícilmente podían escapar<br />

como no fuera por las buenas.<br />

Con la conocida habilidad c<strong>in</strong>egética de<br />

los cuatro, cierta tarde cazaron un ágil<br />

Ciervo (cuya carne por supuesto<br />

repugnaba a la Vaca, a la Cabra y a la<br />

Oveja, acostumbradas como estaban a<br />

alimentarse con las hierbas que cogían) y<br />

de acuerdo con el convenio dividieron el<br />

vasto cuerpo en partes iguales.<br />

Aquí, profiriendo al unísono toda clase de<br />

quejas y aduciendo su <strong>in</strong>defensión y<br />

extrema debilidad, las tres se pusieron a<br />

vociferar acaloradamente, confabuladas<br />

de antemano para quedarse también con<br />

la parte del León, pues, como enseñaba la<br />

Hormiga, querían guardar algo para los<br />

días duros del <strong>in</strong>vierno.<br />

Pero esta vez el León ni siquiera se tomó<br />

el trabajo de enumerar las sabidas<br />

razones por las cuales el Ciervo le<br />

pertenecía a él solo, s<strong>in</strong>o que se las comió<br />

allí mismo de una sentada, en medio de<br />

los largos gritos de ellas en que se<br />

escuchaban expresiones como Contrato<br />

Social, Constitución, Derechos Humanos y<br />

otras igualmente fuertes y decisivas.<br />

Die Kuh, die Ziege <strong>und</strong> das geduldige Schaf<br />

verbündeten sich e<strong>in</strong>es Tages mit dem Löwen,<br />

um endlich <strong>in</strong> den Genuss e<strong>in</strong>es ruhigen<br />

Lebens zu kommen, wurden die drei doch von<br />

den Anmassungen des Monstrums (wie sie ihn<br />

h<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>em Rücken nannten) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Zustand von Angst <strong>und</strong> Schrecken gehalten.,<br />

dem schwerlich anders als im Guten zu<br />

entkommen war.<br />

Mit Hilfe ihrer bekannten Weidmannskunst<br />

konnten die vier e<strong>in</strong>es Abends e<strong>in</strong>en fl<strong>in</strong>ken<br />

Hirsch reissen (dessen Fleisch Kuh, Ziege <strong>und</strong><br />

Schaf, an die Halme gewöhnt, die sie sonst<br />

assen, selbstverständlich abstiess), <strong>und</strong> sie<br />

zerlegten den üppigen Kadaver, wie ihre<br />

Absprache es vorsah, <strong>in</strong> gleiche Teile.<br />

Hier nun erhoben die drei zu e<strong>in</strong>em hitzigen<br />

Gezeter an, brachten wie aus e<strong>in</strong>em M<strong>und</strong>e<br />

alle erdenklichen Klagen vor <strong>und</strong> führten, wie<br />

vorher verabredet, ihre Wehrlosigkeit <strong>und</strong><br />

grossse Schwäche <strong>in</strong>s Feld, um auch den<br />

Löwenanteil für sich e<strong>in</strong>zustreichen <strong>und</strong> – die<br />

Ameise lehrte sie das – etwas für die harten<br />

W<strong>in</strong>tertage zurückzulegen.<br />

Aber diesmal machte sich der Löwe gar nicht<br />

erst die Mühe, die geläufigen Gründe<br />

aufzuzählen, wonach der Hirsch ihm ganz<br />

alle<strong>in</strong>e zustand, sondern schlang die drei an<br />

Ort <strong>und</strong> Stelle h<strong>in</strong>unter, noch während ihres<br />

Gezeters, <strong>in</strong> dem Ausdrücke zu vernehmen<br />

waren wie Gesellschaftsvertrag, Verfassung,<br />

Menschenrechte.<br />

Übersetzung: Swenja Becker<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

10


Late<strong>in</strong>tag 2012 <br />

<strong>Fabeln</strong> zum Nachdenken: Augusto Monterosso 1921 – 2003<br />

La Fe<br />

Spanisch<br />

Al pr<strong>in</strong>cipio la Fe movía montañas sólo<br />

cuando era absolutamente necesario, con<br />

lo que el paisaje permanecía igual a sí<br />

mismo durante milenios.<br />

Pero cuando la Fe comenzó a propagarse<br />

y a la gente le pareció divertida la idea de<br />

mover montañas, éstas no hacían s<strong>in</strong>o<br />

cambiar de sitio, y cada vez era más difícil<br />

encontrarlas en el lugar en que uno las<br />

había dejado la noche anterior; cosa que<br />

por supuesto creaba más dificultades que<br />

las que resolvía.<br />

La buena gente prefirió entonces<br />

abandonar la Fe y ahora las montañas<br />

permanecen por lo general en su sitio.<br />

Cuando en la carretera se produce un<br />

derrumbe bajo el cual mueren varios<br />

viajeros, es que alguien, muy lejano o<br />

<strong>in</strong>mediato, tuvo un ligerísimo atisbo de fe.<br />

Deutsch<br />

Am Anfang versetzte der Glaube nur Berge,<br />

wenn es unbed<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong> musste, weshalb die<br />

Landschaft über Jahrtausende dieselbe blieb.<br />

Als der Glaube jedoch um sich griff <strong>und</strong> die<br />

Leute es spassig fanden, Berge zu versetzen,<br />

veränderten diese dauernd ihren Standort, <strong>und</strong><br />

es wurde immer schwieriger, sie anzutreffen,<br />

wo man sie am Abend zuvor gelassen hatte.<br />

Was natürlich mehr Unannehmlichkeiten<br />

verursachte als ausräumte.<br />

Deshalb fielen die guten Leute lieber vom<br />

Glauben ab, <strong>und</strong> heute bleiben die Berge<br />

üblicherweise, wo sie s<strong>in</strong>d. Wenn s auf der<br />

Überlandstrasse zu e<strong>in</strong>em Erdrutsch kommt<br />

<strong>und</strong> etliche Reisende den Tod f<strong>in</strong>den, dann<br />

weil irgendjemand sehr fern oder nah e<strong>in</strong>en<br />

leichten Anflug von Glauben verspürte.<br />

Übersetzung: Swenja Becker<br />

Literatur:<br />

Coenen H. G. (2000): Die Gattung Fabel, Gött<strong>in</strong>gen, UTB Vandenhoeck&Rupprecht<br />

Dithmar R. (1988): Die Fabel, Paderborn, UTB Schön<strong>in</strong>gh<br />

Monterosso A. (2011): Das schwarze Schaf <strong>und</strong> andere <strong>Fabeln</strong>, Berl<strong>in</strong>, Insel Verlag<br />

Röhrich L. (1991): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg/Basel/Wien, Herder<br />

Spektrum<br />

Mart<strong>in</strong> Müller <br />

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