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Integrierte Versorgung aus Angehörigensicht - Krisenpension

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Fachbereich<br />

Erziehungswissenschaften und Psychologie<br />

Diplomstudiengang Psychologie<br />

Diplomarbeit<br />

<strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> <strong>aus</strong> <strong>Angehörigensicht</strong><br />

Anna Kroll<br />

Betreuerin: Dr. Jeannette Bischkopf<br />

Erstgutachterin: Prof. Dr. Anna Auckenthaler<br />

Zweitgutachter: Prof. Dr. Dieter Kleiber<br />

16.04.2012


Eidesstattliche Erklärung<br />

Ich erkläre an Eides Statt, dass ich diese Diplomarbeit selbständig und ohne fremde Hilfe<br />

verfasst, andere als die angegebenen Quellen nicht benutzt und die den benutzten Quellen<br />

wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Mir ist<br />

bekannt: Bei Verwendung von Inhalten <strong>aus</strong> dem Internet habe ich dies zu kennzeichnen<br />

und mit Datum sowie der Internet-Adresse (URL) ins Literaturverzeichnis aufzunehmen.<br />

Diese Arbeit hat keiner anderen Prüfungsbehörde vorgelegen.<br />

Ich bin mit der Einsichtnahme im Universitätsarchiv der FU und <strong>aus</strong>zugsweiser Kopie<br />

einverstanden. Alle übrigen Rechte behalte ich mir vor. Zitate sind nur mit vollständigen<br />

bibliographischen Angaben und dem Vermerk "unveröffentlichtes Manuskript einer<br />

Diplomarbeit" zulässig.<br />

Anna Kroll<br />

Berlin, den 16.04.2012


„Es gibt einen Weg, den ein Mensch geht und irgendwann ist eine Lücke in diesem Weg und<br />

dann gibt es eben Organisationen, die helfen mit einer Brücke über diesen Weg zu gehen und<br />

dann durch die Tür und dass es eben weiter geht, dass man nicht im Nirgendwo landet.“<br />

(Herr A., 258-261)


Danksagung<br />

An erster Stelle möchte ich mich bei den sechs Menschen bedanken, die mir im Rahmen<br />

der Interviews Einblicke in ihre Erfahrungen und Gedanken geschenkt haben.<br />

Ich bedanke mich außerdem bei Frau Dr. Jeannette Bischkopf für ihre verlässliche<br />

Ansprechbarkeit und ihren Optimismus sowie bei Frau Prof. Dr. Anna Auckenthaler und<br />

dem dazugehörigen DiplomandInnen-Kolloquium für die konstante fachliche Begleitung.<br />

Anna-Maria, danke, dass du all die Licht- und Schattenseiten der Diplomarbeitszeit mit mir<br />

geteilt hast. Es wäre nicht dasselbe gewesen.


Zusammenfassung<br />

In der vorliegenden Diplomarbeit wurde untersucht, wie Angehörige den Vertrag zur<br />

<strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong> NetzWerk psychische Gesundheit (NWpG) in Berlin beurteilen.<br />

Ziel der Untersuchung war es, einen Beitrag zur qualitativen Auswertung der<br />

gemeindepsychiatrisch umgesetzten <strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong> im Allgemeinen und des<br />

NWpG im Speziellen zu leisten und dabei Erkenntnisse zur Angehörigenperspektive und<br />

zur Angehörigenbeteiligung im Evaluationsprozess zu gewinnen. Sechs problemzentrierte<br />

Interviews mit Angehörigen wurden mit der qualitativen Inhaltsanalyse im Hinblick auf<br />

Erfahrungen mit dem <strong>Versorgung</strong>sangebot <strong>aus</strong>gewertet. Das Urteil der Angehörigen über<br />

das NWpG fiel sehr positiv <strong>aus</strong>: Sie benannten positive Veränderungen sowie hilfreiche<br />

Konzepte und zogen das NWpG als Vorbild für eine Idealversorgung heran. Aus<br />

identifizierten Hindernissen ließen sich Vor<strong>aus</strong>setzungen für die erfolgreiche Teilnahme am<br />

NWpG ableiten. Als Beitrag zur Angehörigenforschung wurde bestätigt, dass sich<br />

Angehörigenbeteiligung im Evaluationsprozess lohnt und mehr genutzt werden sollte. Für<br />

die <strong>Versorgung</strong>sforschung ergab sich die Konsequenz, dass gemeindepsychiatrisch<br />

umgesetzte <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> <strong>aus</strong>gebaut und in die Regelversorgung implementiert<br />

werden sollte.<br />

Schlagwörter: <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> – Angehörige – Gemeindepsychiatrie


Abstract<br />

This degree thesis investigated how caregivers evaluate the integrated health care contract<br />

NetzWerk psychische Gesundheit (network mental health, NWpG) in Berlin. The aim of<br />

this study was to contribute to the qualitative evaluation of integrated health care as<br />

delivered, in the instance, by the NWpG programme with a focus on the aspects of<br />

community mental health service employed within this scheme and thereby gain insight<br />

into the caregivers' perspective and into caregivers' participation in the evaluation process.<br />

Six problem-centered interviews with caregivers were analyzed with the qualitative content<br />

analysis in terms of their experience with the care programme. The judgment of the<br />

caregivers of the NWpG was very positive: They cited positive changes as well as helpful<br />

concepts and used the NWpG approach as a role model for an ideal mental health care<br />

system. Requirements for a successful participation in the NWpG were derived from<br />

identified barriers to successful delivery of care. As a result of caregivers' research it was<br />

confirmed that caregivers' participation in the evaluation is worthwhile and should be<br />

employed more. As a consequence for the health service research it was found that the<br />

community mental health approach of integrated health care should be expanded and<br />

implemented in the standard health care system.<br />

key words: integrated health care - caregivers - community mental health care


Inhaltsverzeichnis<br />

Zusammenfassung...........................................................................................5<br />

Abstract............................................................................................................6<br />

1 Einleitung......................................................................................................9<br />

2 Theoretische Hinführung...........................................................................11<br />

2.1 <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong>............................................................................................11<br />

2.1.1 Ziele...................................................................................................................12<br />

2.1.2 Gesetzliche Grundlage.......................................................................................13<br />

2.1.3 Ausgestaltungsmöglichkeiten............................................................................14<br />

2.1.4 Kritikpunkte.......................................................................................................15<br />

2.2 Konzepte der Sozialen Psychiatrie.........................................................................16<br />

2.2.1 Empowerment....................................................................................................16<br />

2.2.2 Recovery............................................................................................................19<br />

2.2.3 Soteria................................................................................................................22<br />

2.2.4 Home Treatment.................................................................................................25<br />

2.2.5 Bedürfnisangepasste Behandlung......................................................................26<br />

2.2.6 Offener Dialog im Netzwerk..............................................................................27<br />

2.2.7 Trialog................................................................................................................29<br />

2.2.8 Zusammenfassung: Konzepte der Sozialen Psychiatrie im Zusammenhang.....30<br />

2.3 Angehörige psychisch erkrankter Menschen........................................................31<br />

2.3.1 Entstehung der Angehörigenbewegung: „Vom Sündenbock zum Partner“.......32<br />

2.3.2 Angehörigenbeteiligung.....................................................................................33<br />

2.3.3 Angehörigenforschung.......................................................................................35<br />

2.3.4 Fazit: Die Bedeutung Angehöriger in der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong>.............36<br />

3 Fragestellung...............................................................................................37<br />

3.1 Entstehungskontext.................................................................................................37<br />

3.2 Ableitung der eigenen Fragestellung......................................................................38<br />

3.3 Das NetzWerk psychische Gesundheit als Beispiel <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong>.....39<br />

4 Methodik.....................................................................................................40<br />

4.1 Begründung des qualitativen Forschungsansatzes...............................................40<br />

4.2 Zugang zum Feld.....................................................................................................41<br />

4.2.1 Samplingstrategie...............................................................................................41<br />

4.2.2 Sample................................................................................................................42<br />

4.3 Methoden der Datenerhebung................................................................................44<br />

4.3.1 Das problemzentrierte Interview........................................................................44<br />

4.3.2 Konstruktion des Interviewleitfadens................................................................46<br />

4.3.3 Durchführung der Interviews.............................................................................47<br />

4.4 Methoden der Daten<strong>aus</strong>wertung............................................................................48<br />

4.4.1 Transkription......................................................................................................48<br />

4.4.2 Die Qualitative Inhaltsanalyse...........................................................................49<br />

4.5 Gütekriterien qualitativer Forschung....................................................................51<br />

4.5.1 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit..................................................................51<br />

4.5.2 Indikation der Methoden....................................................................................52


5 Ergebnisse...................................................................................................53<br />

5.1 K1 Veränderungen...................................................................................................54<br />

5.1.1 Langfristigkeit, Teilerfolge, Prozesscharakter...................................................55<br />

5.1.2 Veränderungen bei Betroffenen.........................................................................57<br />

5.1.3 Veränderungen bei Angehörigen........................................................................62<br />

5.1.4 Veränderungen in der Betroffenen-Angehörigen-Beziehung............................65<br />

5.2 K2 Hindernisse.........................................................................................................66<br />

5.2.1 Drei Haupthindernisse.......................................................................................67<br />

5.2.2 Weitere Hindernisse...........................................................................................69<br />

5.3 K3 Hilfreiche Konzepte...........................................................................................71<br />

5.3.1 Grundlegende Haltungen...................................................................................72<br />

5.3.2 Arbeitsweisen.....................................................................................................74<br />

5.3.3 Vermittlung der Grundhaltungen und Arbeitsweisen.........................................77<br />

5.4 K4 Idealversorgung.................................................................................................80<br />

5.4.1 Gesellschaftliche Ebene.....................................................................................80<br />

5.4.2 Allgemeine <strong>Versorgung</strong>......................................................................................81<br />

5.4.3 NetzWerk psychische Gesundheit......................................................................84<br />

5.5 Ergebnisübersicht....................................................................................................85<br />

6 Diskussion....................................................................................................87<br />

6.1 Diskussion inhaltlicher Aspekte..............................................................................87<br />

6.2 Diskussion methodischer Aspekte..........................................................................94<br />

6.3 Fazit...........................................................................................................................96<br />

Literaturverzeichnis......................................................................................98<br />

Tabellenverzeichnis.....................................................................................109<br />

Abbildungsverzeichnis................................................................................110<br />

Anhang..........................................................................................................111


1 Einleitung<br />

1 Einleitung<br />

In der Agenda 2020 zur Weiterentwicklung der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> fordern<br />

Angehörige psychisch Kranker eine Behandlung „wie <strong>aus</strong> einer Hand“ (BApK 1 , 2010, S.<br />

8) mit aufeinander abgestimmten Komponenten und demselben Ziel. Dafür halten sie die<br />

„optimierte Vernetzung von ambulanten und stationären Angeboten unter der<br />

Berücksichtigung des Prinzips ambulant vor stationär“ (BApK, 2010, S. 8) für nötig. Ein<br />

erster großer Schritt zur Umsetzung dieser Forderung wurde mit der gesetzlichen<br />

Einführung der <strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong> (IV) getan. Die IV eröffnet endlich die<br />

Möglichkeit, lange geforderte Reformen der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong>sstruktur<br />

umzusetzen und die <strong>Versorgung</strong> psychisch erkrankter Menschen zu verbessern. Bereits im<br />

Jahre 1975 wies die Psychiatrie-Enquete auf Missstände hin und betonte die<br />

Notwendigkeit von Veränderungen hin zu mehr Gleichstellung, Gemeindenähe,<br />

Dezentralisierung und Enthospitalisierung der LangzeitpatientInnen durch Schaffung<br />

ambulanter komplementärer Angebote (Pörksen, 2001). Trotzdem blieb die starre<br />

Säulenstruktur von stationärem und ambulantem Sektor erhalten. Die IV will diese<br />

Trennung der <strong>Versorgung</strong>slandschaft überwinden und die einzelnen Elemente integrieren.<br />

Dabei bietet sie unterschiedliche konzeptuelle Umsetzungsmöglichkeiten: Behandlungsqualität<br />

und Kosteneffektivität sind <strong>aus</strong>schlaggebend, so dass klassisch psychiatrische<br />

Ansätze nicht präferiert werden, sondern auch alternative <strong>Versorgung</strong>sformen<br />

gleichberechtigt berücksichtigt werden. Darin liegt eine große Chance für gemeindepsychiatrische<br />

Träger sozialpsychiatrische Konzepte wie bedürfnisangepasste Behandlung,<br />

Home Treatment, Recovery, Empowerment, Trialog oder Soteria zu realisieren und zu<br />

einem „ernsthaften Mitgestalter“ (Faulbaum-Decke & Zechert, 2010, S. 13) in der<br />

ambulanten psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> zu werden.<br />

Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich am Beispiel des IV-Vertrages NetzWerk<br />

psychische Gesundheit (NWpG) in Berlin mit der gemeindepsychiatrisch orientierten<br />

Umsetzung <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong>. Angehörige von TeilnehmerInnen am IV-Vertrag<br />

NWpG wurden dazu interviewt, wie sie das NWpG beurteilen. Dadurch sollen<br />

Erkenntnisse zu Nutzen und Einschätzung des <strong>Versorgung</strong>sangebots NWpG im Speziellen<br />

und <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong> im Allgemeinen gewonnen werden. Angehörige psychisch<br />

erkrankter Menschen sind als „bedeutsamer Teil des Hilfssystems und [...] größte<br />

1 Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e.V.<br />

9


1 Einleitung<br />

Ressource für die Verbesserung der Situation psychiatrie-erfahrener Menschen“ (BeB &<br />

CBP 2 , 2009, S. 82) eine hervorragende Quelle für eine solche Rückmeldung und sollten in<br />

jedem evaluativen Vorhaben einbezogen werden (Schmid, Spießl, Vukovich & Cording,<br />

2003). Die Untersuchung versteht sich somit gleichzeitig als Beitrag zur<br />

<strong>Versorgung</strong>sforschung und zur Angehörigenforschung.<br />

Die Arbeit besteht insgesamt <strong>aus</strong> sechs Kapiteln. In der im nächsten Kapitel folgenden<br />

theoretischen Hinführung (Kapitel 2) werden die für das Verständnis dieser Arbeit<br />

notwendigen theoretischen Konzepte dargestellt. Diese theoretische Grundlage der Arbeit<br />

bilden die drei thematischen Blöcke <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong>, Konzepte der Sozialen<br />

Psychiatrie und Angehörige psychisch erkrankter Menschen. In Kapitel 3 wird die<br />

Entstehung der Fragestellung „Wie beurteilen Angehörige das NetzWerk psychische<br />

Gesundheit?“ erläutert und das NWpG vorgestellt. Das Kapitel 4 beschäftigt sich mit der<br />

Konzeption der in dieser Diplomarbeit durchgeführten Untersuchung und der dafür<br />

<strong>aus</strong>gewählten Methodik. Um die Forschungsfrage zu beantworten, wurde ein qualitativer<br />

Forschungsansatz gewählt. Dabei wurden die Daten mit dem problemzentrierten Interview<br />

erhoben, für das ein Interviewleitfaden konstruierte wurde. Ausgewertet wurden die so<br />

gewonnenen verbalen Daten mit der qualitativen Inhaltsanalyse. In Kapitel 5 werden<br />

schließlich die Ergebnisse der empirischen Untersuchung präsentiert. Diese unterteilen sich<br />

in die vier Ergebniskategorien Veränderungen, Hindernisse, hilfreiche Konzepte und<br />

Idealversorgung, welche sich für das Forschungsinteresse als relevant erwiesen haben. Die<br />

Arbeit schließt mit der Diskussion in Kapitel 6 ab, in dem die Ergebnisse im Hinblick auf<br />

die Fragestellung interpretiert und bewertet werden.<br />

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, wie bestimmte Begriffe in dieser Arbeit<br />

verwendet werden: Wenn von Angehörigen die Rede ist, sind Angehörige psychisch<br />

erkrankter Menschen gemeint. Der Begriff Betroffene meint Menschen, die psychisch<br />

erkrankt sind bzw. sich in einer psychischen Krise befinden. Weiterhin sei angemerkt, dass<br />

sich <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> zwar auf das gesamte Gesundheitssystem beziehen kann, sich<br />

diese Arbeit jedoch auf die IV in der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> beschränkt.<br />

2 Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e. V. & Charitas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V.<br />

10


2 Theoretische Hinführung<br />

2 Theoretische Hinführung<br />

Das Kapitel 2 bildet die theoretische Einbettung für die empirische Untersuchung der<br />

vorliegenden Arbeit. Dieser theoretische Hintergrund setzt sich <strong>aus</strong> drei großen<br />

Themenblöcken zusammen: Die <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> (2.1) gibt den gesetzlichen<br />

Rahmen zur Schaffung neuer <strong>Versorgung</strong>sstrukturen vor, lässt bei der inhaltlichen<br />

Gestaltung der IV-Verträge aber viel Freiraum zu. Die für den untersuchten IV-Vertrag<br />

NWpG relevanten inhaltlichen Konzepte werden in Kapitel 2.2 (Konzepte der Sozialen<br />

Psychiatrie) vorgestellt. In Kapitel 2.3 geht es um Angehörige psychisch erkrankter<br />

Menschen, <strong>aus</strong> deren Perspektive das NWpG in der Untersuchung beurteilt wird.<br />

2.1 <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong><br />

Der Begriff der <strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong> (IV) zeichnet sich durch eine Reihe von<br />

unterschiedlichen Aspekten <strong>aus</strong>. Eine erste Orientierung zum Verständnis vermittelt die<br />

folgende Definition:<br />

„Definiert wird ,Integration' als die [Wieder]herstellung einer Einheit [<strong>aus</strong> Differenziertem].<br />

<strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong>sstrukturen bedeuten somit eine ganzheitliche Sichtweise der Leistungserbringung<br />

im Gesundheitswesen, die im Idealfall alle Etappen einer Patientenbehandlung über<br />

verschiedene Sektoren hinweg berücksichtigt.“ (Güssow, Schumann, Braun, Hildebrandt &<br />

Stüve, 2008, S. 3)<br />

Das Grundprinzip der IV besteht in der Forderung nach einer reformierten integrierten<br />

<strong>Versorgung</strong>sstruktur. Integriert meint dabei eine bessere Vernetzung und Koordination<br />

zwischen allen Leistungserbringern der <strong>Versorgung</strong>slandschaft. Diese wird im deutschen<br />

Gesundheitswesen stark erschwert, da rechtlich eine Trennung nach Sektoren vorgegeben<br />

ist, an denen sich auch die für die Finanzierung vorgesehenen Budgets orientieren (Rössler,<br />

2008).<br />

Nach dieser ersten Einordnung des Begriffs der <strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong>, soll zum<br />

vertiefenden Verständnis auf folgende weiterführenden Fragen eingegangen werden: Was<br />

sind die Ziele der IV und was ist deren Hintergrund (2.1.1)? Wie ist die IV gesetzlich<br />

verankert und wie viele IV-Verträge bestehen aktuell (2.1.2)? Welche Rahmenbedingungen<br />

werden vom Gesetzgeber festgelegt und welcher Freiraum wird bei der inhaltlichen<br />

Ausgestaltung gelassen (2.1.3)? Welche Aspekte der IV können kritisiert werden (2.1.4)?<br />

11


2 Theoretische Hinführung<br />

2.1.1 Ziele<br />

Die starre sektorale Trennung im deutschen Gesundheitssystem birgt vor allem für<br />

chronisch kranke Menschen Probleme in sich, da sie zwischen stationärem, ambulantem<br />

und Rehabilitationssektor hin und her wechseln (Fritze, 2005). Dabei findet meist wenig<br />

Abstimmung bzw. Kooperation über die Sektoren hinweg statt, wodurch “Zeit- und<br />

Reibungsverluste an den Übergängen, nicht optimale Behandlungsergebnisse, Doppelversorgung<br />

für die einen, Unterversorgung für die anderen Patienten und nicht zuletzt<br />

unnötige Kosten“ (DGP 3 , 2010, S. 1) entstehen. Aus diesen Problemen des Gesundheitswesens<br />

leiten sich die Ziele der <strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong> ab, für die im Jahre 2000 die erste<br />

gesetzliche Grundlage geschaffen wurde (s. Kap. 2.1.2): Eine flächendeckende<br />

sektorenübergreifende <strong>Versorgung</strong> wird als Hauptziel angestrebt, da sie das Potenzial hat,<br />

Behandlungsqualität zu verbessern und Kosten einzusparen (Fritze, 2005). Mit der<br />

Überwindung der starren Trennung zwischen ambulanten, stationären und weiteren<br />

Sektoren hin zur IV im Sinne einer Integration der einzelnen Sektoren können<br />

Qualitätsverluste der Behandlung an den Sektorübergängen verhindert werden (Zechert et<br />

al., 2010). Eine stärkere Vernetzung der Fachdisziplinen schafft sektorenübergreifende<br />

Kooperation und Kommunikation und ermöglicht so eine am Patienten statt am Sektor<br />

orientierte Behandlung (Kissling, 2008). Diese verspricht eine Verbesserung der<br />

Behandlungsqualität, da eine zielorientierte, gut abgestimmte kontinuierliche Behandlung<br />

mit Rückfallprävention erleichtert wird (Kissling, 2008; Treeck, Bergmann & Schneider,<br />

2008). Aufgrund ihres sektorenübergreifenden <strong>Versorgung</strong>sbedarfs sind vor allem<br />

Menschen mit chronisch rezidivierenden Erkrankungen auf die Verbesserung der<br />

Behandlungskontinuität angewiesen. Psychische Erkrankungen sind geradezu prädestiniert<br />

für die IV, da diese oft zur Chronifizierung oder Rezidiven neigen (Fritze, 2005). Die IV<br />

stellt individuelle, bedarfsgerechte „Behandlungs- und <strong>Versorgung</strong>spakete“ (DGP, 2010, S.<br />

3) zur Verfügung, die „dem multidimensionalen Charakter seelischer Erkrankungen besser<br />

gerecht werden“ (DGP, 2010, S. 3). Des Weiteren soll eine effektivere Sektorenvernetzung<br />

das Zurechtfinden im bisher zwar vielfältigen, aber unübersichtlichen und teils schlecht<br />

vernetzten psychosozialen <strong>Versorgung</strong>sangebot in Deutschland erleichtern (Treeck et al.,<br />

2008). Neben der Verbesserung der Behandlungsqualität ist die Reduktion der<br />

Gesundheitskosten ein wesentliches Ziel der IV und von Interesse für die Krankenkassen<br />

(Fritze, 2005; Kissling, 2008). Kosten lassen sich einsparen durch eine effizientere<br />

3 Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V.<br />

12


2 Theoretische Hinführung<br />

Behandlung, das Vermeiden von Doppeluntersuchungen oder durch den Ausbau der<br />

ambulanten <strong>Versorgung</strong> und das Verringern der stationären kostenintensiven <strong>Versorgung</strong><br />

(Fritze, 2005; Kissling, 2008). Ein weiteres Ziel der IV ist die Sicherstellung einer<br />

flächendeckenden <strong>Versorgung</strong> (Zechert et al., 2010). Kann die Vernetzung der Sektoren<br />

und mit ihr die sektorenübergreifende Kommunikation flächendeckend erhöht werden,<br />

würde so auch dem „Efficacy-Effectiveness-Gap“ (Kissling, 2008, S. 964) entgegen<br />

gewirkt werden. Dieser beschreibt das Phänomen, dass die allgemeine Behandlungsqualität<br />

schlechter als nötig ist, da es ungefähr 10 Jahre dauert, bis sich die neusten Erkenntnisse<br />

flächendeckend umgesetzt haben (Kissling, 2008). Wichtig zu bemerken ist, dass das<br />

Konzept der IV, bezogen auf den psychiatrischen Bereich, kein grundsätzlich neues ist. Die<br />

Wurzeln der IV liegen bereits in den 70er Jahren, als im Zusammenhang mit der<br />

Psychiatrie-Enquete Forderungen nach einer Reform des Gesundheitssystems in<br />

Deutschland aufkamen, die sich in den Zielen der IV wiederfinden lassen (Rössler, 2008;<br />

Zechert et al., 2010). Als Bilanz lässt sich demnach feststellen, dass 30 Jahre vergangen<br />

sind, bis es zu einer ersten tatsächlichen strukturellen Veränderung kam.<br />

2.1.2 Gesetzliche Grundlage<br />

Mit der Einführung des Gesundheitsreformgesetzes im Jahre 2000 wurde erstmals eine<br />

gesetzliche Grundlage für die Umsetzung <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong> im Sozialgesetzbuch V<br />

gelegt (Kunze & Priebe, 2006; Treeck et al., 2008). Es wurde jedoch kaum Gebrauch von<br />

der gesetzlichen Möglichkeit gemacht, IV-Verträge abzuschließen (Zechert et al., 2010).<br />

Dies ist vermutlich der Komplexität der gesetzlichen Vorgaben geschuldet oder aber auch<br />

dem Bedenken der Akteure, die ökonomische Verantwortung neu zu verteilen (Fritze,<br />

2005; Kunze & Priebe, 2006). Richtig in Schwung kamen die IV-Vertragsabschlüsse erst<br />

mit dem GKV-Modernisierungsgesetz 2004, das diese neu regelte (SGB V §§ 140a - d).<br />

Das Verfahren wurde entbürokratisiert und die einzelnen Krankenkassen erhielten<br />

gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung mehr Eigenständigkeit beim Vertragsabschluss,<br />

indem deren Zustimmungspflicht aufgehoben wurde (Fritze, 2005; Kunze &<br />

Priebe, 2006; Zechert et al., 2010). Hinzu kam ein finanzieller Anreiz in Form einer<br />

Anschubfinanzierung, deren Höhe allein für den psychiatrischen <strong>Versorgung</strong>sbereich ca.<br />

210 Mio. € betrug. Ursprünglich war die Anschubfinanzierung bis auf Ende 2006 begrenzt,<br />

wurde dann aber noch bis Ende 2008 verlängert (Kissling, 2008). Allerdings werden diese<br />

Gelder nicht zusätzlich vergeben, sondern stammen <strong>aus</strong> dem Gesamtbudget des<br />

Gesundheitswesens (Hambrecht, 2004). Es handelt sich dabei um eine Umverteilung von<br />

13


2 Theoretische Hinführung<br />

1% der Gesamtvergütung ambulanter und stationärer Leistungen. Das heißt, dass eine<br />

Situation geschaffen wurde, bei der Kliniken und niedergelassene Ärzte mit den neu<br />

entstehenden <strong>Versorgung</strong>smodellen um Gelder konkurrieren (Hambrecht, 2004). Die<br />

Finanzmittel für die IV werden nämlich <strong>aus</strong> den Budgets aller Krankenhäuser und<br />

niedergelassener Ärzte abgezogen und danach an erfolgreiche Antragsteller <strong>aus</strong>gezahlt<br />

(Kissling, 2008). Ein weiterer Aspekt, den die IV mit sich bringt, ist eine Art Kunden-<br />

Bindung an einen bestimmten IV-Vertrag und dem darin festgelegten Behandlungsangebot,<br />

der bzw. das von der jeweiligen Krankenkasse abhängt (Zechert et al., 2010). Das<br />

Einschreiben in einen IV-Vertrag ist aber lediglich ein Angebot der Krankenkassen und<br />

erfolgt freiwillig. Teilweise wird diese freiwillige Einschränkung der Anbieterwahl mit<br />

einem vergünstigten Versicherungstarif entlohnt (Zechert et al., 2010). Weitere<br />

Gesetzesänderungen traten im April 2007 mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz in<br />

Kraft, in dem das Ziel der flächendeckenden <strong>Versorgung</strong> und die Einbeziehung des<br />

Pflegesektors festgelegt wurden (Groth<strong>aus</strong>, 2009). Im Jahre 2011 wurde die Liste<br />

potenzieller Vertragspartner im SBG V erweitert, so dass seitdem auch Verträge mit<br />

pharmazeutischen Unternehmen zulässig sind (§ 140b Abs. 1 SGB V). Den aktuellsten<br />

Stand über registrierte IV-Verträge im deutschen Gesundheitssystem liefert die<br />

Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung GmbH (BQS) und beziffert diesen mit 6407<br />

Registrierungen bis Ende 2008 (Groth<strong>aus</strong>, 2009). Die Zahl der neu abgeschlossenen IV-<br />

Verträge sank darüber hin<strong>aus</strong> im Jahr 2008 um die Hälfte, was mit dem Auslaufen der<br />

Anschubfinanzierung zum Jahresende in Verbindung gebracht werden kann (Groth<strong>aus</strong>,<br />

2009). Eine Übersicht über 61 Verträge der IV im psychiatrischen Bereich (Stand 05/11),<br />

die nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, stellt die Deutsche Gesellschaft für<br />

Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN, 2011) zur Verfügung.<br />

2.1.3 Ausgestaltungsmöglichkeiten<br />

§ 140 SGB V lässt einen großen Spielraum bei der Ausgestaltung des konkreten<br />

<strong>Versorgung</strong>sangebotes. Prinzipiell kann alles darüber finanziert werden, was<br />

sektorenübergreifend oder fachübergreifend konzipiert ist und zu einer verbesserten<br />

Behandlungsqualität sowie zu einer mittelfristigen Kostensenkung führt (Kissling, 2008).<br />

Dadurch, dass die IV-Verträge frei <strong>aus</strong>gestaltet werden können, wird eine weitreichende<br />

Veränderung der bisherigen <strong>Versorgung</strong>slandschaft möglich (DGP, 2010). Die IV wird<br />

sogar für die erste realistische Möglichkeit seit der Psychiatrie-Enquete gehalten, neue<br />

<strong>Versorgung</strong>skonzepte in der Regelversorgung zu implementieren und diese auch<br />

14


2 Theoretische Hinführung<br />

finanzieren zu können (vgl. Kissling, 2008). Das große Gestaltungspotenzial der IV bietet<br />

besonders gemeindepsychiatrischen Trägern eine Chance, die ambulante psychiatrische<br />

<strong>Versorgung</strong> ernsthaft mitzugestalten und die bisherige klassische Arztzentrierung in der<br />

psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> zu überwinden (vgl. Zechert et al., 2010). Zusammenfassend<br />

lässt sich sagen, dass die IV eine neue Konkurrenzsituation geschaffen hat, die allen<br />

Behandlungskonzepten die Möglichkeit eröffnet, eine Rolle im <strong>Versorgung</strong>ssystem zu<br />

spielen, so lange Behandlungsqualität und Kosteneffektivität gegeben sind.<br />

2.1.4 Kritikpunkte<br />

Neben all den Chancen und dem positiven Wandel, den die <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong><br />

verspricht, gibt es aber auch kritisch zu betrachtende Aspekte. Ein Kritikpunkt ist der Stand<br />

der wissenschaftlichen Begleitevaluation. Eine fundierte wissenschaftliche Auswertung<br />

könnte u. a. die Kontroverse klären, welche gemeindepsychiatrischen Angebote im Zuge<br />

der IV als Alternative zur stationären Behandlung <strong>aus</strong>gebaut werden sollten (Weinmann &<br />

Gaebel, 2005). In Deutschland sind solche Evaluationen von innovativen <strong>Versorgung</strong>smodellen<br />

wie der IV aber nur unzureichend vorhanden. Dies zeigt insbesondere eine<br />

systematische Untersuchung von Metaanalysen und kontrollierten Studien zu<br />

gemeindepsychiatrischer <strong>Versorgung</strong> als Alternative zur stationären <strong>Versorgung</strong> bei<br />

schweren psychischen Erkrankungen (Weinmann & Gaebel, 2005). Als Ergebnis der<br />

Untersuchung ergab sich, dass in Deutschland strukturelle Vor<strong>aus</strong>setzungen für die<br />

Implementierung evidenzbasierter nicht-stationärer <strong>Versorgung</strong> fehlen. Daher können<br />

bisher nur Ergebnisse <strong>aus</strong> dem angloamerikanischen Sprachraum für Deutschland<br />

übernommen werden (Weinmann & Gaebel, 2005). Dies stellt ein Problem für die<br />

Nachweisbarkeit der Behandlungsqualität dar, die in der IV gefordert wird. Aus der<br />

erwähnten Analyse von <strong>Versorgung</strong>sstudien (Weinmann & Gaebel, 2005) konnten<br />

außerdem drei Erfolgsfaktoren her<strong>aus</strong>gearbeitet werden, die wichtig für eine integrierte<br />

psychiatrische <strong>Versorgung</strong> sind. Das ist 1) die Gewährleistung wissenschaftlich fundierter<br />

gemeindepsychiatrischer Behandlung durch verbindliche Kooperationsmodelle oder<br />

personelle und finanzielle Gesamtverantwortung, 2) H<strong>aus</strong>besuche und 3) multiprofessionelle<br />

Teams mit multiprofessionellen Kompetenzen. Das Problem einer fehlenden<br />

umfassenden Evaluation der IV-Projekte wird durch deren Heterogenität noch erschwert<br />

(Hambrecht, 2004). Dieser Umstand ist der gesetzlich unscharfen Definition der IV<br />

geschuldet: Es ist lediglich festgeschrieben, dass die <strong>Versorgung</strong>smodelle sektorübergreifend<br />

oder fachübergreifend konzipiert sein müssen (Kissling, 2008). Dadurch<br />

15


2 Theoretische Hinführung<br />

könne laut Hambrecht „alles mögliche“ (2004, S. 218) als IV verstanden werden und es<br />

bestehe die Gefahr, dass bereits bestehende Angebote zu IV-Projekten „aufgeblasen“<br />

(Hambrecht, 2004, S. 218) werden. Ein anderer kritisch zu betrachtender Aspekt ist die<br />

Finanzierung der IV. Da keine zusätzlichen Mittel für die IV bereit gestellt werden, geht<br />

die Finanzierung alternativer <strong>Versorgung</strong>smodelle zu Lasten der Regelversorgung. Dies<br />

einen solidarischen Wettbewerb zu nennen, stellt für Fritze (2005) einen Widerspruch an<br />

sich dar. In der bereits chronisch unterfinanzierten Krankenversorgung führe die finanzielle<br />

Umverteilung dazu, dass langfristig viele Leistungserbringer <strong>aus</strong> der <strong>Versorgung</strong>slandschaft<br />

<strong>aus</strong>scheiden. Problematisch sei außerdem, dass die Krankenkassen die zu<br />

fördernden IV-Projekte <strong>aus</strong>wählen, obwohl es keine festgelegten Kriterien für die<br />

Entscheidung über die Mittelvergabe gibt (Hambrecht, 2004). Dies führe zu neuen<br />

Abhängigkeiten von den gesetzlichen Krankenkassen, so dass Leistungserbringer guten<br />

Kontakt zu ihnen pflegen müssten.<br />

2.2 Konzepte der Sozialen Psychiatrie<br />

Dieser zweite Teil der theoretischen Hinführung stellt wesentliche Konzepte der Sozialen<br />

Psychiatrie vor, die in gemeindeorientierter <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong> umgesetzt werden.<br />

Zunächst werden die folgenden Konzepte im Einzelnen beschrieben: Empowerment<br />

(2.2.1), Recovery (2.2.2), Soteria (2.2.3), Home Treatment (2.2.4), bedürfnisangepasste<br />

Behandlung (2.2.5), Offener Dialog im Netzwerk (2.2.6) und der Trialog (2.2.7). Als<br />

Zusammenfassung und Abschluss des Kapitels werden <strong>aus</strong>gewählte Konzepte der Sozialen<br />

Psychiatrie im Zusammenhang (2.2.8) dargestellt.<br />

Anzumerken ist noch, dass Sozial- und Gemeindepsychiatrie in dieser Arbeit im Sinne von<br />

Haselmann (2010) als eine Einheit verstanden werden sollen. Beide Begriffe lassen sich<br />

unter dem Oberbegriff Soziale Psychiatrie (S. 232) zusammenfassen. Haselmann (2010)<br />

hält diese Zusammenfassung für sinnvoll, „insoweit sich die Gemeindepsychiatrie als<br />

Handlungs- und Organisationsprinzip für die Umsetzung sozialpsychiatrischen Ideenguts<br />

und der entsprechenden Grundhaltungen versteht“ (S. 232).<br />

2.2.1 Empowerment<br />

Empowerment ist ein zentrales Rahmenkonzept der Sozialen Psychiatrie (Haselmann,<br />

2008), das mit vielen weiteren Konzepten verflochten ist bzw. diese einbettet (s. Kap. 2.2.2<br />

Recovery). Kern des Empowerment-Konzepts ist die Stärkung von Selbstbestimmung und<br />

16


2 Theoretische Hinführung<br />

Eigenständigkeit Betroffener durch Aktivierung eigener Ressourcen (Haselmann, 2008).<br />

Damit stellt es, ähnlich wie Antonovskys Salutogenese-Konzept (1997), der weit<br />

verbreiteten defizitären Sichtweise eine ressourcenorientierte gegenüber. Statt Mängel<br />

werden Potenziale in betroffenen Menschen gesehen, die sich in einem fortwährenden<br />

Wachstumsprozess entfalten können. Außerdem werden bereits bestehende Fähigkeiten<br />

anerkannt und soweit möglich genutzt. Zum Empowerment-Begriff gibt es in der Literatur<br />

unterschiedliche Definitionen und Auslegungen, für diese Arbeit soll er im Sinne von<br />

Herringers (2006) Arbeitsdefinition verwendet werden:<br />

Der Begriff ,Empowerment' bedeutet Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von<br />

Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung. Empowerment beschreibt mutmachende<br />

