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Literatur - SEXUOLOGIE

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Sexuologie<br />

Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />

für Praktische Sexualmedizin<br />

Inhalt<br />

Orginalarbeiten<br />

44 Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose – Ergebnisse einer empirischen Studie bei Betroffenen und ihren Partnern<br />

4 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

23 Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion<br />

4 R. Basson<br />

30 Orgasmusinduzierte Prolaktinsekretion: Feed back-Mechanismus für sexuelle Appetenz oder ein reproduktiver Reflex?<br />

4 T. H.C. Krüger, Ph. Haake, M. S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />

Fortbildung<br />

39 Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmen be dingungen, Möglichkeiten und Grenzen<br />

4 H. A.G. Bosinski, J. Ponseti, F. Sakewitz<br />

Aktuelles<br />

48 Tagungen<br />

Anschrift der Redaktion<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />

D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />

Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />

D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />

E-mail: journals@urbanfischer.de<br />

Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />

Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />

64 45, Fax (03641) 62 64 21, Zur Zeit gilt die Anzeigenliste vom 01.01.2002<br />

Abonnementsverwaltung und Vertrieb: Urban & Fischer GmbH & Co. KG, Nieder -<br />

lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />

Telefon (03641) 62 64 44, Fax (03641) 62 64 43<br />

Bezugshinweise: Das Abonnement gilt bis auf Widerruf oder wird auf Wunsch befristet.<br />

Die Lieferung der Zeitschrift läuft weiter, wenn sie nicht bis zum 31.10 abbestellt wird.<br />

Erscheinungsweise: Zwanglos, 1 Band mit 4 Heften.<br />

Abo-Preis 2002: 129,- *; Einzelheftpreis 39,- *, Alle Prei se zzgl. Versandkosten.<br />

Vorzugspreis für persönliche Abon nenten 60,30 *.<br />

*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />

wer den zur Zah lung akzeptiert: Visa/Eurocard/Mastercard/American Ex press (bitte Kar -<br />

ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />

Bankverbindung: Deutsche Bank Jena, Konto-Nr. 390 76 56, BLZ 820 700 00 und<br />

Postbank Leipzig, Konto-Nr. 149 249 903, BLZ 860 100 90<br />

Copyright: Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen<br />

ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />

(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />

Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />

Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />

D-99423 Weimar.<br />

Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />

alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

© 2002 Urban & Fischer Verlag<br />

Coverfoto: © gettyimages<br />

Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />

Forschung<br />

Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />

Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />

somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />

alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />

Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />

Sexoulogie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />

dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />

Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />

chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />

schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />

mit Sexual straftätern.<br />

Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />

almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />

störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />

chun gen (Paraphilien Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />

von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />

Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

Dorothee Alfermann, Leipzig<br />

Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />

Walter Dmoch, Düsseldorf<br />

Günter Dörner, Berlin<br />

Wolf Eicher, Mannheim<br />

Erwin Günther, Jena<br />

Heidi Keller, Osnabrück<br />

Heribert Kentenich, Berlin<br />

Rainer Knussmann, Hamburg<br />

Götz Kockott, München<br />

Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />

John Money, Baltimore<br />

Elisabeth Müller-Luckmann,<br />

Braunschweig<br />

Piet Nijs, Leuven<br />

Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />

Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />

Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />

Wolfgang Sippel, Kiel<br />

Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />

Hans Martin Trautner, Wuppeltal<br />

Henner Völkel, Kiel<br />

Hermann-J. Vogt, München<br />

Reinhard Wille, Kiel<br />

Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) PSYNDEX · PsycINFO<br />

Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />

nis können Sie jetzt auch kostenlos per e-mail (ToC Alert Service) erhalten. Melden Sie sich an: http://www.urbanfischer.de/journals/sexulogie


Editorial<br />

Mit diesem ersten Heft von Band VIII erscheint die Ihnen<br />

vertraute Sexuologie in neuem Gewande: aus dem<br />

Klein- ist ein Normal-Format (Großformat würde noch<br />

besser klingen) geworden. Jedenfalls ist die Sexuologie<br />

im achten Jahr ihres Erscheinens auch äußerlich zur üblichen<br />

„Größe“ medizinischer Fachzeitschriften herangewachsen.<br />

Damit ist auch eine weitere Veränderung eingetreten:<br />

Ich bin – zweieinhalb Jahre nach meiner Ver -<br />

set zung in den Ru he stand – aus der Redaktion ausge -<br />

schie den, um diese Ar beit in jüngere und aktivere Hän -<br />

de zu legen. Die Profes soren Uwe Hartmann und Chris -<br />

tian Stief (beide Hanno ver) werden zukünftig gemeinsam<br />

mit Privatdozent Hart mut A.G. Bosinski und Prof.<br />

Klaus M. Beier das Redak tionsteam bilden.<br />

Mein Ausscheiden möchte ich kurz zum Anlass für<br />

einen knappen Rück- und Ausblick nehmen:<br />

Als ich 1992 als Nachfolger von Professor Wille zum Prä -<br />

sidenten der Gesellschaft für Praktische Sexualmedizin<br />

(GPS) gewählt wurde, hatten zahlreiche Pioniere die<br />

durch den Nationalsozialismus abgebrochene Tradition<br />

mitteleuropäischer Sexualwissenschaft/Sexualmedizin<br />

längst wie derauf genommen und seit Jahrzehnten intensive<br />

Ar beit geleistet. So wurden damals z. B. von der<br />

Gesellschaft zur Förderung sexualmedizinischer Fortbil -<br />

dung (GFSF) bereits seit 16 Jahren die Heidelberger<br />

„Fortbildungstage für Psy chosomatik und Sexualme di -<br />

zin“ ausgerichtet und jährliche Referatbände veröffentlicht;<br />

die GPS mit ihren von 1981 bis 1993 herausgegebenen<br />

Mitteilungen fühlte sich be son ders der Wissen -<br />

schaft verpflichtet und publizierte die Beiträge der wissenschaftlichen<br />

Sitzungen. Dennoch war die Gesamt -<br />

situation der Sexualmedizin weiterhin unbefriedigend,<br />

denn sexualmedizinisches Wissen war unter den Ärzten<br />

nicht in dem Maße verbreitet, wie es sich die Initiatoren<br />

der Fortbildungstage erhofft hatten, an den Universi -<br />

täten gab es nach wie vor nur ausnahmsweise entsprechende<br />

Ausbildungsmöglichkeiten und es fehlte im<br />

gesamten deutschen Sprachraum eine wissenschaftlich<br />

anerkannte sexualmedizinische Fachzeitschrift. GPS und<br />

GFSF haben sich aus dieser Situation heraus damals folgende<br />

Ziele gesetzt: Weiterführung bereits begonnener<br />

Initiativen für eine Zusatzbezeichnung Sexualmedizin,<br />

Grün dung einer den beiden bisherigen Fachgesell schaf -<br />

ten übergeordneten Akademie für Sexualmedizin und<br />

Herausgabe einer akademisch anerkannten Fachzeit -<br />

schrift. Im Rahmen der neuen Akademie sollte sowohl<br />

die Weiterführung von Fortbildungs- und wissenschaftlichen<br />

Tagungen als auch die Erarbeitung und Durch -<br />

führung post promotioneller sexualmedizinischer Cur -<br />

ricu la als Vor aussetzung einer Zusatzbezeichnung in An -<br />

griff genommen werden. Grundsätzlich sollte dadurch<br />

die Veran ke rung der Sexualmedizin an den Universi -<br />

täten und allgemein der wissenschaftlich und klinisch<br />

tätige Nachwuchs ge fördert werden. Das waren hochgesteckte<br />

Ziele.<br />

Im Rückblick auf die seither vergangenen zehn Jahre ist<br />

durch den engagierten Einsatz der in GPS und Aka -<br />

demie zusammenarbeitenden Ärzte und Psychologen<br />

er staunlich viel umgesetzt und erreicht worden: Die<br />

Aka de mie arbeitet erfolgreich seit 1994. Im Mai dieses<br />

Jahres fin den bereits die 26. Fortbildungstage für Sexual -<br />

medizin und Psy chosomatik in ununterbroche ner Folge,<br />

zugleich die 9. Jahrestagung der Akademie für Sexual -<br />

me dizin statt, diesmal in Leuven. Zweijährige Weiter -<br />

bildungslehrgänge werden seit 1997 in Berlin, Düssel -<br />

dorf, Hannover und Mün chen durchgeführt; in Berlin<br />

läuft bereits der dritte Kurs. Aus dieser Arbeit ist das An -<br />

fang 2001 erschienene Lehr buch Sexualmedizin von<br />

Beier, Bosinski, Hartmann und Loewit (Urban und<br />

Fischer) entstanden, das in zahlreichen Rezensionen als<br />

Standardwerk gelobt wird.<br />

Auch die Integration der Sexualmedizin in die deutsche<br />

(Mus ter-)Weiterbildungsordnung hat mittlerweile gute<br />

Aus sichten auf Er folg. In Berlin wird das Curriculum<br />

bereits als Zusatz qualifikation anerkannt, die entsprechenden<br />

Zer ti fikate wer den von der Ärztekammer ausgestellt<br />

und die Be zeich nung Sexualmedizin kann dort<br />

auf dem Praxis schild geführt werden. Das ist leider noch<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 2 – 3 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


nicht bundesweit der Fall, aber immerhin ein Anfang.<br />

Hier bleibt noch viel zu tun, obwohl sich durch die über<br />

hundert bisherigen Absolventen der Curricula aus allen<br />

medizinischen Dis ziplinen bzw. der Psychotherapie die<br />

Patientenversorgung spürbar zu bessern beginnt.<br />

Die Zeitschrift Sexuologie muss zwar noch unterstützt<br />

werden, wächst aber stetig und wird sich hoffentlich<br />

fest etablieren und selber tragen können. Ein<br />

Fernziel ist, sie auch für die universitäre For schung als<br />

Publikations organ attraktiv zu machen. Derzeit steht das<br />

gängige Be wer tungssystem der sog. Impact-Faktoren<br />

dem noch entgegen. Das ist leider ein allgemeines<br />

Problem kleiner und vor allem neuer Fächer, welches nur<br />

durch ein Um den ken der Entscheidungsträger bzw.<br />

durch sach- und fachgerechtere Maßstäbe gelöst werden<br />

kann.<br />

Insgesamt ist die Bedeutung und Notwendigkeit von<br />

Sexualmedizin sicher wesentlich stärker ins Bewusstsein<br />

ge treten, als dies noch vor 10 Jahren der Fall war. Man<br />

könnte, bei aller Ambivalenz dieser Entwicklung, sogar<br />

sagen, dass sich nun zahlreiche Verehrer für die einst<br />

verschmähte Braut interessieren. So erfreulich diese Bi -<br />

lanz erscheint, so sehr ist an die noch offenen Pos tulate<br />

zu erinnern: Auch wenn in Innsbruck eine Profes sur für<br />

Se xu almedizin ausgeschrieben wurde und demnächst<br />

besetzt werden soll, so hat doch insgesamt die universitäre<br />

Ver ankerung der Sexualmedizin kaum Fort schritte<br />

gemacht. Dementsprechend gibt es kaum akademischen<br />

Nach wuchs, die Personaldecke ist viel zu knapp.<br />

Die Be zeich nung Sexualtherapeut ist nach wie vor ungeschützt<br />

und kann beliebig usurpiert werden. Die Hono -<br />

rierung sexualmedizinischer Leistungen ist noch nicht<br />

ge nerell möglich und so fort. Es liegt also noch genügend<br />

Arbeit und Her ausforderung vor uns. Nach der bisherigen<br />

Bilanz dürfen wir jedoch zuversichtlich der<br />

Zukunft entgegensehen und wissen, dass wir mit dem<br />

beziehungs- und kommunikationsorientierten Konzept<br />

der Se xualität, wie es als roter Faden Kurse und Lehr -<br />

buch durchzieht, auch einen we sentlichen Bei trag zu<br />

einer zu gleich sach- und menschen ge rech teren Medizin<br />

leis ten.<br />

Kurt Loewit (Innsbruck)


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Sexualität und Partnerschaft bei Multipler<br />

Sklerose – Ergebnisse einer empirischen Studie<br />

bei Betroffenen und ihren Partnern<br />

Klaus M. Beier, David Goecker, Silke Babinsky, Christoph J. Ahlers<br />

Sexual and partnership aspects<br />

of Multiple Sklerosis<br />

Abstract<br />

In a questionaire survey the influence of Multiple Sklerose<br />

(MS on sexuality and partnership in 909 affected members<br />

(615 women, 294 men) of the German Multiple<br />

Sklerosis Society and their partners were investigated.<br />

Out of of 461 women and 210 men the partners ans -<br />

wered the questionaire. The average age of the patients<br />

was 45 years and the partnership lasted in average of<br />

18.5 years.<br />

Since their first symptoms of MS, men as well as<br />

women suffered a strong increase in sexual dysfunctions<br />

connected to subjectiv pain. Partners experienced a strong<br />

increase of sexual dysfunctions and a decrease of sexual<br />

contentment, too.<br />

The affected patients regarded specific symptoms of<br />

MS and far less medication (in particular glucocorticoides)<br />

as the deciding factors influencing their sexuality.<br />

The way both men and woman describe their partnership<br />

shows that general capabilities of communication,<br />

espacially caressing and showing feelings correlate both<br />

in men and women with partnership and sexual contentment,<br />

whereas the duration of disease and the level of<br />

disability did not correlate.<br />

Keywords: Multiple sclerosis, Partnership, Sexual dysfunctions,<br />

Sexual contentment, Glucocorticoides<br />

Zusammenfassung<br />

In einer Fragebogen-Erhebung wurden die Auswirkungen<br />

von Multipler Sklerose (MS) auf Sexualität und Part ner -<br />

schaft bei insgesamt 909 Betroffenenen (615 Frauen, 294<br />

Männer) der Landes verbände Schleswig-Holstein, Nieder -<br />

sach sen und Ham burg der Deutschen Multiplen Sklerose<br />

Gesellschaft (DMSG) sowie deren Partnern untersucht.<br />

Bei 461 Frauen und 210 Männer mit einem durchschnittlichen<br />

Alter von 45 Jahren lagen auch die Er he bungsbögen<br />

der Partner vor.<br />

Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen –<br />

die durchschnittliche Partnerschaftsdauer lag bei 18,5<br />

Jahren – war eine starke Zunahme sexueller Funktions -<br />

störungen (verbunden mit subjektivem Leidensdruck) seit<br />

dem Auftreten der Erstsymptome der MS festzustellen.<br />

Auch bei den Partnern/ innen kam es allerdings zu einem<br />

deutlichen Anstieg von sexuellen Funktionsstörungen und<br />

ebenso zu einer starken Abnahme der sexuellen Zu -<br />

friedenheit.<br />

Die Betroffenen gaben vor allem MS-spezifische Sym -<br />

ptome und weniger Medikamenteneinnahme (hier vornehmlich<br />

Glukokortikoide) als maßgeblich für die Be ein -<br />

flussung ihrer Sexualität an.<br />

Hinsichtlich der partnerschaftlichen Situation wurde<br />

deutlich, dass sowohl bei den Männern als auch bei den<br />

Frauen der Austausch von Zärtlichkeiten, die Mitteilung<br />

von Empfindungen wie überhaupt kommunikative Kom -<br />

petenzen mit partnerschaftlicher und sexueller Zufrie den -<br />

heit korrelierten, während Krankheitsdauer und -grad keinen<br />

Einfluss auf die Zufriedenheit hatten.<br />

Schlüsselwörter: Multiple Sklerose, Partnerschaft, Sexuelle<br />

Funktionsstörungen, Sexuelle Zufriedenheit, Glukokorti -<br />

koi de<br />

An Multipler Sklerose (MS) erkranken Menschen in<br />

der Regel im frühen bis mittleren Erwachsenenalter<br />

(zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr). Dies ist ein<br />

wichtiger Zeitpunkt im Leben für die Bildung einer<br />

Partnerschaft, der Gründung einer Familie und für die<br />

berufliche Karriere.<br />

Erfahrungsgemäß wird die Diagnose einer Multip -<br />

len Sklerose oft erst dann gestellt, wenn die Krankheit<br />

einen gewissen Schweregrad erreicht hat oder wenn<br />

sehr auffällige Symptome schon frühzeitig zu einer<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 4 – 22 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 5<br />

eingehenden neurologischen Abklärung führen. Be -<br />

sonders im ersten Schub wird das Krankheitsbild häufig<br />

nicht erkannt, sondern erst Jahre später. Die Erst -<br />

diagnose einer MS ist in der Vorstellung der Betrof -<br />

fenen nach wie vor gleichbedeutend mit dem baldigen<br />

Verlust der Gehfähigkeit und einer verkürzten Lebens -<br />

erwartung.<br />

Neben der Frage nach der Ursache für eine derart<br />

bedrohliche Krankheit stellt sich für den Betroffenen<br />

daher von Beginn an die Aufgabe, den Charakter der<br />

MS, ihr Ausmaß und ihre Folgen zu verstehen sowie<br />

angemessene Reaktionen auf Symptome, Warn -<br />

zeichen und Krisen zu erlernen. Gleichzeitig greifen<br />

vorübergehend oder dauerhaft vielfältige therapeutische<br />

und rehabilitative Maßnahmen ins tägliche Leben<br />

der Betroffenen ein, meist lange Zeit verknüpft mit der<br />

Hoffnung, nicht nur die körperliche und psychische<br />

Befindlichkeit zu stabilisieren, sondern vielleicht auch<br />

den Krankheitsprozess aufhalten zu können.<br />

Die Krankheit verläuft meist progressiv und die<br />

unvorhersehbare Entwicklung kann zu einem hohen<br />

Unsicherheitsfaktor für die Betroffenen und deren<br />

Familien werden (McCabe et al. 1996). Die progressive<br />

körperliche Behinderung führt zu einer zunehmenden<br />

Abhängigkeit von nahen Familienmitgliedern und<br />

besonders dem (Ehe-)Partner. Der Partner übernimmt<br />

oft pflegerische Tätigkeiten und somit können bisherige<br />

Rollenverteilungsmuster in Frage gestellt werden.<br />

Wenig bekannt und untersucht ist bisher, dass die<br />

Erkrankung auch Auswirkungen auf die Sexualität<br />

haben kann. Dabei sind organisch bedingte sexuelle<br />

Störungen eher häufige und frühe Symptome der<br />

Multiplen Sklerose; sie chronifizieren leichter aufgrund<br />

zusätzlicher krankheitsbedingter Probleme wie<br />

z.B. Müdigkeit, Spastik, sensorischen und/oder motorischen<br />

Beeinträchtigungen, Blasenstörungen sowie<br />

auch psychischen Faktoren, die mitunter bewusst verschwiegen<br />

werden, weil sie für die Betroffenen mit<br />

Scham und Angstgefühlen verbunden sind. Hinzu<br />

kom men mögliche Nebenwirkungen der medikamentösen<br />

Behandlung der Multiplen Sklerose ein -<br />

schließ lich der Therapie von Begleiterscheinungen<br />

(z.B. depressiver Symptome) – also substanzinduzierte<br />

Einflussfaktoren, die sich negativ auf das sexuelle<br />

Erleben und Verhalten auswirken können.<br />

Tatsächlich gehört die Multiple Sklerose zu den<br />

neurologischen Krankheiten, welche mit am häufigsten<br />

zu sexuellen Dysfunktionen führt. Sowohl sexuelle<br />

Appetenz, als auch die sexuelle Erregung (z.B.<br />

Erektion), die Orgasmusphase (z.B. Ejakulation) so -<br />

wie die sexuelle Entspannung können betroffen sein.<br />

In Einzelfällen wurden auch sexuelle Verhaltens -<br />

abweichungen beschrieben (Huws et al. 1991, Lund -<br />

berg 1978). Sexuelle Dysfunktionen können partieller,<br />

transitorischer oder fluktuierender, schlimmsten Fal -<br />

les auch kompletter und permanenter Natur sein. Die<br />

Häufigkeit und die Ursachen sexueller Funktions stö -<br />

rungen werden in der <strong>Literatur</strong> immer wieder kontrovers<br />

diskutiert. Folgende Punkte führen zu divergierenden<br />

Ergebnissen:<br />

! Unterschiede der Betroffenenstichproben z.B. hinsichtlich<br />

Anzahl der Probanden, Alter, Krankheitsverlauf,<br />

Krankheitsdauer, Grad der Behinderung<br />

! Uneinheitliche Kriterien für die Beurteilung sexueller<br />

Dysfunktionen<br />

! Methodische Unterschiede (Fragebogen, Inter -<br />

view, klinische Untersuchung)<br />

Bezüglich der Häufigkeit dominieren bei den Män -<br />

nern Erektionsstörungen, gefolgt von Orgasmus- und<br />

Appetenzstörungen (Tab. 1).<br />

Erektionsstörungen stehen eindeutig im Mittel -<br />

punkt des Forschungsinteresses. Verminderte penile<br />

Sensibilität, Ejaculatio praecox und Dyspareu nie finden<br />

weniger Beachtung.<br />

Tab. 1: Häufigkeit sexueller Dysfunktionen bei MS-betroffenen Männern<br />

in verschiedenen Studien (Einbezogene <strong>Literatur</strong>: Vas et al. 1969, Lilius et<br />

al. 1976, Minderhoud et al. 1984, Valleroy u. Kraft 1984, Schover et al.<br />

1988, Mattson et al. 1995, McCabe et al. 1996, Lottman et al.1998)<br />

Sexuelle Appetenzstörungen 12-48 %<br />

Erektionsstörungen 47-80 %<br />

Orgasmusstörungen 14-64 %<br />

Verminderte penile Sensibilität 5-85 %<br />

Ejaculatio praecox 4-25 %<br />

Vorliegende Studien berichten bei den betroffenen<br />

Frauen vor allem vom nachlassenden sexuellen In -<br />

teresse (Libidoabnahme bis -verlust), Lubrikations stö -<br />

run gen und Orgasmusschwierigkeiten, Sensibili täts -<br />

stö rungen im Genitalbereich, die zu veränderter Em -<br />

pfindungsfähigkeit führen können, woraufhin Be rüh -<br />

rungsreize unterschiedlich aufgenommen und auch<br />

teilweise als unangenehm empfunden werden (Denec -<br />

ke 1986). Blasen- und Darmstörungen sind dabei häufig<br />

mit sexuellen Störungen kombiniert, besonders<br />

Bla seninkontinenz stellt ein großes Problem beim<br />

Geschlechtsverkehr dar (Lundberg 1980). Zu diesen<br />

rein körperlichen Gründen für eine veränderte Sexu -<br />

alität bei Multipler Sklerose kommen vielerlei seelische<br />

Aspekte hinzu (Hofreiter 1997).<br />

Sexuelle Dysfunktionen werden in der <strong>Literatur</strong><br />

bei betroffenen Frauen mit einer Häufigkeit zwischen<br />

5-52% angegeben; Laumann und Mitarbeiter (1994)<br />

ermittelten dagegen eine Häufigkeit sexueller Dys -<br />

funk tionen bei gesunden Frauen von 8-34 %.


6 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

Als Ursache sexueller Dysfunktionen wird in den meisten<br />

Studien der letzten 30 Jahre eine Kombination<br />

aus kortikalen und spinalen Läsionen sowie psychogenen<br />

Faktoren vermutet. Das Gehirn mit seinen komplexen<br />

neuronalen und hormonellen Funktions ab -<br />

läufen spielt eine besonderen Rolle bei der penilen<br />

Erektion und Ejakulation (Köhler u. Vogt 1996). Stö -<br />

rungen in diesem Bereich können daher sexuelle Dys -<br />

funktionen zur Folge haben (Lottmann et al.1998,<br />

McCabe et al. 1996). Barak et al. (1996) fanden einen<br />

Zu sammenhang von Anorgasmie und der mittels<br />

Kern spintomografie nachgewiesenen Plaqueläsions -<br />

größe im Gehirn.<br />

Einige neuere Studien versuchen mit moderner<br />

neurophysiologischer und neurovasculärer Diagnostik<br />

die Bedeutung organischer Faktoren für sexuelle Dys -<br />

funktion zu eruieren (Betts et al. 1994, Ghezzi et al.<br />

1995, Goldstein et al. 1982, Kirkeby et al. 1988, Lott -<br />

man et al. 1998). Jedoch können neurophysiologische<br />

Veränderungen meist nicht als alleinige Erklärung<br />

sexueller Dysfunktionen dienen. Eine neuere aufwendige<br />

Untersuchung zeigte bei Betroffenen mit und oh -<br />

ne erektiler Dysfunktion keine Unterschiede in der<br />

Häu figkeit abnormer neurophysiologischer Befunde<br />

(Ghezzi et al. 1995). Auch nächtliche spontane Erek -<br />

tionen können bei wahrscheinlich neurogener erektiler<br />

Dysfunktion normal sein und daher nicht zur Unter -<br />

scheidung von psychisch und organisch bedingter<br />

Erek tionsstörung als alleiniger Indikator dienen (Kir -<br />

ke by et al. 1988, Lottman et al. 1998, Valleroy & Kraft<br />

1984).<br />

Mehrere Studien haben den Zusammenhang sexueller<br />

Dysfunktionen mit MS-typischen Symptomen sowie<br />

Alter der Betroffenen, Krankheitsdauer, Grad der Be -<br />

hinderung und Verlaufsform untersucht. Aufgrund der<br />

häufigen Koinzidenz von neurogenen Blasen- und<br />

Mastdarmstörungen mit sexuellen Problemen (Tab. 2.)<br />

werden gemeinsame Steuerzentren des autonomen<br />

Ner vensystems für Erektion sowie Blasen- und Mast -<br />

darmfunktionen im Rückenmark vermutet (Bakke et<br />

al. 1996, Betts 1994, Hulter & Lundberg 1995, Min -<br />

der houd et al. 1984). Darüber hinaus können Harnund<br />

Stuhlinkontinenz sekundär zu sexuellen Stö -<br />

rungen bei den Betroffenen führen (Hatzichristou<br />

1996). Die Angst vor Harn- und Stuhlverlust und das<br />

Tra gen von Dauerkathetern können somit sexuelle<br />

Aktivitäten beeinträchtigen.<br />

Aus der physischen Behinderung der Betroffenen<br />

resultieren häufig psychische und soziale Faktoren,<br />

welche zusätzlich die Sexualität beeinflussen oder so -<br />

gar den wichtigsten Auslöser für sexuelle Dysfunk -<br />

tionen darstellen können. Wie andere chronische<br />

Krank heiten auch, kann die MS das Zusammenspiel<br />

von somatischen, psychischen und sozialen Faktoren<br />

aus dem Gleichgewicht bringen, welches das Funda -<br />

ment für sexuelle Gesundheit bildet (Jensen 1992).<br />

Psychische Probleme, besonders Depressionen<br />

und Angst, aber auch psychiatrische Symptome können<br />

mit dem sexuellen Erleben interferieren. Ein di -<br />

rekter Zusammenhang sexueller Dysfunktionen mit<br />

De pression wurde erst kürzlich beschrieben (Barak et<br />

al. 1996). Keine Korrelation sexueller Störungen mit<br />

Tab. 2: Von verschiedenen Autoren untersuchte Korrelationen sexueller Funktionsstörungen mit MS-typischen Symptomen<br />

Autor u. Erscheinungsjahr<br />

Vas et al.1969<br />

Lilius et al. 1976<br />

Minderhoud et al. 1984<br />

Valleroy u. Kraft 1984<br />

Denecke 1986<br />

Kirkeby et al. 1988<br />

Schover et al. 1988<br />

Stenager et al.1990<br />

Betts et al. 1994<br />

Ghezzi et al. 1995<br />

Hulter u. Lundberg 1995<br />

Mattson et al. 1995<br />

Bakke et al. 1996<br />

Barak et al. 1996<br />

McCabe et al. 1996<br />

Stenager et al. 1996<br />

Lottman et al. 1998<br />

ja<br />

-<br />

ja<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

nein<br />

ja<br />

ja<br />

ja<br />

ja<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

ja<br />

nein<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

Symptome bzw. Parameter<br />

Motorische<br />

Störungen<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

nein<br />

-<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

unsicher<br />

ja<br />

ja<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

ja<br />

Grad der<br />

Behinderung<br />

-<br />

ja<br />

ja<br />

nein<br />

nein<br />

nein<br />

-<br />

ja<br />

nein<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

ja<br />

-<br />

nein<br />

nein<br />

-<br />

Alter<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

-<br />

nein<br />

-<br />

nein<br />

nein<br />

-<br />

-<br />

ja<br />

nein<br />

ja<br />

nein<br />

-<br />

nein<br />

-<br />

Blasenstörungen<br />

Sensibilitätsstörungen<br />

Mastdarmstörungen<br />

Krankheitsdauer<br />

-<br />

nein<br />

nein<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

-<br />

nein<br />

-<br />

nein<br />

nein<br />

nein<br />

-


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 7<br />

Depression wurde hingegen von Valleroy u. Kraft<br />

(1984) beobachtet.<br />

Nur in wenigen Studien wurden die jeweiligen<br />

Part ner miteinbezogen. Die MS beeinflusst jedoch in<br />

hohem Maße die Partnerschaft und damit die Se -<br />

xualität des Partners. Wie aus Tabelle 3 ersichtlich<br />

wird, gehen die bisherigen Untersuchungen über eine<br />

Stichprobengröße von 50 nur selten hinaus; teilweise<br />

handelt es sich lediglich um Fallbeschreibungen.<br />

Methoden<br />

Mit Unterstützung von MS-betroffenen Mitgliedern<br />

des Landesverbandes Schleswig-Holstein der Deut -<br />

schen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) wurden<br />

zur Erhebung der Daten zwei Fragebögen entwickelt:<br />

ein Betroffenen- und ein Partnerbogen. Beide<br />

Erhebungsinstrumente waren von der Gliederung her<br />

gleich aufgebaut und bestanden aus jeweils sechs Tei -<br />

len:<br />

1. Soziodemographische Angaben zur Person und<br />

zum sozialen Umfeld wie Alter, Geschlecht, Ver -<br />

änderung der beruflichen Situation etc.<br />

2. Angaben zur Partnerschaft<br />

Die Items zum Parameter Partnerschaft ermöglichen<br />

es, die Qualität der Paarbeziehung einzuschätzen.<br />

Als Grundlage diente der „Partner -<br />

schafts fragebogen“ aus dem standardisierten „Fra -<br />

genbogen zur Partnerschaftsdiagnostik“ (FDP) von<br />

Hahlweg (Hahlweg 1988), der sich in die drei<br />

Kategorien Gemeinsamkeit/Kommunikation, Zärt -<br />

lich keit sowie Streitverhalten gliedert. Im Be -<br />

troffenenbogen wird im Falle von Partnerlosigkeit<br />

zusätzlich nach einem möglichem Zusammenhang<br />

mit der Erkrankung gefragt.<br />

3. Angaben zur Erkrankung bzw. Angaben zur Er -<br />

krankung des Partners und zum eigenen Befinden<br />

Zur Einschätzung der körperlichen Verfassung<br />

wur de eine Einteilung von 0 (ohne Beschwerden,<br />

keine Symptome) bis 9 (ständig ans Bett gebunden,<br />

kein Gebrauch der Arme möglich) erstellt, an -<br />

gelehnt an die für Studienzwecke vielfach genutzte<br />

DSS (Disability Status Scale) Einteilung von J.F.<br />

Kurtzke (1983), welche von 0 (normale neurologische<br />

Untersuchung, keine Symptome) bis 10 (Tod<br />

durch MS) verläuft. Die Einteilung beruht auf dem<br />

von Kurtzke verwendeten Parameter der Mobilität;<br />

weitere Parameter des Autors wie Pyramidenbahnund<br />

Hirnstammfunktion usw. wurden nicht berücksichtigt.<br />

Bei einem Versuch an sechs stationären<br />

MS-Betroffenen erwies sich diese Einteilung als<br />

verständlich und brauchbar. Die Betroffenen konnten<br />

einen ihrer körperlichen Verfassung entsprechenden<br />

Grad der Behinderung zuordnen.<br />

4. Angaben zur Sexualität<br />

Die Erfassung sexueller Funktionsstörungen von<br />

Betroffenen und deren Partnern erfolgte in Anlehnung<br />

an die DSM IV-Klassifikation (APA 1994),<br />

so dass die Studienergebnisse auf international gültigen<br />

Operationalisierungen basieren. Dementspre -<br />

chend wurde eine sexuelle Funktionsstörung nur<br />

dann als gegeben betrachtet, wenn von den Be -<br />

troffenen zugleich subjektiver Leidensdruck angegeben<br />

wurde.<br />

5. Angaben zur Medikamenteneinnahme<br />

Die Erhebung der Medikamente ist von vornherein<br />

mit einer Einschränkung vorgenommen worden:<br />

Es wurde zunächst in einem Item erfragt, ob die<br />

Probanden/innen medikamentös therapiert werden<br />

und in einem weiteren, ob sie einen Zusam men -<br />

hang zwischen den eingenommenen Medikamen -<br />

ten und ihrer Sexualität sehen. Es wurde ferner<br />

darum gebeten, die betreffenden Medikamente an -<br />

zu geben. In einem nächsten Item wurde nach den<br />

beobachteten Veränderungen der Sexualität entsprechend<br />

den verschiedenen Phasen des sexuellen<br />

Reaktionsablaufs sowie nach Häufigkeiten sexueller<br />

Aktivitäten und dem Auftreten sexueller Phan -<br />

tasien gefragt. Es konnte jeweils zwischen einer<br />

„Zu nahme“, „Abnahme“ bzw. „keine Verän de -<br />

rung“ der jeweiligen sexuellen Parameter gewählt<br />

werden.<br />

6. Informationsstand der Betroffenen über mögliche<br />

Auswirkungen der Erkrankung auf die Sexu -<br />

alität.<br />

In verschiedenen Items wurde erfasst, in wieweit<br />

MS-Betroffene und deren Partner von beruflichen<br />

Helfern auf Veränderungen der Sexualität auf -<br />

merk sam gemacht wurden, die mit der Erkrankung<br />

einhergehen können.<br />

Mit speziellen Items konnten die Betroffenen und ihre<br />

Partner subjektiv vermutete Zusammenhänge einschätzen;<br />

so z.B. hinsichtlich des Einflusses MS-spezifischer<br />

Pharmaka bzw. krankheitsbedingter Symp -<br />

tome auf die Sexualität. Die Mehrzahl der überwiegend<br />

geschlossenen, ordinalskalierten Items wurde in<br />

zwei Zeitebenen (1. „Vor Auftreten der Erstsymp -<br />

tome“ bzw. „Seit Auftreten der Erstsymptome bei<br />

Ihrem Partner“ und 2. „Während der letzten 12 Mona -<br />

te“) gestellt.


8 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

Tab. 3: Bisherige Studien zu den Auswirkungen von Multipler Sklerose auf Sexualität und Partnerschaft<br />

Arbeitsgruppe<br />

Design<br />

Stichproben<br />

Frauen Männer<br />

Hauptfragestellung<br />

Miller et al. 1965<br />

Review<br />

0 297<br />

Urogenitale Symptome<br />

Vas 1969<br />

Interview<br />

0 37<br />

Erektionsfähigkeit bei Koitus<br />

Lilius et al. 1976<br />

Fragebogen<br />

134 115<br />

Zusammenhang von Sexualstörungen und spinalen neurologischen<br />

Symptomen<br />

Lundberg 1980<br />

experimentell<br />

25 0<br />

Untersuchung der Patientinnen unter Berücksichtigung der unteren<br />

Rückenmarkssegmente<br />

Goldstein et al. 1982<br />

Interview<br />

45 41<br />

Zusammenhang sex. Dysfunktionen („Impotenz“) mit neurophysiologischen<br />

und urologischen Ergebnissen<br />

Minderhoud et al. 1984<br />

Fragebögen<br />

39 35<br />

Sex. Funktionsstörungen, allgemeiner Zustand,<br />

Temperaturstörungen der unteren Extremitäten, neurologische<br />

Parameter<br />

Szasz et al. 1984<br />

Interview<br />

47 26<br />

Demographische Daten, soziale Faktoren, krankheitsbedingte<br />

Symptome, Sexualität<br />

Vallory et al. 1984<br />

Fragebogen<br />

149 68<br />

Sex. Funktion und Orientierung, Mobilität, MS-assozierte<br />

Symptome, soziales Umfeld<br />

Denecke1985<br />

Interview<br />

55 37<br />

Individuelles Muster der Krankheitsbewältigung und familiärer<br />

Umgang mit der Krankheit<br />

Denecke 1986<br />

Interview<br />

35 29<br />

Art und Ausmaß sex. Funktionsstörungen und Reaktion der<br />

Patienten und der Partner darauf, Bewältigungsmöglichkeiten<br />

Fagan et al. 1986<br />

Interview<br />

149 68<br />

Fragen zu sexuellen Störungen<br />

Schover et al. 1988<br />

Kirkby et al. 1988<br />

Halbstrukturiertes Interview<br />

Verschiedene medizinisch-körperliche<br />

Untersuchungsverfahren<br />

0 14<br />

0 29<br />

Fragen zur Diagnostik sexueller Funktionsstörungen über alle<br />

Erregungsphasen<br />

MS und erektile Funktionsstörungen<br />

Woollett et al. 1988<br />

Interview<br />

9 11<br />

Demographische und soziale Aspekte<br />

Stenager et al. 1990<br />

Semistrukturiertes Interview,<br />

neuropsychologische Untersuchung<br />

65 52<br />

Fragen nach Depression, Angst, psychologisches Profil, sex.<br />

Aktivität im Zusammenhang mit MS<br />

Huws et al. 1991<br />

Fallstudie<br />

- 1<br />

Krankengeschichte, MRI-Scan<br />

Betts et al. 1994<br />

Interview oder Fragebogen (?)<br />

0 48<br />

Zusammenhang zwischen Impotenz und neurogenen<br />

Blasenstörungen<br />

Ghezzi et al. 1995<br />

EDSS nach Kurztke<br />

- 35<br />

neurologische und neurophysiologische Untersuchung<br />

Mattson et al. 1995<br />

Retro- u. prospektive Studie mit Fragebogen u. telef. Interv.<br />

65 36<br />

Häufigkeit und Art sex. Dysfunktionen und med. Beeinflussung<br />

Hulter et al. 1995<br />

Strukturiertes Interview<br />

47 0<br />

Veränderungen im Sexualleben und Korrelationen mit neurologischen<br />

Symptomen und Beeinträchtigung<br />

Barak et al. 1996<br />

neurol. u. psychol. Untersuchung; MRI; Interview basierend<br />

auf DSM-III-R; Fragebogen zur Sexualität<br />

32 9<br />

Untersuchung von Art und Ausmaß sexueller Dysfunktionen bei<br />

Patienten mit schubförmig remittierendem Verlauf und Korrelation<br />

dieser mit neurologischen, psychologischen und radiologischen<br />

Variablen<br />

Stenager et al. 1996<br />

5-Jahres follow-up Studie, Interview und körperliche<br />

Untersuchung<br />

27 22<br />

Beschreibung sexueller Funktionen und Dysfunktionen über einen<br />

Zeitraum von 5 Jahren bei MS-Betroffenen<br />

Bakke et al. 1996<br />

Kohortenstudie, 1987-95; strukturiertes Interview; klinisch<br />

neurologische Untersuchung<br />

130 79<br />

Zusammenhang von Blasen- und Mastdarmstörungen mit sex.<br />

Dysfunktionen<br />

Mc Cabe et al. 1996<br />

Fragebogen<br />

74 37<br />

Einfluß von MS auf Sexualität, soziale und familiäre Beziehung<br />

und allgemeine Lebensqualität und Zufriedenheit<br />

Lottman et al. 1998<br />

Interview, Fragebogen, psychophysiologische<br />

Untersuchungen, Vergleichsgruppe mit 16 gesunden<br />

Männern<br />

- 16<br />

Klärung der Ätiologie sexueller Dysfunktionen bei MS-Betroffenen<br />

mit Hilfe psychologischer, psychophysiologischer und physiologischer<br />

Untersuchungsmethoden<br />

Beier et al. 2000<br />

Fragebogen für Betroffene und Partner, retrospektiv, Zustand<br />

vor Auftreten d. Erstsymptome und während der letzten 12<br />

Monate<br />

615 294<br />

Erfassung sexueller Dysfunktionen bei Betroffenen und deren<br />

Partnern; Analyse soziodemographischer, partnerschaftlicher und<br />

krankheitsbedingter Faktoren


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 9<br />

Fortsetzung Tab. 3: Bisherige Studien zu den Auswirkungen von Multipler Sklerose auf Sexualität und Partnerschaft<br />

Einbezug der Partner<br />

Nein<br />

Untersuchung der<br />

Partnerschaft<br />

Nein<br />

Operationalisierte<br />

Erfassung der sexuellen<br />

Funktionsstörungen<br />

Nein<br />

Fragen zu Informationsstand<br />

und -erhalt<br />

Nein<br />

Fragen zur<br />

Medikamenteneinnahme<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

nein, nur erektile Dysfunktion<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Jeder 2.<br />

(Ja)<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Ja<br />

Nein<br />

Ja<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Ja<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein, nur erektile Dysfunktion<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja, eigenes Ratingsystem<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja, eigenes Ratingsystem<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein, nur sex. Aktitätsniveau<br />

erfasst<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja, 5 Items zur partnerschaftlichen<br />

Zufriedenheit<br />

Ja, Questionnnaire for screening<br />

sexual Dysfunctions<br />

Nein<br />

Nein<br />

Ja<br />

Ja<br />

Ja, nach DSM-IV<br />

Ja<br />

Ja


10 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

Datenerhebung<br />

Im August 97 wurden die Gruppenleiter der Selbst -<br />

hilfegruppen des Landesverbandes Schleswig-Hol -<br />

stein der DMSG bei einem Zusammentreffen informiert.<br />

Die Leiter übergaben die ihnen zugesandten<br />

Fra gebögen an die einzelnen Gruppenmitglieder. Es<br />

wur den zwei Vorstudien durchgeführt. Die zweite Er -<br />

hebung im Winter 97/ 98 umfasste 460 Fragebögen je -<br />

weils für Betroffene und deren Partner. Trotz der ge -<br />

wahrten Anonymität lag die Rücklaufquote bei der<br />

Erst erhebung mit 66 ausgefüllten Bögen bei nur 14,3<br />

%. Die Ergebnisse der Vorstudie wurden auf den „22.<br />

Fort bildungstagen für Sexalmedizin und Psycho so -<br />

matik“ im Juni 1998 in Osnabrück vorgestellt (vgl.<br />

Goecker et al. 1998).<br />

Im Rahmen der Hauptuntersuchung (September<br />

1998 bis April 1999) wurden an die ca. 6500 Mitg -<br />

lieder der Landesverbände Hamburg, Schleswig-Hol -<br />

stein und Niedersachsen der Deutschen Multiple Skle -<br />

rose Gesellschaft die Fragebögen für Betroffene und<br />

deren Partner verschickt. Insgesamt wurden 909<br />

(=14%) verwertbare Fragebögen zurückgesendet; darunter<br />

waren:<br />

a) 500 Probanden/innen, bei denen sowohl die Be -<br />

troffenen als auch deren Partner geantwortet haben<br />

b) 171 ‚unechte singles‘, d.h. in einer Partnerschaft<br />

lebende Betroffene, bei denen der Partner/ die<br />

Partnerin nicht antwortete<br />

c) 238 ‚echte singles‘, d.h. Betroffene, die nicht in<br />

einer Partnerschaft leben.<br />

Statistische Methoden<br />

Die desrkiptive Datenauswertung nach absoluten und<br />

relativen Häufigkeiten erfolgte mit dem Statistikprogramm<br />

SPSS 8.0. Im Rahmen der Zusammen hangs -<br />

analyse wurden folgende Rechenoperationen durchgeführt:<br />

(1) Chi-Quadrat-Test nach Pearson<br />

(2) Rangkorrelation nach Spaerman<br />

(3) Partielle Korrelation<br />

(4) U-Test nach Mann und Whitney zum Vergleich<br />

von zwei unabhängigen Stichproben<br />

(5) Wilcoxon-Test zum Vergleich von zwei abhängi-<br />

gen Stichproben<br />

(6) H-Test nach Kruskal und Wallis zum Vergleich<br />

von mehr als zwei unabhängigen Stichproben<br />

Ergebnisse<br />

Insgesamt haben 909 Betroffene geantwortet. Von diesen<br />

lebten 461 Frauen und 210 Männer in einer Part -<br />

nerschaft und in drei Viertel aller Fälle lagen auch ausgefüllte<br />

Fragebogen der Partner/innen zur Auswertung<br />

vor. Das Durchschnittsalter der Betroffenen lag etwa<br />

bei 46 Jahren (Männer) und 43 Jahren (Frauen), die<br />

durchschnittliche Partnerschaftsdauer bei 19,6 Jahren<br />

(Männer) und 17,5 Jahren (Frauen). Etwa zwei Drittel<br />

waren berufsunfähig und im Durchschnitt ca. 15 Jahre<br />

an Multipler Sklerose erkrankt (Tab. 4).<br />

Es handelt sich demnach um eine Stichprobe von<br />

überwiegend Paaren, die fast die Hälfte ihres Lebens<br />

Tab. 4: Übersicht über die befragten MS-Betroffenen (n = 909)<br />

615 Frauen 294 Männer<br />

Alter in Jahren 43,3 46,4<br />

Symptomdauer in Jahren (durchschnittlich) 14,2 15,3<br />

Jahre seit Diagnosestellung (durchschnittlich) 10,7 11,7<br />

Verlaufsformen<br />

- schubförmig mit/ohne Remissionen 31,5 % 21,2 %<br />

- chronisch-progredient 29,7 % 42,5 %<br />

- teils schubförmig, teils chronisch progredient 16,5 % 17,1 %<br />

- stabil 22,4 % 19,2 %<br />

Einteilung nach Kurtzke<br />

- 0 - 1 (ohne Beschwerden) 9,7 % 6,2 %<br />

- 2 - 3 (minimale Beeinträchtigung) 31,3 % 17,9 %<br />

- 4 - 5 (eingeschränkte Gehfähigkeit - bis 500 m ohne Hilfe) 17,4 % 21,3 %<br />

- 6 - 7 (stark eingeschränkte Gehfähigkeit 36,5 % 47,0 %<br />

– mit Hilfe ca. 100 m;überwiegend im Rollstuhl)<br />

- 8 - 9 (überwiegend ans Bett gebunden) 5,3 % 7,5 %<br />

z. Z. berufsunfähig, krank geschrieben oder (Früh-)Rentner 57,6 % 65 %<br />

z. Z. berufstätig 26,2 % 28,5 %<br />

Partnerschaftlich gebunden 461 Frauen 210 Männer<br />

Partnerschaftsdauer in Jahren (durchschnittlich) 17,5 19,6


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 11<br />

gemeinsam verbracht haben und auch bereit waren,<br />

gemeinsam an der Befragung teilzunehmen. Im fol -<br />

gen den sollen die wichtigsten Ergebnisse mit Häu -<br />

figkeitsangaben dargestellt werden.<br />

Sexuelle Funktionsstörungen<br />

Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen war<br />

eine starke Zunahme sexueller Funktionsstörungen<br />

seit Beginn der Multiplen Sklerose festzustellen (nur<br />

dann gezählt, wenn bei den Betroffenen zusätzlich<br />

Lei densdruck bestand). Bei den betroffenen Männern<br />

war dieser Anstieg besonders auffällig: Während vor<br />

Auftreten der Erstsymptome nur wenige (unter 5%)<br />

eine Appetenz-, Erregungs- oder Orgasmusstörung be -<br />

klagten, lag in den letzten 12 Monaten vor der Be -<br />

fragung bei jedem Dritten eine mit Leidensdruck verbundene<br />

sexuelle Dysfunktion vor. Bei den MS-be -<br />

troffenen Frauen beklagte vor Auftreten der Erst symp -<br />

tome jede zehnte eine sexuelle Funktionsstörung und<br />

für den Zeitraum der letzten 12 Monate etwa jede vier -<br />

te (vgl. Abb. 1) – allerdings war die hohe An zahl fehlender<br />

Angaben zu den entsprechenden Fragen sehr<br />

auffallend.<br />

Aber auch bei den Partnern/innen der MS-Be -<br />

troffenen nahm die Häufigkeit sexueller Funktions -<br />

störungen signifikant zu, wenn auch – insbesondere<br />

bei den Männern der MS-betroffenen Frauen – nicht<br />

so ausgeprägt (vgl. Abb. 2).<br />

Beeindruckend war eine starke Abnahme der sexuellen<br />

Zufriedenheit bei allen Betroffenen und ihren<br />

Partnern/innen: Während vor Diagnosestellung mehr<br />

als 90% der partnergebundenen Männer (Frauen:<br />

87%) mit ihrer Sexualität zufrieden waren, sank dieser<br />

Prozentsatz nach Diagnosestellung auf unter 50%<br />

(Frauen: 67%).<br />

Bei den MS-betroffenen Männern fiel ferner auf,<br />

dass die Betroffenen, die nicht in einer Partnerschaft<br />

le ben, weitaus häufiger sexuelle Dysfunktionen beklagen:<br />

Sie leiden fast doppelt so häufig unter sexuellen<br />

Funktionsstörungen wie die partnerschaftlich gebundenen<br />

MS-betroffenen Männer. Sehr häufig sind sexuelle<br />

Dysfunktionen auch bei denjenigen MS-betroffenen<br />

Männern, die aktuell unter einer Harninkontinenz<br />

lei den: Zwei Drittel von ihnen beklagen eine Erek -<br />

tionsstörung, nur etwas weniger eine Orgasmus stö -<br />

rung und gut die Hälfte eine Appetenzstörung. Einen<br />

ungünstigen Einflussfaktor stellt ferner die Verlaufs -<br />

form der MS dar: bei chronisch-progredientem Ver -<br />

lauf ist die Häufigkeit sexueller Funktions störungen<br />

bei den Betroffenen deutlich höher, was Männer wie<br />

Frauen gleichermaßen betrifft (vgl. Abb. 3).<br />

Krankheitsspezifische Symptome<br />

und Sexualität<br />

Die Erstsymtpome vor Diagnosestellung waren bei<br />

den betroffenen Männern und den Frauen in erster<br />

Linie Sehstörungen, Gangstörungen und Sensibilitäts -<br />

störungen. Bei den befragten Männern standen hinsichtlich<br />

der aktuellen körperlichen Symptome Be -<br />

wegungs-, Gleichgewichts- und Sensibilitätsstö run gen<br />

im Vordergrund, aber auch Harndrang/-verhalt oder<br />

Spastik wurde noch von fast der Hälfte der Betrof -<br />

fenen angegeben. Bei den Frauen hingegen dominierten<br />

Sensibilitäts-, Bewegungs- und Gleichgewichts -<br />

stö rungen sowie Müdigkeit.<br />

Etwa 70 % der männlichen und 40 % der weiblichen<br />

MS-Betroffenen sehen einen unmittelbaren Zu -<br />

sammenhang zwischen Veränderungen ihrer Sexuali -<br />

tät und den verschiedenen Krankheitssymptomen der<br />

MS.<br />

Im Vergleich zwischen männlichen und weiblichen<br />

Betroffenen wird deutlich, dass mehr Männer als<br />

Frauen vor allem Bewegungsstörungen (Männer:<br />

44%; Frauen: 30%) und Spastik (Männer: 39%; Frau -<br />

en: 29%) sowie psychische Anspannung (Männer:<br />

19%; Frauen: 13%) als krankheitsbedingte Einfluss -<br />

fak toren angeben. Auch bei den Frauen dominiert<br />

zwar die Angabe körperlicher Symptome als Grund<br />

für sexuelle Beeinträchtigungen; häufiger als Männer<br />

berichten sie aber über Schmerzen als ein ihre Sexu -<br />

alität störendes Symptom (Männer: 8%; Frauen:<br />

16%). Auffällig ist, dass Sensibilitätsstörungen –<br />

obschon sie bei sehr vielen Betroffenen aktuell eine<br />

sehr große Rolle spielen – für die Sexualität als beeinträchtigend<br />

nur von 17 % der Frauen und 15 % der<br />

Männer angesehen werden.<br />

Die Sensibilität im Genitalbereich hat im Laufe<br />

der Erkrankung bei fast 40 % der betroffenen Frauen<br />

abgenommen, was nur bei lediglich 20 % der betroffenen<br />

Männer der Fall ist, die wiederum häufiger (in 8<br />

% der Fälle) als Frauen (in 5 % der Fälle) über<br />

schmerzhafte genitale Empfindungen klagen.<br />

Einfluss von Medikamenten<br />

74 % der MS-betroffenen Männer und 66 % der MSbetroffenen<br />

Frauen nahmen zum Zeitpunkt der Befragung<br />

Medikamente zur Behandlung der Multiplen<br />

Sklerose ein. Die Abbildung 4 zeigen jeweils für die<br />

Männer und Frauen die am häufigsten genannten Me -<br />

di kamentengruppen, wobei deutlich wird, dass beide<br />

Geschlechter am häufigsten Glukokortikoide, Spas -


12 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

Abb. 1: Gesamtstichprobe MS-betroffener Männer (nur partnerschaftlich gebundene: n=210) und Frauen (n=615); prozentuale Häufigkeit sexueller Dysfunktionen,<br />

die mit Leidensdruck verbunden sind - jeweils vor Auftreten der Erstsymptome und in den letzten 12 Monaten<br />

Abb. 2: Gesamtstichprobe der Partner (n=334) und Partnerinnen (n=166) MS- betroffener Männer und Frauen; prozentuale Häufigkeit sexueller Dysfunktionen,<br />

die mit Leidensdruck verbunden sind - jeweils vor Auftreten der Erstsymptome und in den letzten 12 Monaten<br />

Abb. 3: MS-betroffene Männer/Frauen mit schubförmig-remittierendem und chronisch-progredientem Verlauf; prozentuale Häufigkeit sexueller Dysfunktionen in<br />

den letzten 12 Monaten


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 13<br />

mo lytika, Immunsuppressiva und/oder Interferone<br />

ein nehmen; etwa die Hälfte der Betroffenen nimmt<br />

lediglich ein Medikament und jeweils ein Viertel zwei<br />

oder drei Medikamente parallel ein.<br />

15 % der befragten Frauen und 20 % der Männer<br />

sehen einen Zusammenhang zwischen den eingenommenen<br />

Medikamenten und einer Veränderung ihrer<br />

Sexualität. Besonders deutlich kommt dies zum Aus -<br />

druck bei den Glukokortikoiden: Ca. ein Viertel der<br />

Män ner und fast vier Fünftel der Frauen bringen mit<br />

diesen eine Verschlechterung von sexuellen Funktio -<br />

nen bzw. der genitalen Sensibilität in Zusammenhang.<br />

Ein deutlich kleinerer Anteil – zwischen einem Fünftel<br />

und einem Zehntel – berichtet hingegen von einer Ver -<br />

besserung verschiedener sexueller Funktionen durch<br />

die Einnahme von Glukokortikoiden (vgl. Abb. 5).<br />

Ein Einfluss von Medikamenten auf die Sexualität<br />

wird hingegen bei den Interferonen deutlich seltener<br />

von den Betroffenen angegeben und betrifft hier etwa<br />

ein Fünftel der Männer, die über eine Ver schlech te -<br />

rung der Erektionsfähigkeit berichten, während bei<br />

den Frauen weniger als 10 % ungünstige Auswir kun -<br />

gen verspüren. Noch geringer ist der Einfluss von Spas -<br />

molytika auf die Sexualität der Betroffenen und be -<br />

sonders gering ausgeprägt bei den Immunsup pres siva.<br />

Abb. 4: Gesamtstichprobe MS-betroffener Männer (n=294) und MS-betroffener<br />

Frauen (n=615); Eingenommene Medikamente (Mehrfachnennungen möglich)<br />

Partnerschaft und Erkrankung<br />

Ca. drei Viertel der MS-Betroffenen (Frauen wie Männer)<br />

lebten zur Zeit der Befragung in einer Partner -<br />

schaft (davon 1 % der Männer und 2 % der Frauen in<br />

einer gleichgeschlechtlichen Beziehung).<br />

Die Partnerschaftsdauer betrug bei den Frauen<br />

durchschnittlich 17,5 und bei den Männern 19,6 Jahre<br />

– d.h. es handelte sich um Beziehungen, die meist be -<br />

reits vor dem Auftreten der ersten Symptome bestanden<br />

und demnach trotz dem Ausbruch der Er krankung<br />

aufrecht erhalten werden konnten. Von den ca. 25 %<br />

MS-Betroffenen, die zum Zeitpunkt der Be fragung<br />

nicht partnergebunden lebten, meinten ca. zwei Drittel<br />

der Frauen und drei Viertel der Männer, dass sie aufgrund<br />

der MS-Erkrankung ihren Partner verloren hätten<br />

und etwa ein Viertel gaben Angst vor einer neuen<br />

Partnerschaft aufgrund der Erkrankung an. Lediglich<br />

ein Zehntel wollten keine neue Partnerschaft mehr<br />

ein gehen.<br />

Imposant ist, dass zwischen den partnerschaftlich<br />

gebundenen und den nicht in einer Partnerschaft le -<br />

benden MS-Betroffenen keine Unterschiede hinsicht<br />

lich der Krankheitsdauer, der Verlaufsform oder auch<br />

dem Krankheitsgrad nach Kurtzke feststellbar wa ren:<br />

Diese stehen also nicht im Zusammenhang mit dem<br />

Auseinandergehen einer bestehenden Partner schaft.<br />

Die Untersuchung der Partnerschaften selbst zeigt,<br />

dass die partnerschaftliche Zufriedenheit bei Aus -<br />

tausch von Zärtlichkeiten und gemeinsamer Gestal -<br />

tung des Alltags hoch ist. Hervorzuheben ist aber insbesondere,<br />

dass die partnerschaftliche Zufriedenheit<br />

nicht mit Alter, Krankheitsdauer und Krankheitsgrad<br />

sowie der finanziellen oder der beruflichen Situation<br />

im Zusammenhang steht: Partnerschaftliche Zufrie -<br />

den heit kann also auch dann bestehen, wenn der Grad<br />

der körperlichen Beeinträchtigung hoch, die Krank -<br />

heitsdauer schon lang und die finanzielle oder die<br />

berufliche Situation schlecht ist.


