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Kai Buchholz Der blinde und der sehende Amor. Über Liebe ...

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© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

<strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>blinde</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>sehende</strong> <strong>Amor</strong>. <strong>Über</strong> <strong>Liebe</strong>, Selbstkultivierung <strong>und</strong> Erkenntnis 1<br />

In seiner unnachahmlich lakonischen <strong>und</strong> treffenden Art formulierte Bertrand Russell einmal:<br />

»Die vorherrschende Einstellung <strong>der</strong> meisten Gesellschaftsformen gegenüber <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> ist eine<br />

merkwürdig zwiespältige. Einerseits ist die <strong>Liebe</strong> das hauptsächlichste Thema von Gedichten, Romanen<br />

<strong>und</strong> Bühnenstücken. An<strong>der</strong>erseits wird sie von den ernstesten Soziologen bei <strong>der</strong> Ausarbeitung<br />

wirtschaftlicher <strong>und</strong> politischer Reformpläne völlig außer acht gelassen.« 2 Das Zitat stammt<br />

aus Russells Buch Marriage and Morals (1929) <strong>und</strong> ist auch knapp achtzig Jahre nach seinem Erscheinen<br />

hochaktuell. Trat die <strong>Liebe</strong> im engeren Sinne – das heißt die erotische <strong>Liebe</strong>, um die es<br />

hier ausschließlich gehen soll – in früherer Zeit oft in Konflikt mit den moralischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Dogmen <strong>der</strong> Religion, so erfolgt ihre Verbannung in <strong>der</strong> technischen Zivilisation unter verän<strong>der</strong>ten<br />

Vorzeichen. Auch diesen Aspekt hat Russell klar erkannt <strong>und</strong> hellsichtig auf den Punkt gebracht:<br />

»In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Welt hat die <strong>Liebe</strong> jedoch noch einen an<strong>der</strong>en Wi<strong>der</strong>sacher, <strong>der</strong> gefährlicher ist<br />

als die Religion, <strong>und</strong> zwar das Evangelium <strong>der</strong> Arbeit <strong>und</strong> des wirtschaftlichen Erfolges. Beson<strong>der</strong>s<br />

in Amerika besteht die allgemeine Auffassung, daß ein Mann die <strong>Liebe</strong> nicht in Konflikt mit seiner<br />

Karriere kommen lassen darf, <strong>und</strong> daß er, wenn er es doch tut, verrückt ist.« 3<br />

1. Selbstkultivierung<br />

Russells Bemerkungen lassen es vielversprechend erscheinen, die erotische <strong>Liebe</strong> danach zu befragen,<br />

welchen Beitrag sie zum Projekt einer philosophischen Selbstkultivierung leisten kann. Um<br />

diesen Beitrag in <strong>der</strong> gebotenen Deutlichkeit <strong>und</strong> Schärfe ins Blickfeld zu rücken, ist zunächst zu<br />

klären, was hier mit ›philosophischer Selbstkultivierung‹ gemeint sein soll. Trotz zahlreicher lebenspraktischer<br />

Errungenschaften macht es die technische Zivilisation dem einzelnen Menschen<br />

immens schwer, ein gelungenes Leben zu führen. In einer Welt, in <strong>der</strong> Stereotypen <strong>und</strong> Brutalität<br />

zunehmend das Denken <strong>und</strong> Handeln beherrschen, bietet sich kaum noch Gelegenheit, Differenzierungsvermögen<br />

<strong>und</strong> Sensibilität auszubilden. 4 Ehrlichkeit, Verantwortung <strong>und</strong> Großzügigkeit<br />

1<br />

Vgl. zum Thema dieses Aufsatzes insbeson<strong>der</strong>e: <strong>Liebe</strong>. Ein philosophisches Lesebuch. Hg. K. <strong>Buchholz</strong>. München 2007.<br />

2<br />

Russell, Bertrand: Ehe <strong>und</strong> Moral. Stuttgart 1951. S. 82.<br />

3<br />

Ebd., S. 83. Vgl. zu diesem Punkt auch Böhme, Gernot: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Frankfurt a. M. 1985. S.<br />

98/99.<br />

4<br />

Vgl. dazu <strong>Buchholz</strong>, <strong>Kai</strong>: ›L’homme est responsable de ce qu’il est.‹ Bemerkungen zum anthropologischen F<strong>und</strong>ament <strong>der</strong><br />

Politik. In: Wege zur Vernunft. Hg. K. <strong>Buchholz</strong>, S. Rahman, I. Weber. Frankfurt a. M., New York 1999. S. 73-87; <strong>Der</strong>s.: Le-<br />

1


© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

sind bedroht, während sich Lüge, Selbstsucht <strong>und</strong> Kleinmut wie eine hoch infektiöse Krankheit<br />

ausbreiten. Insbeson<strong>der</strong>e auch die nüchtern-unvoreingenommene Beurteilung lebensrelevanter<br />

Umstände <strong>und</strong> Sachverhalte besitzt mittlerweile den Seltenheitswert einer vom Aussterben bedrohten<br />