Prozesse der Selbstbemächtigung, in denen Menschen in Situationen des Mangels, der<br />

Benachteiligung oder der gesellschaftlichen Ausgrenzung beginnen, ihre Angelegenheiten<br />

selbst in die Hand zu nehmen, in denen sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden, eigene<br />

Kräfte entwickeln und ihre individuellen und kollektiven Ressourcen zu einer selbstbestimmten<br />

Lebensführung nutzen lernen. Empowerment - auf eine kurze Formel gebracht - zielt auf die<br />

(Wieder) Herstellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags. (S. 20)<br />

Entstehung<br />

Hervorgegangen ist der Empowerment-Begriff ursprünglich <strong>aus</strong> der amerikanischen<br />

Emanzipationsbewegung der Frauen und der Befreiungsbewegung der Schwarzen, die sich<br />

im Kampf gegen Unterdrückung und Machtlosigkeit einsetzten (Knuf, 2005).<br />

Empowerment stellt als Ermächtigung das Gegenstück zu Machtlosigkeit dar. In den<br />

psychologischen Kontext fand das Empowerment im Zuge der amerikanischen Gemeindepsychologie<br />

Einzug. In diesem Zusammenhang prägte Rappaport (1984) den Begriff mit<br />

der folgenden Definition:<br />

„Empowerment is viewed as a process: the mechanism by which people, organizations, and<br />

communities gain mastery over their lives.“ (S. 2)<br />

Damit werden die drei Ebenen, auf die sich Empowerment beziehen kann, angesprochen.<br />

Neben der in der Literatur im Vordergrund stehenden individuellen Ebene, kann<br />

Empowerment auch auf institutioneller oder politischer Ebene stattfinden (Zimmerman,<br />

2000). Letztere basiert auf Partizipation, wie der Teilhabe an wichtigen politischen<br />

Entscheidungen. Selbsthilfeorganisationen sind ein Beispiel für die Umsetzung einer<br />

solchen Einflussnahme. Sie sind mittlerweile auch in Gremien psychiatrischer <strong>Versorgung</strong><br />

vertreten und können dort ihre Perspektive einbringen. Empowerment ist generell eine<br />

17


2 Theoretische Hinführung<br />

wichtige Größe in der Selbsthilfe-Bewegung (Knuf, 2005): Als Hilfe zur Selbsthilfe geht<br />

Selbsthilfe automatisch einher mit Empowerment.<br />

Grundlage des Empowermentkonzeptes im psychosozialen Bereich bilden sozialpsychologische<br />

Theorien zur Generalisierung von Kontrollerwartungen von Rotter und<br />

Seligman sowie der Selbstwirksamkeit durch soziales Lernen nach Bandura (Kilian, 2008).<br />

Das Konzept der erlernten Hilflosigkeit von Seligman steht Empowerment in besonderer<br />

Weise gegenüber: Während Seligman die Hilflosigkeit durch frühe Erfahrungen der<br />

Kontrolllosigkeit erklärt, steht im Empowermentkonzept die Wiedergewinnung von<br />

Kontrollerwartungen durch das Erleben von Kontrolle über das eigene Leben im<br />

Mittelpunkt. Diese Kontrollerfahrung kann durch Einflussnahme in Entscheidungsprozesse<br />

und Verantwortungsübernahme ermöglicht werden (Kilian, 2008).<br />

Empowerment in der psychosozialen Praxis<br />

Für den psychiatrischen Kontext bedeutet Empowerment vor allem eine Änderung der<br />

Professionellen-Betroffenen-Beziehung hin zu einer gleichberechtigten Begegnung, die<br />

„frei ist von expertendominierten normativen Vorgaben“ (Haselmann, 2008, S. 100) und<br />

stattdessen Betroffene als Experten in eigener Sache einbezieht. In der Behandlungssituation<br />

drückt sich dies durch Mitbestimmung der Betroffenen <strong>aus</strong>, zum Beispiel in Form<br />

eines gemeinsam erarbeiteten Behandlungsplanes. Empowerment beinhaltet laut Seibert<br />

(2000) immer eine Doppelperspektive, die der Betroffenen und die der Professionellen.<br />

Bewirken könne Empowerment nur der Betroffene selbst, Professionelle hätten dabei aber<br />

die Aufgabe, empowernde Prozesse zu unterstützen und günstige Rahmenbedingungen<br />

dafür zu schaffen (Haselmann, 2008). Im Bezug darauf stellt Haselmann (2008) fest, dass<br />

es sich beim Empowerment-Konzept vor allem um eine professionelle Haltung und<br />

weniger um Handlungsstrategien handelt. Dies erschwere die konkrete Umsetzung in die<br />

Praxis. Eine Hilfestellung für diese Problematik hat Knuf (2005) erarbeitet, indem er u. a.<br />

ganz konkrete Handlungsanleitungen zur Förderung von Selbstbestimmungsfähigkeit gibt<br />

(z. B. „Keinen Druck auf Klienten <strong>aus</strong>üben, damit er sich entscheidet“ (S. 5)). An anderer<br />

Stelle (vgl. Knuf, 2000a, S. 41-44) werden Professionellen die folgenden drei<br />

Grundprinzipien als Orientierung zur praktischen Umsetzung von Empowerment an die<br />

Hand gegeben:<br />

1) Vertrauen in die Fähigkeit jedes Einzelnen: Betroffene wissen z. B. selbst oft gut, was<br />

ihnen hilft<br />

18


2 Theoretische Hinführung<br />

2) Nicht beurteilende Haltung: Akzeptanz z. B. vor alternativen Lebensentwürfen<br />

Betroffener haben<br />

3) Passive Aktivität: Zurückhaltung ermöglicht Betroffenen, eigene Fähigkeiten zu nutzen<br />

Knuf (2005) gibt aber auch zu bedenken, dass Empowerment-Förderung im Sinne von<br />

Wahlfreiheit und Selbstbestimmung auch die Möglichkeit beinhaltet, das eigene<br />

Empowerment abzulehnen. Es solle demnach nie Aktivität und Verantwortungsübernahme<br />

aufgezwungen werden, sondern „empowerment-ermöglichend“ (S. 5) gearbeitet werden.<br />

Als weitere Einschränkung für die Umsetzung von Empowerment-Strategien wird in der<br />

Literatur das Vorliegen einer akuten Hilfsbedürftigkeit genannt, in der KlientInnen in einer<br />

abhängig-passiven Position feststecken und Sicherheit brauchen oder Situationen, in denen<br />

Eigen- oder Fremdbedrohung besteht (Lenz, 2002). Dar<strong>aus</strong> ergibt sich für Professionelle<br />

bei der Umsetzung des Empowerment-Konzepts als weitere Her<strong>aus</strong>forderung, den<br />

Balanceakt zwischen Selbsthilfe und Fremdhilfe sowie Aktivität und Passivität zu meistern<br />

(Knuf, 2005). Dabei sollte die Regel „so viel Selbsthilfe wie möglich, so viel Fremdhilfe<br />

wie nötig“ (Knuf, 2000b, S. 278) eine grobe Orientierungshilfe leisten. Die aktuell wohl<br />

größte Her<strong>aus</strong>forderung sei jedoch darin zu sehen, finanziellen Kürzungen zum Trotz<br />

Empowerment-Prozesse von KlientInnen zu unterstützen und ihnen nicht <strong>aus</strong><br />

wirtschaftlichem Druck her<strong>aus</strong> die Chance zu nehmen, selbst zu handeln und neue<br />

Fähigkeiten zu entfalten (Knuf, 2005). Mit zunehmend schwieriger finanzieller Lage werde<br />

psychiatrische <strong>Versorgung</strong> immer mehr auch auf die professionelle Arbeit von<br />

Angehörigen und Psychiatrie-Erfahrenen angewiesen sein. Dies könne auch die<br />

gleichberechtigte Beziehung aller Personengruppen weiter fördern (Knuf, 2005).<br />

2.2.2 Recovery<br />

Die ersten VertreterInnen der Recovery-Bewegung waren Psychiatrie-Erfahrene, die sich<br />

nicht mit einer negativen Diagnose abfanden und entgegen professioneller Einschätzung<br />

gesundeten (Knuf, 2008). Eine beeindruckende Entwicklung durchlief zum Beispiel Pat<br />

Deegan 4 : Trotz der Schizophrenie-Diagnose in der Jugend promovierte sie später in<br />

Klinischer Psychologie. Heute setzt sie sich in verschiedenen Projekten und Institutionen<br />

für Betroffene ein, forscht, lehrt und berät (Amering & Schmolke, 2012). Als lebende<br />

Beweise tragen Psychiatrie-Erfahrene wie Pat Deegan die Recovery-Botschaft zu anderen<br />

Betroffenen weiter, um ihnen Mut zu machen und die noch immer tiefsitzende<br />

4 (online: www.patdeegan.com, Stand: 17.01.2012)<br />

19


2 Theoretische Hinführung<br />

Überzeugung der Unheilbarkeit von sogenannten schweren psychiatrischen Erkrankungen<br />

zu bekämpfen. Mittlerweile hat der Recovery-Ansatz auch in der professionellen Welt Fuß<br />

gefasst und ist in vielen englischsprachigen Ländern als gesundheitspolitische Vorgabe<br />

verankert (Knuf, 2008). Dennoch gibt es KritikerInnen des Recovery-Konzepts in der<br />

Fachwelt (Bottlender, 2009). Eine solche Skepsis erscheint allerdings Missverständnissen<br />

und Unklarheiten bezüglich des Konzepts geschuldet, die durch das Fehlen einer klar<br />

umrissenen und allgemeingültigen Definition von Recovery noch verschärft wird<br />

(Amering & Schmolke, 2012). Ein Beispiel für so ein mögliches Missverständnis ist die<br />

Annahme, dass Recovery mit der Wiederherstellung des Zustandes vor der Erkrankung<br />

gleichzusetzen sei und somit ein völliges Verschwinden jeglicher Symptome verlange.<br />

Amering und Schmolke stellen in ihrem Buch „Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit“<br />

(2012) aber klar, dass Recovery sowohl mit als auch ohne bestehende Symptome möglich<br />

ist. Was Recovery dagegen <strong>aus</strong>mache, sei ein erfülltes und befriedigendes Leben führen zu<br />

können. Es bedeute sogar vor allem, trotz vorliegender Einschränkungen ein solch erfülltes<br />

Leben zu führen, wie in der folgenden viel zitierten Definition von Anthony betont wird:<br />

“(Recovery) is a way of living a satisfying, hopeful, and contributing life even with the<br />

limitations c<strong>aus</strong>ed by illness. Recovery involves the development of new meaning and purpose<br />

in one’s life as one grows beyond the catastrophic effects of mental illness.” (1993, S. 13)<br />

Menschen, die sich „in Recovery“ (Davidson & Roe, 2007, S. 464) befinden – ein<br />

Ausdruck, der verdeutlicht, dass es sich bei Recovery nicht um einen Endzustand, sondern<br />

vielmehr um einen Prozess handelt – sind so mit der Her<strong>aus</strong>forderung konfrontiert, eigene<br />

Grenzen zu akzeptieren, konstruktiv mit diesen umzugehen und daran zu wachsen. Pat<br />

Deegan (1996) beschreibt diese Aspekte im folgenden Zitat <strong>aus</strong> eigener Erfahrung:<br />

„Recovery often involves a transformation of the self wherein one both accepts ones limitation<br />

and discovers a new world of possibility. This is the paradox of recovery i.e., that in accepting<br />

what we cannot do or be, we begin to discover who we can be and what we can do. Thus,<br />

recovery is a process.“ (S. 13)<br />

Die angesprochenen Missverständnisse können auch von einem grundlegend<br />

unterschiedlichen Verständnis von Gesundheit herrühren. Während in der klassischen<br />

Psychiatrie noch weitgehend die vollkommene Abwesenheit von Krankheit als<br />

Gesundheitskonzept verbreitet ist, sieht der Recovery-Ansatz Gesundheit darin, dass<br />

Menschen möglichst gut mit psychischen Problemen leben können (Knuf, 2008). Dar<strong>aus</strong><br />

lässt sich der Schluss ziehen, dass ein Mensch psychisch krank ist, weil ihm „aktuell die<br />

20


2 Theoretische Hinführung<br />

Fähigkeit fehlt, mit diesen Symptomen so umzugehen, dass er sein Leben auf eine<br />

möglichst zufriedene Art weiterleben kann“ (Knuf, 2008, S. 9). Dieses Gesundheits- bzw.<br />

Krankheitsverständnis eröffnet Menschen, die bisher als chronisch psychisch erkrankt<br />

stigmatisiert wurden, eine Perspektive für ihre eigene Weiterentwicklung und Genesung,<br />

weil Fähigkeiten erlernt werden können. Amering (2009) erklärt, dass diese Hoffnung auch<br />

ihre Berechtigung hat, da der Verlauf der meisten psychischen Störungen variabel sei und<br />

Angst davor, Hoffnungen enttäuschen zu können, kein Grund für negative Prognosen sein<br />

dürfe. Aus der Recovery-Forschung ist bekannt, dass Hoffnung eine wesentliche<br />

Vor<strong>aus</strong>setzung für den Genesungsprozess ist (Bradstreet, 2004). In der psychiatrischen<br />

Praxis ist es auch Aufgabe der professionellen HelferInnen, ihren KlientInnen diese<br />

Hoffnung zu vermitteln (Knuf, 2008). Wenn sie jedoch selbst eine Genesung von<br />

vornherein <strong>aus</strong>schließen, kann sich diese Hoffnungslosigkeit an ihre KlientInnen<br />

übertragen und ihnen so eine wichtige Vor<strong>aus</strong>setzung für eine Gesundung verwehren (vgl.<br />

Bradstreet, 2004). Dadurch wird die Unheilbarkeitsüberzeugung zu einer selbsterfüllenden<br />

Prophezeiung (Amering & Schmolke, 2012). Die Recovery-Bewegung versucht, diesen<br />

Kreislauf zu durchbrechen. Wie professionelle HelferInnen Zuversicht konkret vermitteln<br />

können und welche weiteren Rahmenbedingungen Wachstums- und Reifungsprozesse<br />

fördern, wurde in der Literatur erarbeitet (Knuf & Bridler, 2008). Dazu zählen u. a. Geduld<br />

und Zeit zu haben sowie sich als Mensch in die Klientenbeziehung einzubringen. Ein<br />

weiteres Recovery-Element, das in einem Übersichtsartikel zu bisherigen Erkenntnissen<br />

internationaler Recovery-Literatur (Bradstreet, 2004) identifiziert wurde, ist das Erleben<br />

von Kontrolle über das eigene Leben. Dies veranschaulicht die Verflechtung mit dem<br />

Empowerment-Konzept, zu dessen Kernelementen Selbstbestimmung und Kontrollerleben<br />

zählen: „Wer wieder mehr Einfluss auf sein Leben gewinnt, wer selber entscheidet und<br />

sich weniger <strong>aus</strong>geliefert fühlt, der wird eher wieder genesen“ (Knuf, 2005, S. 6).<br />

Erfahrungsberichte und qualitative Interviews stellen die zentrale Datenquellen für<br />

Recovery-Forschung dar (Knuf, 2008), <strong>aus</strong> denen viele Beiträge zur Theorieentwicklung<br />

hervorgegangen sind (s. u. a. Andresen, Caputi & Oades, 2006; Ralph & The Recovery<br />

Advisory Group, 1999). Ein <strong>aus</strong>führlicher Überblick zu vorliegenden Konzepten und<br />

Forschungsergebnissen findet sich in einem Literaturreview (Ralph, 2000). Neben den<br />

zahlreichen persönlichen Recovery-Geschichten von Betroffenen belegen auch Recovery-<br />

Raten, dass Recovery möglich ist. Aus Vergleichen von Langzeitstudien zum Verlauf von<br />

Schizophrenie wird von 20% klinischer Recovery (Rückgang Symptome und Rückkehr<br />

zum vorherigen Funktionsniveau) und 35-45% sozialer Recovery (ökonomische und<br />

21


2 Theoretische Hinführung<br />

soziale Unabhängigkeit) berichtet (Warner, 2004). In anderen Untersuchungen ergaben sich<br />

durchschnittlich 28% (klinisch) bzw. 52% (sozial) als Recovery-Raten (de Girolamo,<br />

2000).<br />

2.2.3 Soteria<br />

Der Begriff Soteria stammt <strong>aus</strong> dem Griechischen und bedeutet Schutz, Geborgenheit und<br />

Entspannung (Ciompi, 2012). Der amerikanische Psychiater Lauren Mosher gründete 1971<br />

das erste Soteria-H<strong>aus</strong> in San Francisco, um Menschen in psychotischen Krisen eine<br />

Alternative zur stationären psychiatrischen Behandlung zu geben. Es entstand eine<br />

innovative Psychosebehandlung, die ohne bzw. mit gering dosierten Medikamenten<br />

<strong>aus</strong>kommt und stattdessen primär mit intensiver mitmenschlicher Begleitung 5 und<br />

entspannendem und heilendem Milieu arbeitet (Hasse, 2007). Damit wurde die<br />

Schizophreniebehandlung „entmedikalisiert, entprofessionalisiert, enthospitalisiert“<br />

(Mosher, 2001, S. 28) und der Weg hin zu einer Psychosebehandlung eröffnet.<br />

Entwicklung<br />

In Europa wurde das Soteria-Konzept erstmals 1984 vom Schweizer Psychiater Luc<br />

Ciompi umgesetzt (Ciompi, 2012). Das ursprüngliche Moshersche Konzept wurde für die<br />

therapeutische Wohngemeinschaft Soteria Bern jedoch weiterentwickelt und teilweise<br />

modifiziert. Ciompis Umsetzung der Soteria-Idee ist weniger radikal (Fink, 2011): Er<br />

arbeitet nach dem Prinzip Medikation so niedrig wie möglich (statt kompletter Verzicht)<br />

und mit einem halb professionell zusammengesetzten Team (statt nur Laien-<br />

MitarbeiterInnen). Während sich Moshers Konzept als antipsychiatrisch beschreiben lässt,<br />

ist Ciompis Umsetzung sozialpsychiatrisch orientiert (Fink, 2011). Außerdem führte<br />

Ciompi auf der Grundlage seiner Hypothesen zur Affektlogik (Ciompi, 1982) mit dem<br />

weichen Zimmer ein neues Kernelement ein. Das mit nur zwei Betten und Kissen<br />

eingerichtete Zimmer können NutzerInnen 6 und BetreuerInnen in der Akutphase<br />

gemeinsam nutzen, um in beruhigender, sicherer und reizarmer Umgebung emotionale<br />

Spannung abzubauen. Da Ciompi den emotionalen Spannungspegel als entscheidenden<br />

Kontrollparameter postuliert, der „bei disponierten Individuen – den Umschlag von einer<br />

alltäglich-normalen in eine psychotisch-krankhafte Funktionsweise der Psyche provoziert“<br />

(2001, S. 64), ist die emotionale Entspannung das erklärte Hauptziel. Diese Entspannung<br />

5 Die Begleitung statt Behandlung betont, dass sich Professionelle und Betroffene auf Augenhöhe begegnen.<br />

6 Auch die Verwendung von NutzerInnen statt PatientInnen betont, dass sich Professionelle und Betroffene auf<br />

Augenhöhe begegnen.<br />

22


2 Theoretische Hinführung<br />

wird nicht allein durch die Psychosebegleitung im weichen Zimmer, sondern durch die<br />

Kombination der einzelnen Soteria-Elemente wie der wohnlichen Atmosphäre des H<strong>aus</strong>es,<br />

der Normalität alltäglicher Beschäftigungen (Kochen, Einkäufe, ...), dem respektvollen<br />

Umgang mit den Bewohnern etc. geschaffen (Ciompi, 2001). Insgesamt beruft sich die<br />

Soteria Bern auf acht zentrale Behandlungsgrundsätze. Darunter besonders hervorzuheben<br />

sind, wie bereits beschrieben, (1) das möglichst normale, entspannende, gut überschaubare<br />

und reizgeschützte Milieu sowie (2) die kontinuierliche verständnisvolle Begleitung durch<br />

die (psychotische) Krise in Form eines Dabeiseins (being-with). Die weiteren<br />

Behandlungsgrundsätze werden wie folgt beschrieben (Vgl. Ciompi, 2009, S. 12):<br />

3. Persönliche und konzeptuelle Kontinuität über die ganze Zeit der Behandlung<br />

4. Kontinuierliche enge Zusammenarbeit mit der Familie und anderen wichtigen<br />

Bezugspersonen<br />

5. Klare und gleichsinnige Informationen für Patienten, Familie und Betreuer<br />

betreffend der Krankheit, ihrer Behandlung und den bestehenden Risiken und<br />

Chancen<br />

6. Gemeinsame Erarbeitung von klaren und realistischen Behandlungszielen und<br />

Zukunftserwartungen auf der Wohn- und Arbeitsachse<br />

7. Niedrigdosierte medikamentöse Behandlungsstrategien nach Übereinkunft, mit dem<br />

Ziel der kontrollierten Selbstmedikation<br />

8. Organisation von Nachbetreuung und Rückfallprophylaxe über mindestens zwei<br />

Jahre<br />

Forschungsergebnisse<br />

Aus Studien zur Wirksamkeit von Soteria lässt sich insgesamt ableiten, dass das Soteria-<br />

Setting ermöglicht, akut psychotische Symptome mit deutlich geringerer<br />

Medikamentierung als im stationären Setting zu beseitigen bzw. stark zu verringern<br />

(Hoffmann, 2001). Außerdem konnte in einer kontrollierten Vergleichsstudie über zwei<br />

Jahre (Ciompi et al., 1993) gezeigt werden, dass die Kriterien Psychopathologie, soziale<br />

und berufliche Wiedereingliederung, Gesamtzustand und Rückfallrate so gut wie im<br />

stationären Rahmen <strong>aus</strong>fallen, dabei jedoch 56% weniger Neuroleptika eingesetzt wurden.<br />

Deshalb spricht Ciompi von der „neuroleptikartigen Wirkung“ (2009, S. 17) von Soteria,<br />

wobei letzteres aber ohne die mit Neuroleptika einhergehenden schädlichen Nebenwirkungen<br />

<strong>aus</strong>kommt.<br />

23


2 Theoretische Hinführung<br />

Soteria heute<br />

Nach nunmehr 28 Jahren hat sich auch die Soteria Bern weiterentwickelt. Inzwischen ist<br />

<strong>aus</strong> der therapeutischen Wohngemeinschaft ein milieutherapeutisches Zentrum geworden<br />

(Hoffmann, 2009). Die Soteria Bern bietet heute eine integrierte Behandlung akuter<br />

Psychosen an und ist im Sinne <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong> gut mit weiteren ambulanten und<br />

stationären <strong>Versorgung</strong>sangeboten vernetzt. <strong>Integrierte</strong> Tageskliniken, Home Treatment,<br />

Übergangs-WGs mit Soteria-Elementen und Ehemaligen-Gruppen sollen den<br />

Stabilisierungsprozess auch nach dem Auszug <strong>aus</strong> dem Soteriah<strong>aus</strong> weiterführen. Darüber<br />

hin<strong>aus</strong> wurde ein Cannabis-Behandlungskonzept eingeführt und das Recovery-Konzept in<br />

die Leitideen aufgenommen (Hoffmann, 2009). Hinzuzufügen ist auch, dass sich das<br />

Angebot nicht mehr auf den schizophrenen Formenkreis beschränkt, sondern auch offen<br />

für Betroffene anderer Problematiken wie Boderline-Persönlichkeitsstörung und<br />

Depression ist. Die neuste Innovation der Soteria Bern ist das Früherkennungs- und<br />

Therapiezentrum für psychische Krisen (FETZ Bern), das 2009 startete (Hoffmann, 2009).<br />

Während sich das Soteria-Konzept in den USA nicht halten konnte, entstanden v. a. im<br />

deutschsprachigen Raum zahlreiche Ableger der Soteriologie, unter der Mosher die<br />

philosophische Grundhaltung der Soteria-Idee versteht (Kroll, Machleidt, Debus & Stigler,<br />

2001). Dabei unterscheiden Kroll et al. (2001) drei Arten der Umsetzung der Soteriologie:<br />

Nach US-amerikanischem bzw. Schweizer Vorbild konzipiert entstanden (1) Soteria-<br />

Einrichtungen als Alternative zur Klinik u. a. in Frankfurt/Oder, Zwiefalten, Wien,<br />

Niederösterreich, Bremen, Köln, Nürnberg und München. Entgegen des Ursprungsgedankens<br />

gibt es mittlerweile auch (2) psychiatrische Stationen mit integrierten Soteria-<br />

Elementen. In Gütersloh und Gießen wurden zum Beispiel Konzepte wie Wohnküche,<br />

Bezugspersonensystem und ein stärkeres Einbeziehen von Angehörigen im stationären<br />

Setting integriert, um die Behandlungsqualität zu verbessern (Kroll et al., 2001). Als<br />

weitere Art der Umsetzung finden sich (3) Soteria inspirierte Projekte, die im<br />

gemeindenahen ambulant-komplementären <strong>Versorgung</strong>sbereich angesiedelt sind und sich<br />

meist nicht explizit nach Soteria benennen. Beispiele dafür sind die Wohngruppe des PTV<br />

Solingen, das Weglaufh<strong>aus</strong> Berlin und die <strong>Krisenpension</strong> Berlin (IAS 7 , 2011). Inzwischen<br />

wurde der Soteria-Bewegung eine Position zwischen „Euphorie und Ernüchterung“ (Kroll<br />

et al., 2001, S. 115) bilanziert. Trotz ermutigender Forschungsergebnisse ist Soteria bis<br />

heute nicht in der psychiatrischen Regelversorgung implementiert worden. Einerseits ist<br />

7 Internationale Arbeitsgemeinschaft Soteria<br />

24


2 Theoretische Hinführung<br />

die Soteria-Idee noch immer wenig psychiatrische Wirklichkeit, andererseits ist sie als<br />

„Ideenbewegung“ (Kroll et al., 2001, S. 116) seit 40 Jahren im Gespräch und noch immer<br />

aktuell. Die Umsetzung vom Soteria-Original (1) stagniert schon seit einiger Zeit, dafür<br />

machen immer mehr Projekte Gebrauch von einzelnen Soteria-Elementen (2 + 3), die sich<br />

auf unterschiedlichste Bereiche anwenden lassen. Dies berge laut Kroll et al. (2001) zum<br />

einen die Gefahr der „Aushöhlung des Soteria-Konzeptes“ (S. 123) in sich, bei der nicht<br />

mehr klar ist, welche inhaltlichen Konzepte unter dem Soteria-Label umgesetzt werden.<br />

Auf der anderen Seite stelle diese offene Umsetzung eine Chance für die Soteria-Idee dar,<br />

langfristig bestehen zu bleiben und sich weiter in der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> zu<br />

profilieren (Kroll et al., 2001). Wie neuste Entwicklungen der psychiatrischen<br />

<strong>Versorgung</strong>slandschaft zeigen, ist der Typ 3 außerdem gut dafür geeignet, um die bisher für<br />

innovative psychiatrische Konzepte fehlenden Mittel über die <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> zu<br />

erhalten.<br />

2.2.4 Home Treatment<br />

Home Treatment (Zu-H<strong>aus</strong>e-Behandlung) ist eine Alternative zur stationären Behandlung,<br />

bei der ein multiprofessionelles Team Betroffene im Rahmen eines vereinbarten<br />

Behandlungsplanes im privaten Wohnraum aufsucht (Berhe, Puschner, Kilian & Becker,<br />

2005). Eine solche aufsuchende Hilfe hat den Vorteil, dass Betroffene in ihrem gewohnten<br />

Lebensumfeld verbleiben können, eigene Ressourcen (u. a. Angehörige, Beruf, Aktivitäten)<br />

erhalten bleiben und keine „Wiedereingliederung“ nach der Behandlung nötig wird. Home<br />

Treatment ermöglicht aber nicht nur das Aufrechterhalten von Lebensgewohnheiten,<br />

sondern eröffnet dem Behandlungsteam gleichzeitig Einblicke in das Leben der<br />

Betroffenen vor Ort (Munz et al., 2011). Dadurch können Ressourcen und Defizite direkt<br />

erfasst werden und in den Behandlungsplan einfließen. Das Behandlungsteam ist rund um<br />

die Uhr erreichbar und ermöglicht so, Krisen schnell abzufangen und Krankenh<strong>aus</strong>aufenthalte<br />

zu vermeiden. Dies ist im Sinne einer primären Prävention, wie Caplan sie in<br />

seiner Krisentheorie betont, die zugleich das Grundfundament für die Entwicklung des<br />

Home Treatments (HT) liefert (Fenton, Tessier, Struening, Smith & Benoit, 1982). HT<br />

verfolgt das Ziel, die Lebensqualität der Betroffenen aufrechtzuerhalten bzw. zu<br />

verbessern. Zu diesem Zweck werden unnötig lange Hospitalisierung, Rückfälle und<br />

Stigmatisierung so weit wie möglich vermieden und das soziale Netzwerk bestmöglich<br />

einbezogen. Weiterhin wird angestrebt, Betroffene und Angehörige möglichst gut zu<br />

unterstützen und zu informieren (Fischer, 2009).<br />

25


2 Theoretische Hinführung<br />

Wichtige Erkenntnisse zur Wirksamkeit vom HT konnten in einer Literaturrecherche zum<br />

Vergleich von HT und stationärer Behandlung gewonnen werden (Berhe et al., 2005). Es<br />

zeigte sich, dass das HT in den Ergebniskriterien Symptomreduktion, soziales Funktionsniveau<br />

und Patienten- und Angehörigenzufriedenheit der stationären Behandlung<br />

gegenüber gleichwertig oder überlegen ist. Insgesamt waren alle <strong>aus</strong>gewerteten Studien<br />

hinsichtlich der Krankenh<strong>aus</strong>vermeidung erfolgreich. Eine weitere systematische<br />

Literaturrecherche zur Wirksamkeit des HT sowie dessen Implementierungsstand in<br />

Deutschland (Gühne et al., 2011) kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: In den Kriterien<br />

Allgemeinzustand und psychische Gesundheit stellte sich das HT gegenüber einer<br />

klassischen stationären Behandlung als mindestens gleichwertig dar, stationäre Aufnahmen<br />

und stationäre Behandlungsdauer konnten durch HT reduziert werden. Außerdem ergaben<br />

sich als Vorteile gegenüber stationärer Behandlung, dass HT das Risiko für einen<br />

Behandlungsabbruch senkt, die Behandlungszufriedenheit Betroffener und Angehöriger<br />

erhöht und die Belastung Angehöriger verringert. Insgesamt wird HT in der Studie als<br />

wirksame und vermutlich auch in Deutschland kosteneffektivere Ergänzung (Belege zu<br />

Kosteneffektivität des HT fanden sich nur in Studien <strong>aus</strong> dem Ausland) bestehender<br />

psychiatrischer Angebote beurteilt. Trotz der guten international vorliegenden Evidenz für<br />

die Wirksamkeit des HT bleibt dieses ein in Deutschland bisher wenig genutztes Potenzial<br />

des <strong>Versorgung</strong>ssystems (Gühne et al., 2011).<br />

2.2.5 Bedürfnisangepasste Behandlung<br />

Die bedürfnisangepasste Behandlung (need adapted treatment) wurde über Jahre hinweg<br />

von Alanen und MitarbeiterInnen an der psychiatrischen Universitätsklinik von Turku in<br />

Finnland entwickelt (Aderhold & Greve, 2010). Inspiriert wurden sie dabei durch die<br />

Heterogenität und Einzigartigkeit der therapeutischen Bedürfnisse von Schizophrenie-<br />

PatientInnen (Alanen, 1997). Während der Konzepterarbeitung wurde der Begriff needspecific-treatment<br />

durch need-adapted-treatment ersetzt. Dies sollte <strong>aus</strong>drücken, dass sich<br />

Bedürfnisse auch ändern können und die Flexibilität des Ansatzes betonen (Alanen, 1997).<br />

Außerdem steckt in need-adapted die Beschränkung auf wirklich notwendige Behandlung<br />

und die Vermeidung überflüssiger Behandlung wie übermäßiger Medikamentierung.<br />

Kernelement einer bedürfnisangepassten Behandlung ist die Therapieversammlung<br />

(Aderhold & Greve, 2010). Darin kommen Professionelle, Betroffene und möglichst alle<br />

wichtigen Bezugspersonen des Betroffenen zusammen, um den Hilfeprozess gemeinsam<br />

zu planen und flexibel auf Bedürfnisveränderungen zu reagieren. Neben der Therapie-<br />

26


2 Theoretische Hinführung<br />

versammlung und einer psychotherapeutischen Grundhaltung zeichnet sich die<br />

bedürfnisangepasste Behandlung durch weitere Grundprinzipien <strong>aus</strong> (Aderhold & Greve,<br />

2010): Die Behandlung wird als kontinuierlicher Prozess und nicht als Routinesitzung<br />

verstanden. Verschiedene therapeutische Ansätze ergänzen sich statt sich gegenseitig zu<br />

behindern. Betroffene sollten regelmäßig in allen therapeutischen Situationen anwesend<br />

sein, so dass sie an allen wichtigen Entscheidungen beteiligt werden und ihr<br />

Expertenwissen für die eigene Situation einbringen können. Eine Nachuntersuchung sollte<br />

immer nach 5 Jahren erfolgen, um die Wirksamkeit zu überprüfen. Diesem Prinzip<br />

folgende Evaluationen ergaben deutliche Hinweise darauf, dass der Ansatz der<br />

bedürfnisangepassten Behandlung traditionellen Behandlungsansätzen gegenüber<br />

überlegen ist (vgl. Aderhold & Greve, 2010). Katamnesen über 2 bzw. 5 Jahre ergaben u. a.<br />

die Reduktion von Symptomen, mehr vollständige Remissionen, höhere Funktionsfähigkeit<br />

und weniger Medikamentierung (Cullberg, 2008). Die aktuelle Form des skandinavischen<br />

Modells der bedürfnisangepassten Behandlung stellt eine idealtypische Verbindung von<br />

systemischen und subjektorientierten Ansätzen dar (Haselmann, 2008). Das Element der<br />

Therapieversammlung ist ein grundlegend systemisches, jedoch wird diese mittlerweile<br />

mehr durch dialogische Formen des Aust<strong>aus</strong>ches, wie z. B. dem Offenen Dialog (s. Kap.<br />

2.2.6) statt durch Interventionen gestaltet. Außerdem werden subjektorientierte<br />

Therapieangebote in die Gesamtbehandlung integriert. Die große Stärke des<br />

bedürfnisangepassten Behandlungsmodells sehen Aderhold und Greve (2010) darin, dass<br />

es alle Phasen und Kontexte eines betroffenen Menschen umfasst und diese in<br />

psychiatrisch-psychotherapeutische Interventionen einbezieht.<br />

2.2.6 Offener Dialog im Netzwerk<br />

Der Offene Dialog ist eine Weiterentwicklung bzw. besondere Methode innerhalb der<br />

bedürfnisangepassten Behandlung, die vom Finnen Seikkula konzipiert wurde (Haselmann,<br />

2008). Die Netzwerkversammlungen 8 zeichnen sich dabei durch dialogische Prinzipien und<br />

freies Reflektieren, das durch den Schweden Andersen (1996) inspiriert wurde, <strong>aus</strong>. Wenn<br />

in diesen Treffen alle wichtigen Menschen des sozialen Netzwerks des Betroffenen<br />

zusammenkommen, wird die Methode des Offenen Dialoges genutzt, um mit einer<br />

„zuhörenden und respektierenden Einstellung gegenüber allen Beteiligten“ (Seikkula &<br />

Arnkil, 2007, S. 9) gemeinsam nachzudenken, sich über eine gemeinsame Bedeutung der<br />

8 Der Begriff der Netzwerkversammlung steht synonym für den Begriff der Therapieversammlung, verdeutlicht aber die<br />

Verlagerung vom stationären Entstehungskontext in den ambulant psychosozialen Bereich.<br />

27


2 Theoretische Hinführung<br />

derzeitigen Situation zu verständigen und letztendlich weiterführende Schritte zu<br />

beschließen. Es geht demnach vor allem darum, die Angehörigen und Betroffenen<br />

miteinander ins Gespräch zu bringen und eine Vielfalt von Perspektiven einzubringen, um<br />

schließlich eine gemeinsame Wirklichkeit des Problems zu konstruieren (Seikkula &<br />

Arnkil, 2007). Als konsequente Weiterführung des Prinzips der Anwesenheit von<br />

Betroffenen in allen therapeutischen Situationen <strong>aus</strong> der bedürfnisangepassten Behandlung<br />

lässt sich das reflektierende Team der Professionellen verstehen. Dieses reflektiert in<br />

Anwesenheit aller Gesagtes und erörtert darüber hin<strong>aus</strong> weitere Fragen, Ideen etc.<br />

(Seikkula & Arnkil, 2007). Dies wiederum ermöglicht den Zuhörenden einen<br />

Perspektivwechsel, der zum Verständnis der Situation beitragen kann. Aus Effektivitätsund<br />

Prozessevaluationsstudien wurden sieben Grundprinzipien des Offenen Dialogs für die<br />

Praxis abgeleitet (vgl. Seikkula & Arnkil, 2007, S. 68 ff.):<br />

1) Sofortige Hilfe: Bei Hilfebedarf sollte eine Reaktion immer sofort erfolgen, d.h.<br />

innerhalb von 24 Stunden. Dies gilt auch für die erste Versammlung, wenn eine<br />