14 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

Abb. 5: Gesamtstichprobe MS-betroffener Männer (n=47) und MS-betroffener<br />

Frauen (n=37), die Glukokortikoide einnehmen: Beeinflussung der Sexualität aus der<br />

Sicht der Betroffenen<br />

Sexualität an. Darüber hinaus werden von etwa einem<br />

Drittel der Betroffenen eine kompetente Beratung seitens<br />

der behandelnden Ärzte/innen gewünscht. Auf fal -<br />

lend häufig (30% der männlichen und 28% der weiblichen<br />

MS-Betroffenen; 29% der Partnerinnen und<br />

30% der Partner) wurde eine Paarberatung favorisiert.<br />

Diskussion<br />

Die Sexualität der von Multipler Sklerose betroffenen<br />

Patienten-(paare) wird ebenso wie die Sexualität Ge -<br />

sunder von zahlreichen Faktoren, wie z.B. dem Alter,<br />

dem Geschlecht, dem Familienstand, dem Zustand der<br />

Partnerschaft und nicht zuletzt von der bereits gelebten<br />

Sexualität des Paares beeinflusst. Mit dem Auf -<br />

treten von Multipler Sklerose können allerdings zu -<br />

sätzliche Einflüsse, wie die Auswirkungen krankheitsspezifischer<br />

Symptome und Pharmaka sowie soziale<br />

und intrapsychische Faktoren (Ängste und Depres sio -<br />

nen) die Partnerschaft und Sexualität der Patienten<br />

und deren Partner erheblich beeinträchtigen. Ein we -<br />

sent liches Ergebnis der hier vorgelegten Studie ist die<br />

Feststellung, dass nicht nur weibliche und männliche<br />

Betroffene in hohem Ausmaß unter sexuellen Dys -<br />

funk tionen leiden, sondern dass das sexuelle Erleben<br />

und Verhalten der Partner qualitativ und quantitativ<br />

fast genauso stark verändert ist. In früheren Unter -<br />

suchungen, bei denen die Partner mit einbezogen wurden,<br />

konnten hinsichtlich der Veränderungen der Se -<br />

xu alität ähnliche Feststellungen getroffen werden, die<br />

aber aufgrund sehr kleiner Stichproben sehr schwer<br />

ein schätzbar waren.<br />

Informationsstand der Betroffenen<br />

über Sexualität und diesbezüglich<br />

gewünschte<br />

Veränderungen<br />

Nur ein kleiner Teil der Betroffenen und ihrer Partner/<br />

innen erhielten von beruflichen Helfern Informationen<br />

über Veränderungen der Sexualität im Verlauf der Erkrankung:<br />

So wurden 66% der männlichen Betrof -<br />

fenen und 79% der Partnerinnen nicht auf eventuell<br />

auf tretende sexuelle Probleme hingewiesen; bei den<br />

weiblichen Betroffenen waren es 87% und 86,5% ih -<br />

rer Partner.<br />

Ca. 45 % der Betroffenen und ihrer Partner gaben<br />

einen Bedarf an Informationsmaterialen zum Thema<br />

Methodische Einschränkungen<br />

In der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um<br />

eine Auswahl von Mitgliedern der Deutschen Mul -<br />

tiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG) und darunter<br />

noch überwiegend derjenigen, die in einer Partner -<br />

schaft lebten und deren Partner einen Fragebogen ausgefüllt<br />

hatte. Trotz dieses schwer einschätzbaren Se -<br />

lek tionseffektes (vermutlich haben vor allem eher<br />

part nerschaftlich zufriedene Paare teilgenommen)<br />

musste dieser in Kauf genommen werden, um Part -<br />

nerschaft und Sexualität des Paares aus Sicht beider<br />

Partner analysieren zu können.<br />

Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Vorteile<br />

dieser Studie – Stichprobengröße, Einbeziehung des<br />

Partners/der Partnerin, operationalisierte Erfassung<br />

von sexuellen Funktionsstörungen und deren Zusam -<br />

menhang mit MS-bedingt eingenommenen Medika -<br />

menten und/ oder partnerschaftlichen Faktoren – in<br />

der bisherigen Forschung eine einmalige Kombination


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 15<br />

darstellen (vgl. hierzu auch Tab. 3). Allein die vielen<br />

wi dersprüchlichen Daten zur Häufigkeit sexueller<br />

Funk tionsstörungen in bisherigen Studien lassen sich<br />

umstandslos durch die feh lende Operationalisierung<br />

der Variable „Funktions störung“ erklären – eine Pro -<br />

ble matik, der in der hier vorgestellten Untersuchung<br />

durch die Orientierung an der Kriteriologie des DSM-<br />

IV Rechnung getragen wurde.<br />

Grundsätzlich muss hervorgehoben werden, dass<br />

es eine Fülle von Begrenzungen gibt, die bei der Er -<br />

hebung von Selbstbeschreibungsdaten zu sexuellem<br />

Erleben und Verhalten berücksichtigt werden müssen.<br />

So kann die Validität der Angaben beispielsweise er -<br />

heblich eingeschränkt sein, wenn aus Aversion bezüglich<br />

des erfragten Sachverhalts oder aus Selbstschutz<br />

die Befragten falsche oder beschönigte Auskünfte ge -<br />

ben. Auch können sich bei der Beantwortung gerade<br />

einer großen Anzahl von Fragen – zumal bei älteren<br />

Menschen – durch mangelnde Erinnerungsfähigkeit<br />

der Betroffenen bzw. ihrer Partner unabsichtlich fal -<br />

sche Antworten einschleichen. Schließlich ist immer<br />

auch mit Problemen im Verständnis der teilweise<br />

kom plexen Fragen zu rechnen. Damit ist zugleich der<br />

Vorteil von Interviewstudien beschrieben, bei denen<br />

durch die Gesprächssituation mehr Rückkopplungsund<br />

Kontrollmöglichkeiten bestehen. Fragebogen -<br />

studien garantieren wiederum Objektivität sowie die<br />

bestmögliche Form zur Wahrung der Anonymität,<br />

wel che bei sexualmedizinischen Fragestellungen die<br />

Akzeptanz und Teilnahmebereitschaft erhöhen kann<br />

(Clement 1990); zu fordern ist dann aber eine ausreichende<br />

Retest-Reliabilität, wie sie bei der hier vorgelegten<br />

Studie für das verwendete Testinstrument gegeben<br />

war.<br />

Die Rücklaufquote von 14% ist in Anbetracht des<br />

umfangreichen Fragebogens und der affektiven Auf -<br />

ge ladenheit des Themas als eher hoch anzusehen.<br />

Den noch wäre es von erheblichem Interesse, mehr<br />

über die ‚Non-Responder‘ zu erfahren, weil schwer<br />

vor stellbar erscheint, dass diese Betroffenen oder ihre<br />

Partner nicht mit krankheits- oder behandlungsbe -<br />

ding ten Auswirkungen von Multipler Sklerose auf ihre<br />

Sexualität und Partnerschaft zurecht kommen müssten.<br />

Nach den hier vorgestellten Studienergebnissen<br />

lei den beispielsweise die gesunden Frauen (i.e. Part -<br />

nerinnen MS-kranker Männer) sogar häufiger als die<br />

Erkrankten an Veränderungen ihrer Sexualität.<br />

Körperliche Symptomatik<br />

Fast die Hälfte der in diese Studie einbezogenen Be -<br />

troffenen (Männer: 47 %; Frauen: 36,5%) war stark in<br />

der Gehfähigkeit eingeschränkt (DSS 6-7), somit im<br />

Übergang von mittlerer zu schwerer körperlicher Be -<br />

ein trächtigung. Dies ist für viele Betroffene aufgrund<br />

der Angst, zukünftig auf einen Rollstuhl angewiesen<br />

zu sein, mit einer besonderen Stressbelastung verbunden<br />

(Stenager et al. 1991b).<br />

Trotz eines mittleren Durchschnittsalters (Männer:<br />

46,4 Jahre; Frauen: 43,3 Jahre) waren zur Zeit der Er -<br />

hebung weniger als ein Drittel der Betroffenen berufstätig,<br />

was möglicherweise auf ein Nachlassen der<br />

kog nitiven Leistungen zurückgeführt werden kann<br />

(Rao et al. 1991b).<br />

Die zunehmende körperliche Beeinträchtigung<br />

spie gelt sich neben der Verminderung der Erwerbs -<br />

tätigkeit auch in dem Fernbleiben vieler Betroffener<br />

(zwei Drittel) von öffentlichen und kulturellen Veran -<br />

staltungen wieder (vgl. Rao et al. 1991b, Stenager et<br />

al. 1991b).<br />

Einer der am häufigsten untersuchten Parameter<br />

im Zusammenhang mit sexuellen Funktionsstörungen<br />

ist der Grad der Behinderung (Tab. 2.). Üblicherweise<br />

wird zur Einschätzung der Behinderung die Einteilung<br />

nach Kurtzke verwendet. Die hier benutzte Einteilung<br />

orientiert sich ebenfalls an der Kurtzke-Skala, aus<br />

Praktikabilitätsgründen jedoch nur an dem wichtigen<br />

Parameter der Mobilität. Weitere Parameter wie etwa<br />

Pyramidenbahn- und Hirnstammfunktionen usw. fanden<br />

keine Berücksichtigung. Trotz eingeschränkter<br />

Aus sagekraft kann die Skalierung in diesem Rahmen<br />

als brauchbar bewertet werden. Fast die Hälfte der<br />

männ lichen Betroffenen, aber nur ein Drittel der Frau -<br />

en, fühlt sich durch Bewegungsstörungen, welche mit<br />

dem Grad der Behinderung zunehmen, in ihrer sexuellen<br />

Aktivität beeinträchtigt. Insgesamt spielen der<br />

Grad der Behinderung und die damit verbundenen Be -<br />

wegungsstörungen im Vergleich zu anderen Fakto ren<br />

eine eher wichtige Rolle hinsichtlich sexueller Dys -<br />

funktionen.<br />

Häufig untersucht wurde in bisherigen Studien der<br />

Zusammenhang von Blasenstörungen mit sexuellen<br />

Dysfunktionen. Ein vielfach beschriebener positiver<br />

Zusammenhang (Tab.2) wird dahingehend interpretiert,<br />

dass Teile des autonomen Nervensystems zumindest<br />

teilweise gemeinsam für Blasenfunktionen und<br />

sexuelle Funktionen verantwortlich sind (z.B. Bakke<br />

et al. 1996, Betts et al. 1994, Minderhoud et al. 1984).<br />

In den meisten Studien wird jedoch die Stärke des Zu -<br />

sammenhanges nicht spezifiziert oder es fehlen Aus -<br />

sagen über die Art der sexuellen Dysfunktionen, welche<br />

mit Blasenstörungen in Verbindung gebracht werden.<br />

In der hier vorgestellten Untersuchung korrelieren<br />

die Variablen „Harninkontinenz“ und „Harn drang/<br />

-verhalt“ positiv, wenn auch schwach (r=0,25-0,36)<br />

mit Erektionsstörungen bei Selbstbefriedigung und


16 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

Ge schlechtsverkehr bei (männlichen) Betroffenen mit<br />

und ohne Partner. Das bedeutet: Männer, die unter<br />

Harn inkontinenz bzw. Harndrang/-verhalt leiden, häufig<br />

auch unter generalisierter Erektionsstörung leiden,<br />

wobei dieser Zusammenhang ebenso für Orgasmus -<br />

stö rungen bei Selbstbefriedigung und Geschlechts -<br />

verkehr zutrifft, allerdings nur bei partnerschaftlich<br />

gebundenen Betroffenen. Der Zusammenhang zwischen<br />

Erektions- bzw. Orgasmusstörungen und Bla -<br />

senstörungen ist statistisch allerdings als gering zu be -<br />

werten. Auch die Beobachtung in dieser Studie, dass<br />

bei harninkontinenten Männern Appetenzstörungen,<br />

sexuelle Aversion, Erektions- und Orgasmusstörungen<br />

häufiger sind als in der Gesamtstichprobe, ist mit<br />

Vorbehalt zu betrachten: Die Teilstichprobe der harninkontinenten<br />

Männer ist durchschnittlich älter, hat<br />

eine längere Krankheitsdauer und ist nach der Kurtz -<br />

ke-Skala körperlich schwerer beeinträchtigt.<br />

Der Zusammenhang zwischen Blasen- und Mastdarmstörungen<br />

und Erektionsstörungen ist in der hier<br />

vorgestellten Untersuchung statistisch ebenfalls nicht<br />

signifikant geworden. Damit ist die von vielen Au -<br />

toren geäußerte Hypothese, gemeinsame Teile des au -<br />

tonomen Nervensystems seien für Blasen- und Mast -<br />

darmfunktionen sowie sexuelle Funktionen verant -<br />

wort lich, nicht widerlegt. Es ist eher von Erektionsstö -<br />

rungen im Zusammenhang von fortschreitender<br />

Krank heit, Alter und insbesondere, wie von Lottmann<br />

et al. (1998) beschrieben, von physiologischen Fak -<br />

toren wie genitalen Sensibilitätsstörungen und motorischer<br />

Beeinträchtigung auszugehen. Der geringe Zu -<br />

sammenhang von Erektionsstörungen und Blasen stö -<br />

rungen könnte auch damit zusammenhängen, dass ers -<br />

tens die penile Erektion von zentralen exzitatorischen<br />

Mechanismen abhängig ist, wogegen Blasenfunk -<br />

tionen von störungsanfälligeren zentralen inhibitorischen<br />

Mechanismen gesteuert werden und zweitens<br />

wird die Erektion insgesamt mehr vom autonomen<br />

Nervensystem beeinflusst, wogegen Blasenfunktionen<br />

eher vom somatosensorischen Nervensystem gesteuert<br />

werden, welches anfälliger für Läsionen im Rah -<br />

men der MS ist (Lottman et al. 1998).<br />

Die Hauptverlaufsformen der MS sind die schubförmig-remittierende<br />

und die chronisch-progrediente<br />

Verlaufsform. Betroffene Frauen mit chronisch-pro -<br />

gre dientem Verlauf leiden häufiger an sexuellen Funk -<br />

tionsstörungen (dabei im besonderen die 30-jährigen)<br />

als die betroffenen Frauen mit schubförmig-remittierendem<br />

Verlauf, wo sich keine wesentlichen Unter -<br />

schiede in den verschiedenen Altersklassen (30-, 40-<br />

und 50jährigen) zeigen. Die chronisch langsam progrediente<br />

Verlaufsform geht mit wesentlich stärkerer<br />

körperlicher Beeinträchtigung einher. In der hiesigen<br />

Untersuchung korrelieren darüber hinaus signifikant<br />

der Grad der körperlichen Beeinträchtigung sowie die<br />

Verlaufsform der MS mit allen sexuellen Funk -<br />

tionsstörungen (mit Ausnahme der Dyspareunie und<br />

des Vaginismus).<br />

Partnerschaft<br />

Partnerschaftliche Zufriedenheit wird im wesentlichen<br />

von Parametern wie Zärtlichkeit, Gemeinsamkeiten,<br />

Streitverhalten, Kommunikation und Beziehungskon -<br />

flikten beeinflusst und korreliert bei den männlichen<br />

MS-Betroffenen nicht mit anderen „äußeren“ Um -<br />

ständen wie Krankheitsdauer, Alter, Grad der Behin -<br />

derung, der finanziellen und beruflichen Situation. Ein<br />

erhöhtes Trennungsrisiko speziell für Betroffene in<br />

schlechter körperlicher Verfassung (Lilius et al. 1976)<br />

deutet sich ebenfalls nicht an. Vielmehr korreliert partnerschaftliche<br />

Zufriedenheit bei Betroffenen und Part -<br />

nerninnen positiv mit den Faktoren Zärtlichkeit und<br />

Gemeinsamkeiten (r=0,7; p=0,0001).<br />

Partnerschaftliche Zufriedenheit, gute partnerschaftliche<br />

Kommunikation und insbesondere die<br />

Part nerschaftsparameter Zärtlichkeit und Gemeinsam -<br />

keiten korrelieren bei partnerschaftlich gebundenen<br />

Be troffenen mit sexueller Zufriedenheit, Häufigkeit<br />

sexueller Aktivität sowie sexueller Appetenz und<br />

Aver sion (r= 0,26-0,64), jedoch nicht oder sehr gering<br />

mit Erektionsstörungen.<br />

Viele der MS-betroffenen Frauen vermeiden, über<br />

eingeschränktes sexuelles Empfinden oder sexuelle<br />

Probleme zu sprechen und überspielen dem Partner<br />

gegenüber ihre Probleme. Sensibilitätsstörungen im<br />

Genitalbereich, die zu veränderter Empfindungs fä hig -<br />

keit führen können, woraufhin Berührungsreize unterschiedlich<br />

aufgenommen und auch teilweise als unangenehm<br />

empfunden werden, können zum sexuellen<br />

Rückzug der betroffenen Frauen führen und/oder sie<br />

können eine Abneigung gegen sexuelle Aktivitäten<br />

entwickeln. In Unkenntnis der Problematik kann dieses<br />

Verhalten vom Partner als Zurückweisung oder<br />

Abnahme der gegenseitigen Zuneigung erlebt werden.<br />

Zusätzlich kann auf seiten der Partner die sexuelle<br />

Attraktivität der erkrankten Frau aufgrund körperlicher<br />

Symptome nachgelassen haben. Oft können die<br />

Partner auf die veränderten sexuellen Bedürfnisse<br />

ihrer Partnerin nicht eingehen, weil sie nicht ausreichend<br />

über die Erkrankung informiert bzw. aufgeklärt<br />

sind oder Gespräche mit der Partnerin über sexuelle<br />

Problem scheuen. Wie sich in der hiesigen Studie<br />

gezeigt hat, treten in zufriedenen Partnerschaften seltener<br />

sexuell unzufriedene Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen<br />

auf, und bei diesen Paaren ist ein


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 17<br />

Gespräch über sexuelle Themen eher möglich als in<br />

unglücklichen Partnerschaften.<br />

Sexuelle Funktionsstörungen<br />

Männer: Die Ergebnisse der Studie zeigen eine deutliche<br />

Zunahme aller sexuellen Dysfunktionen nicht<br />

nur bei den MS-Betroffenen, sondern auch bei den<br />

Partnerinnen. Dies kann als Hinweis darauf verstanden<br />

werden, dass es sich um sexuelle Dysfunktionen<br />

handelt, die im Verlauf der Erkrankung entstanden<br />

sind und nicht schon immer vorgelegen haben. Vor<br />

Auftreten der Erstsymptome liegen alle sexuellen<br />

Dys funktionen jeweils unter 4% bei den Betroffenen<br />

und unter 7,3% bei den Partnerinnen. Insgesamt gibt<br />

ein kleinerer Teil der Betroffenen (11%) als der Par -<br />

tnerinnen (13%) an, bereits vor der Erkrankung sexuelle<br />

Probleme gehabt zu haben. Die hohe Prävalenz<br />

sexueller Dysfunktionen während der letzten 12 Mo -<br />

na te spiegelt sich auch in der Einschätzung der Be -<br />

troffenen (71,4 %) und der Partnerinnen (67%) wider,<br />

welche meinen, die Multiple Sklerose übe einen negativen<br />

Einfluss auf ihre Sexualität aus. Bei den MSbetroffenen<br />

Männern stehen Erektions störungen beim<br />

Geschlechtsverkehr (47%) und der Selbstbefriedigung<br />

(52%) im Vordergrund, gefolgt von Orgasmus stö -<br />

rungen. Dies entspricht den Er gebnissen der meisten<br />

früheren Studien (z.B. McCabe et al. 1996, Lott man et<br />

al. 1998). Dazu muss betont werden, dass diese Häu -<br />

figkeit sexueller Dys funk tionen deutlich über derjenigen<br />

der männlichen Allge meinbevölkerung liegt (in<br />

der Alters gruppe von 30-49 Jahren haben bei spiels -<br />

weise „nur“ ca 10% der Männer Erektions stö rungen<br />

und ca. 20% der Frauen Orgas mus störungen [vgl.<br />

Laumann et al. 1994]).<br />

Primär werden organische Faktoren, wie z.B.<br />

demy elinisierte Herde im Rückenmark und Gehirn als<br />

Ursache von insbesondere Erektionsstörungen, aber<br />

auch Orgas musstörungen vermutet. Durch die Krank -<br />

heit bedingte psychische und soziale Probleme werden<br />

von vielen Autoren als zusätzliche Ursache diskutiert<br />

(vgl. Tab. 3). Weiterhin kommt der Qualität der Part -<br />

ner schaft eine besondere Bedeutung zu. Es wird eine<br />

ge ringe Kommu nikation zwischen den Partnern beobachtet<br />

(z.B. De necke 1986, McCabe et al. 1996) und<br />

Sexualtherapie zur Verbes serung der Lebensqualität<br />

empfohlen (z.B. Lott man et al. 1998, Schover et al.<br />

1988). Körperliche Symp tome als Ursache der Erek -<br />

tionsstörungen deuten sich auch in dieser Studie an.<br />

Erektionsstörungen bei Selbst befriedigung korrelieren<br />

bei allen Betroffenen stark mit Erektions störungen bei<br />

Geschlechtsverkehr (r>0,8; p=0,0001). Dies verdeutlicht<br />

die eher generalisierte Na tur der Erektions -<br />

störungen und unterstreicht organische und physiologische<br />

Faktoren als Ursache. Auch nimmt die Häufig -<br />

keit sowohl von Geschlechtsverkehr als auch Selbst -<br />

befriedigung deutlich ab. Ein Zeichen dafür, dass bei<br />

verminderter sexueller Aktivität mit dem Partner die<br />

Häufigkeit von Selbstbefriedigung nicht kompensatorisch<br />

zunimmt.<br />

Frauen: Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass bereits<br />

vor der Erkrankung sowohl bei den später betroffenen<br />

Frauen und auch deren Partnern sexuelle Funk -<br />

tionsstörungen und/oder partnerschaftliche Probleme<br />

vorhanden gewesen sind. Insbesondere bei den betroffenen<br />

Frauen aber auch bei deren Partnern kommt es<br />

zu einer starken Zunahme sexueller Funktions stö -<br />

rungen im Verlauf der Multiplen Sklerose. Wäh rend<br />

des letzten Jahres traten sexuelle Funktions störungen<br />

in der Gesamtstichprobe bei den betroffenen Frauene<br />

zwischen 5-30% (vor Erkrankung 2-10%) und bei den<br />

Partnern zwischen 4-17% (vor der Erkrankung 0-3%)<br />

auf. In den bisherigen Studien lagen die Angaben bei<br />

betroffenen Frauen zwischen 5-52% (Lilius et al.<br />

1976, Lundberg 1980, Minder houd et al. 1984, Va -<br />

lleroy et al. 1984, Szasz et al. 1984, Stenager et al.<br />

1992, Hulter et al 1995, Mattson et al. 1995, Stenager<br />

et al. 1996). Dabei wurden am häufigsten Appe tenz -<br />

störungen, sexuelle Aversion, Erre gungs- und Or gas -<br />

musstörungen beim Geschlechts verkehr und Ent span -<br />

nungsstörungen genannt. Im besonderen Maße be trof -<br />

fen sind Frauen, die unter Harn inkontinenz leiden<br />

(auf fallend war allerdings auch die hohe Anzahl fehlender<br />

Angaben zu den entsprechenden Fragen). Im<br />

Gegen satz zu Lundberg (1995), wo fast 90% der be -<br />

troffenen Frauen Blasen störungen angaben, liegt der<br />

Wert in der hiesigen Studie deutlich niedriger (20%).<br />

Besonders hervorzuheben und bisher in der <strong>Literatur</strong><br />

auch noch nicht beschrieben ist der Befund, dass 26%<br />

der partnerschaftlich gebundenen MS-be troffenen<br />

Männer und 22% ihrer Partnerinnen sowie 21% der<br />

MS-betroffenen Frauen und 13% ihrer Part ner eine<br />

„sexuelle Aver sion“ angaben d.h., eine starke Abnei -<br />

gung gegen se xu elle In ter aktion, die auf massive und<br />

mutmaßlich auch „pathogen“ wirkende Vor behalte ge -<br />

gen über den Partner schlie ßen lässt. Es ist denkbar,<br />

dass diese sich auch aus anderen (nicht-sexuellen)<br />

Quel len speisen dürften (z.B. die unliebsame Übernahme<br />

pflegerischer Tätigkeiten).<br />

Medikamente<br />

Männer: In dieser Studie beobachtet die Mehrheit der<br />

MS-betroffenen Männer keine Beeinflussung ihrer Sexualität<br />

im Falle einer Medikation mit Gluko korti -


18 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />

koiden, Interferonen, Immunsuppressiva oder Spas -<br />

mo lytika. Im Falle einer Beeinflussung berichten die<br />

Betroffenen überwiegend eine Verschlechterung sexueller<br />

Appetenz, Erektions- und Orgasmusfähigkeit<br />

sowie genitaler Sensibilität. Am häufigsten wird eine<br />

Beeinflussung der Sexualität unter einer Medikation<br />

mit Glukokortikoiden beobachtet. Die von Mattson et<br />

al. (1995) beschriebene Verbesserung allgemeiner se -<br />

xu eller Funktionen unter einer Behandlung mit Gluko -<br />

kortikoiden kann hier nicht bestätigt werden. Un -<br />

geklärt bleibt der Widerspruch, dass die Beeinflussung<br />

sexueller Appetenz unter Glukokortikoiden von den<br />

Betroffenen eher als negativ bewertet wird, wogegen<br />

eine Vergleichsgruppe ohne Behandlung mit diesem<br />

Medikament eine niedrigere (p=0,014) sexuelle Appe -<br />

tenz zeigt.<br />

Frauen: Zwei Drittel der befragten Frauen nehmen<br />

Medikamente ein. Die körperlichen Symptome der<br />

Multiplen Sklerose werden durch die Medikamente<br />

verbessert. Bei den Glukokortikoiden kommt es je -<br />

doch zusätzlich zu einer dysphorisierenden Wirkung<br />

mit Stimmungsschwankungen, Depressionen und in -<br />

nerer Unruhe, und die betroffenen Frauen geben eine<br />

negative Beeinflussung der sexuellen Probleme, insbesondere<br />

der sexuellen Appetenz, der sexuellen Erre -<br />

gung und des Orgasmusempfindens an. Hier er gibt<br />

sich ebenfalls der bereits dargestellte Wider spruch zur<br />

Studie von Mattson et al. (1995), wonach die Behand -<br />

lung mit Kortikoiden zu einer Verbesse rung der sexuellen<br />

Funktionen bei vielen Betroffenen führte (hier<br />

muss sicherlich die geringe Probandenzahl berücksichtigt<br />

werden). Augenscheinlich ist eine frühzeitige<br />

Information über mögliche Auswirkungen der Medi -<br />

kamenteneinnahme auf die Sexualität notwendig und<br />

gegebenenfalls ein Wechsel in der medikamentösen<br />

Behandlung angebracht.<br />

Informationsstand<br />

Wie die hier vorgelegten Ergebnisse zeigen, fühlen<br />

sich die Betroffenen über Auswirkungen der MS auf<br />

die Sexualität unzureichend informiert und wünschen<br />

sich mehr Hilfestellungen – einschließlich der Einbe -<br />

ziehung des Partners in die Beratung – durch die sie<br />

betreuenden Ärzte/innen.<br />

Die Hauptschwierigkeit für die MS-Betroffenen,<br />

die mit ihrer Sexualität und/oder Partnerschaft unzufrieden<br />

sind, besteht offensichtlich darin, dass sie mit<br />

Verän-derungen ihrer gewohnten Sexualität konfrontiert<br />

werden, zunächst ratlos reagieren und nicht wissen,<br />

ob es Hilfestellungen gibt und an wen sie sich<br />

dies bezüglich am besten wenden könnten. Auch fällt<br />

es – trotz der Liberalisierungstendenzen in unserer<br />

Ge sellschaft – weiterhin den meisten Menschen<br />

schwer, eine eigene sexuelle und/oder partnerschaftliche<br />

Verunsicherung selbst gegenüber dem Partner –<br />

geschweige denn gegenüber anderen Menschen – zum<br />

Thema zu machen. Unternimmt ein Patient dennoch<br />

den Versuch, das für ihn belastende Problem anzusprechen,<br />

stößt er meist auf jene Unsicherheit, die er<br />

von sich selbst schon kennt – auch bei den betreuenden<br />

Ärzten, zumal diese in ihrer Aus- und Weiter -<br />

bildung in der Regel nicht auf derartige Gespräche<br />

vorbereitet sind (allerdings gibt es seit 1997 für<br />

Allgemein- und Fachärzte auch ohne psychotherapeutische<br />

Spezialisierung curricular fundierte sexualmedizinische<br />

Fortbildungen – vgl. Vogt et al. 1995 sowie<br />

Beier 1999 –, welche zur eigenständigen Diagnostik<br />

und Therapie von sexuellen Störungen qualifizieren).<br />

Dabei wäre es wichtig, die Patienten zu ermutigen, die<br />

mit der Erkrankung einhergehenden Veränderungen<br />

hinsichtlich der Partnerschaft und der Sexualität wahrzunehmen<br />

und diese gegenüber beruflichen Helfern<br />

offen anzusprechen. Diesem Zweck soll auch die Pub -<br />

likation der wichtigsten Ergebnisse der hier vorgestellten<br />

Studie in einem Leitfaden für Betroffene und<br />

ihre Partner (Beier 2002) dienen.<br />

Therapeutische Möglichkeiten<br />

Die hier vorgelegten Ergebnisse einer großen Erhe -<br />

bung von MS-betroffenen Männern und Frauen und<br />

ihren Partnern hat im Sinne einer Bestandsaufnahme<br />

deutlich machen können, dass viele Betroffene insbesondere<br />

die Symptome der Erkrankung und teilweise<br />

auch Medikamente mit Veränderungen ihrer Sexualität<br />

in Zusammenhang bringen. Sie haben ferner gezeigt,<br />

dass die partnerschaftliche Zufriedenheit nicht nur die<br />

Verarbeitung ggf. auftretender sexueller Beeinträchti -<br />

gungen positiv beeinflusst, sondern dass die Betrof -<br />

fenen selbst eine gute partnerschaftliche Beziehung<br />

als gesundheitserhaltenden bzw. -fördernden Schutz -<br />

faktor ansehen. Darum sollte die Nutzung und ggf. Op -<br />

ti mierung des Schutzfaktors Partnerschaft auch grö -<br />

ßere Aufmerksamkeit beanspruchen und es bei der<br />

Therapie von sexuellen Funktionsstörungen folglich<br />

nicht um die reine Wiederherstellung von Funktionen<br />

gehen. Darüber hinaus aber ist bisher viel zu wenig<br />

beachtet worden, dass die sexuellen Beeinträchti-gungen<br />

selbst Anzeichen des Krankheitsgeschehens sein<br />

können und darum einer sorgfältigen Beobachtung bedürfen,<br />

weil sich daraus nicht nur Konsequenzen für<br />

die Behandlung der MS ergeben, sondern auch psychosoziale<br />

Verschlechterungen mitberücksichtigt werden<br />

müssen, die sich wiederum negativ auf das<br />

Krankheitsgeschehen und die Sexualfunktionen aus-


Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 19<br />

wirken können. Ganz falsch wäre es also die sexuellen<br />

Symptome zu übergehen und ihnen keine Beachtung<br />

zu schenken.<br />

Bei Unzufriedenheit über die sexuelle und/oder<br />

die partnerschaftliche Situation sind – unter Einbe -<br />

ziehung des Partners/der Partnerin folgende Fragen zu<br />

klären:<br />

! Gibt es einen Zusammenhang mit der Krankheit<br />

oder bestanden die Probleme bereits vor der Diagnosestellung?<br />

! Gibt es einen Zusammenhang mit den spezifischen<br />

MS-Symptomen?<br />

! Gibt es einen Zusammenhang mit den MS-bezogen<br />

oder anderweitig verordneten Medikamenten?<br />

! Gibt es einen Zusammenhang mit sexuellen<br />

Schwierigkeiten aufgrund von unterschiedlichen<br />

Vorstellungen und Erwartungen in der Partner -<br />

schaft?<br />

Die Ergebnisse der Befragung von MS-Betroffenen<br />

machen deutlich, dass sich therapeutische Maß nah -<br />

men dann vor allem auf folgende vier Aspekte beziehen<br />

können:<br />

1. Die Beeinflussung der speziellen Symptome der<br />

MS, wenn diese sich negativ auf das sexuelle Erleben<br />

und Verhalten auswirken.<br />

2. Eine Veränderung der aktuellen Medikation, sofern<br />

vermutet wird, dass diese sich negativ auf das sexuelle<br />

Erleben und Verhalten auswirkt.<br />

3. Einflussnahme auf die partnerschaftliche Bezie -<br />

hung, sofern zwischen den Partnern unterschiedliche –<br />

und vor allem unausgesprochene – Vorstellungen und<br />

Erwartungen bestehen und<br />

4. Verbesserung der sexuellen Funktion(en) durch die<br />

Anwendung von Medikamenten oder Hilfsmitteln.<br />

Erste klinische Studien belegen, dass Sildenafil die<br />

Erektionsfähigkeit bei MS-betroffenen Männern deutlich<br />

verbessert. In einer randomisierten, plazebokontrollierten<br />

Doppelblindstudie konnten Fowler und<br />

Mitarbeiter (1999) zeigen, dass 89% der 103 doppelblind<br />

mit Sildenafil behandelten Patienten, aber nur<br />

27% der Kontrollgruppe über eine verbesserte Erek -<br />

tionsqualität berichteten. In einer anderen Publikation<br />

dieser Arbeitsgruppe (vgl Miller et al. 1999) wurde<br />

allerdings deutlich, dass die partnerschaftliche Be -<br />

ziehung sich nur bei 11,2% Verumgruppe und 2,3%<br />

der Placebogruppe verbesserte – wobei es sich jedoch<br />

um Angaben handelte, die lediglich von den MS-be -<br />

troffenen Männern stammten – die Partnerinnen also<br />

nicht einbezogen worden waren. Dies belegt, wie<br />

wirk lichkeitsfremd es ist, von einer intakten Sexual -<br />

funktion (bzw. ihrer Wiederherstellung) auf eine zu -<br />

frie den stellende partnerschaftliche Beziehung schließen<br />

zu wollen.<br />

Daraus folgt, dass für die Klärung des sexuellen<br />

„Ist-“ und „Soll-Zustandes“ immer die Einbeziehung<br />

des Part ners/der Partnerin erforderlich ist, weil sonst<br />

keine Möglichkeit besteht, dessen Vorstellungen und<br />

Er war tungen kennenzulernen. Es ist dann möglich, im<br />

Rah men von Beratungsgesprächen nicht nur Informa -<br />

tionen zu vermitteln, sondern auch Unbekanntes zu<br />

erfahren oder Fehlvorstellungen über den Partner oder<br />

falsche Erwartungshaltungen an den Partner zu korrigieren.<br />

Es können so gezielte Anregungen zur Verbes -<br />

serung der sexuellen und/oder partnerschaftlichen<br />

Situ ation gegeben werden. Dafür sind sowohl auf<br />

Seiten des Beraters Kenntnisse über neurologische<br />

Zusammenhänge erforderlich als auch eine spezielle<br />

sexualmedizinische Kompetenz, so dass die verschiedenen<br />

Behandlungsmöglichkeiten mit dem Paar ge -<br />

meinsam durchgesprochen und auch partnerschaftliche<br />

Konflikte geklärt werden können.<br />

Haben das Gespräch und die Abklärung der sexuellen<br />

Symptome ergeben, dass vermutlich weder MSspezifische<br />

Symptome noch Medikamente für die<br />

Symptomatik verantwortlich sind und Einigkeit zwischen<br />

den Partnern besteht, dass eine Veränderung der<br />

sexuellen Beziehung für beide wünschenswert ist, gibt<br />

es eine Reihe von therapeutischen Möglichkeiten, die<br />

eine Verbesserung der sexuellen Funktion bewirken<br />

können (vgl. Beier et al. 2001).<br />

Wichtig ist dabei vor allem eine pragmatische Vorgehensweise,<br />

die an den Bedürfnissen und Möglich -<br />

keiten des jeweiligen Betroffenen und seines Partners<br />

orientiert ist. Dabei gilt insbesondere, dass ein Rück -<br />

zug aus sexueller Aktivität die schlechteste Lösungs -<br />

variante darstellt, sondern es im Gegenteil heißen sollte:<br />

Verstärkung aller positiv erlebbaren noch möglichen<br />

bzw. durch Übung auch verbesserbaren sexuellen<br />

Funktion entweder für sich selbst (Selbst be frie -<br />

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nerin.


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H.L.; Hafler, D.A. (1994): Increased frequency of interleukin-2-responsive<br />

T-cells specific for myelin basic protein<br />

in peripheral blood and cerebrospinal fluid of patients<br />

with multiple sclerosis. J Exp Med, 179: 973-984.<br />

Zipp, F.; Sommer, N.; Rösener, M.; Dichgans, J.; Martin, R.<br />

(1997): Multiple Sklerose: Neue therapeutische Strategien<br />

im experimentellen Stadium. Nervenarzt 68: 94-101.<br />

Anschriften der Autoren<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, David Goecker, Silke Babinsky, Dipl.-Psych. Christoph J. Ahlers,<br />

Institut für Sexual wissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität<br />

zu Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, e-mail: klaus.beier@charite.de


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Neubewertung der weiblichen sexuellen<br />

Reaktion<br />

Rosemary Basson<br />

Re-appraisal of womens’s sex<br />

response<br />

Abstract<br />

Acceptance of sexual motivation over and beyond any<br />

intrinsic hunger for a sexual experience per se leads to a<br />

reconceptualization of female sex response. Women have<br />

a dormant potential to access sexual desire during an<br />

experience that began sexually neutral. Their willingness<br />

to find and be receptive to stimuli stems largely from the<br />

wish to be emotionally closer to the partner and communicate<br />

in a sexual way. Despite the presence of sexual stimuli,<br />

a number of psychological and biological reasons<br />

can prelude their effectiveness. If arousal is accessed, providing<br />

it is enjoyed and the stimulation can continue, a<br />

hunger for sexual sensations per se, develops. Any problematic<br />

outcome unfortunately lessons any motivation to<br />

repeat the experience of deliberately finding a way to<br />

move from neutrality to one of arousal. Use of this alternative<br />

model clarifies the common comorbidity of lowerde<br />

sexual desire with other forms of female sexual dysfunction.<br />

Keywords: Sexual motivation, female sex response,<br />

female sexual dysfunktions<br />

Zusammenfassung<br />

Die Annahme einer sexuellen Motivation jenseits und<br />

über ein angeborenes Verlangen nach sexueller Erfahrung<br />

per se führt zu einer Neukonzeptualisierung der weiblichen<br />

sexuellen Re aktionen. Frauen haben ein latentes Po -<br />

tential, sexuelles Verlangen während einer Erfahrung, die<br />

mit sexueller Neu tralität beginnt, zu entwickeln. Ihre Be -<br />

reit schaft, sexuelle Reize zu suchen und darauf zu reagieren,<br />

stammt weitgehend vom Wunsch her, dem Partner<br />

emotional näher zu sein und auf sexuelle Weise mit ihm<br />

zu kommunizieren. Auch wenn sexuelle Stimuli vorhanden<br />

sind, kann eine Anzahl psychologischer und biologischer<br />

Gründe ihre Wirksamkeit verhindern. Wenn Erre -<br />

gung eintritt – vorausgesetzt sie wird genossen und die<br />

Stimulierung kann andauern –, dann entwickelt sich ein<br />

Ver langen nach sexuellen Empfindungen per se. Jede problematische<br />

Folge verringert bedauerlicherweise jegliche<br />

Motivation, die Suche nach einem Weg, um vom Zustand<br />

der Neutralität in einen der Erregung zu gelangen, ab -<br />

sichtlich zu wiederholen. Der Einsatz dieses alternativen<br />

Modells erklärt auch die häufige Komorbidität zwischen<br />

erniedrigtem sexuellen Verlangen und anderen Formen<br />

weib licher sexueller Dysfunktionen.<br />

Schlüsselworte: Sexuelle Motivation, weiblicher sexueller<br />

Re ak tionszyklus, weibliche sexuelle Dysfunktion<br />

Trotz der vielen gedankenreichen Überlegungen in der<br />

<strong>Literatur</strong> (Tiefer 1991, Levine 1988, Pfaus 1999, Re -<br />

gan & Berscheid 1996, Andersen Cyranowski 1995,<br />

Singer & Toates 1987) zur Frage, warum Frauen und<br />

Männer miteinander überhaupt in sexuellen Kontakt<br />

treten wollen oder dem zustimmen, bleibt das Modell<br />

der sexuellen Reaktion, wie es den Fachleuten im Ge -<br />

sundheitswesen oder den Sexualforschern vertraut ist,<br />

dasjenige von Masters, Johnson und Kaplan. Ausge -<br />

hend vom sexuellen Verlangen – das offensichtlich in<br />

beiden Partnern vorhanden ist –, fokussiert dieses Mo -<br />

dell auf einem phasenweisen Ablauf der genitalen Re -<br />

ak tionen. Die lineare Ab folge von sexuellem Verlan -<br />

gen, Erregung, Plateau-, Or gas mus- und Entspan -<br />

nungs phase erlaubte die Benen nung von Dysfunk tio -<br />

nen jeder dieser aufeinander folgenden Komponen ten.<br />

Allerdings wurde auch eine andere Dysfunktion offen-<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 23 – 29 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


24 R. Basson<br />

Abb. 1: Sexueller Reaktionszyklus nach Masters, Johnson & Kaplan (traditionelles<br />