Insektenspezies. Es sei dahingestellt, wer o<strong>der</strong> was an diesen Verän<strong>der</strong>ungen die Hauptschuld<br />

trägt – <strong>der</strong> Ökonomismus, die Bildungsmisere, die technisch bedingte Beschleunigung <strong>der</strong><br />

Arbeitswelt, die Informationsflut o<strong>der</strong> was immer sonst. Unter den skizzierten Lebensbedingungen<br />

<strong>der</strong> technischen Zivilisation soll ›Selbstkultivierung‹ jedenfalls bedeuten: gegen alle Wi<strong>der</strong>stände<br />

das eigene Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Ziel von Selbstkultivierung ist es, den<br />

zahlreichen alltäglichen Verlockungen, Korrumpierungsangeboten, Hetzparolen <strong>und</strong> Geschmacklosigkeiten<br />

Paroli zu bieten. Da das nicht so ohne weiteres möglich ist, muss man sich nicht einfach<br />

nur entschließen, gegenüber den Dingen des Lebens eine neue, aufs Ganze gesehen sinnvolle<br />

Haltung einzunehmen – man muss sich in eine solche Haltung mit allen ihren Detaileigenschaften<br />

zunächst geduldig einüben. Dazu gehören Übungen in ästhetischem Wahrnehmungsvermögen <strong>und</strong><br />

praktischer Solidarität genauso wie das Erlernen kluger <strong>und</strong> stringenter Argumentationsweisen<br />

o<strong>der</strong> die schrittweise Annäherung an einen angemessenen Umgang mit <strong>der</strong> eigenen leiblichen<br />

Existenz. 5<br />

2. Selbstkultivierung <strong>und</strong> Philosophie<br />

Aber was hat das alles mit Philosophie zu tun? Warum verdient die skizzierte Form <strong>der</strong> Selbstkultivierung<br />

die nähere Bestimmung ›philosophisch‹? Seit ihren Anfängen ist Philosophie als ein Streben<br />

nach Weisheit sowohl theoretischen als auch praktischen Anfor<strong>der</strong>ungen verpflichtet 6 : Als<br />

praktisches Ziel des Philosophierens gilt das gute Leben (ευ ζην), womit eigentlich jedem blutleeren<br />

theoretischen Spintisieren, das mittlerweile lei<strong>der</strong> zum Markenzeichen <strong>der</strong> Universitätsphilosophie<br />

geworden ist, <strong>der</strong> Riegel vorgeschoben sein sollte. An<strong>der</strong>erseits ist das gute Leben aber<br />

auch kein Resultat von Willkürentscheidungen, so dass <strong>der</strong> Weg dorthin nur über ernsthafte Erkenntnisbemühungen<br />

– das heißt nur theoretisch f<strong>und</strong>iert – möglich ist. Dieser Anspruch ist beson<strong>der</strong>s<br />

deutlich in <strong>der</strong> Philosophie Platons greifbar, welche die Erkenntnis des Guten zum Ziel<br />

erhebt. 7 Am Beispiel des Musterphilosophen Sokrates stellt Platon heraus, wie praktische <strong>und</strong><br />

theoretische Ernsthaftigkeit Hand in Hand gehen: In hartnäckigen Dialogen untersucht Sokrates,<br />

ob seine Mitbürger die von ihnen behaupteten Erkenntnisansprüche auch rechtfertigen können; als<br />

bensreform <strong>und</strong> Lebensphilosophie. In: Centenarium. Hg. K. <strong>Buchholz</strong>, K. Wolbert. Darmstadt 2003. S. 175-183; <strong>Der</strong>s.:<br />

Beileidskarten – Design für den Tod. In: Im Designerpark. Hg. K. <strong>Buchholz</strong>, K. Wolbert. Darmstadt 2004. S. 936-939.<br />

5<br />

Zum letzten Punkt vgl. insbeson<strong>der</strong>e Böhme, Gernot: Leibsein als Aufgabe. Kusterdingen 2003; bezogen auf das Thema<br />

<strong>Liebe</strong> auch Schmitz, Hermann: Die <strong>Liebe</strong>. Bonn 1993.<br />

6<br />

Vgl. <strong>Buchholz</strong>, <strong>Kai</strong> <strong>und</strong> Hemmati, Minu: Vom Nutzen <strong>der</strong> Geisteswissenschaften. In: Universitas. 53 (1998). S. 1082-1086.<br />

7<br />

Vgl. dazu Schrastetter, Rudolf: Die Erkenntnis des Guten. In: Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn. Hg. R. Hofmann, J.<br />

Jantzen, H. Ottmann. Weinheim 1989. S. 237-258.<br />

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© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

Prüfstein steht dabei aber immer wie<strong>der</strong> die Frage im Mittelpunkt, welchen realen Beitrag diese<br />