Krisensituation gegeben ist.<br />

2) Einbeziehung des sozialen Netzwerks: Alle wichtigen Schlüsselpersonen des sozialen<br />

Netzwerkes sollten möglichst von Anfang an einbezogen werden. Im ersten Treffen sind<br />

sie eine wichtige Unterstützung für Betroffene, außerdem kann nur mit ihnen eine<br />

komplexe Definition des Problems entstehen.<br />

3) Flexibilität und Mobilität: Analog zu den Grundsätzen der bedürfnisangepassten<br />

Behandlung sollte sich die Behandlung flexibel an die sich ändernden Bedürfnisse der<br />

Betroffenen anpassen. Statt eines festen Programmes herrscht eine Offenheit für<br />

Vorschläge und Ideen vor, die eine individuell zugeschnittene Behandlung ermöglicht.<br />

Auch die Wahl des Versammlungsortes ist flexibel und kann gemeinsam erfolgen.<br />

4) Teamverantwortung: Es gilt die F<strong>aus</strong>tregel, dass jede bzw. jeder MitarbeiterIn, die bzw.<br />

der angesprochen wird, die Verantwortung dafür übernimmt, eine Behandlungsversammlung<br />

einzuberufen und alle wichtigen Personen einzuladen, die für den Beschluss<br />

nächster Schritte von Bedeutung sind. Dies soll sicherstellen, dass die Zuständigkeit immer<br />

geklärt ist und die sofortige Hilfe umgesetzt werden kann.<br />

5) Psychologische Kontinuität: Ein Behandlungsteam ist so lange wie nötig für die<br />

Betroffenen verantwortlich und das über die unterschiedlichen <strong>Versorgung</strong>ssektoren<br />

hinweg. Eine Behandlungskontinuität kann so durch die Integration einzelner<br />

<strong>Versorgung</strong>sb<strong>aus</strong>teine zu einer komplexen Behandlung sichergestellt werden. Die<br />

28


2 Theoretische Hinführung<br />

Beziehungskontinuität zu den Teammitgliedern gibt Betroffenen darüber hin<strong>aus</strong> Sicherheit<br />

und vermeidet Behandlungsabbrüche.<br />

6) Unsicherheitstoleranz: An erster Stelle stehen das Schaffen von Sicherheit und das<br />

Mobilisieren von Ressourcen der Betroffenen und des sozialen Netzwerks. Eine Lösung<br />

für das Problem lässt sich so meist erst nach einiger Zeit finden. Das Aushalten dieser<br />

andauernden Unsicherheit ist daher sehr wichtig.<br />

7) Dialogik: Zentral ist die Förderung von Dialogen im sozialen Netzwerk, um allen<br />

Beteiligten zu ermöglichen, sich über das Problem <strong>aus</strong>zut<strong>aus</strong>chen. Dabei erhält jeder eine<br />

gleichwertige Stimme und erläutert seine Perspektive, was als „Vielstimmigkeit“ (Seikkula<br />

& Arnkil, 2007, S. 80) bezeichnet wird. Wichtiger als eine Interviewführung ist dabei das<br />

Zuhören des Behandlungsteams, das später vor allen Anwesenden über das Gesagte<br />

reflektiert (reflektierendes Team). So wird ein gemeinsames Nachdenken über die Situation<br />

möglich, das durch das Zulassen von gegenseitigem „Erstaunen“ (Seikkula & Arnkil, 2007,<br />

S. 78) über die unterschiedlichen Sichtweisen zu einem neuen Verständnis führen kann.<br />

2.2.7 Trialog<br />

Trialog ist ein „Aust<strong>aus</strong>ch im Dreieck“ (Borchers, 2009, S. 18) zwischen Psychiatrie-<br />

Erfahrenen, Angehörigen und professionell Tätigen. Dieser Aust<strong>aus</strong>ch geschieht in Form<br />

einer gleichberechtigten Begegnung auf Augenhöhe und kann auf unterschiedlichen<br />

Ebenen wie Behandlung, Öffentlichkeitsarbeit, Antistigmaarbeit, Lehre, Forschung,<br />

Qualitätssicherung, Psychiatrieplanung etc. stattfinden (Bock, Buck & Meyer, 2009). Neu<br />

an diesem Ansatz ist, dass Professionelle erstmals Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige<br />

als Erfahrungsexperten anerkennen und <strong>aus</strong> ihrem Wissen für die Verbesserung der<br />

Psychiatrie lernen wollen. Die Geburtsstunde des Trialogs ist das Jahr 1989, in dem der<br />

Psychologe Thomas Bock die Psychiatrie-Erfahrene Dorothea Buck in ein universitäres<br />

Psychose-Seminar für StudentenInnen und Berufstätige einlud, um mit Menschen mit<br />

Schizophrenie-Diagnose statt über sie zu reden (Bock et al., 2009). Diese Veranstaltung<br />

wandelte sich im darauf folgenden Semester zu einem Erfahrungs<strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>ch zwischen<br />

eingeladenen Mitgliedern von Selbsthilfe- und Angehörigengruppen (Bock et al., 2009)<br />

und brachte schließlich das heute im deutschsprachigem Raum weit verbreitete<br />

Psychoseseminar hervor. Für die Verbreitung des trialogischen Ansatzes war darüber<br />

hin<strong>aus</strong> der 1994 in Hamburg stattfindende Sozialpsychiatrische Weltkongress von großer<br />

Bedeutung, bei dem Veranstaltungen möglichst trialogisch gestaltet wurden (Dörner,<br />

2003). Wichtiger Wegbereiter für den Trialog war außerdem der Sozialpsychiater Kl<strong>aus</strong><br />

29


2 Theoretische Hinführung<br />

Dörner, der unabhängig von den Entwicklungen in Hamburg, Trialog in Gütersloh<br />

umsetzte. Dörner versteht unter Psychoseseminar „regelmäßige Treffen von Psychiatrie-<br />

Erfahrenen, Angehörigen und psychiatrisch Tätigen mit dem Ziel, sich über Fragen der<br />

Angemessenheit psychiatrischer Praxis, <strong>Versorgung</strong> und Wissenschaft so zu verständigen,<br />

dass die Belange aller drei Gruppen gleichermaßen Berücksichtigung finden und somit die<br />

Trialogisierung der Psychiatrie gefördert wird“ (2003, S. 37). Somit lässt sich das<br />

Psychoseseminar, neben der Aufgabe des Erfahrungs<strong>aus</strong>t<strong>aus</strong>chs, auch als eine<br />

Ethikkommission der Psychiatrie verstehen. Wichtig für die Ermöglichung eines<br />

herrschaftsfreien Diskurses (Habermas, 1996), in dem jeder frei sprechen kann und jeder<br />

Beitrag das gleiche Gewicht erhält, ist dabei die Wahl eines neutralen Ortes. Ein weiterer<br />

Schritt für die Anerkennung von „Psychiatrie-Erfahrung als Kompetenz“ (Mücke, 2009, S.<br />

23) wurde 2006 mit Einführung des europäischen Pilotprojekts Experience Involvement<br />

getan. Dabei handelt es sich um eine einjährige Fortbildung für Psychiatrie-Erfahrene, mit<br />

der diese eine Statusverbesserung hinsichtlich Qualifikation und Vergütung erreichen<br />

können (Freitag, 2011). Hinzuzufügen ist noch, dass der Trialog durch die Gleichstellung<br />

von Angehörigen mit Betroffenen und Professionellen eine besondere Form der<br />

Angehörigenbeteiligung darstellt. Der 3.Teil der theoretischen Hinführung (2.3) beschäftigt<br />

sich eingehend mit der Gruppe der Angehörigen.<br />

2.2.8 Zusammenfassung: Konzepte der Sozialen Psychiatrie im<br />

Zusammenhang<br />

Die Konzepte der Sozialen Psychiatrie bieten Menschen mit psychischen Problemen bzw.<br />

in psychischen Krisen alternative Ansätze für ihre Behandlung bzw. Begleitung. Ungleich<br />

des klassisch psychiatrisch stationären Ansatzes bleibt die Lebenswelt der Betroffenen<br />

samt Ressourcen bestehen, denn mit gemeindenah ist in der Sozialen Psychiatrie auch<br />

lebensnah gemeint. Soweit möglich wird ambulant im gewohnten Lebensumfeld<br />

gearbeitet, um vorhandene Ressourcen nutzen zu können. Dazu gehören bereits bestehende<br />

Beziehungen zu Professionellen wie Ärzten, Therapeuten sowie das soziale Umfeld und<br />

alle anderen denkbaren Netzwerke. Eine Umsetzung für eine solch lebensnahe Begleitung<br />

stellt das Home Treatment dar. Als Alternative zur Krankenh<strong>aus</strong>aufnahme wird hier die<br />

Akutbehandlung durch ein multiprofessionelles Team im vertrauten Wohnumfeld<br />

durchgeführt. Dies erleichtert auch das Einbeziehen des sozialen Umfeldes. Ein spezieller<br />

Ansatz, um alle wichtigen Personen eines sozialen Netzwerkes zusammen zu bringen, ist<br />

das Initiieren von Netzwerkversammlungen. Durch Offenen Dialog wird darin der<br />

30


2 Theoretische Hinführung<br />

Aust<strong>aus</strong>ch aller Beteiligten gefördert, um so zu einem gemeinsamen Problemverständnis<br />

und weiterführenden Schritten zu gelangen. In der klassischen Psychiatrie findet sich<br />

häufig eine hierarchische Arzt-Patienten-Beziehung, in der Betroffene möglichst passiv<br />

und „complient“ den Anweisungen des Behandlers folgen sollen. Im Gegensatz dazu<br />

werden Betroffene in der Sozialen Psychiatrie als gleichberechtigte NutzerInnen gesehen,<br />

die gemeinsam mit ihren Angehörigen aktiv am Entscheidungs- und Gestaltungsprozess<br />

der Behandlung bzw. Begleitung teilhaben. Betroffene und Angehörige sind Experten in<br />

eigener Sache, eine Expertise, die in sozialpsychiatrischen Ansätzen nicht ungenutzt bleibt.<br />

Statt als Patient behandelt zu werden, wird gemeinsam verhandelt, welche Maßnahmen<br />

den individuellen Bedürfnissen der NutzerInnen entsprechen. Das Grundprinzip der<br />

bedürfnisangepassten Behandlung besteht in einer individuellen Behandlung, die sich im<br />

Gegensatz zur starren Standard- bzw. Einheitsbehandlung flexibel den Bedürfnissen von<br />

Betroffenen anpasst. Die aktive Beteiligung der NutzerInnen sowie deren Angehöriger<br />

verdeutlicht, dass ihre Kompetenzen und Ressourcen gewürdigt und geschätzt werden.<br />

Damit verbunden werden sie ermutigt, selbst aktiv zu werden und so weit möglich<br />

Verantwortung und Kontrolle für ihr Leben zu übernehmen. Eine so angestrebte<br />

Autonomie und Selbstbestimmung von Betroffenen sind Kennzeichen von Empowerment,<br />

einem Schlüsselkonzept in der Sozialen Psychiatrie. Ohne eine solche Selbstbefähigung ist<br />

im sozialpsychiatrischen Verständnis keine Gesundung möglich. Das Recovery-Konzept<br />

beschäftigt sich mit nötigen Vor<strong>aus</strong>setzungen für psychische Genesung, wobei die<br />

Vermittlung von Hoffnung eine Hauptvor<strong>aus</strong>setzung ist. Der Kern des Konzeptes besteht<br />

darin, davon <strong>aus</strong>zugehen, dass ein erfülltes Leben grundsätzlich, das heißt mit oder ohne<br />

Symptome, möglich ist. Im Sinne der <strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong> sollten alle B<strong>aus</strong>teine der<br />

psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> möglichst gut miteinander vernetzt sein, so dass mit vereinter<br />

Kraft auf ein gemeinsames Ziel, nämlich einer verbesserten Lebensqualität der<br />

NutzerInnen, hingearbeitet werden kann.<br />

2.3 Angehörige psychisch erkrankter Menschen<br />

In diesem Kapitel soll auf die Gruppe der Angehörigen von psychisch erkrankten<br />

Menschen eingegangen werden, die in zweierlei Hinsicht eine wichtige Rolle in der<br />

psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> spielen: Zum einen haben sie selbst Bedürfnisse, da sie durch<br />

ihre konstante Unterstützung der Betroffenen auch belastet werden und so indirekt zu<br />

Betroffenen werden (2.3.3 Angehörigenforschung). Zum anderen verfügen sie durch ihre<br />

31


2 Theoretische Hinführung<br />

Alltagserfahrungen über wertvolle Kompetenzen, die sowohl den Behandlungs- als auch<br />

den Evaluationsprozess bereichern können (2.3.2 Angehörigenbeteiligung). Diese<br />

Erkenntnis war jedoch lange nicht selbstverständlich und ist das Ergebnis langwieriger<br />

Bestrebungen für die Anerkennung der besonderen Position Angehöriger (2.3.1 Entstehung<br />

der Angehörigenbewegung). Auf die angesprochenen Aspekte zu Angehörigen soll in<br />

diesem Kapitel näher eingegangen werden. Ein Fazit zur Bedeutung der Angehörigen in<br />

der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> (2.3.4) rundet das Kapitel ab.<br />

2.3.1 Entstehung der Angehörigenbewegung: „Vom Sündenbock zum<br />

Partner“ 9<br />

Angehörige sind eine in der Psychiatrie lange vernachlässigte Gruppe. Statt ihre eigenen<br />

Bedürfnisse, ihre wichtige Rolle im Behandlungsverlauf und ihr Potenzial zu erkennen,<br />

wurde ihnen lange die Schuld an der Entwicklung psychischer Störungen gegeben<br />

(Bastiaan, 2005; Simon, 2000). Besonders die Störungsmodelle der Schizophrenie machten<br />

mit Begriffen wie „schizophrenogener Mutter“ Angehörige zu Sündenböcken (Bastiaan,<br />

2005). Obwohl Angehörige die Hauptlast der Psychiatriereform tragen und als ambulanter<br />

Teil psychiatrischer <strong>Versorgung</strong> einspringen, wurde ihre Leistung von professioneller Seite<br />

abgewertet (Simon, 2000). In den 80er Jahren begannen sich Angehörige gegen<br />

Schuldzuweisung und fehlende Anerkennung zu wehren, auf eigene Nöte aufmerksam zu<br />

machen und sich zu organisieren: 1982 fand das erste Bundestreffen der Angehörigen<br />

psychisch Kranker statt und 1985 wurde der Bundesverband der Angehörigen psychisch<br />

Kranker (BApK) gegründet (Deger-Erlenmaier, 1987). Neben diesen Ereignissen gehört<br />

auch das 1982 erstmals erschienene Buch „Freispruch der Familie“ (Dörner, Egetmeyer &<br />

Koenning, 1987) zu den Meilensteinen der Angehörigenbewegung (Deger-Erlenmaier,<br />

1987). Darin decken die AutorInnen das Unrecht auf, das Angehörigen in der Psychiatrie<br />

zu Teil wurde und lassen diese selbst zu Wort kommen. Weiterhin wird auf den Missstand<br />

hingewiesen, dass Familien in fast allen modernen psychologischen Theorien zwar eine<br />

bedeutende Rolle zukommt, diese aber nicht in den psychiatrischen Alltag einbezogen wird<br />

(Dörner, 1987). Dar<strong>aus</strong> leitet Dörner (1987) ein neues Verständnis psychiatrischen<br />

Handelns ab:<br />

„Psychiatrisches Handeln bedeutet, dass ich mich nie auf einen Einzelmenschen, sondern<br />

immer auf eine ganze Familie einlasse.“ ( S. 65)<br />

9 Titel von Bastiaan, 2005<br />

32


2 Theoretische Hinführung<br />

Im Zuge der erwähnten Meilensteine entstanden zahlreiche Selbsthilfegruppen und<br />

Selbsthilfeorganisationen für Angehörige, um sich gegenseitig zu unterstützen und<br />

<strong>aus</strong>zut<strong>aus</strong>chen bzw. die Interessen Angehöriger auch politisch zu vertreten. Diesen<br />

Anstrengungen ist es zu verdanken, dass die Arbeit mit Angehörigen heute „wichtiger<br />

Bestandteil jeder sozialpsychiatrischen Arbeit“ (Haselmann, 2008, S. 172) ist und<br />

„Angehörige als Experten“ (Finzen, 2001, S. 156) und kompetente Partner in der<br />

Behandlung wahrgenommen werden (Bastiaan, 2005).<br />

2.3.2 Angehörigenbeteiligung<br />

Kennzeichnend für die gestärkte Position Angehöriger in der Psychiatrie ist auch, dass<br />

Angehörigenbeteiligung als wichtiges Qualitätsmerkmal zur Beurteilung psychiatrischer<br />

Angebote gilt (BeB & CBP, 2009). Ein Grundsatz des leitzielorientierten Qualitätsmanagements<br />

ProPsychiatrieQualität (PPQ) besteht darin, Kompetenzen und Bedürfnisse<br />

Angehöriger auf unterschiedlichsten Ebenen einzubeziehen (BeB & CBP, 2009). Die<br />

wichtigsten Ebenen der Angehörigenbeteiligung sind Hilfeplanung, -gestaltung und<br />

-evaluation.<br />

Behandlungsprozess<br />

Als Formen der Angehörigenbeteiligung auf Ebene der Hilfegestaltung lassen sich<br />

Einzelgespräche, Gespräche gemeinsam mit Betroffenen, psychoedukative Angehörigengruppen,<br />

Angehörigenselbsthilfegruppen, Angehörigeninformationstage, Angehörigenvisiten<br />

sowie der Trialog als besondere Form von Angehörigenarbeit nennen (Schmid et<br />

al., 2003). Allerdings wird Angehörigenarbeit in der Praxis von Professionellen noch<br />

unzureichend umgesetzt (Schmid, Spießl, Vukovich & Cording, 2004). Dies verwundert in<br />

Anbetracht von zahlreichen Studienergebnissen, die einen positiven Einfluss von<br />

Angehörigenbeteiligung im Behandlungsprozess für die Betroffenen sowie die<br />

Angehörigen selber belegen (Falloon, 2003; Lamm, 1991; Wiedemann & Buchkremer,<br />

1996). Als Gründe für die bisher nur eingeschränkte Umsetzung können mangelnde<br />

Auswertung von Angehörigenangeboten, fehlende Wissensvermittlung zu Angehörigenarbeit<br />

in der Ausbildung und geringe finanzielle Mittel angesehen werden (Bischkopf,<br />

2007).<br />

Evaluationsprozess<br />

Auch die Angehörigenbeteiligung auf Ebene der Evaluation wird in der Fachliteratur als<br />

über<strong>aus</strong> wichtig erachtet:<br />

33


2 Theoretische Hinführung<br />

„Im Rahmen der <strong>Versorgung</strong>sforschung und des Qualitätsmanagements ist das Einbeziehen der<br />

Sichtweise der Angehörigen ein wichtiger Teil einer umfassenden Evaluation der sog.<br />

,Nutzerzufriedenheit' “. (Schmid, Spießl, Vukovich & Cording, 2003, S. 119)<br />

Damit wird <strong>aus</strong>gedrückt, dass eine Nutzerzufriedenheit nicht nur von den Betroffenen als<br />

primäre NutzerInnen abhängt, sondern auch von den Angehörigen, die selbst indirekte<br />

sekundäre NutzerInnen von <strong>Versorgung</strong>seinrichtungen sind (Vieten & Brinkmann, 2004).<br />

Dass ein <strong>Versorgung</strong>sangebot eine Stütze für Betroffene und Angehörige ist, zeichnet eine<br />

gute Einrichtung <strong>aus</strong>. Dies findet sich auch im PPQ (BeB & CBP, 2009) wieder, das die<br />

Beteiligung Angehöriger als eine von sechs Qualitätsdimensionen nennt. Diese lässt sich<br />

zum Beispiel durch Angehörigenbefragungen umsetzen, welche eine gute Möglichkeit<br />

darstellen, „Rückmeldungen und Bewertungen der Nutzerinnen und Nutzer zu erhalten“<br />

(BeB & CBP, 2009, S. 84). Angehörige sind besonders qualifiziert dafür, <strong>Versorgung</strong>sangebote<br />

zu evaluieren, weil sie Veränderungen bei Betroffenen im Allgemeinen sowie in<br />

deren Krankheits-Symptomatik oft sehr gut einschätzen können (Bastiaan, 2005). Leider<br />

wird die Perspektive von Angehörigen immer noch zu selten für die Entwicklung bzw.<br />

Evaluation von Behandlungskonzepten genutzt (Schmid et al., 2004). Eine Studie zu<br />

Erwartungen Angehöriger an die psychiatrische Klinik ist ein Beispiel für<br />

Angehörigenbeteiligung bei der Evaluation von psychiatrischen <strong>Versorgung</strong>sangeboten<br />

(Spießl, Schmid, Vukovich & Cording, 2003). Auf Grundlage der im Rahmen dieser Studie<br />

geführten Interviews konnte ein Fragebogen zur Erfassung der Erwartungen und<br />

Zufriedenheit Angehöriger von psychiatrischen Patienten in stationärer Behandlung<br />

entwickelt werden (Spießl, Schmid, Vukovich & Cording, 2004). Die Ergebnisse dieser<br />

zweiten Untersuchung trugen wiederum durch wichtige Anregungen für Maßnahmen zur<br />

Verbesserung des Behandlungskonzepts bei. Ein anderes Beispiel für den Einbezug<br />

Angehöriger in den Evaluationsprozess ist eine Studie, bei der Angehörige in narrativen<br />

Interviews zu ihren Erfahrungen mit der psychiatrischen Behandlung und im besonderen<br />

mit den Ärzten befragt wurden (Jungbauer, Wittmund & Angermeyer, 2002). Anhand der<br />

gewonnenen Daten konnte identifiziert werden, mit welchen Bereichen Angehörige<br />

unzufrieden sind. Eine weitere Angehörigenbefragung wurde zur Evaluation des<br />

Deinstitutionalisierungsprozesses eines Teilbereiches der Psychiatrie Eckardtsheim<br />

angewandt (Vieten & Brinkmann, 2000). Die Befragung erbrachte der Klinik eine positive<br />

Rückbestätigung für die vollzogenen Veränderungsprozesse sowie Hinweise auf noch zu<br />

behebende Probleme. Insgesamt belegen die genannten Studien, dass sich Angehörigenbeteiligung<br />

nicht nur im Behandlungsprozess für alle Beteiligten lohnt. Auch im<br />

34


2 Theoretische Hinführung<br />

Evaluationsprozess kann die Perspektive Angehöriger wichtige Erkenntnisse für die<br />

Bewertung und Weiterentwicklung psychiatrischer <strong>Versorgung</strong>sangebote erbringen.<br />

2.3.3 Angehörigenforschung<br />

Die bisherige Angehörigenforschung beschäftigt sich überwiegend mit Erwartungen und<br />

Zufriedenheit sowie Belastungen und Bedürfnissen Angehöriger. Angehörigenzufriedenheit<br />

ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das sich <strong>aus</strong> der Angehörigen-<br />

Betroffenen-Beziehung und Behandlungsaspekten zusammensetzt (Spießl, Schmid,<br />

Wiedemann & Cording, 2005). Zur Verbesserung der Zufriedenheit bedarf es vor allem<br />

guter Information und Unterstützung für Angehörige (Spießl et al., 2005). Studien zur<br />

Erfassung der Erwartungen und Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit von Angehörigen als<br />

indirekte NutzerInnen psychiatrischer <strong>Versorgung</strong>sangebote wurden bereits im<br />

Zusammenhang mit der Angehörigenbeteiligung im Evaluationsprozess erwähnt<br />

(Jungbauer et al., 2002; Schmid et al., 2004; Spießl et al., 2003, 2004; Vieten &<br />

Brinkmann, 2000). Zur Erfassung der Situation Angehöriger und insbesondere ihrer<br />

Belastungen lassen sich die Konzepte Burden, Distress und Lebensqualität unterscheiden<br />

(Fischer, Kemmler & Meise, 2004). Während sich das Konzept der Lebensqualität auf die<br />

gesamte Lebenssituation der bzw. des Angehörigen bezieht, beschränkt sich das Burden-<br />

Konzept auf die Auswirkungen der psychischen Erkrankung des Betroffenen. Das Distress-<br />

Konzept wiederum fokussiert auf generelle stressbedingte Befindlichkeiten (Fischer et al.,<br />

2004). In einem systematischen Literaturüberblick wurden vielfältige Belastungen<br />

Angehöriger offen gelegt (Schmid et al., 2003). Dazu zählen vor allem zeitliche,<br />

finanzielle, berufliche, gesundheitliche und emotionale Belastungen sowie Belastungen für<br />

andere Beziehungen. Darüber hin<strong>aus</strong> wurden zahlreiche weitere Arbeiten veröffentlicht,<br />

die sich eingehend mit den Belastungen Angehöriger beschäftigen (u. a. Jungbauer,<br />

Bischkopf & Angermeyer, 2001a; Wittmund & Kilian, 2002). Klassischerweise befasst<br />

sich die Forschung zur Angehörigenbelastung vor allem mit Eltern psychisch erkrankter<br />

Menschen. Inzwischen rücken aber zunehmend auch Partner (Jungbauer, Bischkopf &<br />

Angermeyer, 2001b) in den Fokus der Forschung. Meist vernachlässigt wird die<br />

Angehörigengruppe der Kinder, die sich jedoch durch einen besonders großen Hilfebedarf<br />

<strong>aus</strong>zeichnet (Lenz, 2005). Außer Acht gelassen werden sollte aber auch nicht die Gruppe<br />

der „vergessenen Angehörigen“ (Schmid, Spießl & Peukert, 2004, S. 225), die der<br />

Geschwister, mit der sich die Forschung bisher eher am Rande beschäftigt hat (Peukert &<br />

Munkert, 2009).<br />

35


2 Theoretische Hinführung<br />

2.3.4 Fazit: Die Bedeutung Angehöriger in der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong><br />

Abschließend lässt sich über die Bedeutung Angehöriger in der psychiatrischen <strong>Versorgung</strong><br />

Folgendes <strong>aus</strong> den vorangehenden Abschnitten festhalten:<br />

1) Angehörige leisten täglich emotionale und oft auch finanzielle Unterstützung für<br />

Betroffene, dafür verdienen sie Anerkennung.<br />

2) Angehörige üben damit einen großen Einfluss auf das Leben und somit den<br />

Krankheitsverlauf bzw. die Gesundung Betroffener <strong>aus</strong>, daher dürfen sie im<br />

Behandlungsprozess nicht <strong>aus</strong>geklammert werden.<br />

3) Außerdem verfügen Angehörige über ein differenziertes Expertenwissen <strong>aus</strong><br />

Alltagserfahrung, welches sie zu einer maßgeblichen Ressource in der Behandlung sowie<br />

in der Evaluation des Behandlungserfolges macht.<br />

4) Gleichzeitig haben Angehörige als meist einzige kontinuierliche Bezugspersonen aber<br />

auch starke Belastungen zu tragen und werden so zu Mitbetroffenen mit eigenen Nöten und<br />

Bedürfnissen. Aus diesem Grund benötigen auch Angehörige Unterstützung.<br />

5) Auch auf gesundheitspolitischer Ebene ist die Angehörigenperspektive, die auf von<br />

Professionellen nicht wahrgenommene Defizite hinweisen kann, ein Gewinn.<br />

36


3 Fragestellung<br />

3 Fragestellung<br />

Das Kapitel 3 beschäftigt sich mit den zur Entwicklung der Fragestellung relevanten<br />

Aspekten: Zunächst wird im Entstehungskontext (3.1) erläutert, wie die Idee zur Arbeit<br />

entstand. In Kapitel 3.2 wird unter Bezugnahme auf die theoretische Hinführung die<br />

konkrete Fragestellung abgeleitet. Das Kapitel schließt mit der Vorstellung des NetzWerkes<br />

psychische Gesundheit ab (3.3), anhand dessen <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> in der vorliegenden<br />

Arbeit beispielhaft untersucht wurde.<br />

3.1 Entstehungskontext<br />

Ambulante und gemeindepsychiatrische bzw. sozialpsychiatrische Konzepte werden<br />

sowohl im Studium der Psychologie meist vernachlässigt als auch Betroffenen selten als<br />

Behandlungsoption vermittelt. Ich selbst wurde im Studium erst relativ spät auf solche<br />

Alternativen zur klassisch psychiatrischen Behandlung aufmerksam. Ein Seminar<br />

verschaffte mir durch Exkursionen in ambulante Einrichtungen Berlins einen<br />

praxisorientierten Einblick in die vielfältige <strong>Versorgung</strong>slandschaft abseits der stationären<br />

Psychiatrie. Eine dieser Exkursionen ging in das Projekt <strong>Krisenpension</strong> und<br />

Hometreatment: Hier wird Menschen die Alternative geboten, eine psychische Krise in der<br />

häuslichen Umgebung der <strong>Krisenpension</strong> zu bewältigen anstatt sich in stationäre<br />

Behandlung zu begeben. Ein solcher Ansatz war mir neu, schloss für mich aber eine Lücke<br />

im Behandlungsspektrum der Psychiatrie. Dass die NutzerInnen dort ihr Leben möglichst<br />

normal weiterführen können, Eigenständigkeit als etwas Positives gesehen wird und die<br />

Mitbestimmung in der Begleitung dementsprechend groß ist, beeindruckte mich sehr. Auch<br />

dass Angehörige durch regelmäßige Netzwerkgespräche mit den Betroffenen und deren<br />

BezugsbegleiterInnen stark in den Prozess einbezogen werden, ergab für mich sofort Sinn.<br />

Ich wunderte mich, dass solche Konzepte nicht bekannter und verbreiteter sind und<br />

bedauerte, dass nur so wenigen Menschen diese Alternative überhaupt zur Wahl gestellt<br />

wird. So entstand der Wunsch in mir, mich näher mit gemeindepsychiatrischen Konzepten<br />

zu beschäftigen und mehr über ihr Potenzial für mögliche Entwicklungen in der<br />

psychiatrischen <strong>Versorgung</strong>slandschaft zu erfahren. Ich nahm Kontakt zu MitarbeiterInnen<br />

von <strong>Krisenpension</strong> und Hometreatment auf und erfragte die Möglichkeit, mich im Rahmen<br />

einer Diplomarbeit mit ihrem <strong>Versorgung</strong>sangebot <strong>aus</strong>einanderzusetzen. Im gemeinsamen<br />

Gespräch entstand dann die Idee zu der vorliegenden Arbeit.<br />

37


3 Fragestellung<br />

3.2 Ableitung der eigenen Fragestellung<br />

Wie in Kapitel 2.1 dargestellt, besitzt die <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> (IV) das Potenzial, die<br />

psychiatrische <strong>Versorgung</strong>slandschaft zu verändern. Dadurch, dass sie inhaltlich offen<br />

gehalten wird, kann die stationäre <strong>Versorgung</strong> im Rahmen der IV nicht gegenüber<br />

ambulanter <strong>Versorgung</strong> präferiert werden, was langfristig eine stärkere Implementierung<br />

ambulanter Angebote in der Regelversorgung ermöglicht. Die außerstationäre Krisenbegleitung<br />

<strong>Krisenpension</strong> und Hometreatment, die auf Konzepten der Sozialen Psychiatrie<br />

(s. Kap. 2.2) basiert, hat diese Chance als Teil des IV-Vertrages NetzWerk psychische<br />

Gesundheit (NWpG) ergriffen. Es gibt bisher allerdings nur wenige Untersuchungen im<br />

Bezug auf Qualität und Nutzerzufriedenheit zum neuen <strong>Versorgung</strong>skonzept der<br />

<strong>Integrierte</strong>n <strong>Versorgung</strong>, besonders im psychiatrischen Bereich. Wie Kapitel 2.3<br />

verdeutlicht, sind Angehörige eine in der Psychiatrie lange zu unrecht vernachlässigte<br />

Gruppe, die u. a. einen wertvollen Beitrag für die Evaluation von <strong>Versorgung</strong>sangeboten<br />

leisten kann. Als Experten für die Betroffenen können sie Veränderungen bei diesen gut<br />

einschätzen und haben meist schon viel Erfahrung mit psychiatrischen Angeboten. Damit<br />

sind sie eine hervorragende Quelle, um Rückmeldung über die Qualität der Einrichtung<br />

sowie Anregungen zur Verbesserung zu geben. Da der Großteil der Evaluationsforschung<br />

<strong>aus</strong> Betroffenensicht erfolgt, ist über die Angehörigenperspektive viel weniger bekannt.<br />

Insgesamt gibt es noch viel Forschungsbedarf für die qualitative Auswertung von<br />

<strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong> sowie zur Angehörigenperspektive im Evaluationsprozess. Deshalb<br />

möchte ich diese beiden Felder in meiner Diplomarbeit kombinieren und die subjektive<br />

Bewertung des IV-Vertrages NWpG von Angehörigen untersuchen. Meine zentrale Frage<br />

lautet damit:<br />

Wie beurteilen Angehörige das NetzWerk psychische Gesundheit?<br />

Ziel meiner Arbeit ist demnach, die Perspektive der Angehörigen bei der Bewertung des<br />

NWpG zu untersuchen und damit einen Beitrag zur Qualitätsanalyse und Evaluation eines<br />

gemeindepsychiatrisch orientierten IV-Vertrages zu leisten. Dabei soll her<strong>aus</strong>gefunden<br />

werden, was als positiv bzw. negativ bewertet wird, um so Verbesserungsvorschläge zu<br />

gewinnen. Die Angehörigenbefragung überprüft auch, ob Angehörige den theoretischen<br />

Schlüsselkonzepten, die dem NWpG zu Grunde liegen, die gleiche Bedeutsamkeit für den<br />

Behandlungsprozess zuschreiben. Die vorliegende Arbeit versteht sich somit zum einen als<br />

<strong>Versorgung</strong>sforschung im Bezug auf die <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> und zum anderen als<br />

Angehörigenforschung, deren Perspektive hier eingenommen wird.<br />

38


3 Fragestellung<br />

3.3 Das NetzWerk psychische Gesundheit als Beispiel <strong>Integrierte</strong>r<br />

<strong>Versorgung</strong><br />

Das NetzWerk psychische Gesundheit in Berlin stellt ein Beispiel für die<br />

gemeindepsychiatrisch orientierte Umsetzung eines IV-Vertrages dar. Das <strong>Versorgung</strong>sangebot<br />

kann von Betroffenen genutzt werden, die sich über ihre Krankenkasse in das<br />

Angebot eingeschrieben haben. Ziel des NWpG ist es, Menschen in psychischen Krisen<br />

mit niedrigschwelligen ambulanten Angeboten eine Alternative zur stationären <strong>Versorgung</strong><br />

anzubieten. Das <strong>Versorgung</strong>skonzept des NWpG besteht vor allem darin, durch Krisenprävention<br />

bzw. frühzeitige Krisenintervention einen stationären Behandlungsbedarf und<br />

Chronifizierung zu vermeiden. Alle NutzerInnen erhalten ein festes Behandlungsteam,<br />

bestehend <strong>aus</strong> zwei BezugsbegleiterInnen, mit denen ein ganz individuelles <strong>Versorgung</strong>smodell<br />

(bedürfnisangepasste Behandlung) zusammengestellt wird. Im Mittelpunkt des<br />

Modells steht das Home Treatment als aufsuchende Begleitung, das meist den<br />

gemeinsamen Nenner der sonst von NutzerIn zu NutzerIn variabel gestalteten Angebote<br />

darstellt. Gleich große Bedeutung kommt den Netzwerkgesprächen (Offener Dialog) zu, in<br />

denen das persönliche Netzwerk der NutzerInnen, vor allem die Angehörigen, einbezogen<br />

werden. Weitere mögliche B<strong>aus</strong>teine für die Zusammensetzung des individuellen Angebots<br />

sind u. a. die Nutzung der 24-Stunden besetzten <strong>Krisenpension</strong> (Soteria) sowie Gruppenangebote.<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> zeichnet sich das NWpG durch seine trialogische Arbeitsweise<br />

und seine Erreichbarkeit an 24 Stunden des Tages und 7 Tagen der Woche <strong>aus</strong>.<br />

39


4 Methodik<br />

4 Methodik<br />

Das folgende Kapitel 4 beschäftigt sich mit der methodischen Konzeption der in dieser<br />

Diplomarbeit durchgeführten Untersuchung und den dafür <strong>aus</strong>gewählten Methoden.<br />

Einleitend wird die Wahl des qualitativen Ansatz begründet (4.1). Darauf folgt die<br />

Darstellung des Zugangs zum Feld (4.2), wobei zum einen die Samplingstrategie (4.2.1)<br />

und zum anderen das Sample (4.2.2) selbst beschrieben werden. Das Kapitel 4.3<br />

beschäftigt sich näher mit den Methoden der Datenerhebung. Die Daten wurden mit dem<br />

problemzentrierten Interview (4.3.1) erhoben, für das ein auf die Fragestellung<br />

zugeschnittener Interviewleitfaden konstruiert wurde (4.3.2). Weiterhin werden<br />

Informationen zur Durchführung der Interviews gegeben (4.3.3). In Kapitel 4.4 werden die<br />

Methoden zur Daten<strong>aus</strong>wertung vorgestellt: Zunächst wird das Vorgehen bei der<br />

Transkription (4.4.1) des Datenmaterials erläutert, darauf folgt die Beschreibung der<br />

qualitativen Inhaltsanalyse (4.4.2), mit der die Transkripte <strong>aus</strong>gewertet wurden.<br />