Modell)<br />

Verlangen<br />

Plateau<br />

Erregung<br />

Orgasmus<br />

Zeit<br />

Entspannung<br />

sichtlich – das Fehlen eines aktiven Wunsches nach<br />

sexuellen Erfahrungen (s. Abb. 1).<br />

Dieses Modell stellt für Frauen wie für Männer<br />

eine starke Verkürzung dar. Wir haben vielerlei Grün -<br />

de, uns auf Sexualität einzulassen. Oft haben einer<br />

oder beide Part ner nicht von Anfang an Verlangen<br />

nach oder sind „hungrig“ nach Sex per se, sondern sie<br />

verspüren einen Wunsch nach Intimität, der auf sexuelle<br />

Weise ausgedrückt werden kann. Besonders für<br />

Frau en können die genitalen Funktionen gelegentlich<br />

oder sogar oftmals relativ unwichtig sein. Im folgenden<br />

wird ein alternatives Modell der weiblichen sexuellen<br />

Reaktion beschrieben, welches aber in einigen<br />

Punk ten auch für die sexuelle Reaktion des Mannes<br />

von großer Bedeutung ist.<br />

Warum haben Frauen Lust auf<br />

Sexualität?<br />

Frauen sprechen von vielen Gründen, Lust auf Sexu -<br />

alität zu haben, die über spezifisch-sexuelles Ver lan -<br />

gen oder den „Geschlechtstrieb“ hinausgehen (Tie fer<br />

1991, Hat field & Rapson 1993, Regan & Berscheid<br />

1996). Sie sprechen von einem Bedürfnis, sich dem<br />

Part ner durch gegenseitige Berührungen und Lieb -<br />

kosungen mit allen Sinnen emo tional nahe zu fühlen.<br />

Es ist ein nonverbaler Weg, Zuneigung zu zeigen oder<br />

zu vermitteln, dass man den Partner vermisst hat oder<br />

zu bestätigen, dass ein Streit vorüber ist, oder einfach<br />

der Wunsch, dem Partner Liebe zu schenken. Zusätz -<br />

liche Gründe sind, sich angezogen und zugleich anziehend<br />

zu fühlen. Ich meine, dass Levin’s „Sexuelle Mo -<br />

tivation“, die vom Hunger nach Sexualität unter schei -<br />

det (und ebenso von einem bewussten Wunsch nach<br />

sexueller Betätigung, Levine 1988) bei Frauen weitgehend<br />

von ihren Bedürfnissen nach Intimität herrührt.<br />

Meine klinische Erfahrung und die Berichte in der<br />

<strong>Literatur</strong> unterstützen dieses Konzept, dass nämlich<br />

für Frauen die motivierende Kraft typischerweise<br />

mehr ist, als ein angeborenes Verlangen nach Sexu -<br />

alität. Zudem sind die traditionellen „Marker“ angeborener<br />

oder „spontanter“ sexueller Bedürftigkeit für<br />

Frau en nicht besonders bedeutsam. Es konnte nicht<br />

nachgewiesen werden, dass die Zahl der sexuellen<br />

Phantasien mit der Stärke der sexuellen Appetenz<br />

einer Frau korreliert. Wir wissen, dass autoerotisches<br />

Verhalten wie Phantasien und Selbst stimulierung bei<br />

gesunden Frauen nicht nur auf einem niederen Niveau<br />

stattfinden, sondern auch extrem variabel in ihrer<br />

Häufigkeit sind (Laumann et al. 1999). Eben so berichten<br />

Frauen, dass sie absichtlich phantasieren, um er -<br />

regt zu werden oder zum Orgasmus zu kommen<br />

(Lunde et al. 1991). Somit könnten Frauen mit starkem<br />

sexuellen Verlangen tatsächlich Phantasien seltener<br />

einsetzen. Nur wenige oder gar keine sexuellen<br />

Gedanken scheinen bei sexuell zufriedenen Frauen das<br />

Übliche zu sein. In einer Studie von Cawood und Ban -<br />

croft (1996) an 140 über 40 Jahre alten Frauen gaben<br />

fast 50% der prämenopausalen Frauen an, einmal im<br />

Monat, seltener oder nie an Sex zu denken. Die Zahlen<br />

für die peri- und postmenopausale Gruppe mit ähnlich<br />

geringer Häufigkeit von Gedanken an Sexualität be -<br />

trugen 56% respektive 77%.<br />

Beginnen sexuelle Erlebnisse von<br />

Frauen mit bewusstem Verlangen<br />

nach Sexualität?<br />

Obwohl Frauen sicherlich offenbar „spontanes“ sexuelles<br />

Verlangen empfinden, scheint dies bei sexuell<br />

gesunden Frauen in Stichprobenuntersuchungen selten<br />

zu sein bzw. gänzlich zu fehlen wie z. B. bei 32% in<br />

einer dänischen Studie (Garde & Lunde 1980). Es<br />

scheint, dass es für sehr viele Frauen in langfristigen<br />

mo nogamen Part nerschaften viele (und für einige<br />

Frauen alle) sexuellen Erlebnisse von einem Zustand<br />

der sexuellen Neu tralität ausgehen. Ihre Gründe für<br />

die Bereitschaft, von diesem Zustand der Neutralität<br />

aus weiterzugehen, schließen alle die vorher aufgeführten<br />

Motivationsfak toren ein.<br />

Auf welchem Weg gelangen<br />

Frauen zu sexueller Erregung?<br />

Sexuelle Reize in einem entsprechenden intimen<br />

Kontext scheinen für die sexuelle Antwort einer Frau<br />

wesentlich zu sein. Das ist nicht so klar im traditionel-


Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion 25<br />

len Modell, aber ist auch schon früher erkannt worden.<br />

Kaplan beschrieb ein Verlangen als Antwort auf äu -<br />

ßere Auslöser und zugleich einen inneren „biologischen“<br />

Trieb (Kaplan 1979). Singer und Toates verwiesen<br />

auf äußere Stimuli, die mit dem inneren<br />

Zustand interagieren können (Singer & Toates 1987).<br />

Sie erkannten den inneren Zustand je doch nicht als<br />

Bedürfnis nach Intimität, sondern eher als einen<br />

Zustand sexueller Entbehrung.<br />

Was bedeutet sexuelle Erregung<br />

für Frauen?<br />

Meistens beziehen sich Frauen auf ihre mentale sexuelle<br />

Erregung, die gut damit übereinstimmt, wie aufregend<br />

sie den Stimulus finden (Laan et al. 1995), die<br />

aber nur schlecht mit objektiven Messungen des er -<br />

höhten genitalen Blutzustromes als Antwort auf den<br />

Stimulus korrelieren. Diese Desynchronisierung zwischen<br />

der subjektiven Erfahrung und der objektivierbaren<br />

Blutanfüllung im erektilen Gewebe wurde in<br />

vielen Gruppen von Frauen bestätigt (Laan et al. 1995,<br />

Wouda et al. 1998, Meston & Gorzalka 1995, Meston<br />

& Heiman 1998, Morokoff & Heiman 1980). Vor -<br />

läufige Studienergebnisse legen nahe, dass auf we -<br />

sentlich höheren Niveaus der Erregung, wie sie im<br />

Laboratorium nur schwer zu erreichen sind, eine bessere<br />

Korrelation vorliegt (Everaerd et al. 2000). Der<br />

klinisch relevante Punkt liegt darin, dass Patientinnen,<br />

die über ein niederiges Erregungsniveau berichten, in<br />

der Regel nicht die genitale Durchblutungssteigerung<br />

damit verbinden. Die meisten Frauen können nämlich<br />

den Grad der Durchblutung innerhalb ihres erektilen<br />

Gewebes in der Vulva nicht genau einschätzen. Em -<br />

pfin dungen von Pochen oder Pulsieren können trotz<br />

un gestörter sexueller Erfahrungen sehr zart, kurz,<br />

unbeständig sein oder gänzlich fehlen. Üblicherweise<br />

sind Frauen sich nur eines kleinen Teiles ihres erektilen<br />

Gewebes in der Vulva bewusst (nämlich an Schaft<br />

und Eichel der Klitoris). Sie nehmen die ausgedehnten<br />

bulbären und periurethralen Strukturen nicht wahr.<br />

Allerdings kann das Anschwellen des erektilen Ge -<br />

webes indirekt bewusst werden, wenn diese Bereiche<br />

direkt massiert werden, was zunehmend lustvolle se -<br />

xuelle Sensationen bewirken und entsprechend den<br />

Wunsch nach Wiederholung hervorrufen kann. Wir<br />

müs sen die Frauen über diese besondere Reak tions -<br />

fähigkeit befragen, eher als oder zumindest zusätzlich<br />

zur üblichen Frage nach dem Feuchtwerden der Schei -<br />

de. Nach heutigem Wissen haben die Labo rato riums -<br />

befunde von Studien, die mittels vaginaler Plethys -<br />

mographie den genitalen Blutfluss untersucht haben,<br />

bestätigt, dass die Mehrzahl der Frauen, die über Erre -<br />

gungsstörungen klagen, trotz physikalisch objektiv<br />

vor handener Kongestion (Blutanfüllung) als Antwort<br />

auf erotische Stimuli über keine lustvollen genitalen<br />

Em pfin dungen berichten. Zusätzliche manuelle Sti -<br />

mu lation hat sich im Laboratorium als nicht durchfürbar<br />

erwiesen, da sonst der Plethysmograph unverlässlich<br />

misst. Aber die Alltagserfahrung dieser Frauen ist,<br />

dass das Massieren der (sich wahrscheinlich mit Blut<br />

füllenden) Genitalien nicht zu erhöhter sexueller Lust<br />

und Erregung führt. Ihr Problem liegt in einer Ent -<br />

koppelung von Seele und Kör per. Das hat natürlich<br />

gro ße Bedeutung für vasokongestive Medikationen,<br />

die möglicherweise die genitale Durchblutung fördern<br />

soll – diese Therapie wird denjenigen Frauen nicht<br />

helfen, bei denen ein Anschwellen der Genitalien<br />

nicht das Problem ist. Man müsste Unter gruppen<br />

weiblicher sexueller Erregungsstörungen differenzieren,<br />

um Frauen ohne genitales Anschwellen von solchen<br />

unterscheiden zu können, die eine genitale Reak -<br />

tion zeigen, welche aber ohne jede Verbindung mit<br />

subjektiv lustvoller Erregung ist (Basson 1983).<br />

Tab. 1: Subtypen sexueller Erregungsstörungen bei Frauen<br />

generalisierte sexuelle<br />

genitale<br />

fehlende Errgegung<br />

unangenehme<br />

lustlose Erregung<br />

Erregungstörung<br />

Erregungstörung<br />

Erregung<br />

mentale Erregung<br />

–<br />

+<br />

–<br />

–<br />

–<br />

genitale<br />

Vasokongestion<br />

–<br />

–<br />

+<br />

+<br />

+<br />

Indikation für vasoaktive<br />

nicht primäre<br />

ja<br />

nein<br />

nein<br />

nein<br />

Substanzen<br />

Therapieoption


26 R. Basson<br />

Warum ist es für bestimmte<br />

Frauen schwierig, erregt zu werden?<br />

Viele psychologische Faktoren können die Verarbei -<br />

tung der Reize im limbischen und paralimbischen Sys -<br />

tem beeinflussen, so dass die Frau erregt oder nicht<br />

erregt werden kann. Wenn wir uns daran erinnern, was<br />

alles daran beteiligt ist, erregt, hochgradig erregt zu<br />

werden, und für kurze Zeit in einen veränderten Be -<br />

wusst seins zustand mit orgasmischer Entspannung zu<br />

gelangen, dann wird die Wichtigkeit eines gewissen<br />

Maßes an emotionaler Intimität, wie es die betreffende<br />

Frau eben braucht, erkennbar. Die Bedeutung von<br />

Sexualität als einer Kommunkationsweise liegt auch<br />

darin, dass solch eine Botschaft von äußerstem Ver -<br />

trauen und der Bereit schaft, sich hoch verletzlich zu<br />

machen, oft nicht „ge sagt“ werden kann.<br />

Der Mangel an emotionaler Intimität mit dem<br />

Part ner lässt aber nicht nur häufig keine subjektive<br />

Erregung zu, sondern darüber hinaus können die eigenen<br />

Gefühle oder Sichtweisen der Frau selbst ihre be -<br />

ständige Erregbarkeit ausschließen. Das „feedback“<br />

von den Gefühlen her kann positiv sein und die limbische<br />

Verarbeitung der Reize fördern, z. B. wenn die<br />

Frau ihre Empfindungen genießt, sich in ihrem<br />

Selbstwertgefühl gestärkt und attraktiv fühlt. Wenn<br />

allerdings negative Emotionen wie Schuld, Ver legen -<br />

heit oder Scham vorhanden sind, dann wird es zu<br />

einem negativen „feedback“ kommen, der die bewusste<br />

Wahrnehmung physiologischer Veränderun gen,<br />

selbst wenn sie stattgefunden haben, beeinträchtigen<br />

kann. Es scheint aber, dass bei einigen Frauen trotz<br />

negativer Affekte und einem Mangel an subjektiver<br />

Erregung die genitalen Reaktionen auch andauern<br />

können (Laan et al. 1995).<br />

Die kognitive Bewertung der Frau – nicht nur der<br />

Stimuli und ihres Zusammenhanges –, sondern auch<br />

ihrer eigenen Reaktion und der Konsequenzen ihres<br />

Sexualverhaltens wird diese Antwort modulieren.<br />

Wahr nehmungen, die jede Erregung negativ beeinflussen,<br />

beinhalten störende nicht-sexuelle Ablen kun -<br />

gen, frühere negative Erfahrungen, ein geringschätziges<br />

sexuelles Selbstbild, Mangel an Sicherheit (betreffend<br />

Kontra zeption, sexuell übertragbare Krankhei -<br />

ten, emotionale oder physische Sicherheit).<br />

Andersen und Cyranowski (1995) vermuten, dass<br />

die kognitiven Einschät zungen einer Frau ihre eigenen<br />

Ansichten über ihre Se xualität widerspiegeln und ihr<br />

eigenes Selbst-Konzept oder „sexuelles Schema“ ein<br />

wichtiger Teil davon sind. Andere vertreten die An -<br />

sicht, dass ein negatives Selbstbild Konservativismus,<br />

Zögerlichkeit und Peinlichkeit fördern, während ein<br />

positives Selbstbild die Bereitschaft zur Annahme der<br />

für die Förderung sexueller Erregung notwendigen<br />

Sti muli begünstigen kann. Levin’s dritte Komponente<br />

seines dreiteiligen Modells des Verlangens ist der be -<br />

wusste Wunsch, als eine sexuelle Person wahrgenommen<br />

zu werden (Levine 1988).<br />

Abbildung 2 schlägt ein einfaches Diagramm vor,<br />

um die kognitiven und emotionalen „feedback“-Me -<br />

cha nis men wiederzugeben, die kontinuierlich das Er -<br />

le ben der sexuellen Erregung einer Frauen modulieren.<br />

Die Rückmeldung von der Reaktion der Genitalien<br />

erscheint – in deutlichem Gegensatz zur Situation<br />

beim Mann – von geringerer Bedeutung zu sein (Laan<br />

et al. 1995, Everaerd et al. 2000, Laan et al. 1993,<br />

Laan et al. 1994). Während die sexuelle Erregung von<br />

Männern durch den bestätigenden Stimulus des An -<br />

schwellens der Genitalien gesteigert werden kann,<br />

fehlt Frauen ein vergleichbarer direkt bestärkender<br />

Sti mulus (Basson 2001a). Indirekte Verstärkungen,<br />

wie sie durch das Mas sieren und Liebkosen und zu -<br />

nehmend schnellere Sti mulation der Vulva erfolgen<br />

kann, sind unter Umständen bei sexuellen Praktiken,<br />

die sich auf den Geschlechts verkehr konzentrieren,<br />

nicht möglich. Während – wie bereits früher festgestellt<br />

– für Männer ohne sexuelle Probleme das An -<br />

schwellen des Penis gut mit der subjektiven Er regung<br />

korreliert, können die meisten Studien diesen Zusam -<br />

menhang bei Frauen nicht finden.<br />

Abb. 2: Subjektive sexuelle Erregung wird zu einem großen Teil von der<br />

Bewertung des Reizkontextes beeinflußt und nur z.T. vom genitalen feed -<br />

back. Kognitive und emotionale Reaktionen auf eine beliebige subjektive<br />

Erre gung und auf jedes Bewußtwerden genitaler Empfindungen tragen zu<br />

einer zusätzlichen Modulation der Reaktion bei.<br />

Erkennung als<br />

„sexuell“<br />

körperliche<br />

Reaktion;<br />

genitale<br />

Vasokongestion<br />

Sexuelle Stimuli<br />

+<br />

–<br />

?<br />

+<br />

–<br />

Kontext und Stimuli<br />

passend<br />

Subjektiv empfundene<br />

Erregung<br />

emotionale Antwort


Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion 27<br />

Biologische Faktoren, die verhindern, dass Reize in<br />

Erregung umgewandelt werden, umfassen Müdig keit,<br />

Depression, Nebenwirkungen von Medikamen ten,<br />

Schwä chezustände jeglicher Ursache und gelegentlich<br />

ovarielle Hormondysbalancen oder Hyper pro laktin -<br />

ämie. Solche psychologischen und biologischen Fak -<br />

toren bestimmen die Erregbarkeit der Frau (An dersen<br />

& Cyranowski 1995, Whalen 1966, Ban croft 1989).<br />

Was folgt auf sexuelle Erregung<br />

im sexuellen Erleben von Frauen?<br />

Das folgende Modell macht klar, dass, wenn die<br />

Erregung andauern kann, d.h. wenn die Frau sich darauf<br />

konzentriert, der Reiz anhält und sie die Erfahrung<br />

se xueller Erregung genießt, sich dann auch der<br />

Wunsch einstellt, fortzufahren, nämlich um der sexuellen<br />

Em pfindungen willen (ebenso wie um ihrer<br />

ursprünglichen Ziele willen, nämlich sich dem Partner<br />

möglichst nahe zu fühlen). So folgt das Verlangen<br />

tatsächlich eher der Erregung, als dass es ihr vorausgeht<br />

und danach fallen die zwei zusammen (vgl. Abb.<br />

3). Dieses Konzept der Entwicklung sexuellen Ver -<br />

langens wurde auch von Levine (2001) diskutiert.<br />

Gibt es eine lineare Ereignisabfolge<br />

bei der sexuellen Reaktion<br />

der Frau?<br />

Wie in Abb. 2 dargestellt wird, scheint die sexuelle<br />

Reak tion der Frau mehr kreisförmig zu sein und ihre<br />

Kom ponenten sind keine getrennten Einheiten. Bei -<br />

spiels wei se werden Verlangen und Erregung gleichzeitig<br />

erlebt (man beachte die Schwierigkeit, die<br />

Frauen haben, zwischen Erregungs- und Verlangens -<br />

problemen zu unter schei den und auf die übliche<br />

Komorbidität der beiden) (Leiblum 1998, Segraves &<br />

Segraves 1991).<br />

In ähnlicher Weise sind die Orgasmuserfahrungen<br />

von Frauen unterschiedlich; sie hängen sehr stark von<br />

der begleitenden Erregung ab. Orgasmen können multipel<br />

sein und sehr unterschiedliche Intensität aufweisen,<br />

es kann auch ein Plateau hochgradiger Erregung<br />

ge geben sein, welches unter Umständen bis zu einer<br />

Minu te an dau ern kann und gelegentlich sind<br />

Orgasmen gar nicht nötig. Trotz der Definitionen von<br />

weiblichen Or gas mus störungen im DSM-IV (1994)<br />

und dem Konsen sus der Amerikanischen Gesellschaft<br />

für Urologische Krank heiten bezüglich weiblicher<br />

sexueller Dysfunk tionen (Bas son et al. 2000), welche<br />

Orgasmusstörungen auf ein Fehlen der Auslösung des<br />

Orgasmus nach einer Periode angemessener sexueller<br />

Erregung begrenzen, hat die Mehrzahl der Frauen mit<br />

Orgasmus-Sorgen eine Vielfalt von Erregungs pro -<br />

blemen (Andersen & Cyra nowski 1995, Derogatis et<br />

al. 1986, Hoon & Hoon 1978).<br />

Welche Bedeutung haben Er -<br />

folgs- oder Misserfolgserlebnisse<br />

für das sexuelle Erleben?<br />

Ein Erfolgserlebnis verstärkt emotional und physisch<br />

die eigentliche Kraft hinter dem sexuellen Reaktions -<br />

zyklus einer Frau, d.h. den Grad von emotionaler Inti -<br />

mität mit dem Partner. Umgekehrt vermindert ein<br />

Miss erfolgs erlebnis wegen chronischer Dys pareunie,<br />

einer Störung des Partners, ungeschicktem sexuellem<br />

Verhalten oder den Wirkungen von Medi kamenten das<br />

Gefühl von Nähe zum Partner und den Wunsch, in<br />

Zukunft wiederum auf sexuelle Weise zu kommunizieren.<br />

Wo fügt sich gelegentliches oder<br />

häufiges spontanes sexuelles<br />

Verlangen in das Konzept ein?<br />

Üblicherweise berichten Frauen in der Anfangsphase<br />

einer Beziehung oder um die Mitte des Men stru -<br />

ationszyklus (vielleicht verbunden mit der erhöhten<br />

Tes tosteron- und Androstendion-Produktion zu dieser<br />

Abb. 3: Alternatives Modell des weiblichen sexuellen Reaktionszyklus – das Erleben<br />

geht von der sexuellen Neutralität aus.<br />

+<br />

+<br />

Körperliche und<br />

emotionale<br />

Zufriedenheit<br />

Emotionale<br />

Intimität<br />

+<br />

Sexuelle<br />

Neutralität<br />

Steigende Erregung und<br />

Verlangen nach Fortsetzung<br />

Sexuelle<br />

Erregung<br />

Empfänglich für<br />

sexuelle Stimuli<br />

Biologische und psychologische<br />

Faktoren, welche das<br />

limbische System beeinflussen


28 R. Basson<br />

Zeit), oder wenn sexuelle Aktivität selten ist, über<br />

spontanes Verlangen nach Sexualität, ohne dass ihnen<br />

Reize aus der Umgebung oder dem eigenen Verhalten<br />

bewusst werden. Abbildung 4 zeigt, dass dieses spontane<br />

Verlangen den auf Intimität beruhenden Reak -<br />

tionskreis verstärken kann, indem es das Verlangen<br />

nach weiteren sexuellen Reizen fördert und die Erreg -<br />

barkeit erhöht.<br />

Es ist zu vermuten, dass spontanes Verlangen die<br />

„Trieb“-Komponente von Levine’s dreiteiligem Mo -<br />

dell (1988) und das angeborene biologische Ver langen<br />

nach Kaplan (1979) repräsentiert. Weiter können<br />

Selbst sti mulierung, Gelegenheitssex und Sex mit mi -<br />

ni maler In timität gelegentlich diesen spontanen Typ<br />

des Verlangens widerspiegeln.<br />

Anwendung des alternativen<br />

Reaktionszyklus auf gängige<br />

sexuelle Dysfunktionen mit<br />

erniedrigtem sexuellen Verlangen<br />

Abb. 4: Ineinander übergehende sexuelle Reaktionszyklen – spontane<br />

sexuelle Lust, die den auf Intimität beruhenden Zyklus intensiviert.<br />

+<br />

+<br />

Zufriedenheit<br />

Erregung und<br />

Verlangen<br />

emotionale Intimität<br />

Sexuelle<br />

Neutralität<br />

Spontanes sexuelles<br />

Verlangen<br />

führt direkt zur Erregung,<br />

so wie in traditionellen<br />

Modellen angenommen<br />

sexuelle<br />

Erregung<br />

Empfänglich für sexuelle<br />

+ +<br />

Stimuli<br />

Biologische und psychologische<br />

Faktoren, die das<br />

limbische System beeinflussen<br />

Chronische Dyspareunie geht häufig letztlich mit<br />

minimalem sexuellen Verlangen selbst für nichtpenetrierenden<br />

Sex einher. Die Frau hat gelernt, sexuelle<br />

Reize wegen der wiederholten Misserfolgserlebnisse<br />

zu vermeiden. Verbleibende Reize werden wegen der<br />

ge danklich negativen Einstellung wahrscheinlich<br />

nicht in Erregung umgesetzt. Üblicherweise wird die<br />

emotionale Intimität des Paares getrübt – die Frau, die<br />

wiederholt Verletzungen erfahren hat, fühlt sich ge -<br />

braucht oder sogar missbraucht. Sexuell aktive Zeiten<br />

sind nicht sexuell intime Zeiten – eher bleibt sie verwirrt,<br />

vielleicht grollend-ärgerlich und fragt sich, wa -<br />

rum sie weiterhin et was tun sollte, das für sie so negativ<br />

ist. Die Schmerz bekämpfung ist daher logischerweise<br />

nur eine Kompo nente der Therapie.<br />

Plötzlicher Verlust der ovariellen Androgene<br />

wegen vorzeitiger chirurgischer oder medikamentenbedingter<br />

Menopause kann sowohl von verringerter<br />

Erregbarkeit als auch Verlust der früher üblichen Mar -<br />

ker „spontanen“ Verlangens begleitet sein. Phanta -<br />

sierte und nicht-genitale physische Reize führen dann<br />

nicht nur zu keiner Erre gung, sondern die fehlende<br />

Wir kung des peripheren Testosterons, das an der<br />

Durchblutung von Vulva und Vagina beteiligt ist, kann<br />

genitales Lusterleben deutlich begrenzen; es ist wahrscheinlich,<br />

dass Testosteron !-1-adrenerge Reaktio -<br />

nen reguliert, wie es für die glatte Muskulatur des Cor -<br />

pus cavernus und Penis postuliert wird (Reilly et al.<br />

1997). Die emotionale Intimität des Paares kann zweifach<br />

leiden: Unter dem Verlust erfüllenden Zusam -<br />

menseins und unter der Verwirrung und den Miss -<br />

verständnissen über dessen Ursachen. Es ist wichtig,<br />

dass eine Frau ihren Zyklus und die Voraus setzungen<br />

ihres sexuellen Verlangens versteht. Sonst könnte<br />

auch eine Testosteronsubstitution zu physiologischen<br />

Spie geln die sexuelle Zufriedenheit nicht wiederherstellen.<br />

Beachtenswert in einer kürzlich durchgeführten<br />

Untersuchung über die physiologische Substitu -<br />

tion mit transdermalem Testosteron bei Frauen, die<br />

vorher ovarektomiert wurden und dabei Libido und<br />

Erregbarkeit verloren hatten, ist die Tatsache, dass<br />

eine über den Placeboeffekt hinausgehende positive<br />

Wir kung nur bei Frauen gesehen wurde, die einen<br />

hohen (im Gegensatz zu denen mit einem mittleren)<br />

Testosteronspiegel aufwiesen; zudem beschränkte sich<br />

die ser positive Effekt auf die älteren Frauen in der<br />

Studie (außer der Testo steronsubstituierung wurden<br />

keine anderen Interventi onen unternommen).<br />

Chronische Kinderlosigkeit verbindet sich leider<br />

oft mit erniedrigtem Verlangen. Die emotionale Inti -<br />

mität des Paares hat wegen der vielfachen Stressoren<br />

durch Arzt besuche und medizinische Untersuchungen,<br />

negative Wir kungen von Medikamenten, erfolglosen<br />

Zyklen und misslungener In-vitro-Befruchtung gelitten.<br />

Wenn man an bestimmten Tagen Geschlechts -<br />

verkehr haben muss, kann dies zu mechanischen und<br />

emotional frustrierenden Er fahrungen führen. Das Ge -<br />

fühl von sexuellem Selbst vertrauen und Attraktivität<br />

einer Frau kann leiden und hemmt dadurch die Umset -<br />

zung jeglicher sexueller Reize in Erregung. Sexuelle<br />

Erfahrungen können wegen der nunmehr begrenzten<br />

psychosexuellen Interaktion frustrierend bleiben – der<br />

Schwerpunkt lag für zu lange Zeit auf dem mechanischen<br />

Akt des Geschlechtsverkehrs un ter Verlust spielerischer<br />

Erotik.


Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion 29<br />

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Anschrift der Autorin<br />

Prof. Dr. Rosemary Basson, Division of Sexual Medicine, Department of Psychiatry, Echolon Building,<br />

Vancouver Hospital & Health Science Centre, 855 West 12th Avenue, Vancouver, B.C. V5Z 1M9,<br />

Canada, e-mail: Sexmed@interchange.ubc.ca


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Orgasmusinduzierte Prolaktinsekretion: Feedback-<br />

Mechanismus für sexuelle Appetenz oder ein<br />

reproduktiver Reflex?<br />

Tillmann H.C. Krüger, Philip Haake, Michael S. Exton,<br />

Manfred Schedlowski, Uwe Hartmann<br />

Prolactin secretion after orgasm:<br />

feedback-mechanism for sexual<br />

drive or a reproductive reflex?<br />

Abstract<br />

The characterisation and relevance of the neuroendocrine<br />

response to human sexual activity has received little scientific<br />

attention. Due to large methodological differences in<br />

inducing sexual activity, collecting blood samples and the<br />

experimental setting the acute neuroendocrine response<br />

pattern to sexual arousal and orgasm remained heterogeneous<br />

and poorly understood.<br />

Therefore, we developed a model to record continuously<br />

the neuroendocrine response to various forms of<br />

sexual stimulation, including film, masturbation, and coitus<br />

in both men and women using a continuous blood sampling<br />

technique.<br />

Beside a transient cardiovascular and sympathoadrenal<br />

activation this series of studies have consistently de -<br />

monstrated that plasma prolactin concentrations are substantially<br />

increased following orgasm in both men and<br />

women. In contrast, no alterations were found following<br />

sexual arousal without orgasm. Furthermore, elevations of<br />

prolactin following orgasm remained increased over the<br />

experimental session, and were still raised 60 min following<br />

sexual arousal.<br />

There is clinical and experimental evidence suggesting<br />

that the prolactin response to orgasm may not only affect<br />

reproductive organs, but also play an important role in the<br />

control of acute sexual arousal following orgasm. We therefore<br />

proposed a theoretical model suggesting that<br />

orgasm-induced prolactin release modifies dopaminergic<br />

systems within the central nervous system (CNS) that are<br />

responsible for controlling sexual appetence and function.<br />

Keywords: Sexual arousal, orgasm, prolactin, catecholamines,<br />

testosterone<br />

Zusammenfassung:<br />

Nur wenige Studien haben sich mit den neuroendokrinen<br />

Se kretionsmustern während sexueller Aktivität beim<br />

Menschen beschäftigt. Aufgrund methodischer Unter -<br />

schiede in der Art der sexuellen Stimulation, der Blutent -<br />

nahmetechnik und des experimentellen Settings haben<br />

diese Arbeiten nur sehr heterogene Befunde zu neuroendokrinen<br />

Effekten von sexueller Erregung und Orgasmus<br />

hervorgebracht.<br />

Unter Zuhilfenahme einer automatischen Blutabnah -<br />

me te chnik entwickelten wir ein Untersuchungsparadigma<br />

zur sys te matischen Erfassung von neuroendokrinen Effek -<br />

ten auf verschiedene Formen der sexuellen Stimulation<br />

durch erotische Filme, Mas turbation oder Geschlechts -<br />

verkehr bei Männern und Frauen.<br />

In dieser Studienreihe zeigte sich neben einer vorübergehenden<br />

kardiovaskulären und sympathoadrenergen<br />

Aktivie rung ein konsistenter Anstieg der Prolaktin-Plas -<br />

makonzen tra tionen nach dem Orgasmus bei Frauen und<br />

Männern. Sexuelle Erre gung ohne Orgasmus führte zu<br />

keinen hormonellen Ver än derungen. Prolaktinspiegel blieben<br />

während der ganzen Un ter suchung und 60 Minuten<br />

nach dem Orgasmus signifikant erhöht.<br />

Klinische und experimentelle Daten deuten darauf hin,<br />

dass Prolaktin nicht nur an reproduktiven Organen Effekte<br />

ausüben, sondern darüber hinaus eine wichtige Rolle in<br />

der Regulation sexuellen Verhaltens nach dem Orgasmus<br />

spielen kann. Wir entwickelten ein theoretisches Modell,<br />

nach dem orgasmus-induzierte Prolaktinveränderungen<br />

dopaminerge Transmitter syste me im zentralen Nerven -<br />

system (ZNS) modulieren, die für die Kontrolle von sexueller<br />

Appetenz und Funk tion verantwortlich sind.<br />

Schlüsselworte: Sexuelle Erregung, Orgasmus, Prolaktin,<br />

Ka te cho lamine, Testosteron<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 30 – 38 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 31<br />

Das Zusammenspiel von Sexualität und Hormonen<br />

scheint dem Laien streckenweise vertrauter als dem<br />

aus gewiesenen Sexualexperten. So werden außer ge -<br />

wöhnli che Verhaltensweisen verliebter Menschen mit<br />

einem „Durchbrennen von Hormonen“ erklärt und fast<br />

jeder schreibt das berauschende Gefühl des Verliebt -<br />

seins oder den ekstatischen Zustand eines Orgasmus<br />

vor allem der Wirkung von Hormonen zu. So stark die<br />

Ahnung eines regen Wechselspiels von Botenstoffen<br />

und sexueller Ak tivität ist, so wenig verlässliche For -<br />

schungsdaten existieren tatsächlich zu Hormonen und<br />

sexueller Aktivität beim Menschen (Krüger et al.<br />

1998).<br />

Während längerfristige Effekte hormoneller Ver -<br />

än de run gen von zum Beispiel Hypogonadismus oder<br />

Hy per prolaktinämie auf sexuelle Funktionen recht gut<br />

un ter sucht sind (Krüger 2000), erscheinen die Be -<br />

funde zu akuten Effekten von sexueller Aktivität auf<br />

das Endo krinium oder umgekehrt die Auswirkungen<br />

akuter Hor monveränderungen auf appetetive und konsumatorische<br />

Sexualparameter heterogen und wenig<br />

ver standen (Krü ger 2000). Dies hat jedoch große Be -<br />

deutung für ein umfassendes Verständnis der menschlichen<br />

Sexualphy siologie und hier vor allem der neuroendokrinen<br />

Regula tionsmechanismen. Es wird an -<br />

ge nommen, dass insbesondere neuroendokrine Dysre -<br />

gulationen an der Beein trächtigung sexuelle Funk -<br />

tionen ursächlich beteiligt sind (Buvat et al. 1996,<br />

Buvat & Lemaire 1997, Stief et al. 1997). Die Wir -<br />

kung neuer, hormonartiger Substanzen wie zum Bei -<br />

spiel dem Apomorphin macht deutlich, welcher Stel -<br />

len wert dem neuroendokrinen System in der Regu -<br />

lation sexuellen Verhaltens beizumessen ist (Heaton et<br />

al. 2000).<br />

Diese Annahme wird seit langem durch tierexperimentelle<br />

Beobachtungen untermauert, in denen eine<br />

se xuelle Stimulation zu einer vermehrten Sezer nie -<br />

rung von Testosteron, Oxytocin, adrenalen Steroiden<br />

oder Prolak tin führte (Bronson & Desjardin 1982,<br />

Purvis et al. 1986, Takahashi 1990, Colborn et al.<br />

1991, Hillegaart et al. 1998). Andere Untersuchungen<br />

dokumentieren, dass kom plexe sexuelle Verhalten -<br />

weisen wie beispielsweise Monogamie, Partnerwahl<br />

oder sexuelle Präferenzen einer neuroendokrinen<br />

Kontrolle unterliegen (Slob et al. 1987, Young et al.<br />

1998). Insgesamt belegen tierexperimentellen Befun -<br />

de, dass Hormone, Neurotransmitter, Mo no amine und<br />

Neuropeptide sexuelles Verhalten so wohl stimulatorisch<br />

als auch inhibitorisch steuern können (Argiolas<br />

1999, Giuliano & Rampin 2000).<br />

Hormone und sexuelle Aktivität:<br />

Bislang ein uneinheitliches<br />

Muster<br />

Im Gegensatz zu einer Vielzahl tierexperimenteller<br />

Be funde liegen wenig und zum Teil widersprüchliche<br />

Daten über die funktionellen Zusammenhänge zwischen<br />

sexueller Erregung und neuroendokrinen Para -<br />

metern beim Men schen vor (Schiavi & Segraves<br />

1995). Film-induzierte sexuelle Erregung führte in<br />

zwei Studien zu signifikanten Anstiegen der Plas ma -<br />

adrenalin und Katecho laminspiegeln im Urin (Levi<br />

1969, Wiedekind et al. 1974), diese Effekte konnten<br />

jedoch in anderen Unter suchungen nicht repliziert<br />

wer den. Erhöhte Cortisol spiegel wurden nach Mastur -<br />

bation beobachtet (Purvis et al. 1976), und in einer<br />

anderen Studie positiv mit der Film-induzierten sexuellen<br />

Erregung assoziiert (Brown & Heninger 1975).<br />

Im Gegensatz dazu blieben die Cortisolspiegel in zwei<br />

anderen Experimenten durch die sexuelle Erregung<br />

unverändert (Rowland et al. 1987, Carani et al. 1990).<br />

Ähnlich divergierende Befunde berichten Experi -<br />

mente über die Effekte sexueller Erregung auf hypophysäre<br />

Hormone. Während einige Untersucher er -<br />

höh te Plas makonzentrationen von LH sowie verminderte<br />

Prolaktinspiegel nach sexueller Stimulation be -<br />

obachteten (La Ferla et al. 1978, Rowland et al. 1987,<br />

Stoléru et al. 1993), blieben anderen Studien zufolge<br />

die LH-, FSH-, GH-, Prolaktin- sowie "-Endorphin -<br />

kon zentratio nen nach Film-induzierter sexueller Erre -<br />

gung, Mastur bation und Koitus unverändert (Lee et al.<br />

1974, Brown & Heninger 1975, Purvis et al. 1976,<br />

Carani et al. 1990, Stoléru et al. 1993).<br />

Ein ebenso uneinheitliches Bild zeigt die Analyse<br />

der sexuellen Erregungseffekte auf die Testosteron -<br />

spiegel, die nach sexuelle Stimulation entweder an -<br />

steigen (Purvis et al. 1976, La Ferla et al. 1987,<br />

Stoléru et al. 1993, Pirke et al. 1974, Fox et al. 1972)<br />

oder unverändert bleiben (Carani et al. 1990, Rowland<br />

et al. 1987, Lee et al. 1974).<br />

Als Gründe für diese Heterogenität in den experimentellen<br />

Befunden sind sicherlich die unterschiedlichen<br />

methodischen Ansätze zu diskutieren. Dabei<br />

variierte die sexuelle Stimulation von der Darbietung<br />

sexuell stimulierender Filme, über sexuelle Fantasien<br />

bis zu Mas tur bation und Koitus. Folglich gestaltete<br />

sich Dauer und Intensität der sexuellen Stimulation<br />

äußerst unterschiedlich und variabel. Ein Teil der Stu -<br />

dien untersuchte lediglich die Auswirkungen von se -<br />

xu eller Erregung auf endokrine Parameter, in anderen<br />

Arbeiten stand wiederum der Orgasmus im Mit -


32 T.H.C. Krüger, Ph. Haake, M.S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />

telpunkt. Deutliche Unterschie de be stan den zudem in<br />

der Technik der Blutentnahme, die in der Regel nicht<br />

kontinuierlich sondern punktuell durch den Versuchs -<br />

leiter erfolgte. Die Sicherung der Pri vat sphäre der<br />

Studienteilnehmer war somit oftmals nicht gewährt,<br />

so dass allein durch die Präsenz der Untersu cher im<br />

Versuchsraum mit artifizieller Beeinflussung des neuroendokrinen<br />

System gerechnet werden muss. Da -<br />

rüber hinaus finden in diesen Untersuchungen die zirkadiane<br />

Rhythmik und pulsatile Freisetzung der neuroendokrinen<br />

Variablen sowie der Zeitpunkt der Blut -<br />

abnah me nach sexuelle Stimulation wenig Beachtung<br />

(Sched lowski et al. 1992, Richter et al. 1996). Auch<br />

das experimentelle Setting gestaltete sich sehr uneinheitlich,<br />

welches im schlechtesten Falle aus einer<br />

Untersuchungs kabine bestand, in der der Proband eine<br />

Spermaprobe abgeben sollte.<br />

Sexualität im Labor: Etablierung<br />

eines neuen Paradigmas<br />

Vor dem Hintergrund der unbefriedigenden Befund -<br />

lage entwickelten wir ein experimentelles Design zur<br />

Untersuchung akuter neuroendokriner Effekte wäh -<br />

rend sexueller Erregung und Orgasmus bei Männern<br />

und Frauen (Abb. 1). An den Untersuchungen nahmen<br />

in der Regel jeweils 10 heterosexuelle, gesunde Män -<br />

ner oder Frauen teil, die keine Vorbehalte gegenüber<br />

Masturba tion oder erotischen Filmen angaben. In ei -<br />

nem balancierten cross-over-design fanden zwei<br />

Abb. 1: Untersuchungsparadigma zur Analyse von hormonellen Veränderungen<br />

durch sexuelle Aktivität bei Männern und Frauen. Jede Versuchsperson nahm in<br />

einem cross-over design an einer Experimental- und Kontrollsitzung teil, während<br />

der ein Dokumentarfilm gezeigt wurde. In der Experimentalbedingung war dieser<br />

Film durch einen 20-minütigen Abspann erotischer Sequenzen unterbrochen. In<br />

einem Teil der Experimente waren die Probanden aufgefordert, nach 10 Minuten zu<br />

masturbieren oder Geschlechtsverkehr auszuüben.<br />

Untersuchungster mine statt, die unter Berücksichti -<br />

gung der zirkadianen Rhythmik der zu bestimmenden<br />

Hor mone jeweils um 15 Uhr begannen. In der Kon -<br />

trolluntersuchung wurde ein 60 minütiger Dokumen -<br />

tarfilm präsentiert. Unter Expe rimentalbedingungen<br />

sa hen die Probanden zunächst einen Dokumentarfilm<br />

für 20 Minuten, dann einen erotischen Film von 20<br />

Minuten, auf den wiederum ein zwanzigminütiger Do -<br />

kumentarfilm folgte. Während der ersten 10 Minuten<br />

der erotischen Sequenz waren die Ver suchsteilnehmer<br />

aufgefordert, zunächst nur den Film zu schauen (antizipatorische<br />

Phase). Abhängig von der je weiligen Stu -<br />

die und Fragestellung sollten die Probanden im Ver -<br />

lauf der weiteren 10 Minuten entweder den Film weiter<br />

verfolgen (Bedingung sexuelle Erregung), mittels<br />

Masturbation zum Orgasmus gelangen (Bedingung<br />

Mas turbation) oder Geschlechtsverkehr mit dem<br />

Partner bzw. der Partnerin ausüben (Bedingung Koi -<br />

tus). Im letzteren Fall verhielt sich die zu untersuchende<br />

Person möglichst passiv, um durch körperliche<br />

Ak tivität bedingte neuroendokrine Effekte vorzubeugen.<br />

30 Minuten vor Beginn der Messungen wurde ein<br />

venöser Zugang gelegt, der über einen dünnen<br />

Schlauch mit einer Pumpe im angrenzenden Raum<br />

verbunden war. Auf diese Weise wurde ein kontinuierlicher<br />

Blutfluss ge währt, ohne in die Privatsphäre des<br />

Probanden intervenieren zu müssen (Schedlowski et<br />

al. 1992, Krüger et al. 1998). Die Blutproben wurden<br />

je nach Messung in sechs bis sieben 10-minütige In -<br />

tervalle portioniert, sofort auf Eis gekühlt und nach<br />

der Untersuchung zentrifugiert und bis zur endokrinologischen<br />

Analyse bei –70º C eingefroren (Krüger et<br />

al. 1998).<br />

Die Aufzeichnung der kardiovaskulären Parameter<br />

erfolge über eine kleine Fingermanschette die wie der<br />

intravenöse Zugang am nichtdominanten Arm/ Finger<br />

an gebracht wurde und so eine kontinuierliche Regis -<br />

trie rung von Herzfrequenz und Blutdruck im Nach bar -<br />

raum ermöglichte (Schedlowski et al. 1992, Richter et<br />

al. 1996).<br />

Bei der Untersuchung von Frauen wurde ein Vagi -<br />

nal ple thys mograph für die Aufzeichnung von Verän -<br />

derun gen des vaginalen Blutflusses eingesetzt (nicht<br />

in der Koitus bedingung). Mittels indirekter Aufzeich -<br />

nung von Bek ken bodenkontraktionen konnte mit dieser<br />

Technik außerdem der Zeitpunkt des Orgasmus er -<br />

fasst werden.<br />

Dieses Untersuchungsparadigma ermöglichte die<br />

konsequente Analyse neuroendokriner und kardiovaskulärer<br />

Effekte von sexueller Aktivität unter verschiedenen<br />

Stimulationsbedingungen bei Männern und<br />

Frauen.


Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 33<br />

Orgasmus-induzierte Hormonveränderungen<br />

Die Ergebnisse dieser Untersuchungsreihe belegen,<br />

dass sexuelle Stimulation und Orgasmus zu signifikanten<br />

Ver änderungen im systolischen und diastolischen<br />

Blutdruck, der Herzfrequenz sowie signifikanten<br />

An stiegen in den Adrenalin- und Noradrenalin kon -<br />

zentra tionen bei Män nern und Frauen führt (Krüger et<br />

al. 1998, Exton et al. 1999). Im Gegensatz dazu blieben<br />

andere Aktivierungs- und Stresshormone wie Cor -<br />

tisol, das Wachstumshormon (hGH) und "-Endorphin<br />

unverändert. Diese Beob achtung räumt dem katecholaminergen<br />

Ant wortmuster eine gewisse Spezifität<br />

ein, welche dieses Sekretions muster nicht nur im Sin -<br />

ne einer allgemeinen Aktivie rungsreaktion erscheinen<br />

lässt. Insbesondere Nor adre nalin zeigte sich bei ge -<br />

nauerer Betrachtung un mittelbar nach dem Orgasmus<br />

erhöht (Krüger et al. 1998). Hier sind vor allem Ef -<br />

fekte auf ! 1 -Adreno zeptoren von Blutgefäßen im pe -<br />

nilen Schwellkör pergewebe und der Vagina zu diskutieren.<br />

Dieser Mecha nismus könnte postorgastisch die<br />

Detumescenz beim Mann bzw. die Drosselung der<br />

Blutzufuhr in der weiblichen Scheide mitverursachen.<br />

Die Plasmakonzentrationen des Luteinisierendes<br />

Hor mons (LH) und des Testosteron zeigten einen kleinen,<br />

aber konsistenten Anstieg nach dem Orgasmus.<br />

Auch wenn diese Effekte nur diskret ausgeprägt wa -<br />

ren, sind hier dennoch Langzeiteffekte auf Strukturen<br />

in der Peripherie und im zentralen Nervensystem zu<br />

diskutieren. Stoléru und Mitarbeiter (1993) konnten<br />

zeigen, dass bei neuroendokrinen Messungen über<br />

einer längeren Zeitraum eine Veränderung insbesondere<br />

der Pulsatilität des LH in Form einer Erhöhung<br />

der Pulsationsfrequenz und -amplitude nach sexueller<br />

Aktivität zu verzeichnen ist. Dementsprechend zeigten<br />

sich auch Testosteron plasmaspiegel verändert.<br />

Dass die gonadotrope Achse im Rahmen sexuellen<br />

Verhaltens auf alle Fälle interessant bleibt, wird außer -<br />

dem durch Daten unserer Arbeitsgrup pe zu hormonellen<br />

Veränderungen nach sexueller Ab stinenz unterstrichen<br />

(Exton et al. 2001b). Unter Verwen dung des gleichen<br />

Untersuchungsparadigmas wurden in einem<br />

cross-over design die Effekte einer dreiwöchigen<br />

sexuellen Abstinenz bei ansonsten sexuell aktiven<br />

Män nern auf das neuroendokrine Reaktionsmuster<br />

wäh rend sexueller Aktivität im Labor untersucht.<br />

Interessan ter weise fanden sich in der Abstinenzbe -<br />

dingung signifikant höhere Testosteronplasmaspiegel<br />

als in der Gruppe der sexuell aktiven Männer. Zu<br />

Beginn der Messung waren die Plas maspiegel des Ste -<br />

roids jedoch noch unverändert bzw. tendenziell niedriger,<br />

so dass hier möglicherweise von einem Re ini -<br />

tiationsmechanismus ausgegangen werden kann, der<br />

über das Testosteron die für sexuelles Verhalten wichtigen<br />

Strukturen in der Peripherie, vor allem aber im<br />

zentralen Nervensystem (ZNS) unterhalten und reaktivieren<br />

könnte. Diese Annahme wird durch eine Viel -<br />

zahl von tierexperimentellen Studien ge stützt, die vor<br />

allem im ZNS Transmittersysteme be schrieben haben,<br />

die durch Testosteron moduliert werden und maß geb -<br />

lich sexuelles Appetenzverhalten steuern (Schmidt &<br />

Rubinow 1997, Etgen et al. 1999).<br />

Während das Gros der Hypophysenhormone von<br />

sexueller Aktivität weitgehend unbeeinflusst blieb,<br />

stellt das Prolaktin eine Ausnahme dar. Mit einer<br />

Latenz von wenigen Minuten nach dem Orgasmus<br />

waren signifikante Anstiege in den Plasmakon zen -<br />

trationen zu verzeichnen, die bei der Frau ausgeprägter<br />

(100%-Zunahme) als beim Mann (50%-Zunahme)<br />

ausfielen. Zudem blieben die Prolaktinspiegel noch<br />

eine Stunde nach dem Orgas mus signifikant erhöht<br />

(Abb. 2) (Krüger et al. 1998, Exton et al. 2001a). Die -<br />

ser Effekt zeigte sich deutlich an den Orgasmus ge -<br />

kop pelt. Um die Orgasmus-Spezifität der Prolaktin -<br />

veränderungen zu untermauern, zeigten wir in nachfolgenden<br />

Untersuchungen, dass Film-induzierte se -<br />

xuelle Erregung ohne Orgasmus keine Veränderungen<br />

der Prolaktin-Plasmaspiegel bewirken (Abb. 2) (Exton<br />

et al. 2000). Es ist zudem unwahrscheinlich, dass die<br />

Pro lak tinveränderungen durch die physische Stimu -<br />

lation während der Masturbation oder des Koitus be -<br />

dingt sind. Es fand sich keine Korrelation zwischen<br />

Sti mulations dauer und Prolaktinerhöhung. Außerdem<br />

konnten wir an sechs Probanden zeigen, dass der Vor -<br />

gang der Mastu r bation ohne Orgasmus zu keinen Ver -<br />

änderungen der Pro laktinspiegel führt (Manuskript in<br />

Vorbereitung).<br />

Prolaktin – Galaktorrhoe und<br />

Lustverlust?<br />

Die konsistente Datenlage zu orgasmus-induzierten<br />

Prolaktinerhöhungen bei Männern und Frauen erfordert<br />

einen umfassenderen Blick in die Physiologie und<br />

Pathophysiologie dieses Hormons. Im klinischen Be -<br />

reich werden Prolaktinerhöhungen vor allem mit Ga -<br />

lak torrhoe und Amenorrhoe bei Frauen bzw. Müttern<br />

assoziiert; über die Wirkungen im männlichen Orga -<br />

nis mus herrscht weitgehend Unklarheit. Eine Vielzahl<br />

von human- und tierexperimentellen Studien belegt je -<br />

doch die umfassende Bedeutung dieses Peptides für<br />

Se xual verhalten (Krüger et al. 2001). Die Synthese


34 T.H.C. Krüger, Ph. Haake, M.S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />

des Prolak tins ist vorwiegend auf den Hypo phy -<br />

senvorderlappen beschränkt und wird hauptsächlich,<br />

im Gegensatz zu den meisten anderen Hypophy sen -<br />

hormonen, durch einen in hibitorischen, dopaminergen<br />

Tonus hypothalamischer Kerngebiete reguliert. Ein<br />

kürz lich identifizierter Prolak tin-Releasing Factor er -<br />

wies sich in nachfolgenden Unter suchungen als nicht<br />

spezifisch, mit nicht unerheblichen Wirkungen auf die<br />

Oxytocinsekretion (Maruyama et al. 1999). Unter vielen<br />

weiteren diskutierten Substanzen hat das Thyre o-<br />

tropin-Releasing-Hormon (TRH) die stärkste Wir kung<br />

auf die Prolaktinfreisetzung. Außer auf hypo phy särer<br />

Ebene wird Prolaktin in deutlich geringeren<br />

Konzentrationen in vielen anderen Geweben des tierischen<br />

und menschlichen Organismus wie zum Bei -<br />

spiel der Haut, Lunge, Nebenniere, vor allem aber an<br />

verschiedenen Stellen des weiblichen und männlichen<br />

Reproduktionsapparates synthetisiert (Ben-Jonathan<br />

et al. 1996, Bole-Feysot et al. 1998). Prolaktinre ze p-<br />

toren werden in den Brustdrüsen, Prostata, Neben -<br />

hoden und Eierstöcke und weiteren reproduktiven Or -<br />

ga nen und vor allem in bestimmten Arealen des zentralen<br />

Nerven systems exprimiert, die von entscheidender<br />

Bedeutung für die Steuerung des Sexualverhaltens<br />

sind (siehe Review Krüger et al. 2001).<br />

Die mögliche Tragweite Orgasmus-induzierter<br />

Pro lak tinerhöhungen wird deutlich, wenn man sich<br />

die Effekte chronischer Hyperprolaktinämie verdeutlicht.<br />

Ex perimentelle und klinische Daten belegen<br />

deutliche Auswirkungen erhöhter Prolaktinspiegel auf<br />

appetetive und konsumatorische Aspekte des Sexual -<br />

verhaltens beim Menschen (Buvat et al. 1985, Carani<br />

Abb. 2: Prolaktinveränderungen während sexueller Aktivität. Durch Koitus oder Masturbation induzierter Orgasmus führt zu ausgeprägten Anstiegen der Prolaktin-<br />

Plasmakonzentrationen von etwa 50% bei Männern und 100 % bei Frauen. Dieser Effekt ist 60 min nach dem Orgasmus noch zu verzeichnen.<br />

Prolaktinveränderungen zeigen sich orgasmusgekoppelt, sexuelle Erregung allein führt zu keinen Veränderungen der Prolaktinkonzentrationen. (?) kennzeichnet die<br />

experimentelle Untersuchungsbedingung, (?) kennzeichnet die Kontrollbedingung (modifiziert nach Krüger et al. 1998, Exton et al. 1999, 2000, 2001a).<br />

Prolaktin (ng/ml)<br />

Prolaktin (ng/ml)<br />

Prolaktin (ng/ml)<br />

Prolaktin (ng/ml)<br />

Prolaktin (ng/ml)<br />

Prolaktin (ng/ml)


Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 35<br />

et al. 1996, Walsh et al. 1997). Physiologischerweise<br />

treten erhöhte Prolaktinspiegel während der Stillpe -<br />

riode auf. Neben der laktogenen Wirkung auf das<br />

Brust drüsengewebe ist zu dem die inhibitorische<br />

Wirkung des Prolaktins auf die GnRH-Pulsatilität und<br />

damit der Sekretion von Sexual steroiden von Bedeu -<br />

tung und erklärt das Auftreten einer vorübergehenden<br />

Amenorrhoe und vermindertem sexuellen Verlangen.<br />

Dies kann als ein durchaus ökonomischer Mecha -<br />

nismus aufgefasst werden, da eine zu rasche, erneute<br />

Schwangerschaft die energetischen Re serven des Or -<br />

ga nismus überfordern könnte.<br />

Pathologisch erhöhte Prolaktinspiegel finden sich<br />

bei Prolaktinomen verschiedenster Ursache, schwerer<br />

Hypo thyreose und chronischem Nierenversagen. Vie -<br />

le Medi ka mente vor allem aus der Gruppe dopaminantagonistisch<br />

wirkender Substanzen wie z.B. typische<br />

Neuro leptika, aber auch Substanzen der neueren<br />

Antide pressi va-Generation wie die Selektiven-Sero -<br />

tonin-Wiedauf nah me hemmer (SSRI) können zu einer<br />

erhöhten Sekre tion von Prolaktin führen mit konsekutiver<br />

Beeinträch tigung sexueller Funktionen (Meltzer<br />

et al. 1997, Hum mer et al. 1999). Die Symptomatik ist<br />

meist durch verminderte sexuelle Appetenz und Or -<br />

gasmusschwierig keiten gekennzeichnet.<br />

Bei hypothalamisch-hypophysär bedingter Hyper -<br />

pro lak tinämie hat die Gabe von Dopaminagonisten<br />

wie zum Beispiel Bromocriptin oder der neueren Sub -<br />

stanz Cabergolin über eine Normalisierung der Pro -<br />

laktin-Plas makonzentrationen eine deutliche Verbes -<br />

serung sexueller appetetiver und konsumatorischer<br />

Funk tionen zur Folge (Verhelst et al. 1999). Insgesamt<br />

kann von einer en gen Verbindung von chronischer<br />

Hy perprolaktinämie und beeinträchtigen Sexualfunk -<br />

tionen ausgegangen werden.<br />

corpus cavernosum hin mit daraus resultierender<br />

Detumescenz (Aoki et al. 1995, Ra et al. 1996). Die in<br />

den Studien verwendeten Prolak tinkonzentrationen<br />

wa ren zwar deutlich höher als nach dem Orgasmus,<br />

die Wirkung der Prolaktinapplikation reich te allerdings<br />

nur etwa 15 Minuten, was ungefähr der Dauer<br />

der Refraktärphase entspräche. Ob dieser Mecha nis -<br />

mus im Rahmen eines komplexen peripheren Regel -<br />

kreislaufs für die Detumescenz beim Mann eine Rolle<br />

spielt, bleibt dahingestellt.<br />

Interessant scheint aber auch die Betrachtung<br />

anderer reproduktiver Organe, an denen Prolaktin im<br />

Sinne eines endokrinen reproduktiven Reflexes eine<br />

wichtige Funk tion bei Männern und Frauen ausüben<br />

könnte. Im Gegen satz zu chronischer Hyperpro lak -<br />

tinämie belegen tierexperimentelle Daten, dass akute<br />

Prolaktinerhöhungen be stimmte Funktionen der Ho -<br />

den und Eierstöcke fördern (Outhit et al. 1993, Goffin<br />

et al. 1999). In Leydig-Zellen unterstützt Prolaktin die<br />

Zellmorphologie, erhöht die Rezeptordichte für LH<br />

und stimuliert die Steroidbio synthese in Zusammen -<br />

arbeit mit LH. Außerdem wird die Rezeptorexpression<br />

für FSH an den Sertolizellen erhöht, die Spermato -<br />

Abb. 3: Theoretisches Modell hypothetisierter Wirkmechanismen postorgastisch<br />

erhöhter Prolaktin-Plasmaspiegel bei Männern und Frauen (nach Krüger et al. 2001)<br />