Ansprüche zur Aufgabe eines gelungenen Lebens leisten. Praktische <strong>und</strong> theoretische Intention<br />

des Philosophierens münden bei Sokrates so in philosophische Orientierung. 8 Vergleichbares gilt<br />

auch für die Philosophie Ludwig Wittgensteins. Innerhalb <strong>der</strong> technischen Zivilisation, die maßgeblich<br />

auf dem F<strong>und</strong>ament naturwissenschaftlicher Forschung errichtet ist, untersucht Wittgenstein<br />

die logischen <strong>und</strong> erkenntnistheoretischen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>der</strong> strengen Wissenschaft. Dabei landet er<br />

aber nicht – wie zahlreiche Wissenschaftler – bei dogmatisch gesetzten Axiomen, son<strong>der</strong>n bei den<br />

vielfältigen Lebensformen, die die menschliche Existenz ermöglicht. Durch eine solche Einbettung<br />

von Erkenntnis in die praktischen Lebensvollzüge gelingt es Wittgenstein, einen unverstellten<br />

Blick auf das menschliche Leben zu eröffnen <strong>und</strong> die gr<strong>und</strong>legende Orientierungsfunktion seriösen<br />

Philosophierens wie<strong>der</strong> zur Geltung zu bringen. 9 Auf dem Hintergr<strong>und</strong> einer solchen Bestimmung<br />

von Philosophie leuchtet es unmittelbar ein, dass die zuvor beschriebenen Techniken <strong>der</strong> Selbstkultivierung<br />

letztlich nichts an<strong>der</strong>es sind als Mittel zur Hervorbringung philosophischer Subjekte.<br />

3. <strong>Liebe</strong>skunst<br />

Wirft man nun die Frage auf, welchen Beitrag die erotische <strong>Liebe</strong> zur philosophischen Selbstkultivierung<br />

leisten kann, ergeben sich zunächst zwei Fragen: Ist die <strong>Liebe</strong> ein Mittel o<strong>der</strong> ein Gegenstand<br />

<strong>der</strong> Selbstkultivierung? Beziehungsweise: Beför<strong>der</strong>t die <strong>Liebe</strong> die Selbstkultivierung, o<strong>der</strong> ist<br />

sie umgekehrt erst durch Selbstkultivierung ihrer eigentlichen Bestimmung zuzuführen? Für die<br />

zweite Variante hat Erich Fromm mit Verve in seinem Bestseller The Art of Loving (1957) gestritten.<br />

Er vertritt dort die Ansicht, dass die <strong>Liebe</strong> nicht einfach nur eine angenehme Empfindung sei, die<br />

einem rein zufällig ›in den Schoß falle‹, son<strong>der</strong>n eine Kunst, die man erst mühsam erlernen müsse,<br />

bevor sie sich fruchtbringend entfalten könne. Obwohl das Buch vermutlich von praktisch jedem<br />

Pubertierenden einer bestimmten Generation gelesen wurde, hat sich diese Idee nicht durchgesetzt.<br />

Um Fromms Vorstellung von <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> angemessen nachzuvollziehen, muss man begreifen,<br />

auf welches Problem die <strong>Liebe</strong> in Fromms Augen eine Antwort liefert. Es ist nichts Geringeres<br />

als das Problem <strong>der</strong> menschlichen Existenz im Ganzen (d. h. die Frage nach dem Sinn des Lebens),<br />

die Fromm glaubt mittels <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> lösen zu können. Dabei charakterisiert er die Situation des<br />

Menschen in <strong>der</strong> Welt <strong>und</strong> die aus dieser Situation erwachsende Schwierigkeit wie folgt: »<strong>Der</strong><br />

Mensch ist mit Vernunft ausgestattet; er ist Leben, das sich seiner selbst bewußt ist. Er besitzt ein<br />

Bewußtsein seiner selbst, seiner Mitmenschen, seiner Vergangenheit <strong>und</strong> <strong>der</strong> Möglichkeiten seiner<br />

Zukunft. Dieses Bewußtsein seiner selbst als einer eigenständigen Größe, das Gewahrwerden<br />

8<br />

Vgl. insbeson<strong>der</strong>e Schrastetter, Rudolf: <strong>Der</strong> Weg des Menschen bei Plato. Phil. Diss. München 1966; Mittelstraß, Jürgen:<br />

Versuch über den Sokratischen Dialog. In: <strong>Der</strong>s.: Wissenschaft als Lebensform. Frankfurt a. M. 1982. S. 138-161.<br />

9<br />

Vgl. <strong>Buchholz</strong>, <strong>Kai</strong>: Ludwig Wittgenstein. Frankfurt a. M., New York 2006.<br />

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© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

dessen, daß er eine kurze Lebensspanne vor sich hat, daß er ohne seinen Willen geboren wurde<br />

<strong>und</strong> gegen seinen Willen sterben wird, daß er vor denen, die er liebt, sterben wird (o<strong>der</strong> sie vor<br />

ihm), daß er allein <strong>und</strong> abgeson<strong>der</strong>t <strong>und</strong> den Kräften <strong>der</strong> Natur <strong>und</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft hilflos ausgeliefert<br />

ist – all das macht seine abgeson<strong>der</strong>te, einsame Existenz zu einem unerträglichen Gefängnis.<br />

Er würde dem Wahnsinn verfallen, wenn er sich nicht aus diesem Gefängnis befreien könnte –<br />

wenn er nicht in irgendeiner Form seine Hände nach an<strong>der</strong>en Menschen ausstrecken <strong>und</strong> sich mit<br />