Abschließend werden Gütekriterien qualitativer Forschung (4.5) herangezogen, um die<br />

Güte der vorliegenden Untersuchung zu bewerten. Dazu erwiesen sich die Kriterien<br />

Intersubjektive Nachvollziehbarkeit (4.5.1) und Indikation der Methoden (4.5.2) als<br />

geeignet.<br />

4.1 Begründung des qualitativen Forschungsansatzes<br />

Zur Beantwortung der Fragestellung wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt. Ein<br />

Grundprinzip dieses Forschungsansatzes ist Offenheit (Lamnek, 2005). Sie erlaubt es, sich<br />

unvoreingenommen einer Fragestellung zu nähern und im Gegensatz zum quantitativen<br />

Ansatz auch Antworten abseits des Erwarteten zu erhalten. Diese Offenheit für Neues ist<br />

auch im Rahmen eines evaluativen Beitrages vorteilhaft. So können alle Aspekte, die für<br />

relevant erachtet werden, geäußert werden und wichtige unerwartete Hinweise zur<br />

Beurteilung der Einrichtung gehen nicht verloren. Außerdem ermöglicht ein offenes<br />

Erhebungsverfahren durch das weitere Grundprinzip der Kommunikation die Darstellung<br />

von Zusammenhängen: So kann nicht nur eine Aussage darüber getroffen werden, was<br />

genau gut bzw. schlecht ist, es kann auch geschildert werden, warum dies so ist. Dadurch<br />

können auch scheinbare Widersprüche aufgeklärt werden: Das Konzept X ist zwar<br />

hilfreich und sinnvoll, aber <strong>aus</strong> den Gründen Y konnte es beim Betroffenen nichts<br />

bewirken. Auch soll in dieser Untersuchung keine Häufigkeit von Zufriedenheit bzw.<br />

40


4 Methodik<br />

Unzufriedenheit erhoben werden, sondern ein Einblick in die individuellen Erfahrungen<br />

von Angehörigen zum NWpG gegeben werden. Genau diese Erfahrungen zu verstehen und<br />

subjektive Sichtweisen zu rekonstruieren, macht den Charakter qualitativer Forschung <strong>aus</strong><br />

(Helfferich, 2011). Darüber hin<strong>aus</strong> eignet sie sich besonders gut, die Unterschiedlichkeit<br />

von Perspektiven aller Beteiligten und somit eine Vielschichtigkeit in der Wahrnehmung zu<br />

verdeutlichen (Flick, 1995). Dies ist besonders für die Fragestellung dieser Arbeit relevant,<br />

da die befragten Angehörigen in der Darstellung ihrer Bewertung zwischen eigenen und<br />

fremden, von den Betroffenen angenommenen Perspektiven, hin und her wechseln.<br />

4.2 Zugang zum Feld<br />

In den meisten Arbeiten zu psychiatrischen <strong>Versorgung</strong>sangeboten werden Mitarbeiter-<br />

Innen oder KlientInnen als InterviewpartnerInnen gewählt. Dieses Feld ist leichter zu<br />

erreichen als das der Angehörigen, da letztere nicht regelmäßig in den Institutionen<br />

anzutreffen sind. Im Falle dieser Arbeit war ein doppelt indirekter Weg zur Gewinnung von<br />

InterviewpartnerInnen nötig: Ich selbst hatte nur Kontakt zu den MitarbeiterInnen des<br />

NWpG, die Kontakt zu den Betroffenen aufnehmen konnten. Diese sollten wiederum die<br />

Angehörigen um Mitarbeit bitten. So war ich auf das Engagement der MitarbeiterInnen<br />

angewiesen. Den größten Erfolg hatten Rekrutierungsversuche, bei denen die<br />

MitarbeiterInnen in gutem Kontakt zu den Angehörigen standen und diese direkt fragten.<br />

Als fremde Forscherin ergaben sich die beschriebenen Schwierigkeiten zwar für den<br />

Zugang zu InterviewpartnerInnen, gleichzeitig erhöht eine solche Außenseiterperspektive<br />

aber auch das Erkenntnispotenzial durch die damit einhergehende Unvoreingenommenheit<br />

(Flick, 1995).<br />

4.2.1 Samplingstrategie<br />

Der Einstieg zur Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgte nach dem Schneeballsystem.<br />

Bei diesem werden bekannte Personen gefragt, ob sie Personen kennen, die die Kriterien<br />

für die Interviewteilnahme erfüllen (Helfferich, 2011). Nachdem der Kontakt zum ersten<br />

Mitarbeiter hergestellt war, gab dieser das Gesuch nach Angehörigen als InterviewpartnerInnen<br />

an seine KollegInnen weiter. Für genauere Informationen zum Anliegen und<br />

Rahmen des Interviews wurde den MitarbeiterInnen eine Intervieweinladung zum<br />

Weiterreichen an interessierte Angehörige zur Verfügung gestellt (s. Anhang A). Im<br />

weiteren Verlauf orientierte sich die Samplingstrategie aber auch am theoretischen<br />

41


4 Methodik<br />

Sampling (Glaser & Str<strong>aus</strong>s, 1998) und zielte auf eine maximale Kontrastierung ab:<br />

Nachdem die ersten zwei Interviews in Bezug auf das Behandlungsergebnis sehr positive<br />

Fälle waren, wurde gezielt nach negativen und durchschnittlichen Fällen gesucht, um ein<br />

möglichst breites Spektrum an Erfahrungen abzudecken. Die Stichprobe wurde demnach<br />

nicht nach Repräsentativität zusammengesetzt, sondern vielmehr nach dem Kriterium des<br />

„(zu erwartenden) Gehalt an Neuem“ (Flick, 1995, S. 82) <strong>aus</strong>gewählt. Als interne Experten<br />

wurden MitarbeiterInnen des NWpG bei der Auswahl zu Rate gezogen. Diese schrittweise<br />

Auswahl der InterviewpartnerInnen kann aber auch als Umsetzung der Prozessorientierung<br />

des problemzentrierten Interviews (s. Kap. 4.3.1) verstanden werden (Flick, 1995).<br />

Insgesamt ergab sich so ein heterogenes Sample, das sich <strong>aus</strong> Fällen mit positiven,<br />

negativen (Abbruch der Teilnahme bzw. keine Besserung) und durchschnittlichen Fällen<br />

zusammensetzte. Ziel des theoretischen Samplings ist die theoretische Sättigung. Letztere<br />

ist erreicht, wenn keine für die Fragestellung relevanten Ähnlichkeiten oder Unterschiede<br />

mehr im Datenmaterial gefunden werden können (Kelle & Kluge, 1999, zit. nach Lamnek,<br />

2005). Es konnte zwar keine völlige theoretische Sättigung erreicht werden, aber es wurde<br />

sich dieser, soweit im Rahmen einer Diplomarbeit möglich, angenähert.<br />

4.2.2 Sample<br />

Das Sample setzt sich zusammen <strong>aus</strong> vier Männern und zwei Frauen im Alter zwischen 42<br />

und 66 Jahren. Vier der InterviewparterInnen sind PartnerInnen von Betroffenen, darüber<br />

hin<strong>aus</strong> wurden eine Mutter und ein enger Freund interviewt. Bei den NutzerInnen wurden<br />

affektive oder psychotische Störungen diagnostiziert. Die Nutzungsdauer der Angebote des<br />

NWpG variierte zwischen ½ bis hin zu 3 ½ Jahren. Die Tabelle 1 enthält eine Übersicht<br />

über diese und weitere demografische Daten der sechs interviewten Angehörigen sowie der<br />

Betroffenen, die anhand eines Kurzfragebogens (s. Anhang D) erhoben wurden.<br />

42


4 Methodik<br />

Tabelle 1<br />

Demografische Daten des Samplings (reduzierte Version <strong>aus</strong> Datenschutzgründen)<br />

Angehörige<br />

Herr A. Herr B. Herr K. Frau T. Frau D. Herr M.<br />

Geschlecht m m m w w m<br />

Alter 52 44 62 66 62 45<br />

Beruf<br />

IT-Supporter<br />

z.Z.<br />

freiberuflich,<br />

Lehrer/<br />

Psychologe/<br />

Künstler<br />

Studienrätin<br />

(pensioniert)<br />

Familienstand ledig ledig ledig eingetragene<br />

Partnerschaft<br />

Beziehung zum<br />

Betroffenen<br />

gemeinsamer<br />

H<strong>aus</strong>halt<br />

Betroffene<br />

10-15 Jahre<br />

befreundet<br />

Ingenieurin<br />

(berentet)<br />

verheiratet<br />

Ingenieur<br />

verheiratet<br />

Mutter Ehefrau Ehemann<br />

nein ja nein nein ja ja<br />

Geschlecht m w m w m w<br />

Alter 49 36 62 40 67 42<br />

Beruf<br />

Selbstständiger<br />

Unternehmensberater<br />

Lebenspartner<br />

Lebenspartner<br />

Grafikdesigner<br />

Religionslehrerin<br />

Computerfachmann<br />

(arbeitslos)<br />

Ingenieurin<br />

Familienstand ledig ledig ledig verheiratet<br />

(getrennt)<br />

angegebene<br />

Diagnose<br />

Paranoide<br />

Schizophrenie<br />

Nutzungsdauer<br />

ª<strong>Krisenpension</strong><br />

~ 3 ½ Jahre ~ 3 Jahre<br />

(8 Wochen<br />

KPª)<br />

Chemie<br />

ing.(berentet)<br />

verheiratet<br />

Sängerin<br />

verheiratet<br />

Psychose Suizidalität Psychose Depression Bipolare<br />

Störung<br />

~¾ Jahr 3 Wochen KP,<br />

6 Monate<br />

Kontakt<br />

6-8 Monate 1 ¾ Jahre<br />

43


4 Methodik<br />

4.3 Methoden der Datenerhebung<br />

Die Daten der vorliegenden Untersuchung wurden mit dem problemzentrierten Interview<br />

nach Witzel (2000) erhoben. Dieses eignet sich besonders gut für die zu bearbeitende<br />

Fragestellung, da es einerseits ein offenes Vorgehen ist, welches im Sinne einer<br />

Unvoreingenommenheit genug Spielraum für neue unerwartete Themen zulässt, die sich<br />

erst in der Interviewsituation ergeben. Andererseits stellt die Problemzentrierung sicher,<br />

dass das Interview auf die Fragestellung fokussiert bleibt und der Interviewte auf die<br />

interessierenden Aspekte zu sprechen kommt. Dies ist notwendig, da der Rahmen einer<br />

Diplomarbeit eine gewisse thematische Begrenzung verlangt, um die gewonnenen Daten<br />

auf angemessene Weise <strong>aus</strong>werten zu können. Ein weiterer Vorteil ist die Vergleichbarkeit<br />

mit anderen Interviews durch eine vorgegebene Grundstruktur sowie eine thematische<br />

Vorstrukturierung mit Hilfe des Leitfadens. Im nächsten Abschnitt wird die Methode des<br />

problemzentrierten Interviews genauer vorgestellt.<br />

4.3.1 Das problemzentrierte Interview<br />

Das problemzentrierte Interview wurde von Witzel (1982, 1985) entwickelt und zeichnet<br />

sich durch die drei Grundpositionen Problemzentrierung, Gegenstandorientierung und<br />

Prozessorientierung <strong>aus</strong>.<br />

Grundpositionen<br />

Problemzentrierung bedeutet allgemein, dass sich das Forschungsvorhaben an<br />

gesellschaftlich relevanten Problemstellungen orientiert (Witzel, 2000). Diesem Anspruch<br />

wird der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit gerecht, da die <strong>Integrierte</strong><br />

<strong>Versorgung</strong> eine Innovation für die <strong>Versorgung</strong>slandschaft darstellt, die starken Einfluss<br />

darauf hat, wie psychiatrische Behandlung zukünftig <strong>aus</strong>sehen wird. In der methodischen<br />

Umsetzung bedeutet Problemzentrierung weiterhin, dass Vorwissen in problemzentrierte<br />

Fragen einfließen kann und so die Kommunikation präziser auf das Problem zuspitzt<br />

(Witzel, 2000).<br />

Gegenstandorientierung betont die methodische Flexibilität des problemzentrierten<br />

Interviews. Das heißt, dass je nach Anforderungen des Untersuchungsgegenstandes<br />

unterschiedliche Gesprächstechniken und Methoden gewählt und kombiniert werden<br />

können. Witzel (2000) nennt die Gruppendiskussion, die biografische Methode oder auch<br />

standardisierte Fragebögen als Beispiele für mögliche Ergänzungsmethoden. Um in der<br />

Interviewsituation die größtmögliche Flexibilität bei gleichzeitiger Themenfokussierung<br />

44


4 Methodik<br />

beizubehalten, wurde für diese Arbeit ein Leitfaden konzipiert (s. Kap. 4.2.5). Dieser<br />

ermöglicht eine spontane Anpassung an die InterviewparterInnen während des Interviews.<br />

Themenreihenfolge und Schwerpunkte können vom Interviewten bestimmt werden, so dass<br />

die subjektiven Bedeutungsstrukturen möglichst ungebremst geschildert werden können.<br />

Prozessorientierung bezieht sich auf den kompletten Forschungsablauf, inklusive<br />

Vorrecherche und Vorinterpretation, und das Gegenstandsverständnis (Witzel, 2000). Beim<br />

eigentlichen Interview sollte der Interviewte sensibel und akzeptierend bei der<br />

Rekonstruktion von Orientierungen und Handlungen unterstützt werden, so dass eine<br />

möglichst vertraute und offene Atmosphäre geschaffen wird. Diese wiederum sollte beim<br />

Interviewten Erinnerungsfähigkeit und Selbstreflexion fördern, so dass sich die subjektive<br />

Problemsicht ungeschützt entfalten kann und neue Aspekte freigelegt werden (Witzel,<br />

2000).<br />

Instrumente<br />

Zur Datenerfassung stellt das problemzentrierte Interview vier Instrumente zur Verfügung<br />

(Lamnek, 2005): Der Kurzfragebogen erfasst wichtige Fakten - meist demografische Daten<br />

-, die keiner weiteren Erläuterung bedürfen, und entlastet so den Hauptteil des Interviews.<br />

Dieser beruht auf dem Interviewleitfaden, welcher der Materialgenerierung dient und<br />

Fragen zu den relevanten Forschungsthemen beinhaltet. Zu betonen ist hierbei allerdings,<br />

dass er lediglich eine Gedankenstütze darstellt. Es besteht jedoch kein Zwang, ihn zu<br />

benutzen, falls alle relevanten Themen bereits von den InterviewpartnerInnen<br />

angesprochen wurden. Das Aufnahmegerät zeichnet das komplette Interview auf, welches<br />

dann transkribiert werden kann und die Grundlage für die spätere Auswertung liefert. Das<br />

Postskript wird nach dem Interview angefertigt und kann nonverbale Interviewinhalte,<br />

Rahmenbedingungen, Äußerungen vor oder nach der Aufnahme sowie spontane Eindrücke<br />

und weitere Anmerkungen enthalten (Lamnek, 2005).<br />

Phasen<br />

Der konkrete Ablauf des problemzentrierten Interviews lässt sich in mehrere Phasen<br />

unterteilen (Lamnek, 2005). Der Einstieg erfolgt durch eine im Leitfaden vorformulierte<br />

Erzählaufforderung, die möglichst erzählgenerierend wirken sollte. In der darauffolgenden<br />

Phase der allgemeinen Sondierung werden bereits angesprochene Themen aufgegriffen und<br />

weitere Nachfragen gestellt, um detailliertere Ausführungen anzuregen. Die Phase der<br />

spezifischen Sondierung hingegen dient der Verständnisgenerierung. Die Zurückspiegelung<br />

dient dabei der Überprüfung der richtigen Interpretation des Gesagten durch den<br />

45


4 Methodik<br />

Interviewer, der dem Interviewten damit die Möglichkeit der Korrektur anbietet. Außerdem<br />

können Verständnisfragen gestellt werden, um Widersprüche oder <strong>aus</strong>weichende<br />

Antworten zu thematisieren. Möglich ist auch die direkte Konfrontation damit. Wenn<br />

dieser durch immanente Fragen gekennzeichnete Teil des Interviews <strong>aus</strong>geschöpft ist,<br />

können exmanente Ad-hoc-Fragen <strong>aus</strong> dem Interviewleitfaden gestellt werden, soweit<br />

diese Themen bisher noch nicht vom Interviewten selbst angesprochen wurden.<br />

Zentral für die Gestaltung des problemzentrierten Interviews ist der Interviewleitfaden<br />

(Lamnek, 2005). Das Vorwissen bzw. Vorverständnis, das sich der bzw. die ForscherIn zur<br />

Vorbereitung der Erhebungsphase aneignet, kann über den Leitfaden ins Interview<br />

einfließen und ist für dessen Erstellung sogar notwendig. Wichtig zu betonen ist hierbei,<br />

dass dies keine Abkehr vom induktiven Ansatz bedeutet, sondern fast immer gegebenes<br />

Vorwissen transparent macht. Außerdem sichern offen gestellte Fragen, dass der bzw. die<br />

ForscherIn trotz möglicher theoretischer Vorüberlegungen offen für die „Bedeutungsstrukturierung<br />

der sozialen Wirklichkeit“ (Lamnek, 2005, S. 364) der Befragten bleibt. Der<br />

zu interessierende Problembereich kann so eingegrenzt werden, ohne die Antworten zu<br />

beeinflussen. Das folgende Kapitel beschreibt, wie der Interviewleitfaden für diese Arbeit<br />

erstellt wurde.<br />

4.3.2 Konstruktion des Interviewleitfadens<br />

Der Leitfaden für die problemzentrierten Interviews, die in dieser Arbeit durchgeführt<br />

wurden, wurde nach dem von Helfferich (2011) vorgeschlagenem SPSS-Prinzip erstellt.<br />

Dieses folgt dem Grundsatz so offen und flexibel wie möglich und gleichzeitig so<br />

strukturiert wie nötig zu sein. SPSS steht für die Schritte der Leitfadenkonstruktion<br />

Sammeln, Prüfen, Sortieren und Subsumieren. Als erster Schritt wurden möglichst viele<br />

unterschiedliche Fragen gesammelt, die im Zusammenhang mit der Fragestellung dieser<br />

Arbeit von Interesse sind. Im zweiten Schritt wurde diese Fragensammlung deutlich<br />

reduziert: Faktenfragen wurden entfernt oder in den Kurzfragebogen verschoben und<br />

Fragen, die nicht erzählgenerierend waren, die implizit Vorwissen bestätigen sollten oder<br />

nicht offen genug formuliert waren, wurden gestrichen oder verändert. Im nächsten Schritt<br />

wurden die verbliebenen Fragen thematisch sortiert. Nach dem Durchlaufen des<br />

beschriebenen Prozedere entstanden folgende Themenblöcke mit entsprechenden<br />

Leitfragen:<br />

46


4 Methodik<br />

I. Einstieg: Erzählaufforderung<br />

→ Wie kam es zum Einstieg ins Projekt? Welche Erfahrungen wurden bisher mit dem<br />

Projekt gemacht?<br />

II. Hinweise auf Nutzen des NWpG<br />

→ Wurden seit dem Einstieg Veränderungen festgestellt? Was wird als hilfreich/weniger<br />

hilfreich erlebt?<br />

III. Besondere Merkmale des NWpG (in Abgrenzung zur klassischen Psychiatrie:<br />

Kontrastfrage)<br />

→ Welche Unterschiede konnten zur klassischen Psychiatrie festgestellt werden?<br />

IV. Anregungen zur Verbesserung (Idealfrage)<br />

→ Wie sieht das ideale psychiatrische <strong>Versorgung</strong>sangebot <strong>aus</strong>?<br />

V. Abschluss<br />

→ Gibt es noch offene Punkte?<br />

In einem letzten Schritt wurden die Themenblöcke durch weitere Unterfragen zu<br />

Einzelaspekten <strong>aus</strong>gefüllt, so dass untergliederte Fragenbündel entstanden. Auch die<br />

formale Gestaltung des Interviewleitfadens orientiert sich an Helfferich (2011). Einzig die<br />

Spalte der Aufrechterhaltungsfragen wurde der Übersicht halber unter die drei Spalten für<br />

die Leitfragen, die zu erwartenden Aspekte und die konkreten Nachfragen platziert. Der so<br />

entwickelte erste Entwurf für den Interviewleitfaden wurde im Rahmen eines<br />

DiplomandInnen-Kolloquiums vorgestellt und diskutiert. Durch Berücksichtigung der dort<br />

gewonnenen Anregungen entstand die Endversion des Interviewleitfadens, die im Anhang<br />

D zu finden ist. Darin enthalten ist auch der Kurzfragebogen.<br />

4.3.3 Durchführung der Interviews<br />

Die sechs Interviews fanden im Zeitraum von Juni bis September 2011 statt. Ich erhielt die<br />

Telefonnummern der InterviewteilnehmerInnen - nach Erteilung deren Einverständnisses -<br />

entweder von den MitarbeiterInnen oder von ihnen selber per Email oder per SMS. In allen<br />

Fällen nahm ich so telefonisch Kontakt auf. In diesem Gespräch erklärte ich noch einmal<br />

den Rahmen und den Hintergrund des Interviews und stellte sicher, dass alle Fragen dazu<br />

geklärt waren. Die InterviewpartnerInnen konnten Zeit und Ort nach eigener Präferenz<br />

wählen. Vier der Interviews fanden in der eigenen Wohnung der Befragten statt, die beiden<br />

anderen in öffentlichen Örtlichkeiten (Restaurant, Stadtbibliothek). Als zeitlicher Rahmen<br />

war etwa eine Stunde geplant, die tatsächliche Dauer variierte zwischen 1 und 2 Stunden.<br />

47


4 Methodik<br />

Nach der Begrüßung und dem Einfinden in die Situation erklärte ich noch einmal den<br />

Ablauf und Rahmen des Interviews. Vor dem eigentlichen Interview wies ich auf<br />

Anonymität und datenschutzrechtliche Bedingungen hin und schloss den Datenschutzvertrag<br />

(s. Anhang B) mit den Interviewteilnehmern ab. Das komplette Interview wurde<br />

nach Einverständnis der Angehörigen mit einem Diktiergerät aufgezeichnet. Alle<br />

InterviewpartnerInnen waren dem Thema gegenüber sehr aufgeschlossen und berichteten<br />

<strong>aus</strong>führlich und selbstständig über selbst gewählte Schwerpunkte. Den Kurzfragebogen<br />

ließ ich erst nach Abschluss des Interviewhauptteils <strong>aus</strong>füllen, um zu vermeiden, dass sich<br />

seine Frage-Antwort-Struktur auf den Dialog im Interview <strong>aus</strong>wirkt (Flick, 1995). Nach<br />

der Beendigung des Interviews und Verabschiedung der bzw. des Interviewten fertigte ich<br />

das Postskriptum an. Damit sollten Eindrücke und Gedanken zum Interview festgehalten<br />

werden, die mir bei der späteren Auswertung von Nutzen sein könnten.<br />

4.4 Methoden der Daten<strong>aus</strong>wertung<br />

Als Methode der Daten<strong>aus</strong>wertung wurde die zusammenfassende qualitative Inhaltsanalyse<br />

nach Mayring (2002) gewählt. Diese eignet sich gut, um die Interviewtexte systematisch zu<br />

analysieren und das Material auf die wesentlichen Inhalte zu reduzieren.<br />

4.4.1 Transkription<br />

Bereits die Transkription stellt den ersten Schritt der Daten<strong>aus</strong>wertung dar. Der<br />

Transkriptionsprozess bietet nämlich die Möglichkeit, sich intensiv mit dem<br />

aufgenommenen Material zu beschäftigen und erste Interpretationsideen zu sammeln. Da<br />

so ein tieferes Verständnis für das Material entstehen kann (Dresing & Pehl, 2010), wurden<br />

alle Transkripte von mir selbst erstellt. Das Audiotranskriptionsprogramm f4 lieferte die<br />

technische Unterstützung dafür. Zur Nachvollziehbarkeit des Entstehungsprozesses wurden<br />

Transkriptionsregeln festgelegt (s. Anhang C). Diese wurden so gewählt, dass eine<br />

möglichst gute Lesbarkeit bei gleichzeitigem Erhalt einer möglichst originalgetreuen<br />

Interviewabbildung (Kuckartz, Dresing, Rädiker & Stefer, 2008) gewährleistet wird. Alle<br />

Personennamen und Orte wurden zur Wahrung der Anonymität entfernt bzw.<br />

verallgemeinert. In Anhang F befindet sich ein Beispieltranskript, das nach diesem Prinzip<br />

erstellt wurde.<br />

48


4 Methodik<br />

4.4.2 Die Qualitative Inhaltsanalyse<br />

Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2002) ist eine Methode, mit der Material<br />

streng methodisch kontrolliert analysiert werden kann. Aus dem Material wird dazu<br />

schrittweise ein Kategoriensystem erarbeitet. Dieses Kategoriensystem steht im Zentrum<br />

der qualitativen Inhaltsanalyse und wird je nach Analysetechnik induktiv <strong>aus</strong> den Daten<br />

gewonnen oder deduktiv <strong>aus</strong> der Theorie abgeleitet. Weiterhin zeichnet sich die qualitative<br />

Inhaltsanalyse durch ihre Regelgeleitetheit <strong>aus</strong>, die durch das allgemeine inhaltsanalytische<br />

Ablaufmodell sichergestellt wird (Mayring, 2000). Darin wird das Datenmaterial in<br />

Analyseeinheiten zerlegt und schrittweise bearbeitet. Folgende neun Stufen werden bei<br />

diesem Prozess durchlaufen (Lamnek, 2005): Bei der Festlegung des Materials (1) werden<br />

die <strong>aus</strong>zuwertenden Textstellen nach Relevanz für die Beantwortung der Fragestellung<br />

eingegrenzt. Dies ist besonders bei großen Datenmengen sinnvoll, um den Arbeitsaufwand<br />

zu reduzieren. In der Analyse der Entstehungssituation (2) werden alle verfügbaren Daten<br />

zur Interviewsituation wie zum Beispiel Postskripte <strong>aus</strong>gewertet, um diese auch bei der<br />

Gesamtanalyse berücksichtigen zu können. Als formale Charakterisierung des Materials<br />

(3) ist zu klären, in welcher Form die Daten vorliegen. Dies ist meist die Audiodatei und<br />

das dar<strong>aus</strong> erarbeitete Transkript. Es sollte dabei auch beschrieben sein, nach welchen<br />

Transkriptionsregeln verfahren wurde. Die Stufe der Richtung der Analyse (4) zielt darauf<br />

ab, zu reflektieren, was genau interpretiert werden soll. In der qualitativen Sozialforschung<br />

geht es darum, latente Sinnstrukturen <strong>aus</strong> den expliziten Aussagen her<strong>aus</strong>zuarbeiten. Durch<br />

die theoretische Differenzierung der Fragestellung (5) soll sichergestellt werden, dass die<br />

Fragestellung zum einen vorab genau feststeht und zum anderen einen theoretischen Bezug<br />

zur aktuellen Forschung hat. In der Bestimmung der Analysetechnik (6) wird das konkrete<br />

Ablaufmodell festgelegt. Je nachdem, welche Technik gewählt wird, resultiert eine andere<br />

Grundform der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring, 2002). Zu unterscheiden sind die<br />

zusammenfassende, die explikative und die strukturierende Inhaltsanalyse. Bei der<br />

Definition der Analyseeinheiten (7) wird bestimmt, wie ein Text<strong>aus</strong>schnitt beschaffen sein<br />

muss, damit er zu einer bestimmten Kategorie zugeordnet werden kann (Lamnek, 2005).<br />

Der Hauptteil der qualitativen Inhaltsanalyse ist die Analyse des Materials (8)<br />

entsprechend der in Schritt 6 festgelegten Analysetechnik. Bei der Zusammenfassung wird<br />

das Material so reduziert, dass nur die wesentlichen Inhalte bestehen bleiben. Durch<br />

schrittweise Abstraktion wird so ein überschaubarer Corpus her<strong>aus</strong>gearbeitet, der das<br />

Grundmaterial abbildet (Mayring, 2002). Die Explikation trägt als Kontextanalyse<br />

49


4 Methodik<br />

zusätzliches Material zu einzelnen unverständlich gebliebenen Textstellen heran, um diese<br />

<strong>aus</strong>zudeuten. Die Strukturierung filtert bestimmte Strukturen - je nach Fragestellung sind<br />

formale, inhaltliche, typisierende oder skalierende Strukturierungen möglich - <strong>aus</strong> dem<br />

Material und versucht, einen Querschnitt durch das Material zu legen. Der letzte Schritt<br />

besteht in der Interpretation (9) der Ergebnisse in Richtung der Hauptfragestellung.<br />

Anzustreben ist dabei die fallübergreifende Generalisierung hin zu einer Gesamtdarstellung<br />

typischer Fälle durch die Kategorien (Lamnek, 2005).<br />

Für die Auswertung der erhobenen Daten der vorliegenden Arbeit wurde die<br />

zusammenfassende Inhaltsanalyse gewählt. Diese bietet sich laut Mayring (2005) immer<br />

dann an, wenn man in erster Linie an der inhaltlichen Ebene des Materials und einer<br />

überschaubaren Zusammenfassung dessen interessiert ist. Dies ist für die zu bearbeitende<br />

Fragestellung der Fall, für die der Inhalt der Aussagen zum NWpG von Interesse ist und<br />

zusammengefasst werden soll. Außerdem stellt die zusammenfassende Inhaltsanalyse - im<br />

Vergleich zu den zwei anderen Grundformen der qualitativen Inhaltsanalyse - die offenste<br />

Herangehensweise an die Fragestellung dar. So sollen den Angehörigen dabei keine zu<br />

beurteilenden Kriterien des NWpG in Form von deduktiv gewonnenen Kategorien<br />

vorgegeben werden. Stattdessen soll das Untersuchungsdesign den Angehörigen vielmehr<br />

ermöglichen, ihre subjektiv relevanten Aspekte zur Einschätzung des NWpG zu äußern.<br />

Gerade die besondere Perspektive Angehöriger könnte neue unerwartete Aspekte<br />

hervorbringen, die für die Auswertung bzw. Verbesserung des NWpG von Bedeutung sind<br />

und bei einem deduktiven Ansatz verloren gehen würden. Dies wird durch die induktive<br />

Kategorienbildung ermöglicht, bei der die Kategorien in einem Verallgemeinerungsprozess<br />

direkt <strong>aus</strong> dem Material abgeleitet werden, ohne sich auf bereits festgelegte<br />

Theoriekonzepte zu beziehen (Mayring, 2008). Diese Verallgemeinerung entsteht durch<br />

einen systematischen Reduktionsprozess, bei dem schrittweise immer abstraktere Nive<strong>aus</strong><br />

erreicht werden. Als erster Reduktionsschritt wurden die <strong>aus</strong> den geführten Interviews<br />

entstandenen Transkripte einer Paraphrasierung unterzogen. Das heißt, dass alle nicht<br />

inhaltstragenden Textbestandteile her<strong>aus</strong>gekürzt und danach alle verbliebenen auf ihre<br />

grammatikalische Kurzform reduziert wurden. Als nächster Schritt wurde das<br />

paraphrasierte Textmaterial auf ein höheres Abstraktionsniveau verallgemeinert<br />

(Generalisierung). In der darauf folgenden ersten Reduktion wurden weniger relevante<br />

bzw. bedeutungsgleiche Passagen gestrichen. Die zweite Reduktion führte schließlich zu<br />

den fallspezifischen Kategorien, indem ähnliche Passagen gebündelt und zusammengefasst<br />

50


4 Methodik<br />

bzw. ineinander integriert wurden. Beispielhaft ist die Auswertung eines Interviews nach<br />

dem beschriebenen Prinzip der systematischen Reduktion in Anhang E zu finden. Um zu<br />

einem fallübergreifenden Kategoriensystem zu gelangen, wurde darüber hin<strong>aus</strong> eine<br />

Tabelle erstellt, die alle in der zweiten Reduktion gewonnenen Kategorien der befragten<br />

InterviewpartnerInnen miteinander vergleicht. Zur Unterstützung der Zuordnung von<br />

Textpassagen zu fallübergreifenden Kategorien diente außerdem das PC-Programm für<br />

qualitative Datenanalyse MAXQDA. Das endgültige Kategoriensystem wird im<br />

Ergebnisteil (Kapitel 5) vorgestellt.<br />

4.5 Gütekriterien qualitativer Forschung<br />

Steinke (1999) hat speziell für die Bewertung qualitativer Forschungsarbeiten universelle<br />

Kernkriterien entwickelt. Allgemein und unspezifisch gehalten sollen diese einen Pool<br />

darstellen, <strong>aus</strong> dem untersuchungsspezifisch angemessene Kriterien <strong>aus</strong>gewählt werden<br />

können.<br />

4.5.1 Intersubjektive Nachvollziehbarkeit<br />

Für die qualitative Untersuchung dieser Arbeit erscheint das Kriterium der intersubjektiven<br />

Nachvollziehbarkeit angemessen. Mit diesem Kriterium soll sichergestellt werden, dass<br />

Dritte den gesamten Forschungsprozess nachvollziehen und dadurch bewerten können<br />

(Steinke, 2007). Dies ist im Rahmen einer Diplomarbeit gut möglich und wurde durch die<br />

Dokumentation der <strong>aus</strong>gewählten Forschungsstrategien und der einzelnen Untersuchungsschritte<br />

umgesetzt. In diesem Kapitel wurden dementsprechend das Sampling, die<br />

Methoden der Datenerhebung und Daten<strong>aus</strong>wertung, Begründungen für deren Wahl sowie<br />

die erfüllten Gütekriterien dokumentiert. Darüber hin<strong>aus</strong> wurde der Weg von den<br />

erhobenen Daten hinzu den Ergebniskategorien zum einen anhand eines beispielhaften<br />

Interviews im Anhang (Anhang C, E und F) und zum anderen durch die Verwendung des<br />

PC-Programmes MAXQDA transparent gemacht.<br />

Auch die Interpretation in Gruppen (Steinke, 1999) wurde als Umsetzung von<br />

intersubjektiver Nachvollziehbarkeit für diese Arbeit wahrgenommen. Einerseits wurden<br />

wesentliche Schritte des Forschungsprozesses (Wahl der Erhebungsmethode, Leitfadenkonstruktion,<br />

Ergebniskategorien, Diskussion) im Diplomandinnen-Kolloquium diskutiert<br />

und angeregt, andererseits fand zu jeder Zeit ein intensiver Aust<strong>aus</strong>ch in der<br />

Kleinarbeitsgruppe mit einer anderen Diplomandin statt.<br />

51


4 Methodik<br />

4.5.2 Indikation der Methoden<br />

Ein weiteres für die vorliegende Untersuchung relevantes Gütekriterium ist die<br />

Angemessenheit der Methodenwahl (Steinke, 2007). In diesem Kapitel wurde bereits<br />

beschrieben, <strong>aus</strong> welchen Gründen die jeweilige Methode bzw. der qualitative Ansatz im<br />

Allgemeinen (s. Kap. 4.1) gewählt wurde. Ob sich die Methode tatsächlich als dem<br />

Untersuchungsgegenstand angemessen erwiesen hat, lässt sich am besten anhand der<br />

Durchführung beurteilen. Dafür spricht, dass der konstruierte Interviewleitfaden eine<br />

flexible Interviewgestaltung möglich machte, die sich der bzw. dem jeweiligen InterviewpartnerIn<br />

anpassen konnte. Zusätzliche bzw. unerwartete Themen (s. Kap. 5.2 K2<br />

Hindernisse) konnten so ins Interview eingehen. Ein weiteres Indiz für eine angemessene<br />

Datenerhebungsstrategie ist, dass die Interviewten frei und <strong>aus</strong>führlich auf Fragen<br />

antworteten, und auch persönliche Themen nicht scheuten. Die geführten Interviews<br />

zeichneten sich durch eine große Offenheit und z. T. sehr emotionale Momente <strong>aus</strong>. Alle<br />

Interviewten sprachen sehr frei und brauchten nur wenig unterstützende Fragen. Dies<br />

spricht für ein gelungenes Arbeitsbündnis und eine stimmige Atmosphäre (Steinke, 2007).<br />

Für die Angemessenheit der Auswertungsmethode spricht, dass diese co-indiziert mit der<br />

Methode der Datenerhebung ist. Die Erhebung mittels problemzentriertem Interview liefert<br />

Daten, die sich für eine fallübergreifende Analyse und eine Kategoriezuordnung eignen,<br />

wie sie in der qualitativen Inhaltsanalyse nötig sind (Steinke, 2007).<br />

52


5 Ergebnisse<br />

5 Ergebnisse<br />

Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung dargestellt.<br />

Aus den sechs Angehörigeninterviews ergaben sich fünf Themenschwerpunkte: 1)<br />

wahrgenommene Veränderungen während der Zeit im NWpG, 2) Hindernisse für den<br />

Nutzen des NWpG, 3) Konzepte des NWpG, die als hilfreich empfunden wurden, 4) Ideen<br />

zu einer verbesserten bzw. sogar idealen <strong>Versorgung</strong> und schließlich 5) Erfahrungen mit<br />

der klassischen Psychiatrie. Da die Daten zu den Erfahrungen mit der klassischen<br />

Psychiatrie nicht direkt zur Beantwortung der Fragestellung beitragen, werden diese in der<br />