Biologische Relevanz akuter<br />

Prolaktinerhöhung nach dem<br />

Orgasmus<br />

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse müssen die<br />

Effekte von akuten Prolaktinerhöhungen nach dem<br />

Or gas mus bei Männern und Frauen betrachtet werden.<br />

Un serer Arbeitshypothese zufolge kann Prolaktin so -<br />

wohl periphere als auch zentrale Effekte ausüben<br />

(Abb. 3).<br />

Periphere Effekte: Obwohl noch nicht intensiv<br />

un ter sucht, scheint Prolaktin Effekte auf peniles<br />

Gewebe zu haben. Tierexperimentelle Untersu chun -<br />

gen deuten auf eine inhibitorische Wirkung des Pro -<br />

lak tins auf die Rela xation der glatten Muskulatur des


36 T.H.C. Krüger, Ph. Haake, M.S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />

zyten-Spermatiden-Konversion gefördert und die<br />

Energiebereitstellung in Spermatozoen erhöht. Pro -<br />

laktin unterstützt den Transport und die Mobilität von<br />

Spermatozoen im Nebenhoden, fördert die Fähigkeit<br />

zur Verschmelzung mit Oozyten und beschleunigt eine<br />

erfolgreiche Penetration. Ähnliche Effekte werden auf<br />

die Funktionen von akzessorischen Drüsen und die<br />

Neben nieren beschrieben. Insgesamt lassen diese Be -<br />

ob ach tungen vermuten, dass postorgastisch erhöhte<br />

Pro laktin kon zentrationen einen fördernden und stimulierenden<br />

Ein fluss auf verschiedene Gewebe der<br />

männlichen Re produktionsorgane ausüben können.<br />

Diese Annahme findet auch im weiblichen Orga -<br />

nis mus Unterstützung. Experimentellen Daten belegen,<br />

dass Prolaktin sowohl luteotrope als auch luteolytische<br />

Wirkungen ausüben kann, die die Gelbkör per -<br />

reifung und -zerstörung umfassen (siehe Review von<br />

Bole-Feysot et al. 1998). In Zusammenarbeit mit an -<br />

deren lutetropen Sub stanzen wie LH und hCG ist es<br />

für die Regulation der Progesteronsynthese mitverantwortlich.<br />

Tierexperimen tel len Daten zufolge sind or -<br />

gas mus-induzierte Prolak tinerhöhungen bei weiblichen<br />

Ratten für die Erhaltung des an sich kurzlebigen<br />

Gelbkörpers verantwortlich und für die daraus resultierende<br />

Verlängerung der Proges teron se kretion, welches<br />

für die Entwicklung der Ge bärmutterschleimhaut<br />

und die Implantation der Blasto zyste benötigt wird.<br />

Knock-out Mausmodelle zeigen, dass Tiere ohne Pro -<br />

laktinrezeptoren aufgrund einer Stö rung der Physio -<br />

logie von Eierstock, Eierleiter und Ge bärmutter zeitlebens<br />

steril bleiben (Goffin et al. 1999).<br />

In Abgrenzung zu den inhibierenden Effekten<br />

chro nischer Hyperprolaktinämie kann insgesamt gesehen<br />

eine Art neuroendokriner reproduktiver Reflex<br />

hypothetisiert werden, dessen physiologische Bedeu -<br />

tung zumindest im Tiermodell dargestellt wurde und<br />

auch im menschlichen Organismus der Auf rechter -<br />

haltung und Verbesserung reproduktiver Fähig keiten<br />

bei tragen könnte.<br />

Abb. 4: Dopaminerge Transmittersysteme, die an der Regulation sexueller<br />

Funktionen und Verhaltens beteiligt sind (modifiziert nach Hull et al. 1999)<br />

Zentrale Effekte: Alternativ dazu entwickelten wir<br />

die Hypothese eines Rückkopplungs-Mecha nismus,<br />

dem zufolge postorgastisch erhöhte Prolaktin spiegel<br />

auf zentrale Transmittersysteme einwirken und damit<br />

sexuelle Appetenz und Sättigung modulieren. Unter<br />

den verschiedenen Transmittersystemen des ZNS ist<br />

in diesem Zusammenhang das dopaminerge System<br />

von entscheidender Bedeutung, da es zum einen mit<br />

einer hohen Dichte an Prolaktin re zeptoren versehen<br />

ist und zum an deren eine Schlüs selrolle in der<br />

Steuerung sexuellen Verhaltens darstellt (Hull et al.<br />

1999, Krüger et al 2001). Drei dopaminerge<br />

Netzwerke stehen dabei im Mittel punkt der Be -<br />

trachtung: (1) das neuroendokrine hypothalamische<br />

und incerto-hypothalamische System, zu dem vor<br />

allem die mediale präoptische Area (MPOA) zählt, (2)<br />

das mesolimbokortikale System (MLC) und (3) das<br />

nigrostriatale System (NS) (Abb. 4). Diese Trans mit -<br />

ter systeme werden als maßgebliche Regulatoren<br />

unter schied licher Komponenten sexuellen Verhaltens<br />

angesehen, wobei jedes System unterschiedliche<br />

Schwer punkte hat (Mas et al. 1995, Hull et al. 1999).<br />

Die sexualphysiologisch stimulierenden Effekte von<br />

dopaminagonistisch wirkenden Substanzen, wie zum<br />

Beispiel dem Apomor phin, unterstreichen die Bedeu -<br />

tung dieser Sys teme (Hea ton et al. 2000, Meston &<br />

Frohlich 2000). Im einzelnen gilt die MPOA als eines<br />

der wichtigsten neuronalen Korrelate für die Steue -<br />

rung von motivationalen und konsumatorischen Sexu -<br />

alverhaltens. Das mesolimbokortikale System zählt zu<br />

den Belohnungssystemen verschiedener Organismen<br />

und ist im sexuellen Kontext vor allem für appetetive<br />

Verhaltensmuster von Be deutung. Das ni gro striatale<br />

System soll vor allem für die Steuerung motorischer<br />

Komponenten sexuellen Verhal ten verantwortlich sein<br />

wie zum Beispiel das Verfolgen des Sexu al partners<br />

vor der Kopulation im Tiermodell (Robbins & Everitt,<br />

1992, Hull et al. 1999).<br />

Die Wirkung peripheren Prolaktins auf zentrale<br />

Neu ro nenverbände ist vor allem in tierexperimentellen<br />

Stu dien nachgewiesen worden. Demnach ist vor<br />

allem ein negativer Feedback-Mechanismus auf hypothalamische<br />

Neurone umfassend beschrieben, der für<br />

die Regulation der Prolaktinsekretion wie bei den an -<br />

deren hypophysären Hormonen verantwortlich ist<br />

(DeMaria et al. 1999). Obwohl Prolaktin aufgrund seiner<br />

Größe von 199 Aminosäuren nicht in der Lage ist,<br />

die Blut-Hirn-Schran ke zu passieren, kann es über die<br />

Blut-Liquor-Schranke (plexus choroideus) und die zirkumventriku<br />

lären Organe die in der Nähe der Ven -<br />

trikel befindlichen Strukturen erreichen (Sobrinho<br />

1993, Gangong 2000). Periphere und zentrale Pro -<br />

laktinapplikation im Tierver such belegt eine inhibitorische,<br />

zum Teil auch exzitatorische Wir kung auf do -


Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 37<br />

paminerge Neurone der beschriebenen Trans mitter -<br />

systeme.<br />

In Abb. 3 sind die von uns diskutierten Wirk me -<br />

cha nis men einer akuten Prolaktinausschüt tung zusammenfassend<br />

graphisch dargestellt. Dem nach könnte<br />

Pro lak tin im Sinne eines reproduktiven endokrinen<br />

Re flexes die physiologischen Vorausset zun gen im<br />

weiblichen und männlichen Organismus für eine er -<br />

folgreiche Konzeption maßgeblich fördern. Darüber<br />

hinaus besteht die Mög lichkeit eines Rück kopp lungs -<br />

mecha nismus von Prolak tin zu den oben erwähnten<br />

dopaminergen Strukturen im ZNS. Prolak tin könnte<br />

dem nach durch eine Inhibition dieser Neu ronen -<br />

verbände sexuelle Appetenz nach dem Orgasmus<br />

modulieren und damit einen Teilaspekt eines umfassenden<br />

Netz werks verschiedener Transmitter sys teme<br />

für die Re gulation sexuellen Verhaltens darstellen<br />

.<br />

Ausblick<br />

Um die Hypothese eines derartigen Rückkopplungs -<br />

me chanis mus zu prüfen, untersuchen wir derzeit die<br />

akuten Effekte von pharmakologisch manipulierten<br />

Prolaktin spiegeln auf eine Reihe von sexuellen Para -<br />

metern. Diese Studien sollen außerdem Informationen<br />

zu offenen Fra gen dieses Feedback-Modells liefern.<br />

Da bei soll vor al lem geklärt werden, ob akute Pro -<br />

laktinveränderungen nach dem Orgasmus die von uns<br />

diskutierte biologische Relevanz haben oder nur ein<br />

peripherer Marker eines erniedrigten dopaminergen<br />

Tonus in hypothalamischen Neuronen repräsentieren.<br />

Letztlich ist auch noch unklar, ob akute periphere Pro -<br />

laktinveränderungen beim Men schen tatsächlich un -<br />

mittelbare Effekte im ZNS auslösen können, so wie es<br />

bereits im Tiermodell gezeigt wurde.<br />

Dennoch, vorläufige Daten deuten darauf hin, dass<br />

ver hältnismäßig geringe, akute Veränderungen der<br />

Pro lak tin-Plasmaspiegel durchaus zu deutlichen Ver -<br />

änderungen sexueller Appetenz und Funktion führen<br />

können.<br />

Die in dem Artikel erwähnten Studien sind Teil eines von der<br />

Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes<br />

(Sche 341/10-1).<br />

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Anschriften der Autoren<br />

Dr. med. Tillmann H.C. Krüger, Dr. med. Philip Haake, PD Dr. phil. Michael S. Exton, Prof. Dr. phil. Manfred Sched -<br />

lowski, Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Essen, Hufelandstrafle 55, 45122 Essen, e-mail:<br />

epkrueger@hotmail.com<br />

Prof. Dr. phil. Uwe Hartmann, Abteilung für Klinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, 30623 Han -<br />

nover, e-mail: hartmann.uwe@mh-hannover.de


Fortbildung<br />

Sexuologie<br />

Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug –<br />

Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen<br />

Hartmut A.G. Bosinski, Jorge Ponseti, Falk Sakewitz<br />

Treatment of incarcerated<br />

sex offenders: General framework,<br />

opportunities,<br />

and limits<br />

1. Einleitung<br />

Im Januar 1998 wurde – in Reaktion auf eine Serie<br />

von Kindestötungen und sexuellem Kindesmissbrauch<br />

– das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten<br />

und anderen gefährlichen Straftaten“ verabschiedet.<br />

Der neugefasste § 66, Abs. 3 StGB gibt an, um welche<br />

Straftaten es in diesem Gesetz geht, nämlich um<br />

Verbrechen und Vergehen<br />

! gem. § 174 StGB (sexueller Missbrauch von<br />

Schutz be fohlenen, von Gefangenen, behördlich<br />

Verwahrten, Kranken, Hilfsbedürftigen [174a], un -<br />

ter Ausnutzung einer Amtsstellung [174b] oder<br />

eines Beratungs-, Be handlungs- oder Betreuungs -<br />

verhältnisses [174c]),<br />

! gem. §§ 176, 176a,b StGB (sexueller Kindes -<br />

missbrauch der verschiedenen Schweregrade),<br />

! gem. § 179 StGB (sexueller Missbrauch Wider -<br />

stands unfähiger),<br />

! gem. § 180 StGB (Förderung sexueller Handlun -<br />

gen Min der jähriger),<br />

! gem. § 182 StGB (sexueller Missbrauch Jugendli -<br />

cher),<br />

! gem. § 223a und b (jetzt § 224, § 225) StGB (ge -<br />

fährliche Körperverletzung und Misshandlung von<br />

Schutz befohlenen) und<br />

! gem. § 323 a StGB (Rauschtat, sofern diese mit<br />

einem der vorgenannten Delikte in Zusammenhang<br />

stand).<br />

Neben einer Reihe von Veränderungen in der Fest -<br />

legung der Straftatbestände und Strafrahmen (insbesondere<br />

bezüglich des sexuellen Kindesmissbrauchs),<br />

zur Verhängung der Sicherungsverwahrung gem. § 66<br />

StGB, zur Führungsaufsicht, zur Strafrestaussetzung<br />

von Frei heitsstrafen usw. hat dieses Gesetz auch<br />

Auswirkungen auf die Therapie verurteilter Sexu -<br />

alstraftäter. Dies wird schon durch die Information des<br />

Bundes jus tiz minis teri ums (BMJ) zur Einführung des<br />

o.g. Gesetzes (BMJ v. 14.11.1997) deutlich, wenn es<br />

dort heißt: „Um insbesondere die Gefahr von Wie -<br />

derholungstaten zu reduzieren, setzt das Gesetz auf<br />

eine Erweiterung der Therapie mög lichkeiten für be -<br />

handelbare Straftäter im Strafvollzug.“<br />

In diesem Zusammenhang müssen insbesondere<br />

fol gende durch die Strafrechtsänderung 1998 eingeführte<br />

Neuerungen betrachtet werden:<br />

1. Die Neufassung § 56c, Abs. 3 Nr. 1 ermöglicht<br />

nun die gerichtliche Anordnung einer psychotherapeutischen<br />

Behandlung, indem sie eine Behandlungs-<br />

Wei sung für die Bewährung oder die Führungs auf -<br />

sicht nur dann an die Zustimmung des Verurteilten<br />

bin det, wenn diese Behandlung mit einem körperlichen<br />

Eingriff verbunden ist.<br />

2. Das im Rahmen der Gesetzesreform veränderte<br />

Straf vollzugsgesetz (StVollzG) sieht vor, dass bei<br />

wegen o.g. Sexualstraftaten zu Freiheitsstrafe Verur -<br />

teilten „be sonders gründlich geprüft werden (muss),<br />

ob die Verle gung in eine sozialtherapeutische Anstalt<br />

angezeigt ist“ (§ 6 StVollzG). Wurde der Betreffende<br />

zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt, so soll über<br />

diese Verlegung nach Ablauf von sechs Monaten je -<br />

weils erneut entschieden werden (StVollzG § 7). Ein<br />

Gefangener soll der Neu fassung § 9 StVollzG zufolge<br />

in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden,<br />

wenn er wegen Straftaten gem. §§ 174 bis 180 oder<br />

182 StGB zu einer Freiheits strafe von über zwei<br />

Jahren verurteilt worden ist und die Indikation zur<br />

Behandlung gem. §§ 6 bzw. 7 StVollzG geprüft und<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 39 – 47 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


40 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />

bejaht wurde. Ab 2003 muss er unter diesen Bedin -<br />

gungen dorthin verlegt werden.<br />

Auch wenn die Strafrechtsänderung diesen Ge -<br />

sichts punkt nicht expressis verbis anspricht, so wird<br />

doch die Bedeutung der intramuralen Therapie von<br />

Se xu al straf tätern im Regelvollzug (also in Jus tiz -<br />

vollzugs an stalten, JVA) insgesamt zunehmen. Hier für<br />

können fol gende Grün de angeführt werden:<br />

1. Es ist zu erwarten, dass nicht alle der oben<br />

benannten Täter die Voraussetzungen für die Auf -<br />

nahme in die Sozialtherapie erfüllen werden. Es kann<br />

darüber hinaus vermutet werden, dass diese Ein rich -<br />

tungen auch kapa zitätsmäßig nicht in der Lage sein<br />

werden, alle infrage kommenden Delinquenten aufzunehmen.<br />

Zu dieser Skep sis berechtigt vor allem die<br />

Tatsache, dass die Zahl der wegen eines Sexual de -<br />

liktes verhängten, über zwei Jahre hinausgehenden<br />

Frei heitsstrafen in den letzten 10 Jahre kontinuierlich<br />

zugenommen hat, und zwar stärker als die der Ge -<br />

samtverurteilungen wegen eines Deliktes gegen die<br />

sexuelle Selbstbestimmung (s. Tab. 1).<br />

Die intramurale Therapie im Regelvollzug wird somit<br />

subsidiär für jene in einer Sozialtherapeutischen An -<br />

stalt angeboten werden müssen (Rotthaus 1998).<br />

2. Darüber hinaus wäre es unverständlich, wenn<br />

zwar eine zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe mit<br />

einer gerichtlich angeordneten Therapie verknüpft<br />

werden kann, der zu einer zeitigen Haftstrafe von über<br />

zwei Jahren ohne Bewährung verurteilte Täter – mit<br />

einer zumeist ja gravierenderen Straftat – aber ohne<br />

Therapie bleibt. Dies widerspräche im übrigen auch<br />

der gesetzlichen Vorgabe zum Ziel des Strafvollzuges,<br />

der (lt. § 2 StVollzG) darin besteht, dass „der Ge fan -<br />

gene fähig werden (soll), künftig in sozialer Verant -<br />

wortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“<br />

3. Entsprechend der neuen Fassung des § 454 StPO,<br />

Abs. 2, soll nun bei aufgrund o.g. Sexualdelikte zu<br />

einer zeitigen Haftstrafe von mehr als zwei Jahren<br />

Verurteilten im Falle der Erwägung der Strafrest -<br />

aussetzung zur Be wä hrung durch die Strafvoll stre -<br />

ckungskammer ein Sach verständigengutachten eingeholt<br />

werden, „wenn nicht aus zu schließen ist, dass<br />

Grün de der öffentlichen Sicher heit einer vorzeitigen<br />

Entlassung des Verurteilten entgegenstehen.“ Der<br />

Gut achter hat sich namentlich da zu zu äußern, „ob bei<br />

dem Verurteilten keine Gefahr mehr be steht, dass dessen<br />

durch die Tat zutage getretene Ge fähr lichkeit fortbesteht.“<br />

Hieran wurde von verschiedener Seite Kritik<br />

geäußert (z.B. Schöch 1998; Nedopil 1999), die vor<br />

allem auf die Unschärfe dieser Rechts begriffe und<br />

letzt lich auf die dadurch erheblich reduzierte Mög -<br />

lichkeit der – zu Resozialisierungs zwec ken unabdingbaren<br />

– Entlassungserprobung auf Be wäh rung ab -<br />

stellt.<br />

In unserem Erörterungszusammenhang soll jedoch<br />

auf Bestrebungen eingegangen werden, sowohl vor<br />

dem Hintergrund des Sicherungsauftrages gem.<br />

StVollzG als auch bei der (nun beinahe obligaten 1 )<br />

Prognosebegut achtung zur Prüfung des Antrags auf<br />

Strafrestaussetzung zur Bewährung (sog. 2/3-Ent -<br />

lassung) auf Erkenntnisse aus der psychotherapeutischen<br />

Behandlung zurückzu grei fen. In diesem Zu -<br />

sammenhang soll auch auf die jüngs ten Bestrebungen<br />

zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsver -<br />

wahrung (gem. § 66 StGB) bei Se xualstraftätern eingegangen<br />

werden; diese soll während bzw. zum Ende<br />

der Haftzeit bei jenen Sexualstraftätern ver hängt werden<br />

können, die sich während der Ver büßung als therapieunwillig,<br />

therapieunfähig oder erheblich gefährlicher<br />

erwiesen haben.<br />

Tab. 1: Verurteilte Sexualstraftäter (alle Delikte des 13. Abschnitts<br />

StGB, „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung") *<br />

Jahr Verurteilte Sexualstraf- Freiheitsstrafe<br />

täter insgesamt<br />

über 2 Jahre<br />

1990 4779 677<br />

1991 4643 713<br />

1992 4869 849<br />

1993 5061 853<br />

1994 5342 1026<br />

1995 5469 980<br />

1996 5571 1017<br />

1997 6105 1090<br />

1998 6619 1182<br />

1999 5542 1217<br />

2000 5432 1125<br />

* Quelle: Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt Wiesbaden; Achtung: Auch bis<br />

zum Jahr 2000 liegen Verurteiltenzahlen aus den Neuen Bundesländern nicht vor!<br />

2. Therapieablauf und<br />

Rahmenbedingungen<br />

Seit Mitte der 80er Jahre wird durch das schleswigholsteinische<br />

Justizministerium ein an der Kieler<br />

Sexu al medizinischen Forschungs- und Beratungs -<br />

stelle angesiedeltes Drittmittelprojekt zur „Intramu -<br />

ralen Therapie von Sexualstraftätern“ finanziert.<br />

Gegenwärtig arbeiten zwei Psychologen (Zweit- und<br />

Drittautor) unter fachlicher Anleitung und Supervision<br />

1 Im Unterschied zur nach wie vor obligaten Begutachtung bei der geplanten vorzeitigen<br />

Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe verbleibt auch bei der<br />

neuen Fassung des § 454 StPO dem Gericht noch ein Ermessensspielraum für die<br />

Bestellung eines Gutachtens: Es kann die entscheidungsleitende Gefährdung der<br />

öffentlichen Sicherheit – etwa im Falle eines gebrechlichen Verurteilten, oder<br />

aber eines erkennbar uneinsichtigen und weiterhin aggressiven Täters – durchaus<br />

auch selbst beurteilen.


Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 41<br />

durch den Erstautor in diesem Projekt in zwei<br />

Justizvollzugsanstalten (JVA) des Landes (s.a. Ponseti<br />

et al. 2001). Tabelle 2 zeigt die Be handlungszahlen der<br />

Jahre 1999-2001<br />

Die therapeutische Arbeit folgt einem kognitivbehavioralen<br />

Ansatz, der hier nur hinsichtlich seines<br />

Ablaufs und der Rahmenbedingungen skizziert werden<br />

soll: Jeder Strafgefangene mit einem Sexualdelikt<br />

wird bei seiner Aufnahme in die JVA auf die Mög -<br />

lichkeit einer intramuralen Therapie (mit Name und<br />

Sprechzeiten des Therapeuten) hingewiesen. Es wird<br />

ihm nahegelegt, an den Therapeuten einen Antrag auf<br />

ein erstes Gespräch zu stellen.<br />

Die Betreuung ist in drei Komplexe (Vorbereitung,<br />

Beratung, Therapie) gegliedert, innerhalb derer verschiedene<br />

Ebenen unterschieden werden, die wiederum<br />

in Phasen (a = Phase der Klärung, b = Phase der<br />

Weiter ent wicklung) unterteilt sind (s. Abbildung 1).<br />

Alle Vollzugsbeamten (und auf Wunsch auch die<br />

Prog no segutachter) erhalten das differenzierte Thera -<br />

pie kon zept mit einer schriftlichen Hand rei chung, in<br />

der ver deut licht wird, dass zwar die numerische<br />

Reihenfolge der Ebenen nicht unbedingt eine notwendige<br />

Abfolge darstellt, die jeder Patient zur Erreichung<br />

der angestrebten Therapieziele zwangsläufig durchlaufen<br />

muss, dass aber das Aufsteigen in eine „höhere<br />

Ebene“ als ein ge wisser Therapiefortschritt gewertet<br />

werden kann. Sie wer den darüber informiert, dass für<br />

den Wechsel einer Ebene bestimmte Voraus setzungen<br />

erfüllt sein müssen und dass, wenn diese nicht gegeben<br />

sind, die Ebene bis auf weiteres beibehalten wird<br />

(die Therapie also stagniert). Schließlich wird darauf<br />

hingewiesen, dass die Behandlung erforderlichenfalls<br />

auch unterbrochen bzw. vollständig abgebrochen werden<br />

kann.<br />

Die Besonderheiten des Regelvollzuges bringen es<br />

mit sich, dass zwischen den berechtigten Siche rungs -<br />

interessen einerseits und dem notwendigen therapeutischen<br />

Schutzrahmen andererseits vermittelt werden<br />

muss. Dies tangiert erheblich die Problematik der<br />

3. Schweigepflicht<br />

Es ist zunächst nachvollziehbar, dass die Anstaltsmit -<br />

arbeiter unter dem Gesichtspunkt der Sicherung, der<br />

Vollzugs- und Lockerungsgestaltung sowie der Entlas -<br />

sungs vorbereitung Angaben darüber erhalten möchten,<br />

wie sich der Strafgefangene entwickelt, welche<br />

„Fort schritte“ er macht usw. Sie werden darin in ge -<br />

wisser Weise durch die neue Fassung des StVollzG (in<br />

der Fas sung vom 26.8.1998) bestärkt: Dort verlangt §<br />

182, Abs. 2 und Abs. 4 von den Schwei ge pflichts -<br />

bewahrern (gem. § 203 StGB Abs. 1,2 und 5 also auch<br />

Tab. 2: Behandlungszahlen im Rahmen des Kieler Forschungsprojektes<br />

„Intramurale Therapie von Sexualstraftätern“<br />

1999 2000 2001<br />

Behandelte Täter mit Delikten gem.<br />

§ 176 StGB (Sexueller Kindesmissbrauch) 28 36 39<br />

Aufschub / Abbruch der Behandlung* 13 11 24<br />

wegen Leugnens 9 9 12<br />

wegen mangelnder Kooperativität o.ä. 2 2 10<br />

wegen mangelnder Sprachkenntnisse 2 - 2<br />

Behandelte Täter mit Delikten gem. §§ 177,<br />

178 StGB (Vergewaltigung / sex. Nötigung) 23 20 28<br />

Aufschub / Abbruch der Behandlung* 13 9 9<br />

wegen Leugnens 9 7 7<br />

wegen mangelnder Kooperativität o.ä. 4 2 2<br />

Sonstige behandelte Sexualstraftäter 1 1 2<br />

* Einige dieser Pat. suchen in der Folgezeit unter veränderten Bedingungen erneut um Therapie nach<br />

und erscheinen ggf. im Folgejahr (weitere Erläuterg. s. Text)<br />

Ärzten, Berufs psychologen und Sozialarbeitern),<br />

„sich gegenüber dem Anstaltsleiter zu offenbaren,<br />

soweit dies für die Auf gabenerfüllung der Vollzugs -<br />

behörde oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren<br />

für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter er -<br />

forderlich ist“ (wobei dies für Ärzte nur als Be -<br />

fugniserteilung und nicht als Auflage formuliert ist).<br />

An dieser Festlegung ist von verschiedener Seite<br />

Kritik geäußert worden (z.B. Böllinger 1999; Schöch<br />

1999). Und in der Tat – sobald Einblicke in individuelle<br />

Therapieinhalte genommen werden sollen, wäre<br />

dies ein Einbruch in den geschützten Rahmen der Psy -<br />

chothera pie, der letztlich kontraproduktiv zu einem<br />

der intendierten Ziele der Reform – größere Sicherheit<br />

der Allge meinheit durch Besserung der Täter – wäre:<br />

Der Patient, der sich nicht der Verschwiegenheit seiner<br />

Äußerungen sicher sein kann, wird keinen Einblick in<br />

seine tatsächlichen Gedanken, Gefühle, Motive, Nei -<br />

gungen und Im pulse geben, er wird vielmehr bemüht<br />

sein, „einen guten Eindruck zu machen“, im mer in der<br />

Hoffnung, der The ra peut möge „für ihn gut sagen“. In<br />

einer solchen Pseu do-Therapie würden ge rade nicht<br />

die problemhaften An teile der Persön lichkeit thematisiert,<br />

sondern der Bildung von Fassa denpersön lich -<br />

keiten Vorschub geleistet.<br />

Das von uns erarbeitete Procedere zum Umgang<br />

mit der Schweigepflicht orientiert sich deshalb an den<br />

sog. Sankelmarker Thesen (Beier & Hinrichs, 1995)<br />

und sieht eine standardisierte Form der Meldung über<br />

den Stand der Therapie an die Anstaltsleitung oder an<br />

den mit der Prognose zum 2/3-Termin beauftragten<br />

Gutachter vor (s. Abbildung 2):<br />

Da die Mitarbeiter der JVA und auf Wunsch auch<br />

der Gutachter das oben referierte Therapiekonzept<br />

ken nen, können sie relativ rasch erkennen, in welchem


42 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />

Abb. 1: Übersicht über die Ebenen des Therapiekonzeptes<br />

Ab schnitt der Betreuung sich der betreffende Ge -<br />

fangene befindet, ob in der Therapie-Vorbereitung<br />

(Ebe ne 0,1 oder 2), auf der Beratungsebene (Ebene 3<br />

und 4) oder in der Einzel- bzw. Gruppentherapie (Ebe -<br />

ne 5 bzw. 6, jeweils differenziert nach Phase der Klä -<br />

rung oder Phase der Wei ter entwicklung). Ebenso ist<br />

ggfs. erkennbar, wann, durch wen und warum es zum<br />

Abbruch oder zu einem Ab schluss einer Therapie ge -<br />

kommen ist. Diese Infor ma tionen können in die Über -<br />

le gungen zu Lockerungen oder vorzeitiger Entlassung<br />

miteinbezogen werden; darüber hinaus gehende, individuelle<br />

Angaben zu den konkreten Patienten werden


Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 43<br />

Abb. 2: Musterbogen für Behandlungsdokumentation für Sexualstraftäter im Regelvollzug (Sexualmedizin Kiel)<br />

hingegen nicht gemacht. Auch versteht es sich von<br />

selbst, dass weder die Therapeuten noch ihr Supervi -<br />

sor für die Begutachtung der behandelten Pro banden<br />

zur Verfügung stehen. Um der Ge fahr einer Instru -<br />

men tali sierung der Thera pie vorzubeu gen, wird weiterhin<br />

vor Beginn jeder Thera pie mit den Patienten<br />

folgender schriftlicher Vertrag geschlossen:


44 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />

THERAPIEVERTRAG<br />

Um psychotherapeutische Hilfestellung zu ermöglichen, ist der Aufbau einer offenen, ehrlichen und von gegenseitigem Vertrauen<br />

getragenen Beziehung not wen dig. Dazu sollen die folgenden Punkte vertraglich geregelt werden:<br />

Schweigepflicht<br />

Alle Informationen, die im Rahmen der psychotherapeutischen Gespräche offenbar werden, unterliegen einer gesetzlichen<br />

Schweigepflicht und werden daher streng vertraulich behandelt. Nur im Rahmen der therapeutischen Supervision, das ist die fachliche<br />

Beratung von Therapeuten, kann ohne Namensnennung über Therapieinhalte gesprochen werden. Allgemeine Informationen<br />

über die Einhaltung der Therapietermine und Therapiephasen können an die Leitung der JVA weitergegeben werden. Eine darüber<br />

hinausgehende Entbindung von der Schweigepflicht durch den Patienten ist vertragswidrig und führt zur Beendigung der Therapie.<br />

Therapiestunden<br />

Therapiestunden werden in gemeinsamer Absprache vereinbart. Das bedeutet, daß sich beide Seiten an die vereinbarten Termine<br />

zu halten haben. Sollten wichtige Gründe für eine Absage vorliegen, so ist die jeweils andere Seite möglichst frühzeitig darüber zu<br />

informieren und ein neuer Termin abzusprechen.<br />

Beenden der Therapie<br />

Falls wichtige Faktoren einen weiteren Therapiefortschritt wesentlich behindern oder unwahrscheinlich machen, kann die Therapie<br />

von beiden Seiten jederzeit beendet werden. Eine derartige Entscheidung ist dann der jeweils anderen Seite zu erläutern. Die oben<br />

geregelte Schweigepflicht gilt jedoch auch über das Therapieende hinaus.<br />

Erklärung<br />

Ich habe die oben dargestellte Vereinbarung gelesen, ihren Inhalt verstanden und erkläre mich mit allen Punkten einverstanden.<br />

Unterschrift:<br />

Patient; Therapeut<br />

Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der Ge -<br />

fan gene den Therapeuten gegenüber der Strafvoll -<br />

strec kungs kammer von der Schweigepflicht entbindet,<br />

der dann – als sachverständiger Zeuge – Aussagen<br />

zum individuellen Verlauf machen müsste (womit<br />

eben das The ra pieziel konterkariert würde). Diese<br />

Ver einbarung hat zwar nur bedingt bindenden Cha -<br />

rakter, hat sich jedoch bislang auch deshalb bewährt,<br />

weil für alle Beteiligten erkennbar wird, dass ein Pa -<br />

tient, der sie bricht, nicht wirklich die Therapie<br />

wünscht (da er damit deren Ab bruch initiiert), sondern<br />

diese für Lockerungen oder vorzeitige Haftentlassung<br />

instrumentalisiert.<br />

4. Grenzen<br />

Zwar hat sich die oben dargestellte Praxis, deren Kon -<br />

formität mit dem neugefassten § 182 StVollzG uns<br />

durch das Justizministerium des Landes Schleswig-<br />

Holstein be stätigt wurde, nun bereits über Jahre be -<br />

währt und es dürfte bundesweit einmalig sein, dass in<br />

einem Bundesland jedem inhaftierten Sexualstraf täter<br />

eine Therapie angeboten werden kann.<br />

Gleichwohl stößt die Psychotherapie bei strafgefangenen<br />

Sexualstraftätern im Regelvollzug, verglichen<br />

mit der Behandlung von auf freiem Fuß befindlichen<br />

Pro banden in einer frei zugänglichen Ambulanz,<br />

immer auf eine Reihe systemimmanenter Grenzen.<br />

Einige werden unabänderlich sein; aus ihnen die Un -<br />

möglichkeit therapeutischer Beeinflussung von Sexu -<br />

alstraftätern in diesem Setting abzuleiten, käme einem<br />

therapeutischen Ni hi lismus gleich. Neben den strukturellen<br />

und räumlichen Einschränkungen sowie den<br />

sprachliche Barrieren bei Nicht-Muttersprachlern<br />

seien hier vor allem folgende Probleme genannt:<br />

1. Fehlende oder nur sehr beschränkte Mög -<br />

lich keit zur Einbeziehung einer Partnerin. Neben<br />

den Ein schrän kungen für die Diagnostik (Validierung<br />

von An gaben zur vita sexualis) setzt dies einer<br />

Therapie, die den kommunikativen Aspekt der – prinzipiell<br />

auf ein Ge genüber angelegten – Sexualität in<br />

den Vorder grund stellt (Beier et al. 2001), enge Gren -<br />

zen. Die Be ar bei tung der kommunikativen Funk tion<br />

des Sexu ellen muss so stets auf der virtuellen Ebene<br />

bleiben.<br />

2. Fehlende oder nur eingeschränkt mögliche<br />

Ex po sition in vivo.<br />

3. Fehlende Tat-Anerkennung durch den Ver -<br />

ur teil ten. Ca. 30% der Gefangenen behaupten zu -<br />

nächst, es handele sich in ihrem Falle um ein Fehl ur -<br />

teil oder man habe die Taten nur auf anwaltlichen Rat<br />

ein geräumt (um ein geringeres Strafmaß zu erreichen).<br />

Zwar reduziert sich dieser Prozentsatz im Laufe<br />

der vorbereitenden bzw. der auch diesen Probanden<br />

angebotenen bedarfs orien tier ten und Beratungs-Ge -


Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 45<br />

spräche (Ebene 3 und 4). Die weiterhin tatleugnenden<br />

Ge fan ge nen können jedoch schon deshalb nicht in<br />

Therapie genommen werden, weil diese sich sonst in<br />

einer nachträglichen „Beweis wür di gung“ erschöpfen<br />

wür de.<br />

4. Häufig fehlende fachkundige Begutachtung<br />

im er ken nenden Verfahren. Neben den Feststel lun -<br />

gen zur Schuldfähigkeit im erkennenden Verfahren<br />

stellt der Gut achter eine Diagnose und ggfs. Indi ka -<br />

tion zur Be handlung. Er ist dabei nicht durch die<br />

Schwei ge pflicht gebunden und kann wesentlich mehr<br />

und bessere Er kenntnismittel einsetzen als der intramurale<br />

Psy cho therapeut. Neben einer Reihe medizinisch-technischer<br />

Un tersuchungsmethoden ist hier vor<br />

allem – nach gebotener prozessualer Absicherung –<br />

die Befragung signifikanter Dritter zu nennen, die ge -<br />

rade in rebus sexualibis von eminenter Bedeutung ist.<br />

Diese Einschränkung hinsichtlich fehlender Vor -<br />

gutachten gilt im übrigen in vollem Umfang auch für<br />

die gerichtlich angewiesene ambulante Therapie von<br />

Se xualstraftätern im Rahmen der Bewährung oder der<br />

Führungsaufsicht: Zunehmend beobachten wir, dass<br />

Richter – die ja eine ärztliche Dia gno se und Therapie-<br />

Indikation nicht stellen können – eine solche Weisung<br />

zur Psychotherapie ohne sachverständige Begutach -<br />

tung des Probanden erlassen. Es bleibt dabei völlig<br />

un geprüft, ob überhaupt adäquate therapeutische Ka -<br />

pa zität verfügbar ist, ob die The rapie ambulant möglich<br />

ist usw. Dies geht soweit, dass Freiheitsstrafen nur<br />

deshalb zur Bewährung ausgesetzt werden, weil der<br />

Verurteilte bereit sei, sich in eine psychotherapeutische<br />

Behandlung zu begeben. Fin det er keinen Thera -<br />

peuten – weil es zu wenige von ihnen gibt, oder weil<br />

diese die Behandlungs mög lichkeit aus Gründen, die in<br />

der Person des Ver urteilten liegen (Sprachbarriere, er -<br />

heb liche intellektuelle Minderbegabung usw.) ablehnen<br />

–, so kann dies dem Verurteilten nicht vorgeworfen<br />

werden (indem man seine Bewährung widerruft):<br />

Er bleibt unbehandelt in Freiheit.<br />

5. Probleme und Desiderata – die<br />

vorbehaltlich und die nachträglich<br />

angeordnete Sicherungsver -<br />

wahrung<br />

Die justizielle Praxis hat inzwischen gezeigt, dass in<br />

einigen wenigen Fällen die gem. § 454 StPO, Abs. 2<br />

(n.F.) veranlasste Prognose-Begutachtung zur sog.<br />

2/3-Entlassung „zu spät kommt“. Wir hatten bereits<br />

im Vorfeld der Strafrechtsänderung (Bosinski 1997)<br />

da rauf hingewiesen, dass bei einer (sicher nur seltenen)<br />

gutachterlichen Feststellung nach wie vor bestehender<br />

Gefährlichkeit zum Zeitpunkt der beantragten<br />

„vorzeitigen Entlassung“ sich tatsächlich nicht viel<br />

ändert: Der Gefangene muss seine Haftzeit voll verbü -<br />

ßen, kommt dann aber „unverändert“ in Freiheit, allerhöchstens<br />

mit Anordnung einer Führungsaufsicht und<br />

entsprechenden Weisungen (deren Nicht-Befolgung<br />

aber aus unserer Erfahrung nur geringe Konsequenzen<br />

nach sich zieht).<br />

Diese Situation ist offensichtlich unbefriedigend<br />

und hat dazu geführt, dass die CDU/CSU-Fraktion im<br />

Juli 2001 (BT-Drucksache 14/6709) einen Gesetzent -<br />

wurf in den Bundestag einbrachte, der unter anderem<br />

vorsieht, dass „... gegen hochgefährliche Straftäter die<br />

Un terbringung in der Sicherungsverwahrung nach -<br />

träg lich, d. h. in der Zeit zwischen der Rechtskraft des<br />

Urteils und der vollständigen Verbüßung der verhängten<br />

Freiheitsstrafe durch Beschluss der Strafvoll -<br />

streckungskammer“ angeordnet werden kann. Dieser<br />

Entwurf ist wegen verfassungsrechtlicher Bedenken<br />

im Bundesrat gescheitert, in Baden-Württemberg<br />

kann jedoch seit März 2001 solche nachträgliche<br />

Sicherungsverwahrung durch das dem Landesrecht<br />

unterliegende Polizeirecht (Straftäter-Unterbringungs -<br />

gesetz, StrUBG) angeordnet werden, und zwar unter<br />

dem ordnungsrechtlichen Gesichtspunkt der Gefah -<br />

renabwehr („Gefahr für die öffentliche Sicherheit“).<br />

Auch Hessen plant ein solches Gesetz, und in Schles -<br />

wig-Holstein wird eine entsprechende landesrechtliche<br />

Regelung von der CDU-Landtagsfraktion gefordert<br />

(Kieler Nachrichten vom 27.02.2002). Bundes -<br />

kanzler Gerhard Schröder unterstützt das landesrechtliche<br />

Vorgehen nachdrücklich (Pressemitteilung der<br />

Bun desregierung vom 12.7.2001) und Bundesjustiz -<br />

ministerin Däubler-Gmelin hat die Länder zur Ein -<br />

führung entsprechender Gesetze aufgefordert (Presse -<br />

in formation vom 24.1.2002) 2 . Bayern hatte bereits<br />

1997 und 1998 einen entsprechenden Antrag über den<br />

Bundesrat eingebracht, der dort scheiterte. Seit dem<br />

1.1.2002 gilt auch in Bayern eine polizeirechtliche<br />

Regelung. Sie ersetzt die zuvor angewandte und so -<br />

wohl fachlich als auch rechtlich umstrittene Praxis,<br />

ge fährliche Straftäter nach ihrer Entlassung aus dem<br />

Strafvollzug über das Unterbringungsgesetz in psychiatrische<br />

Krankenhäuser einzuweisen.<br />

Die von verschiedener Seite vorgebrachten verfassungsrechtlichen<br />

Bedenken gegen eine post festum<br />

Verhängung der Sicherungsverwahrung werden unter<br />

an derem damit begründet, dass es hier zu einer nach -<br />

träglichen Strafverschärfung außerhalb des öffentlichen<br />

Gerichtsverfahrens und ohne Beiziehung von<br />

Schöf fen kommt. Des weiteren wird geltend gemacht,<br />

2 „Wenn sich die Gefahr erst aus dem Verhalten im Vollzug ergibt, müssen die<br />

Bundesländer diese Möglichkeit schaffen. Vorbeugung ist Länderkompetenz.“


46 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />

dass damit indirekt in die bundeshoheitliche Ge setz -<br />

gebung (durch länderspezifische Praxis der Anwen -<br />

dung des § 66 StGB) eingegriffen wird. Schließlich<br />

wird angeführt, dass von den zwei in den baden-württembergischen<br />

und bayerischen Landesgesetzen ge -<br />

forderten Gutachtern tatsächlich nur einer unabhängig<br />

sei – der zweite kommt jeweils aus der JVA (die den<br />

Antrag auf Unterbringung stellt). Vielleicht ist dies<br />

auch der Hintergrund dafür, dass in Baden-Württem -<br />

berg in den ersten neun Monaten nach Inkrafttreten<br />

des StrUBG der Landesjustizminister Goll (FDP) –<br />

der sich eine Vorab-Prüfung vorbehalten hat – neun<br />

von zehn durch die jeweiligen Anstaltsleitungen<br />

gestellten Anträgen auf nachträgliche Anordnung der<br />

Sicherungsverwahrung ablehnte (Presseinformation<br />

der SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg vom<br />

7.12.2001) 3 .<br />

Die verfassungsrechtlichen Bedenken können in<br />

der Tat einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen,<br />

zumal wenn man bedenkt, dass die Siche -<br />

rungsverwahrung noch immer als „die fragwürdigste<br />

Maßregel des Strafrechts“ betrachtet wird (i. Überbl.<br />

Kinzig, 1997). Auch wenn die Sicherungsverwahrung<br />

zum Katalog der „Maßregeln der Besserung und<br />

Sicherung“ (§ 61 ff StGB) gehört, so steht hier doch<br />

der Sicherungsaspekt der Allgemeinheit ganz im<br />

Vordergrund. Die Sicherungsverwahrung ist bei der<br />

ersten Anordnung zehn Jahre, bei der zweiten unbefristet<br />

(mit festgeschriebenen Prüfungsfristen) im Re -<br />

gelvollzug zu verbringen. Schon deshalb wurde sie<br />

zumindest bislang, wenn auch in den letzten 10 Jahren<br />

zunehmend, so doch aber insgesamt außerordentlich<br />

zurückhaltend und davon nur in ca. einem Viertel bei<br />

einem Sexualstraftäter verhängt (s. Tab. 3).<br />

Tab. 3: Zahl der Verurteilten mit angeordneter Sicherungsverwahrung<br />

(SV) gem. § 66 StGB *<br />

Jahr Sicherungsverwahrung davon wegen<br />

insgesamt<br />

Sexualstraftat<br />

1990 31<br />

1991 38<br />

1992 34<br />

1993 27<br />

1994 40<br />

1995 45<br />

1996 46<br />

1997 46<br />

1998 61<br />

1999 55<br />

2000 60<br />

7<br />

14<br />

16<br />

8<br />

18<br />

13<br />

7<br />

18<br />

14<br />

24<br />

17<br />

* Quelle: Quelle: Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt Wiesbaden; Angaben für<br />

die alten Bundesländer und Berlin<br />

3 Allerdings erstaunt uns die in dieser Presseinformation auch genannte Zahl von<br />

„114 Strafgefangenen in Baden-Württemberg (bei denen) die formalen Voraussetzungen<br />

für eine Sicherungsverwahrung vorliegen“.<br />

Das Bundeskabinett hat nun jüngst (Presseinformation<br />

vom 13.3.2002) einen Gesetzesentwurf zur „Anord -<br />

nung der Sicherungsverwahrung unter Vorbehalt“ be -<br />

schlossen. Eine solche Regelung würde bedeuten, dass<br />

– in Analogie zu § 67 b StGB, der dies jetzt schon bei<br />

den Maßregeln „Unterbringung in einem psychiatrischen<br />

Krankenhaus“ (§ 63 StGB) bzw. „in einer Ent -<br />

ziehungsanstalt“ (§ 64 StGB) vorsieht – neben einer<br />

Freiheitsstrafe eine Sicherungsverwahrung angeordnet,<br />

aber „zur Bewährung“ ausgesetzt würde. Das er -<br />

kennende Gericht kann dann zunächst den Verlauf<br />

einer intramuralen Therapie bei Ableistung der Re -<br />

gelstrafe abwarten und im weiteren Verlauf über die<br />

Voll streckung der Maßregel Sicherungsverwahrung<br />

ent scheiden.<br />

Diese Regelung hätte nicht zuletzt den Vorteil,<br />

dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung in<br />

einem rechtsstaatlich transparenten, öffentlichen<br />

Verfahren (und nicht durch die Strafvollstrec kungs -<br />

kammer) getroffen werden würde. Voraussetzung für<br />

diese Regelung wäre allerdings zweierlei:<br />

1. Ein rechtlich einwandfreies, sowohl die Sicher -<br />

heitsinteressen der Allgemeinheit im Blick habendes<br />

als auch den therapeutisch notwendigen Schutz rah -<br />

men der Behandlung wahrendes Procedere im Um -<br />

gang mit der Schweigepflicht. Das in der Kieler Sexu -<br />

almedizin in Anlehnung an die sog. Sankel mar ker<br />

The sen entwickelte und oben ausführlich referierte<br />

dies bezügliche Verfahren hat sich in der Praxis be -<br />

währt.<br />

2. Bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />

muss seit 1970 regelhaft ein ärztlicher Sachver stän -<br />

diger gehört werden, der gem. § 246 a StPO sich auch<br />

zu äußern hat „... über die Gesamtheit der Per sön lich -<br />

keitsmerkmale des Angeklagten (...) die für die Be ur -<br />

teilung seines Hanges und der ihm zu stellenden Ge -<br />

fährlichkeitsprognose bedeutsam sind“ (BGH StrafV<br />

1994, S. 234; zit. nach Kinzig a.a.O.) und dazu, ob der<br />

Anordnung der Maßregel „Sicherungsverwah rung“<br />

mit einer medizinischen Behandlungsmaßnahme<br />

(etwa bei einer behandlungsbedürftige psychische Er -<br />

krankung) begegnet werden kann (Kaatsch 1984).<br />

Nun hat jedoch das Gericht (außer den Vorgaben<br />

des § 66, Abs., Satz 1 und 2 StGB) 4 a priori keine<br />

Kennt nis darüber, bei welchem Sexualstraftäter die<br />

An ordnung der Sicherungsverwahrung in Frage<br />

kommt. Das bedeutet, dass es allgemein in erkennenden<br />

Verfahren gegen Sexualstraftäter deutlich häufiger<br />

zur fachärztlichen Begutachtung kommen muss.<br />

Denk bar ist hier eine ministeriale Empfehlung zur vermehrten<br />

Bestellung von Sachverständigen, welche<br />

sicher nicht die richterliche Unabhängigkeit tangieren<br />

4 Da dieser neue Gesetzesentwurf uns bislang nicht vorliegt, gehen wir zunächst<br />

davon aus, dass diese Voraussetzungen weitergelten sollen.


Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 47<br />

würde. Die Sachverständigen hätten dann eben nicht<br />

nur zur Frage der Schuldfähigkeit gem. §§ 20,21 StGB<br />

(die für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung<br />

keine gesetzliche Vorgabe ist), sondern auch zur Pro -<br />

gnose Stellung zu nehmen und damit dann ggfs. auch<br />

jenen „Hang zu erheblichen Straftaten“ zu diagnostizieren,<br />

welcher gem. § 66 StGB eine der notwendigen<br />

Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungs -<br />

verwahrung ist.<br />

Eine solche Zunahme der sexualmedizinisch-fo -<br />

ren sischen Begutachtungen in erkennenden Verfahren<br />

gegen Sexualstraftäter allgemein, und nicht erst – wie<br />

heute gem. § 454 StPO, Abs. 2 – „am Ende des Ver -<br />

fahrens“, hätte im übrigen den unabweisbaren Vorteil,<br />

dass sich dann auch die im vorangegangenen Ab -<br />

schnitt thematisierten Probleme der fehlenden Dia -<br />

gnostik und Indikation bei gerichtlich angeordneter<br />

oder in der JVA angebotener Psychotherapie verringern<br />

würden: Auch hierzu würde der Sachverständige<br />

bereits im Vorwege Stellung nehmen müssen.<br />

Diese Begutachtungen könnten dann auch die (u.E.<br />

schon jetzt geringe) Zahl derjenigen Gefangenen mi -<br />

ni mieren, bei denen sich erst während der Haft der<br />

„Hang zu erheblichen Straftaten“ zeigt, und so die verfassungsrechtlich<br />

bedenkliche nachträgliche Anord -<br />

nung der Sicherungsverwahrung überflüssig machen.<br />

Allerdings ist für eine solche Regelung eine deutliche<br />

Erhöhung der quantitativen und auch qualitativen<br />

Kapazität an Sachverständigen erforderlich, welche<br />

idealiter forensisch, sexualmedizinisch und therapeutisch<br />

qualifiziert sein müssten: Nach unserer<br />

Schät zung werden gegenwärtig maximal 15% aller<br />

Se xualstraftäter im erkennenden Verfahren begutachtet.<br />

Einer der Gründe dafür, dass Richter häufig auf die<br />

Einholung von Gutachten verzichten, dürfte darin<br />

bestehen, dass Sachverständige fehlen und die Ver fah -<br />

ren dadurch in die Länge gezogen würden (mit den<br />

bekannten misslichen Auswirkungen, insbesondere in<br />

Haftsachen).<br />

Ein solcher Qualifizierungsbedarf für Sexualmedi -<br />

zin und Forensik besteht im übrigen jetzt schon durch<br />

die gestiegene Nachfrage nach Entlassungsbegutach -<br />

tungen: Nach unserem Eindruck kommt es hier aufgrund<br />

von Gutachtermangel zur Verzögerung und<br />

nicht selten auch zum Ausbleiben der – zu Reso zia li -<br />

sierungszwecken und auch für therapeutisch begleitete<br />

Erprobungen eigentlich unerlässlichen – vorzeitigen<br />

2/3-Entlassung auf Bewährung.<br />

Dringender Qualifikationsbedarf besteht darüber hinaus<br />

für ambulante, intramurale oder in So zial the ra peu -<br />

tischen Einrichtungen tätige Therapeutinnen und<br />

Therapeuten von Sexualstraftätern (Beier et al. 2000).<br />

Es ist deshalb zu hoffen, dass die von verschiedenen<br />

Fachgesellschaften (unter anderem der Akademie für<br />

Sexualmedizin) entfalteten Initiativen zur Einführung<br />

von Curricula und Weiterbildungsnachweisen in<br />

Forensischer Psychiatrie (Nedopil & Sass, 1997; Sass,<br />

2000) und in Sexualmedizin (Vogt et al. 1995; Beier<br />

1999) hier eine Wende zum Besseren bringen.<br />

<strong>Literatur</strong>:<br />

Beier, K.M. (1999): Sexualmedizin: Berufsbegleitende Fort bildung mit<br />

Zertifikat. Dt Ärztebl 96: A-2075-2077.<br />

Beier, K.M.; Hartmann, U.; Bosinski H.A.G. (2000): Be darfs analyse zur<br />

sexualmedizinischen Versorgung. Sexu ologie 7: 95f.<br />

Beier, K.M.; Bosinski, H.A.G.; Hartmann, U.; Loewit, K.: Sexual me -<br />

dizin. Urban und Fischer: München 2001<br />

Beier, K.M.; Hinrichs, G. (1995): Psychotherapie mit Straf fälligen.<br />

Stand or te und Thesen zum Verhältnis von Patient – Therapeut – Jus -<br />

tiz. Stuttgart: Fischer Verlag.<br />

Böllinger, L. (1999): Ein Schlag gegen das Resoziali sie rungs prinzip.<br />

Offenbarungspflicht der Therapeuten im Straf vollzug. Z f Sexual -<br />

forsch 12: 140-158.<br />

Bosinski, H.A.G. (1997): Sexueller Kindesmißbrauch: Opfer, Tä ter und<br />

Sank tionen. Sexuologie 4: 27-88.<br />

Kaatsch, H.-J. (1984): Die Zuziehung des medizinischen Sach ver ständi -<br />

gen bei Anordnung der Sicherungs ver wah rung (§§ 80a, 246a StPO).<br />

Beiträge zur Geschichtl Medizin 42: 5-8.<br />

Kinzig, J. (1997): Die Gutachtenpraxis bei der Anordnung der Si che -<br />

rungs verwahrung. Recht & Psychiatrie 15: 9-19.<br />

Nedopil, N. (1999): Begutachtung zwischen öffentlichem Druck und<br />

wissenschaftlicher Erkenntnis. Recht & Psy chiatrie 17: 120-126.<br />

Nedopil, N.; Sass, H. (1997): Schwerpunkt „Forensische Psy chia trie“?<br />

Nervenarzt 68: 529-530<br />

Ponseti, J.; Vaih-Koch, S.R.; Bosinski, H.A.G. (2001): Zur Ätiologie von<br />

Sexualstraftaten: Neuropsychologische Parameter und Ko mor bidität.<br />

Sexuologie 8: 65-77.<br />

Rotthaus, K.P. (1998): Neue Aufgaben für den Strafvollzug bei der<br />

Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen ge fährlichen Straf ta ten.<br />

NStZ, H. 12: 597-600.<br />

Sass, H. (2000): Zur Musterweiterbildungsordnung: Schwer punkt „Fo -<br />

rensische Psychiatrie“, Weiterbildungs cur riculum und Übergangsbestimmungen.<br />

Nervenarzt 71: 763-765<br />

Schöch, H. (1998): Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexu aldelikten und<br />

anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1. 1998. NJW 18: 1257-1262.<br />

Schöch, H. (1999): Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Justiz -<br />

vollzug gem. § 182 II StVollzG. Z Str Vo 5/ 99: 259-266.<br />

Vogt, H.-J.; Loewit, K.; Wille, R.; Beier, K.M.; Bosinski, H.A.G. (1995):<br />

Zusatzbezeichnung „Sexualmedizin“ – Be darfsanalyse und Vorschlä -<br />

ge für einen Gegenstandskatalog. Sexuologie 2: 65-89.<br />

Anschriften der Autoren<br />

Priv.-Doz. Dr.med. Hartmut A.G. Bosinski, Dipl.-Psych. Jorge Ponseti, Dipl.-Psych. Falk Sakewitz; Sexu al me -<br />

dizinische Forschungs- und Beratungsstelle, Universitätsklinikum der CAU; Arnold-Heller-Str. 12; 24105 Kiel; e-<br />

mail: hagbosi@sexmed.uni-kiel.de


Aktuelles<br />

International Academy of Sex Research (IASR) Twenty-Eighth Annual Meeting<br />

Hamburg, 19. – 22. Juni<br />

Die 28. Jahrestagung der IASR findet vom 19. bis 22. Juni 2002 im Hotel Hafen Hamburg in Ham burg<br />

statt. Das Programm umfasst Invited Lectures“ und Symposia zu aktuellen Themen sowie Pos ter -<br />

sitzungen und eine „Sexological Debate“.<br />

Vorläufiges Programm<br />

Invited Lectures<br />

Roy Baumeister, „Erotic plasticity and female sexuality“<br />

Hennig Bech, „Gendertopia: Development of gender relations in late modernity“<br />

Jill Becker, „Females in charge: Estrogens, dopamine, and sexual reward“<br />

Stephen Levine, „The nature of sexual desire: A clinical perspective“<br />

Symposia<br />

Sex research in Germany (Organisation Hertha Richter-Appelt)<br />

Sexual pharmacology: Mechanisms, molecules and mating (Ray Rosen)<br />

Sexual strategies: Lessons from Pisces (KimWallen)<br />

The impact of human rights, disease and changing gender scripts on women's sexuality (Anke A.<br />

Ehrhardt)<br />

Sociology of the family revisited. New lifestyles and their consequences for the upbringing of children in<br />

Western societies (JanTrost)<br />

Developmental sexuality (Lucia O’Sullivan)<br />

Post communist sexualities (LeonoreTiefer)<br />

Love, lust, and female sexual orientation (Michael Bailey)<br />

Debate in Sexology<br />

Parental rights and selection for sexual orientation (Aaron Greenberg, Martin Dannecker)<br />

Nähere Informationen/ Anmeldeformulare<br />

Prof. Dr. Gunter Schmidt, Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt<br />

Abteilung für Sexualforschung, Klinikum der Universität Hamburg<br />

Martinistraße 52, 20246 Hamburg<br />

Tel.: 040 – 42803 2225/ 3224/ 3242, Fax: 040 - 42803 6406<br />

e-mail: schmidt@uke.uni-hamburg.de<br />

Call for Papers: SEXUALITY IN MODERN GERMAN HISTORY<br />

Conference at the German Historical Institute, Washington DC, October 24-27, 2002<br />

Conveners: Edward R. Dickinson (Univ. of Cincinnati) and Richard F. Wetzell (GHI)<br />

The German Historical Institute in Washington DC is calling for the submission of abstracts for proposed<br />

papers for a conference on the history of sexuality in nineteenth and twentieth-century German-speaking<br />

Europe. The past decade has seen a tremendous growth of research and publications on sexuality<br />

in modern German history. This conference is designed to bring together historians working on different<br />

aspects of the history of sexuality in order to exchange ideas, share ongoing research, evaluate different<br />

theoretical frameworks and methodologies, assess the state of the field, debate emerging interpretive<br />

paradigms, and sketch out agendas for future research.<br />

- sexual practices<br />

- sexual minorities and sub-cultures<br />

- sexual identities<br />

- sex reform<br />

- sex research and sexual science<br />

- sex and commerce (prostitution, pornography, sex<br />

industry)<br />

- sexuality and medicine, including the medical regulation<br />

of sexualities<br />

Possible topics include:<br />

- sexuality and the law, including the policing of<br />

sexualities and censorship<br />

- sexuality and politics, including the legislative<br />

regulation of sexualities<br />

- sexuality and political ideologies<br />

- sexuality and race<br />

- sexuality and religion<br />

- sexuality and the arts (including literature, theater,<br />

cinema, fine arts, music)<br />

- sexuality and feminism<br />

We are hoping to bring together about fifteen historians from North America and Europe. Preference will<br />

be given to papers that present ongoing research. All papers must be submitted in advance (by Sep tem -<br />

ber 1) and will be circulated to participants six weeks before theconference. The conference panels will<br />

be in workshop format, focusing on comments and discussion. All papers must be in English. Funds fortravel<br />

and hotel accommodation are available.<br />

Please send your (1) paper title and abstract (max. 500 words, in English) and (2) curriculum vitae – by<br />

regular mail, fax or email – to the following address by APRIL 1, 2002:<br />

History of Sexuality Conference, Attn: Dr. Richard F. Wetzell, German Historical Institute, 1607 New<br />

Hampshire Ave, NW, Washington DC 20009-2562, USA<br />

e-mail: r.wetzell@ghi-dc.org, Fax: 1-202-483-3430<br />

For general information about the German Historical Institute in<br />

Washington DC please consult our website at http://www.ghi-dc.org<br />

Sexuologie<br />

Hinweise für Autorinnen und Autoren<br />

Sexuologie ist eine interdisziplinäre Fachzeitschrift für angewandte Sexual wis senschaft<br />

und veröffentlicht deutschsprachige Beiträge zur empirischen Sexual forschung. Beiträge<br />

gliedern sich in Originalarbeiten (ca. 10 Seiten), Histo ria (ca. 5 Seiten), Kasuistiken und<br />

Fallberichte (ca. 3 Seiten) sowie Buchrezensionen. Eingerichtete Manuskripte werden<br />

anonymisiert von zwei Gutachtern bzw. Gutachterinnen beurteilt. Die Redaktion bittet,<br />

folgende Hinweise zu beachten:<br />

Manuskripte<br />

Veröffentlicht werden nur Texte, die weder vollständig noch in Teilen an der weitig publiziert<br />

oder zur Publikation eingereicht wurden. Manuskripte ein schließlich <strong>Literatur</strong> ver -<br />

zeichnis, Abbildungen, Abbildungslegenden und Tabellen sind in einfacher Ausfertigung<br />

einzureichen. Sie sind einseitig, zweizeilig (mit breitem Rand links) zu schreiben und<br />

durchzunummerieren. Ein gesondertes Blatt soll enthalten: 1. kurzer, klarer Titel der Ar -<br />

beit; 2. Namen, Vornamen aller Autoren; 3. voll ständige Anschrift mit Bezeichnung der<br />

Abteilung, Klinik bzw. Institut; 4. Korrektur- und Korrespondenzadresse mit Telefon -<br />

nummer und ggf. Faxnummer und e-mail Adresse.<br />

Die Beiträge sollten nach Annahme in einem gängigen Text ver arbeitungspro-gramm auf<br />

Disket te oder Zip-Diskette eingereicht werden, nach Rücksprache ist auch elektronische<br />

Übermittlung möglich. Der Text ist unformatiert in der oben angegebenen Reihenfolge<br />

zu verfassen. Graphik dateien können übernommen werden. Die Diskette ist mit einem<br />

Etikette zu versehen, auf dem Dateiname und verwendetes Programm vermerkt sind.<br />

Aufbau und Gestaltung des Beitrags<br />

Vor dem Text stehen: 1. der Titel in Englisch, 2. die Au to rennamen, 3. eine deutsche und<br />

eine englische Zusam menfassung (jeweils ca. 250 Worte), die Hinter grund, Methodik<br />

und Ergebnisse der Arbeit darstellen. Unter den Zusam men fassungen stehen jeweils drei<br />

bis fünf „key words" bzw. Schlüs selwörter, entsprechend dem Medical Subject Heading<br />

des Index Medicus. Der Beitrag ist zu gliedern, bei Originalarbeiten z.B. durch kurze, klare<br />

Zwischenüber schriften wie Metho dik, Ergebnisse, Diskussion. Her vorhebungen sind kursiv<br />

möglich; die Wörter im Manuskript kursiv schreiben oder unterstreichen; Texte in<br />

Klein druck (petit) durch einen senkrechten Strich am linken Manuskriptrand markieren.<br />

<strong>Literatur</strong>angaben<br />

<strong>Literatur</strong>verweise im Text erfolgen bei ein oder zwei Autoren unter Nennung des<br />

Nachnamens und der Jahreszahl (Bsp.: Müller 1988 bzw. Müller & Meier 1990). Bei<br />

mehr als zwei Autoren wird der Nachnamens des Erstautors genannt und der Zusatz im<br />

Satz „und Mitarbeiter", in Klammer „et al." (Bsp.: im Text: Müller und Mitarbeiter 1967,<br />

in der Klammer: Müller et al. 1967). Bei mehr als einer Arbeit desselben Autors aus demselben<br />

Jahr sind die Arbeiten mit a, b, c, usw. nach der Jahreszahl zu versehen. Mehrere<br />

in einer Klammer aufgeführte <strong>Literatur</strong>verweise sind nach Erscheinungsjahr geordnet und<br />

durch Semikola getrennt aufzuführen (Bsp.: Müller 1980; Abraham 1985). Wörtliche<br />

Zitate sind im Text durch Anführungsstriche zu kennzeichnen und mit Seitenangaben<br />

aufzuführen (Bsp.: „....." Müller 1989: 325).<br />

Die Bibliographie ist alphabetisch nach den Nachnamen der Erstautoren zu ordnen. Die<br />

Arbeiten sind mit allen Autoren (Nachname, Vornamensinitialen), ggf. getrennt durch<br />

Semikola, aufzuführen. Nach dem Autorennamen folgt die Jahreszahl der Publikation in<br />

Klammern, gefolgt durch einen Doppelpunkt. Periodika werden entsprechend dem Index<br />

Medicus ohne Punkt abgekürzt. Der Jahrgangs-/Bandangabe folgt nach einem Dop -<br />

pelpunkt die Seitenangabe. Bei Monographien wird Verlagsort, Verlag und ggf. Seiten -<br />

angabe aufgeführt.<br />

Bsp. Zeitschriftenartikel<br />

Abbott, D.H.; Holman, S.D.; Berman, M.; Neff, D.A.; Goy, R.W. (1984): Effects of opiate<br />

antagonists on hormones and behavoir of male and female rhesus monkeys. Arch Sex<br />

Behav 13: 1-25.<br />

Bsp. Monographien<br />

Monkey, J. (1986): Venuses penuses: Sexology, sexosophy, and exigency therory. Buffalo:<br />

Promethes books.<br />

Bsp. Buchbeiträge<br />

Meyer-Bahlburg, H.F.L. (1992): Möglichkeiten und Grenzen psychoendokrinologischer für<br />

die menschliche Geschlechtertypik. In: Wessel, K.F.; Bosinski, H.A.G. (Hrsg.). Interdis -<br />

ziplinäre Aspekte der Geschlechterverhältnisse in einer sich wandelnden Zeit. Bielefeld:<br />

Kleine Verlag, 103-120.<br />

Nach der Bibliographie ist die Anschrift des Autors/ aller Autoren mit dem akademischen<br />

Titel, Vor- und Nachname und Korrespondenzadresse anzuführen.<br />

Tabellen, Abbildungen und Legenden<br />

Tabellen, Abbildungen sind zu numerieren und mit einer Überschrift zu versehen. Die Ein -<br />

schalt stelle ist am Manuskriptrand zu kennzeichnen. Abbildungen – falls sie nicht als<br />

Grafikdatei vorhanden sind – sind als reproduktionsfertige Vorlagen zu liefern: etwa als<br />

Strichzeichnungen, Graphiken, Computer aus druk ke oder als schwarz/weiß Fotos. Bei<br />

Farbabbildung muss ein erheblicher Druck kos tenbeitrag in Rechnung gestellt werden.<br />

Abbildungen müssen durchnumeriert und auf der Rückseite mit einem Pfeil („oben") und<br />

dem Autorennamen versehen sein. Sie dürfen nicht aufgeklebt sein. Falls Abbildungen<br />

von Patienten verwendet werden, dürfen diese nicht erkennbar und identifizierbar sein.<br />

Abkürzungen<br />

Für Maßeinheiten wird das SI-System verwendet. Gebräuchliche ältere Maß angaben<br />

können in Klammern ergänzt werden. Weitere Abkürzungen sollten nach Möglichkeit<br />

vermieden werden. In jedem Fall sollte der ersten Verwendung der Abkürzung die ausgeschriebene<br />

Vollform vorangestellt werden. Bei Medikamenten werden die Generika<br />

angegeben. Präparatennamen (Handelsnamen) können in Klammern ergänzt werden.<br />

Bei Geräten oder Ins trumenten sollte generell die allgemeinen Bezeichnungen verwendet<br />

werden. Herstellerbezeichnungen können in Klammern ergänzt werden.<br />

Verwendung von bereits publizierten Materialien<br />

Eine Verwendung von Materialien aus den anderen Quellen (z.B. Abbildungen, Tabellen)<br />

ist nur bei genauer Quellenangabe und mit Erlaubnis des Urhebers möglich.<br />

Korrekturen<br />

Der Korrespondenzautor erhält einen Korrekturabzug (Fahnen).<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 48 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Sexuologie<br />

Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />

für Praktische Sexualmedizin<br />

Inhalt<br />

Orginalarbeiten<br />

50 Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation. Ergebnisse der „Globalen Studie zu sexuellen Einstellungen u. Verhaltensweisen“<br />

4 Uwe Hartmann, Alfredo Niccolosi, Dale B. Glasser, Clive Gingell, Jacques Buvat, Edson Moreira, Edward Lauman<br />

61 Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf<br />

4 Martina Rauchfuß, Claudia Altrogge<br />

Fortbildung<br />

75 Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“<br />

4 Günther Fröhlich<br />

Historia<br />

83 Das Institut für Sexualwissenschaft und die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933)<br />

4 Klaus M. Beier, Rainer Alisch<br />

Aktuelles<br />

87 Entmannte Männer: Männerforschung (<strong>Literatur</strong>bericht II. Teil), Buchbesprechungen, Webtip, AIDS/HIV in der Bundesrepublik<br />

Anschrift der Redaktion<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />

D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />

Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />

D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />

E-mail: journals@urbanfischer.de<br />

Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />

Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />

64 45, Fax (03641) 62 64 21, Zur Zeit gilt die Anzeigenliste vom 01.01.2002<br />

Abonnementsverwaltung und Vertrieb: Urban & Fischer GmbH & Co. KG, Nieder -<br />

lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />

Telefon (03641) 62 64 44, Fax (03641) 62 64 43<br />

Bezugshinweise: Das Abonnement gilt bis auf Widerruf oder wird auf Wunsch befristet.<br />

Die Lieferung der Zeitschrift läuft weiter, wenn sie nicht bis zum 31.10 abbestellt wird.<br />

Erscheinungsweise: Zwanglos, 1 Band mit 4 Heften.<br />

Abo-Preis 2002: 129,- €*; Einzelheftpreis 39,- €*, Alle Prei se zzgl. Versandkosten.<br />

Vorzugspreis für persönliche Abon nenten 60,30 €*.<br />

*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />

wer den zur Zah lung akzeptiert: Visa/Eurocard/Mastercard/American Ex press (bitte Kar -<br />

ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />

Bankverbindung: Deutsche Bank Jena, Konto-Nr. 390 76 56, BLZ 820 700 00 und<br />

Postbank Leipzig, Konto-Nr. 149 249 903, BLZ 860 100 90<br />

Copyright: Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen<br />

ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />

(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />

Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />

Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />

D-99423 Weimar.<br />

Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />

alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

© 2002 Urban & Fischer Verlag<br />

Coverfoto: © gettyimages<br />

Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />

Forschung<br />

Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />

Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />

somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />

alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />

Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />

Sexuologie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />

dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />

Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />

chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />

schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />

mit Sexual straftätern.<br />

Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />

almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />

störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />

chun gen (Paraphilien, Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />

von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />

Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

Dorothee Alfermann, Leipzig<br />

Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />

Walter Dmoch, Düsseldorf<br />

Günter Dörner, Berlin<br />

Wolf Eicher, Mannheim<br />

Erwin Günther, Jena<br />

Heidi Keller, Osnabrück<br />

Heribert Kentenich, Berlin<br />

Rainer Knussmann, Hamburg<br />

Götz Kockott, München<br />

Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />

John Money, Baltimore<br />

Elisabeth Müller-Luckmann,<br />

Braunschweig<br />

Piet Nijs, Leuven<br />

Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />

Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />

Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />

Wolfgang Sippell, Kiel<br />

Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />

Hans Martin Trautner, Wuppertal<br />

Henner Völkel, Kiel<br />

Hermann-J. Vogt, München<br />

Reinhard Wille, Kiel<br />

Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) PSYNDEX · PsycINFO<br />

Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />

nis können Sie jetzt auch kostenlos per e-mail (ToC Alert Service) erhalten. Melden Sie sich an: http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation<br />

Ergebnisse der „Globalen Studie zu sexuellen<br />

Einstellungen und Verhaltensweisen“ 1<br />

Uwe Hartmann, Alfredo Niccolosi, Dale B. Glasser, Clive Gingell, Jacques Buvat,<br />

Edson Moreira, Edward Lauman 2<br />

Sexuality in patient-physiciancommunication.<br />

Results of „The<br />

Global Study of Sexual Attitudes<br />

and Behaviors“<br />

Abstract<br />

The „Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors<br />

(GSSAB)“ was developed to better understand the sexual<br />

attitudes and beliefs of men and women age 40 and<br />

older regarding sex, relationships, and treatment-seeking<br />

behavior for sexual dysfunction. A multidisciplinary board<br />

of international experts developed the 61-item questionnaire<br />

that was administered by telephone interview,<br />

in-person interview of self-completion (varying by country).<br />

The survey involved approximately 26.000 men and<br />

women in 28 countries representing all world regions. In<br />

this initial report we describe data evaluating patient-physician<br />

communication with a special focus on the results<br />

from Germany. Overall, more than 80% of men and 60%<br />

of women said that sex was moderately, very or extremely<br />

important in their life. Worldwide, a high percentage<br />

of women (44%) and men (39%) reported sexual problems<br />

in the past 12 months but only 9% had been asked<br />

by a physician about sexual difficulties. In Germany, 11%<br />

said that a physician had asked them about sexual problems<br />

without bringing it up first. When asked if a doctor<br />

should routinely inquire about sexual function, approximately<br />

50% replied yes. Looking at the main barriers to<br />

medical care, the data from Germany show that misconceptions<br />

(no medical problem, normal part of getting<br />

older), prejudices, a low degree of discomfort and a tendency<br />

to hope that the problem would go away most<br />

often obstruct mentioning sexual problems to health care<br />

providers. These preliminary results suggest that sexual<br />

health remains important to men and women over age<br />

1 Die GSSAB wurde gesponsert von Pfizer.<br />

2 für die GSSAB Experten Gruppe<br />

40. As sexual problems can negatively impact overall quality<br />

of life and are in most cases treatable, these data<br />

underscore the need for increased patient-physician communication.<br />

The results from this survey should aid physicians<br />

to better understand and initiate discussions regarding<br />

the sexual health needs of their patients.<br />

Zusammenfassung<br />

Die „Globale Studie zu sexuellen Einstellungen und<br />

Verhaltensweisen (GSSAB)“ wurde geplant, um die sexuellen<br />

Einstellungen und Überzeugungen von Männern<br />

und Frauen zwischen 40 und 80 Lebensjahren zu sexueller<br />

Gesundheit, Partnerschaft und dem Hilfesuchverhalten<br />

bei sexuellen Problemen zu erfassen. Eine multidisziplinäre<br />

Gruppe internationaler Experten entwickelte den 61<br />

Items umfassenden Fragebogen, der die Grundlage der<br />

Befragung bildete, die je nach technischen Vorausset zun -<br />

gen und landesüblichen Gegebenheiten per Telefon oder<br />

als persönliches Interview durchgeführt wurde. In die Stu -<br />

die konnten bislang ca. 26.000 Männer und Frauen aus<br />

28 Ländern einbezogen werden, die alle Regionen der<br />

Welt repräsentieren. In diesem ersten Report werden die<br />

Daten zur Bewertung der Arzt-Patient-Kommu ni kation<br />

be schrieben mit einem besonderen Focus auf den Ergeb -<br />

nissen aus Deutschland. Insgesamt berichteten mehr als<br />

80% der Männer und 60% der Frauen, dass Sexualität in<br />

ihrem Leben mittelmäßig, sehr oder extrem wichtig ist.<br />

Weltweit gab ein hoher Prozentsatz der Frauen (44%) und<br />

Männer (39%) an, in den vergangenen 12 Monaten sexuelle<br />

Probleme gehabt zu haben, aber nur 9% sind von<br />

einem Arzt in den letzten 3 Jahren nach sexuellen Proble -<br />

men gefragt worden. In Deutschland sind 11% der Be -<br />

frag ten von ihrem Arzt aktiv nach sexuellen Schwierig -<br />

keiten gefragt worden, aber ca. 50% stimmten der Aus -<br />

sage zu, dass ein Arzt seine Patienten routi ne mäßig nach<br />

ihrer sexuellen Funktion fragen sollte. Be trachtet man die<br />

Haupthindernisse, Hilfe für sexuelle Pro ble me zu suchen,<br />

dann zeigen die Daten aus Deutsch land, dass Fehlüber -<br />

zeugungen (kein medizinisches Problem, normaler Teil<br />

Sexuologie 9 (2) 2002 50 – 60 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 51<br />

des Alterns), Vorurteile, ein geringer Leidensdruck und die<br />

Hoffnung, dass sich das Pro blem von allein wieder gibt,<br />

am häufigsten das An sprechen durch den Patienten verhindert.<br />

Insgesamt zeigen diese vorläufigen Ergebnisse,<br />

dass sexuelle Gesund heit bei beiden Geschlechtern auch<br />

im höheren Lebens alter wichtig bleibt. Da sexuelle Pro -<br />

bleme die allgemeine Lebensqualität negativ beeinflussen<br />

und in den meisten Fällen behandelbar sind, unterstreichen<br />

die Daten der GSSAB die Notwendigkeit einer verbesserten<br />

Arzt-Patient-Kommunikation. Die Resultate dieser<br />

Studie sollen Ärzten und Sexualtherapeuten helfen,<br />

die sexuellen Pro bleme ihrer Patienten besser zu verstehen<br />

und Gespräche über die sexuelle Gesundheit zu initiieren.<br />

Einleitung<br />

Die hohe Prävalenz und Inzidenz sexueller Funk -<br />

tionsstörungen konnte in den vergangenen 10 Jahren<br />

in einer Reihe empirischer Studien an repräsentativen<br />

Stichproben eindrucksvoll bestätigt werden. So wurde<br />

sowohl in der Massachussetts Male Aging Study<br />

(MMAS; Feldman et al. 1994) als auch in der Kölner<br />

Männer Studie (Braun et al. 2000) die hohe Verbrei -<br />

tung erektiler Dysfunktionen sowie deren Zusammen -<br />

hang zu Lebensalter und psychischem und physischem<br />

Gesundheitszustand belegt. In der National<br />

Health and Social Life Survey (NHSLS) in den USA<br />

(Lauman et al. 1994, 1999) sowie in einer Studie in<br />

England (Dunn et al. 1998) zeigte sich, dass sogar<br />

noch mehr Frauen als Männer das Vorhandensein se -<br />

xu eller Probleme angaben (43% gegenüber 31% in der<br />

NHSLS, 41% gegenüber 34% in der englischen Un -<br />

ter suchung).<br />

Diese hohen Prävalenzzahlen sowie die seit Ende<br />

der 90er-Jahre (bislang nur für die männlichen<br />

Dysfunktionen) verfügbaren oralen Medikamente zur<br />

Behandlung sexueller Dysfunktionen lenkten das<br />

Interesse der Fachwelt, aber auch der interessierten<br />

Öffentlichkeit verstärkt auf das Inanspruchnahme ver -<br />

halten professioneller Hilfe sowie auf die Versor -<br />

gungssituation der von sexuellen Problemen betroffenen<br />

Personen. Dabei kristallisierten sich in verschiedenen<br />

Untersuchungen vor allem zwei Phänomene als<br />

bedeutsam heraus:<br />

(1) Die geringe Motivation oder Bereitschaft vieler<br />

Betroffener, Hilfe für ihre sexuellen Probleme zu<br />

suchen und<br />

(2) die schwierige Stellung des Themas Sexualität in<br />

der Arzt-Patient-Beziehung. Es liegt auf der Hand,<br />

dass beide Punkte nicht unabhängig voneinander sind.<br />

In mehreren Studien wurde der Versuch gemacht, hierzu<br />

vertiefte Erkenntnisse zu gewinnen und die Gründe<br />

aufzuhellen.<br />

In der EDEN-Studie (Erectile Dysfunction in<br />

European Nations Survey; Gingell 1998) wurden in<br />

fünf europäischen Ländern sowohl Patienten mit<br />

Erek tionsstörungen als auch Frauen und Männer aus<br />

der allgemeinen Bevölkerung in semi-strukturierten<br />

Interviews nach Einstellungen und Kenntnissen zu<br />

Erektionsstörungen befragt. Mehr als zwei Dritteln<br />

der aus der allgemeinen Bevölkerung Befragten war<br />

der Begriff erektile Dysfunktion unbekannt, es zeigten<br />

sich zahlreiche Fehlannahmen und verzerrte Vor -<br />

stellungen und nur 20% der Männer konnten sich vorstellen,<br />

für ein Erektionsproblem unmittelbar Hilfe zu<br />

suchen und 5% gaben an, das niemals tun zu wollen.<br />

Dagegen sagten die meisten der bereits von Erek tions -<br />

störungen betroffenen Patienten, dass sie sich eine<br />

offenere Diskussion und bessere Information über<br />

erek tile Dysfunktionen wünschen würden.<br />

Mak et al. (2001) befragten in Belgien Männer<br />

nach ihren sexuellen Symptomen und nach ihrer Be -<br />

reit schaft, den Arzt darauf anzusprechen. Es zeigte<br />

sich, dass gerade die Männer mit den signifikantesten<br />

Stö rungen der sexuellen Funktion sowie die älteren<br />

Männer die geringste Bereitschaft aufwiesen, ihren<br />

Arzt anzusprechen. Gerade die Betroffenen also, die<br />

den größten Gesprächs- und Therapiebedarf haben,<br />

erhalten diese Unterstützung letztlich am wenigsten.<br />

Die Autoren betonten daher, dass der Arzt über spezielle<br />

Kommunikationsmittel verfügen sollte und das<br />

Gespräch initiieren muss.<br />

In der schon erwähnten englischen Studie von<br />

Dunn et al. (1998) zeigte sich mit 49% der befragten<br />

Männer und 39% der Frauen ein vergleichsweise<br />

hoher Prozentsatz an professioneller Hilfe für sexuelle<br />

Probleme interessiert. Bei den von sexuellen Pro -<br />

blemen betroffenen Personen beliefen sich die Pro -<br />

zent sätze sogar auf 64% resp. 44%. Von den Be -<br />

fragten, die angaben, Hilfe haben zu wollen, hatten<br />

jedoch nur 12% der Männer und 8% der Frauen auch<br />

tatsächlich Hilfe erhalten.<br />

Besonders deutlich zeigten sich die beiden oben<br />

aufgeführten Problemkreise in der MORI-Studie<br />

(Corrado 1999), einer im Auftrag der International<br />

Society for Impotence Research (ISIR) durchgeführten<br />

und von der Firma Pfizer gesponserten Unter -<br />

suchung in 10 verschiedenen Ländern zu Einstel -<br />

lungen von über 40jährigen Männern gegenüber erektilen<br />

Dysfunktionen. Neben Kenntnisdefiziten der<br />

Män ner zum Thema Erektionsstörungen stellte sich in<br />

dieser Untersuchung besonders die Arzt-Patient-<br />

Kommunikation als sehr problematisch heraus. Ins -<br />

gesamt 83% der Männer gaben an, noch niemals von


52 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />

ihrem Arzt auf ihre sexuelle Funktionsfähigkeit angesprochen<br />

worden zu sein und 84% hatten auch noch<br />

niemals von sich aus dieses Thema beim Arzt angesprochen.<br />

40 % der Männer bewerteten Erektions stö -<br />

rungen als das Gesundheitsproblem, für das sie am<br />

wenigsten professionelle Hilfe suchen würden.<br />

Andererseits waren zwei Drittel der Männer der An -<br />

sicht, dass ein offeneres Sprechen das Stigma ab bauen<br />

und mehr Männer einer Hilfe zuführen würde. In den<br />

beiden letztgenannten Punkten waren die Er gebnisse<br />

für Deutschland im übrigen deutlich schlechter als der<br />

Länderdurchschnitt. Während bei einer durchschnittlichen<br />

Zustimmung von 66% z.B. in Mexiko 83% der<br />

Männer glaubten, dass offenere Gespräche hilfreich<br />

wären, stimmten dem nur 48% der deutschen Männer<br />

zu. Zudem waren Erektionsstörungen für 66% der<br />

deut schen Männer (Durchschnitt 40%) das Gesund -<br />

heitsproblem, für das sie mit der geringsten Wahr -<br />

schein lichkeit Hilfe suchen würden.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Resultate bestand das<br />

Ziel der „Globalen Studie zu sexuellen Einstellungen<br />

und Verhaltensweisen“ (im folgenden GSSAB) vor<br />

allem darin, die Einstellungen und Überzeugungen<br />

von Männern und Frauen im Alter über 40 Jahren zu<br />

erfassen mit dem Focus auf Sexualität, Partnerbe -<br />

ziehung, allgemeiner und sexueller Gesundheit sowie<br />

dem Inanspruchnahmeverhalten bezüglich der Be -<br />

hand lung sexueller Probleme. Die vorliegende Arbeit<br />

beschränkt sich auf die Aspekte der Untersuchung, die<br />

sich mit der Arzt-Patient-Kommunikation und dem<br />

Hilfesuchverhalten der Befragten beschäftigen. In<br />

weiteren Beiträgen sollen andere Schwerpunkte dieser<br />

umfangreichen Studie beleuchtet werden.<br />

Zielsetzung, Methodik und<br />

Durch führung der Studie<br />

Von einer 12köpfigen, multidisziplinären, internationalen<br />

Expertengruppe wurde ein umfangreicher, 61<br />

Items umfassender Fragebogen entwickelt, der neben<br />

soziodemographischen Angaben die Bereiche (a) Ge -<br />

sundheit, Beziehung und Zufriedenheit; (b) sexuelle<br />

Gewohnheiten/Einstellungen sowie (c) Aussagen zur<br />

Sexualität/zukünftige Richtlinien um fasste. Die finanzielle<br />

Unterstützung durch die Firma Pfizer ermöglichte<br />

es, diese Studie im weltweiten Maßstab, in bislang<br />

28 Ländern aus allen 5 Kontinenten, an über<br />

26.000 Frauen und Männer durchzuführen. Dazu<br />

wurde der Fragebogen in die jeweiligen Landes spra -<br />

chen übersetzt und lokale Marktforschungs- bzw.<br />

Mei nungsforschungsfirmen beauftragt, nach entsprechender<br />

Instruktion die Befragungen durchzuführen.<br />

Die folgenden Zielsetzungen standen im Mittelpunkt<br />

der Untersuchung:<br />

! Einschätzung der Rolle und Bedeutung von Se -<br />

xualität und Intimität für den Einzelnen und die<br />

Paarbeziehung.<br />

! Einschätzung der Einstellung und Überzeugungen<br />

von Männern und Frauen zwischen 40 und 80<br />

Jahren bezüglich sexueller Gesundheit.<br />

! Darstellung der Verhaltensweisen von Männern<br />

und Frauen, die eine Behandlung für ihre sexuellen<br />

Probleme suchen.<br />

! Bereitstellung einer internationalen Baseline von<br />

Daten zur Sexualität, die für die Zukunft genutzt<br />

werden kann, um Veränderungen abzubilden.<br />

Ein weiteres Hauptziel besteht darin, die Daten und<br />

Erkenntnisse aus der GSSAB einzusetzen, um daraus<br />

Lehr- und Fortbildungsmaterialien für Fachkreise und<br />

Laienpublikum zu entwickeln und so einen offeneren<br />

Dialog über sexuelle Gesundheit zu ermöglichen.<br />

Die in die Studie bislang einbezogenen Länder<br />

und die für sie verwendeten Abkürzungen kann Tabel -<br />

le 1 entnommen werden.<br />

Tab. 1: Aufstellung der beteiligten Länder und der verwendeten Abkür -<br />

zungen<br />

Afrika/Mittlerer Osten<br />

Algerien = ALG<br />

Ägypten = EGY<br />

Israel = ISR<br />

Marokko = MOR<br />

Türkei = TUR<br />

Asien<br />

China = CHN<br />

Hong Kong = HKG<br />

Indonesien = IDN<br />

Japan = JPN<br />

Korea = KOR<br />

Malaysia = MYS<br />

Philippinem = PHL<br />

Singapore = SGP<br />

Taiwan = TWN<br />

Thailand = THA<br />

Australasien<br />

Australien = AUS<br />

Neu Seeland = NZL<br />

Europa<br />

Belgien = BEL<br />

Frankreich = FR<br />

Deutschland = GER<br />

Italien = ITA<br />

Spanien = SPN<br />

Schweden = SWE<br />

Großbrittanien = UK<br />

Latein Amerika<br />

Brasilien = BRA<br />

Mexiko = MEX<br />

Nord Amerika<br />

Canada = CAN<br />

Vereinigte Staten = USA


Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 53<br />

Nach verschiedenen Mastervariablen (Geschlecht, Al -<br />

ter, Stadt-Land-Bevölkerung, Bildung etc.) wurden<br />

die für eine Repräsentativstichprobe erforderlichen<br />

Quo ten bestimmt. Die Stichprobengröße betrug zwischen<br />

500 (in den meisten asiatischen und afrikanischen<br />

Ländern) und 1500 (in Europa, Amerika und<br />

Australien/Neuseeland) Personen. Je nach technischen<br />

Voraussetzungen und landesüblichen Gegebenheiten<br />

wurde die Befragung per Telefon (in 14 Ländern; nach<br />

dem random digit dialing Verfahren) oder als persönliches<br />

Interview (in 13 Ländern) durchgeführt und in<br />

einem Land (Japan) wurde der Fragebogen von den<br />

Teilnehmern selbst beantwortet und zurück gesendet.<br />

In allen Europäischen Ländern wurde die Befragung<br />

als Telefoninterview durchgeführt.<br />

punkt allerdings noch keine differenzierten Länder -<br />

vergleiche vorliegen, wird sich die Ergebnisdar stel -<br />

lung dann vorwiegend auf die Daten aus Deutsch land<br />

konzentrieren.<br />

Abb. 1: Wie wichtig ist Sexualität insgesamt für Ihr Leben?<br />

% der Antworten<br />

83 %<br />

Äußerst/sehr/eher (3-5) wichtig<br />

63 %<br />

Ergebnisse<br />

1. Ergebnisse aus dem Ländervergleich<br />

Es sollen zunächst einige Ergebnisse im Länder über -<br />

blick präsentiert werden. Da zum gegenwärtigen Zeit-<br />

Basiert auf 5-stufiger Skala, auf der „5“ äußerst wichtig<br />

und „1“ überhaupt nicht wichtig repräsentiert.<br />

Abb. 2: Wie wichtig ist Sexualität insgesamt für Ihr Leben?<br />

% der Antworten<br />

Äußerst/sehr/eher (3-5) wichtig<br />

Afrika & Mittlerer Osten Asien Australien Europa Latein Amerika Nord Amerika<br />

Basiert auf 5-stufiger Skala, auf der „5“ äußerst wichtig und „1“ überhaupt nicht wichtig repräsentiert.


54 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />

Die Abbildungen 1 und 2 zeigen für alle Länder ge -<br />

mittelt sowie für die einzelnen Länder im Vergleich<br />

die Bedeutung, die die befragten Personen der Se xu -<br />

alität für ihr Leben insgesamt geben. Dabei zeigt sich,<br />

dass für die meisten Menschen Sexualität einen wichtigen<br />

Stellenwert einnimmt. Allerdings messen ihr<br />

mehr Männer als Frauen eine hohe Bedeutung zu und<br />

auch im Ländervergleich sind erhebliche Unterschiede<br />

erkennbar. In Europa sind es mit Ausnahme von Groß -<br />

britannien jeweils 75% und mehr, für die Sexualität<br />

eine wichtige Rolle im Leben einnimmt.<br />

Abb. 3: Haben Sie während der letzten 12 Monate für eine Dauer von mindestens<br />

2 Monaten in Folge irgendwelche sexuellen Probleme erlebt?<br />

% der Antworten<br />

Beinhaltet:<br />

• Mangelndes Interesse an Sexualität<br />

• Sexualität nicht als angenehm erlebt<br />

• Zu früher Orgasmus<br />

• Schmerzen<br />

• (Männer) Erektionsprobleme<br />

• (Frauen) Lubrikationsprobleme<br />

39 % 44 %<br />

Bei der Frage nach sexuellen Problemen wurde der<br />

gleiche Fragetext und die gleichen Kategorien wie in<br />

der oben erwähnten NHSLS-Studie verwendet, um so<br />

eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten und<br />

einen Eindruck von der Validität der Daten zu bekommen.<br />

Wie Abbildung 3 zeigt, stimmen die über alle<br />

Länder aggregierten Daten für die sexuellen Probleme<br />

der Frauen (44%) fast exakt mit den US-amerikanischen<br />

Daten der NHSLS (43%) überein, während die<br />

Prävalenz bei den Männer höher ist (39% vs. 31%),<br />

was sehr wahrscheinlich auf die andere Alterszu -<br />

sammen setzung dieser Stichprobe (40 – 80jährige vs.<br />

18 – 59jährige in der NHSLS) zurückzuführen ist.<br />

Insgesamt sprechen diese Ergebnisse für eine weltweit<br />

hohe Prävalenz von subjektiv empfundenen Proble -<br />

men mit der Sexualität.<br />

Die Antworten auf die Frage, ob die Befragten in<br />

den letzten 3 Jahren von einem Arzt auf das Thema<br />

Sexualität angesprochen worden sind (Abb. 4), werfen<br />

ein eindrucksvolles Schlaglicht auf die Stellung der<br />

Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation. Welt -<br />

weit haben nur 9% der befragten Personen diese Frage<br />

bejaht, wobei sich auch hier interessante und durchaus<br />

überraschende Länderunterschiede zeigen.<br />

Abb. 5 zeigt, dass die Bereitschaft der Stu dien -<br />

teilnehmer, von sich aus den Arzt auf sexuelle Pro ble -<br />

me anzusprechen, vergleichsweise höher ist. Dies mag<br />

ein Hinweis darauf sein, dass der Mut der Be troffenen,<br />

den Arzt anzusprechen und ihm kompetente Hilfe ab -<br />

zuverlangen, gestiegen ist und die Schwie rigkeiten in -<br />

zwischen stärker auf Seiten der Ärzte liegen. Es verweist<br />

auch auf den dringenden Aus- und Wei terbil -<br />

dungsbedarf im Bereich der Sexualmedizin.<br />

Abb. 4: Hat Ihr Arzt Sie während der letzten 3 Jahre nach sexuellen Problemen gefragt?<br />

Afrika & Mittlerer Osten Asien Australien Europa Latein Amerika Nord Amerika


Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 55<br />

Abb. 5: Haben Sie während der letzten 12 Monate Ihren Arzt für Ihre sexuelle Probleme um Hilfe gefragt?<br />

% der Antworten<br />

Afrika & Mittlerer Osten Asien Australien Europa Latein Amerika Nord Amerika<br />

2. Die Ergebnisse aus Deutschland<br />

Die deutsche Stichprobe umfasste 751 Männer und<br />

750 Frauen. 252 Männer und 223 Frauen fielen in die<br />

Altergruppe 40 – 49, 206 Männer und 187 Frauen in<br />

die Altersgruppe 50 – 59, 192 Männer und 190 Frauen<br />

in die Altersgruppe 60 – 69 und 101 Männer sowie<br />

150 Frauen in die Gruppe 70 – 80 Jahre. 65% waren<br />

verheiratet, 3% zusammenlebend, 8% ledig, 13% verwitwet,<br />

3% getrennt und 8% geschieden. Der maximal<br />

erreichte Bildungsstand war für 43% Hauptschule, für<br />

32% Realschule und für 24% Gymnasium/Universität<br />

(1% machten keine Angaben). 50% waren voll- oder<br />

teilzeit berufstätig, 6% Hausfrau/-mann, 39% Rentner,<br />

3% arbeitslos und 2% arbeitsunfähig. 45% lebten in<br />

der Stadt, 20% in Vorstädten und 35% im ländlichen<br />

Bereich.<br />

Abb. 6: Wie wichtig ist Sexualität für Sie?<br />

Frauen


56 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />

Abb. 7: Wie wichtig ist Sexualität für Sie?<br />

Männer<br />

Die Abbildungen 6 und 7 zeigen die Bedeutung, die<br />

Sexualität in den verschiedenen Altersgruppen bei<br />

Män nern und Frauen hat. Es ist erkennbar, dass die<br />

Angaben bei beiden Geschlechtern in der Alters -<br />

gruppe 40 – 49 praktisch identisch sind, ab dem 50.<br />

Lebensjahr diese Bedeutung bei den Frauen aber ab -<br />

nimmt, bei den Männer dagegen auf einem recht ho -<br />

hen Niveau erhalten bleibt. Generell ist den Daten im<br />

übrigen zu entnehmen, dass in verschiedenen Para me-<br />

Abb. 8: Hatten Sie während der letzten zwölf Monate für mindestens zwei Monate<br />

Probleme mit... ?<br />

tern bei den Frauen bedeutsame Veränderungen in der<br />

Altersgruppe 50 – 59 zu erkennen sind (geringere<br />

Bedeutung, mehr Probleme), während diese Ten -<br />

denzen – wenngleich geringer ausgeprägt – bei den<br />

Män ner erst in der Altersgruppe ab 60 deutlich werden.<br />

Abbildung 8 zeigt die Verteilung der sexuellen<br />

Pro bleme bei beiden Geschlechtern. Während der re -<br />

lative Anteil der Probleme und ihre „Rangfolge“ den<br />

Daten anderer Studien wie der NHSLS entsprechen,<br />

sind die absoluten Zahlen in der deutschen Stichprobe<br />

sowohl im Ländervergleich als auch im Vergleich mit<br />

anderen Erhebungen auffallend niedrig. So weisen die<br />

deutschen Befragten im Verhältnis zu den anderen eu -<br />

ro päischen Ländern in allen Problemkategorien die<br />

nie drigsten Zahlen auf und während in der Kölner<br />

Män nerstudie insgesamt 19% das Vorhandensein von<br />

Erek tionsproblemen angaben, sind es hier nur 7% und<br />

auch der Prozentsatz der Frauen, die ein mangelndes<br />

Interesse an der Sexualität beklagen, ist mit 17% sehr<br />

viel niedriger als etwa in der NHSLS (knapp 30%).<br />

Der augenblickliche Stand der Datenanalysen lässt<br />

eine sinnvolle Interpretation dieser Diskrepanzen<br />

noch nicht zu. Denkbar sind generelle Verleug nungs -<br />

tendenzen gegenüber sexuellen Problemen, Ver ze -<br />

rrungen durch die Art der Befragung oder eine Zu -<br />

fallsauswahl sexuell besonders „gesunder“ Per sonen.<br />

Die weiteren Auswertungen, auch im Län derver -<br />

gleich, werden hierzu sehr wahrscheinlich mehr Auf -<br />

schluss geben.<br />

Betrachten wir nun die Fragen zur Arzt-Patient-<br />

Kom munikation genauer, so lässt sich Abbildung 9<br />

entnehmen, dass während der vergangenen 3 Jahre


Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 57<br />

Abb. 9: Mein Arzt hat mich während der letzten drei Jahre nach sexuellen Pro -<br />

blemen gefragt<br />

mehr Frau en als Männer von ihrem Arzt nach sexuellen<br />

Pro blemen gefragt worden sind. Dieser Unter -<br />

schied ist wahrscheinlich der stärkeren sexualmedizinischen<br />

bzw. psychosomatischen Tradition in der<br />

Gynä kologie zuzuschreiben. Während bei den Män -<br />

nern der (geringe) Prozentsatz der von ihrem Arzt be -<br />

fragten Personen über die Altersgruppen recht konstant<br />

bleibt, werden die über 60jährigen Frauen schon<br />

deutlich weniger und die über 70jährigen praktisch gar<br />

nicht mehr auf das Thema Sexualität angesprochen.<br />

Die Abbildungen 10 und 11 zeigen getrennt für<br />

Frauen und Männer die Antwort auf die Frage, mit<br />

wem über sexuelle Probleme gesprochen wurde bzw.<br />

wo für sie Hilfe gesucht wurde. Für beide Geschlech -<br />

ter (noch etwas ausgeprägter für die Männer) ist es mit<br />

Abstand der Partner, der hier der Hauptgesprächs -<br />

partner ist. Betrachtet man die Angaben aber genauer,<br />

dann kann man auch festhalten, dass vor allem bei den<br />

Frauen für die Hälfte der Befragten und in manchen<br />

Altersgruppen sogar für einen noch höheren Anteil der<br />

Partner eben nicht der Ansprechpartner für sexuelle<br />

Probleme ist. Nicht einmal mit dem Partner kann offen<br />

gesprochen werden, nicht einmal dem Partner kann<br />

man sich anvertrauen, so kann eine Interpreta tions -<br />

linie lauten. Dass diese Ergebnisse bei den Frauen<br />

allerdings auf eine generell geringe Offenheit zurückzuführen<br />

ist, darf bezweifelt werden. Zum einen ist<br />

auffällig, dass ein sehr viel höherer Prozentsatz als bei<br />

den Männern mit Freunden oder Familienangehörigen<br />

über sexuelle Probleme spricht. Darüber hinaus ist<br />

anzunehmen, dass mehr Frauen als Männer gerade in<br />

der Paarbeziehung die Ursache der sexuellen Pro ble -<br />

me sehen und deshalb das offene Gespräch eher vermeiden.<br />

Außer dem Partner, dem Arzt, Familie und<br />

Freunden spielt im Hilfesuchverhalten nur noch die<br />

Kategorie Bücher/Magazine eine nennenswerte Rolle,<br />

während das Internet in diesen Alterskohorten noch<br />

ohne Bedeutung ist.<br />

Abb. 10: Mit wem haben Sie über Ihre Probleme gesprochen / wo haben Sie Hilfe gesucht?<br />

Frauen


58 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />

Abb. 11: Mit wem haben Sie über Ihre Probleme gesprochen / wo haben Sie Hilfe gesucht?<br />