<strong>der</strong> Welt außerhalb seiner selbst vereinigen könnte.« 10 <strong>Liebe</strong> ist für Fromm also eine Vereinigungskraft,<br />

die den Menschen aus seiner individuellen Isolation befreit <strong>und</strong> mit dem Ganzen <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit zu einer stabilen, versöhnten Einheit verschmilzt. Diese eigentliche Bestimmung erfülle<br />

die <strong>Liebe</strong> aber erst durch Selbstkultivierung. Zunächst ist dazu laut Fromm dreierlei vonnöten:<br />

Disziplin, Konzentration <strong>und</strong> Geduld. Diese Fertigkeiten, die Fromm als Bedingungen einer<br />

jeden Kunst ansieht, müssten mit Hilfe praktischer Übungen erworben werden. Das beson<strong>der</strong>e Ziel<br />

<strong>der</strong> Kunst des <strong>Liebe</strong>ns besteht nach Fromm schließlich darin, den eigenen Narzissmus zu überwinden.<br />

Fromm versteht darunter die Fähigkeit, die Welt (das heißt Dinge <strong>und</strong> Menschen) so zu<br />

sehen wie sie sind – unabhängig von eigenen Wünschen <strong>und</strong> Ängsten.<br />

4. <strong>Liebe</strong> gewinnen<br />

In diesem Punkt unterscheidet sich Fromms Auffassung radikal von traditionellen praktischphilosophischen<br />

›<strong>Liebe</strong>sschulen‹ wie Ovids Ars amatoria (um 0) o<strong>der</strong> Andreas Capellanus’ De amore<br />

(um 1186). 11 Im Gegensatz zu Fromm, <strong>der</strong> das Problem <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> gerade nicht darin sieht, geliebt<br />

zu werden, son<strong>der</strong>n selbst lieben zu können, geben Ovid <strong>und</strong> Capellanus zahlreiche Ratschläge,<br />

wie man das Herz <strong>der</strong>jenigen gewinnen kann, zu denen man sich hingezogen fühlt. Männern rät<br />

Ovid zum Beispiel: »Durch Sauberkeit errege dein Körper Wohlgefallen, laß ihn auf dem Marsfeld<br />

bräunen. Die Toga sei gut passend <strong>und</strong> ohne Flecken. Die Zunge am Schuh stehe nicht vor, die<br />

Zähne seien frei von Belag, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Fuß schwimme nicht schlotternd in zu weitem Le<strong>der</strong>. <strong>Der</strong><br />

Haarschnitt entstelle nicht dein Haar zu Stacheln, Haar <strong>und</strong> Bart seien von k<strong>und</strong>iger Hand geschnitten.<br />

Laß die Nägel nicht vorstehen, laß sie sauber sein, <strong>und</strong> aus den Nasenlöchern stehe dir<br />

kein Härchen hervor. Auch soll <strong>der</strong> M<strong>und</strong> nicht übel riechen, <strong>der</strong> Atem nicht wi<strong>der</strong>lich sein, <strong>und</strong><br />

unter <strong>der</strong> Achsel soll nicht <strong>der</strong> stinkende Bock, <strong>der</strong> Herr <strong>der</strong> Ziegenherde, hausen. Alles übrige<br />

überlaß den lockeren Mädchen o<strong>der</strong> Leuten, die keine rechten Männer sind <strong>und</strong> um Männer buhlen.«<br />

12<br />

10<br />

Fromm, Erich: Die Kunst des <strong>Liebe</strong>ns. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1980. S. 18.<br />

11<br />

Vgl. Ovid: Die <strong>Liebe</strong>skunst. München 2 1983; Capellanus, Andreas: <strong>Über</strong> die <strong>Liebe</strong>. Mainz 2003.<br />

12<br />

Ovid, a. a. O., S. 29/30.<br />

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Von <strong>der</strong> Fähigkeit, die Geliebte in ihrer äußeren Gestalt, in ihren seelischen Regungen <strong>und</strong> in ihrem<br />

Handeln aufmerksam zu beobachten <strong>und</strong> dadurch ihre Gesamtpersönlichkeit in voller Tiefe zu<br />

verstehen, ist hier überhaupt nicht die Rede. Vielleicht, so könnte man meinen, ist die individuelle<br />

Versenkung in die Geliebte erst eine neuzeitliche Erfindung. Dies trifft jedoch nicht zu. Bereits Platons<br />

Symposion, <strong>der</strong> wirkungsmächtigste philosophische Text zum Thema <strong>Liebe</strong> überhaupt, beschreibt<br />

den Eros nämlich als eine Macht, die den Menschen zum Schönen <strong>und</strong> zum Guten lenken<br />

soll. Als eine solche Macht ist die <strong>Liebe</strong> nicht ein behagliches (o<strong>der</strong> verwirrendes) Gefühl, son<strong>der</strong>n<br />

ein Motor, <strong>der</strong> den <strong>Liebe</strong>nden auf eine sehnsuchtsvolle Reise schickt. Ein unermessliches Glücksversprechen<br />

vor Augen, wird <strong>der</strong> von <strong>Amor</strong>s Pfeil Getroffene veranlasst, demjenigen nachzuforschen,<br />

das ihn einen an<strong>der</strong>en Menschen plötzlich in gänzlich neuem Licht erblicken lässt.<br />