Ergebnisdarstellung nicht in eine eigene Kategorie aufgenommen. Veranschaulicht wird<br />

diese Grobeinteilung vorhandener Daten in Abbildung 1.<br />

K1 Veränderungen<br />

K2 Hindernisse<br />

Erfahrungen mit<br />

klassischer Psychiatrie<br />

K3 Hilfreiche Konzepte<br />

K4 Idealversorgung<br />

Abbildung 1. Datenübersicht<br />

Im Vordergrund stehen die von den Betroffenen und Angehörigen angestrebten<br />

Veränderungen (K1). Aus Fällen, in denen weitreichende positive Veränderungen nicht<br />

bzw. noch nicht eingetreten sind, lassen sich grundlegende Hindernisse (K2) identifizieren,<br />

die den Nutzen des Angebotes blockieren. Weiterhin wurden in den Interviews als hilfreich<br />

empfundene Haltungen und Arbeitsweisen des NWpG genannt, die sich unter der<br />

Kategorie hilfreiche Konzepte (K3) zusammenfassen lassen. Die Kategorie<br />

Idealversorgung (K4) beinhaltet Ideen und Wünsche zur Verbesserung der <strong>Versorgung</strong>.<br />

Erfahrungen mit der klassischen Psychiatrie und Psychotherapie machen zwar auch einen<br />

Teil der Daten <strong>aus</strong>, werden im Ergebnisteil aber nicht direkt dargestellt, da sie auch nicht<br />

direkt zur Beantwortung der Fragestellung beitragen. Indirekt kommen sie aber immer<br />

wieder vor, da die Schilderungen der Angehörigen zur klassischen Psychiatrie oft zur<br />

Abgrenzung der Konzepte des NWpG herangezogen wurden. Sie stellen teilweise einen<br />

53


5 Ergebnisse<br />

Gegenpol zu diesen dar und lassen somit Rückschlüsse auf das Spezifische der Haltungen<br />

und Arbeitsweisen des NWpG zu. Dementsprechend haben die Daten zur klassischen<br />

Psychiatrie vor allem zur Entwicklung der Kategorie hilfreiche Konzepte beigetragen. Sie<br />

fließen jedoch auch unterschiedlich stark in die übrigen Kategorien ein.<br />

Als Ergebnis der Untersuchung ergeben sich so vier Hauptkategorien, die in den Kapiteln<br />

5.1 – 5.4 im Einzelnen erläutert werden. Die Darstellung der Ergebnisse wird durch eine<br />

zusammenfassende Ergebnisübersicht (5.5) abgeschlossen.<br />

5.1 K1 Veränderungen<br />

Die Kategorie Veränderungen ist eine der zentralen Kategorien dieser Untersuchung, da sie<br />

einen Rückschluss auf vorhandenen Nutzen des <strong>Versorgung</strong>sangebotes zulässt, welcher<br />

letzten Endes das angestrebte Ziel der Betroffenen ist. Dadurch stehen die subjektiv<br />

wahrgenommenen Veränderungen für Betroffene sowie Angehörige im Mittelpunkt ihres<br />

Interesses, wodurch sie - soweit gegeben - im Interview besonders präsent sind und ohne<br />

längere Reflexion mitgeteilt werden können. Da die Veränderungen individuell je nach<br />

Problematik, Symptomatik und Situation stark variieren, erschien es sinnvoll, die einzelnen<br />

Veränderungen auf einem eher spezifischen Niveau zu belassen und weniger fallübergreifend<br />

zu abstrahieren.<br />

Langfristige Veränderung<br />

Teilerfolge<br />

Umgang<br />

Krise<br />

informierte<br />

Angehörige<br />

Stabilität<br />

Problemverständnis<br />

Problembewusstsein<br />

Lebenseinstellung<br />

Eigenständigkeit<br />

Lebensqualität<br />

Perspektiven<br />

Umgang<br />

Krankheit<br />

partnerschaftl.<br />

Konfliktbewältigung<br />

Medikamentierung<br />

Freiheit<br />

Zeit<br />

Abbildung 2. K1 Veränderungen<br />

54


5 Ergebnisse<br />

Abbildung 2 veranschaulicht die gesamte Kategorie 1 Veränderungen und beinhaltet damit<br />

neben den Prinzipien von Langfristigkeit, Teilerfolgen und Prozesscharakter auch die<br />

konkreten Veränderungen, die in Anlehnung an Herrn B. als B<strong>aus</strong>teine dargestellt werden<br />

(s. Zitat unten, Herr B., 687-694). Die von den InterviewpartnerInnen berichteten<br />

Veränderungen beziehen sich auf drei unterschiedliche Bereiche: Sie konnten nicht nur bei<br />

den Betroffenen verzeichnet werden, sondern auch bei den Angehörigen selbst. Als dritter<br />

Bereich ergaben sich Veränderungen in der Betroffenen-Angehörigen-Beziehung, was sich<br />

wiederum positiv auf beide für sich genommen <strong>aus</strong>wirken kann. Die vorgestellten Aspekte<br />

wahrgenommener Veränderung sollen in diesem Kapitel im Einzelnen mit Zitaten <strong>aus</strong> den<br />

Interviews veranschaulicht werden. Damit ergeben sich die Unterkapitel Langfristigkeit,<br />

Teilerfolge und Prozesscharakter (5.1.1), Veränderungen bei Betroffenen (5.1.2),<br />

Veränderungen bei Angehörigen (5.1.3) und Veränderungen in der Betroffenen-<br />

Angehörigen-Beziehung (5.1.4).<br />

5.1.1 Langfristigkeit, Teilerfolge, Prozesscharakter<br />

In den Interviews zeigte sich, dass die Prinzipien Langfristigkeit und Teilerfolge eine<br />

bedeutende Rolle in dieser Kategorie einnehmen, da sie Einfluss auf die Wahrnehmung<br />

und Entwicklung der konkreten Veränderungen haben. Dar<strong>aus</strong> ergab sich weiterhin, dass<br />

eine gewisse Bescheidenheit bei Veränderungen angebracht ist: Jede (noch so kleine)<br />

Veränderung benötigt viel Zeit und Anstrengung und wird dabei schnell einmal übersehen<br />

(1. folgendes Zitat) oder wenig gewürdigt (2. folgendes Zitat ).<br />

„Ja, zumal den Fortschritt man ja auch immer nicht so schnell sehen kann unter Umständen,<br />

ja.“ (Herr M., 140-141)<br />

Aber gerade weil selbst „diese kleinen Erfolge“ (Herr B., 716) solche Anstrengungen<br />

bedeuten, ist eine Würdigung dieser extrem wichtig, damit die bzw. der Betroffene<br />

Motivation zum weiteren Durchhalten sowie eine Bestätigung dafür erhält, dass sie bzw. er<br />

auf dem richtigen Weg ist. Im folgenden Fall übernimmt der Angehörige diese Würdigung<br />

für seine Partnerin und gibt ihr damit eine Rückmeldung über seine Einschätzung zu ihrem<br />

Fortschritt:<br />

„Also, das sind die ganzen Erfolge, die sie auch feiert und - Leider gehört sie nicht zu den<br />

feiernden Menschen, sondern zu den sehr strebsamen, sie tut das dann nach einer Weile immer<br />

ab und sagt: Ok, ist jetzt halt so. Jetzt müssen wir aber weiter (lacht). Ich finde bei ihrer<br />

Geschichte, da kann man schon oft den Champagner r<strong>aus</strong>holen und den Korken knallen<br />

lassen.“ (Herr B., 791-797)<br />

55


5 Ergebnisse<br />

Besonders eindrücklich beschreibt Herr B. das Prinzip des Teilerfolges mit der Vorstellung,<br />

dass sich jedes Problem <strong>aus</strong> vielen kleinen B<strong>aus</strong>teinen zusammensetzt und verdeutlicht,<br />

dass jedes Wegfallen eines solchen B<strong>aus</strong>teines zu Entlastung führt:<br />

„Ja. Und ich sage mal, wenn man so in einer Krise hängt und da sind jetzt, sagen wir mal, 20<br />

große Probleme und wenn die wiederum 20 kleine B<strong>aus</strong>teine beinhalten. Und wenn davon 10<br />

schon mal weg sind, also jeder B<strong>aus</strong>tein, der irgendwie gelöst wird […] Das nimmt<br />

unwahrscheinlich viel Druck weg, ja?.“ (Herr B., 687-691)<br />

Auch Herr M. sieht in den „kleinen Teilerfolgen“ (s. u.) seiner Frau einen wichtigen<br />

Beitrag für die Gesamtveränderung:<br />

„wo vielleicht auch schon kleine Teilerfolge dazu geführt haben, dass dort Besserung<br />

aufgetreten ist“ (Herr M., 326-227)<br />

Er erkennt in ihnen einen ersten Schritt in die richtige Richtung und fühlt sich darin<br />

bestärkt, dass das langfristige Ziel erreicht werden kann:<br />

„Aber, es geht zumindest in die eine Richtung und es ist die richtige Richtung und deswegen bin<br />

ich durch<strong>aus</strong> positiv gestimmt. Ich würde es mir schon wünschen, dass es schneller geht, ja.“<br />

(Herr M., 362-364)<br />

Gleichzeitig drückt das Zitat aber auch eine Ambivalenz zwischen Hoffnung und Ungeduld<br />

<strong>aus</strong>. Auch Angehörige werden auf eine Geduldsprobe beim Warten auf Erfolge und<br />

Veränderung gestellt und oft geht es langsam voran - aber eben doch voran, in die richtige<br />

Richtung. Genau dieses Phänomen ist mit Langfristigkeit gemeint, nämlich, dass sich<br />

greifbare Veränderungen erst nach längerer Zeit einstellen und wahrgenommen werden<br />

können. Damit stellt der Zeitfaktor eine Her<strong>aus</strong>forderung für Betroffene und Angehörige<br />

dar. Diese Langfristigkeit wird in folgenden Zitaten angesprochen:<br />

„Also es gab nichts,(..) das kann man glaube ich auch gar nicht erwarten, wo irgendeine Aktion<br />

stattfand und als die beendet war, war danach alles schick. Das [...] führte halt (..) längerfristig<br />

mal wieder zum Erfolg.“ (Herr B., 679-682)<br />

„Also, und wir sind noch dabei und das wird sicher auch noch länger dauern, könnte ich mir<br />

vorstellen.“ (Herr M., 135-136)<br />

Wenn in bestimmten Bereichen noch keine Veränderung komplett vollzogen bzw.<br />

benennbar war, behalfen sich die befragten InterviewpartnerInnen fallübergreifend mit dem<br />

Begriff „Prozess“ (Herr M., 358) bzw. „Lernprozess“ (Herr A., 1327; 1717):<br />

„Und man muss ja auch nicht gleich das ganz große Rad drehen, weil das ist einfach, so wie<br />

immer, in kleinen Schritten kann man das immer nur messen und deswegen ist das ganze ein<br />

Prozess.“ (Herr M.,131-133)<br />

Der Prozesscharakter von Veränderungen besteht darin, dass, obwohl etwas schon<br />

begonnen wurde und obwohl man sich schon ein Stück in die richtige Richtung bewegt<br />

hat, es noch keinen so greifbaren großen Erfolg zu berichten gibt. Der Weg dahin ist noch<br />

56


5 Ergebnisse<br />

länger, man befindet sich noch im Prozess, welcher aber letztendlich in langfristiger<br />

Veränderung münden kann. Das Verständnis dafür zu erlangen, dass nachhaltige<br />

Veränderungen viel Zeit und Anstrengung in Anspruch nehmen, ist wiederum eine erste<br />

Veränderung für Herrn M., der sein neues Bewusstsein dafür im Interview immer wieder<br />

thematisiert und folgendermaßen schildert:<br />

„Und ich glaube, das ist einfach ein Prozess und dessen muss man sich bewusst sein, dass man<br />

nicht mit 1, 2, 3 Sitzungen dann irgendwelche größeren Probleme vom Tisch hat, das ist<br />

einfach, das geht nicht, nicht möglich.“ (Herr M., 160-162)<br />

„Aber, wie gesagt, wir sind da auf dem richtigen Weg und müssen halt jeden Tag daran<br />

arbeiten, ansonsten ja, ansonsten wird man das nicht erreichen, dass man dementsprechend<br />

deutliche Veränderungen dann auch verspürt, die dann auch nachhaltig sind.“<br />

(Herr M., 377-380)<br />

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Veränderung als langfristiger Lernprozess<br />

erlebt wird, bei dem zunächst nur Teilerfolge zeigen, dass der richtige Weg eingeschlagen<br />

worden ist. Dieser Umstand verlangt von allen Beteiligten viel Geduld und Ausdauer, da<br />

die große greifbare Veränderung auf sich warten lässt und die Hoffnung auf schnelle<br />

Veränderung schnell enttäuscht werden kann:<br />

„aber man muss ganz klar feststellen, dass die Schritte relativ klein sind im Verhältnis zu den<br />

Erwartungen, die man anfangs hatte und das war auch jetzt ein Prozess, ein Lernprozess für<br />

mich, dass man einfach nicht erwarten kann: Ja, ich mache das und lege den Hebel um und<br />

dann ist alles anders, sondern das sind manchmal einfach auch Verhaltensmuster, die über<br />

Jahre gewachsen sind, die man eben auch nur über einen längeren Zeitraum wieder verändern<br />

kann.“ (Herr M., 205-210)<br />

5.1.2 Veränderungen bei Betroffenen<br />

✔<br />

Perspektiven<br />

Das Lösen psychischer Probleme und Krisen ist, wie bereits <strong>aus</strong>geführt, oft ein<br />

langwieriger Prozess, bei dem Fortschritte lange auf sich warten lassen oder nur schwer<br />

erkennbar sind. Das führt dazu, das betroffene Menschen ihre Situation schnell als<br />

<strong>aus</strong>weglos empfinden können. Der erste Schritt, um den Weg für Veränderungen frei zu<br />

machen, ist es aufzuzeigen, dass es überhaupt Auswege gibt und damit eine Perspektive zu<br />

geben:<br />

„War noch nicht greifbar und dann werden ihm durch die beiden auch verschiedene Wege<br />

aufgezeigt: So kann es gehen, so kann es gehen, so kann es gehen, wäre das eine Lösung, wäre<br />

das eine Lösung?“ (Herr A., 760-762)<br />

Für Herrn B. gehört zu dieser Perspektivgabe auch, zu vermitteln, dass zum Leben neben<br />

Höhen auch Tiefen als notwendige Zwischenetappen gehören, welche schließlich zum Ziel<br />

führen. Dies verdeutlicht er im Folgenden anschaulich, indem er das Leben mit einem<br />

Bergaufstieg vergleicht:<br />

57


5 Ergebnisse<br />

✔<br />

„Die Perspektiven.[...] Ja. Also auch einfach vorgelebt oder bewusst gemacht zu werden: Hey,<br />

das ist jetzt hier nicht vorbei und das Leben ist auch kein gerader Weg, sondern es geht nach<br />

links und nach rechts und ab und zu geht es auch mal einen Abhang herunter und ab und zu<br />

muss man einen Berg hoch klimmen, aber dann hat man auch die Spitze erreicht und kann man<br />

ins Tal gucken.“ (Herr B., 821-827)<br />

Problembewusstsein und -verständnis<br />

Eine wichtige erste Veränderung kann eine bessere Einsicht in die eigene Problematik sein.<br />

Herr M. schildert, wie seine Frau zunächst zu einem besseren Problembewusstsein<br />

gelangte:<br />

„Und was gut war, ist dass ihr viele Dinge jetzt im Nachhinein bewusst geworden sind, [...].<br />

Das hat sie vorher nie so gesehen“ (Herr M., 396-398)<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> veränderte sich ihr Problemverständnis, was eine wichtige Grundlage für<br />

alle weiteren Veränderungen legen kann.<br />

✔<br />

„ja schon dass ihr auch viel die Augen geöffnet worden sind. [...] dass sie viele viele Dinge<br />

jetzt viel besser versteht und ja, und das ist ja schon mal wichtig eine Erkenntnis zu haben<br />

irgendwie, ja?“ (Herr M., 548-552)<br />

Medikamentierung<br />

Eine weitere Veränderung mit zum Teil weit reichenden Folgen ist die Änderung der<br />

Medikamentierung. Bei den Angehörigen von Herrn A. und Herrn B. wurden besonders<br />

starke Veränderungen durch eine deutliche Reduktion der Medikamente hervorgerufen:<br />

„Und da muss ich sagen, da haben wir hier Megafortschritte gemacht, also die Medikamente<br />

sind auf einem Minimum, ein notwendiges Minimum reduziert.“ (Herr B., 89-90)<br />

Herr A. berichtet in Übereinstimmung dazu, dass „das Medikament [...] nur noch ein<br />

Hilfsmittel“ mit geringer Dosierung ist (908-909) und die auf ein Drittel reduzierte<br />

„Minimaldosis“ gen<strong>aus</strong>o gut funktioniert (1237-1238). Besonders auffällig ist, dass Herr A.<br />

und Herr B. den Zustand ihrer Partner vor der Medikamentenreduktion unabhängig von<br />

einander mit sehr ähnlichen Bildern beschreiben.<br />

Herr A.: „Da hat er, ja wie in so einer Glocke gelebt und es gab nur ein paar Leute, die Zugang hatten.<br />

Und das hat sich verändert.“ (Herr A., 929-930)<br />

„Ja, das glaube ich auch im Nachhinein für ihn das Gefühl, dass er fremdbestimmt wird über<br />

diese Medikamente, dass er nicht mehr kontrollieren konnte, wann, wer er ist, was er tut,<br />

sondern er, ja, er hat sich einfach wie in einer Käseglocke bewegt, die <strong>aus</strong> Glas war und ist<br />

überall angestoßen. Und konnte nicht mehr er sein.“ (Herr A. 1773-1176)<br />

Herr B.: „Da hat man so das Gefühl gehabt: Ok, da ist ein Mensch hinter einer ganz dicken<br />

Milchglasscheibe, ja, der einfach nicht r<strong>aus</strong>kommen kann, der aber will.“ (Herr B., 95-96)<br />

Sowohl die Käseglocke als auch die Milchglasscheibe verdeutlichen, dass sich die<br />

Betroffenen unter der starken Medikamentierung beeinträchtigt gefühlt haben. Ein<br />

zentraler Aspekt dabei ist die Freiheit: Unter einer Käseglocke sowie hinter einer<br />

58


5 Ergebnisse<br />

Milchglasscheibe ist man eingeschlossen, kann man sich nicht frei bewegen („überall<br />

angestoßen“ s. o.), ist man abgeschnitten von seinen Mitmenschen („nur ein paar Leute,<br />

die Zugang hatten“) und kann man auch nicht her<strong>aus</strong> (s. o). Entscheidend dabei ist auch<br />

der Nachsatz „der aber will“ (s. o.), da dies zeigt, dass die Medikamentierung die<br />

Selbstbestimmung beschneiden kann. Noch deutlicher wird dies, wenn Herr A. von<br />

„fremdbestimmt“ (s. o.) und Kontrollverlust („wer er ist“; „konnte nicht mehr er sein“ (s.<br />

o.)) spricht. Die Fremdbestimmung durch Medikamente wird auch im folgenden Zitat sehr<br />

deutlich, das beschreibt, wie die Medikamente wie ein Lichtschalter über Schlaf oder<br />

Wachheit bestimmen:<br />

„Also das war, ist dann wie so ein Lichtschaltereffekt. Das eine macht richtig wach und das<br />

andere dröhnt wieder wieder richtig runter.“ (Herr A., 1271-1275)<br />

Insgesamt wird deutlich, dass sich der Aspekt der Freiheit bzw. Selbstbestimmung auf zwei<br />

unterschiedliche Dimensionen bezieht: Zum einen auf Handlungs- bzw. Bewegungsfreiheit<br />

(Was kann ich machen?) und zum anderen auf eine Identitätsdimension (Wie kann ich<br />

sein?). Bezüglich des letzten Aspektes hat Herr K. unterschiedliche Erfahrungen mit<br />

Medikamenten gemacht: Vor der medikamentösen Neueinstellung berichtet er über eine<br />

Art Abstumpfung seines Angehörigen, analog zum Bild der Milchglasscheibe, durch die<br />

man alles nur noch verschwommen wahrnehmen kann:<br />

„und die Medikamente schneiden Teile von ihm ab, verdumpfen, machen dumpf“ (Herr K., 246)<br />

Nach einer Neueinstellung wirkten sich die Medikamente jedoch positiv <strong>aus</strong> und führten zu<br />

einer Stabilisierung 10 der Charakterzüge bzw. der Stimmung des Betroffenen:<br />

„Momentan führt das dazu, dass er jetzt wieder so ist, wie ich ihn seit 10 Jahren kenne: Ruhig,<br />

still und <strong>aus</strong>geglichen.“ (Herr K., 239-240)<br />

Diese gegensätzlichen Erfahrungen verdeutlichen, wie groß der mögliche Einfluss von<br />

Medikamenten ist, dass sie sehr hilfreich, aber auch sehr destruktiv sein können.<br />

Dementsprechend sollte sehr vorsichtig und überlegt mit ihnen umgegangen werden, so<br />

dass sich Menschen nicht wie Versuchskaninchen fühlen:<br />

✔<br />

„Und jeder versucht sich an ihm […] Klar, dann fällt das Wort Versuchskaninchen […] Das<br />

will er nicht mehr sein“ (Herr A., 544-548)<br />

Freiheit<br />

Der Zugewinn von Freiheit ist jedoch nicht nur ein Folgeaspekt der reduzierten<br />

Medikamentierung, sondern wird in den Interviews auch allgemein als gravierende<br />

Veränderung her<strong>aus</strong>gestellt:<br />

10 Auf die Veränderung Stabilität, die eng mit der veränderten Medikamentierung verbunden ist, wird im Folgenden<br />

gesondert eingegangen.<br />

59


5 Ergebnisse<br />

„So hat er, so offen und frei hat er noch nicht gelebt.“ (Herr A., 985)<br />

Auch Herr B. beschreibt seine Partnerin als „immer befreiter“ (91) und Herr A. fügt an<br />

anderer Stelle noch hinzu, dass sein Partner nun „unbefangen und frei“ lebt (992).<br />

✔<br />

Stabilität<br />

Wie schon angesprochen kann eine veränderte Medikamentierung zur Stabilisierung von<br />

Charaktereigenschaften führen (s. auch Medikamentierung), diese Erfahrung hat auch Herr<br />

B. gemacht:<br />

„Sie wird immer, auch von den Charakterzügen, immer stabiler. Also die waren, sie verändert<br />

sich nicht, die waren schon immer da, die waren bloß halt früher unterdrückt, ja? Und unter<br />

Medikamenten natürlich noch mehr als ohne.“ (Herr B., 91-93)<br />

Eine andere wichtige Art der Stabilisierung hat sich beim Partner von Herrn A. auch durch<br />

die Medikamentenreduktion eingestellt: Das große Problem der Müdigkeit tagsüber wurde<br />

damit gelöst und führte zur Normalisierung des Tagesrhythmus, was wiederum<br />

gemeinsame Aktivitäten des Paares ermöglichte und die Beziehung förderte.<br />

„Also wir können gemeinsam was unternehmen [...] und das ist alles miteinander wieder<br />

möglich, weil dieser Tagesablauf, der Tagesrhythmus wiederhergestellt ist.“ (Herr A., 177-180)<br />

Ein weiterer Aspekt von Stabilität besteht in der Abnahme von Krisen bzw. von ihrer<br />

Intensität im Sinne einer höheren Ausgeglichenheit. Herr A. beispielsweise kommt im<br />

Laufe des Interviews immer wieder auf diesen Punkt zu sprechen:<br />

„wir haben kaum noch Situationen, wo es kippt, sondern, so eher, so die Ansätze dazu“<br />

(Herr A., 1106-1107)<br />

An anderer Stelle spricht er davon, dass es nicht mehr „eskaliert“ (1780), Krisensituationen<br />

„beherrschbar“ (38) sind, es keine so „dramatischen Geschichten“ (878) oder „Abstürze“<br />

(1607) mehr gibt. Das Leben seines Partners verliefe nun nun eher in „Wellenform“ (876)<br />

statt „himmelhochjauchzend zu Tode betrübt“ (876). Herr M. äußert sich in ähnlicher<br />

Form: „Und dann hatte sich das ein bisschen beruhigt, entschärft“ (Herr M., 39-40)<br />

✔<br />

Umgang mit Krankheit<br />

In den Interviews mit den Angehörigen zeigte sich weiterhin, dass die Betroffenen im<br />

Laufe der Zeit einen Umgang mit der Krankheit finden, mit dem sie leben können. Dies<br />

geht u. a. mit einer Akzeptanz der Krankheit einher.<br />

„Er sagt: ,Ich habe diese Krankheit, ich muss damit leben und so wie ich es im Moment leben<br />

kann, ist es super'.“ (Herr A., 1613-1614)<br />

Diese Akzeptanz spiegelt sich auch in dem Ausspruch wider, dass die Krankheit „heute<br />

kein Thema mehr“ ist (1190) und dass Herr A.s Partner offener damit umgehen kann:<br />

60


5 Ergebnisse<br />

Also er nimmt sich selber auch nicht so ernst. Hat, geht auch mit seiner Krankheit anders um<br />

heute.“ (Herr A., 894-895)<br />

Es wird außerdem angestrebt, einen Umgang zu finden, der ein „normales“ Leben<br />

ermöglicht. Diesem Ziel sind Herr B. und seine Partnerin schon näher gekommen:<br />

„Ich bin mittlerweile bei ihr speziell ganz großer Hoffnung, dass sie ganz normal mit ihrer<br />

Krankheit leben kann, {auch} ein ganz normales Leben führt. Das wird auch heute noch<br />

zusehends besser, auch heute noch deswegen, weil sie schon enorme, gewaltige Schritte<br />

gemacht hat.“ (Herr B., 266-269)<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> berichtet Herr B., dass sich ihr Umgang dahingehend verbessert hat, dass<br />

sie sich ihren Problemfeldern stellt und daran arbeitet (Herr B., 612).<br />

✔<br />

Lebenseinstellung<br />

Grundlegende Veränderungen gibt es auch im Bereich der Lebenseinstellung zu<br />

verzeichnen. Dies ist zum einen eine Veränderung der Prioritäten im Leben. Im<br />

Beruflichen hat bei der Partnerin von Herrn B. eine Umorientierung (751) von viel Geld<br />

verdienen zu wohl fühlen stattgefunden:<br />

„Und während vorher natürlich ihr ganzes Leben darauf <strong>aus</strong>gerichtet war: ich muss genug<br />

Geld verdienen, um meine Krankheit bedienen zu können [...] Jetzt ist der Fokus mehr so: Nein,<br />

ich muss mich wohl fühlen“ (Herr B., 764-766)<br />

Zum anderen ist es eine wiedergewonnene Offenheit dem Leben gegenüber, die durch ein<br />

Grundvertrauen in Mitmenschen erst möglich wird.<br />

„Ja, das ist. es ist jetzt seine Offenheit. Völlig vorbehaltlos in Situationen gehen zu können<br />

ohne diese Gedanken zu haben: Die wollen mir alle was.“ (Herr A., 926-927)<br />

Konkret bedeutet das in diesem Fall, wieder mehr Menschen am eigenen Leben teilhaben<br />

zu lassen (Herr A., 942-944) und mit positiver Erwartungshaltung auf Menschen<br />

zuzugehen.<br />

✔<br />

„Ja, völlig verändert. Ja, die kennen ihn teilweise nicht wieder. Er ist ein lebensfroher Mensch,<br />

er war früher eher introvertiert“ (Herr A., 999-1000)<br />

Eigenständigkeit<br />

In unterschiedlichen Facetten zeigt sich immer wieder die wachsende Eigenständigkeit der<br />

Betroffenen. Zunächst einmal gründet diese auf dem eigenen Willen und somit der<br />

Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.<br />

„der erste Wille, den sie dann wieder hatte, der erste freie und feste Wille, den sie auch<br />

durchgesetzt hat“ (Herr B., 610-612)<br />

Außerdem ist ein starker Wille ein Motivator, der dabei hilft, die gesteckten Ziele auch<br />

umzusetzen. So schafft es die Partnerin von Herrn B. beispielsweise mit einem<br />

„unbändigen Willen“, ihren Aktionsradius zu vergrößern (781-783), <strong>aus</strong> „freier<br />

61


5 Ergebnisse<br />

Entscheidung“ den Beruf <strong>aus</strong>zuüben, der ihr gut tut (755-756), oder auch mal ganz spontan<br />

etwas allein zu unternehmen:<br />

„ohne vorher zu planen. Mal zu sagen: ,So Freund, ich gehe jetzt mal ohne dich los.' […]<br />

Eigentlich macht sie das schon ganz viel, […] auch Sachen, vor denen sie früher Panik gehabt<br />

hätte“ (Herr B., 785-789)<br />

Insgesamt führt dies zu einer größeren Selbstständigkeit bzw. Unabhängigkeit, die vom<br />

Angehörigen beobachtet werden kann:<br />

„also sie ist sehr selbstständig geworden“ (Herr B., 809)<br />

„Es ist auch der Wille, absolut unabhängig zu sein.“ (Herr B., 784)<br />

Von einer größeren Selbstständigkeit zeugt auch das Suchen und Annehmen von Hilfe, im<br />

Beispiel von wichtigen Entscheidungen, sowie Nein sagen zu können (Herr A., 1407-1410;<br />

1432-1433).<br />

✔<br />

„Er konsultiert, er macht das jetzt nicht mehr mit sich selbst <strong>aus</strong>.[...]Und das hilft natürlich<br />

auch seiner Selbstständigkeit. Gute Erfahrungen zu machen [...]Und er hat, ist heute auch in<br />

der Lage zu sagen, in bestimmten Situationen: Nein. Er konnte ganz schlecht ,nein' sagen<br />

früher.“ (Herr A., 1377-1386)<br />

Lebensqualität<br />

Mit neuen Perspektiven, einem verbesserten Problembewusstsein und -verständnis,<br />

veränderter Medikamentierung, mehr Freiheit und Stabilität, verbessertem Umgang mit der<br />

Krankheit, einer veränderten Lebenseinstellung und mehr Eigenständigkeit steigert sich<br />

auch die Lebensqualität insgesamt. Diese ergibt sich jedoch nicht nur <strong>aus</strong> der Bündelung<br />

der genannten einzelnen Veränderungen, sondern wird auch direkt, wie im folgenden Zitat,<br />

angesprochen (s. a. Herr A., 1180).<br />

„Und das ist jetzt ganz anders, also die Lebensqualität für ihn ist auch wirklich gestiegen.“<br />

(Herr A., 920-921)<br />

5.1.3 Veränderungen bei Angehörigen<br />

Wenn Angehörige stark in den Begleitungsprozess eines <strong>Versorgung</strong>sangebotes<br />

eingebunden sind, hat dieser auch großen Einfluss auf ihr Leben.<br />

„Ja, es ist schon, ja, auch als Angehöriger eine unglaubliche Erfahrung, sowas erleben zu<br />

können.“ (Herr A., 1712-1713)<br />

In den Interviews wurde berichtet, dass BezugsbegleiterInnen nicht nur für die<br />

Betroffenen, sondern auch für Angehörige als Unterstützung empfunden werden. Frau D.<br />

beispielsweise fühlt sich in ihrer schwierigen Position ihrem Ehemann gegenüber<br />

unterstützt und nicht mehr so allein:<br />

62


5 Ergebnisse<br />

✔<br />

„Mensch, endlich ist mal einer da, der ihm das von der anderen Seite sagt und nicht nur ich“<br />

(Frau D., 136-137)<br />

Informierte Angehörige<br />

Wenn man als Angehöriger zum ersten Mal mit einer Diagnose seines Angehörigen<br />

konfrontiert wird, entstehen 1000 Fragen im Kopf: Was verbirgt sich hinter diesem Begriff,<br />

welche Auswirkungen hat dies auf meinen Angehörigen, welche auf unsere Beziehung, wie<br />

gehe ich damit um? So erging es auch Herrn A., der darauf zunächst keine hilfreichen<br />

Antworten fand.<br />

„Er hat mir [...] erzählt: ,Du, ich leide an paranoider Schizophrenie.' Ich so: ,Ja, okay.'[...] Ich<br />

nach H<strong>aus</strong>e, gegoogelt: Was ist das? […] Ja, und denn guckt man und recherchiert und man<br />

fragt 100 Leute, kriegt 120 Meinungen und [...] und nichts, was man wirklich zuordnen kann“<br />

(Herr A., 1318-1327)<br />

Das NWpG konnte ihm schließlich wichtige Informationen vermitteln, durch die er ein<br />

besseres Verständnis für die Krankheit entwickelte. Dabei war für ihn die Abgrenzung von<br />

störungsbedingtem Verhalten besonders wichtig. Das heißt, es war oft schwer zu<br />

unterscheiden, welches Verhalten tatsächlich auf die eigene Person bezogen ist und<br />

welches „mit dieser Erkrankung zu tun“ hat (Herr A., 1332). Bei dieser schwierigen<br />

Abgrenzung gaben die BezugsbegleiterInnen immer wieder Rückbestätigung:<br />

„Und auch von den beiden immer wieder mal gesagt zu kriegen[...]: Das ist seine Krankheit.<br />

[…] Am Anfang bezieht man das natürlich alles auf sich. Man hat ja auch keine andere<br />

Möglichkeit, wenn man das nicht einschätzen kann. Man stellt den Zusammenhang auch nicht<br />

her. Aber da, sind die beiden wirklich eine große Hilfe“ (Herr A., 835-847)<br />

Wie wichtig diese Einschätzung für Herrn A. war, macht er mit dem folgenden Zitat<br />

überdeutlich:<br />

„Ohne diese Information führt das natürlich dazu, dass eine Beziehung gen<strong>aus</strong>o schnell<br />

beendet, ist wie sie begonnen hat.“ (Herr A., 361-363)<br />

Insgesamt führt die Informationsvermittlung und das bessere Verständnis dazu, einen<br />

Umgang mit der Erkrankung zu finden. Für Herrn A. beinhaltet dies im Besonderen zu<br />

akzeptieren, dass sich sein Partner in bestimmten Situationen an erster Stelle an<br />

Professionelle und nicht an ihn wendet.<br />

✔<br />

„zu dieser Krankheit gehören eben auch Beziehungspersonen, die daran teilhaben […] , die in<br />

bestimmten Dingen, von ihm frei gewählt, seine Vertrauten in der Situation sind“<br />

(Herr A., 1719-1728)<br />

Umgang Krise<br />

Nach teils jahrelanger persönlicher Erfahrung und mit beständiger Unterstützung durch die<br />

BezugsbegleiterInnen haben einige der Angehörigen beeindruckende Fähigkeiten im<br />

Umgang mit den Krisen ihrer Betroffenen erlernt. Dazu gehört unter anderem eine<br />

63


5 Ergebnisse<br />

wachsende Routine im Umgang mit Krisen („wie im Uhrwerk“ Herr B., 251). Eine weitere<br />

Fähigkeit ist eine Sensibilität für Krisen, die der oder dem Angehörigen ermöglicht,<br />

Anzeichen für Krisen vorzeitig wahrzunehmen und so zu reagieren, dass sich diese<br />

teilweise vermeiden lassen (Prävention).<br />

„die Antennen werden immer sensibler. Also ich kriege es heute viel früher mit, wenn etwas<br />

nicht läuft (..) und das entkrampft natürlich auch und entspannt“ (Herr A., 1778-1780)<br />

In den Interviews kristallisierte sich die Fähigkeit, eine Gelassenheit selbst im Auge einer<br />

heftigen Krise zu bewahren, als besonders hilfreich her<strong>aus</strong>.<br />

„Man wird als Angehöriger gelassen oder gelassener. Nein, man wird extrem gelassen. Also, es<br />

gab jetzt mehr als eine Situation, wo man denn so, wo ich denn so sagte und sie mit den<br />

Schultern zuckte und sagte:"Naja, ok."“ (Herr B., 532-534)<br />

Von dieser Gelassenheit profitieren sowohl Angehörige als auch Betroffene:<br />

„Diese Ruhe und Gelassenheit (...) ist auch übrigens sehr hilfreich für Y [Betroffene],<br />

logischerweise.“ (Herr B., 584)<br />

Herr B. vergleicht diese gelassene Haltung mit der Grundhaltung eines Rettungshelfers<br />

und verdeutlicht damit, dass man Gefahrensituationen - physischer und psychischer Natur -<br />

am besten mit deren Gegenpol, nämlich der Ruhe, begegnet:<br />

„So bei einer Psychose nicht gleich in Panik zu verfallen. [...] Das erste, was man als Sanitäter<br />

lernt, ist übrigens: ruhig bleiben, durchatmen und an die eigene Sicherheit denken.[...] Also<br />

wenn ich an einen Unfall rankomme oder an andere Stresssituationen: Dann erst mal<br />

durchatmen. [...] dank der <strong>Krisenpension</strong> habe ich auch da wieder gelernt. Also irgendwann<br />

habe ich Y mal vom Zug abgeholt und sie war mittendrin in einer Psychose. Und (lachend) die<br />

erste Reaktion war: ,Ok. Ist mal wieder so weit.' (lacht) ja? Anstatt ,Oh Gott, Hilfe, was<br />

machen wir jetzt?'“ (Herr B., 240-250)<br />

Auch Herr A. berichtet davon, dass er gelernt hat, gelassener mit schwierigen Situationen<br />

umzugehen. Dabei hat besonders geholfen, dass ihm die BezugsbegleiterInnen dies auch<br />

vorgelebt haben.<br />

„und da habe ich es dann, auch durch dieses Vorgehen, was mir Frau X und Herr Y<br />