Männer<br />

Abb. 12: Warum haben Sie mit Ihrem Arzt nicht über Ihre sexuellen Probleme<br />

gesprochen?<br />

Die in Abbildung 12 zusammengefassten Antwor ten<br />

auf die Frage nach den Gründen, warum der Arzt nicht<br />

auf vorhandene sexuelle Probleme angesprochen<br />

wurde, sind geeignet, Hinweise auf Schwierigkeiten<br />

und Barrieren in der Arzt-Patient-Kommunikation zu<br />

geben. Am häufigsten werden von beiden Geschlech -<br />

tern Gründe genannt, die mit mangelnder Ernstnahme,<br />

geringem Leidensdruck sowie einer gewissen<br />

„Schick salsergebenheit“ und einem resignativen Sich-<br />

Abfinden gegenüber sexuellen Problemen umschrieben<br />

werden können. Für fast die Hälfte der Befragten<br />

sind sexuelle Schwierigkeiten kein medizinisches Pro -<br />

blem, während der Eindruck, dass der Arzt in diesem<br />

Bereich nichts tun kann, nur bei ca. einem Viertel<br />

einen Grund für das Nicht-Ansprechen dieser Pro ble -<br />

me darstellt. Der Komplex „Peinlichkeit“ wird von<br />

auffallend wenigen Personen angeführt und auch hier<br />

ergeben sich Diskrepanzen im Ländervergleich und zu<br />

anderen Studien. Auch nach unseren klinischen Erfah -<br />

rungen steht zu vermuten, dass Scham und Pein lich -<br />

keit doch immer noch größere Hürden sind als es diese<br />

Daten ausdrücken, wobei es ja diesen Gefühlen geradezu<br />

inhärent ist, dass man sie ungern eingesteht.<br />

In Anbetracht der Tatsache, dass in den letzten 3<br />

Jahren insgesamt nur 11% der in Deutschland befrag-


Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 59<br />

ten Personen von ihrem Arzt auf sexuelle Probleme<br />

angesprochen worden sind, ist es von großen Inter -<br />

esse, ob die Befragten die Einstellung vertreten, dass<br />

ein Arzt seine Patienten routinemäßig daraufhin an -<br />

sprechen sollte. Abbildung 13 zeigt, dass ca. die Hälf -<br />

te der deutschen Stichprobe dies bejaht. In den beiden<br />

Altersgruppen zwischen 40 und 59 gibt es dabei keine<br />

nennenswerten Geschlechtsunterschiede, während es<br />

in den beiden höheren Altersgruppen doch deutlich<br />

mehr Männer sind, die sich ein regelhaftes An spre -<br />

chen des Themas wünschen würden.<br />

Abb. 13: Ein Arzt sollte seine Patienten regelmäßig nach sexuellen Problemen<br />

fragen<br />

Kommentar<br />

Die „Globale Studie zu sexuellen Einstellungen und<br />

Verhaltensweisen (GSSAB)“ ist die erste Studie, die<br />

in einem globalen internationalen Vergleich Einstel -<br />

lun gen und Verhaltensweisen von über 40jährigen<br />

Män nern und Frauen zum Bereich sexuelle Gesund -<br />

heit erfasst. Neben allgemeinen Einstellungen sollte<br />

vor allem die Bedeutung sexueller Gesundheit, das<br />

Vor handensein sexueller Probleme und das Hilfe -<br />

suchverhalten der befragten Personen fokussiert werden.<br />

Der differenzierte, 61 Items umfassende Frage -<br />

bogen wurde von einem multidisziplinären internationalen<br />

Expertenteam entwickelt und in die jeweiligen<br />

Landessprachen übersetzt. Die Befragung selbst wur -<br />

de teils als Telefonbefragung, teils in Form persönlicher<br />

Interviews von lokalen Meinungsfor schungs -<br />

firmen durchgeführt. Bislang liegen Daten aus 28<br />

Län dern, von ca. 26.000 Männern und Frauen vor.<br />

Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf eine<br />

erste Analyse der Ergebnisse zur Bedeutung von sexueller<br />

Gesundheit in der Arzt-Patient-Kommunikation.<br />

Da die Resultate und Graphiken weitgehend für sich<br />

sprechen, kann der Kommentar sich auf einige wenige<br />

Anmerkungen beschränken. Die internationalen<br />

Ergebnisse belegen, dass in den meisten Ländern Se -<br />

xualität im Leben der Menschen einen wichtigen Stel -<br />

lenwert einnimmt und diese Bedeutung auch im höheren<br />

Lebensalter nicht signifikant abnimmt. Grundsätz -<br />

lich schätzen Männer die Bedeutung der Sexualität<br />

höher ein als Frauen. Darüber hinaus lässt die Be -<br />

deutung der Sexualität und das Interesse an ihr bei<br />

Männern erst in der Altersgruppe 60 - 69 etwas nach,<br />

während das bei den Frauen bereits in der Alters -<br />

gruppe 50 – 59 geschieht.<br />

Auf die Frage, ob in den vergangenen 12 Monaten<br />

mindestens eins von verschiedenen vorgegebenen<br />

sexuellen Problemen für mindestens zwei konsekutive<br />

Monate vorhanden war, ergaben sich in der<br />

Gesamtstichprobe aller Länder die hohen Zahlen von<br />

44% bei den Frauen und 39% bei den Männern. Es ist<br />

allerdings darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um<br />

die subjektiven Einschätzungen der Befragten handelt<br />

und nicht um eine diagnostische Einstufung anhand<br />

der gängigen Diagnosekriterien. Festzuhalten ist hier<br />

also zunächst nur, dass weltweit ein erheblicher Pro -<br />

zentsatz von Frauen und Männern ihre Sexualität problembelastet<br />

und ihre sexuelle Gesundheit als eingeschränkt<br />

erlebt.<br />

Betrachtet man die Items, die die Arzt-Patient-<br />

Kommunikation erfassen, im vorliegenden, noch recht<br />

groben, Ländervergleich, dann wird die äußerst unbefriedigende<br />

Situation und der erhebliche Handlungs -<br />

bedarf in diesem Bereich überdeutlich. Weltweit sind<br />

nur 9% der befragten Personen in den zurückliegenden<br />

3 Jahren von einem Arzt auf sexuelle Probleme<br />

an gesprochen worden. 4 Jahre nach der Markeinfüh -<br />

rung von Viagra mit der ganzen diesen Vorgang be -<br />

glei tenden Aufmerksamkeit und Thematisierung sexueller<br />

Gesundheit, ist dieses Resultat eher ernüchternd.<br />

Es demonstriert auch, dass, obwohl davon auszugehen<br />

ist, dass die meisten Ärzte wissen, dass viele chronische<br />

Krankheiten sowie medizinische Therapie und<br />

zahlreiche Medikamente die sexuelle Funktionen<br />

beeinträchtigen, Sexualität immer noch kein „normales<br />

Thema“ zwischen Arzt und Patient ist. Aus anderen<br />

Untersuchungen wissen wir, dass zum einen viele<br />

Ärzte die sexuelle Gesundheit ihrer Patienten immer<br />

noch nicht ernst nehmen oder als „Lifestyle-Thema“<br />

abwerten. Bei vielen Ärzten ist dieses Bewusstsein da -<br />

gegen heute vorhanden, doch die Barrieren im Bereich<br />

der sexualmedizinischen Kompetenz und in der<br />

Gesprächsführung sind immer noch so ausgeprägt,<br />

dass es zu keiner wirksamen Veränderung kommt.<br />

Dabei zeigen die Resultate der GSSAB allerdings


60 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />

auch, dass die von sexuellen Problemen Betroffenen<br />

heute eher geneigt sind und den Mut haben, den Arzt<br />

von sich aus anzusprechen und ihm kompetente Hilfe<br />

abzuerwarten. Hier entsteht also ein zunehmender<br />

Druck auf die Ärzteschaft und die Medizin, das The -<br />

ma ernst zu nehmen und die sexualmedizinische<br />

Kompetenz wirksam zu verbessern.<br />

Die bislang vorliegenden Daten aus Deutschland<br />

fügen sich zumeist in den allgemeinen Trend der Er -<br />

gebnisse, zumindest im Kanon der europäischen<br />

Länder, ein, weisen in einigen Bereichen aber auch<br />

Auffälligkeiten auf. Dies betrifft vor allem die Prä -<br />

valenz sexueller Probleme, die bei Männern wie Frau -<br />

en niedriger ist als in anderen Ländern und vergleichbaren<br />

anderen Studien. Über die Gründe dafür und die<br />

Gültigkeit der Daten kann hier vorerst nur spekuliert<br />

werden. Bei den Fragen zur Arzt-Patient-Kommuni -<br />

kation bestätigt sich dagegen auch in Deutschland der<br />

internationale Trend. Nur 11% der Befragten sind in<br />

den letzten 3 Jahren vom Arzt nach sexuellen Pro -<br />

blemen gefragt worden, und zwar im Schnitt mehr<br />

Frau en als Männer. Wenn sexuelle Probleme vorliegen,<br />

sprechen Männer und Frauen hauptsächlich mit<br />

dem Partner, mit deutlichem Abstand folgen Freun -<br />

de/Familienangehörige und der Arzt. Andererseits<br />

sind es aber nicht viel mehr als 50% (bei den Frauen<br />

sogar zum Teil deutlich weniger), die mit dem Partner<br />

über die sexuellen Probleme sprechen. Dies dürfte<br />

zum einen daran liegen, dass ein Teil der Probleme<br />

gerade im Partner bzw. in der Paarbeziehung begründet<br />

sind, ist darüber hinaus aber auch Ausdruck der<br />

„sexuellen Sprachlosigkeit“ vieler Paare, die sich ja<br />

meist dann noch verstärkt, wenn die Sexualität problembelastet<br />

ist.<br />

Die Antworten auf die Frage, warum beim Arzt für<br />

die sexuellen Probleme keine Hilfe gesucht wurde,<br />

ver weist primär auf eine Mischung aus mangelnder<br />

bzw. verzerrter Information (kein Thema der Medizin,<br />

normaler Altersvorgang) und geringer Bedeutungs -<br />

zumessung resp. geringem Leidensdruck, verbunden<br />

mit einer Haltung von Resignation und Schicksalser -<br />

gebenheit. Spezielle Probleme in der Arzt-Patient-<br />

Kommunikation (Peinlichkeit, mangelnde Kompe -<br />

tenz) haben demgegenüber nach den Aussagen der<br />

Teilnehmer eine geringere Bedeutung, was anderen<br />

Studien und der klinischen Erfahrung allerdings teilweise<br />

entgegenläuft. Im Unterschied zu dieser insgesamt<br />

eher gedämpften Motivation, sexuelle Probleme<br />

ernst zu nehmen und behandeln zu lassen, wünschen<br />

sich mehr als die Hälfte der Befragten, dass der Arzt<br />

routinemäßig nach sexuellen Problemen fragt. Hier ist<br />

zunächst eine doppelte Botschaft zu erkennen: Einer -<br />

seits will nur die Hälfte der Befragten regelmäßig auf<br />

das Thema Sexualität angesprochen werden, andererseits<br />

entspricht das dem fünffachen Prozentsatz derjenigen,<br />

die tatsächlich angesprochen worden sind. Es<br />

wird von großem Interesse sein, in welchen Merk -<br />

malen sich beide Gruppen voneinander unterscheiden<br />

(Bildungsstand, Einstellungen, Bedeutung von Sexua -<br />

lität etc.). Schon jetzt ist daraus aber ein Auftrag an die<br />

Medizin abzuleiten, nicht nur die sexualmedizinische<br />

Kompetenz entscheidend zu verbessern, sondern auch<br />

für die interpersonalen Fertigkeiten Sorge zu tragen,<br />

die in diesem sensiblen Bereich der Arzt-Patient-<br />

Kom munikation unabdingbar sind. Nur dann kann die<br />

sexuelle Gesundheit der Patienten in einer angemessenen<br />

Weise verbessert werden.<br />

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Impotence Research 13; Suppl.1: 54.<br />

Anschrift der Autoren<br />

Prof. Dr. Uwe Hartmann, Dipl.-Psych., Arbeitsbereich Klinische Psychologie, Abt. Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule<br />

Hannover, 30623 Hannover, hartmann.uwe@mh-hannover.de;<br />

Alfredo Niccolosi, National Research Council, Milan Italy; Dale B. Glasser, Pfizer Inc. New York, USA; Clive Gingell, South mead Hospital, Bristol, UK;<br />

Jacques Buvat, Association pour L’Etude de la Pathologie de L’Appareil Reproducteur, Lille, France; Edson Moreira, Oswaldo Cruz Foundation,<br />

Bahia, Brazil; Edward Lauman, University of Chicago, Chicago, USA


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf<br />

Martina Rauchfuß, Claudia Altrogge<br />

Partnership and Pregnancy<br />

Abstract<br />

Preterm birth rates remain a central theme in obstetrics of<br />

our time in spite of widespread use of extensive medical<br />

measures. Our well established system of somatically oriented<br />

preventive care for pregnant women is limited. A<br />

significant effect of the quality of the partnership relation<br />

on the course and outcome of pregnancy was found in a<br />

prospective study of 589 pregnant women. Women, who<br />

had been living in an ideal partnership relation, gave birth<br />

to a child before the 37 th week of pregnancy in 1.8% of<br />

the cases, compared to 7% of the other women in the<br />

sample. Quality of partnership relation was assessed from<br />

week 16 to 22 of pregnancy, i.e. well before any symp -<br />

toms of an eventual preterm birth. Subjective and objective<br />

variables of partnership relation, in addition to sociodemographic<br />

and medical risk factors that turned out to<br />

be crucial an explorative univariate data analysis were<br />

entered into a stepwise logistic regression. Results from<br />

the multivariate data analysis for the whole sample indicated<br />

that quality of partnership relation was the main<br />

predicting variable for preterm birth, whereas no relation<br />

was found among commonly used sociodemographic<br />

risk factors such as socio-economic or marital status, education<br />

and preterm birth. In the study, 29 matched pairs<br />

(preterm vs. fullterm, matched on known/well established<br />

sociodemographic and medical risk factors) were entered<br />

into a model of multivariate logistical regression. 85.2% of<br />

fullterm births and 80.8% of preterm births were correctly<br />

identified. Again, quality of partnership relation was a<br />

significant predicting variable. As a consequence, in the<br />

discussion on lack of progress in the reduction of preterm<br />

birth rates, it might be useful to focus on partnership relation<br />

as an important variable to take into account in<br />

obstetrical preventive care<br />

Zusammenfassung<br />

Trotz des massiven Einsatzes medizinischer Maßnahmen<br />

ist die Frühgeburtlichkeit ein zentrales Thema der modernen<br />

Geburtsmedizin. Das etablierte System der somatisch<br />

orientierten Schwangerenvorsorge stößt an seine Gren -<br />

zen. In einer prospektiven Studie an 589 Schwangeren<br />

konnte der signifikante Einfluss der Qualität der Paar be -<br />

ziehung auf Verlauf und Ausgang der Schwangerschaft<br />

nachgewiesen werden. Frauen, die in einer idealen Part -<br />

ner schaft lebten gebaren mit 1,8% signifikant seltener ein<br />

Kind vor der 37. Schwangerschaftswoche als die übrigen<br />

Schwangeren des Untersuchungskollektivs mit 7,0%. Die<br />

Befragung zur Qualität der Paarbeziehung erfolgte zwischen<br />

der 16. und 22. Schwangerschaftswoche, also deutlich<br />

vor dem Beginn der Symptomatik einer drohenden<br />

Frühgeburt und deren Eintritt. Für ein Modell logistischer<br />

Regression wurden neben subjektiven und objektiven<br />

Part nerschaftsparametern bekannte soziodemographische<br />

und medizinische Risikofaktoren gewählt, die sich in<br />

einer explorativen univariaten Auswertung als relevant<br />

her ausgestellt hatten. Im für die Gesamtpopulation be -<br />

rechneten multivariaten logistischen Modell setzte sich die<br />

Partnerschaftsqualität als ein signifikanter Prädiktor für die<br />

Vorhersage einer Frühgeburt durch, während „klassische"<br />

soziodemographische Risikofaktoren wie Familien- und<br />

Bildungsstand sowie der sozioökonomischer Status keinen<br />

relevanten Einfluss hatten. Nach Bildung von 29 matched<br />

pairs (FG vs. Reifgeburt, gematcht nach bekannten<br />

soziodemographischen und medizinischen Risikofak -<br />

toren) konnten im Modell der multivariaten logistischen<br />

Regression 85,2% der Reifgeburten und 80,8% der Früh -<br />

geburten korrekt zugeordnet werden. Auch hier war die<br />

Qualität der Paarbeziehung ein signifikanter Einflussfaktor.<br />

Wenn aus geburtsmedizinischer Sicht immer wieder be -<br />

tont wird, dass bisherige Konzepte der Schwange ren be -<br />

treuung wenig zur Reduzierung z.B. der Fehl- und Früh -<br />

geburtlichkeit geleistet haben, so könnte eine Einbe zie -<br />

hung der Paarbeziehung in präventive Konzepte neue<br />

We ge eröffnen.<br />

Sexuologie 9 (2) 2002 61 – 74 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