5. Das Antlitz<br />

Diesen Stachel <strong>der</strong> Erkenntnis, den die <strong>Liebe</strong> in die <strong>Liebe</strong>nden senkt, hat <strong>der</strong> französische Philosoph<br />

Alain Finkielkraut in seinem Buch La sagesse de l’amour (1984) als äußerst ambivalent beurteilt.<br />

Dabei lenkt er den Blick auf das Antlitz des (o<strong>der</strong> <strong>der</strong>) Geliebten. Ausgehend von Marcel<br />

Prousts pessimistischer Einschätzung <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, wonach jedes erotische Begehren zum Scheitern<br />

verurteilt ist, versucht Finkielkraut nachzuweisen, dass die <strong>Liebe</strong>nde – etwa im Unterschied zur<br />

Künstlerin – gerade nicht in <strong>der</strong> Lage ist, den geheimnisvollsten <strong>und</strong> ausdrucksreichsten Teil <strong>der</strong><br />

Geliebten, nämlich ihr Antlitz, zu erfassen. Als Beleg dient ihm zunächst ein Zitat aus Prousts A<br />

l’ombre des jeunes filles en fleurs (1918): »Ich wußte wirklich nicht mehr, wie Gilbertes Züge eigentlich<br />

beschaffen seien, außer in den göttlichen Augenblicken, in denen sie mir freimütig Einblick<br />

in ihr Wesen gewährte: Ich erinnerte mich nur noch an ihr Lächeln. Und während ich dies<br />

geliebte Antlitz, wie sehr ich mich auch bemühte, vor meinem Auge nicht wie<strong>der</strong>erstehen lassen<br />

konnte, stellte ich mit Ingrimm fest, daß ich ganz unnütze, aber charakteristische Gesichter, wie<br />

das des Karussellmanns <strong>und</strong> das <strong>der</strong> Händlerin von dem Süßigkeitenstand, mit absoluter Genauigkeit<br />

in meinem Gedächtnis aufgezeichnet fand.« 13 Und Finkielkraut selbst fährt fort: »Das geliebte<br />

Antlitz ist zu lebendig, um sich zähmen zu lassen, selbst von seiner eigenen Pracht. Das <strong>Über</strong>maß<br />

an Aufmerksamkeit verwirrt den liebenden Blick – das <strong>Über</strong>maß an Aufmerksamkeit <strong>und</strong> nicht […]<br />

die Ausschweifung <strong>der</strong> Phantasie. <strong>Der</strong> <strong>Liebe</strong>nde projiziert in den An<strong>der</strong>en nicht die Eigenschaften,<br />

von denen er träumt <strong>und</strong> die er aus seinem eigenen F<strong>und</strong>us schöpft; er belauert, erforscht <strong>und</strong><br />

beaufsichtigt, <strong>und</strong> alles in dem geliebten Gesicht erregt seine Wachsamkeit: eine verstohlene Nie<strong>der</strong>geschlagenheit<br />

<strong>und</strong> winzige Zuckungen, Schatten <strong>und</strong> Schauer, Lächeln <strong>und</strong> Launen. Das geliebte<br />

Gesicht ist ein Gewimmel von Zeichen, <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nde ist nicht mehr fähig auszusortieren.<br />

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Die Kunst dagegen kommt nicht ohne Stilisierung aus, ohne die Fähigkeit, das Unwesentliche beiseite<br />

zu lassen <strong>und</strong> nur das Bedeutsame beizubehalten. Aber <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nde harrt gegen seinen<br />

Willen in einer unbewohnbaren Welt aus, in <strong>der</strong> alles äußerst wichtig ist. […] Die Kunst ist also<br />

nicht das natürliche Ventil <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>. Die <strong>Liebe</strong> ist vielmehr jene Religion des Antlitzes, die seine<br />

Darstellung verbietet. Man darf sich von den endlosen Preisungen <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>slyrik nicht blenden<br />

lassen. Das geliebte Antlitz entzieht sich allem, selbst seiner eigenen Schönheit, die die Kristallisation<br />

<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> möglich gemacht hat. Es ist unbeschreiblich.« 14 Unter erkenntnistheoretischen<br />

Gesichtspunkten sind diese Gedanken höchst aufschlussreich. Es stellt sich nämlich die Frage, ob<br />

die Tatsache, dass sich das geliebte Antlitz dem Zugriff <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nden ständig entzieht, eher ein<br />

Mehr o<strong>der</strong> ein Weniger an Erkenntnis bedeutet. Stillschweigend geht Finkielkraut davon aus, dass<br />

Erkenntnis immer ein begriffliches Festnageln des Erkenntnisobjekts bedeutet. Aber ist diese<br />