[BezugsbegleiterInnen] vorleben, wenn solche Krisensituationen waren. Ganz cool genommen<br />

und gesagt: "Komm, wir gehen erst einmal eine rauchen.“ (Herr A., 1769-1770)<br />

Besonders eindrucksvoll veranschaulicht Herr B., wie Gelassenheit auf krisenhafte<br />

Situationen wirken kann, als er das folgende Erlebnis schildert:<br />

„Da gibt es so eine ganz lustige Geschichte. [...] also ich kam da von, auf die <strong>Krisenpension</strong> zu<br />

und vor der <strong>Krisenpension</strong>, habe ich schon gesehen, wild gestikulierende Eltern. […] Eine<br />

Psychologin [...] plus 2 Bewohner der <strong>Krisenpension</strong>. […] In großer Aufgeregtheit wurde mir<br />

dann erzählt: ,Ja, Y ist weg!' (weinerliche Stimme) (..) So, man wird wirklich gelassener, mein<br />

1. Gedanke war: Die Frau ist 34, warum soll die nicht weg gehen dürfen? ,Mit einem<br />

Morgenmantel, in Badelatschen und einer Kaffeetasse in der Hand!' (weinerliche Stimme) -<br />

,Dann bin ich beruhigt.' (lacht) Weil: Mit Badelatschen läuft sie nicht gerne lange herum und<br />

spätestens, wenn die Kaffeetasse alle ist, kommt sie zurück und holt sich Nachschub (lachend).<br />

Und im Morgenmantel hat sie bestimmt kein Geld dabei, um sich {welchen} zu kaufen. So.“<br />

(Herr B., 537-555)<br />

64


5 Ergebnisse<br />

Dass Herr B. diese Begebenheit als „eine ganz lustige Geschichte“ bezeichnet, macht<br />

deutlich, dass die Bewertung einer Situation den entscheidenden Unterschied für seinen<br />

Ausgang machen kann.<br />

5.1.4 Veränderungen in der Betroffenen-Angehörigen-Beziehung<br />

✔<br />

Problembewusstsein und -verständnis<br />

Im Zentrum der von Herrn M. wahrgenommenen Veränderungen steht ein neues<br />

Bewusstsein über ursächliche Zusammenhänge von Beziehungsschwierigkeiten:<br />

„Was sich am meisten verändert hat, ist, würde ich sagen, das Bewusstsein um diese Dinge, wie<br />

bestimmte Sachen zusammen hängen, bestimmte Verhaltensmuster, Mechanismen in der<br />

Beziehung, miteinander wie man manchmal wirkt, ja, durch bestimmte Dinge. Also man ist,<br />

glaube ich, ein bisschen reflektierter als sonst“ (Herr M., 344-347)<br />

Über Veränderungen auf Verhaltensebene lässt sich sagen, dass bevor sich das eigene<br />

Verhalten ändern kann, ein Bewusstsein für das Problem an sich und ein Verständnis für<br />

dessen Ursache vorhanden sein muss. Folglich sind diese Erkenntnisse auf gedanklicher<br />

Ebene die erste Vor<strong>aus</strong>setzung für alle weiteren Veränderungen. Dies gilt nicht nur für<br />

Veränderungen bei Betroffenen, bei denen sich diese Veränderung auch fand, sondern<br />

besonders bei Veränderungen auf Beziehungsebene. Eine Beziehung äußert sich nämlich<br />

zu großen Teilen auf Verhaltensebene, der sozialen Interaktion. Deshalb ist ein solches<br />

Verständnis über die Problemzusammenhänge unerlässlich für Veränderungen in der<br />

Beziehung.<br />

„Ja, wichtig ist, dass man sich dessen bewusst ist und [...] wenn man sich dann in<br />

Alltagssituationen dieser Gespräche wieder bewusst wird, dann hat man auch die Chance,<br />

etwas zu verändern in seinem Verhalten“ (Herr M., 210-215)<br />

Herr M. spricht dabei aber auch die damit verbundene große Her<strong>aus</strong>forderung an, die<br />

gewonnenen Erkenntnisse im Alltag immer präsent zu haben und umzusetzen, so dass<br />

langfristig ein neues Verhaltensmuster entstehen kann:<br />

✔<br />

„aber das umsetzen ist natürlich nach wie vor das größere Problem. Alle diese Dinge so immer<br />

präsent zu halten, [...] und um nicht wieder in diesen alten Mechanismus und dieses alte<br />

Muster zurück zu fallen“ (Herr M., 349-354)<br />

Konfliktbewältigung<br />

In einigen der Fälle spielt die Partnerschaft der Betroffenen eine zentrale Rolle in der<br />

Begleitung durch das NWpG. Dementsprechend wurde der Fokus darauf gelegt,<br />

gemeinsam an dieser Beziehung zu arbeiten. Die Partner der Betroffenen äußerten sich in<br />

den Interviews sehr positiv über das Ergebnis dieser Arbeit. Situationen, die die Beziehung<br />

belasten, hätten „dramatisch abgenommen“ (Herr A., 787) und die Beziehung habe sich<br />

65


5 Ergebnisse<br />

allgemein „harmonisiert“ (Herr M., 377). Im Speziellen wurde berichtet, dass sich die<br />

Konfliktbewältigung verbessert hat, vor allen Dingen durch eine gute partnerschaftliche<br />

Kommunikation wie beispielsweise Herr A. im Folgenden beschreibt:<br />

„Und er äußert heute auch mir gegenüber, was er vor 2 Jahren nicht konnte, seine<br />

Befindlichkeit und sagt: ,Du, damit fühle ich mich jetzt nicht so wohl. Können wir da morgen<br />

drüber reden?' - ,Na klar, könn' wir.' (Herr A., 1197-1200)<br />

„reden! Nur ein Signal, ein Signal reicht, ein halber Satz, eine SMS, eine kurze~ Email, setzt<br />

jeden davon in Kenntnis und keiner ist irgendwie böse“ (Herr A., 1201-1205)<br />

Hilfreich für das Lösen von partnerschaftlichen Konflikten war weiterhin die<br />

Konfrontation mit den Problemen, die Anstoß zur Handlung und Verantwortungsübernahme<br />

gibt.<br />

„,Ja, da ist ein Problem, das musst du lösen und du musst etwas tun.' “ (Herr M., 192-193)<br />

„also man konfrontiert jemanden auch mit bestimmten Dingen, um einfach auch auf den Kern<br />

zu kommen und eruieren zu können: Was können wir denn wirklich machen? Warum ist das so?<br />

Wie kann ich das verändern? Und dafür musste natürlich auch Tacheles geredet werden, aber<br />

jetzt in ganz normalen Tonfall, sachlich“ (Herr M., 180-181)<br />

So ein Handlungsanstoß ist besonders dann von Nutzen, wenn die Konflikte in der<br />

Partnerschaft nur schwer thematisiert und bearbeitet werden können:<br />

„das hat vielleicht auch dazu geführt, dass sie diese Themen auch nicht innerhalb der<br />

Beziehung lösen konnte, sondern einfach über 3. das machen musste, was nicht unüblich ist,<br />

weil man kann bestimmte Dinge einfach nicht innerhalb der Beziehung machen“<br />

(Herr M., 259-262)<br />

Um ein anschauliches Beispiel für eine so angestoßene Veränderung auf Beziehungsebene<br />

zu geben, sei folgender Lösungsansatz von Herrn M. genannt, das Problem seiner<br />

Überstunden und der dar<strong>aus</strong> resultierenden häufigen Abwesenheit anzugehen:<br />

„Also ich schon nur noch leicht über dem Soll sozusagen arbeite. Und das heißt ich komme<br />

also da deutlich eher nach H<strong>aus</strong>e und zeige dann Präsenz und habe auch die Möglichkeit an<br />

anderen alltäglichen Dingen teilzunehmen, die vorher an mir vorbei gegangen sind und die<br />

jemand anders dann erledigt hat, nämlich meine Frau in der Regel, und was dann wiederum zu<br />

Überforderung geführt hat oder zu ja, Missmutigkeit, weil sie eben alles machen musste. Und<br />

da sind wir auf einem guten Weg, dass wir an diesem kleinen Punkt zum Beispiel schon<br />

Veränderungen spüren“ (Herr M., 225-231)<br />

5.2 K2 Hindernisse<br />

Unter den InterviewpartnerInnen gab es auch Fälle, bei denen es wenig bzw. keine<br />

Veränderungen zu berichten gab. Die Daten dieser Interviews erwiesen sich aber dennoch<br />

als wertvoll, da sie Aufschluss über mögliche Hindernisse geben, die dem Nutzen des<br />

Angebotes im Weg stehen können und Veränderung verhindern.<br />

66


5 Ergebnisse<br />

5.2.1 Drei Haupthindernisse<br />

Aus diesen Interviews ergaben sich die drei folgenden Haupthindernisse:<br />

1) fehlende Einsicht<br />

2) fehlender Veränderungswille und mangelnde Verantwortungsübernahme<br />

3) Passivität bzw. externe Verantwortungsüberzeugung<br />

1) Fehlende Einsicht<br />

Fehlende Einsicht bedeutet, dass die bzw. der Betroffene selber nicht davon überzeugt ist,<br />

dass sie bzw. er Hilfe braucht. Die Frage, ob tatsächlich ein Hilfebedarf gegeben ist oder<br />

nicht, spielt dabei keine Rolle (Frage des „Recht-habens“). Entscheidend ist lediglich, dass<br />

Hilfebedarf bei sich gesehen wird, um offen für Hilfe zu sein. Dieses Hindernis lässt sich<br />

noch direkter als interne Überzeugung in Form der wörtlichen Rede <strong>aus</strong>drücken. Die<br />

interne Überzeugung lautet dann: Ich brauche keine Hilfe bzw. mich betrifft das nicht. Die<br />

Reaktion eines Betroffenen nach Erhalt des Informationsschreibens über das NWpG<br />

veranschaulicht eine solche Überzeugung:<br />

„Er hat es aufgemacht und gelesen und einfach so auf den Tisch gelegt, so nach dem Motto -<br />

Als ich fragte ,Was ist denn das?' -,Och, ich weiß gar nicht, was die von mir wollen. Die sollen<br />

mich in Ruhe lassen!' “ (Frau D., 57-60)<br />

Wenn die Notwendigkeit für Hilfe von Betroffenen selbst nicht gesehen wird, werden sich<br />

diese auch nicht richtig auf einen Hilfeprozess einlassen.<br />

„die Notwendigkeit {von Treffen} in regelmäßigen Abständen, das gar nicht so gesehen hat“<br />

(Frau D., 89-90)<br />

„Also er selber hatte nicht das Bedürfnis, dass die wieder kommen.“ (Frau D., 91-92)<br />

Das kann dann dazu führen, dass, wie im folgenden Beispiel, ein Betroffener sich zwar<br />

gern Informationen zum Thema anhört, diese aber nicht auf sich selbst bezieht. Dies<br />

entspricht der Überzeugung: Das betrifft mich nicht.<br />

„,Die anderen ja, aber ich ja nicht. Es ist interessant darüber was zu wissen, aber ich, für mich<br />

nicht.' Ja. ",ich für mich nicht.'" (Frau D., 190-191)<br />

Einen Grund für diese Haltung ihres Mannes sieht Frau D. in seiner Krankheit selber, die<br />

es ihm erschwere, die eigene Betroffenheit zu akzeptieren. Sie erhofft sich jedoch, dass<br />

sich diese Schwierigkeit mit genügend Zeit auflösen lässt.<br />

„Also ich glaube, dass ist sowieso die Schwierigkeit bei dieser Erkrankung, dass man das<br />

selber nicht annehmen will und dass der Zeitfaktor da also erst die ganze Sache so ins rollen<br />

bringt, dass man das selber akzeptiert.“ (Frau D., 185-188)<br />

67


5 Ergebnisse<br />

2) Fehlender Veränderungswille und mangelnde Verantwortungsübernahme<br />

Fehlender Veränderungswille bedeutet, dass die bzw. der Betroffene selber gar keine<br />

Veränderung will, sondern diese nur um anderer Menschen Willen anstrebt.<br />

„Er lässt es sich gefallen, weil er vielleicht auch spürt, dass ich es möchte. Also insofern denke<br />

ich, dass er mir zu Gefallen das doch mehr macht als dass er für sich einen Gewinn dar<strong>aus</strong><br />

zieht.“ (Frau D., 488-490)<br />

Unter mangelnder Verantwortungsübernahme ist weiterhin zu verstehen, dass die bzw. der<br />

Betroffene die Verantwortung für die Veränderung an andere abgibt, sich Veränderungsanstrengungen<br />

also von anderen abnehmen lässt.<br />

„,Na, hast du denn schon mal Kontakt aufgenommen? Du solltest doch auf jeden Fall Bescheid<br />

geben.' und so ja? - ,Nö.' - [...] Ich habe erst mal dort angerufen“ (Frau D., 65-68)<br />

Als interne Überzeugung ergibt sich das Hindernis: Ich will selber keine Hilfe bzw. ich<br />

mache das nur für die anderen. Wichtig anzumerken ist, dass hier zwar die Einsicht<br />

vorhanden sein kann, dass man Hilfe braucht, man diese Hilfe aber nicht (für sich selbst)<br />

will. Problematisch daran ist, dass so lange die Motivation an eine andere Person gebunden<br />

ist, die Anstrengungen zur Veränderung auch nur so lange erhalten bleiben, wie diese<br />

Person präsent ist. Nachhaltige Veränderungen rücken damit in weite Ferne.<br />

„Ich will, dass er von sich <strong>aus</strong> was macht und nicht unter dem Druck: Jetzt kommt die Frau und<br />

will sehen, ob er was geschafft hat“ (Frau D., 814-816)<br />

Da Angehörige häufig stark durch die Situation der Betroffenen mitbelastet werden, haben<br />

sie eine große Motivation, aktiv an der Veränderung mitzuwirken.<br />

"Mensch, nimm doch erst mal teil. Absagen kannst du immer noch. Du weißt doch noch gar<br />

nicht, was sich dahinter verbirgt. Ich kann mir das gut vorstellen und nötig wäre es auch, für<br />

uns beide.“ (Frau D., 61-64)<br />

Die Mithilfe der Angehörigen ist ohne Frage von großer Bedeutung und eine zentrale<br />

Ressource. Dabei ist anzumerken, dass ein großes Engagement möglicherweise ab einem<br />

gewissen Grad dahin umschwenken kann, dass es für den Betroffenen eher dazu führt,<br />

selbst weniger Verantwortung für den Veränderungsvorgang zu übernehmen.<br />

3) Passivität bzw. externe Veränderungsüberzeugung<br />

Passivität leitet sich u. a. <strong>aus</strong> externer Veränderungsüberzeugung ab, denn wenn jemand<br />

der Überzeugung ist, dass Hilfe und Veränderung von außen kommen, bleibt die- bzw.<br />

derjenige passiv im Veränderungsprozess. Die interne Überzeugung ist folglich: Ich<br />

brauche nicht aktiv zu werden, die Hilfe kommt von außen.<br />

„konnte sie in der Zeit wahrscheinlich wenig mit dem was anfangen, was ihr gesagt wurde, weil<br />

sie von außen was erwartet“ (Frau T., 208-209)<br />

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5 Ergebnisse<br />

Eine Form der externen Hilfe können zum Beispiel Medikamente sein.<br />

„aber ich erwarte nicht, das nur von Tabletten, sondern - Und, aber sie glaubt daran und sie<br />

sagt immer wieder: Die Ärzte haben noch nicht, ja,das richtige Medikament“<br />

(Frau T., 194-196)<br />

Auch die Annahme einer ärztliche Expertise, die ohne Aust<strong>aus</strong>ch mit den Betroffenen<br />

<strong>aus</strong>kommt, kann zur Folgerung führen, nicht aktiv werden zu müssen.<br />

„Ich muss nicht mit ihnen reden, die gucken mich an und die wissen schon, was ich brauche.“<br />

(Frau T., 244-245)<br />

Frau T. nimmt genau diese externen Veränderungsüberzeugungen als Grund dafür an, dass<br />

ihre Tochter nicht mehr vom NWpG profitieren konnte.<br />

„Ich glaube, es hing einzig und allein mit der Einstellung meiner Tochter (zusammen).“<br />

(Frau T., 503-504)<br />

Als mögliche Erklärung für die Entstehung dieser Überzeugungen nennt Frau T. die<br />

langjährige Erfahrung in psychiatrischen Kliniken, in denen sich ihre Tochter an ihre<br />

passive Rolle gewöhnt hat.<br />

„dass man mehr mit den Patienten redet (..), so dass sie sich daran gewöhnen, nicht so wie bei<br />

meiner Tochter. 10 Jahre gewöhnt sie sich an diese Routine, gewöhnt sich da so an die<br />

allmächtigen Ärzte. (Sieht) sie als erfahrene Ärzte und (denkt) die werden sie retten, die werden<br />

irgendwann auf die richtige Pille kommen und wenn sie diese Pille genommen hat, sind alle<br />

Probleme gelöst“ (Frau T., 627-632)<br />

5.2.2 Weitere Hindernisse<br />

Aber auch wenn diese Haupthindernisse überwunden sind, gibt es weitere Hindernisse, die<br />

die Veränderung dennoch blockieren können.<br />

4) Fehlender Glaube an Veränderung<br />

Selbst wenn Betroffene der Ansicht sind, eine Veränderung zu benötigen, diese auch<br />

wollen und bereit sind aktiv dafür einzutreten, kann fehlender Glaube daran, dass die<br />

Veränderung auch möglich ist, diese scheitern lassen.<br />

„-,Ach, der hat das ja bloß 10 Jahre gehabt. Da kann er ja schnell drüber hinwegkommen!<br />

Aber ich mit meinen 25 Jahren, der ich schon an dieser Krankheit leide. Ich packe das nicht<br />

mehr'-“ (Frau D., 128-130)<br />

5) Misstrauen und Kontrahaltung<br />

Weiterhin stoppen kann den Veränderungsprozess ein Misstrauen von Betroffenen der<br />

Hilfssituation gegenüber, im Besonderen, wenn keine Vertrauensbasis mit den<br />

Hilfspersonen zustande kommt. Ein allgemeines Misstrauen kann sich zunächst in einer<br />

grundlegenden Kontrahaltung (Frau D., 74; 110) äußern, die es verhindert, sich auf die<br />

Hilfssituation einzulassen.<br />

69


5 Ergebnisse<br />

„er war erst mal kontra“ (Frau D., 64)<br />

„er immer wieder skeptisch“ (Frau D., 76)<br />

Eine fehlende Vertrauensbasis kann sich zum Beispiel in einer mangelnden Anerkennung<br />

bzw. Überzeugung von fachlicher Kompetenz äußern.<br />

„Also er erkennt junge Leute nicht gleich fachlich kompetent an“ (Frau D., 76-79)<br />

Durch stetigen Beziehungsaufbau lässt sich diese Skepsis jedoch überwinden.<br />

„Also er hat in dem Herrn W [Bezugsbegleiter]. jetzt auch den Partner, den er akzeptiert,<br />

gefunden.“ (Frau D., 132)<br />

„Und von daher denke ich, dass der Herr W. der Partner sein wird, der auf jeden Fall dieses<br />

Kontra abgebaut hat, ja?“ (Frau D., 110-111)<br />

Die Vertrauensbeziehung zu Hilfspersonen wie BezugsbegleiterInnen ist demnach von<br />

zentraler Bedeutung dafür, ob sich Betroffene auf die gemeinsame Arbeit am<br />

Veränderungsprozess einlassen. Mit beginnendem Vertrauen stellt sich auch die Hoffnung<br />

ein, dass diese gemeinsame Arbeit zukünftig möglich wird.<br />

„Wenn er es besser annimmt. Noch ist er glaube ich nicht so weit. Wenn er es besser annimmt<br />

und sich da auch einbinden lässt in regelmäßige Besuche.“ (Frau D., 759-760)<br />

Eine gravierende Blockade kann auch ein „Loyalitätsproblem“ (Frau T., 139) zwischen<br />

Professionellen darstellen. Dieses entsteht, wenn Professionelle, die bereits eine gute<br />

Vertrauensbasis zu den Betroffenen aufgebaut haben, trotz fehlenden Wissens<br />

„vernichtende Urteile“ (Frau T., 136) über die anderen Professionellen <strong>aus</strong>sprechen und<br />

den Betroffenen vom fremden Hilfsangebot abraten.<br />

„Und ja, ungünstigerweise hat ihr Therapeut große große Widerstände geleistet. Die habe<br />

solche Vorurteile gegenüber (der) <strong>Krisenpension</strong> und auch ihre Neurologin, also die, die<br />

Medikamente verschreibt.“ (Frau T., 89-91)<br />

Solche Einwände einer professionellen Vertrauensperson führen bei Betroffenen schnell zu<br />

Misstrauen und einem Vertrauenskonflikt zwischen den verschiedenen Professionellen. Die<br />

Mutter einer Betroffenen wundert sich über dieses Verhalten, da es die doch eigentlich<br />

allerseits angestrebte Veränderung blockiert.<br />

„Ja, der erste {wollte es} blockieren. Warum? Aber es war - und ich kann es mir vorstellen,<br />

dass die beiden meine Tochter in eine große Konfliktsituation gebracht haben“ (Frau T., 98-99)<br />

Zusätzliche Faktoren<br />

Über die genannten möglichen Hindernisse hin<strong>aus</strong>, können je nach spezifischen<br />

Umständen alle möglichen Faktoren ein Hindernis darstellen. Der Faktor Zeit kann zum<br />

Beispiel eine Rolle spielen, wenn das Timing schlecht ist.<br />

70


5 Ergebnisse<br />

„Bloß er [Bezugsbegleiter] hatte in der Zeit Urlaub genommen und dieses Treffen wurde für<br />

Ende Mai, denke ich, oder Mitte Mai (abgemacht). Und schon Anfang Mai ging es ihr ganz<br />

schlecht und schon Anfang Mai musste die Entscheidung getroffen werden.“ (Frau T., 107-109)<br />

Allein, dass ein Hilfsangebot sich von Erfahrungen mit bisherigen Angeboten<br />

unterscheidet, kann abschreckend wirken. Dies kann dazu führen, dass Betroffene sich<br />

lieber für Gewohntes entscheiden anstatt zu vergleichen und sich für das beim Vergleich<br />

besser abschneidende Angebot zu entscheiden.<br />

„Sie kennt die, es [stationäre <strong>Versorgung</strong>] ist etwas vertrauter.“ (Frau T., 85)<br />

Möglicherweise sind auch hohe Erwartungen („große Hoffnung“, Frau T., 501) hinderlich,<br />

die bei nicht schnell eintretenden Erfolgen schnell in Enttäuschung umschlagen können.<br />

„Also ich glaube nicht, dass das für sie eine unangenehme Erfahrung war, aber (es) war für sie<br />

sehr belastend, dass vielleicht unsere Erwartungen viel zu groß waren.“ (Frau T., 437)<br />

5.3 K3 Hilfreiche Konzepte<br />

In der folgenden Kategorie 3 hilfreiche Konzepte werden grundlegende Haltungen und<br />

konkrete Arbeitsweisen des NWpG vorgestellt, die die InterviewpartnerInnen als hilfreich<br />

erlebt haben. Aus den Interviews ergaben sich Konzepte sowohl auf der eher abstrakten<br />

Ebene der Haltungen, in denen sich ein bestimmtes Menschenbild widerspiegelt, als auch<br />

auf der konkreteren Ebene der Arbeitsweisen. Beides konnte von den InterviewteilnehmerInnen<br />

durch die BezugsbegleiterInnen des NWpG und meist in der Situation des<br />

Netzwerkgespräches erlebt werden. Abbildung 3 stellt alle Komponenten der Kategorie 3<br />

dar.<br />

grundlegende Haltungen<br />

➢ Orientierung an individuellen<br />

Bedürfnissen<br />

➢ Mitbestimmung der NutzerInnen<br />

➢ Förderung der Eigenständigkeit<br />

Arbeitsweisen<br />

➢ Zuhören & Zeit nehmen<br />

➢ Alltagstipps<br />

➢ Blick in die Zukunft<br />

➢ Ganz Normales<br />

➢ Ständige Erreichbarkeit &<br />

schnelle Hilfe<br />

➢ Angehörige einbeziehen<br />

Vermittlung<br />

➢<br />

➢<br />

Netzwerkgespräche<br />

BezugsbegleiterInnen<br />

Abbildung 3. K3 Hilfreiche Konzepte<br />

71


5 Ergebnisse<br />

5.3.1 Grundlegende Haltungen<br />

In den Interviews zeigte sich, dass Angehörige bestimmte grundlegende Haltungen in der<br />

Arbeit mit dem NWpG als förderlich empfanden. Ihnen fiel positiv auf, dass sich die<br />

Begleitung an den individuellen Bedürfnissen der NutzerInnen orientiert, letztere eine<br />

Mitspracherecht in der Begleitung erhalten und über wichtige Schritte entscheiden können.<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> befürworteten sie die Haltung, dass die NutzerInnen dazu ermutigt werden,<br />

möglichst aktiv und eigenständig zu bleiben bzw. zu werden.<br />

➢ Orientierung an individuellen Bedürfnissen<br />

Aus den Erfahrungen, die die InterviewpartnerInnen mit dem NWpG gemacht haben,<br />

gewannen sie den Eindruck, dass dort der „Erkrankte im Mittelpunkt steht“ (Herr A., 1540-<br />

1541). Dar<strong>aus</strong> leitet sich ab, dass die Begleitung „total flexibel“ (Herr M., 85) auf die bzw.<br />

den Betroffene/n „zugeschnitten“ (Herr A., 1115) wird. Dafür werden die Behandlungskomponenten<br />

und richtigen Partner für jeden individuell gesucht, so dass ein<br />

„ganzheitliches“ und „umfassendes“ Angebot entsteht (Herr A., 1671-1675). Diese<br />

„maßgeschneiderte Lösung“ (Herr A., 1152) ermöglicht ganz unterschiedliche Angebote<br />

mit nutzerspezifischem Ziel bzw. Fokus. Als Gegensatz zur im NWpG erlebten<br />

individuellen Herangehensweise stellen die interviewten Angehörigen dieser eine<br />

Behandlung nach „Schema F“ (Herr B., 378) gegenüber. Damit ist eine Standardbehandlung<br />

gemeint, in der keine flexible Anpassung an die unterschiedlichen Bedürfnisse<br />

von Menschen vorgesehen ist.<br />

„Also ich denke, da ist so das klassische Muster, mal drüber gelegt worden irgendwann und ja<br />

erst diese ganz individuelle Betreuung, wie er sie beim Netzwerk erfährt, hat ihm die<br />

Lebensqualität zurück gebracht.“ (Herr A., 1178-1180)<br />

Durch diese Gegenüberstellung von individueller und Standardbehandlung verdeutlichen<br />

die Angehörigen das für sie Neue und Besondere am Ansatz des NWpG im Vergleich zu<br />

ihren bisherigen Erfahrungen <strong>aus</strong> dem klassisch psychiatrischen Bereich. Zuvor kam ihnen<br />

der Ansatz oft „aufgestülpt“ (Herr A., 1534; Herr M., 150-151) und vorgefertigt vor, beim<br />

NWpG dagegen wird die Begleitung grundlegend auf die Betroffenen abgestimmt.<br />

„Das gibt es auch, aber nicht so per Zettel oder: "Mach mal so und so", sondern das ergibt<br />

sich <strong>aus</strong> dem Gespräch her<strong>aus</strong> und es ist dann eben sehr individuell abgestimmt.“<br />

(Herr M., 129-131)<br />

➢ Mitbestimmung der NutzerInnen<br />

Eine weitere grundlegende Haltung des NWpG, die von den Interviewten her<strong>aus</strong>gestellt<br />

wurde, ist die Achtung des Entscheidungsrechts der NutzerInnen. In der Begleitung durch<br />

72


5 Ergebnisse<br />

das NWpG schlägt sich diese Haltung darin nieder, dass die Betroffenen „selbst bestimmen<br />

dürfen“ (Herr A., 1841), wie diese Begleitung <strong>aus</strong>sieht und dass sie an allen wichtigen<br />

Entscheidungen teilhaben.<br />

„Ja. Und er entscheidet. Er sagt auch, er hält ja auch bestimmte Leute r<strong>aus</strong>.[...] Er bestimmt.“<br />

(Herr A., 1531-1534)<br />

„den Menschen Freiheiten zu geben, Freiheiten, selbst zu entscheiden, Freiheiten, ja, dahin<br />

geht es. Und den Eindruck hatte ich bei der <strong>Krisenpension</strong> gehabt, dass das in diese Richtung<br />

geht“ (Herr K., 407-409)<br />

Dadurch wird die Rolle der Betroffenen im Hilfsprozess als gleichberechtigt anerkannt:<br />

Professionelle und Betroffene verfolgen in einem partnerschaftlichen Verhältnis ein<br />

gemeinsames Ziel, zu dem jeder seinen Teil beiträgt (Herr A., 1102-1103). Da sich die<br />

NutzerInnen miteinbezogen fühlen, ihre Wünsche berücksichtigt werden (Herr B., 848-<br />

849) und der Betreuungsansatz „in Zusammenarbeit“ (Herr M., 150 ) entwickelt wird,<br />

erleben diese ein Kontrollgefühl über die eigene Situation (Herr A., 1533-1536). Für Herrn<br />

M. ist eine solche Haltung für das Gelingen einer Veränderung unabdingbar, wie er im<br />

Folgenden erklärt:<br />

„Also, es ist ganz wichtig, dass die Betroffenen davon überzeugt sind, dass das, was man jetzt dort,<br />

sagen wir mal, sich vornimmt, dass das auch deren Zustimmung findet und dann hat man eine gute<br />

Chance auch, Situationen zu verändern und dann dementsprechenden Erfolg auch zu haben.“<br />

(Herr M., 148-155)<br />

➢ Förderung der Eigenständigkeit<br />

Das NWpG versucht generell, die Eigenständigkeit seiner NutzerInnen zu fördern. Herr M.<br />

erlebt sie als eine „helfende Hand“, die Menschen dabei hilft, sich „selber wieder <strong>aus</strong><br />

dieser Situation befreien zu können“ (Herr M. 478-481). Umgesetzt werden kann diese<br />

Haltung beispielsweise dadurch, dass sich die Professionellen möglichst zurücknehmen<br />

und den anderen aktiv sein lassen.<br />

„nicht mit Rat und Tat {da mit dabei} stehen, außer man bittet sie darum.“ (Herr B., 625-626)<br />

„Sie geben einem das Gefühl, dass sie nicht einfach sagen, was sie wollen oder was man tun<br />

soll“ (Herr M., 148-149)<br />

Herr K. stellt auch einen Zusammenhang zur Mitbestimmung her und verdeutlicht, dass<br />

diese die Eigenständigkeit des Menschen fördert und ihn handlungsfähig macht.<br />

„So viel wie möglich Freiraum, wieder den Menschen in seine eigene Handlungs- und<br />

Entscheidungsfähigkeit zu bringen, ihn selbstständig zu belassen und ihn nicht abhängig zu<br />

machen. […] gesund werden heißt Verantwortung übernehmen, entscheidungs- und<br />

handlungsfähig zu sein, das ist Zielsetzung einer gesunden Gesellschaft.“ (Herr K., 401-406)<br />

Eigenständigkeit, Verantwortungsübernahme und aktive Einbindung in den Veränderungsprozess<br />

ermöglichen Betroffenen so, Veränderung <strong>aus</strong> eigener Kraft her<strong>aus</strong> einzuleiten.<br />

73


5 Ergebnisse<br />

5.3.2 Arbeitsweisen<br />

➢ Zuhören und Zeit nehmen<br />

Aus den beschriebenen grundlegenden Haltungen ergeben sich konkrete Arbeitsweisen für<br />

das NWpG. Aus einer befürwortenden Haltung von Mitbestimmung und Eigenständigkeit<br />

der NutzerInnen ergibt sich unter anderem das Zuhören (Frau T., 500; Herr B., 254-255;<br />

603-605) als konkrete Arbeitsweise der Professionellen.<br />

„Aber nichtsdestotrotz ist es dann halt auch schön, dass man mit Hometreatment denn hier<br />

Leute hat, die einfach darüber reden, auch gelernt haben eher zuzuhören, hin und wieder mal<br />

eine Frage zu stellen, klar, aber eher zuzuhören.“ (Herr B., 622-625)<br />

„Der hat eine ganz ruhige Art, lässt ihn reden, fragt nur kurz“ (Frau D., 686-687)<br />

Indirekt sagen diese den Betroffenen mit ihrer „Zurückhaltung“ im Gespräch (Frau T.,498-<br />

501): Du bist hier der Experte, die Lösung liegt in dir selbst. Betroffene werden demnach<br />

ernst und wichtig genommen. Eng mit dem Zuhören verbunden ist auch das sich „Zeit<br />

nehmen“ (Herr A., 1650; 1300), da erst <strong>aus</strong>reichend Zeit das Zuhören ermöglicht und<br />

wiederum ein Ausdruck der Anerkennung ist.<br />

„Und die Tatsache, dass die eben ganz offen waren, also ganz viel zugehört haben, also eher<br />

uns haben reden lassen, uns haben erzählen lassen und erst dann zu einer Meinung gekommen<br />

sind und dann, und das stundenlang.“ (Herr A., 1490-1492)<br />

➢ Alltagstipps<br />

Eine zentrale Arbeitsweise des NWpG bezeichnen einige InterviewpartnerInnen als „lauter<br />

kleiner Tipps“ (B., 716-717), „kleine […] und große Verhaltenstipps“ (Herr B., 577) oder<br />

Alltagstipps geben.<br />

„Alltagstipps ist ein gutes Stichwort, das finde ich [...] auch eine ganz wichtige Hilfe. […] Viele<br />

nehmen wirklich solche Alltagsratschläge dankend an, setzen die auch um, ja?“ (Herr B., 652-660)<br />

Darin sind mehrere Aspekte enthalten. Zum einen ist dies die Alltagsbezogenheit, zum<br />

anderen bedeuten „Tipps“ sowohl eine Unverbindlichkeit der Annahme des Tipps im Sinne<br />

eines Vorschlages als auch die Suche nach Lösungen. Alltagsbezogenheit heißt einerseits,<br />

dass die bzw. der Betroffene während ihrer bzw. seiner Begleitung möglichst „nicht r<strong>aus</strong><br />

gerissen <strong>aus</strong> ihrem bzw. seinem Alltag“ wird (Frau D., 893-894). Andererseits heißt es,<br />

dass die Hilfen bei „überwiegend Alltagssachen“ (Herr A., 517) ansetzen und so „ganz<br />

lebensnah“ (Herr A., 522) sind.<br />

„Ganz ganz wichtig ist, wie gestaltet sich denn der Alltag […] Und die haben den ein oder<br />

anderen Vorschlag gemacht: Mach das doch so! Oder wäre das nicht ein Weg?“<br />

(Herr A., 1739-1743)<br />

Das Wort Vorschlag verdeutlicht dabei ein weiteres Mal, dass sich hinter der konkreten<br />

Arbeitsweise eine selbstbestimmungsachtende Haltung verbirgt: Vorschlag bedeutet nur<br />

74


5 Ergebnisse<br />

das unverbindliche Aufzeigen einer Möglichkeit ohne einen „Zwang“ (Herr A., 1118),<br />

diesen bestimmten Lösungsweg auch annehmen zu müssen.<br />

„mit vielen Vorschlägen, nicht eindringen, also zumindestens so: Ich habe nicht den Eindruck,<br />

dass sie ja etwas rein pauken wollten, ja?“ (Frau T., 526-527)<br />

Die Option des Ablehnens wird demnach offen gelassen und akzeptiert.<br />

„Ja, ich bestimme. Ich sage, was ich möchte. Ich wähle <strong>aus</strong> der Palette <strong>aus</strong> und komme<br />

manchmal auch zurück und sage ,ich glaube, das ist nichts für mich'.“ (Herr A., 1053-1054)<br />

Anstelle von Vorschlägen wird auch von „Angebote“ (Frau T., 544), „Denkanstöße“ (Frau<br />

D., 688) oder „Anregungen“ (Herr M., 58) gesprochen, wodurch die gleiche<br />

Unverbindlichkeit <strong>aus</strong>gedrückt wird. Das NWpG versucht seine NutzerInnen dabei zu<br />

unterstützen, ihren eigenen Weg, keinen vorgefertigten, zu finden. Die Unterstützung dabei<br />

erfolgt durch die Fokussierung auf mögliche Lösungen. Im Begleitungsprozess werden<br />

dazu mit „ganz viel kreativen Ideen“ (Herr B. 602) „Lösungsansätze“ (Herr A., 1230)<br />

gesucht, wobei das NWpG eine „ganze breite Palette anbietet“ (Herr A., 1046) und „3, 4, 5<br />

verschiedene Möglichkeiten“ (Herr A., 1231) aufzeigt.<br />

„mögliche Lösungen, mögliche Schritte aufzeigen und entwickeln und ja, immer wieder<br />

nachfragen, wie es denn <strong>aus</strong>sieht. Ob das der richtige Weg ist“ (Herr M., 57-61)<br />

Wichtig dabei ist auch, dass den NutzerInnen des NWpG dabei vermittelt wird, dass es<br />

immer einen Ausweg bzw. eine Lösung für eine schwierige Lage gibt (Herr A., 1708-<br />