62 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />

Einleitung<br />

Die Geburtshilfe hat in den letzten Jahrzehnten eine<br />

rasante Entwicklung genommen. Während noch vor<br />

40 Jahren das Holzstethoskop den Zugang zur Re gis -<br />

trierung kindlicher Herztöne und damit zur Beur tei -<br />

lung des aktuellen fetalen Zustandes darstellte und die<br />

Erhebung des Fundusstandes der Gebärmutter zur Ein -<br />

schätzung des intrauterinen Wachstums des Kindes<br />

diente, ermöglichten in den folgenden Jahren Amnio -<br />

zentese, Fetalblutanalyse, Amnioskopie, Kardiotoko -<br />

gra phie, traditionelle Ultraschalldiagnostik und Dopp -<br />

ler sonographie eine immer genauere Zustandsdia -<br />

gnos tik des Feten, der zeitweilig auch intrauteriner<br />

Patient genannt wurde. Seit den 50iger Jahren wurde<br />

in beiden Teilen Deutschlands und seit 1990 in der<br />

wiedervereinigten Bundesrepublik ein qualitativ hochwertiges<br />

und zunehmend durch den wissenschaftlich<br />

technischen Fortschritt geprägtes System der Schwan -<br />

ge renvorsorge etabliert.<br />

Die Entwicklung der neonatologischen Intensiv -<br />

me di zin hat seit ihrer Etablierung vor rund 40 Jahren<br />

zu einer starken und kontinuierlichen Zunahme der<br />

Überlebenschancen von Term- und besonders Pre -<br />

termgeborenen geführt. In Deutschland konnte die<br />

PNM von 50‰ 1950 über 26,4‰ im Jahre 1970 auf<br />

6,0% im Jahre 1990 gesenkt werden. Im Gegensatz zu<br />

dieser Entwicklung ist es trotz des massiven Einsatzes<br />

medizinischer Maßnahmen nicht gelungen Schwan -<br />

ger schaftskomplikationen wie intrauterine fetale Re -<br />

tardierung und Frühgeburtlichkeit zu reduzieren, vielmehr<br />

gab und gibt es einen moderaten Anstieg der<br />

Früh geburten- und Untergewichtigenrate. In Deutsch -<br />

land enden nach wie vor jährlich 6 bis 8% aller<br />

Schwan gerschaften mit einer Frühgeburt. „Die Früh -<br />

geburt ist nach wie vor das zentrale Thema, die eigentliche<br />

Herausforderung für die moderne Geburtshilfe<br />

und Perinatologie. (...) Am Problem Frühgeburt zeigen<br />

sich auch die Grenzen unseres ärztlichen Handelns be -<br />

sonders deutlich.“ (Wulf 1997) Prävention der Frühge -<br />

burt und anderer assoziierter Schwanger schaftskom -<br />

plikationen ist trotz verbesserter neonataler Versor -<br />

gung eine prioritäre Aufgabe der Geburtshilfe geblieben.<br />

Bei der Bewältigung dieser Aufgabe scheint das<br />

bisher vorwiegend somatisch ausgerichtete Konzept<br />

der Geburtsmedizin an seine Grenzen zu stoßen.<br />

Schwangerschaft und Beziehung sind Begriffe, die<br />

für uns einleuchtend zusammenhängen. Die schwangere<br />

Frau baut im Verlauf der Gravidität eine Be -<br />

ziehung zu ihrem werdenden Kind auf. Das Kind<br />

wächst im Mutterleib geschützt heran, bis die Zeit für<br />

die Geburt reif ist. Es hat über Nabelschnur und Pla -<br />

zenta eine kontinuierliche körperliche Beziehung zu<br />

seiner Mutter. Störungen in diesem Beziehungsgefüge<br />

bedeuten eine Gefahr. Sie können z.B. zu einer intrauterinen<br />

Mangelernährung des Kindes oder zu einer<br />

Frühgeburt führen. Um ihrem Kind Sicherheit und Ge -<br />

borgenheit geben zu können benötigt die werdende<br />

Mutter selbst ein ausreichendes Maß an innerer und<br />

äußerer Stabilität das sie aus sich selbst aber wesentlich<br />

auch aus ihrem Beziehungsgefüge schöpft.<br />

In jüngeren Veröffentlichungen zur Genese der<br />

Früh geburt findet Stress als psychophysiologisches<br />

Erklärungsmodell starke Aufmerksamkeit. Mc Lean et<br />

al. (1993) sahen bei schwarzen Frauen eine Beziehung<br />

zwischen Life-Stressoren und Frühgeburt. Moderie -<br />

rende Faktoren waren die individuelle Disposition, der<br />

psychische Zustand und das soziale Netzwerk. Das<br />

Syndrom der drohenden Frühgeburt kann auf ver -<br />

schie denen pathophysiologischen Wegen z.B. über<br />

eine intrauterine Infektion, eine uterine Ischämie oder<br />

hormonelle Störungen induziert werden. Der entzündlichen<br />

Genese wird z.Z. besondere Aufmerksamkeit<br />

ge widmet. Im Entzündungsprozess spielen Zytokine<br />

eine entscheidende Rolle. Erhöhte Konzentrationen<br />

verschiedener Zytokine im Fruchtwasser konnten von<br />

einigen Autoren bei mit einer Infektion einhergehenden<br />

vorzeitigen Wehen nachgewiesen werden (Arnt -<br />

zen et al. 1998). Verschiedene Studien haben gezeigt,<br />

dass das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) die<br />

Zytokinproduktion reguliert und vice versa. Das CRH<br />

stimuliert dann die Produktion von Cortisol in der<br />

Nebenniere. Die Hypothalamus-Hypophysen-Neben -<br />

nie ren-Achse ist eine Schlüsselsystem der Immunre -<br />

gu lation. In diesem Kontext wird Stress als Zustand<br />

von Disharmonie oder bedrohter Homöostase angesehen.<br />

Chronische Aktivierung der Hypothala mus-Hy -<br />

po physen-Nebennieren-Achse über das normale Maß<br />

hinaus kann zu einer Erschöpfung der individuellen<br />

Reaktionsmöglichkeiten auf infektiöse Sti muli führen<br />

und die normalen homöostatischen Schutz mechanis -<br />

men unterbrechen (Dudley 1999). Verschiedene tierexperimentelle<br />

Studien lassen vermuten, dass die<br />

chro nische Hypersekretion von CRH einen entscheidenden<br />

Faktor in der Genese von stressassoziierten<br />

Störungen darstellt (Linthorst et al. 1991). Vorzeitige<br />

Wehentätigkeit und Frühgeburt sind assoziiert mit<br />

mütterlichem Stress (Copper et al. 1996) und mit er -<br />

höh ten Serumkonzentrationen von CRH (Kur ki et al.<br />

1991).<br />

Als Stressoren werden eine Vielzahl von Umwelt -<br />

ein flüssen wie Aufregungen, seelische und körperliche<br />

Überlastung, Lärm u.a. bezeichnet. In theoretischen<br />

Rah menkonzepten werden psychosoziale Stressoren<br />

in sogenannte kritische Lebensereignisse, z.B. Tod<br />

eines nahen Angehörigen oder Verlust des Arbeits -<br />

platzes und Alltagsstressoren (daily hazzels) z.B. be -


Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 63<br />

ruf liche oder Partnerschaftsprobleme unterteilt. Der<br />

großen Bandbreite von auslösenden Ereignissen steht<br />

eine ebenso große Variabilität individueller Reak -<br />

tionen gegenüber. So entbinden keinesfalls alle Frauen<br />

die stressauslösenden Situationen in der Schwan ger -<br />

schaft ausgesetzt sind preterm. Bereits 1972 beschrieben<br />

Nuckolls et al. (1972), dass mütterlicher Stress<br />

während der Schwangerschaft mit einem schlechteren<br />

perinatal outcome verbunden war. Dies traf allerdings<br />

nur für Frauen zu, die eine geringere soziale Unter -<br />

stützung hatten. In einer Neuberechnung der Daten<br />

dieser Untersuchung kam Antonovsky (1979) zu dem<br />

Schluss, dass ein hohes Maß an Stressoren bei gleichzeitigem<br />

hohen Maß an sozialer Unterstützung<br />

gesundheitsfördernd sei, also Schwangerschaftskom -<br />

pli kationen verhindere.<br />

Es ist allgemein bekannt und akzeptiert, dass so -<br />

zia le Beziehungen einen deutlichen Einfluss auf die<br />

Gesundheit haben. Soziale Unterstützung hat die<br />

Funk tion eine Person bei ihren Bewältigungsbe mü -<br />

hungen in Hinblick auf ein belastendes Lebensereignis<br />

zu unterstützen. Suche nach Unterstützung scheint die<br />

häufigste Bewältigungsform in belastenden Lebens -<br />

situationen darzustellen. Die psychophysiologischen<br />

Wirkmechanismen der sozialen Unterstützung werden<br />

über psychologische Mechanismen (z.B. Selbst wirk -<br />

samkeit, Selbstwert, Depressivität), physiologische<br />

We ge (z.B. HPA-Achse, Immunsystem, kardiovaskuläre<br />

Reaktivität) oder Gesundheitsverhalten (z.B.<br />

Rauchen, Ernährung, Compliance in der medizinischen<br />

Betreuung) beschrieben. (Berkman et al. 2000)<br />

Neuere psychosomatische Konzepte beschäftigen sich<br />

mit der Bedeutung von Bindung und Bindungs -<br />

verhalten für die Entsehung von Erkrankungen. Es<br />

gibt Hinweise für Zusammenhänge zwischen Bin -<br />

dungsunsicherheit und der Entstehung von Erkran -<br />

kungen. Tierstudien und Untersuchungen am Men -<br />

schen weisen darauf hin, dass Bindung bzw. Be -<br />

ziehung zu den individuellen Unterschieden in der<br />

physiologischen Reaktion auf Stressoren beiträgt. Die<br />

Bindungstheorien werden durch Studien unterstützt,<br />

die einen positiveren Effekt sozialer Unterstützung<br />

aus „Attachment-relationships“ denn aus „Nonattach -<br />

ment-relationships“ nachweisen konnten. (Maunder<br />

2001) In den letzten Jahren mehren sich daher auch<br />

Untersuchungen zum Einfluss der Paarbeziehung auf<br />

Gesundheit und Krankheit (Übersicht bei Kiecolt-<br />

Glaser et al. 2001). Am fundiertesten ließen sich bislang<br />

Zusammenhänge zwischen Beziehungsfunktion<br />

und gesundheitlichen Zustand bei Krankheiten mit<br />

immunologischen oder kardiovaskulären Anteilen<br />

nachweisen. So untersuchten Zautra et al. (1998) z.B.<br />

in einem prospektiven Design Patienten mit rheumatoider<br />

Arthritis. Frauen in besseren partnerschaftlichen<br />

Beziehungen hatten weniger und mildere Krankheits -<br />

schübe. In einer anderen Studie war die Erinnerung an<br />

partnerschaftliche Konflikte sogar in Abwesenheit des<br />

Partners bei Frauen mit niedriger Beziehungsqualität<br />

mit einem Anstieg des Blutdrucks verbunden (Carels<br />

et al. 1998).<br />

In Hinblick auf die Schwangerschaft wurde in<br />

einer Reihe von Studien die Bedeutung der sozialen<br />

Unterstützung u.a. für den Verlauf und Ausgang der<br />

Schwangerschaft untersucht. Erhaltene und wahrgenommene<br />

soziale Unterstützung war ein signifikanter<br />

unabhängiger Prädiktor für gesundheitsrelevantes Ver -<br />

halten (Alkohol-, Nikotin- und Coffeinabusus) (Aa -<br />

ron son 1989). Schwangere die im 2. Trimester mit der<br />

sozialen Unterstützung unzufriedener waren gebaren<br />

später häufiger Kinder mit einem niedrigen Geburts -<br />

gewicht (Da Costa 2000). Fehlende soziale Unterstüt -<br />

zung ist mit einer ausgeprägteren Depressivität verbunden.<br />

Dieser Zusammenhang war bei Schwangeren<br />

mit einem niedrigen sozioökonomischen Status be -<br />

son ders deutlich. (Seguin et al. 1995)<br />

Obwohl Zeugung, Schwangerschaft und Geburt<br />

nur im Kontext der Geschlechtlichkeit von Mann und<br />

Frau und ihrer Beziehung zueinander zu verstehen<br />

sind findet die Paarbeziehung als Einflussfaktor auf<br />

den Reproduktionsprozess bislang wissenschaftlich<br />

nur randständige Aufmerksamkeit. Wenn die Partner -<br />

schaft als Einflussfaktor auf das Schwanger schafts -<br />

geschehen untersucht wird, dann meist unter soziodemographischem<br />

Blickwinkel. Untersuchungen zur Be -<br />

deutung der Qualität der Paarbeziehung für den<br />

Schwan gerschaftsverlauf sind rar.<br />

Hier setzt das interdisziplinäre Projekt „Soziopsy<br />

cho-somatisch orientierte Begleitung in der<br />

Schwan gerschaft“, in dem Fachvertreter von Medizin,<br />

Psychologie, Soziologie und Statistik zusammenarbeiteten,<br />

an. Das Projekt wurde im Rahmen des Berliner<br />

Forschungsverbundes Public Health durchgeführt und<br />

war an der Charité Berlin angesiedelt. An dieser Stelle<br />

sei allen an der Projektarbeit beteiligten Kolleginnen<br />

gedankt. Gefördert wurde das Forschungsvorhaben<br />

vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.<br />

Methoden<br />

Es handelt sich um prospektive Untersuchungen mit<br />

Zweipunkterhebung.<br />

Zwischen 1994 und 1995 wurden 582 Frauen in<br />

der 16. – 22. Schwangerschaftswoche im Ostteil Ber -<br />

lins befragt. Die Befragung fand zum größten Teil bei<br />

niedergelassenen Fachärzten sowie zu einem kleineren<br />

Teil in der Poliklinik der Charité statt. Daten zum<br />

Schwangerschafts- und Geburtsverlauf wurden post-


64 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />

partal in den Entbindungskliniken bzw. bei den niedergelassenen<br />

Fachärzten erhoben. Erfasst wurde u.a.<br />

der Entbindungszeitpunkt (SSW), Größe und Gewicht<br />

des Kindes, Beurteilung des Neugeborenen (APGAR,<br />

Nabelschnur-pH).<br />

Insgesamt wurden 714 Frauen mit der Bitte um<br />

Teil nahme an der Studie angesprochen. Es handelte<br />

sich um eine anfallende Stichprobe. 582 Schwangere<br />

füllten den Fragebogen aus (response rate 82,5%).<br />

Postpartal konnten von 519 Frauen (88,1% der 589<br />

Befragten) Unterlagen zum Schwangerschafts- und<br />

Geburtsverlauf erhoben werden.<br />

Im Studienzeitraum wurden in den ausgewählten<br />

Praxen alle Schwangeren die die Eingangskriterien<br />

erfüllten angesprochen und um Mitarbeit gebeten. Bei<br />

vor liegender Bereitschaft zum Ausfüllen des Frage -<br />

bogens erhielten die Frauen eine Erklärung zum Da -<br />

ten schutz, in der konkrete Maßnahmen der Einhaltung<br />

datenschutzrechtlicher Bestimmungen erläutert wurden.<br />

Vor der Teilnahme an der Studie unterzeichneten<br />

die zu Befragenden eine Einverständniserklärung, mit<br />

der sie auch die Genehmigung zur Einsichtnahme in<br />

ihre medizinischen Unterlagen erteilten.<br />

Die Datenerhebung erfolgt mit einem Frage- und<br />

einem Erhebungsbogen dar, der im Rahmen des Pro -<br />

jektes konstruiert wurde.<br />

Konstruktion und Aufbau des Fragebogens<br />

Es war die Aufgabe des Projekts, zur Identifizierung<br />

der jenigen psychischen, sozialen und medizinischen<br />

Bedingungen, die den Verlauf und das Ergebnis der<br />

Schwangerschaft saluto- oder pathogenetisch beeinflussen<br />

können, beizutragen.<br />

Für die schriftliche Befragung bedurfte es dazu<br />

einer Auswahl der zu integrierenden psychosozialen<br />

Risiko-/respektive Ressourcenkonfigurationen. Sie<br />

wur de aus zwei unterschiedlichen Perspektiven ge -<br />

troffen. Zum einen wurden <strong>Literatur</strong>recherchen in So -<br />

zio logie, Psychologie und Gynäkologie und Geburts -<br />

hilfe durchgeführt und die Ergebnisse mit den eigenen<br />

Voruntersuchungen zusammengeführt. Zum zweiten<br />

wurden aus Standardisierungs- und Auswer tungs -<br />

gründen (Gewichtung und Hochrechnung) zugängliche<br />

Erhebungsinstrumente geprüft und, wenn möglich,<br />

die Kategorien bis hin zu den einzelnen Formu -<br />

lierungen und Ausprägungen übernommen.<br />

Im Folgenden werden die für die in der vorliegenden<br />

Arbeit betrachteten Bereiche relevanten Frage -<br />

bogenteile näher erläutert, die anderen nur erwähnt.<br />

Soziodemographischer Status<br />

Alter, Partnerschaftsstatus, Schulbildung, berufliche<br />

Qualifikation, Erwerbsstatus einschl. evtl. Verän -<br />

derungen im Jahr vor der Befragung, Haushalts ein -<br />

kommen, Nationalität, Wohnbezirk<br />

Medizinische Parameter<br />

Medizinische Ausgangssituation, Schwangerschafts -<br />

anam nese, Medikamenteneinnahme<br />

Schwangerschaftsspezifische Parameter<br />

Planung/Erwünschtheit der Schwangerschaft, Ein -<br />

stellung zur Schwangerschaft, Schwangerschafts- und<br />

Geburtsängste, Schwangerschaftserleben<br />

Lebensbedingungen<br />

1. Familie/Partnerschaft (Kinderanzahl, Kinderher -<br />

kunft, Partnerschaftssicherheit, Partnerschaftsdauer,<br />

Partnerschaftsharmonie, Partner schafts probleme)<br />

Erhoben wurde das subjektive Erleben der Frau in<br />

bezug auf ihre Zufriedenheit mit verschiedenen Be -<br />

reichen der Partnerschaft (11 Items zu Aufgaben ver -<br />

teilung, Freizeitgestaltung, Sexualität, Umgangs for -<br />

men, Stabilität der Beziehung) und der Grad der<br />

Glück lichkeit. Weiterhin wurde gefragt, ob es ernsthafte<br />

Probleme in der Partnerschaft gab, die Schwan -<br />

gere sich durch bestimmte Verhaltensweisen ihres<br />

Part ners belastet fühlte, ob sie jemals an Trennung ge -<br />

dacht hatte und ob sie in einem gemeinsamen Haus -<br />

halt mit dem Vater ihres zukünftigen Kindes lebte.<br />

Ergänzt wurden diese Erhebungsinstrumente durch<br />

den standardisierten Partnerschaftsfragebogen von K.<br />

Hahlweg mit den Skalen „Streitverhalten“, „Zärtlich -<br />

keit“ und „Gemeinsamkeit/Kommunikation“.<br />

Unter Verwendung der Items zur subjektiven Zu -<br />

frie denheit mit der Partnerschaft sowie der Glück -<br />

lichkeit in der Beziehung und Trennungsgedanken<br />

wur den Gruppen gebildet. Die „ideale Partnerschaft“<br />

um fasste 115 Frauen, die im Laufe der Beziehung<br />

noch nie an Trennung gedacht hatten, mit dem Kin -<br />

des vater in einem gemeinsamen Haushalt lebten,<br />

glücklich oder sehr glücklich in ihrer Partnerschaft<br />

waren und in denen es keine die Schwangere belastenden<br />

Verhaltensweisen des Mannes gab.<br />

Die 27 Frauen deren Beziehung wir als sehr un -<br />

glücklich einstuften, hatten in zwei Items angegeben<br />

unglücklich oder sehr unglücklich in ihrer Partner -<br />

schaft zu sein.<br />

Die dritte Gruppe umfasste 51 Frauen, die in ihrer<br />

Beziehung schon einmal ernsthaft an Trennung<br />

gedacht hatten.<br />

2. Arbeit und Arbeitsbelastungen, Wohnsituation<br />

Ähnlich wie zur Partnerschaft wurde auch die Zu -<br />

friedenheit mit anderen Lebensbereichen (Wohnen,<br />

Ar bei ten, Gesundheit, Verhältnis zu Kollegen, Bezie -<br />

hung zu Eltern und Schwiegereltern, finanzielle Si -<br />

tuation, Freundeskreis) sowie dem Leben insgesamt<br />

erhoben und skaliert.<br />

Lebensgeschichtliche Parameter<br />

Herkunftsfamilie, Kindheit und Jugend; neben der Er -


Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 65<br />

fas sung struktureller Aspekte der Herkunftsfamilie<br />

wur den Fragen zu den wichtigsten Bezugs- und be -<br />

sonders nahestehenden Personen sowie zur Ablösung<br />

vom Elternhaus gestellt, das familiale Klima sowie die<br />

Funktionalität der Herkunftsfamilie global charakterisiert<br />

Soziale Netze / soziale Unterstützung<br />

allgemeine Verfügbarkeit unterstützender Beziehun -<br />

gen<br />

Verfügbarkeit schwangerschaftsspezifischer Hil -<br />

fen (emotionale, informelle, instrumentelle Unterstüt -<br />

zung durch Familie, Verwandte, Freunde und andere)<br />

Gesundheitsverhalten<br />

47 Items zum Gesundheitsverhalten der Schwangeren;<br />

die 28 Items zu den Gesundheitsrisiken sind aus -<br />

schließlich als geschlossene Fragen formuliert, um<br />

möglichst wenig Antwortverfälschungen im Sinne der<br />

sozialen Erwünschtheit zu induzieren.<br />

Persönlichkeitsvariable<br />

Da zu erwarten war, dass die Qualität der Paarbe -<br />

ziehung in nicht unerheblichem Umfang mit bestimmten<br />

Persönlichkeitsparametern korreliert, wurde ein<br />

Er he bungsinstrument zur Persönlichkeitsdiagnostik<br />

eingesetzt. Unter anderem wurden die Bereiche<br />

„Psychosomatische Reagibilität“, „Erschöpfung“,<br />

„Ängst lichkeit“ und „Selbstvertrauen“, erfasst. Bei<br />

der statistischen Auswertung bestätigten sich dann<br />

auch hochsignifikante Zusammenhänge zwischen na -<br />

he zu allen Skalen des Persönlichkeitsfragebogens und<br />

verschiedenen Partnerschaftsvariablen. Auf die diesbezüglichen<br />

Ergebnisse kann an dieser Stelle aber<br />

nicht eingegangen werden.<br />

Konstruktion und Aufbau des Erhebungs -<br />

bogens zu Schwangerschafts- und<br />

Geburtsverlauf<br />

Zur Erfassung des Schwangerschafts- und Geburts -<br />

verlaufs sowie des Geburtsergebnisses zur Validierung<br />

unserer Ergebnisse wurde ein Bogen zur Erhebung<br />

medizinischer Parameter konstruiert, bei dem wir uns<br />

stark an die Erhebungsbögen aus vorangegangenen<br />

eigenen Studien anlehnten. Es wurden vor allem<br />

Daten zu Risiken und Komplikationen im Schwanger -<br />

schafts- und Geburtsverlauf sowie zum Geburtser ge b -<br />

nis erfasst.<br />

Im einzelnen wurden folgende Dimensionen be -<br />

rücksichtigt:<br />

Anamnestische Daten<br />

Größe, Gewicht, Besonderheiten (z. B. Sterilitäts -<br />

behandlung) sowie Nikotin-, Alkohol-, Drogen kon -<br />

sum und Medikamente während der Schwangerschaft<br />

Schwangerschaftsverlauf<br />

spezifische/unspezifische Erkrankungen, Au-Schrei -<br />

bung, ambulante/stationäre Behandlung/Kranken -<br />

haus tage, Anzahl der Arztbesuche zur Schwan ge ren -<br />

beratung, Teilnahme an Geburtsvorbereitungs kursen<br />

Geburt<br />

Entbindungsklinik, Anwesenheit nahestehender<br />

Per sonen bei der Entbindung, Schwanger schafts -<br />

woche, Größe, Gewicht, Geschlecht des Kindes, Ein -<br />

ling, Mehr linge, Beurteilung des Neugeborenen<br />

(Über tragungs- oder Unreifezeichen, Percentile, Ap -<br />

gar, Nabel schnur-pH, Verlegung in die Kinderklinik),<br />

Be sonderheiten unter der Geburt (z.B. pathologisches<br />

CTG), Besonderheiten beim Kind (z.B. Atemstörung),<br />

Geburtsmodus, Geburtsdauer, Medikamente unter der<br />

Geburt, Blutverlust, Nachgeburtsperiode, Komplika -<br />

tionen im Wochenbett<br />

Als Outcome Variablen für die hier vorgestellten<br />

As pekte der Auswertung wurden der Zeitpunkt der<br />

Geburt und das Geburtsgewicht gewählt. Die entsprechenden<br />

Informationen konnten für 519 Frauen (89%<br />

der Befragten) erhoben werden.<br />

Statistische Auswertung<br />

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mittels<br />

SPSS und SAS. Verwendet wurden folgende statistische<br />

Verfahren: Bivariate Analysen mit Chi-Quadrat-<br />

Test, t-Test, multivariate Auswertung mittels logistischer<br />

Regression (übliches Signifikanzniveau). Dabei<br />

wurde zunächst explorativ eine univariate logistische<br />

Regression gerechnet. In die multivariate logistische<br />

Regression wurden dann entsprechend der Empfeh -<br />

lung von Hosmer und Lemeshow (2000) die im univariaten<br />

Verfahren mit einem p-Wert < 0,25 ermittelten<br />

und klinisch relevant erscheinenden Variablen eingegeben.<br />

Methodenkritik<br />

Eigene Studien beschäftigten sich seit Mitte der 80iger<br />

Jahre mit der Frage des Einflusses psychosozialer<br />

Faktoren auf Schwangerschaft und Geburt beschäftigt.<br />

In den ersten Untersuchungen wurden Frauen befragt,<br />

die bereits an einer Komplikation der Gravidität litten.<br />

Bei einem solchen Untersuchungsdesign stellt sich<br />

natürlich die Frage, inwieweit die gefundenen Störun -<br />

gen, insbesondere im psychosozialen Bereich, Ursa -<br />

che oder Auswirkung der beobachteten Schwanger -<br />

schafts komplikationen sind. Daher wurde für die folgenden<br />

Studien ein prospektiver Untersuchungsansatz<br />

gewählt, d.h. es wurden Schwangere in der 16. bis 22.<br />

Schwangerschaftswoche und damit vor dem ersten


66 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />

Auf treten der zu untersuchenden Komplikationen wie<br />

drohende Frühgeburt und hypertensive Erkrankung in<br />

der Schwangerschaft untersucht. Dies bringt dann<br />

natürlich bezüglich der Stichprobengrößen in den<br />

Untergruppen der Frauen mit Schwangerschafts kom -<br />

plikationen Probleme mit sich.<br />

So ist bei einem Probandenkollektiv von rund 500<br />

Frauen und einer Frühgeburtenfrequenz von 6 – 7%<br />

mit 30 bis 40 Frühgeburten zu rechnen. In der hier<br />

vor gestellten Schwangerengruppe fanden sich er -<br />

wartungsgemäß 35 Geburten vor der vollendeten 37.<br />

Schwangerschaftswoche. Wurde die Frühgeburt nach<br />

den (alten) WHO Kriterien als eine Geburt vor der<br />

voll endeten 37. Schwangerschaftswoche und/oder<br />

eine Geburt mit einem kindlichen Geburtsgewicht un -<br />

ter 2500g definiert so erhöhte sich die Zahl der Früh -<br />

geburten auf 47. Die Vorhersagegüte eines Modells<br />

wird bei unbalancierten Stichprobengrößen, wie es<br />

auch auf die vorliegende infolge des prospektiven<br />

Untersuchungsansatzes zutrifft, ungünstig beeinflusst.<br />

Um die Probleme der stark unterschiedlichen Stich -<br />

probengrößen von Früh- und Reifgeborenemkollektiv,<br />

aus zugleichen bildeten wir matched pairs. Dadurch<br />

wur den gleichzeitig bekannte Risikofaktoren in ihrem<br />

Einfluss ausgeschaltet. Unter Einbeziehung der Va -<br />

riab len Alter, Schulabschluss, Einkommen, Familien -<br />

stand, Parität und medizinischer und schwanger -<br />

schafts anamnestischer Risikofaktoren wurde je eine<br />

Gruppe von 29 Frauen mit einer Frühgeburt und 29<br />

Frauen mit einer Reifgeburt gebildet. Für diese Teil -<br />

stichprobe wurde ebenfalls eine multivariate logistische<br />

Regression mit den bekannten (nicht durch matchen<br />

ausgeschalteten) Einflussvariablen gerechnet.<br />

In einer vorgehenden Pilot-Untersuchung in den<br />

Jah ren 1989 und 1990 hatten wir Schwangere und<br />

ihre Partner befragt. Dabei stellte die Einschätzung<br />

der Qualität der Paarbeziehung durch den prospektiven<br />

Kindesvater gegenüber der durch die Schwangere<br />

einen noch klareren Prädiktor für die Frühge burt -<br />

lichkeit dar. Auch für die vorliegende Studie wäre eine<br />

Einbeziehung des Partner in die Befragung sinnvoll<br />

gewesen. Die gesellschaftliche Situation zum Zeit -<br />

punkt der Datenerhebung war jedoch durch einen gravierenden<br />

Geburtenrückgang und durch starke sozioökonomische<br />

Veränderungen gerade im Ostteil Berlin,<br />

in dem die Befragung erfolgte, gekennzeichnet. Die<br />

Datenerhebung stellte sich damit als wesentlich<br />

schwie riger und langwieriger dar und es musste auf<br />

die Befragung der Partner verzichtet werden.<br />

Aus sexualmedizinischer Sicht ist methodenkritisch<br />

zu diskutieren, dass bei der Betrachtung der<br />

Paar beziehung der Aspekt von Intimität und Sexualität<br />

nur randständig Beachtung fand. Mit Im Partner -<br />

schafts fragebogen von Hahlweg (1996) wurden mit<br />

der Skala Zärtlichkeit Verhaltensweisen in Hinblick<br />

auf körperliche Intimität und Sexualität erfragt. Unter<br />

den 10 Items dieser Skala finden sich Aussagen wie:<br />

Er streichelt mich während des Vorspiels, so dass ich<br />

sexuell erregt werde oder er berührt mich zärtlich und<br />

ich empfinde es als angenehm. Es fand sich kein signifikanter<br />

Zusammenhang zwischen der Qualität der<br />

Paarbeziehung erfasst mit der Skala Zärtlichkeit und<br />

der Frühgeburtlichkeit. Interessant ist jedoch der<br />

Trend, dass Schwangere die in der Skala Zärtlichkeit<br />

als glücklich einzustufen waren häufiger ein Kind vor<br />

der vollendeten 37. SSW gebaren als diejenigen die<br />

als fraglich glücklich oder unglücklich einzustufen<br />

wa ren.<br />

Ergebnisse<br />

Ein wesentlicher Schwerpunkt der Schwan geren be -<br />

fragung lag auf der Frage, ob und wenn ja in welcher<br />

Weise die Paarbeziehung und insbesondere deren<br />

Qua lität einen Einfluss auf das perinatal outcome, hier<br />

die Frühgeburt vor der vollendeten 37. SSW, hat.<br />

Eindimensionale Auswertung<br />

Die Frühgeburtenrate im Gesamtkollektiv lag, wenn<br />

man als Definition die Geburt vor der 37. Schwan -<br />

gerschaftswoche zugrunde legte, mit 35 Kindern bei<br />

6,7%. Nach der (alten) WHO-Definition (Frühgeburt<br />

= Geburt eines Kindes vor der vollendeten 37. SSW<br />

und/oder mit einem Geburtsgewicht unter 2500g) lag<br />

eine Frühgeburtenrate von 9,1% vor. Da Mehrlings -<br />

schwangerschaften per se mit einem höheren Früh -<br />

geburtenrisiko verbunden sind wurden in die weitere<br />

Aus wertung nur die Geburten nach den 508 Ein -<br />

lingsschwangerschaften einbezogen. In dieser Gruppe<br />

wurden 29 Kinder (5,8%) vor der vollendeten 37.<br />

SSW geboren, 41 (8,2%) waren entsprechend der<br />

(alten) WHO-Definition als Frühgeborene einzustufen.<br />

Nahezu alle befragten Schwangeren (98,5%) ga -<br />

ben an einen festen Partner zu haben. 91,1% der<br />

Frauen mit festem Partner lebten mit diesem auch in<br />

einem gemeinsamen Haushalt. Die Dauer der Partner -<br />

schaft variierte von weniger als 6 Monaten bis zu<br />

mehr als 10 Jahren. Bei 2% der Frauen lag die Be -<br />

ziehungsdauer unter einem halben Jahr, bei 8,1% zwischen<br />

6 Monaten und einem Jahr. In diesen Be -<br />

ziehungen war die Schwangerschaft also sehr frühzeitig<br />

eingetreten. Die Mehrheit der Schwangeren<br />

(40,5%) gab eine Beziehungsdauer von 2 bis 5 Jahren<br />

an. Jeweils etwa 14% lebten 1 Jahr bzw. 4 bis 7 Jahre<br />

in der bestehenden Beziehung, 5% taten dies mehr als<br />

10 Jahre.


Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 67<br />

Das Alter der Schwangeren der untersuchten Stich -<br />

probe reichte von 17 bis zu 44 Jahren, das mittlere<br />

Alter lag bei 26,4 Jahren.<br />

Hinsichtlich des Familienstandes gaben 50,4% der<br />

Schwangeren an verheiratet bzw. wiederverheiratet zu<br />

sein, 43,6% waren ledig, 5,8% geschieden und 0,2%<br />

verwitwet. In einer Totalerfassung Ostberliner<br />

Schwan geren von 1992 (n = 7.739) waren 48,1% der<br />

Schwangeren verheiratet. (Statistisches Landesamt<br />

Berlin 1993).<br />

207 schwangere Frauen lebten bereits mit einem<br />

oder mehreren Kinder im Haushalt. In zwei Drittel der<br />

Fälle handelte es sich um gemeinsame Kinder mit dem<br />

jetzigen Partner. In 6% der Fälle lebten 1 oder mehrere<br />

Kinder des Partners im Haushalt, in 25% der Fälle<br />

waren es Kinder der Frau und in jeweils 1 Fall handelte<br />

es sich um ein Adoptiv- und ein Pflegekind.<br />

60,4% der aktuellen Schwangerschaften waren zu<br />

diesem Zeitpunkt geplant, 20,4% zu einem späteren<br />

Zeitpunkt und 19,2% waren nicht geplant. Dennoch<br />

war mit 76,6% die überwiegende Mehrheit der<br />

Schwangerschaften erwünscht bis sehr erwünscht.<br />

16% der Schwangeren meinten ihre aktuelle Gravi -<br />

dität wäre unerwünscht bis sehr unerwünscht.<br />

Beziehung zwischen Partnerschafts variab -<br />

len und Geplantheit und Erwünschtheit der<br />

Schwangerschaft<br />

Erwartungsgemäß korrelierten Geplantheit und<br />

Erwünschtheit der Schwangerschaft signifikant mit<br />

dem Familienstand, der Dauer der Partnerschaft, dem<br />

gemeinsamen Haushalt. So hatten 68,0% der verheirateten<br />

Frauen und nur 53,0% der ledigen Frauen ihre<br />

Schwangerschaft zum aktuellen Zeitpunkt geplant.<br />

Auf die Erwünschtheit der Schwangerschaft hatte der<br />

Familienstand einen deutlichen aber nicht signifikanten<br />

Einfluss. 73,4% der ledigen und 80,7% der verheirateten<br />

Frauen gaben an, dass ihre Gravidität er -<br />

wünscht bis sehr erwünscht wäre. Frauen deren Part -<br />

nerschaft bis zu einem halben Jahr bestand gaben nur<br />

in 10% an, ihre Schwangerschaft zum aktuellen<br />

Zeitpunkt geplant zu haben, bei Frauen deren Be -<br />

ziehung zwischen 6 Monaten und 1 Jahr bestand traf<br />

dies auf 31,7% zu. Dieser Anteil erhöhte sich bei<br />

Frauen mit einer Beziehungsdauer von 5 bis 7 Jahren<br />

auf 77,5%. Lebte die Schwangere mit ihrem Partner<br />

nicht zusammen war die aktuelle Gravidität nur in<br />

24,4% zu diesem Zeitpunkt geplant während dies bei<br />

gemeinsamem Haushalt auf 64,5% der Schwan ger -<br />

schaften zutraf. Partnerschaftsdauer und gemeinsamer<br />

Haushalt hatten auch einen signifikanten Einfluss auf<br />

die Erwünschtheit der Schwangerschaft. So war die<br />

Schwangerschaft bei Frauen mit einer Bezie hungs -<br />

dauer bis zu 6 Monaten nur in 40% der Fälle er -<br />

wünscht, bei einer Beziehungsdauer von 5 bis 7 Jah -<br />

ren hingegen in 80,2%. Bei gemeinsamem Haushalt<br />

waren 78,7% der Graviditäten erwünscht bis sehr er -<br />

wünscht, hatte das Paar keine gemeinsame Wohnung<br />

war dies nur bei 64,4% der Fall. Ob Kinder im Haus -<br />

halt lebten und ob dies gemeinsame oder Kinder eines<br />

der beiden Partner waren hatte keinen Einfluss auf die<br />

Ge plantheit der Schwangerschaft und hinsichtlich der<br />

Erwünschtheit bestand ein signifikanter Zusammen -<br />

hang nur zu im Haushalt lebenden Kindern. Die<br />

Schwan gerschaft war signifikant häufiger erwünscht,<br />

wenn keine Kinder im Haushalt lebten (p= 0,013)<br />

(vgl. Tabelle 1).<br />

Tab. 1: Partnerschaftliche und familiale Variable und Geplantheit und<br />

Erwünscht heit der Schwangerschaft<br />

Familienstand<br />

gemeinsamer<br />

Haushalt<br />

Partnerschaftsdauer<br />

Kinder im Haushalt<br />

gemeinsame Kinder<br />

der Partner<br />

Familienstand<br />

gemeinsamer<br />

Haushalt<br />

Partnerschaftsdauer<br />

Kinder im Haushalt<br />

gemeinsame Kinder<br />

der Partner<br />

Ausprägung<br />

verheiratet<br />

nicht verheiratet<br />

ja<br />

nein<br />

0-1/2 Jahr<br />

> 1/2-1 Jahr<br />

> 1-2 Jahre<br />

< 2-3 Jahre<br />

> 3-5 Jahre<br />

> 5-7 Jahre<br />

> 7-10 Jahre<br />

< 10 Jahre<br />

ja<br />

nein<br />

ja<br />

nein<br />

Ausprägung<br />

verheiratet<br />

nicht verheiratet<br />

ja<br />

nein<br />

0-1/2 Jahr<br />

> 1/2-1 Jahr<br />

> 1-2 Jahre<br />

< 2-3 Jahre<br />

> 3-5 Jahre<br />

> 5-7 Jahre<br />

> 7-10 Jahre<br />

< 10 Jahre<br />

ja<br />

nein<br />

ja<br />

nein<br />

SS geplant<br />

(%)<br />

68,0<br />

53,0<br />

64,5<br />

24,4<br />

10,0<br />

31,7<br />

51,6<br />

62,1<br />

67,9<br />

77,5<br />

65,3<br />

48,0<br />

58,6<br />

61,8<br />

55,0<br />

61,8<br />

SS erwünscht<br />

(%)<br />

80,7<br />

73,4<br />

78,7<br />

64,4<br />

40,0<br />

68,3<br />

74,6<br />

80,3<br />

86,6<br />

80,2<br />

72,2<br />

72,0<br />

71,4<br />

80,9<br />

65,6<br />

74,1<br />

p<br />

0,001<br />

< 0,001<br />

< 0,001<br />

0,475<br />

0,374<br />

p<br />

0,051<br />

0,029<br />

0,014<br />

0,013<br />

0,223


68 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />

Beziehung zwischen soziodemographischen<br />

Faktoren und Partnerschaftsvariablen und<br />

dem perinatal outcome<br />

Hinsichtlich des perinatal outcome ist zunächst festzustellen,<br />

dass die bekannten soziodemographischen Ri -<br />

si ko faktoren, darunter auch der Familienstand, keinen<br />

signifikanten Einfluss auf die Frühgeburtenrate hatten.<br />

So gebaren 5,9% der verheirateten Frauen ihr Kind<br />

vor der 37. Schwangerschaftswoche. Bei den ledigen,<br />

ge schiedenen bzw. verwitweten Frauen waren es 5,7%<br />

(p = 0,91). Bei Auswertung hinsichtlich des Schulab -<br />

schlusses wiesen die Frauen mit Realschulabschluss<br />

und Abitur sogar eine höhere Frühgeburtenrate auf als<br />

jene mit Hauptschulabschluss. Ähnlich lagen die Ver -<br />

hält nisse bei der beruflichen Qualifikation. Beim Ein -<br />

kommen hatten Frauen mit einem monatlichen Haus -<br />

haltseinkommen über 4000 DM die niedrigste Früh -<br />

geburtenrate. Die Unterschiede zu den niedrigeren<br />

Ein kommensgruppen waren statistisch jedoch nicht<br />

sig nifikant. Die Belastung mit mehr als einem medizinischen<br />

Risikofaktor (p=0,086) und eine belastete<br />

Schwan gerschaftsanamnese (p=0,051) hatte eine deutliche<br />

jedoch nicht signifikante Erhöhung der Frühge -<br />

bur tenrate zur Folge. Hinsichtlich der Parität wiesen<br />

Zweitparae mit 2,7% eine erheblich niedrigere Früh -<br />

geburtenrate auf als Erst- (7,4%) und Multiparae<br />

(6,1%) (p =0,014) (vgl. Tabelle 2).<br />

Tab. 2: Soziodemographische und medizinische Faktoren und Frühgeburt<br />

< 37.SSW<br />

Variable<br />

Altersrisiko<br />

Parität<br />

Schulabschluss<br />

Berufsabschluss<br />

Familienstand<br />

Einkommen<br />

Medizinische<br />

Risiken<br />

belastete SS-<br />

Anamnese<br />

Ausprägung<br />

35 Jahre<br />

I.Para<br />

II.Para<br />

> II.Para<br />

niedrig<br />

mittel<br />

hoch<br />

niedrig<br />

mittel<br />

hoch<br />

in Ausbildung<br />

verheiratet<br />

nicht verheiratet<br />

< 1500 DM<br />

1500-4000 DM<br />

< 4000 DM<br />

kein Risiko<br />

1 Risiko<br />

< 1 Risiko<br />

nein<br />

ja<br />

FG


Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 69<br />

Am Ende der schrittweisen logistischen Regression<br />

stellte sich eine Konfiguration von 8 Faktoren als prädiktiv<br />

bedeutungsvoll für das Auftreten einer Früh ge -<br />

burt dar. Das Ereignis Frühgeburt vor der vollendeten<br />

37. SSW war signifikant assoziiert mit der Tatsache ob<br />

im Haushalt der Schwangeren Kinder lebten, ob sie in<br />

der Vorgeschichte an einer Kolpitis gelitten hatte, ob<br />

sie sich durch eine oder mehrere Freundinnen akzeptiert<br />

fühlte, ob der Partner ihr emotionales Verständnis<br />

für die Schwangerschaft entgegen brachte, sie in einer<br />

„idealen Partnerschaft“ lebte (eine Beziehung in der<br />

die Frau mit dem Kindesvater in einem gemeinsamen<br />

Haushalt lebte und noch nie an eine Trennung gedacht<br />

hatte, glücklich oder sehr glücklich in der Partner -<br />

schaft war, in der es keine die Frau belastenden Ver -<br />

haltensweisen des Mannes und keine die Partnerschaft<br />

belastenden Probleme gab und die Frau in allen Be -<br />

reichen der Partnerschaft zufrieden war), welche An -<br />

gaben zum Nikotinkonsum den Krankenakten zu entnehmen<br />

waren sowie der allgemeinen Ängstlichkeit<br />

und den schwangerschaftsbezogenen Ängsten. Die<br />

bei den Variablen zur Angst waren als Rohwerte in das<br />

Modell eingeflossen. Je höher die allgemeine Ängstlichkeit<br />

war, desto niedriger war die Frühge burt lich -<br />

keit (OR 0,53; 95%CI 0,31-0,90; B-0,64) während für<br />

die schwangerschaftsbezogene Angst eine gegen sätz -<br />

liche Beziehung bestand, d.h. hohe Ängste mit einer<br />

hohen Frühgeburtenhäufigkeit assoziiert waren (OR<br />

1,44; 95%CI 1,02-,05;B 0,37). Die Tatsache, kei ne im<br />

Haushalt lebenden Kinder zu haben, war ebenso mit<br />

einem erhöhten Frühgeburtenrisiko verbunden (OR<br />

Abb. 1: Frühgeburtlichkeit bei Frauen mit Trennungsgedanken<br />

Abb. 2: Frühgeburtlichkeit bei Frauen mit „idealer Partnerschaft"<br />

Abb. 3: Multivariate logistische Regression bio-psycho-soziale Variable<br />

und FG < 37. SSW


70 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />

4,74; 95CI 1,39-16,20) wie eine durch Kolpitiden aus -<br />

ser halb der Schwangerschaft belastete Anamnese<br />

(Kol pitis 1-3x OR 3,23; 95%CI 1,17-8,95; Kolpitis<br />

>3x -chronisch OR 4,28; 95%CI 1,01-18,96). Aus<br />

dem Bereich des sozialen Netzwerkes waren das Feh -<br />

len des emotionalen Verstehens für die Schwan ger -<br />

schaft durch den Partner (OR 2,85; 95%CI 1,07-7,56),<br />

das Gefühl, nicht von Freundinnen akzeptiert zu werden<br />

(OR 3,22; 95%CI 1,23-8,40), besonders stark aber<br />

das Bestehen einer nichtidealen Partnerschaft (OR<br />

8,37; 95% CI 1,40-50,27) mit erhöhter Früh ge burt -<br />

lichkeit verbunden. Bei den aus den Unter la gen zum<br />

Nikotinkonsum entnommenen An gaben war be son -<br />

ders das Fehlen solcher Infor matio nen mit einer höheren<br />

Rate von Frühgeburten (OR 5,12; 95% CI 1,88-<br />

13,96) verbunden. Für den Nikotin abu sus war we gen<br />

der geringen Fallzahl keine Berechnung möglich.<br />

Durch den prospektiven Untersuchungsansatz lag<br />

erwartungsgemäß die Anzahl der Ereignisse Frühge -<br />

burt vor der vollendeten 37. SSW niedrig und die Vor -<br />

hersagegüte des Modells wurde damit ungünstig be -<br />

ein flusst. Unter Einbeziehung der Variablen Alter,<br />

Schul abschluss, Einkommen, Familienstand, Parität<br />

und medizinischer und schwangerschaftsanamnestischer<br />

Risikofaktoren wurde daher je eine Gruppe von<br />

29 Frauen mit einer Frühgeburt und 29 Frauen mit<br />

einer Reifgeburt gebildet. Wegen der geringen Fall -<br />

zahl wurde die Zahl der in die Berechnung ein flies -<br />

senden Variablen begrenzt. Für die Berechnung ausgewählt<br />

wurden Variable, die sich auch in der Gesamt po -<br />

pulation als Prädiktoren für eine Frühgeburt vor der<br />

37. SSW erwiesen hatten. Statt der anamnestischen<br />

Belastung Regelstörungen erwies sich in der Matched-<br />

Pair-Population das anamnestische Auftreten von<br />

Dys menorrhoe als Prädiktor. Weitere signifikante Prä -<br />

diktoren waren aus der Vorgeschichte bekannte Kol -<br />

pitiden, allgemeine Ängstlichkeit, schwangerschaftsbezogene<br />

Ängste, emotionales Verstehen für die<br />

Schwan gerschaft durch den Partner und eine ideale<br />

Partnerschaft. Während anamnestisch bekannte Schei -<br />

den entzündungen mit einer erhöhten Frühgeburtenrate<br />

verbunden waren bestand für die Dysmenorrhoe ein<br />

umgekehrtes Verhältnis. Wie in der Gesamtpopulation<br />

waren auch bei den Matched pairs geringe allgemeine<br />

Ängstlichkeit und erhöhte schwangerschaftsbezogene<br />

Ängste sowie das Fehlen des emotionalen Verstehens<br />

für die Schwangerschaft durch den Partner und das<br />

Bestehen einer nichtidealen Partnerschaft mit vermehrter<br />

Frühgeburtlichkeit verbunden. Mit diesem<br />

Mo dell konnten 85,2% der Reifgeburten und 80,8%<br />

der Frühgeburten richtig zugeordnet werden. Bei den<br />

in dieses Modell einfließenden Daten handelt es sich<br />

um Angaben die von den Schwangeren in der ersten<br />

Hälfte der Gravidität gemacht worden waren.<br />

Die Qualität der Partnerschaft scheint nach unseren<br />

Ergebnissen also ein deutlicher Einflussfaktor – protektiv<br />

oder auch pathogen – im Kontext der Ent wic k -<br />

lung einer Frühgeburt zu sein (vgl. Tabelle 3).<br />

Diskussion<br />

Als klassische Risikofaktoren der Frühgeburtlichkeit<br />

gelten Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht,<br />

nie driges Haushaltseinkommen, im geburtshilflichen<br />

Sinne jugendliches (


Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 71<br />

Kind vor der 37. Schwangerschaftswoche als die übrigen<br />

Schwan geren des Untersuchungskollektivs, andererseits<br />

hatten Frauen mit ernsthaften Tren nungsge -<br />

danken eine deutlich erhöhte Frühgeburten rate.<br />

Die Befragung zur Qualität der Paarbeziehung<br />

erfolgte zwischen der 16. und 22. Schwangerschafts -<br />

woche, also deutlich vor dem Beginn der Sympto ma -<br />

tik einer drohenden Frühgeburt und deren Eintritt. So -<br />

mit kann ausgeschlossen werden, dass die Zufrieden -<br />

heit in der Paarbeziehung durch die Symptomatik<br />

einer drohenden Frühgeburt beeinflusst wurden sondern<br />

vielmehr scheint die Qualität der Paarbeziehung<br />

einen Einfluss auf den Schwangerschaftsverlauf, hier<br />

die Frühgeburtlichkeit, zu haben.<br />

Bei der Paarbeziehung ist wohl wie auch bei anderen<br />

psychosozialen Einflüssen eher die Qualität als die<br />

Quantität der Variablen von Bedeutung für den<br />

Schwan gerschaftsverlauf. Es scheint also nicht nur<br />

wichtig zu sein welche Stresssituation besteht, sondern<br />

bedeutungsvoll ist besonders, wie die Schwan -<br />

gere die belastende Situation erlebt und ob sich die<br />

Erregung ins Körperliche umsetzt. Ob eine Situation<br />

als stressvoll erlebt wird und ob die einsetzende Erre -<br />

gung sich körperlich negativ umsetzt hängt von vielfältigen<br />

modulierenden Einflussfaktoren ab. Das verfügbare<br />

Repertoire von Coping-Strategien spielt hier<br />

ebenso eine Rolle wie die Verfügbarkeit von sozialen<br />

Netzen oder bestimmte individuelle Persönlichkeitsei -<br />

gen schaften. Auch das von Antonovsky (1987) im<br />

Rah men seines salutogenetischen Konzeptes erläuterte<br />

Kohärenzgefühl kann zum ganzheitlichen Verständ -<br />

nis von Schwangerschaftskomplikationen beitragen.<br />

Antonovsky (1987) geht bei der Betrachtung von<br />

Stressoren von der interessanten Frage aus, warum<br />

einige Individuen unter Stress mit pathologischen<br />

Symp tomen reagieren, andere hingegen nicht. Er vertritt<br />

die Ansicht, dass es gerade auch für die Medizin,<br />

(wir sagen auch für die Geburtsmedizin) interessant<br />

ist, die Faktoren zu ermitteln, die Stress nicht zum<br />

krankmachenden Ereignis werden lassen. Antonovsky<br />

sieht hierfür das Kohärenzgefühl, eine globale Orien -<br />

tierung, die das Maß ausdrückt, indem man ein durchdringendes,<br />

andauerndes aber dynamisches Gefühl<br />

des Vertauens hat, dass die eigene interne Umwelt vor -<br />

her sagbar ist, und dass es eine hohe Wahrschein lich -<br />

keit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden,<br />

wie vernünftigerweise erwartet werden kann, als<br />

bedeutsam an. Wichtige Komponenten zur Erklärung<br />

des Kohärenzgefühls sind Verstehbarkeit, Handhab -<br />

barkeit und Bedeutsamkeit von Lebensereignissen.<br />

Neben dem als intrapsychisches Konstrukt zu betrachtenden<br />

Kohärenzgefühl untersuchte Antonovsky auch<br />

den Einfluss von sozialer Unterstützung auf die<br />

Stress verarbeitung. So fand er bei der Neuberechnung<br />

von Daten einer Studie über Schwangerschafts kom -<br />

plikationen (Nuckolls et al. 1972) einen erstaunlichen,<br />

von den Primärautoren nicht beachteten Zusammen -<br />

hang. Ein hohes Ausmaß an Stressoren war bei gleich -<br />

zei tig hohem Ausmaß an sozialer Unterstützung<br />

gesundheitsfördernd wirksam. In der vorliegenden<br />

Stu die stellte sich die Paarbeziehung als eine hochprotektiv<br />

wirksame Ressource heraus.<br />

Die aktuelle Partnerbeziehung stellt auch nach<br />

Lukesch (1983) den wesentlichen Einflussfaktor auf<br />

das Schwangerschaftserleben einer Frau dar. Er meint,<br />

dass bei einer gestörten Partnerschaft die negativen<br />

As pekte des Schwangerschaftserlebens überwiegen<br />

und es somit verstärkt zum Auftreten von physischen<br />

und psychischen Beschwerden kommen kann. Auch<br />

andere Autoren (Buddeberg 1987; Herms und Kubli<br />

1976; Kloss & Wellnitz 1991; Wimmer-Puchinger<br />

1992) vertreten die Ansicht, dass Wechselbeziehungen


72 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />

zwischen einer gestörten Partnerbeziehung und dem<br />

Auftreten von Schwangerschaftskomplikationen be -<br />

stehen können. Molinski unterstreicht immer wieder,<br />

eine Frau benötige für den guten Verlauf ihrer<br />

Schwan gerschaft ein Gefühl der Sicherheit. Ein solches<br />

Gefühl der Sicherheit ist seiner Ansicht nach<br />

weitgehend gleichzusetzen mit der Freiheit von Angst.<br />

Er betrachtet Angst und Angstphysiologie im Rahmen<br />

des Abortgeschehens, seine diesbezüglichen Überlegungen<br />

sind aber auch auf die vorzeitige Wehen -<br />

tätigkeit zu übertragen. (Molinski 1988) Sicherheit<br />

kann die Schwangere aus sich selbst aber auch aus<br />

ihrem sozialen Umfeld und hier speziell aus der Paar -<br />

beziehung schöpfen. Psychosoziale Grundbedürfnisse<br />

nach Angenommen-Sein, Nähe, Schutz, Geborgenheit<br />

und Sicherheit lassen sich am intensivsten in intimen<br />

Beziehungen erfüllen (Beier et al. 2001).<br />

Tierversuche haben in jüngster Zeit erste Ergeb -<br />

nis se zur Erklärung psychophysiologischer Wirkwei -<br />

sen von Stress in der Schwangerschaft erbracht. Taka -<br />

hashi et al. (1998) konnten demonstrieren, dass wiederholter<br />

unkontrollierbarer Stress bei schwangeren<br />

Ratten zu einer Erhöhung der Plasma glukokorti koid -<br />

konzentration führt und beim Feten eine gleichgerichtete<br />

Reaktion zu beobachten ist. Bereits 1988 wiesen<br />

Herrera und Mitarbeiter nach, dass bei einer höheren<br />

Stressbelastung das relative Risiko für Schwanger -<br />

schafts komplikationen auf 5,1 steigt. War bei erhöhtem<br />

Stressniveau gleichzeitig die soziale Unterstüt -<br />

zung inadäquat betrug das Risiko sogar 10,2. 72,7%<br />

der Schwangeren mit hohem Stressniveau und unge -<br />

nügender sozialer Unterstützung zeigten eine Depres -<br />

sion der Lymphozytenaktivität. Ponirakis et al. (1998)<br />

fanden bei 27 sehr jungen Schwangeren (14 – 17 Jah -<br />

re) eine signifikante Beziehung zwischen der emotionalen<br />

Situation der Schwangeren und dem „fetal outcome“.<br />

Weiterhin waren höhere Konzentrationen mütterlichen<br />

Kortisols assoziiert mit niedrigeren Apgar-<br />

Werten und mehr neonatologischen Reanimations -<br />

maß nahmen. Soziale Unterstützung beeinflusste den<br />

Effekt negativer mütterlicher Emotionen auf den Zu -<br />

stand des Kindes. Brandt-Niebelschütz et al. (1995)<br />

fanden bei Frauen mit unauffälligem Schwanger -<br />

schafts verlauf gegenüber Nichtschwangeren im Sinne<br />

einer Immunstatusverbesserung signifikant höhere<br />

Wer te für die peripheren T-Lymphozyten sowie für die<br />

T-Helfer-Zellen. Bei Schwangeren mit Zeichen einer<br />

drohenden Frühgeburt wurden dazu im Vergleich signifikant<br />

niedrigere Werte gemessen, in den Fällen mit<br />

später tatsächlich eingetretener Frühgeburt waren die<br />

Wer te besonders niedrig. Eine kausale Beziehung zwischen<br />

psychischer und physischer Belastung, Be ein -<br />

trächtigung des Immunsystems und vorzeitiger We -<br />

hen tätigkeit, z.B. infolge einer aszendierenden Infek -<br />

tion vermuten die Autoren, da 65% der Frauen mit<br />

vorzeitiger Wehentätigkeit über subjektiv belastende<br />

Lebenssituationen berichten, während es in der Kon -<br />

trollgruppe nur 26% sind.<br />

Im für die Gesamtpopulation berechneten multivariaten<br />

logistischen Modell setzte sich in der vorliegenden<br />

Untersuchung die Partnerschaftsqualität als ein<br />

sig nifikanter Prädiktor für die Vorhersage einer Früh -<br />

geburt durch, während „klassische“ soziodemographische<br />

Risikofaktoren wie Familien- und Bil dungs stand<br />

sowie der sozioökonomische Status keinen relevanten<br />

Einfluss hatten. Auf die Bedeutung der anderen signifikanten<br />

Faktoren unseres bio-psycho-sozialen Prädi -<br />

ktorenmodells kann hier nicht eingegangen werden.<br />

Auch bei der Berechnung mit den Matched pairs wur -<br />

de die Qualität der Paar beziehung als signifikanter<br />

Einflussfaktor auf den Schwangerschaftsverlauf er -<br />

mit telt. Schwangere deren Partner ihr emotionales<br />

Ver ständnis für die Schwan gerschaft entgegen brachte<br />

und die in einer „idealen Partnerschaft“ lebten hatten<br />

ein signifikant niedrigeres Frühgeburtenrisiko.<br />

In einer Reihe von Studien wurde der Einfluss professioneller<br />

sozialer Unterstützung auf den Schwan -<br />

ger schaftsverlauf geprüft. Nur wenige Studien konnten<br />

einen positiven Effekt auf medizinische Parameter<br />

des Schwangerschaftsverlaufs und- ausgangs nachweisen<br />

(Mamelle 1997, Oakley 1990). Eine randomisierte<br />

Studie in 4 lateinamerikanischen Staaten in der<br />

die Frauen der Interventionsgruppe, ab der 15 – 22.<br />

SSW mindestens 4 Besuche einer Sozialarbeiterin<br />

erhielten erbrachte keine Unterschiede in der Unter -<br />

gewichtigenrate zwischen beiden Gruppen (Villar<br />

1992). Auch Hodnett (2000) kommt in einer Meta ana -<br />

lyse von 14 Interventionsstudie zu dem Schluss dass<br />

zusätzliche Unterstützung in der Schwangerschaft<br />

nicht zu einer Reduzierung von Frühgeburtlichkeit<br />

und Untergewichtigenrate führt. Die Autorin diskutiert<br />

als Hintergrund für diese wenig ermutigende Er -<br />

fahrungen einerseits die ausgeprägte soziale Benach -<br />

tei lung der meisten in die Studien einbezogenen<br />

Frauen, die einen positiven Einfluss der Interven tio -<br />

nen auf das Geburtergebnis schon primär unwahrscheinlich<br />

machen. Andererseits betont sie, dass als<br />

Ausdruck des unzureichenden Wissens um die ätiopathogenetischen<br />

Hintergründe von Frühgeburtlichkeit<br />

und niedrigem Geburtsgewicht möglicherweise Frau -<br />

en in die Studien eingeschlossen wurden die gar nicht<br />

mit einem erhöhten Risiko behaftet waren. (Hodnett<br />

2000) Da neuere Studien einen positiveren Effekt<br />

sozialer Unterstützung aus „Attachment-relationships“<br />

denn aus „Nonattachment-relationships“ nachweisen<br />

konnten (Maunder 2001), muss die Beziehung<br />

zum Kindesvater als eine bislang ungenutzte Ressour -<br />

ce in der Prävention der Frühgeburtlichkeit betrachtet


Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 73<br />

werden. Paartherapeutische Interventionsstudien bei<br />

somatischen oder psychosomatischen Erkrankungen<br />

sind bisher sehr selten gemacht worden. In einer randomisierten<br />

kontrollierten Studie ließ sich der Erfolg<br />

einer ambulanten Rehabilitation von Patienten mit ko -<br />

ro naren Herzkrankheiten entsprechend der WHO-<br />

Phase II durch eine kurze paartherapeutische Inter ven -<br />

tion verbessern (Priebe 2001). Untersuchungen zum<br />

Effekt paartherapeutischer Interventionen in der<br />

Schwangerschaft gibt es erstaunlicherweise nicht.<br />

Es sei noch einmal hervorgehoben, dass die Be -<br />

fragung in der 16 – 22. Schwangerschaftswoche, also<br />

deutlich vor dem Ereignis Frühgeburt und in der Regel<br />

auch dem Auftreten erster diesbezüglicher Symptome<br />

er folgte. Damit kann der hier vorgestellte Unter -<br />

suchungs ansatz Ausgangspunkt für präventive Stra -<br />

tegien hinsichtlich der Frühgeburtlichkeit sein. Da die<br />

Frühgeburtlichkeit unabhängig von biomedizinischen<br />

Risikofaktoren signifikant mit der Qualität der Part -<br />

ner schaft korreliert sollten präventive Strategien psychosoziale<br />

Faktoren und insbesondere die Partner -<br />

schaft einschließen. Dies bedeutet für die Betreuung<br />

Schwangerer eine möglichst frühzeitige Einbeziehung<br />

des Partners, d.h. nicht erst zur Geburtsvorbereitung<br />

sondern von Beginn der Schwangerschaft an. Dies<br />

bietet zunächst besser diagnostische Möglichkeiten<br />

hinsichtlich der Paarbeziehung. Aus anderen Unter -<br />

suchungen wissen wir, dass Aussagen des Partners ge -<br />

rade in der Schwangerschaft die Qualität der Bezie -<br />

hung noch klarer beschreiben als Aussagen der Frau.<br />

Andererseits kann Paaren mit Problemen in der Be -<br />

ziehung so frühzeitig die Möglichkeit von Kommu -<br />

nika tions- und Interaktionstraining angeboten werden.<br />

Darüber hinaus kann die Schwangere durch das Erler -<br />

nen von Entspannungsverfahren die Möglichkeit er -<br />

hal ten ein Überspringen der Erregung ins Körperliche<br />

zu verhindern. Die Vermittlung von Entspannungs ver -<br />

fahren kann genauso wie die von Coping-Strategien<br />

gut in Gruppen erfolgen. So wird ein zusätzliches so -<br />

ziales Netzwerk aufgebaut. Selbstverständlich ist es<br />

auch wichtig vorhandene soziale Beziehungen für die<br />

Unterstützung der Schwangeren zu aktivieren.<br />

Wie eine Paarbeziehung in der Schwangerschaft als<br />

wichtige stützende und Sicherheit gebende Funk tion<br />

wirken und in diesem Sinne in Hinblick auf Schwan -<br />

gerschaftskomplikationen prophylaktisch oder therapeutisch<br />

bedeutsam sein kann,. mag ein kurzes<br />

Fallbei spiel verdeutlichen.<br />

Die 37jährige Patientin stellte sich nach 3 Aborten<br />

in der 6 bis 8. SSW in unserer Ambulanz vor. Sie hatte<br />

seit 10 Jahren eine feste Paarbeziehung aber bisher<br />

noch nicht mit dem Partner zusammengelebt. Aktuell<br />

musste der Partner seinen Arbeitsort in eine rund 80<br />

km entfernte Stadt verlegen. Das Paar sah sich am<br />

Wochen ende und an einem Abend der Woche, wobei<br />

meist sie es war, die zu ihm fuhr. Die medizinischen<br />

Untersuchungen erbrachten keine klaren Hinweise auf<br />

eine somatische Ursache der Aborte. Die Patientin<br />

dräng te intensiv auf weitere körperliche Diagnostik.<br />

Der Partner hatte zwar einige Basisuntersuchungen<br />

durch führen lassen, wollte sich auf weitere diagnostische<br />

und therapeutische Maßnahmen jedoch nicht einlassen.<br />

In einem Paargespräch wurde deutlich, dass<br />

der Kinderwunsch bisher im wesentlichen von ihr ausging.<br />

Er hatte schon irgendwie mitgemacht aber so -<br />

wohl das Bestreben nach einem gemeinsamen Kind<br />

wie auch die gemeinsame Zukunft weniger verbindlich<br />

gesehen. Sie betonte an einer Stelle des Ge -<br />

spräches, dass sie das Empfinden hätte, ihre Schwan -<br />

gerschaften ins Leere hinein zu konzipieren. Im Paar -<br />

ge spräch zeigte sich der dahinter liegende Konflikt<br />

deut lich. Die Patientin wurde relativ bald wieder<br />

schwan ger und erlitt erneut eine Fehlgeburt. Einige<br />

Zeit später, inzwischen war sie 40 Jahre alt, stellte sie<br />

sich erneut bei uns vor. Am Konsultationstermin war<br />

eine Frühschwangerschaft zu diagnostizieren. Frau W.<br />

berichtete, dass sie seit einiger Zeit jeden Arzttermin<br />

bei der Gynäkologin nur gemeinsam mit ihrem Freund<br />

wahrnehmen würde. „Da gehe ich nicht mehr allein<br />

hin und er kommt wie selbstverständlich mit, auch<br />

wenn er sich manchmal etwas unbeholfen fühlt.“ Sie<br />

hatte ihre Stelle inzwischen reduzieren können und so<br />

sahen sie sich jetzt öfter, mal bei ihr und mal bei ihm.<br />

Sie redeten über ihre gemeinsame Zukunft mit und<br />

ohne Kind. Obwohl auch diese Schwangerschaft mit<br />

vielen Ängsten erfüllt war verlief sie ohne wesentliche<br />

medizinische Komplikationen. In der 20. SSW hat die<br />

Patientin sich selbst aus unserer Betreuung in eine<br />

nor male Schwangerschaft entlassen und inzwischen<br />

ein gesundes Kind geboren.<br />

Wenn aus geburtsmedizinischer Sicht immer wieder<br />

betont wird, dass bisherige Konzepte der Schwan -<br />

ge reinbetreuung wenig zur Reduzierung z.B. der Fehlund<br />

Frühgeburtlichkeit geleistet haben und intensiv<br />

darüber nachgedacht wird, welche präventiven Strate -<br />

gien zur Reduzierung von Schwangerschafts kompli -<br />

kationen und zu einer Senkung der Frühgeborenenrate<br />

beitragen könnten, so könnte eine Integration der Paa -<br />

beziehung in solche Konzepte neue Wege eröffnen.<br />

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Anschriften der Autorinnen<br />

Dr. med. Martina Rauchfuß, Universitätsklinikum Charite, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, AG Psychosoziale Frauenheilkunde,<br />

Luisenstr. 57, 10117 Berlin, martina.rauchfuss@charite.de<br />

Dr. med. Claudia Altrogge, KMK Klinikum Kyritz, Perleberger Str.31, 16866 Kyritz


Fortbildung<br />

Sexuologie<br />

Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei<br />

gesunden Männern“<br />

New misleading ways: „Penisenlargement for<br />

healthy men<br />

Günther Fröhlich<br />

In allen Kulturen ist ein großer Penis Symbol für<br />

Potenz und männliche Macht. Es erstaunt daher nicht,<br />

daß Männer„ihn“ seit je her etwas länger, etwas dicker<br />

und möglichst auf Knopfdruck funktionierend wünschen.<br />

Antike Darstellungen (vgl. Abb. 1) wie beispielsweise<br />

Wandmalereien aus der Villa vetii in Pompeji<br />

lassen der Phantasie dabei jeden Spielraum und auch<br />

die moderne Sexindustrie macht Angebote (vgl. Abb.<br />

2), die dem Betrachter beim Vergleich mit den eigenen<br />

„real existierenden Gegebenheiten“ durchaus Minder -<br />

wer tig keitsgefühle bereiten können. Im Zeitalter me -<br />

dialer Überflutung mit sexueller Information und Des -<br />

infor mation, die sich am sexuellen Phantasie modell<br />

orientiert, ist es verständlich, daß Männer mit ihrer<br />

Biolo gie hadern und oft anonym nach Mög lichkeiten<br />

einer Ver größerung dieses für sie so wichtigen Organs<br />

suchen. So wird beispielsweise die Inter netseite www.<br />

willy-online.de täglich von etwa 2000 Surfern be -<br />

sucht.<br />

In die urologische Praxis schlägt dieses Interesse<br />

allerdings nicht durch. Nach einer Umfrage, die der<br />

Autor im Januar 2002 bei 27 niedergelassenen und<br />

Krankenhausurologen der Bezirksärztekammer Ol -<br />

den burg durchführte, informieren sich jährlich durchschnittlich<br />

nur 1,2 Patienten nach Penisver größe -<br />

rungs möglichkeiten. Nur einer der 27 Urologen hat<br />

bis her eine Penisvergrößerungsoperation veranlaßt<br />

und keiner hat je eine solche Operation durchgeführt.<br />

6 Urologen betreuen je einen in auswärtigen privaten<br />

kosmetisch-chirurgischen Instituten operierten Patien -<br />

ten. Alle diese Männer sind mit ihrem Operations -<br />

resultat höchst unzufrieden und mußten zum Teil<br />

nach operiert werden (beispielsweise die Ausräumung<br />

eines Paraffinoms).<br />

Gleichwohl setzen sich viele Männer besorgt mit<br />

der Länge und Dicke ihres Penis auseinander. Insbe -<br />

sondere ältere Männer beklagen in der Sprechstunde<br />

gar nicht so selten, daß „er“ in letzter Zeit immer kleiner<br />

werde. Hierbei handelt es sich aber meist entweder<br />

um einen versteckten Hinweis auf eine allgemeine<br />

Un zufriedenheit mit ihrem Sexualleben oder aber es<br />

liegt eine durch einen zunehmenden Wohlstandsbauch<br />

bedingte optische Täuschung vor.<br />

Abb. 1: Frau und Olisbos (Pompeji Haus Vettii)<br />

Abb. 2: Dildo-Sortiment aus dem Magazin der Frankfurter Rundschau (29.12.2001)<br />

Sexuologie 9 (2) 2002 75 – 82 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


76 G.Fröhlich<br />

Auffällig ist in der Praxis auch immer wieder, daß<br />

Männer zwar davon überzeugt sind, ihr Penis wäre zu<br />

klein, daß sie aber über die normale Größe eines Pe -<br />

nis, über seinen Aufbau und seine Funktion wenig<br />

oder gar nichts wissen. Außerdem hat kaum ein he -<br />

tero sexueller Mann je den erigierten Penis eines anderen<br />

Mannes gesehen, wenn er nicht zu Besuchern von<br />

sogenannten Swinger Clubs zählt. Der pornographische<br />

Film hilft da auch nicht weiter, weil dort nur ausgesuchte<br />

Prachtexemplare gezeigt werden.<br />

Oft schafft bei solchen an ihrer genitalen Aus stat -<br />

tung zweifelnden Männern bereits eine sexualmedizinische<br />

Aufklärung über den Aufbau und die Funktion<br />

dieses für sie so wichtigen Organs Erleichterung oder<br />

kann sogar letzte Zweifel ausräumen. Trotzdem bleibt<br />

eine Anzahl von Männern überzeugt, „einfach zu<br />

klein“ ausgestattet zu sein und meint dann beispielsweise:<br />

„man sollte eigentlich annehmen, daß ich es<br />

besser wüßte. Ich bin nicht ungebildet und habe viele<br />

Bücher über Sex gelesen aber ich glaube immer noch,<br />

daß ich attraktiver für Frauen wäre, wenn mein Penis<br />

ein bißchen länger und ein bißchen dicker wä re.“<br />

(zit.n. Zilbergeld 1996)<br />

Seit Masters und Johnson darf angenommen werden,<br />

daß die Penisgröße für die physiologische sexuelle<br />

Erlebnisfähigkeit der Frau bedeutungslos sei, da<br />

sich die Scheide als muskuläres Hohlorgan der Penis -<br />

größe anpaßt.<br />

Zilbergeld (1996) meint, daß „Frauen viel we ni ger<br />

über Penisgrößen nachdenken als Männer“. Die große<br />

Mehrzahl seiner Gesprächspartnerinnen konnte sich<br />

„an keine Unterhaltung mit Freundinnen erinnern, in<br />

denen sie die Größe von Penisen auch nur er wähnt<br />

hätten“. Vom Autor befragte Gynäkologinnen und<br />

Gynäkologen meinten auch, die Penisgröße werde in<br />

ihrer Praxis nicht thematisiert. Auch namhafte Au to -<br />

rinnen zum Thema weibliche Sexualität wie Neises<br />

(2002) und von Sydow (2002) teilten auf Anfrage mit,<br />

keine eigenen Untersuchungen zur Bedeutung der Pe -<br />

nis größe für das sexuelle Erleben der Frau gemacht zu<br />

haben und konnten ad hoc auch keine <strong>Literatur</strong>an ga -<br />

ben machen.<br />

Der Freud‘sche Penisneid etwa<br />

nur ein Problem der Männer?<br />

Der doch sehr taxierende, auf die Körpermitte eines<br />

FKK-Anhängers gerichtete Blick einer Strandnixe aus<br />

dem Spiegel vom Anfang diesen Jahres (Heft 7: 194)<br />

veranlaßte den Autor von Mitte Februar bis Mitte<br />

März 2002 in 4 gynäkologischen und 3 urologischen<br />

Praxen des Landkreises Vechta zu einer Umfrage bei<br />

226 Frauen im Alter von 18-62 Jahren und 119 Män -<br />

nern im Alter von 17-73 Jahren (vgl. Tab. 1). Ge fragt<br />

wurde nach der Bedeutung der Penisgröße für das<br />

Selbstbewußtsein des Mannes, für die eigene sexuelle<br />

Erlebnisfähigkeit und die sexuelle Erlebnisfähigkeit<br />

der Partnerin sowie nach dem Wunsch des Mannes<br />

nach einer Penisvergrößerungs operation und der Zu -<br />

stimmung seiner Partnerin zu einem solchen Eingriff.<br />

Auffällig war die weitgehend übereinstimmende Be -<br />

wertung bei Männern und Frauen.<br />

Ganz unwichtig scheint die Penisgröße nur für<br />

etwa 20 % aller Befragten zu sein. Für 60% ist die<br />

Penisgröße nicht ganz unwichtig. Fast 20 % der Män -<br />

ner und Frauen schätzen die Penisgröße als sehr wichtig<br />

für das männliche Selbstbewusstsein ein und etwa<br />

13% der Männer und 16% Frauen glauben, dass die<br />

Penisgröße sehr wichtig für die männliche sexuelle<br />

Er lebnisfähigkeit des Mannes sei. Nur etwa 9% der<br />

Männer halten ihre Penisgröße für die sexuelle Er -<br />

lebnisfähigkeit ihrer Partnerin für sehr wichtig wäh -<br />

rend fast 12% der Frauen dieser Meinung sind.<br />

Vergrößerungsoperationen lehnen 84% der Män -<br />

ner und 81% der Frauen ab. Immerhin würden aber<br />

5,2% der Männer und sogar 12% der Frauen einer sol-<br />

Tab. 1: Umfrage in 4 gynäkologischen und 3 urologischen Praxen im Kreis Vechta (Februar bis März 2002)


Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“ 77<br />

chen Operation zustimmen. 10,4% der Männer sind<br />

nicht sicher, ob sie sich einer solchen Operation unterziehen<br />

würden und 9% der Frauen wäre ein solcher<br />

Entschluß des Partners gleichgültig.<br />

Ganz bedeutungslos scheint demnach die Penis -<br />

größe für Männer und Frauen für ihre sexuelle Erleb -<br />

nisfähigkeit also wohl doch nicht zu sein und es wird<br />

daher immer wieder Männer geben, die auf der Suche<br />

nach Penisvergrößerungsangeboten sind.<br />

Sie werden fündig in Talkshows, Livestyle-Magazi -<br />

nen und im Internet (vgl. http:www.willy-online de).<br />

An bieter sind fast aus schließlich kosmetische Chirur -<br />

gen in kommerziell aus gerichteten privaten Instituten<br />

oder selbst ernannte nicht ärztliche „Spezialisten“. Die<br />

Angebote erscheinen verlockend, versprechen sie<br />

doch immerhin Pe nis verlängerungen von 2-4cm und<br />

Verdickungen bis zu 2,5 cm.<br />

Solche Operationsverfahren sind nicht neu und<br />

wurden schon ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

beschrieben (Maizels et al. 1968, Kelly & Eraklis,<br />

1971, Johnsten 1974). Sie wurden damals aber nur bei<br />

angeborenem Mikropenis, einer großen Seltenheit,<br />

oder bei Pe nismissbildungen wie z.B. bei der Bla sen -<br />

extrophie angewandt. Seit 5-7 Jahren erleben sie nun<br />

aber auch bei körperlich gesunden Männern besonders<br />

in den USA und seltener auch in Europa einen Boom.<br />

Man che Institute geben an, 700 bis 5000 solcher Ope -<br />

rationen erfolgreich durchgeführt zu haben (vgl. Abb.<br />

3). Wissenschaftliche Veröffent li chun gen dieser Insti -<br />

tute sucht man allerdings in der <strong>Literatur</strong> vergeblich.<br />

Inzwischen laufen in den USA hunderte von Haft -<br />

pflichtprozeßen (Porst 2000), einige auch in Deutsch -<br />

land, weil das postoperative Ergebnis der erhofften<br />

Idealvorstellung kraß widerspricht.<br />

Grundsätzlich ist die Penisgröße durch die individuelle<br />

Größe des Corpus cavernosum und des Corpus<br />

spongiosum mit der Glans penis vorgegeben und folgt<br />

dem biologischen Gesetz einer Gauß‘schen Vertei -<br />

lungskurve (vgl. Abb. 4). Sie hat keine Beziehung zur<br />

Kör pergröße und auch keine signifikante Beziehung<br />

zum Alter des Patienten.<br />

Bei 262 Männern in der Praxis des Autors betrug<br />

die durchschnittliche am flacciden gestreckten Penis<br />

gemessene Länge 13,17 cm (vgl. Abb. 5), was etwa<br />

den <strong>Literatur</strong>angaben entspricht (vgl. Tab. 2 ).<br />

Operativ gibt es am Corpus cavernosum Penis<br />

nichts zu vergrößern. Etwa 25% des Corpus cavernosum<br />

sind am Beckenskelett bindegewebig fixiert und<br />

äußerlich nicht sichtbar. Die meisten Männer verstehen<br />

unter Penisvergrößerung eine Penisverlängerung.<br />

Nach Porst (2000), der in seinem Hamburger Spezia -<br />

institut 4-5 Patienten mit dem Wunsch nach einer Pe -<br />

nis vergrößerung pro Monat berät, sind die Zielgruppe<br />

immer Männer zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr,<br />

Abb. 3: Website-Adressen zum Thema Penisverlängerung<br />

www.25cm.de<br />

Abb. 4: Penisgröße gestreckter flaccider Penis, n = 262 (Juni 2001 bis Februar<br />

2002)<br />

Abb. 5: Penisgröße gestreckter flaccider Penis, n = 262 (Juni 2001 bis Februar<br />

2002)<br />

Tab. 2: Penisgröße nach <strong>Literatur</strong>angaben<br />

www.impodoc.de<br />

www.penisverlängerung.dewww.männerproblem.de<br />

www.willy-online.de<br />

www.stretcher-online.de<br />

www.dildo.de<br />

www.selbsthilfeforum.de<br />

www.beratung@andrologie.de<br />

gestreckte Länge<br />

Länge durchschnittlich<br />

13,17 cm<br />

< 60 Jahre, n = 92<br />

13,39 cm<br />

> 60 Jahre, n = 134<br />

13,06 cm<br />

Erektionslänge<br />

Wessels 1996 n = 80 12,45 12,89<br />

da Rosa 1996 n = 150 14,50<br />

Torres 1999 n = 329 14,20<br />

pro Familia n = 3000 14,80


78 G.Fröhlich<br />

welche zu 98% im erigierten Zustand normale Penis -<br />

größen zwischen 13 und 19 cm aufweisen. Im mer<br />

han delt es sich um Männer mit starken Minder -<br />

wertigkeitsgefühlen, die sich „überall und ständig verächtlichen<br />

und spöttischen Blicken, sogar durch die<br />

Kleidung hindurch“ (Zitat eines Patienten) ausgesetzt<br />

sehen. Solche Männer geraten oft schon bald nach der<br />

Pubertät in soziale Isolation, sie meiden die Teilnahme<br />

an Sportveranstaltungen, gemeinsames Duschen, Be -<br />

such von Schwimmbädern und haben keine sexuellen<br />

Kontakte, da sie sich mit ihrer vermeintlich unzulänglichen<br />

genitalen Ausstattung nicht bloß stellen wollen.<br />

Negative Partnererfahrungen haben diese Männer<br />

meist noch nicht gemacht, da sie noch nie eine sexuelle<br />

Beziehung gewagt haben.<br />

Eine andere Gruppe hat ein normales Sexualleben,<br />

ist zum Teil verheiratet und hat mit der Partnerin auch<br />

gemeinsame Kinder. Diese Männer haben keine Koi -<br />

tusprobleme, trotzdem hegen sie, orientiert an phallischen<br />

Mythen und pornographischer Irreführung tiefste<br />

Selbstzweifel bezüglich ihrer genitalen Ausstat -<br />

tung. Sie fühlen sich „in jeder Hinsicht zu klein“.<br />

Auch die Konfrontation mit ihrem fast immer normal<br />

großen Penis durch eine pharmakoindozierte<br />

Erek tion, die von Urologen gar nicht so selten versucht<br />

wird, kann solche Männer natürlich nicht von<br />

ihrer ichstrukturellen Insuffizienzproblematik befreien.<br />

Ichstärkende Sexualtherapie wäre hier angezeigt,<br />

welche Ressourcen und andere Perspektiven unter<br />

Einbe ziehung des Partners, sofern vorhanden, zu er -<br />

öffnen versucht.<br />

Leider suchen solche Männer aber oft anonyme<br />

Beratung über das Internet und werden hier auch vielfältig<br />

fündig. Die Angebotspalette ist breit. Spezielle<br />

Partnerschaftsvermittlungsinstitute versuchen beispielsweise<br />

mit Angeboten wie „500 reizende junge<br />

Frauen suchen Männer mit kleinem Pe nis“ Kapital zu<br />

schlagen, oder solche Männer geraten irgendwann auf<br />

die Website eines „Experten“ der mit tausenden erfolgreich<br />

durchgeführter Penisvergröße rungsoperationen<br />

oder mit konservativen Vergröße rungs maßnahmen<br />

lockt.<br />

Welche Operationen zur<br />

Penisvergrößerung werden angeboten?<br />

1. Ligamentolyse<br />

Dies bedeutet die Durchtrennung des Ligamentum<br />

suspensorium Penis, welches das Corpus cavernosum<br />

am Schambein fixiert (vgl. Abb. 6). Häufig wird diese<br />

mit einer Fettabsaugung im Unterbauch und einem Y-<br />

V Schnitt kombiniert. Sie löst die Veranke rung des<br />

Corpus cavernosum vom Schambein. Das Glied hängt<br />

dabei im Stehen im flacciden Zustand ei ni ge cm länger<br />

herunter, was subjektiv eine Penis ver größerung<br />

vortäuscht. Bei der Erektion ist das Glied nach schräg<br />

unten gerichtet, es hat seine feste Veran ke rung am<br />

Schambein verloren und „schwankt wie ein betrunkener<br />

Seemann im Sturm“, was natürlich Per for man ce -<br />

probleme nach sich zieht.<br />

Die wichtigste Komplikation dieser Maßnahme ist<br />

praktisch immer eine Diskrepanz zwischen dem vom<br />

Patienten erwarteten und dem erzielten Endergebnis,<br />

dabei sind vor allem narbige Verziehungen mit Penis -<br />

verkürzung, Entzündungen, Erektionsschmerzen und<br />

Abb. 6: Penisverlängerungsoperationen<br />

Ligamentolyse<br />

• Durchtrennung des Ligamentum<br />

suspensorium penis<br />

• Absaugung oder Resektion des<br />

subkutanen Fettgewebes am<br />

mons pubis<br />

• V – Y – Schnitt


Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“ 79<br />

Libidostörungen infolge einer Verletzung der Buck’ -<br />

schen Fascie und des Gefäßnervenbündels bis hin zur<br />

völligen erektilen Impotenz die Folge, welche in Ein -<br />

zelfällen mit Implantaten korrigiert wurden (Porst<br />

2000).<br />

Auf dem 13. Kongreß der deutschen Gesellschaft<br />

für Urologie im September 2001 in Düsseldorf hat<br />

sich eine jugoslawisch-deutsche Arbeitsgruppe mit<br />

der Frage „wird der Penis durch Ligamentolyse länger“<br />

auseinandergesetzt (Djakovic et al. 2001) und<br />

kommt zu der Schluß folgerung „die alleinige Liga -<br />

men tolyse ist nicht effizient im Sinne einer wahren<br />

Penisver längerung. Z-Plastiken können zudem zu<br />

Vernarbun gen und Hautreaktionen führen, die im späteren<br />

Ver lauf zu schlechten Resultaten führen. Die<br />

Ligamen tolyse kann eine kosmetische Indikation<br />

haben. Dem Patienten muß aber die Illusion einer<br />

wahren Penisverlängerung ge nommen werden.“<br />

Diese Schlußfolgerung kann eigentlich nur als<br />

Wider legung der Indikation zu diesem Eingriff verstanden<br />

werden.<br />

2. Penisdisassambling<br />

Dies bedeutet die operative Zerlegung des Penis in<br />

seine Einzelteile, nämlich die Trennung des Corpus<br />

spongiosum mit Glans penis, Harnröhre und dem dorsalem<br />

Gefäß-Nervenbündel vom Corpus cavernosum<br />

mit Interposition von Rippenknorpel (vgl. Abb. 7).<br />

Jugoslawische Autoren (Perovic & Djordjevic 2000)<br />

operierten von 1995-1999 19 Patienten zwischen 18<br />

(!!!) bis 52 Jahre nach dieser Methode und beobachteten<br />

diese durchschnittlich 3 1/3 Jahre danach. Sie er -<br />

zielten einen Län gen gewinn von 2,4 cm und sahen<br />

angeblich keine Läsion des Gefäßnervenbündels. 15<br />

der so operierten Patienten gaben schmerzlose Ge -<br />

schlechtsverkehrs fä hig keit an. Über 4 Patienten konnten<br />

die Autoren al ler dings keine postoperativen An -<br />

gaben machen Da solche Patienten bei operativem<br />

Misserfolg oft den Arzt wechseln, liegt immerhin die<br />

Vermutung nahe, daß 25% der Operierten mit dem<br />

Ergebnis wohl nicht zufrieden waren und einen anderen<br />

Therapeuten ge sucht haben. Trotzdem kommen<br />

die Autoren zu dem Er gebnis, daß es sich hierbei um<br />

eine „Vergrößerung der genuinen Penisgröße mit<br />

befriedigendem Ergeb nis“ handelt. Diese optimistische<br />

Bewertung ist heftig zu bezweifeln, da andere<br />

Autoren hohe Kompli ka tionsraten bei Nachunter su -<br />

chun gen solcher Patienten fanden. Wessel und Mit -<br />

arbeiter (1996) stellten bei 12 Patienten nach Pe nis -<br />

verlängerung und Fettinjektion „ schlechte kosmetische<br />

Ergebnisse durch subcutane Knoten- und Wulst -<br />

bildungen bis ins Scrotum hinein fest“. 6 der 12 Pa -<br />

tien ten mußten nachoperiert werden, 6 hatten Wund -<br />

heilungsstörungen und 4 Erektionsprobleme. Nur ein<br />

Patient stellte eine Penisverlängerung fest. Eine<br />

Operation mit einer so hohen Komplikationsrate muß<br />

als Kunstfehler bewertet werden. Besonders kritikwürdig<br />

sind die über das Internet von Privat -<br />

instituten empfohlenen Penisimplantate zur Penisver -<br />

größe rung bei gesunden Männern. Implantate (hy -<br />

draulische nach Scott oder starre nach Jonas) bewirken<br />

eine intermittierende oder Dauererektion. Da sie,<br />

um Komplikationen wie Implantatperforation, zu vermeiden<br />

immer der jeweiligen Größe des Corpus ca -<br />

ver nosum angepasst werden müssen, bewirken sie im -<br />

mer nur die Erektion aber niemals eine Penis ver -<br />

größerung. Implantate sind nur noch bei weni gen,<br />

streng selektierten Männern mit erektiler Dysfunktion<br />

indiziert, bei denen die anderen heute verfügbaren<br />

somatischen Therapieoptionen (perorale oder intrurethrale<br />

Medikation, intracavernöse Injektion, Vakuum -<br />

erek tionshilfesysteme) unwirksam bleiben (vgl. Abb.<br />

8).<br />

Männer beklagen aber nicht nur die Länge, sondern<br />

auch die Dicke ihres Penis. Der Volksmund drückt das<br />

in folgendem Reim aus – „lang und schmal – der<br />

Frauen Qual, kurz und dick – der Frauen Glück“. Eine<br />

Arbeit von R. Eisenman (2001) aus dem psychologischen<br />

Institut der Universität Texas läßt vermuten,<br />

dass da wohl etwas dran sein könnte. Immerhin gaben<br />

45 von 50 befragten 18-25jährigen Studentinnen an,<br />

daß sie der Penisdicke mehr Bedeutung für ihre sexuelle<br />

Befriedigung beimessen als der Länge.<br />

Abb. 7: Penisverlängerungsoperationen<br />

Penisdisassambling<br />

• Trennung des Harnröhrenschwellkörpers mit Glans penis und dem dorsalen<br />

Penisnervenbündel vom copus cavernosum.<br />

• Interposition von Rippenknorpel zwischen Glans penis und corpus cavernosum


80 G.Fröhlich<br />

Erwartungsgemäß fehlt es daher auch nicht an<br />

Angeboten zur Penisumfangsaugmentation durch:<br />

1. Injektion von homologen Fettgewebe oder Paraf fin<br />

zwischen die Penishaut und das Corpus cavernosum.<br />

2. Interpostition von Fettgewebslappen zwischen Pe -<br />

nis haut und Corpus carvernosum.<br />

3. Implantation von Elfenbein-, Silikon- und Metall -<br />

ku geln in das Präputium.<br />

4. beiderseitige dorsale Längsinzision des Corpus ca -<br />

ver nosum mit Interposition eines Venae saphenamagna-Lappens<br />

(Austoni et al. 1999), womit eine<br />

Durchmesserzu nah me um 1,1-2,1 cm erreicht werden<br />

soll.<br />

All diese Augmentationen führen zu Deformierungen<br />

und widersprechen der Evolution, die nun einmal kein<br />

subcutanes Fettgewebe am Penis vorgesehen hat.<br />

Aus Anfragen auf der andrologischen Website<br />

(www.beratung.et.andrologie.de) von H. Schorn (Ar -<br />

beitskreis psychologische Urologie und Sexualme di -<br />

zin der DGU) geht hervor, das Männer gar nicht so<br />

sel ten profesionelle Beratung bezüglich konservativer<br />

Behandlungsmöglichkeiten suchen, bevor sie über<br />

Operationen nachdenken. Hier liegt die besondere<br />

Ver antwortung und Chance sexualmedizinisch verantwortlich<br />

handelnder Ärzte, den Kontakt zu solchen<br />

Männern zur Eröffnung neuer Blickwinkel und Re -<br />

sorcen zu nutzen und auch solche konservativen The -<br />

rapieangebote des grauen Internetmarktes kritisch zu<br />

bewerten.<br />

Angeboten werden als konservative „Penisver -<br />

größe rungs maßnahmen“ (vgl. Abb. 9):<br />

1. Vakuumerektionssysteme<br />

2. Skat-Injektion<br />

3. MUSE (Porst)<br />

4. Bandagen<br />

5. Streckapparate<br />

6. Gewichte<br />

Abb. 9: konservative Penisverlängerung<br />

Vakuumerektionssystem<br />

Skat<br />

Streckapparate (Penistrecher)<br />

www.penisstrecher.com<br />

Abb. 8: Penisverlängerungsoperationen<br />

Implantate<br />

• Implantation von hydraulischen oder dauersteifen Siliconprothesen<br />

Gewichte (Circle divice)<br />

www.penis-enlarger.com


Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“ 81<br />

Interessanterweise werben die Anbieter solcher Geräte<br />

meist mit dem Hinweis auf die Komplikations -<br />

trächtigkeit der Operationen und das fördert offen -<br />

sicht lich auch den Verkauf ihrer Produkte. So lockt der<br />

Vertreiber eines sogenannten Circle Device (ringförmiges<br />

16 Unzen schweres Metallgewicht) mit „tausenden<br />

von zufriedenen Patienten seit 1996“, wenn<br />

das Gewicht 10 Stunden täglich 6-12 Monate getragen<br />

wird und verspricht einen Längengewinn von 2-3 cm<br />

innerhalb von 6 Monaten. Die User solcher Stret -<br />

chersysteme kommunizieren im Internet und berichten<br />

stolz über ihre Erfolge wie beispielsweise Heiko,<br />

27 Jahre alt, aus Brandenburg (unter www.25.de): „Es<br />

ist echt irre. Ich fand eigentlich, dass ich auch schon<br />

vorher gut bestückt war und eigentlich wollte ich nur<br />

einige Optimierungen erreichen. Nach 2 Monaten<br />

Trai ning habe ich einen Zuwachs von mehr als 5 cm<br />

geschafft. Damit hat mein bestes Stück jetzt eine Ge -<br />

samt länge von 27 cm und (...) ist ein echtes Pracht -<br />

exem plar.“ Arndt, 35 Jahre alt, aus Westerland/Sylt<br />

meint auf der gleichen Internetsite: Seit 20 Jahren<br />

habe ich Minderwertigkeitskomplexe, weil ich mich<br />

wegen meines zu klein geratenen Gliedes geschämt<br />

habe (...). In der Zwischenzeit habe ich geheiratet und<br />

führe eine glückliche Beziehung. Trotzdem hat mich<br />

meine Makel immer gestört. Durch 25cm.de ist mein<br />

Penis sage und schreibe 23 cm groß geworden. Selbst<br />

meiner Frau ist aufgefallen, dass ich seitdem ich den<br />

Zuwachs bemerkt habe, wesentlich selbstbewusster<br />

geworden bin.“<br />

Wenn man bedenkt, dass beide Männer tatsächlich<br />

Prachtexemplare am obersten Ende der Gauß’schen<br />

Verteilungskurve haben (vgl. Abb. 4), bestätigt das die<br />

Beobachtung auch anderer Autoren (Porst 2000), dass<br />

es sich bei den Usern solcher Penisstreckapparate um<br />

Männer mit ausgepägten Minderwertigkeitskom -<br />

plexen handelt, welche phallischen Mythen verhaftet<br />

sind und ihre sexuelle Atraktivität als Mann auf einen<br />

Riesenphallus fokussieren. Wenn man weiterhin be -<br />

denkt, dass die sexuelle Lust der Frau im Vulvabereich<br />

und im vorderen Scheidendrittel empfunden wird und<br />

zumindest in der Langzeitbeziehung Frauen der Be -<br />

frie digung psychosozialer Grundbedürfnisse wie vertrauen<br />

zum Partner, Gesprächsbereitschaft, Zärt -<br />

lichkeit, Sich-geliebt-fühlen meist einen höheren Stel -<br />

lenwert beimessen, als einem „Riesenphallus“, dann<br />

erhebt sich wirklich die Frage, ob denn nun ein 2-3 cm<br />

längerer Penis in die sexuelle Glückseligkeit führen<br />

kann.<br />

Zusammen fas send ist somit festzustellen:<br />

1. Penisvergrößerungsmaßnahmen werden fast aus -<br />

schließlich von kommerziell ausgerichteten kosmetisch<br />

chirurgischen Privatinstituten oder Händlern im<br />

Abb. 10: David von Michelangelo 1504 (aus: Scalini & Marton 1993: 127)<br />

Internet sowie der Sexindustrie angeboten. Meist er -<br />

füllt das Behandlungsergebnis nicht die Erwartungen<br />

des Patienten. Da sich Patienten schämen oder den be -<br />

handelnden Arzt wechseln, werden Komplikationen<br />

nach solchen Eingriffen oft nicht bekannt.<br />

2. Wissenschaftlich kontrollierte Untersuchungen über<br />

die Operationsergebnisse und Komplikationen solcher<br />

Eingriffe liegen bisher nicht vor. (Porst 2000)<br />

3. Penisvergrößerungsmaßnahmen bei gesunden Män -<br />

nern gehören nicht in das Therapieangebot seriöser<br />

Urologie (Hertle 2002, Porst 2000, Weidner 2002).<br />

Nach einer urologischen Thera pie richtlinie von Wes -<br />

sel und Mitarbeitern sollte „nur bei Männern mit einer<br />

flacciden Penislänge von 4 cm oder einer gestreckten<br />

oder Erektionslänge von weniger als 7,5 cm eine<br />

Penisverlängerungsoperation erwogen werden“.<br />

Nach einem internationalen urologisch-andrologischen<br />

Konsensusstatement vom Juli 1999 (Jardin et. al


82 G.Fröhlich<br />

1999) ist jeder Patient vor einer solchen Operation da -<br />

rauf hinzuweisen, dass es sich um experimentelle Chi -<br />

rurgie handelt.<br />

4. Unkritische kommerzielle Angebote für körperlich<br />

gesunde Männer auf dem grauen Markt des Internets<br />

und anderer Medien zum Preis zwischen 5000 – 15<br />

000 Euro sind „unseriöse Psychotherapieversuche mit<br />

dem Skalpell“ und somit abzulehnen.<br />

5. Penile Insuffizienzgefühle bei organisch gesunden<br />

Männern sind Präsentiersymptom Ich-struktureller<br />

Per sönlichkeitsdefizite und fallen nicht in die Zu -<br />

ständigkeit des Urologen oder kosmetischen Chirur -<br />

gen, sondern sie sind eine Domäne der Sexualtherapie.<br />

Im Sinne eines salutogenetischen Therapieansat zes,<br />

wie ihn Antonowski vertritt, könnte dann beispielsweise<br />

die gemeinsame Betrachtung des David von<br />

Michelangelo (vgl. Abb.10) als „Sinnbild eines schönen<br />

Mannes“ der Einstieg zur Erarbeitung neuer Pers -<br />

pektiven in Form von „ Schatzsuche statt Fehl erfahn -<br />

dung“ (Schiffer 2001) und entstellenden operativen<br />

Korrektur an ge boten eines vermeintlichen körperlichen<br />

Mangels sein. Ganz nach dem Motto von Zilber -<br />

geld, das da lautet: „freundet euch an mit eurem Penis,<br />

er ist der einzige, den ihr je haben werdet“.<br />

<strong>Literatur</strong><br />

Austoni, E.; Guanari, A., Gatti, G. (1999): Penile elangation<br />

and Thickening- a myth? Is there cosmetic or medical indication?<br />

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Zilbergeld, B. (1996): Die neue Sexualität der Männer, dgvt-<br />