Sicht alternativelos? Ist die Bereitschaft <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nden, sich immer aufs Neue dem geliebten Antlitz<br />

zuzuwenden, immer wie<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Einzelheiten an ihm zu entdecken <strong>und</strong> sich für seine ständige<br />

atmosphärische Wandelbarkeit zu begeistern, nicht <strong>der</strong> beste Beweis dafür, dass sie es mit<br />

dem Gegenstand ihrer <strong>Liebe</strong> beson<strong>der</strong>s ernst meint? Und ist nicht gerade das Festlegenwollen <strong>der</strong><br />

Tod je<strong>der</strong> echten Erkenntnis? Natürlich eröffnen uns die Werke <strong>der</strong> Künstler <strong>und</strong> die Theorien <strong>der</strong><br />

Wissenschaftler neue Sichtweisen auf die Welt <strong>und</strong> verschaffen uns so Erkenntnisse. 15 Eine unvoreingenommene<br />

philosophische Erkenntnis, die bemüht ist, das ständige Gleichgewicht zwischen<br />

theoretischer Einsicht <strong>und</strong> praktischer Tätigkeit herzustellen, ist aber gezwungen, solche Sichtweisen<br />

in <strong>der</strong> Schwebe zu halten, sie von Mal zu Mal wie<strong>der</strong> zu hinterfragen <strong>und</strong> zu verflüssigen. 16<br />

Deutlich wird das beispielsweise an <strong>der</strong> Bereitschaft des Sokrates, sich wagemutig auf beliebige<br />

neue Gesprächspartner einzulassen, aber auch an Wittgensteins Ringen mit Erkenntnisfragen, das<br />

sich in fortwährend sich entwickelnden <strong>und</strong> sich wandelnden Tagebucheintragungen nie<strong>der</strong>geschlagen<br />

hat. Am 15. November 1914 bringt Wittgenstein dieses Prinzip selbst auf den Punkt, wenn<br />

er notiert: »Nur sich nicht um das kümmern, was man einmal geschrieben hat! Nur immer von<br />

frischem anfangen zu denken, als ob noch gar nichts geschehen wäre!« 17 Es ist sicher kein Zufall,<br />

dass gerade die ernsthaften Philosophen keine wissenschaftlichen, son<strong>der</strong>n offenere Darstellungsformen<br />

wie den philosophischen Dialog o<strong>der</strong> das philosophische Tagebuch gewählt haben.<br />

Wichtig ist allerdings die Haltung <strong>der</strong> Erkennenden – sie darf nicht von unverbindlicher Beliebigkeit<br />

geprägt sein. Im Falle <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nden bedeutet das, dass sie die Geliebte nicht auf <strong>der</strong> Basis<br />

<strong>der</strong> eigenen Wünsche betrachten darf, son<strong>der</strong>n sich um Objektivität bemühen muss. Die <strong>Liebe</strong>nde,<br />

13<br />

Proust, Marcel: Im Schatten junger Mädchenblüte. In: <strong>Der</strong>s.: Auf <strong>der</strong> Suche nach <strong>der</strong> verlorenen Zeit. Bd. 2. Frankfurt a.<br />

M. 1979. S. 645.<br />

14<br />

Finkielkraut, Alain: Die Weisheit <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>. Reinbek b. Hamburg 1989. S. 59/60.<br />

15<br />

Zum Erkenntniswert <strong>der</strong> Kunst vgl. z. B. Gabriel, Gottfried: Logik <strong>und</strong> Rhetorik <strong>der</strong> Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher<br />

<strong>und</strong> ästhetischer Weltauffassung. Pa<strong>der</strong>born 1997.<br />

16<br />

Vgl. dazu K. <strong>Buchholz</strong>, 1999, a. a. O., S. 77/78.<br />

17<br />

Wittgenstein, Ludwig: Tagebücher 1914-1916. In: <strong>Der</strong>s.: Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1984. S. 120.<br />

6


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die sich im Antlitz ihres Gegenübers verliert, weil sie darin nur nach Zeichen <strong>der</strong> Bestätigung o<strong>der</strong><br />

Zurückweisung ihres eigenen <strong>Liebe</strong>swunsches sucht, ist von einer Erkenntnis <strong>der</strong> Geliebten tatsächlich<br />

Lichtjahre weit entfernt.<br />

6. Blinde <strong>und</strong> <strong>sehende</strong> <strong>Liebe</strong><br />

Die beiden unterschiedlichen Betrachtungsweisen, die die <strong>Liebe</strong>nde gegenüber dem Objekt ihrer<br />

<strong>Liebe</strong> praktizieren kann, haben innerhalb unserer Kultur in den Figuren des <strong>blinde</strong>n <strong>und</strong> des <strong>sehende</strong>n<br />

<strong>Amor</strong> Gestalt angenommen. Die Frage ist also nicht, ob jede <strong>Liebe</strong>nde einen privilegierten<br />

Erkenntniszugang zu ihrem Geliebten besitzt, son<strong>der</strong>n ob eine <strong>Liebe</strong>nde in <strong>der</strong> Lage ist, den Geliebten<br />

im Sinne <strong>der</strong> <strong>sehende</strong>n <strong>Liebe</strong> zu erfassen <strong>und</strong> den Gefahren <strong>der</strong> <strong>blinde</strong>n <strong>Liebe</strong> zu wi<strong>der</strong>stehen.<br />