1709).<br />

„Und, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt, egal wie die <strong>aus</strong>sieht und, das […] Dass<br />

eine ist. Genau das ist der Punkt. Und dass sie aufgezeigt wird.“ (Herr A., 1087-1090)<br />

➢ Blick in die Zukunft<br />

So wie die Perspektive für eine Lösung Hoffnung geben kann, so zeugt auch der Blick in<br />

die Zukunft von einer Zuversicht, dass sich die Dinge bessern werden. In der<br />

Zusammenarbeit mit dem NWpG geht es daher oft um Dinge, die die „Zukunft betreffen“<br />

(Herr A., 532) und darum, „einfach eine Perspektive wieder (zu) bekommen für die<br />

Zukunft“ (Herr M., 481-482). Dass es nicht immer selbstverständlich ist, dass einem von<br />

Professionellen „große Hoffnung gegeben“ (Frau T., 501) wird, macht folgende Äußerung<br />

von Herrn B. deutlich:<br />

„Und man spürte nicht mal so eine Hoffnung, dass die Behandlung an sich vielleicht<br />

Fortschritte bringt. Mit der <strong>Krisenpension</strong> änderte sich das. Also nicht schlagartig, aber so<br />

Stück für Stück keimte dann halt so auf [...] Ok, wir leben jetzt nicht mehr in der Vergangenheit,<br />

wir leben jetzt in der Gegenwart, ja? Und heute rückwirkend betrachtet (lachend), muss ich<br />

sagen, war das schon ein riesiger Schritt, ja? Und Stück für Stück ging das dann aber auch in<br />

die Zukunft über.“ (Herr B., 526-532)<br />

75


5 Ergebnisse<br />

➢ Ganz Normales<br />

In den Interviews mit den Angehörigen wurde immer wieder deutlich, dass es bei der<br />

Begleitung gar nicht immer so sehr auf <strong>aus</strong>gefeilte Konzepte ankommt, sondern dass das<br />

„normale“ oder das „naheliegendste“ (Herr A., 886), oft das Allerhilfreichste ist. Dies<br />

drückt sich in verschiedenen Aspekten <strong>aus</strong>: Dieses „naheliegendste“ kann zum Beispiel<br />

sein, dass man in einer Krisensituation ein „ganz stinknormales Gespräch“ (Herr B., 708)<br />

führt, das eben diese Krise abzuwenden weiß. Es können „ganz informelle Gespräche“<br />

(Herr A., 624) sein, die Sicherheit und Rückhalt für die Bewältigung des Alltags geben.<br />

Herr B. findet, dass man also generell „seelisch kranke Menschen ruhig gen<strong>aus</strong>o behandeln<br />

darf wie gesunde Menschen“ (Herr B., 665), was in der <strong>Krisenpension</strong> u. a. dadurch<br />

geschieht, dass „da gekocht wurde zum Beispiel mit den Leuten, also dass da ein ganz<br />

normal, wie in einer Wohngemeinschaft, ein ganz normales Leben stattfand“ (Herr B., 233-<br />

235). Ein weiterer solcher Aspekt ist das Prinzip „Was tut mir gut?“ (Herr B., 319) bzw.<br />

„Geht es dem Betroffenem damit besser?“ (Herr A., 1744), welches Herr B.<br />

folgendermaßen erklärt:<br />

„Also das, was ich als gesunder Mensch auch mache, ja? Was tut mir gut? Das mache ich, ja?<br />

Dabei bleibe ich und was mir nicht gut tut, das stoße ich ab oder verändere es so, dass ich<br />

damit leben kann.“ (Herr B., 319-321)<br />

Ein Gefühl für den richtigen Einsatz dieser „normalen“ Dinge wird auch als „gesunde(r)<br />

Menschenverstand“ (Herr A., 1485) oder „Lebenserfahrung“ bezeichnet, die Professionelle<br />

gern einfließen lassen sollten (Herr B., 346-350).<br />

➢ Erreichbarkeit & schnelle Hilfe<br />

Als besonders hilfreich stellen mehrere Angehörige die beispiellose Erreichbarkeit (Herr<br />

M., 269) und die „fantastische Reaktionszeit“ (Herr B., 637-638) des NWpG her<strong>aus</strong>. Sie<br />

schildern, dass sie „zu jeder Tages- und Nachtzeit“ (Herr A., 682-683) anrufen können<br />

(Herr B., 632) und das NWpG ihnen „jederzeit jede Hilfe anbietet“ (Herr D., 763). Zu<br />

wissen, dass immer jemand für einen da ist (Herr M., 507-508), bietet Betroffenen und<br />

Angehörigen eine enorme Sicherheit.<br />

„Und, was mich da am meisten beeindruckt, ist diese ständige Erreichbarkeit.“ (Herr A., 855)<br />

Dazu kommt, dass die Hilfe „schnell und umfassend“ (Herr M., 582) bzw. „sofort und<br />

direkt“ (Herr A., 1303) erfolgt. So wurde beispielsweise berichtet, dass in einem Zeitraum<br />

von „einer halben Stunde“(Herr A., 285) bis zu „einer Stunde“ (Herr A., 1752) eine Lösung<br />

für das Problem gefunden wurde.<br />

76


5 Ergebnisse<br />

„Denn dieses, dieses relativ lockere und ganz flexible und schnell reagieren können, das ist ja<br />

erst die letzten 2, 5, 3 Jahre. Ein völlig anderer Ansatz, den er so gar nicht kannte.“<br />

(Herr A., 1143-1145)<br />

➢ Angehörige einbeziehen<br />

In der gesamten Begleitung der Betroffenen legt das NWpG großen Wert auf eine „ganz<br />

enge Einbindung“ (Herr A., 1517) von Angehörigen. Es wird dabei angestrebt, dass alle<br />

Beteiligten mit vereinten Kräften auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten.<br />

„Und dann war auch sehr schnell ein Ziehen am gleichen Strang sichtbar und mein ernstes<br />

Bemühen, also mich da auch einzubringen“ (Herr K., 349-351)<br />

In diesem Zuge werden Gespräche nur für die Angehörigen angeboten (Herr M., 196-197;<br />

Frau T., 476; Herr A., 847-849) oder es besteht die Möglichkeit für Angehörige, die<br />

BezugsbegleiterInnen bei Bedarf zu kontaktieren:<br />

„wenn ich Hilfe brauche, unabhängig von ihm, dass ich mich gen<strong>aus</strong>o an Frau X. wenden kann<br />

oder an Herrn Y..“ (Herr A., 1030-1033)<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> werden, wenn auch vom Betroffenen befürwortet, Netzwerkgespräche<br />

gemeinsam mit den Angehörigen und Betroffenen geführt.<br />

„da hatte der Herr W. auch mich extra darum gebeten, dass ich mitkomme.“ (Frau D., 114-115)<br />

Von den Angehörigen wird dieser Ansatz begrüßt und für unabdingbar gehalten:<br />

„Also wer die Angehörigen außen vorhält, wie Kliniken das tun und wie Ärzte das tun, der hat<br />

eigentlich schon verloren.“ (Herr A., 1516-1517)<br />

Gute Gründe für das Einbeziehen von Angehörigen nennen auch die Angehörigen selber.<br />

Es reiche nicht, nur am Betroffenen selbst zu arbeiten, auch die Umwelt, zu der die<br />

Angehörigen unmittelbar zählen, müssten am Änderungsprozess teilhaben (Herr B., 835-<br />

837), was z. B. durch Netzwerkgespräche realisiert werden kann. Weiter wurde<br />

argumentiert, dass Angehörige gen<strong>aus</strong>o Betroffene sind und daher auch Unterstützungsbedarf,<br />

z. B. in Form eines Angehörigengespräches, benötigen.<br />

„Die Tatsache, sich bewusst zu machen, dass man als Angehöriger eines Betroffenen, als<br />

Partner eines Betroffenen, gen<strong>aus</strong>o betroffen ist. Und man genau die gleichen Experten<br />

konsultieren muss, die der Betroffene selber konsultieren muss. Also es, ich kann das nicht<br />

alleine mit mir abmachen.“ (A., 1340-1342)<br />

5.3.3 Vermittlung der Grundhaltungen und Arbeitsweisen<br />

➢ Netzwerkgespräche<br />

Die zuvor beschriebenen grundlegenden Haltungen und Arbeitsweisen werden für<br />

Angehörige vor allem in den Netzwerkgesprächen erlebbar. Diese Kontakte sind eine der<br />

Hauptquellen, <strong>aus</strong> denen die Angehörigen ihre Erfahrungen mit dem NWpG schöpfen.<br />

77


5 Ergebnisse<br />

Neben dem indirekten Erleben durch die Erzählungen der Betroffenen haben Angehörige<br />

hier direkten Kontakt mit dem NWpG. Ausgangspunkt der Gestaltung dieser Gespräche<br />

stellt die Orientierung an den Bedürfnissen der NutzerInnen dar, so dass diese sehr<br />

individuell <strong>aus</strong>sehen können. Bei den InterviewpartnerInnen variierte die Häufigkeit und<br />

der Inhalt der Gespräche daher sehr. In den von Herrn A. erlebten Netzwerkgesprächen<br />

ging es beispielsweise um die Inhalte „Aktuelles“ (Herr A., 504), Wohlbefinden (Herr A.,<br />

508), in der „Zwischenzeit“ (Herr A., 403) Erlebtes, „bedrückende Situationen“ (Herr A.,<br />

406) und partnerschaftliche „Beziehung“ (Herr A., 405). Je nach Art der Beziehung von<br />

Betroffenen und Angehörigen ergeben sich dementsprechend andere Inhalte. Die<br />

Konstellation der GesprächsteilnehmerInnen bietet aber in jedem Fall eine günstige<br />

Möglichkeit, die Betroffenen-Angehörigen-Beziehung zu thematisieren, was gerade bei<br />

Partnerschaften oft auf Bedarf stößt. So sieht Herr M. die Treffen auch teilweise als<br />

Moderation (Herr M., 56) für die Besprechung von „Beziehungsproblematiken“ (Herr M.,<br />

44). Als besonders wichtig an den Netzwerkgesprächen wurde auch mehrmals<br />

her<strong>aus</strong>gestellt, „die Meinung Dritter zu hören“ (Herr A., 511). Eine solche 3. Perspektive<br />

ermöglicht mit „relativ neutraler Sicht“ (Herr A., 512) einen „anderen point of view auf die<br />

Sache zu kriegen“ (Herr B., 578) oder mit „Überzeugungsarbeit [...] immer wieder zu<br />

bestätigen“ (Herr A., 466), dass der eingeschlagene Weg auch der richtige ist.<br />

Neben Netzwerkgesprächen mit Angehörigen wird auch versucht, andere Professionelle<br />

miteinzubeziehen. So berichtet Herr K. beispielsweise, dass zusammen mit dem NWpG<br />

„Gespräche mit dem dort betreuenden Arzt“ (Herr K., 190) geführt wurden. Darüber<br />

hin<strong>aus</strong> sind auch größere Versammlungen mit Professionellen, Angehörigen und<br />

Betroffenen möglich, bei denen versucht wird, alle wichtigen Personen an einen Tisch zu<br />

bringen, um wichtige Entscheidungen zusammen zu treffen (Herr K., 267-268). Dabei<br />

kann jeder seine Position schildern und dem Betroffenen diese auf Augenhöhe näher<br />

bringen (Herr K., 322-324).<br />

➢ BezugsbegleiterInnen<br />

Als zentral stellte sich auch die Person der bzw. des Bezugsbegleiterin/s für die<br />

Betroffenen und Angehörigen her<strong>aus</strong>. In einigen Äußerungen der InterviewparterInnen<br />

werden BezugsbegleiterInnen mehr oder weniger synonym mit dem NWpG verwendet.<br />

„Also im Prinzip ist es jetzt die Person des Herrn W., die ich jetzt super finde“ (Frau D., 685)<br />

„Und was mir die beiden oder dieses Netzwerk sympathisch gemacht hat, waren natürlich die<br />

beiden Personen. Ich kann das ja nirgendwo anders dran festmachen.“ (Herr A., 1486-1488)<br />

78


5 Ergebnisse<br />

Dies ist insofern nicht verwunderlich, als dass der Großteil des Angebotes des NWpG in<br />

der Arbeit mit den BezugsbegleiterInnen besteht. Diese können einen „ganz starken<br />

Einfluss“ auf das Leben der Betroffenen haben (Herr A., 541-542) und eine „sehr<br />

vertrauensvolle Beziehung“ (Herr A., 608) mit ihnen entwickeln. Daher ist es sehr wichtig,<br />

eine konstante Begleitung zu gewährleisten, in der es feste Bezugspersonen und kaum<br />

Wechsel gibt (Herr A., 544-545). Die BezugsbegleiterInnen sind gleichermaßen<br />

„Notfallhelfer“, „Alltagsseelsorger“ (Herr A., 629) und Kümmergruppe“ (Herr A., 1680;<br />

„gekümmert“ Herr B., 933-934), auf die sich sowohl Betroffene als auch Angehörige<br />

verlassen (Herr A., 643). Die „regelmäßigen Kontakte“ (Herr A., 1603) mit den<br />

BezugsbegleiterInnen und die Gewissheit „da ist immer einer“ (Herr A., 1014) stellen eine<br />

„Sicherheit im Hintergrund“ (Herr A., 931) dar, die für die NutzerInnen sehr wichtig ist.<br />

„Nein. Ich glaube, das ist für ihn ganz wichtig, dass er weiß, das ist so sein Fahrplan, das<br />

bleibt so. Und die können ja auch, brauchen ja auch nur eine Stunde dauern oder es können<br />

dann eine Tasse Kaffee sein, sonst nichts. Aber ganz wichtig für ihn ist zu wissen: Ja, das ist<br />

eine konstante Größe für mich, das ist eine Größe, auf die ich bauen kann.“<br />

(Herr A., 1795-1799)<br />

Abschließend<br />

Insgesamt wird in den Aussagen der Angehörigen deutlich, dass Betroffene und<br />

Angehörige wertvolle Hilfen <strong>aus</strong> den Grundhaltungen und Arbeitsweisen des NWpG<br />

ziehen können. Das gilt im Besonderen für Krisenzeiten, bei deren Bewältigung das<br />

NWpG Unterstützung leistet. Die folgende Beschreibung von Herrn A. bringt dies noch<br />

einmal auf den Punkt:<br />

„Also, es gibt einen Weg, den ein Mensch geht und irgendwann ist eine Lücke in diesem Weg<br />

und dann gibt es eben Organisationen, die helfen mit einer Brücke über diesen Weg zu gehen<br />

und dann durch die Tür und dass es eben weiter geht, dass man nicht im nirgendwo landet.“<br />

(Herr A., 258-261)<br />

79


5 Ergebnisse<br />

5.4 K4 Idealversorgung<br />

Die Kategorie Idealversorgung leitet sich <strong>aus</strong> der Idealfrage nach einer perfekten<br />

<strong>Versorgung</strong> ab. Da diese Frage auf unterschiedlichen Ebenen beantwortet wurde, ist sie<br />

relativ heterogen zusammengesetzt: Es wird die gesellschaftliche Ebene im Sinne einer für<br />

psychisch erkrankte Menschen bessere Gesellschaft angesprochen, die Ebene der<br />

strukturellen und konzeptionellen psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> im Allgemeinen sowie die<br />

Ebene einer Verbesserung des konkreten <strong>Versorgung</strong>sangebotes NWpG (s. Abb. 4).<br />

Gesellschaftlich:<br />

Aufklärung & Thematisierung<br />

für Offenheit, Prävention, Entstigmatisierung & Enttabuisierung<br />

Allgemeine <strong>Versorgung</strong>:<br />

Mehr Mitbestimmung, individuelle Betreuung, Zeit haben,<br />

„Auffangstation“, enge Zusammenarbeit, Mut<br />

NWpG:<br />

Mehr davon!<br />

Bessere Räumlichkeiten,<br />

Standort, Therapieangebot,<br />

Werbung<br />

Abbildung 4. K4 Idealversorgung<br />

5.4.1 Gesellschaftliche Ebene<br />

Bei der Frage nach der idealen <strong>Versorgung</strong> wurde von mehreren InterviewpartnerInnen die<br />

gesellschaftliche Ebene angesprochen, da sie tagtäglich mit den dort herrschenden<br />

Problemen konfrontiert werden. Als grundlegende Missstände werden die anhaltende<br />

Tabuisierung und Stigmatisierung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen und<br />

Problemen festgestellt.<br />

„Aber dafür ist das Thema oder die Gesellschaft auch noch nicht offen genug für solche<br />

Sachen. Das ist alles sehr tabuisiert “ (Herr M., 109-110)<br />

„Und da haben viele andere Menschen ja eher Berührungsängste und fühlen sich gleich<br />

stigmatisiert oder so. Das ist sicherlich noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft“<br />

(Herr M., 284-285)<br />

Ein leicht greifbares Beispiel einer Stigmatisierung <strong>aus</strong> seinem Alltag berichtet Herr B.:<br />

„Passant: ,Habt ihr den gesehen?'(aufgebracht)<br />

Herr B: ,Joa, das war einer mit einem Tourette-Syndrom.' (gelassen)<br />

Passant: ,Jaa, das kann doch nicht wahr sein, einsperren müsste man den!'[...],Ich hab' die Tür<br />

meines Autos für meinen Vater offen gelassen, nur damit ich ihn da reintragen kann. Dann<br />

kommt der vorbei, tickt da <strong>aus</strong> und schmeißt die Tür zu.'<br />

Und warb richtig, wir müssten doch Verständnis haben. Wir hatten nun kein Verständnis,<br />

sondern sagten: ,Der Mann kann nichts dafür.' “ (Herr B., 434-441)<br />

80


5 Ergebnisse<br />

Aus entsprechenden Erfahrungen her<strong>aus</strong> wird die Forderung nach mehr Offenheit und<br />

Thematisierung in der Gesellschaft laut:<br />

„das ist auch eine Her<strong>aus</strong>forderung, sich wirklich auch mit diesem Thema [...]<br />

<strong>aus</strong>einanderzusetzen und auch offen zu sein. Das darf kein Tabu sein.“ (Herr A., 1699-1701)<br />

„Ja, dass es mehr thematisiert wird, ja. Ich meine, wer geht denn freiwillig her und sagt: Ich<br />

leide an paranoider Schizophrenie. Das ist doch ein Tabuthema“ Herr A., 1689-1690)<br />

Da die „Unwissenheit der Menschen“ (Herr B., 484-485) ein Grund für die festgestellte<br />

Stigmatisierung ist, stellt „Aufklärungsarbeit“ einen Ansatz (Herr B., 488) zur Umsetzung<br />

von mehr Offenheit und Thematisierung dar. Idealerweise sollte sie bereits in den Schulen<br />

(Herr B., 489) stattfinden und fest in die Lehrpläne, zum Beispiel unter dem Begriff<br />

„seelische Gesundheit“ (s. u.), verankert werden.<br />

„Erst mal würde ich anfangen die Leute aufzuklären, am besten in den Schulen.[...] Seelische<br />

Gesundheit ist irgendwas, was kaum einer kennt und -[...] Ja, obwohl wir alle damit zu tun<br />

haben. Jeder weiß, was bei einem Schnupfen zu tun ist, aber bei seelische Gesundheit, was ist<br />

das überhaupt?“ (Herr B., 412-419)<br />

Eine andere Möglichkeit wäre es, einen solchen Kurs verpflichtend im beruflichen Bereich<br />

einzuführen.<br />

„Mittlerweile würde ich sogar so weit gehen, [...] jede Firma muss, da müssen die Mitarbeiter<br />

einen 1.Hilfekurs besuchen. […] gen<strong>aus</strong>o sollte so ein Kurs über [...]seelische Hygiene, auch<br />

dazu“ (Herr B., 491-505)<br />

Diese Maßnahmen könnten zwei zentrale Effekte erzielen:<br />

1) Prävention: besser auf eigene psychische Gesundheit achten<br />

2) Entstigmatisierung<br />

„Effekt Nummer 1: Die Leute würden mehr auf sich achten (..) und Effekt Nummer 2: Diese<br />

ganzen Vorurteile, Vorbehalte, die wir ja, hier auch in unserer Familie erlebt haben, würden<br />

damit abgebaut werden.“ (Herr B., 428-430)<br />

5.4.2 Allgemeine <strong>Versorgung</strong><br />

Auch zur Verbesserung der allgemeinen psychiatrischen <strong>Versorgung</strong> gaben die InterviewpartnerInnen<br />

Rückmeldung, dabei stand die Forderung nach mehr Mitbestimmung und<br />

einer individuelleren Behandlung im Vordergrund.<br />

Mehr Mitbestimmung<br />

Besonders in psychiatrischen Kliniken gibt es nach Auffassung der Angehörigen Bedarf an<br />

Verbesserung. So spricht Frau T. davon, dass die Behandlung in der Klinik „von Grund<br />

auf“ erneuert werden muss, wobei ihr am wichtigsten ist, dass Patienten mehr einbezogen<br />

werden (628). Dies bekräftigt auch Herr B., indem er sich dafür <strong>aus</strong>spricht, dass dem<br />

Patienten zumindest die Möglichkeit gegeben werden sollte, auch darüber zu entscheiden,<br />

81


5 Ergebnisse<br />

wie er gesund werden möchte (371). Seine Erfahrung mit Kliniken war im Gegensatz dazu,<br />

dass diese Entscheidung dem Patienten abgenommen wird und so eine Bevormundung<br />

stattfindet (372-373). In diesem Zusammenhang verwendet Herr B. die Analogie der<br />

Speisekarte im Restaurant. Damit wird verdeutlicht, dass die Mitbestimmung in der<br />

Behandlung so selbstverständlich wie die eigene Wahl des Essens sein sollte.<br />

„Also ich gehe ja auch nicht ins Restaurant und lasse mir vom Kellner vorschreiben (lachend),<br />

was er mir jetzt auf den Tisch knallt. Ich kriege immerhin ein Angebot, nämlich eine<br />

Speisekarte, <strong>aus</strong> dem ich <strong>aus</strong>wählen kann und selbst da kann ich das Essen noch variieren.“<br />

(Herr B., 374-377)<br />

Individuelle statt Musterbehandlung<br />

Weiterhin wird eine Behandlung kritisiert, die sich dem einzelnen Individuum überhaupt<br />

nicht anpasst, sondern sich nur daran orientiert, was „irgendwo im Buch drin steht“ (Herr<br />

B., 365). Statt einer solch vielmals erlebten Musterbehandlung, wird die Forderung nach<br />

einer „individuelleren Behandlung“ (Herr B., 470) laut.<br />

„Und ich denke, viele Leute werden behandelt nach irgendwelchen Mustern, die vielleicht nicht<br />

die Chance haben (..) ja richtig individuell betreut zu werden.“ (Herr A., 1685-1687)<br />

Die Notwendigkeit für diese individuelle Behandlung begründet Herr B. damit, dass jeder<br />

Mensch selbst individuell ist und dazu seine ganz individuelle Lebenswelt mitbringt.<br />

Würde man diese individuellen Faktoren in der Behandlung unbeachtet lassen, käme dies<br />

der Behandlung von Menschen wie „ferngesteuerte Roboter“ gleich:<br />

„Und gen<strong>aus</strong>o stelle ich mir ein Angebot für psychisch kranke Menschen vor. (...) Irgendwie<br />

was nach Schema F zu machen. Und vieles kommt mir nach Schema F vor. Das geht schon mal<br />

deshalb nicht, weil alle Menschen Individualisten sind. Jeder hat eine andere Lebenssituation,<br />

ja? Die wie ferngesteuerte Roboter alle in eine Schiene zu zwingen ist so ziemlich, ist auch bei<br />

gesunden Menschen ziemlicher Blödsinn, ja? Und bei kranken Menschen fällt es dann mal<br />

komplett durch.“ (Herr B., 377-382)<br />

Zeit haben statt Kontingent<br />

Außerdem wird deutlich, dass es in psychiatrischen Kliniken oft an Zeit für den Patienten<br />

fehlt.<br />

„die Ärzte haben Visite 15 Minuten“ (Frau T., 635)<br />

Anzustreben ist daher, Zeit nicht nach Kontingenten zu vergeben, sondern nach dem<br />

individuellen Bedarf der bzw. des Betroffenen.<br />

„bei einer psychischen Krankheit, das ist ja die letzte Krankheit, bei der man sagen kann: Die<br />

ist in 3 Monaten abgeschlossen und trotzdem stoßen wir momentan an diese Grenzen, die<br />

Behandlung X Y Z muss innerhalb von 6 Wochen abgeschlossen sein, eine Therapie darf nicht<br />

länger als 6 Monate dauern oder so und so viele Sitzungen“ (Herr B., 479-483)<br />

Um dies umzusetzen, müsste jedoch zunächst einmal ein höherer Personalschlüssel<br />

durchgesetzt werden.<br />

82


5 Ergebnisse<br />

„aber bei psychisch kranken Menschen, da darf so ein Verhältnis, würde ich sagen, 1-zu-5“<br />

(Herr B., 466-467)<br />

Angemessene Auffangstation<br />

Einig darüber, dass eine angemessene Krisenaufnahme eigens für die psychiatrische Klinik<br />

fehlt, sind sich mehrere der InterviewpartnerInnen. Im Notfall muss meist das normale<br />

Krankenh<strong>aus</strong>-Notaufnahmeprozedere durchlaufen werden, welches in einer psychischen<br />

Krise extrem kontraproduktiv sein kann.<br />

„ich habe schon einmal 5 Stunden mit meiner Tochter gewartet bis sie im Zimmer war. Also<br />

wenn man noch keine Psychose hatte, kriegt man spätestens dann (eine), wenn man diese<br />

Prozedur da durch macht.“ (Frau T.,508-511)<br />

Solch eine „Anlaufstelle“ (Herr B., 383) sollte sich dadurch <strong>aus</strong>zeichnen, dass die bzw. der<br />

Betroffene in einer Krisensituation eine umfassende Absicherung erfährt.<br />

„ärztliche Betreuung gesichert, psychologische Betreuung gesichert, aufgehobene Atmosphäre<br />

gesichert“ (Herr A., 1637-1638)<br />

Neben der Sicherung der professionellen Behandlung, gehört dazu aber unbedingt auch die<br />

Sicherung der alltäglichen Aufgaben.<br />

„Ich stelle mir da [...]sowas vor, dass man erst mal eine Auffangstation schon mal hat für<br />

psychisch kranke Menschen, die in einen Ort kommen, in den sie sich zurückziehen können.<br />

Das ist erst mal ganz wichtig. Dann natürlich, dass sie sozial abgefangen werden. [...] das<br />

Tagesgeschäft ist für viele psychisch kranke Menschen (...) nochmal besonders schwer.<br />

(Herr B., 354-359)<br />

Enge Zusammenarbeit<br />

Angesprochen wurde auch der Wunsch nach einer besseren Abstimmung der Behandlung.<br />

„aber wenn es so besser integriert wäre, in dem ganzen Konzept, ja? Ich glaube, dass wäre<br />

eine Bereicherung“ (Frau T., 602-603)<br />

Dies bezieht sich zum einen auf die einzelnen Behandlungsb<strong>aus</strong>teine, zum anderen aber<br />

auch auf die Zusammenarbeit der verschiedenen professionellen Anbieter bzw. Personen.<br />

„Unter einem Dach, mit einer Psychologin, so dass das ganz nah ist, Kooperationen mit<br />

Kliniken“ (Herr A., 1631-1632)<br />

„alle arbeiten eng miteinander, eng verzahnt“ (Herr A., 1645-1646)<br />

Mutige Klinikchefs<br />

Zur Umsetzung aller von den Angehörigen eingebrachten Anregungen bedarf es eines<br />

Klinikchefs, der als erstes zu Veränderungen bereit ist und der einer „Klinik, die den<br />

Namen ,Klinik der seelischen Gesundheit' auch wirklich verdient“ (Herr B., 453-454) den<br />

Weg bereitet.<br />

„Und (5) ja im Prinzip bräuchten wir eigentlich nur ein, zwei offene Klinikchefs, die auch<br />

wirklich offen sind, die auch Mut haben, mal was durchzusetzen oder bzw. was aufzubauen,<br />

ja?“ (Herr B., 392-395)<br />

83


5 Ergebnisse<br />

5.4.3 NetzWerk psychische Gesundheit<br />

Im Zusammenhang mit der Frage zur idealen <strong>Versorgung</strong> äußerten sich die InterviewteilnehmerInnen<br />

auch zum NWpG. So wurde es beispielsweise als Vorbild für eine ideale<br />

<strong>Versorgung</strong> herangezogen, an deren Grundprinzipien man sich orientieren sollte.<br />

„Ja, natürlich die Betreuung sowie in der <strong>Krisenpension</strong>, also ich glaube die Prinzipien“<br />

(Frau T., 586)<br />

Besonders hervorgehoben wurden dabei die Prinzipien „menschlichen Einsatz“ (Frau T.,<br />

150) und ständige Erreichbarkeit.<br />

„das Netzwerk in Anspruch nehmen zu können, jeder Zeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit (..)<br />

sind eigentlich Idealvorstellungen, Idealbilder, die Realität sind in Berlin, Gott sei dank.“<br />

(Herr A., 682-683)<br />

Zwar wurden auch Vorschläge zur Verbesserung eingebracht, allerdings immer mit dem<br />

Zusatz, dass es sich dabei um „Kleinigkeiten“ (Herr B., 859) handelt bzw. die Dinge von<br />

Priorität bereits erfüllt sind.<br />

„also in meinen Augen könnte (es) nicht besser sein, vielleicht von der Räumlichkeit, von ein<br />

paar so Aspekten, aber von so dem menschlichen Einsatz könnte (es) wirklich nicht besser<br />

sein“ (Frau T., 148-151)<br />

„Viel wichtiger finde ich, ist das, was wir erleben, dass sich Leute Zeit nehmen, darauf<br />

einlassen, sich intensiv darum kümmern.“ (Herr A., 1649-1650)<br />

Die Verbesserungsvorschläge sind daher als Anregungen zur Erweiterung des bestehenden<br />

Angebotes zu verstehen, die nur durch eine entsprechende finanzielle Förderung umsetzbar<br />

sind.<br />

„Also das wäre auch dann schon eher mein großer Wunsch, dass die ein bisschen mehr<br />

Unterstützung bekommen.[...] Die <strong>Krisenpension</strong>. (..) Mehr Mittel, mehr Möglichkeiten, mehr<br />

Akzeptanz“ (Herr B., 867-870)<br />

Die gemachten Vorschläge beziehen sich vor allem auf den B<strong>aus</strong>tein der <strong>Krisenpension</strong>. Im<br />

Einzelnen betreffen diese eine Verbesserung des Standortes (Herr B., 876-879) und der<br />

Räumlichkeiten, in einem Fall wird außerdem ein Therapieangebot (Frau T., 231-232; 236-<br />

237; 595) gewünscht. Auf das NWpG insgesamt bezogen wird empfohlen, mehr Werbung<br />

(Herr M., 72; 99-100; 572-576) für das Angebot zu machen, um bekannter zu werden. Die<br />

Räumlichkeiten der <strong>Krisenpension</strong> wünschen sich die Angehörigen weniger steril und kühl<br />

(Herr B., 224) und vor allen Dingen größer (Herr B., 845; Frau T., 226; 568) bzw. erweitert<br />

(Frau T., 591). Zu so einer Erweiterung könnte eine Bank zum Draußen-Sitzen oder eine<br />

Marquise als Regenschutz gehören (Herr B., 859-860). Der Wunsch nach mehr Werbung<br />

für das NWpG rührt zum einen von der Erfahrung her, in Notlagen nur wenig Wissen über<br />

Hilfsangebote und deren verschiedenen Alternativen zu haben.<br />

84


5 Ergebnisse<br />

„Aber (ich) wusste von keiner besseren Möglichkeit.“ (Frau T, 41)<br />

Zum anderen könnten mit höherer Bekanntheit auch Betroffene erreicht werden, die<br />

weniger aktiv bei der Suche nach dem für sie richtigen Hilfsangebot sind.<br />

„aber wie gesagt, Leute, die jetzt nicht initiativ sind, die werden nicht erreicht, […] Wie kann<br />

man die irgendwie auch bekommen, ja, oder berücksichtigen“ (Herr M., 673-676)<br />

„nicht so aufbauen würde, dass immer man als Betroffener ankommen muss“ (Herr M., 62)<br />

Insgesamt zeigt der Wunsch nach größerer Bekanntheit durch Werbung, dass das Urteil<br />

über das NWpG so positiv <strong>aus</strong>gefallen ist, dass Angehörige es weiter empfehlen möchten.<br />

5.5 Ergebnisübersicht<br />

Abschließend wird in Tabelle 2 ein kompakter Überblick über die Ergebnisse gegeben.<br />

Ermittelt wurden die vier Hauptkategorien Veränderungen (K1), Hindernisse (K2),<br />

hilfreiche Konzepte (K3) und Idealversorgung (K4), die einen Beitrag zur Beantwortung<br />

der Fragestellung leisten können. Zu Veränderungen zeigte sich, dass sich diese durch<br />

einen Prozesscharakter <strong>aus</strong>zeichnen. Das heißt, dass eine Veränderung meist erst langfristig<br />

und in vielen Teilschritten erreicht werden kann. Dies kann dazu führen, dass erste<br />

Teilerfolge nicht wahrgenommen werden. Zudem wurde festgestellt, dass Veränderungen<br />

je nach persönlicher Situation, Problematik bzw. Symptomatik ganz individuell <strong>aus</strong>fallen<br />

können. Konkrete Veränderungen seit Eintritt ins NWpG wurden von den Angehörigen bei<br />

sich selbst, bei den Betroffenen sowie in deren gemeinsamer Beziehung wahrgenommen.<br />

Als mögliche Hindernisse, die einem Nutzen vom NWpG im Weg stehen können, konnten<br />

fehlende Einsicht, fehlender Veränderungswille und mangelnde Verantwortungsübernahme<br />

sowie Passivität bzw. externe Veränderungsüberzeugung identifiziert werden. Neben<br />

diesen Haupthindernissen stellen der fehlende Glaube an Veränderung sowie Misstrauen<br />

und Kontrahaltung weitere Hindernisse dar. Darüber hin<strong>aus</strong> können hohe Erwartungen und<br />

Zeit als zusätzliche Faktoren einen Einfluss haben. Zu den hilfreichen Konzepten, die von<br />

den Angehörigen genannt wurden, zählen grundlegende Haltungen wie z. B. die Förderung<br />

von Eigenständigkeit und konkrete Arbeitsweisen wie z.B. Zuhören. Für deren Vermittlung<br />

haben sich die BezugsbegleiterInnen und die Netzwerkgespräche als besonders wichtig<br />

erwiesen. Über die Wünsche an eine Idealversorgung konnten Anregungen bezogen auf die<br />

gesellschaftliche Ebene, auf die allgemeine psychiatrische <strong>Versorgung</strong> sowie auf das<br />

NWpG gesammelt werden.<br />

85


5 Ergebnisse<br />

Tabelle 2<br />

Ergebnisübersicht<br />

K1 Veränderungen<br />

Individuell je Problematik, Symptomatik, Situation<br />

✔<br />

Langfristigkeit, Teilerfolge,<br />

Prozesscharakter<br />

→ Veränderungen als langfristiger Prozess:<br />

es geht zu langsam, Teilerfolge werden<br />

leicht übersehen<br />

Betroffene<br />

✔ Perspektiven<br />

✔ Problembewusstsein und -verständnis<br />

✔ Medikamentierung<br />

✔ Freiheit<br />

✔ Stabilität<br />

✔ Umgang mit Krankheit<br />

✔ Lebenseinstellung<br />

✔ Eigenständigkeit<br />

✔ Lebensqualität<br />

Angehörige<br />

✔ Informierte Angehörige<br />

✔ Umgang Krise<br />

Beziehung<br />

✔ Problembewusstsein und -verständnis<br />

✔ Konfliktbewältigung<br />

K2 Hilfreiche Konzepte<br />

Grundlegende Haltungen<br />

➢ Orientierung an individuellen<br />

Bedürfnissen<br />

➢ Mitbestimmung der NutzerInnen<br />

➢ Förderung der Eigenständigkeit<br />

Arbeitsweisen<br />

➢ Zuhören & Zeit nehmen<br />

➢ Alltagstipps<br />

➢ Blick in die Zukunft<br />

➢ Ganz Normales<br />

➢ Ständige Erreichbarkeit & schnelle Hilfe<br />

➢ Angehörige einbeziehen<br />

Vermittlung der Grundhaltungen & Arbeitsweisen<br />

➢ Netzwerkgespräche<br />

➢ BezugsbegleiterInnen<br />

K2 Hindernisse<br />

Haupthindernisse<br />

1) Fehlende Einsicht:<br />

Ich brauche keine Hilfe<br />

Mich betrifft das nicht<br />

2) Fehlender Veränderungswille und<br />

mangelnde Verantwortungsübernahme:<br />

Ich will selber keine Hilfe<br />

Ich mache das nur für andere<br />

3) Passivität bzw. externe<br />

Veränderungsüberzeugung:<br />

Ich muss nicht aktiv werden,<br />

die Hilfe kommt von außen<br />

Weitere Hindernisse<br />

4) Fehlender Glaube an Veränderung<br />

5) Misstrauen und Kontrahaltung<br />

Zusätzliche Faktoren<br />

- Zeit<br />

- Hohe Erwartungen<br />

K4 Idealversorgung<br />

a) Gesellschaftliche Dimension<br />

Aufklärung & Thematisierung für Offenheit,<br />

Prävention, Entstigmatisierung und Enttabuisierung<br />

b) Allgemeine <strong>Versorgung</strong><br />

mehr Mitbestimmung, individuelle statt<br />

Musterbetreuung, Zeit haben statt Kontingent,<br />

angemessene „Auffangstation“, enge<br />

Zusammenarbeit, mutige Klinikchefs<br />

c) NWpG<br />

Ausbau (mehr davon!), mehr Mittel:<br />

Räumlichkeiten, Standort, Therapieangebot,<br />

Werbung zur Bekanntmachung<br />

86


6 Diskussion<br />

6 Diskussion<br />

Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit diskutiert. In der<br />

Diskussion inhaltlicher Aspekte (6.1) werden die einzelnen Ergebnisse genauer betrachtet<br />

und hinsichtlich der Fragestellung bewertet und interpretiert. Folgend werden in der<br />