Wenn dies gelingen soll, muss die <strong>Liebe</strong>nde nach Ansicht Erich Fromms den eigenen Narzissmus<br />

überwinden. Genauso wie die allgemeinen Voraussetzungen einer jeden Kunst – Disziplin,<br />

Konzentration <strong>und</strong> Geduld – lasse sich auch diese Fähigkeit lernen. Wichtig dabei sei allerdings,<br />

dass man seinen Narzissmus nicht nur bezogen auf den Geliebten bezwinge: »Ich kann meiner<br />

Familie gegenüber nicht wirklich objektiv sein, wenn ich es dem Fremden gegenüber nicht sein<br />

kann, <strong>und</strong> umgekehrt. Wenn ich die Kunst des <strong>Liebe</strong>ns lernen will, muß ich mich in je<strong>der</strong> Situation<br />

um Objektivität bemühen <strong>und</strong> ein Gespür für solche Situationen bekommen, in denen ich nicht<br />

objektiv bin. Ich muß versuchen, den Unterschied zu erkennen zwischen dem narzißtisch entstellten<br />

Bild, das ich mir von einem Menschen <strong>und</strong> seinem Verhalten mache, <strong>und</strong> dem wirklichen Menschen,<br />

wie er unabhängig von meinen Interessen, Bedürfnissen <strong>und</strong> Ängsten existiert. Wenn man<br />

sich die Fähigkeit zu Objektivität <strong>und</strong> Vernunft erworben hat, hat man den Weg zur Kunst des <strong>Liebe</strong>ns<br />

schon halb zurückgelegt, aber man muß diese Fähigkeit gegenüber allen Menschen besitzen,<br />

mit denen man in Kontakt kommt. Wenn jemand seine Objektivität nur für den geliebten Menschen<br />

reservieren wollte <strong>und</strong> meint, er könne in seinen Beziehungen zur übrigen Welt darauf verzichten,<br />

dann wird er bald merken, daß er hier wie dort versagt.« 18 Um das so umrissene Ziel zu erreichen,<br />

müsse die <strong>Liebe</strong>nde Vernunft, Demut, Glauben <strong>und</strong> Mut ausbilden. Diese For<strong>der</strong>ung Fromms an<br />

die <strong>Liebe</strong>nde ist unmittelbar einleuchtend: Wenn sie ihren Narzissmus überwinden will, darf sie<br />

sich nicht von voreingenommenen Einflüsterungen beeinflussen lassen, son<strong>der</strong>n muss auf die<br />

Urteile hören, die ihrer eigenen Vernunft entspringen. Ihre Urteile über ›richtig‹ <strong>und</strong> ›falsch‹ o<strong>der</strong><br />

›gut‹ <strong>und</strong> ›schlecht‹ darf sie nicht davon abhängig machen, was für sie selbst das Angenehmste,<br />

Einfachste, Gewinnbringendste <strong>und</strong> Bequemste wäre. Im Gegenteil: Sie muss wie Sokrates auf ihr<br />

Daimonion hören 19 , muss dem zu Beurteilenden mit Demut begegnen <strong>und</strong> darf sich nicht von <strong>der</strong><br />

eigenen Eitelkeit zu Ungerechtigkeiten verführen lassen. Natürlich bedarf es dazu des Glaubens an<br />

18<br />

E. Fromm, a. a. O., S. 132/133.<br />

7


© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

die eigene Unvoreingenommenheit, an das tatsächliche o<strong>der</strong> potenzielle Wohlwollen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

<strong>und</strong> an die Kraft <strong>der</strong> eigenen <strong>Liebe</strong>. Ebenso selbstverständlich ist, dass es auch nicht ohne Mut<br />

abgehen kann, denn oft lassen sich errungene Einsichten nur um den Preis, sich lächerlich zu<br />

machen o<strong>der</strong> das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, den Mitmenschen näherbringen – Spinoza<br />

wurde für seine Ansichten exkommuniziert, Giordano Bruno starb für sie auf dem Scheiterhaufen,<br />

<strong>und</strong> Sokrates musste ihretwegen den Schierlingsbecher trinken.<br />

7. <strong>Liebe</strong> <strong>und</strong> Selbstkultivierung<br />

Was bedeutet das für das Projekt einer philosophischen Selbstkultivierung <strong>und</strong> für das Verhältnis<br />

von Selbstkultivierung <strong>und</strong> <strong>Liebe</strong>? Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> schon einmal, wie man sagt, ›über beide Ohren‹ verliebt<br />

war, kennt die Erfahrung <strong>der</strong> bedingungslosen Hingabe an ein an<strong>der</strong>es Individuum. <strong>Liebe</strong><br />

bewegt den Menschen dazu, das geliebte Gegenüber in allen Einzelheiten zu erfassen. Sie ist geradezu<br />

detailversessen. <strong>Der</strong> <strong>Liebe</strong>nde nimmt zwar auch die Gesamterscheinung des Geliebten wahr,<br />

also seine spezifische Aura; vornehmlich versenkt er sich aber in Details. Zu den Körperpartien,<br />

die er mit beson<strong>der</strong>er Aufmerksamkeit bedenkt, gehören die Hände, die Lippen, die Ohrläppchen<br />

<strong>und</strong> die Augen des Geliebten. Immer wie<strong>der</strong> betrachtet er sie <strong>und</strong> berauscht sich an ihnen. Trotz<br />

einer solchen Detailversessenheit verläuft liebendes Wahrnehmen alles an<strong>der</strong>e als kühl <strong>und</strong> berechnend,<br />

denn <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nde betrachtet nicht wertfrei. Alle ästhetischen Erk<strong>und</strong>ungs- <strong>und</strong> Entdeckungsreisen<br />

am Leib des an<strong>der</strong>en werden von einem begeisterten Gefühl <strong>der</strong> Bejahung begleitet<br />

– nichts ist hässlich o<strong>der</strong> abstoßend, alles anziehend <strong>und</strong> hinreißend. Die Tatsache, dass sich liebende<br />

Wahrnehmung nicht auf die klar geglie<strong>der</strong>te optische Erscheinung des Geliebten beschränkt,<br />

son<strong>der</strong>n dass oft gerade dessen schwer zu greifenden Eigenschaften wie sein Geruch<br />

o<strong>der</strong> seine Stimme den <strong>Liebe</strong>nden mit beson<strong>der</strong>er Gewalt in ihren Bann ziehen, unterstreicht diesen<br />

Bef<strong>und</strong>. Durch die hier umrissenen Wirkungen schenkt die <strong>Liebe</strong> dem Menschen eine wesentliche<br />

Voraussetzung für die Verwirklichung eines philosophischen Lebens: die bejahende Begeisterung<br />

für ein fremdes Objekt. So gesehen, ist <strong>Liebe</strong> ein wichtiges Element einer jeden ernst zu<br />

nehmenden Form philosophischer Selbstkultivierung. Egal, ob es um die Verfeinerung des eigenen<br />

Wahrnehmungsvermögens, um das Einüben in Solidarität o<strong>der</strong> um den sorgsamen Umgang mit<br />

dem eigenen Leib geht – ohne die bejahende Begeisterung <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> wird man in solchen Bemühungen<br />

nur schwerlich Fortschritte erzielen. Ein zweites notwendiges Element, das kritische Beurteilungsvermögen,<br />

wohnt <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong> dagegen nicht automatisch inne. Insbeson<strong>der</strong>e an <strong>der</strong> Beurteilung<br />

<strong>der</strong> Handlungen <strong>und</strong> Äußerungen des Geliebten wird das offensichtlich. Ein <strong>Liebe</strong>n<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

alle Aktivitäten des Geliebten – seien sie auch noch so dumm, brutal <strong>und</strong> unverschämt – blind be-<br />

19<br />

Vgl. Apol. 31c-32a.<br />

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© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

w<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> mit begeistertem Applaus begleitet, verrennt sich leicht in einen Pakt mit dem Teufel,<br />

denn das solcherart funktionierende ›<strong>Liebe</strong>s‹-Paar manövriert sich in eine Isolation à deux. Am<br />

Ende hat die unkritische Beurteilung des Geliebten diesem mehr geschadet als genutzt. Es ist also<br />

um <strong>der</strong> fruchtbaren Entwicklung des Geliebten willen notwendig, dass <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nde dessen Zukunft<br />

mit im Blick hat <strong>und</strong> dass er dessen Verhaltensweisen auf ihre Angemessenheit hin befragt<br />

<strong>und</strong> kritisiert. Heidegger spricht an dieser Stelle sehr anschaulich von <strong>der</strong> ›vorspringendbefreienden<br />

Fürsorge‹, die er zu Recht von <strong>der</strong> ›einspringend-beherrschenden‹ Form <strong>der</strong> Fürsorge<br />

abgrenzt. 20 Die <strong>Liebe</strong> ist also ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist sie Gr<strong>und</strong>voraussetzung<br />

für jegliche Form <strong>der</strong> Selbstkultivierung, an<strong>der</strong>erseits bedarf das Verliebtsein, das einem ohne<br />

eigenes Zutun wi<strong>der</strong>fährt, aber auch selbst <strong>der</strong> kultivierenden Vervollkommnung – nämlich insofern<br />

<strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>nde lernen muss, den Geliebten trotz aller bedingungslosen Zustimmung nüchtern<br />

<strong>und</strong> kritisch zu beurteilen. Nur diese Form <strong>der</strong> <strong>Liebe</strong>, die <strong>sehende</strong> <strong>Liebe</strong>, ist echte <strong>Liebe</strong>, aber sie<br />

kann geradezu als Paradigma philosophischer Erkenntnis gelten.<br />

20<br />

Vgl. Heidegger, Martin: Sein <strong>und</strong> Zeit. Tübingen 15 1979. § 26, S. 122.<br />

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© <strong>Kai</strong> <strong>Buchholz</strong>, 2007<br />

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Erschienen in: Praxis <strong>der</strong> Philosophie – Gernot Böhme zum 70. Geburtstag (= 3. Jahrbuch für<br />

Lebensphilosophie). Hg. D. Croome, U. Gahlings, R. J. Kozljanič. München 2007.<br />

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