Diskussion methodischer Aspekte (6.2) Konsequenzen des gewählten Untersuchungsdesigns<br />

beleuchtet und wichtige Hinweise zur richtigen Interpretation der Ergebnisse<br />

gegeben. Mögliche weiterführende Fragestellungen werden an entsprechender Stelle<br />

vorgeschlagen. Das Kapitel schließt mit dem Fazit (6.3) ab, das sich für die Beantwortung<br />

der Fragestellung dieser Arbeit ergibt.<br />

6.1 Diskussion inhaltlicher Aspekte<br />

Hilfreiche Konzepte<br />

Die hilfreichen Konzepte, die im Ergebnisteil erarbeitet wurden, lassen sich in zwei<br />

Gruppen einteilen: Ein Teil dieser empirisch gefundenen Konzepte lässt sich in die<br />

Literatur einordnen, der andere Teil beschreibt Konzepte, die spezifisch für die in dieser<br />

Untersuchung interviewten Angehörigen sind. Dementsprechend gliedert sich die<br />

Bewertung und Interpretation dieses Ergebnisteils in einen Vergleich der Konzepte des<br />

NWpG in Theorie und Empirie (1. Abschnitt) und die angehörigenspezifischen Konzepte<br />

(2. Abschnitt).<br />

In Bezug auf die Konzepte des NWpG hat sich für diese Arbeit die Frage gestellt, ob<br />

Angehörige den theoretischen Schlüsselkonzepten, die dem NWpG zu Grunde liegen, die<br />

gleiche Bedeutsamkeit für den Behandlungsprozess zuschreiben. Es soll hierzu ein<br />

Abgleich zwischen theoretischen, vom NWpG intendierten, und empirischen, von den<br />

Angehörigen als hilfreich empfundenen, Konzepten erfolgen. Daran kann einerseits<br />

festgestellt werden, wie gut die Konzepte von den MitarbeiterInnen umgesetzt werden.<br />

Andererseits kann ein solcher Vergleich Aufschluss darüber geben, ob die NutzerInnen<br />

tatsächlich von den als entscheidend angenommenen Konzepten profitieren und welche<br />

anderen Aspekte auch wichtig oder sogar wichtiger sind. Vergleicht man die in der Theorie<br />

vorgestellten Konzepte mit den Konzepten, die sich <strong>aus</strong> der Untersuchung ergaben (5.3), so<br />

lassen sich viele Übereinstimmungen finden: Die grundlegende Haltung, sich an den<br />

individuellen Bedürfnissen der NutzerInnen zu orientieren, entspricht dem Grundprinzip<br />

der bedürfnisangepassten Behandlung (2.2.5). Beim NWpG wird dieses Konzept vor allem<br />

87


6 Diskussion<br />

dadurch umgesetzt, dass sich das <strong>Versorgung</strong>sangebot je nach Bedarf individuell<br />

zusammensetzt und <strong>aus</strong>gestaltet werden kann. Dies wurde von den Angehörigen als sehr<br />

hilfreich und vorteilhaft her<strong>aus</strong>gestellt. Von den befragten Angehörigen wird weiter<br />

besonders geschätzt, dass den Betroffenen ein großes Mitspracherecht in der Behandlung<br />

eingeräumt wird, so dass letztere mehr Einflussmöglichkeiten auf die Behandlung haben<br />

als in anderen Modellen psychiatrischer <strong>Versorgung</strong>. Auch dass Betroffene so viel wie<br />

möglich selbstständig erledigen bzw. aktiv bleiben sollen, um eigene Ressourcen auch für<br />

die Zukunft möglichst aufrecht zu erhalten, stößt bei den Angehörigen auf Zuspruch. Diese<br />

im Ergebnisteil unter Mitbestimmung der NutzerInnen und Förderung der Eigenständigkeit<br />

gefassten hilfreichen Konzepte können als Umsetzung von Empowerment verstanden<br />

werden. Die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von Selbstbestimmung und Autonomie<br />

zeichnen Empowerment, wie in Kapitel 2.2.1 dargestellt, <strong>aus</strong>. Unter dem Blick in die<br />

Zukunft wird der Ansatz des NWpG gefasst, zukunftsorientiert zu arbeiten. Die Zuversicht<br />

auf Besserung, die darin steckt, ist Ausdruck des Kerngedankens der Recovery-Idee<br />

(2.2.2). Den Netzwerkgesprächen mit den BezugsbegleiterInnen und gegebenenfalls<br />

Angehörigen schreiben letztere eine zentrale Rolle im Hilfsprozess in der Begleitung durch<br />

das NWpG zu. Diese Gespräche schaffen Rahmenbedingungen für einen Aust<strong>aus</strong>ch mit<br />

dem Netzwerk der Betroffenen, so wie er im Konzept des Offenen Dialogs im Netzwerk<br />

(2.2.6) angestrebt wird. Als besonders beeindruckt zeigten sich die Angehörigen weiterhin<br />

von der Möglichkeit der ständigen Erreichbarkeit und schnellen Hilfe, die in<br />

Krisensituationen eine große Hilfe sein kann. Dieser Ansatz findet sich in den sieben<br />

Prinzipien des Offenen Dialoges wieder, nämlich als Prinzip der sofortigen Hilfe.<br />

Angehörige so stark einzubeziehen, wie es im NWpG der Fall ist, wurde von diesen als<br />

weiteres wichtiges Konzept genannt. Es lässt sich zum einen dem Prinzip des Offenen<br />

Dialoges Einbeziehung des sozialen Netzwerks (2.2.6, Punkt 2) zuordnen, zum anderen<br />

kann es als Form des Trialogs (2.2.7) verstanden werden. Insgesamt hat sich demnach in<br />

den Ergebnissen gezeigt, dass einschlägige Konzepte der Sozialen Psychiatrie wie<br />

Empowerment, Recovery, Trialog, bedürfnisangepasste Behandlung sowie Prinzipien des<br />

Offenen Dialogs im NWpG so gut umgesetzt werden, dass sie auch bei den Betroffenen<br />

bzw. Angehörigen ankommen. Diese Konzepte wurden nicht nur von den Angehörigen<br />

genannt, sondern auch als positiv und hilfreich erachtet.<br />

Neben den her<strong>aus</strong>gearbeiteten Konzepten, die sich klar den in der Literatur vorhandenen<br />

Konzepten zuordnen lassen, kristallisierten sich aber auch andere Schwerpunkte her<strong>aus</strong>,<br />

die als angehörigenspezifischer Fokus verstanden werden können. Dieser neue<br />

88


6 Diskussion<br />

angehörigenspezifische Beitrag an hilfreichen Konzepten zeichnet sich durch eine gewisse<br />

Praktikabilität für den Alltag <strong>aus</strong>, die diesen Konzepten gemein ist. Dazu zählt das Konzept<br />

der Alltagstipps: Hilfen beim Aufzeigen von Lösungswegen, die unverbindlich sind und<br />

vor allem bei alltäglichen Problemen ansetzen, sind für die Angehörigen von essentieller<br />

Bedeutung. Auch das Konzept des Ganz Normalen beinhaltet alltagspraktische<br />

Herangehensweisen, wie sich daran zu orientieren, was dem Betroffenen gut tut, oder die<br />

eigene Lebenserfahrung einzubringen. Letztere kann zum Beispiel hilfreich sein, um zu<br />

entscheiden, wann ein einfaches Gespräch besser hilft als alles andere. So könnten diese<br />

Konzepte unter das gemeinsame Motto „weniger ist mehr“ gestellt werden. Dieses zeigt<br />

sich auch beim Zuhören und Zeit nehmen, das als eine Zurückhaltung von professioneller<br />

Seite zugunsten der NutzerInnen als Experten für ihre eigene Situation verstanden werden<br />

kann. Schließlich wurde auch die Bedeutung der Personen der BezugsbegleiterInnen von<br />

den Angehörigen her<strong>aus</strong>gestellt. Diese sind der direkteste Kontaktpunkt der Angehörigen<br />

zum NWpG. Durch sie werden die Konzepte erst vermittelt und umgesetzt, so dass auch<br />

deren persönliche Eigenschaften darin einfließen. Die Beziehung zu den Bezugsbegleiter-<br />

Innen stellt letztlich eine grundlegende Basis für das Gelingen des gemeinsamen<br />

Vorhabens dar, da der Hilfsprozess konkret auf dieser Ebene stattfindet. Dies deckt sich<br />

auch mit der fünften Vor<strong>aus</strong>setzung Vertrauensbasis, die im Folgenden <strong>aus</strong> der Kategorie<br />

Hindernisse abgeleitet wird.<br />

Insgesamt zeigt sich in diesem Ergebnisteil, dass Angehörige von den intendierten<br />

Konzepten des NWpG profitieren, aber auch zusätzliche angehörigenspezifische Aspekte<br />

eine gleichermaßen wichtige Rolle spielen.<br />

Veränderungen<br />

Die von den Angehörigen wahrgenommenen Veränderungen während der Zeit beim<br />

NWpG stellen ein Kernstück der Ergebnisse dar (5.1). Angestrebte Veränderungen sind<br />

meist der Grund für das Aufsuchen von Hilfsangeboten und stellen so eine subjektive<br />

Zielgröße für die Betroffenen und deren Angehöriger dar. Diese Zielgröße wollen sie<br />

erfüllt oder sich ihr zumindest angenähert sehen. Außerdem können sie an ihr den Erfolg<br />

der Begleitung messen. Die Veränderungen, die die Angehörigen dieser Untersuchung<br />

wahrgenommen haben, sind beeindruckend breit gefächert und betreffen verschiedene<br />

Ebenen und Bereiche, in denen sich etwas für die Betroffenen (5.1.2), die Angehörigen<br />

(5.1.3) oder deren Beziehung zu einander (5.1.4) positiv verändert hat: Die Betroffenen<br />

gewannen neue Perspektiven für die Zukunft und eine bessere Einsicht in die eigene<br />

89


6 Diskussion<br />

Problematik, lernten besser mit der eigenen Situation umzugehen und gelangten so letztlich<br />

zu mehr Stabilität, Selbstbestimmtheit, Eigenständigkeit und insgesamt zu einer höheren<br />

Lebensqualität. Auch die Angehörigen erhielten mit der Unterstützung des NWpG ein<br />

besseres Verständnis für die Betroffenenproblematik und wurden routinierter im Umgang<br />

mit Krisen, so dass auch die Betroffenen indirekt davon profitieren können. Auf<br />

Beziehungsebene zeigte sich außerdem, dass Beziehungsproblematiken her<strong>aus</strong>gearbeitet<br />

werden konnten und sich die gemeinsame Konfliktbewältigung verbesserte. Diese<br />

Veränderungen veranschaulichen am deutlichsten den Nutzen, den Betroffene sowie<br />

Angehörige <strong>aus</strong> dem NWpG ziehen. Aus der Beschreibung der Angehörigen bezüglich<br />

beobachteter Veränderungen ergab sich ein Veränderungsmodell (s. Abb. 2, S. 54). Dieses<br />

verdeutlicht, wie Veränderungen beschaffen sind und was diese behindern kann.<br />

Veränderungen zeichnen sich durch einen Prozesscharakter (5.1.1) <strong>aus</strong>, der es erschwert,<br />

diese greifbar zu machen. Es ist unklar, wann eine Veränderung abgeschlossen ist, da diese<br />

<strong>aus</strong> vielen Teilschritten oder Teilerfolgen besteht. Außerdem geht der Veränderungsprozess<br />

oft so langsam voran und die Verbesserung ist noch so weit von dem angestrebten<br />

Zielzustand entfernt, dass sie nicht wahrgenommen und/ oder nicht wertgeschätzt wird.<br />

Dies kann schnell zu Demotivation und Hoffnungslosigkeit führen, was wiederum den<br />

Besserungsprozess gefährdet. Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass Angehörige an<br />

dieser Stelle oft die wichtige Aufgabe übernehmen, den Betroffenen bereits gemachte<br />

Fortschritte vor Augen zu führen und sie so darin unterstützen, im langwierigen<br />

Veränderungsprozess durchzuhalten. Der Zeitfaktor, der für das Erreichen einer<br />

nachhaltigen Veränderung nötig ist und viele „Durststrecken“ mit sich bringt, scheint eine<br />

der größten Her<strong>aus</strong>forderungen zu sein, die alle Beteiligten auf dem Weg zur nachhaltigen<br />

Besserung meistern müssen.<br />

Idealversorgung<br />

Die Angehörigen wünschten sich für die allgemeine <strong>Versorgung</strong> (5.4.2) viele Konzepte<br />

bzw. Ansätze, die sie <strong>aus</strong> dem NWpG kennen: Mitbestimmung, individuelle Behandlung<br />

und Zeit haben finden sich in den als hilfreich beschriebenen Konzepten des NWpG<br />

wieder, so dass diese für eine Idealversorgung geforderten Aspekte im NWpG bereits<br />

erfüllt sind. Auch die beschriebene Auffangstation für Notfälle wird in Form der<br />

<strong>Krisenpension</strong> vom NWpG umgesetzt. Dem Wunsch nach engerer Zusammenarbeit der<br />

<strong>Versorgung</strong>sanbieter kommt das NWpG wiederum durch Netzwerkversammlungen mit<br />

Professionellen und der Unterstützung bei der Suche nach weiteren Hilfsangeboten nach.<br />

90


6 Diskussion<br />

So gesehen stellt die durchs NWpG umgesetzte <strong>Versorgung</strong>sform ein Vorbild für<br />

psychiatrische <strong>Versorgung</strong> im Allgemeinen dar, wie sie die Angehörigen auch gern in der<br />

Regelversorgung sehen würden. Dies ist eine über<strong>aus</strong> positive Rückmeldung im Bezug auf<br />

die Beurteilung des NWpG und verdeutlicht, dass - zumindest für die in dieser Arbeit<br />

interviewten Angehörigen - das NWpG nicht nur eine gleichwertige <strong>Versorgung</strong>sform zur<br />

stationären <strong>Versorgung</strong> darstellt, sondern die bevorzugte psychiatrische <strong>Versorgung</strong>sform<br />

ist. Dies ist eine sehr wichtige Erkenntnis für die <strong>Versorgung</strong>sforschung.<br />

Die konkreten Verbesserungsvorschläge zum NWpG (5.4.3) wurden von den Angehörigen<br />

nur unter dem Vorbehalt geäußert, dass es sich dabei um Kritik „auf hohem Niveau“<br />

handelt und sie grundsätzlich sehr mit dem Angebot zufrieden sind. Wenn sie sich dennoch<br />

etwas wünschen dürften, betrifft dies Rahmenbedingungen der <strong>Krisenpension</strong> wie Standort<br />

und Räumlichkeiten. Auch der Vorschlag für mehr Werbung zeugt von einer grundsätzlich<br />

positiven Beurteilung des Angebotes, da er <strong>aus</strong>drückt, dass noch mehr Menschen von<br />

diesem profitieren sollten. Insgesamt fiel bei der Beurteilung des NWpG auf, dass die<br />

Angehörigen, bis auf wenige Verbesserungsvorschläge (s. oben), nur Positives zu berichten<br />

hatten:<br />

„Also ich (6), nein eigentlich habe ich wirklich nur viel Positives zu berichten.“<br />

(Herr B., 847-848)<br />

Zunächst einmal ist das natürlich sehr erfreulich und ein Verdienst der Arbeit, die die<br />

MitarbeiterInnen des NWpG leisten. Dennoch sollte hier die Frage nach Gründen für diese<br />

so <strong>aus</strong>schließlich positive Resonanz gestellt werden. Eine mögliche Erklärung ist, dass die<br />

vorherigen Erfahrungen mit klassisch psychiatrischer <strong>Versorgung</strong> so im Kontrast zu den<br />

Konzepten des NWpG stehen, dass dessen Beurteilung beim Vergleich mit stationärer<br />

<strong>Versorgung</strong> <strong>aus</strong>nahmslos gut <strong>aus</strong>fällt. Es ist vorstellbar, dass differenziertere<br />

Verbesserungsvorschläge erst durch eine Vergleichsmöglichkeit mit ähnlicheren<br />

<strong>Versorgung</strong>sangeboten im ambulanten Bereich gegeben werden könnten. Da aber<br />

allgemein nur wenige Personen gleich mit mehreren ambulanten gemeindepsychiatrischen<br />

Angeboten Erfahrungen haben, erweist sich dies in der Praxis als schwierig. Es wäre aber<br />

interessant, dieser Frage in einer weiteren Forschungsarbeit nachzugehen.<br />

Von Hindernissen zu Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

Einen besonders unerwarteten Erkenntnisgewinn brachten die „negativen Fälle“ ein: Aus<br />

diesen Interviews konnten Hindernisse (5.2) abgeleitet werden, die das Einsetzen positiver<br />

Veränderungen, wie sie in den anderen Fällen geschildert wurden, blockieren. Dabei ist es<br />

91


6 Diskussion<br />

als Rückmeldung für das NWpG von Interesse, dass die Gründe für diesen fehlenden<br />

Erfolg der Teilnahme nicht im Ansatz das NWpG gesehen wurden. Stattdessen wurde<br />

dieser gelobt und Überlegungen darüber angestellt, warum trotz der Teilnahme am NWpG<br />

keine Besserung aufgetreten ist. Die Kenntnis über diese Hindernisse kann im praktischen<br />

Alltag des NWpG Anhaltspunkte dafür geben, was erfüllt sein muss, damit die Betroffenen<br />

einen Nutzen <strong>aus</strong> dem <strong>Versorgung</strong>sangebot ziehen können. Das heißt, dass sich <strong>aus</strong> den<br />

bekannten Hindernissen Vor<strong>aus</strong>setzungen für den Nutzen des Angebots ableiten lassen,<br />

wenn die Hindernisse in ihre positive Form verkehrt werden. Dieses Vorgehen wird in<br />

Tabelle 3 dargestellt.<br />

Tabelle 3<br />

Ableitung von Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

1) Fehlende Einsicht:<br />

Ich brauche keine Hilfe<br />

Mich betrifft das nicht<br />

Hindernisse → Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

1) Einsicht:<br />

Ich brauche Hilfe<br />

2) Fehlender Veränderungswille<br />

und mangelnde<br />

Verantwortungsübernahme:<br />

Ich will selber keine Hilfe<br />

Ich mache das nur für andere<br />

3) Passivität bzw. externe<br />

Veränderungsüberzeugung:<br />

Ich muss nicht aktiv werden, die Hilfe<br />

kommt von außen<br />

4) Misstrauen/Kontrahaltung<br />

→ ablehnen<br />

5) Fehlender Glaube an Veränderung<br />

2) Änderungswille und eigene<br />

Verantwortungsübernahme:<br />

Ich möchte für mich etwas verändern<br />

3) Aktivität bzw. interne<br />

Veränderungsüberzeugung:<br />

Ich werde selbst aktiv, um etwas zu<br />

verändern<br />

4) Vertrauensbasis<br />

→ sich einlassen/annehmen, öffnen<br />

5) Glaube an Veränderung<br />

Analog zu den im Ergebnisteil zusammengestellten Hindernissen ergeben sich damit als<br />

grundlegende Vor<strong>aus</strong>setzungen (1) Einsicht, (2) Änderungswille und Verantwortungsübernahme<br />

sowie (3) Aktivität bzw. interne Verantwortungsüberzeugung, als weitere<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen (4) Glaube an Veränderung und (5) Vertrauensbasis. Die ersten vier<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen sind hierarchisch zu verstehen. Das heißt, dass die Erfüllung der jeweils<br />

übergeordneten Vor<strong>aus</strong>setzung für die Erfüllung der darunter stehenden Vor<strong>aus</strong>setzung<br />

nötig ist. Umgekehrt <strong>aus</strong>gedrückt kann man <strong>aus</strong> der Erfüllung der unteren Vor<strong>aus</strong>setzung<br />

92


6 Diskussion<br />

ableiten, dass die darüber liegenden erfüllt sein müssen. Ein Nutzen des Angebotes wird<br />

erst durch die Überwindung aller Hindernisse möglich. Veranschaulicht wird die<br />

beschriebene hierarchische Anordnung in Abbildung 5.<br />

Brauche ich Veränderung?<br />

Will ich für mich selbst<br />

Veränderung?<br />

Werde ich selbst aktiv?<br />

Vertraue ich der Hilfsperson?<br />

Glaube ich an die Veränderung?<br />

Ja<br />

Ja<br />

Ja<br />

Ja<br />

Veränderung<br />

Ja<br />

Abbildung 5. Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

Konkret kann man sich den Ablauf wie eine interne Checkliste vorstellen: Als erstes frage<br />

ich mich, ob es in meinem Leben etwas gibt, das änderungsbedürftig ist. Ist dem so, frage<br />

ich mich, ob ich diese Veränderung für mich selbst auch will. Ist dem wiederum so, stellt<br />

sich die Frage, ob ich selbst bereit bin, aktiv etwas für diese Veränderung zu tun. Kann ich<br />

alle Punkte bejahen, bleibt nur noch zu fragen, ob ich auch daran glaube, dass eine<br />

Veränderung möglich ist. Zusätzlich spielt es eine Rolle, ob ich eine Vertrauensbeziehung<br />

zur Hilfsperson habe. Ohne eine solche ist die „Veränderungsarbeit“ erheblich erschwert.<br />

Angehörigenbeteiligung<br />

Den Angehörigen kommt in dieser Arbeit die wichtige Rolle zu, ihre ganz eigene Sicht<br />

zum NWpG zu schildern, welche sich indirekt <strong>aus</strong> den Erfahrungen der Betroffenen, direkt<br />

aber auch <strong>aus</strong> den eigenen Erfahrungen speist. Dabei sind sie Beobachter und<br />

TeilnehmerInnen zugleich. In den Interviews brachten sie ihr reflektiertes und fundiertes<br />

Erfahrungswissen ein, <strong>aus</strong> dem alle Erkenntnisse dieser Arbeit gezogen werden konnten.<br />

Dies belegt das große Potenzial, das in Angehörigen steckt und auch in der Evaluation von<br />

<strong>Versorgung</strong>sangeboten von großem Nutzen ist (vgl. Kap. 2.3.2). Darüber hin<strong>aus</strong><br />

beeindruckten sie aber auch durch ihre unermüdliche Unterstützung der Betroffenen und<br />

die persönlichen Entwicklungen, die sie durch das Leben mit diesen gemacht haben. Zum<br />

Beispiel entwickelten einige im Laufe der Zeit eine unumstößliche Ruhe und Gelassenheit,<br />

auch im Angesicht heraufziehender Krisen.<br />

93


6 Diskussion<br />

6.2 Diskussion methodischer Aspekte<br />

Reflexion der Angehörigenperspektive<br />

Um die Ergebnisse richtig zu interpretieren, wird an dieser Stelle noch einmal betont, dass<br />

für die Beantwortung der Fragestellung bewusst die Angehörigenperspektive gewählt<br />

wurde. Diese lässt zwar Schlüsse auf die Betroffenen zu, soll deren Perspektive jedoch<br />

nicht ersetzen und darf davon abweichen. Es geht gerade darum, dass Angehörige als<br />

indirekte NutzerInnen einen besonderen Blickwinkel auf <strong>Versorgung</strong>sangebote haben und<br />

eine angehörigenspezifische Einschätzung geben können, die bisher noch zu selten im<br />

Rahmen von evaluativen Vorhaben genutzt wurde. Ein Beispiel für eine solch<br />

angehörigenspezifische Einschätzung ist die Wahrnehmung von ersten Veränderungen: Wie<br />

im Ergebnisteil 5.1.1 dargestellt, fällt es Betroffenen schwer, erste eigene kleine Erfolge<br />

wahrzunehmen und zu schätzen. Angehörige dagegen können solche Veränderungen<br />

leichter wahrnehmen und dementsprechend im Interview schildern. Außerdem geht es in<br />

dieser Arbeit auch um den Gewinn für Angehörige <strong>aus</strong> dem Projekt: Die Ergebnisse<br />

ergaben, dass auch Angehörige positive Veränderungen bei sich selber (5.1.3) sowie in der<br />

Beziehung zu den Betroffenen (5.1.4) erleben. Dies wirkt sich wiederum indirekt positiv<br />

auf die Betroffenen <strong>aus</strong>, da dies eine Stärkung ihrer sozialen Ressourcen bedeutet. Das<br />

Untersuchungsdesign dieser Forschungsarbeit schafft also die besondere Situation, dass für<br />

die Einschätzung des NWpG über die Betroffenen berichtet wird. Dies ist aber nicht von<br />

Nachteil, da die Sicht der Angehörigen neue Aspekte zu Tage fördern kann, die von den<br />

Betroffenen nicht geäußert worden wären. Außerdem berichten die Angehörigen nicht nur<br />

indirekt <strong>aus</strong> der Drittperspektive über die Erfahrungen der Betroffenen, sondern auch ganz<br />

direkt <strong>aus</strong> eigener Erfahrung als sekundäre NutzerInnen des Angebots. Wie bereits<br />

angemerkt, zeichnet sich ein gutes <strong>Versorgung</strong>sangebot dadurch <strong>aus</strong>, dass es für Betroffene<br />

und Angehörige von Nutzen ist. Letztlich ist jede subjektive Einschätzung eine Frage der<br />

Wirklichkeitskonstruktion, also der Frage, welche Wahrnehmung der Realität denn die<br />

„wahre“ ist. Subjektiv gesehen sind sowohl Betroffenen- als auch Angehörigenperspektive<br />

wahr. Wichtig für diese Arbeit ist letzten Endes aber nur die <strong>Angehörigensicht</strong>. Selbst wenn<br />

z. B. von Angehörigen geschilderte Veränderungen nicht im gleichen Maße von<br />

Betroffenen empfunden werden, sind diese für Angehörige nicht weniger real und können<br />

z. B. zu deren Entlastung beitragen, so dass insgesamt ein Nutzen bilanziert werden kann.<br />

Als weiterführende Fragestellung wäre in diesem Zusammenhang ein Vergleich der Sicht<br />

der Angehörigen mit der der Betroffenen interessant. Dazu wäre eine Gruppendiskussion<br />

94


6 Diskussion<br />

beider Seiten oder zusätzlich zu den Angehörigeninterviews Interviews mit den<br />

dazugehörigen Betroffenen denkbar.<br />

Ursache-Wirkungszuschreibungen<br />

Für die Bewertung der Ergebnisse ist es weiterhin wichtig darauf hinzuweisen, dass das<br />

gewählte Untersuchungsdesign keine direkte Aussage über K<strong>aus</strong>alität im Sinne von klaren<br />

Ursache-Wirkungszusammenhängen machen kann. Dies ist besonders für die Bewertung<br />

der erfassten Veränderungen zu berücksichtigen. Die zeitliche Übereinstimmung von<br />

Veränderung und Teilnahme am NWpG bedeutet zunächst nicht unbedingt, dass das<br />

NWpG die Ursache für die Veränderung ist bzw. nicht zwingend die alleinige Ursache.<br />

Dieser Umstand wurde auch von einem Interviewteilnehmer beschrieben:<br />

„Aber das ist nun eine Koinzidenz der Umstände. Also, er kam zu dem Netzwerk, fast zeitgleich<br />

mit dieser neuen Beziehung.“ (A., 1185-1186)<br />

Da aber nicht alle anderen Variablen bis auf das NWpG im quantitativen Sinne<br />

„<strong>aus</strong>geschaltet“ werden können und sich verschiedene Einflüsse wie Begleitung durch das<br />

NWpG, berufliche, finanzielle, physische oder soziale Situation gegenseitig beeinflussen,<br />

können die Veränderungen dennoch als Hinweis auf den Nutzen des NWpG interpretiert<br />

werden. Dies wird auch durch Zitate der Angehörigen gestützt, in denen positive<br />

Veränderungen auf das NWpG zurückgeführt werden:<br />

„Das ist etwas, das ich auch durch das Netzwerk kennen gelernt habe, was auch mein Leben<br />

{verändert hat}“ (Herr A., 1730)<br />

„Und man spürte nicht mal so eine Hoffnung, dass die Behandlung an sich vielleicht<br />

Fortschritte bringt. Mit der <strong>Krisenpension</strong> änderte sich das.“ (Herr B., 527)<br />

Auch liegt die Vermutung nahe, dass die von einer Person positiv beschriebenen Konzepte<br />

einen Einfluss auf die genannten Veränderungen bei selbiger Person haben könnten. Zwar<br />

wurde von den InterviewpartnerInnen nicht explizit gesagt, dass ein bestimmtes Konzept<br />

zu einer bestimmten Veränderung geführt hat, aber es ist auch fraglich, ob ihnen eine solch<br />

genaue Zuschreibung möglich wäre. Eine weitere Forschungsarbeit könnte die hier<br />

vermuteten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge überprüfen.<br />

Den bereits genannten methodischen Aspekten ist noch hinzuzufügen, dass sich die<br />

vorliegende Arbeit auf eine Momentaufnahme der Einschätzung der Angehörigen zum<br />

NWpG beschränkt. Die Langzeitperspektive Angehöriger könnte in einer weiteren Arbeit<br />

durch Interviews in Intervallen über mehrere Jahre untersucht werden.<br />

95


6 Diskussion<br />

6.3 Fazit<br />

Zurückblickend auf die Fragestellung wurde die vorliegende Arbeit mit dem Ziel<br />

angefertigt, her<strong>aus</strong>zufinden, wie Angehörige das NWpG beurteilen, um damit auch<br />

Erkenntnisse über die gemeindepsychiatrische Umsetzung <strong>Integrierte</strong>r <strong>Versorgung</strong> zu<br />

gewinnen. Die Abbildung 6 verdeutlicht noch einmal im Überblick, welchen Beitrag die<br />

einzelnen Ergebniskategorien zur Beantwortung der Fragestellung leisten: Die<br />

beschriebenen Veränderungen, die sich während der Teilnahme am NWpG im Leben der<br />

Betroffenen und Angehörigen einstellten, sind der ganz konkrete Nutzen, den jeder einzeln<br />

oder beide für ihre gemeinsame Beziehung <strong>aus</strong> dem NWpG ziehen konnten. Die als<br />

hilfreich empfundenen Konzepte sind genau das, was die Angehörigen positiv am NWpG<br />

bewerten. Die her<strong>aus</strong>gearbeiteten Hindernisse decken Gründe dafür auf, warum es in<br />

bestimmten Fällen zu keiner Besserung bzw. keinem Nutzen <strong>aus</strong> dem NWpG kam. Im<br />

Umkehrschluss erlaubten sie die Ableitung von Vor<strong>aus</strong>setzungen, die für das Gelingen<br />

einer Besserung erfüllt sein sollten. In der Idealversorgung wurde deutlich, dass die<br />

Angehörigen wenig am NWpG ändern würden bzw. negativ bewerten, sich stattdessen aber<br />

wünschen, dass viele der Konzepte des NWpG in die allgemeine psychiatrische<br />

<strong>Versorgung</strong> übernommen werden.<br />

Konzepte<br />

Das fanden wir<br />

gut/hilfreich<br />

Das hat uns das<br />

NWpG konkret<br />

gebracht<br />

Veränderungen<br />

Der Ansatz des<br />

NWpG ist gut,...<br />

Hindernisse<br />

...aber dies stand<br />

dem Nutzen im<br />

Wege<br />

Wie beurteilen Angehörige<br />

das NWpG?<br />

Das würden wir uns<br />

noch wünschen/das<br />

könnte besser sein<br />

Vor<strong>aus</strong>setzungen<br />

Dies sollte gegeben<br />

sein, damit es einen<br />

Nutzen hat<br />

Das gefällt uns so gut,<br />

das sollte in der gesamten<br />

<strong>Versorgung</strong> so sein<br />

Idealversorgung<br />

andere<br />

Fragestellung<br />

Das muss sich<br />

gesellschaftlich<br />

noch verändern<br />

Abbildung 6. Ergebniskategorien und Fragestellung im Zusammenhang<br />

96


6 Diskussion<br />

Als Beantwortung der Fragestellung ergibt sich so insgesamt eine sehr positive Beurteilung<br />

des NWpG durch Angehörige: Sie beurteilten viele Konzepte des NWpG als hilfreich,<br />

wichtige Veränderungen wurden in der Zeit beim NWpG erreicht, wenig Kritik wurde<br />

geäußert, stattdessen wurde das NWpG als Vorbild für die psychiatrische Gesamtversorgung<br />

herangezogen.<br />

Für die <strong>Versorgung</strong>sforschung ergibt sich dar<strong>aus</strong> die Konsequenz, dass die gemeindepsychiatrisch<br />

umgesetzte <strong>Integrierte</strong> <strong>Versorgung</strong> für die im Rahmen dieser Arbeit<br />

untersuchten Fälle nicht nur ein gelungenes <strong>Versorgung</strong>sangebot darstellt, sondern dieses<br />

auch gegenüber stationärer <strong>Versorgung</strong> bevorzugt wird. Die Möglichkeiten der <strong>Integrierte</strong>n<br />

<strong>Versorgung</strong> sollten deshalb noch mehr genutzt werden, um ähnliche <strong>Versorgung</strong>sangebote<br />

zu realisieren und mehr Menschen eine Alternative zur stationären <strong>Versorgung</strong> anbieten zu<br />

können.<br />

In Bezug auf die Angehörigenforschung kann diese Arbeit bestätigen, dass Angehörigenbeteiligung<br />

auch in der Evaluation von <strong>Versorgung</strong>sangeboten von großem Nutzen ist. Um<br />

dieses Potenzial nicht länger zu vergeuden, sollten Angehörige zukünftig weitgreifender<br />

beteiligt werden.<br />

Konkret für die Arbeitspraxis des NWpG nutzbar ist das Wissen über Vor<strong>aus</strong>setzungen,<br />

die erfüllt sein sollten, um einen Nutzen vom Angebot zu ermöglichen. Außerdem kann als<br />

Rückmeldung abgeleitet werden, dass die Umsetzung intendierter Konzepte erfolgreich<br />

war. Die Arbeit liefert aber auch Wissen über weitere angehörigenspezifische Konzepte.<br />

Insgesamt zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, dass das NWpG und<br />

insbesondere die BezugsbegleiterInnen mit ihrer Arbeit einen zentralen Beitrag zur<br />

Bewältigung der schwierigen Situation ihrer NutzerInnen sowie deren Angehöriger leisten.<br />

Damit in Zukunft jedoch mehr Menschen davon profitieren können, wünschen sich<br />

Angehörige, dass <strong>Versorgung</strong>sangebote gemeindepsychiatrisch orientierter <strong>Integrierte</strong>r<br />

<strong>Versorgung</strong> in der Regelversorgung implementiert werden.<br />

97


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Tabellenverzeichnis<br />

Tabellenverzeichnis<br />

Tabelle 1:<br />

Tabelle 2:<br />

Tabelle 3:<br />

Demografische Daten des Samplings..........................................................43<br />

Ergebnisübersicht........................................................................................86<br />

Ableitung von Vor<strong>aus</strong>setzungen..................................................................92


Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildungsverzeichnis<br />

Abbildung 1: Datenübersicht.…........................................................................................53<br />

Abbildung 2: K1 Veränderungen.......................................................................................54<br />

Abbildung 3: K3 Hilfreiche Konzepte...............................................................................71<br />

Abbildung 4: K4 Idealversorgung.....................................................................................80<br />

Abbildung 5: Vor<strong>aus</strong>setzungen..........................................................................................93<br />

Abbildung 6: Ergebniskategorien und Fragestellung im Zusammenhang........................96


Anhang<br />

Anhang<br />

Der Anhang der vorliegenden Arbeit befindet sich als separates Dokument auf der<br />

beiliegenden Daten-CD. Im Folgenden wird eine Übersicht über die Zusammensetzung des<br />

Anhanges gegeben:<br />

Inhaltsverzeichnis des Anhanges<br />

Anhang A: Informationsschreiben................................................................................3<br />

Anhang B: Datenschutzvertrag.....................................................................................4<br />

Anhang C: Transkriptionsregeln...................................................................................5<br />

Anhang D: Interviewleitfaden.......................................................................................6<br />

Anhang E: Beispiel<strong>aus</strong>wertung...................................................................................12<br />

Anhang F: Beispieltranskript......................................................................................24<br />

Darüber hin<strong>aus</strong> enthält die Daten-CD den Ordner zusätzliche Daten, in dem alle<br />

Transkripte, die Beispiel<strong>aus</strong>wertung als einzelne Datei sowie die Datei Interviewvergleich<br />

zu finden sind. Letztere Datei ist eine Tabelle, in der eine Gegenüberstellung aller<br />

Interviews über alle Kategorien vorgenommen wurde, um einen Überblick über alle Daten<br />

zu erhalten.

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