Verlag: Tübingen, 2. korrigierte Auflage: 87-116.<br />

Blech, J. (2002): „Die zweite sexuelle Revolution“, Der Spie -<br />

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Brenot, Ph. H. (1995): Männliche Impotenz, eine historische<br />

Retro spek tive, L‘ Esprit du Temps.<br />

Djakovic, N.; Perovic, S.; Djurdjevic, M.; Basting, R.:<br />

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Hertle, L.(2002): Prof. Dr. med., Direktor der urologischen<br />

Universitätsklinik Münster, Generalsekretär der DGU, persönliche<br />

Mitteilung.<br />

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Johnsten, H. (1974): Lenthening of the congenital or aquired<br />

short penis, Brit J Urol 46: 685.<br />

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non Publishing Group.<br />

Maizels, M. et al (1968): Surgical correction of the curied<br />

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Neises, M. (2002): Persönliche Mitteilung.<br />

Obert, M.; Parr, M. (2001): „lang soll er leben“. Magazin der<br />

Frankfurter Rund schau vom 29.12.01.<br />

Perovic, S.V.; Djordjevic, M.L, (2000): Penile Lengthening,<br />

BJU Int. Dec. 86 (9): 1028-1033.<br />

Porst, H. (2000): Manual der Impotenz, Uni-Med: 363-369.<br />

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Mün chen.<br />

Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese:<br />

Schatz suche statt Fehlerfahndung. Beltz-Taschenbuch.<br />

Sydow, K. von (2002): Persönliche Mitteilung.<br />

Weidner, W. (2002): Prof. Dr. med., Direktor der urologischen<br />

Universitätsklinik Gießen, Vorsitzender der Leitli -<br />

nien kommission der DGU, Persönliche Mitteilung.<br />

Wessel, H.; Lue T.F.; Mc Aninch, J.W. (1996): Complication<br />

of penis lengthening and augmentation, J Urol, 156, 5:<br />

1617-1620.<br />

Für die Beteiligung an der Praxisumfrage bedanke ich mich bei folgenden gynäkologischen und urologischen Praxen des Landkreises Vechta:<br />

Dr. Christlieb, Facharzt für Urologie, Quakenbrück<br />

Dr. Gerwing, Facharzt für Urologie, Damme.<br />

Dr. Hanekamp-Middendorf und Dr. Hübner, Fachärztinnen für Gynäkologie, Vechta.<br />

Dr. Rehker, Facharzt für Gynäkologie, Lohne.<br />

Dr. van Wasen und Dr. Baron, Facharzt und Fachärtzin für Gynäkologie, Lohne.<br />

Dr. Wichmann, H. Meinerling, Fachärzte für Urologie, Vechta.<br />

.Dr. Schlömer und Dr. Laudenbach,Fachärztinnen für Gynäkologie, Vechta-Langförden<br />

Anschrift des Autors<br />

Dr. med. Günther Fröhlich, Urologische Privatpraxis, Institut für Sexualmedizin und Psychosomatik, Nieberdingstraße 15, 49393 Lohne<br />

guenther.froehlich@ewetel.net


Historia<br />

Sexuologie<br />

Das Institut für Sexualwissenschaft und die Dr.<br />

Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933)<br />

Ein (un)abgeschlossenes Kapitel deutscher<br />

Vergangenheit?<br />

The Institute for Sexology and the Dr. Magnus Hirschfeld-Foundation<br />

(1919-1933). An (un)finished chapter of German history?<br />

Klaus M. Beier, Rainer Alisch<br />

Unmittelbar neben dem Haus der Kulturen – im<br />

Volks mund auch „Schwangere Auster“ genannt – und<br />

in Sicht weite des neuen Bundeskanzler amtes markiert<br />

seit 1994 eine eiserne Stele den Standort des alten Ins -<br />

ti tuts für Sexualwissenschaft (vgl. Abb. 1). Die einge -<br />

las sene Plat te aus rostfreiem Stahl hält die Lebens da -<br />

ten des Grün ders Magnus Hirschfeld fest und erinnert<br />

ferner daran, dass es sich bei dem Institut um die weltweit<br />

erste Ein richtung dieser Art gehandelt hat. Heute<br />

verweist in mit ten der Grün an lagen nichts mehr darauf,<br />

dass hier – „In den Zelten“ wie die alte Adresse<br />

lautete – einmal Häu serzeilen die Spree ge säumt haben.<br />

Das Institut wurde im Sommer 1919, am 6. Juli,<br />

eröffnet. Bereits 1918 hatte Hirschfeld die Villa In den<br />

Zelten Nr. 10 erworben, drei Jahre später kam noch<br />

das benachbartes Mietshaus (In den Zelten 9a)<br />

hinzu. Die Institutseröffnung war unmittelbar mit<br />

einem anderen Projekt Hirschfelds, der Stiftung für<br />

wissen schaft liche Sexualforschung, verknüpft. Ihre<br />

Grün dung gab Hirschfeld auf der Sit zung der Ärztlichen<br />

Gesell schaft für Sexualwissen schaft und<br />

Eugenetik in Berlin vom 17. Mai 1918 bekannt.<br />

Knapp ein Jahr spä ter, am 21. Februar 1919, erfolgte<br />

die An erken nung der Stiftung, die nunmehr unter dem<br />

Namen Dr. Mag nus-Hirsch feld-Stiftung firmierte, seitens<br />

der preußi schen Re gie rung. Als Stiftungsziel<br />

wurde im § 2 der Stiftungs-Verfassung angegeben, das<br />

gesamte Sexual le ben wissenschaftlich zu erforschen<br />

und „über sichergestellte wissenschaftliche<br />

Forschungs ergeb nis se auf diesem Gebiet in geeigneter<br />

Weise Aufklärung zu verbreiten“ (vgl. An hang).<br />

Einschließ lich des Stiftungs ka pitals von 30 000 Mark<br />

hatte Hirschfeld für den Erwerb, Umbau und<br />

Einrichtung des Instituts – wohl überwiegend durch<br />

Spenden – weit über eine Mil li on Mark aufgebracht.<br />

Sexuologie 9 (2) 2002 83 – 86 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie<br />

Abb. 1: Kartenausschnitt mit Abbildungen vom alten Institut, der Gedenkstele und<br />

dem Bundeskanzleramt – in der Abb. hierzu oben rechts auch das Haus der Kulturen


84 K. M. Beier, R. Alisch<br />

Abb. 2: NS-Studenten beim Plündern des Instituts 1933<br />

Hirschfeld hatte mit seiner Stiftung intendiert, die Se -<br />

xual wissenschaft in ihrer ganzen Breite zu entfalten<br />

und sie letztlich auch an der Berliner Universität zu<br />

etablieren. Ein Bericht, der ein Jahr nach der Eröff -<br />

nung des Instituts erschien, gibt ein beeindruckendes<br />

Bild der ersten erfolgreichen Aktivitäten des Instituts.<br />

Die Arbeit war in vier Bereiche ge gliedert: Sexualbio -<br />

logie, Sexual me di zin, Sexualso zio logie und Sexual -<br />

eth no logie. Hinzu kamen öffentlich wirksame Aufga -<br />

bengebiete: Eine Bera tungs stelle für Ehe schlie ßende,<br />

öf fent liche Vor träge und Diskussionen und ein ge -<br />

richtsmedizinischer Dienst, der Gut achten vor allem<br />

im Rahmen von Strafprozessen er stellte (ca. 100 Gut -<br />

achten im Jahr).<br />

Für das erste Jahr nennt der Bericht 18 000 Be -<br />

ratungen jährlich (am Tage also durchschnittlich 50 –<br />

60) bei sämtlichen sexuellen Störungsbil dern, weiterhin<br />

klinische Demonstrationsabende für Ärzte und<br />

Me dizinstudenten (sie wurden von etwa 70 Me di -<br />

zinern regelmäßig besucht), Vorlesungstätig keit über<br />

(Sexual-) Physiologie, Psychologie, forensische Sexu -<br />

ologie, des weiteren sexualwissenschaftliche Auf klä -<br />

rungsvorträge (während des Berichtsjahres vor mehr<br />

als 6000 Hörern und Hörerinnen).<br />

Die Institutsbibliothek umfasste mehr als 20 000<br />

Bände, 35 000 Fotografien, eine große Anzahl von<br />

Gegen stän den und Kunstwerken. Zusätzlich waren<br />

etwa 40 000 Lebensberichte und biografische Briefe<br />

archiviert. Zuletzt arbeiteten am Institut insgesamt<br />

etwa 40 Personen und auch das Wissenschaftlich-hu -<br />

ma ni tä re Komitee – die erste Homosexuellen-Organi -<br />

sation – sowie die Weltliga für Sexualreform hatten<br />

dort ihren Sitz.<br />

Am 6. Mai 1933 wurde das Institut – als jüdisch,<br />

sozialdemokratisch und sittenwidrig de nun ziert –,<br />

geplündert und geschlossen, Teile der Bibliothek wurden<br />

am 10. Mai auf dem Berliner Opernplatz symbolisch<br />

verbrannt. So weit die Mitarbeiter nicht bereit<br />

waren, sich der na tionalsozialistischen Ideologie an -<br />

zupassen, wurden sie ins Exil getrieben. Hirschfeld<br />

musste sich in einer Pariser Wochenschau die Ver bren -<br />

nung seiner Bücher anschauen. Nach einem er folg lo -<br />

sen Ver such, das Institut in Paris neu zu gründen, starb<br />

er an seinem 67. Geburtstag, am 14. Mai 1935, in Niz -<br />

za.<br />

Das ge samte Vermögen der Magnus-Hirschfeld-<br />

Stiftung war durch eine Verfügung des Geheimen<br />

Staats poli zeiamtes vom 18.11.1933 zu Gunsten des<br />

preußischen Staa tes eingezogen worden. Über die beiden<br />

Gebäude wurde Anfang 1934 nochmals ge sondert<br />

verfügt, mit der Folge, dass sie von mehreren NS-Or -<br />

ga nisationen genutzt wurden. 1943 fielen die Insti tuts -<br />

gebäude einem Bombenangriff zum Opfer.<br />

Anfang der 50er Jahre fand ein Rück er stat tungs -<br />

verfahren statt, das sich mit dem Verbleib des Insti -<br />

tutsvermögens befasste. Nach der in der Stif tungs -<br />

satzung von 1919 mit § 10 verfügten Regelung sollte<br />

das gesamte Vermögen der Berliner Universität zufallen,<br />

doch diese befand sich inzwischen im Ostteil der<br />

Stadt (i.e. die jetzige Humboldt-Universität). In dem<br />

Wie dergutma chungsprozeß wurde dies nicht be rück -<br />

sichtigt, und man darf spekulieren wa rum. Statt dessen<br />

gingen die Institutsgrundstücke auf das Land Berlin<br />

über, nachdem die Allgemeine Treuhand organisation<br />

(ATO), die im Prozess als Nach fol georganisation für<br />

erbenloses Vermögen agierte, auf eine Rück er stattung<br />

des Grund besitzes verzichtet hatte und Berlin einen<br />

Aus gleich von ca. 70 000DM zahlte.<br />

Das Schicksal des Instituts für Sexualwissenschaft<br />

kann als beispielhaft für die nicht erfolgte Wiedergut -<br />

machung für erlittenes Unrecht und Vermö gens schä -<br />

den von Lesben und Schwulen während der NS-Zeit<br />

gelten. Es ist im besonderen Fall ein Beispiel aus -<br />

gebliebener Restitution für die zerschlagene schwullesbische<br />

Infrastruktur. Nachdem am 7. Dezember<br />

2000 der Deut sche Bundestag die Bundesregierung<br />

einstimmig er sucht hatte, über eine kollektive Ent -<br />

schä digung für die homosexuellen Opfer des NS-Re -<br />

gimes nachzudenken, ist von einem bundesweiten Ak -<br />

tionsbündnis Magnus-Hirsch feld-Stiftung die Ein -<br />

richtung einer gleichnamigen Stiftung gefordert worden.<br />

Mit ihr „soll die historische Aufarbeitung der<br />

nationalsozialistischen Ho mo sexuellenverfolgung und<br />

des späteren Umgangs mit ihren Opfern“ verbessert<br />

und die „Erforschung und Pflege des kulturelle Erbes<br />

von Lesben und Schwu len“ (zit.n.: http://magnushirschfeld.de/stiftung/)<br />

unterstützt werden.<br />

Mit dem Bundestagsbeschluss vom 27.6. 2002 zur<br />

Ein rich tung einer Magnus-Hirsch feld-Stiftung ist die<br />

Bun des regierung der Forderung des Aktionsbündnis -


Das Institut für Sexualwissenschaft und die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933) 85<br />

ses weitgehend nachgekommen. Eine Bezugnahme<br />

auf die von Hirschfeld selbst begründete Stiftung ist in<br />

dem Gesetzentwurf allerdings nicht gegeben, sei es<br />

aus Nichtwissen, was ihre historische Vor läuferin anbelangt,<br />

sei es aus Überforderung in Anbetracht der<br />

Breite des historischen Erbes, dem man sich hätte stellen<br />

müssen, was nur möglich ist, wenn Theorie und<br />

Praxis der Sexualwissenschaft kompetent überschaut<br />

werden. Damit dürfte die ge plante inhaltliche Aus rich -<br />

tung einer neuerlichen Magnus-Hirschfeld-Stif tung –<br />

so nachvollziehbar eine vertiefte Aus ein an dersetzung<br />

mit dem „homosexuellen Leben im Gebiet der Bun -<br />

desrepublik Deutsch land“ auch sein mag – dem<br />

gleich falls intendierten Stif tungszweck, nämlich „Ge -<br />

denken an Leben und Werk Magnus Hirschfelds zu<br />

pflegen“, nicht genügen, ja in dieser Reduktion sogar<br />

letztlich konterkarieren. Umso bedauerlicher ist es,<br />

dass durch die fehlende Einbeziehung eines Fach ver -<br />

treters für Sexualwissen schaft nicht frühzeitiger auf<br />

diesen Gesichtspunkt hingewiesen werden konnte –<br />

ein Sachverhalt der auch in der Wochenzeitung Frei -<br />

tag (21.06.02) von Dirk Ruder vermerkt wurde.<br />

Es bleibt daher festzuhalten: Das Werk von Mag -<br />

nus Hirschfeld umfasst weit mehr als die wissenschaftliche<br />

Auseinandersetzung mit der Homosexua -<br />

lität, und von einer Stiftung, die diesen Namen trägt,<br />

ist daher zu fordern, den damit gegebenen breit ge -<br />

fächerten Anspruch auch einzulösen. Hinzu kommt<br />

das besondere Vermächtnis, das Hirschfeld der Ber -<br />

liner Universität hinterlassen hat: Das (beträchtliche)<br />

Vermögen der von ihm 1919 gegründeten und 1933<br />

enteigneten Dr.-Magnus-Hirschfeld-Stiftung war zum<br />

Aufbau der Sexualwissenschaft an der heutigen Hum -<br />

boldt-Universität bestimmt. Jede Wiedergut ma -<br />

chungs absicht, muss sich folglich – wenn sie ihren<br />

Na men verdienen soll – an diesem Vermächtnis<br />

Hirsch felds messen lassen und somit die von ihm klar<br />

definierte Vermögensverwendung nachholen.<br />

<strong>Literatur</strong><br />

Berlin Museum (Hrsg) (1984): Eldorado: Homosexu elle<br />

Frau en und Männer in Berlin 1850 – 1950. Geschichte,<br />

Alltag u. Kultur. Ausstellung im Berlin Museum, 26. Mai –<br />

8. Juli 1984, Berlin: Fröhlich & Kaufmann.<br />

Herzer, M. (1992): Magnus Hirschfeld: Leben und Werk<br />

eines Jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen.<br />

Frank furt/M., New York: C ampus Verlag.<br />

Entschädigungsforderung: MAGNUS-HIRSCHFELD-STIF-<br />

TUNG zur Pflege des kulturellen Erbes von Lesben und<br />

Schwulen: http://magnus-hirschfeld.de/stiftung/<br />

Ruder, Dirk (2002): Pink Money. In: Freitag, 21.06.<br />

(http://www.freitag.de/2002/26/02261102.php).<br />

Anhang<br />

Auszug aus der Verfassung der Dr. Magnus Hirschfeld<br />

Stif tung<br />

(vom 21. Februar 1919)<br />

§ 2<br />

Die Stiftung bezweckt,<br />

a) die wissenschaftliche Durchforschung des gesamten Sexuallebens,<br />

insbesondere auch seiner Varianten, Stö rungen und<br />

Anomalien, zu fördern<br />

b) über sichergestellte wissenschaftliche Forschungs ergeb nis se<br />

auf diesem Gebiet in geeigneter Weise Aufklärung zu verbreiten.<br />

§ 10<br />

Für den Fall, daß die Stiftung gemäß § 87 BGB durch die zuständige aufgehoben<br />

werden (...) sollte, soll das Stif tungsvermögen an die Uni versität<br />

Berlin oder, falls diese die Annahme ablehnt, an eine andere Hochschule<br />

fallen, die von dem preußischen Kultusministerium oder der etwa dessen<br />

Stelle tretenden Zentralbehörde für Universitäts angelegenheiten zu<br />

bestimmen ist, und zwar mit der Auflage, es als Grundstock zur Er -<br />

richtung einer ordentlichen Professur für Sexualwis senschaft zu verwenden.<br />

Wenn hiernach das Kultusministerium die Hochschule zu bestimmen hat,<br />

sollen in erster Linie diejenigen berücksichtigt werden, bei denen eine<br />

solche Professur noch nicht besteht.<br />

§ 11<br />

Für den Fall, daß gem. §§ 7 und 8 BGB, der Stiftung eine andere<br />

Zweckbestimmung gegeben werden sollte, wünsche ich, daß sie in den<br />

Dienst der sexuellen Hygiene gestellt wird.


86 K. M. Beier, R. Alisch<br />

Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer „Magnus-<br />

Hirschfeld-Stiftung“ (Auszug)<br />

(vom Bundestag am 27.6. 02 angenommen)<br />

§ 1<br />

Errichtung und Sitz<br />

(1) Unter dem Namen „Magnus-Hirschfeld-Stiftung" wird eine<br />

rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet. Die Stiftung entsteht<br />

mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes.<br />

(2) Der Sitz der Stiftung ist Berlin.<br />

§ 2<br />

Stiftungszweck<br />

Zweck der Stiftung ist es, homosexuelles Leben im Gebiet der<br />

Bundesrepublik Deutschland wissenschaftlich zu erforschen und darzustellen,<br />

die nationalsozialistische Verfolgung Homosexueller in Erin ne -<br />

rung zu halten, durch Öffentlichkeitsarbeit einer gesellschaftlichen Dis -<br />

kriminierung homosexueller Männer und Frauen in Deutschland entgegenzuwirken,<br />

Bürgerrechtsarbeit zu fördern, Menschenrechts ar beit im<br />

Ausland zu unterstützen sowie das Gedenken an Leben und Werk<br />

Magnus Hirschfelds zu pflegen.<br />

§ 5<br />

Kuratorium<br />

(1) In das Kuratorium entsenden:<br />

1. die im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen pro<br />

angefangene 150 Mitglieder je ein Mitglied,<br />

2. das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zwei<br />

Mitglieder,<br />

3. der Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. ein Mitglied,<br />

4. die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V. ein Mitglied,<br />

5. der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland e. V. zwei<br />

Mitglieder,<br />

6. die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e. V. ein<br />

Mitglied,<br />

7. der Lesbenring e. V. ein Mitglied,<br />

8. der Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Ho -<br />

mosexuellen e. V. ein Mitglied,<br />

9. die International Gay and Lesbian Association (ILGA) Europe zwei<br />

Mitglieder.<br />

Zu A. Allgemeines<br />

Zur nationalsozialistischen Homosexuellen-Verfolgung zählte auch die<br />

Zerschlagung der schwulen und lesbischen Infrastruktur. Durch die<br />

Gründung der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung" soll nunmehr im Sinne<br />

eines kollektiven Ausgleichs das von den Nationalsozialisten an den<br />

Homosexuellen verübte Unrecht anerkannt und die homosexuelle Bür -<br />

ger-und Menschenrechtsarbeit gefördert werden.<br />

Die Stiftung ist nach dem Berliner Arzt und Sexualwissenschaftler Dr.<br />

Magnus Hirschfeld (1868 bis 1935) benannt. Er war einer der ersten, der<br />

das homosexuelle Leben erforscht und dokumentiert hat. Als Begründer<br />

und langjähriger Vorsitzender der weltweit ersten Ver eini gung für die<br />

Rechte der Homosexuellen hat er sich in Wort und Tat ge gen Vorurteile<br />

sowie gegen Diskriminierung und Verfolgung eingesetzt. Hirschfelds<br />

Einfluss reichte weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Sein Leben und<br />

seine Arbeit sollen historisch untersucht und im Be wusstsein der Öffentlichkeit<br />

wachgehalten werden.<br />

Organisationen wie die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft oder der Les -<br />

ben- und Schwulenverband engagieren sich seit langem für die Errich -<br />

tung einer Stiftung, die Hirschfelds Namen trägt. (…)<br />

Der Stiftungszweck wird zu einem Teil, soweit es um die Aufarbeitung<br />

der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung geht, historisch orientiert,<br />

zu seinem überwiegenden Teil (Gleichstellung homosexueller<br />

Männer und Frauen, Menschenrechtsarbeit) aber zukunftsgerichtet sein.<br />

Zu § 2<br />

Der Zweck der Stiftung ist ein dreifacher: Ein Schwerpunkt soll die weitere<br />

Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenver fol gung<br />

und des späteren Umgangs mit den Opfern sein. Das Ausmaß der<br />

Verbrechen der Nationalsozialisten in diesem Bereich soll mehr als bisher<br />

öffentlich dokumentiert und wahrgenommen werden. Hierzu kann die<br />

Stiftung z. B. Archive und wissenschaftliche Forschungs pro jekte fördern,<br />

an das Lebenswerk von Magnus Hirschfeld anknüpfen und die Erin -<br />

nerung hieran wachhalten.<br />

Daneben soll sich die Stiftung für die weitere Gleichstellung Homo se -<br />

xueller in der heutigen Gesellschaft einsetzen und gesellschaftlicher Dis -<br />

kriminierung entgegenwirken. Hierzu kann sie insbesondere durch Öf -<br />

fentlichkeitsarbeit, eigene wissenschaftliche Forschungsprojekte und die<br />

Unterstützung entsprechender Projekte anderer Hilfe bei der Überwindung<br />

von bestehenden Vorurteilen leisten und die Bürger rechtsarbeit<br />

fördern.<br />

Zusätzlich soll die Stiftung Menschenrechtsarbeit im Ausland fördern. In<br />

vielen Staaten der Welt ist Homosexualität strafbar, werden Homo -<br />

sexuelle von staatlicher Seite offen angefeindet und verfolgt. Die Stif tung<br />

kann Hilfsprojekte, Personen oder Gruppen in diesen Staaten unterstützten.<br />

Anschrift der Autoren<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, R. Alisch, Institut für Sexual wissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität<br />

zu Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, e-mail: klaus.beier@charite.de


Aktuelles<br />

Sexuologie<br />

Buchbesprechungen<br />

Entmannte Männer: Männerforschung<br />

(<strong>Literatur</strong>bericht II. Teil)<br />

Gerhard Hafner<br />

Der Penis erfuhr im 20. Jahrhundert einen ungeahnten<br />

symbolischen Aufstieg: Um ihn kreisen die Phantasien<br />

von Potenz und Machtverlust, er markiert das Gender-<br />

Kraftfeld in der Dichotomie von „ihn haben“ und „er<br />

sein“. Spätestens jedoch mit Elisabeth Bronfens Re -<br />

habilitation des Nabels (Omphalus) als Zeichen symbolischer<br />

Kastration ist der Phallus – zumindest in der<br />

Gender-Forschung – auf seinen historisch angemessenen<br />

Platz gerückt. Denn der Penis, das beweist auch<br />

Ga ry Taylor in seiner Studie Castration: An Abbrevia -<br />

ted History of Western Manhood, verdankt seine zentrale<br />

Bedeutung dem Aufstieg der Psychoanalyse.<br />

Dagegen spielten die Hoden in der langen Ge -<br />

schich te der Männlichkeiten (Connell) eine weitaus<br />

tragendere Rolle als signifikantes Körperteil. In dieser<br />

ironisch betitelten „abgekürzten Geschichte der westlichen<br />

Männlichkeit“ geht der ausgewiesene Shake -<br />

s pea re-Experte anhand der Jahrtausende währenden<br />

Ge schichte der „Verschnittenen“ bzw. „Entmannten“<br />

der Männlichkeit auf den Grund. Wenn man die Ge -<br />

schichte der körperlichen „Entmannung“ untersuche,<br />

so Taylor, könne man die Geschichte der Männlich -<br />

keiten besser verstehen. Was heißt es, ein Mann zu<br />

sein, wenn er keine Hoden besitzt? Wie sind männliche<br />

Genitalien und Männlichkeit verknüpft?<br />

Die Kastration<br />

Männliche Genitalien sind sichtbar und leicht verwundbar;<br />

auch Bauern konnten die Hoden von allerlei<br />

Vieh verhältnismäßig einfach entfernen. Die Eierstök -<br />

ke wurden erst Jahrtausende später entdeckt; Ovarek -<br />

to mie, also die Entfernung der Ovarien, setzt einen ho -<br />

hen medizinischen Kenntnisstand voraus. Der Begriff<br />

„Kastration“ ist bei der Frau unüblich; die Entfernung<br />

der Eierstöcke – etwa im Rahmen einer Krebsprophy -<br />

la xe – könnte am ehesten so bezeichnet werden.<br />

Durch die Kastration werden Tiere und Menschen<br />

nicht nur fortpflanzungsunfähig, sondern sie verlieren<br />

damit auch die Sekretion der Keimdrüsen. Bei einer<br />

Kastration des Mannes werden operativ beide Hoden<br />

entfernt oder heutzutage mittels einer Blockade des<br />

männlichen Hormons Testosteron die Spermiener zeu -<br />

gung verhindert. Auch ionisierende Strahlung hat eine<br />

Kastration zur Folge. Dieser schwere Eingriff in den<br />

Hormonhaushalt ist verbunden mit einer Reihe physischer<br />

und psychischer Veränderungen. Oft ist es ein<br />

Trauma, sich als Mann „verkürzt“ zu wissen. Nach<br />

dem Zeitpunkt der Kastration wird zwischen einer<br />

prä puberalen und postpuberalen Kastration unter -<br />

schie den. Die präpuberale Kastration ist gekennzeichnet<br />

von Hochwuchs, die postpuberale von der Nei -<br />

gung zu Fettleibigkeit. Kastrierte Männer können<br />

durch aus zum Koitus fähig sein, wenn die Operation<br />

nach der Pubertät stattfand. Bei römischen Damen sollen<br />

Kastraten sehr beliebt gewesen sein, nicht nur<br />

wegen der Zeugungsunfähigkeit, sondern auch wegen<br />

der längeren Dauer der Erektion. Da also Keimdrüsen<br />

und Libido relativ unabhängig von einander funktionieren<br />

können und der Psyche ein großer Stellenwert<br />

beizumessen ist, ist Kastration zum Zwecke der Trieb -<br />

verminderung und psychischen Beruhigung etwa für<br />

Straftäter als einzige Maßnahme ungeeignet.<br />

Kastrierte Männer gelten als mit geistigen und<br />

kör perlichen Defiziten behaftet, die über die Sexu ali -<br />

tät und Zeugung weit hinausgehen. Soziales Verhalten<br />

und psychische Eigenschaften werden mit den Hoden<br />

in Verbindung gebracht. Dies ist das Ergebnis einer<br />

Untersuchung von Thomas Schlich über die Erfindung<br />

der Organtransplantation, worin er u.a. Berichte über<br />

Hodentransplantationen zwischen 1880 und 1930 analysierte.<br />

Im Gegensatz zu den Ovartransplantata tio -<br />

nen, also den Übertragungen der Eierstöcke, stand bei<br />

den Hodentransplantationen die Sexualität von An -<br />

fang an im Vordergrund. Buchstäblich alle Berichte<br />

über Hodentransplantationen, die Schlich analysierte,<br />

enthalten Angaben über die Erektionsfähigkeit der<br />

Em pfänger, häufig ist zusätzlich vom „Wiederein set -<br />

zen des Interesses am weiblichen Ge schlecht und vom<br />

Geschlechtsverkehr“ die Rede. (Schlich: 158)<br />

Während bei Eierstocktransplantationen die Fort -<br />

pflan zung im Mittelpunkt steht, spielte bei Hoden -<br />

Sexuologie 9 (2) 2002 87 – 96 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


88 Buchbesprechungen<br />

trans plantationen die Verjüngung die zentrale Rolle.<br />

Da den männlichen Keimdrüsen eine enorme Bedeu -<br />

tung für die Körperökonomie zugemessen wird, er -<br />

hoff te man sich durch die Transplantation der Hoden<br />

eine unspezifische Vitalisierung. Männern ohne Testi -<br />

kel wird mangelnde maskuline Festigkeit attestiert.<br />

Vitalität, Dynamik und Aggressivität soll die durch<br />

Ho den implantation erworbene Potenz ergänzen. Phy -<br />

sische und psychische Energie, die Fähigkeit zu zielbewusstem<br />

Arbeiten, körperliche und geistige Aus -<br />

dauer, geistige Gewandheit – all das, so die Annahme,<br />

steckt in den männlichen Sexualdrüsen. Männliche<br />

Sicherheit und regelmäßiger Koitus waren stolz vorgeführte<br />

Erfolgsresultate für die von Schlich untersuchten<br />

Transplantationen. Als krönender Abschluss<br />

der körperlichen und geistigen Ermannung mit Hilfe<br />

der Hodentransplantation galt nicht selten die Heirat<br />

des Transplanatempfängers.<br />

Die „Erfindung“ der Kastration<br />

Taylor blickt weit zurück in die Anfänge unserer Kul -<br />

tur. Als unsere Vorfahren vor Jahrtausenden die ersten<br />

Nutztiere züchteten, erfanden sie auch die Kastration<br />

der männlichen Tiere. Die Entfernung der Stierhoden<br />

diente der Mast und der Zucht von Ochsen, die nützlicher<br />

waren als Stiere, von denen sie nur wenige be -<br />

nötigten. Die recht simple Prozedur der Orchiektomie<br />

(Entfernung der Hoden) war in agrarischen Gesell -<br />

schaften über Jahrtausende hinweg reine Routine. Den<br />

Penis der Zuchttiere zu amputieren wäre sinnlos ge -<br />

wesen und hätte wegen des hohen Blutverlustes oft<br />

töd lich geendet.<br />

Zwischen 6200 und 4500 v. Chr. muss man wohl<br />

als die Zeit der ersten Kastrationen von Tieren mit<br />

Werk zeugen aus Feuerstein ansetzen, also noch vor<br />

der Erfindung der Bronze um 3500 v. Chr. Die Kastra -<br />

tion begann mit dem technischen und ökonomischen<br />

Fortschritt. „Der Eunuch wurde an der Wiege der Zivi -<br />

lisation geboren“, so Taylor (169). Nicht Barbaren,<br />

sondern die ersten Hochkulturen haben ihn produziert.<br />

Ohne Kenntnisse der Fortpflanzung, die im Zusam -<br />

men hang mit der Domestizierung des Viehs entstanden,<br />

hätte es keine Eunuchen gegeben.Wahrscheinlich<br />

wurden im fruchtbaren Südwestasien die ersten Män -<br />

ner kastriert, indem besiegte Feinde gleichsam wie do -<br />

mestizierte Tiere behandelt wurden. Die „Erfindung“<br />

des Eunuchen fällt in die Zeit der Entstehung der zentralisierten<br />

Staatsmacht, der Schrift und der Städte.<br />

(Uruk, die größte Stadt der Sumerer, existierte von<br />

4500 bis 3750 v. Chr.) Ohne Agrarrevolution, Sess -<br />

haftigkeit, Eigentum, Kauf und Tausch – mithin die<br />

Basis unserer Kultur – wären Eunuchen nicht denkbar.<br />

Gefangene und Sklaven wurden kastriert, aber auch<br />

schwere Körperstrafen für sexuelle Vergehen setzten<br />

an den Hoden an. Bis in die Neuzeit wurde Ehebruch<br />

oder Vergewaltigung mit einer freien Frau mit Kastra -<br />

tion bestraft, wie der Kulturwissenschaftler Piotr O.<br />

Scholz in seiner Kulturgeschichte der Eunuchen und<br />

Kastraten Der entmannte Eros berichtet. Vergewal ti -<br />

ger, Ehebrecher sowie diejenigen, die sich eines Frau -<br />

enraubes oder der Notzucht oder Unzucht mit Kindern<br />

und Tieren schuldig gemacht hatten, wurden an den<br />

Hoden verstümmelt. In England wurden aber auch<br />

Falschmünzer und Wilddiebe kastriert. (Tuchel 1998)<br />

Auffällig oft ist in der Bibel von Eunuchen die Re -<br />

de, und es ist zu vermuten, dass sie in der Antike alltäglich<br />

präsent waren. Die Bibel bemüht sich um Tole -<br />

ranz: „Und der Fremde, der zum Herrn sich getan hat,<br />

soll nicht sagen: Der Herr soll mich scheiden von seinem<br />

Volk; und der Verschnittene soll nicht sagen: Sie -<br />

he, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der Herr<br />

von den Verschnittenen, welche meine Sabbate halten<br />

und erwählen, was mir wohl gefällt, und meinen Bund<br />

fest fassen.“ (Jesaja 56; 3–4) Diese Toleranz gegen -<br />

über Eunuchen, die wie Bäume ohne Früchte betrachtet<br />

wurden, offenbart die diskriminierenden sozialen<br />

Ver hältnisse.<br />

Hoc genus inventum est. Dieses Geschlecht ist<br />

erfunden worden. Modern ausgedrückt: Der Körper<br />

des Eunuchen ist sozial konstruiert. Eunuchen sind<br />

künst lich erzeugt, mehr noch: Hoc genus inventum est<br />

ut serviat. Das Geschlecht des Eunuchen ist für die<br />

Sklaverei gemacht. Statt ihre Feinde und Gefangene<br />

zu töten, erklärten die antiken Gesellschaften sie zu<br />

Sklaven und machten sie zu Eunuchen, um sie nutzbringend<br />

in die Wirtschaft zu integrieren. Allerdings<br />

sollten sich die kastrierten Männer nicht fortpflanzen,<br />

schon gar nicht mit freien Frauen. Solche strikten<br />

Verbote existierten nicht analog bei Sklavinnen.<br />

In traditionellen Gesellschaften hat die Unfähig -<br />

keit, Kinder zu zeugen und damit kein Verwandt -<br />

schafts system zu bilden, gravierende Konsequenzen:<br />

Ohne Nachkommen liegt die persönliche Zukunft in<br />

den Händen anderer. Schon deshalb galt die Verstüm -<br />

melung der Hoden als eine der schwersten Strafen.<br />

Oh ne eigene Kinder war der Eunuch abhängig von an -<br />

deren und konnte von Machthabern für seine Zwecke<br />

eingesetzt werden. Vielseitig verwendbar kommt der<br />

kastrierte Mann – quasi als Kunstprodukt – in den un -<br />

ter schiedlichsten sozialen Funktionen in vielen Teilen<br />

der Erde vor. Nicht als oberster Herrscher, aber durchaus<br />

nicht immer als deklassierter Mann: Er tritt auf als<br />

Priester der Göttin Kybele, als chinesischer Palasteu -<br />

nuche, als indischer Hijra im Dienste einer Göttin<br />

(Nan da 1990), als byzantinischer Offizier (Ringrose


Buchbesprechungen 89<br />

1994), als Opernkastrat (Ortkämper 1993). Als Wäch -<br />

ter im Harem bzw. „Schützer des ehelichen Bettes“ hat<br />

der Eunuch seinen Namen gefunden. (euné = griech.,<br />

Bett und echô = bewachen).<br />

Den Abscheu der Gesellschaft als Außenseiter<br />

bekamen die verstümmelten Männer zu spüren, da sie<br />

weder als richtig männlich noch als richtig weiblich<br />

galten, insbesondere jene, die vor der Pubertät kas -<br />

triert wurden. Doch dieser Status außerhalb der Ge -<br />

schlechterordnung konnte auch als etwas Übermenschliches<br />

gedeutet werden. Es ist nicht sicher, ob<br />

der erste Kastrationskult im Zusammenhang mit der<br />

Verehrung der Göttin Inanna/Ischtar entstand. In ih -<br />

rem Tempel gab es Sklaven; man kann nur vermuten,<br />

dass sie Eunuchen waren. Inanna wurde die Macht zu<br />

geschlechtlicher Transformation zugeschrieben: „Sie<br />

verwandelt einen Mann in eine Frau, Sie verwandelt<br />

eine Frau in einen Mann.“ Nur Gott – kann es auch<br />

eine Göttin sein? – darf ein neues Geschlecht schaffen.<br />

Noch zur Zeit der Kirchenväter praktizierte der westasiatische<br />

Kybelekult die Selbstkastration. Deren<br />

Pries ter, die Galloi (vgl. Abb. 1), entmannten sich, um<br />

der Göttin rein dienen zu können und in religiöser<br />

Ekstase zu leben. Lukian (ca. 120–180) beschreibt solche<br />

Mys terien und Orgien, bei denen sich männliche<br />

Zu schau er vom ekstatischen Taumel erfassen ließen<br />

und sich kastrierten.<br />

Eunuchen hatten in vielen Kulturen einen festen<br />

Platz in der Gesellschaft. Doch da die Kastration etwa<br />

innerhalb des Imperium Romanum verboten war, wur -<br />

de der Bedarf an Eunuchen von außerhalb der Zivili -<br />

sa tion, von „wilden“ Gesellschaften gedeckt. In den<br />

assyrischen, persischen, byzantinischen and ottomanischen<br />

Reichen besetzten Eunuchen hohe Ränge direkt<br />

unterhalb des Herrschers; selbst zu herrschen war ih -<br />

nen immer verwehrt. Oft ist für Historiker nicht eindeutig,<br />

ob bestimmte hohe Beamte des Hofs tatsächlich<br />

kastriert waren, weil der Eunuch am Hofe nicht<br />

einen körperlichen Zustand, sondern die soziale Stel -<br />

lung benannte. Die spätantike Überlieferung zeichnet<br />

häufig ein polemisch verzerrtes Bild des obersten<br />

Kam mer herrn des Kaisers, das geprägt ist von der Ab -<br />

lehnung eines gesellschaftlichen Außenseiters, des<br />

prae positus sacri cubiculi, dessen politische Bedeu -<br />

tung Helga Scholten in ihrer Analyse des Eunuchen in<br />

Kaisernähe im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. beschrieb.<br />

Den Zusammenhang zwischen Veränderungen der<br />

Männlichkeitsideale und dem Status der Eunuchen<br />

betrachtet Mathew Kuefler in seiner äußerst fundierten<br />

historischen Arbeit The Manly Eunuch. Mascu -<br />

linity, Gender Ambiguity, and Christian Ideology in<br />

Late Antiquity. Im Imperium Romanum zwischen dem<br />

3. und 5. Jahrhundert führte der Zusammenbruch der<br />

römischen Armee, autokratische Regierungen und zu -<br />

nehmende Beschneidungen von traditionellen Män -<br />

ner privilegien in der Ehe zu einer Krise der Männ -<br />

lichkeit. Die Männer, die sich in klassischer Zeit als<br />

Soldaten und Haushaltsvorstände verstanden hätten,<br />

empfanden sich zunehmend als unmännlich. Der Ab -<br />

bau der patria potestas, neue Ehegesetze und Frauen -<br />

rechte demontierten die klassischen männlichen Idea -<br />

le. Der kulturelle und demografische Erfolg des Chris -<br />

tentums in der Spätantike ist vor diesem Hintergrund<br />

zu sehen.<br />

Kueflers Analyse schlägt den Bogen vom klassischen,<br />

römischen Ideal soldatischer Männlichkeit hin<br />

zum Verzicht auf militärisch konnotierte Männlichkeit<br />

in der Spätantike. Eunuchen fungierten hierbei als kulturelle<br />

Katalysatoren einer Revolution maskuliner Sit -<br />

ten. Die klassischen Vorstellungen einer militärisch<br />

ge prägten Männlichkeit gründeten in einem ausgeprägten<br />

Sexualstolz; dagegen näherte sich die männliche<br />

Sexualität in der Spätantike der weiblichen Sexua -<br />

lität an, so dass der Dualismus zwischen Männlichkeit<br />

und Weiblichkeit durchlässiger wurde. Im Gegensatz<br />

zur klassischen Ära wurde sexuelle Abstinenz ein Be -<br />

standteil von Männlichkeit, verbunden mit der Angst<br />

vor Sexualität, die teilweise mit der Angst vor Krank -<br />

Abb. 1: Gallos, Oberpriester (Relief, Kapitolinisches Museum Rom). Die Darstellung<br />

hebt sein verweiblichtes Aussehen hervor und ist von den Insignien des Kybele-Kults<br />

umrahmt. Aus: Scholz (1997:102).


90 Buchbesprechungen<br />

heiten begründet wurde. Das Verhältnis des Mannes<br />

zu seinem Körper wandelte sich. Das Selbstbild unter<br />

dem Einfluss des Christentums basierte nicht mehr auf<br />

dem Erfolg der imperialen Armeen, sondern auf den<br />

Siegen in inneren Kämpfen. In Bezug auf Gott als ultimativer<br />

Quelle der Authorität sprach der christliche<br />

Mann über sich als Braut Christi, implizit als eine sich<br />

unterwerfende Frau. Sexualität wurde sündig. Das Er -<br />

geb nis war die Konstruktion eines männlichen Eunu -<br />

chen und eines Lifestyles männlicher Perfektion im<br />

Ideal der Brüderschaft des Mönchtums.<br />

Eunuchen für das Himmelreich<br />

Im frühen Christentum ließen sich Männer kastrieren,<br />

um sich von sexuellen Anfechtungen zu befreien. So<br />

ließ sich Origines kastrieren, damit er nicht von<br />

Fleischeslust geplagt werde. Doch gegen diese Praxis<br />

wandte sich schon der Kirchenvater Hieronymus, und<br />

durch Kirchengesetz wurden auf dem 1. Konzil von<br />

Nicäa 325 und auf der Synode von Arles 452 jene, die<br />

an der Kastration selbst Schuld trugen, aus dem Kle -<br />

rus ausgeschlossen. Der Mensch habe nicht das Recht,<br />

einem sittlichen Kampf, den er mit Gottes Hilfe bestehen<br />

und durch den er reifen könne, mit dem Eingriff in<br />

seine körperliche Unversehrtheit auszuweichen.<br />

„Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mut -<br />

ter leibe also geboren; und sind etliche verschnitten,<br />

die von Menschen verschnitten sind; und sind etliche<br />

verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des<br />

Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse<br />

es!“ Augustinus interpretierte diese Bibelstelle (Matt -<br />

häus 19, 12) als Allegorie für das Zölibat des Priesters.<br />

Taylor unterstellt Jesus eine „radikale Feindseligkeit<br />

gegen die heterosexuelle Ehe und gegen die Repro -<br />

Abb. 2: Entmannung Abaelards in einer mittelalterlichen Darstelllung. Hier eine<br />

Miniatur aus Guillaume des Lorris und Jean de Meun, Roman de la rose, Valencia.<br />

Aus: Scholz: (1997: 225)<br />

duktion“. Leistete Jesus, als er ewiges Leben denjenigen<br />

versprach, die seinetwegen ihre Familien verlassen,<br />

indirekt der Selbstkastration Vorschub? Innerhalb<br />

des Christentums kastrierten sich in den folgenden<br />

Jahrhunderten immer wieder religiöse Eiferer, um den<br />

Anfechtungen des Fleisches zu entgehen. Die russische<br />

Sekte der Skopzen (Verschnittene), die wegen<br />

ihrer weißen Gewänder „Weiße Tauben“ genannt wurden,<br />

sahen sich durch die Kastration zu Engeln ge -<br />

macht. Mitglieder der Sekte Heaven Gate ließen sich<br />

noch am Ende des 20. Jahrhunderts zum Eunuchen<br />

ver schneiden, bevor sie durch gemeinsam zelebrierten<br />

Suizid ins erhoffte Himmelreich gingen.<br />

Genitalien haben eine dreifache Bedeutung. Sie<br />

symbolisieren:<br />

! die geschlechtliche Differenz (in sozialer und bio -<br />

lo gischer Hinsicht) und den Dualismus der Ge -<br />

schlech ter,<br />

! die Fortpflanzung,<br />

! die Sexualität, die in körperfeindlichen Religionen<br />

wie dem Christentum ausgegrenzt oder sogar verteufelt<br />

und mit der Erbsünde belegt ist.<br />

Der sexualfeindliche Aspekt spielte im Christentum<br />

eine große Rolle, und unter dem Zeichen der Feind -<br />

schaft gegen den Leib konnte der Mann, der von seinen<br />

Genitalien befreit war, aus der Kastration Gewinn<br />

ziehen. Die Schöpfungsgeschichte wurde interpretiert,<br />

dass Adam und Eva durch die Entdeckung der Ge -<br />

schlechtlichkeit das Paradies verloren haben und aus<br />

diesem Grund ihre Scham verhüllen mussten. Durch<br />

die Überwindung der Geschlechtlichkeit und durch se -<br />

xu elle Enthaltsamkeit könne man das Seelenheil er -<br />

langen.<br />

Der wohl berühmteste Eunuch ist Peter Abaelard<br />

(Petrus Abelardus, 1079–1142), der scholastische<br />

The olo ge, der in tragischer Liebe zu Heloise entbrann -<br />

te. Abaelard entführte seine Geliebte in die Bretagne,<br />

wo sie einen Sohn gebar. Nachdem er heimlich Heloi -<br />

se geheiratet hatte, ließ ihr Onkel, der Kanonikus Ful -<br />

bert, Abaelard 1118 überfallen und kastrieren. Abae -<br />

lard zog sich als Mönch nach St. Denis zurück und<br />

bewog Heloise, in Argenteuil als Nonne zu leben.<br />

Nach Abaelards gewaltsamer Kastration (vgl.<br />

Abb.2) sprach ein persönlicher Gegner ihm das Recht<br />

ab, den Vorna men Petrus zu tragen, da dieser ein<br />

männlicher Name sei, er aber als ein imperfectus<br />

Petrus, d.h. als früherer bzw. nicht vollständiger Pe -<br />

trus, kein richtiger Mann mehr sei, so Martin Irvine in<br />

seinem Aufsatz Abelard and (Re)Writing the Male<br />

Body: Castration, Identity, and Remasculinization im<br />

Band Becoming Male in the Middle Ages. Abaelard<br />

fehle virtus, also Tugend, die etymologisch von vir<br />

(Mann) abgeleitet wird, so der Zeitgenosse. Auf sol-


Buchbesprechungen 91<br />

che Feindseligkeiten reagiert Abae lard, indem er sich<br />

remaskulisiert und intellektuell mit seinen theologischen<br />

Hauptwerken brilliert. Abae lard ersetzt das körperliche<br />

Organ durch den männlich konnotierten<br />

Geist, so analysiert Yves Fer roul in seinem Aufsatz<br />

Abe lard’s Blissful Castra tion im selben Band. Den<br />

Mangel an geschlechtlichem Ver langen präsentierte<br />

Abaelard als Beweis seiner Tu gendhaftigkeit, doch<br />

diese Argumentation wurde an ge griffen, da nicht der<br />

Mangel an Bedürfnissen, sondern der heroische<br />

Kampf gegen die Sünde in der As kese als Tugend -<br />

beweis gewertet wurde. Auch Bonnie Wheeler geht in<br />

ihrem Beitrag Originary Fantasies: Abelard’s Castra -<br />

tion and Confession im selben Buch auf diesen prominenten<br />

Eunuchen ein. Sein Fall erweise, dass das so -<br />

ziale Geschlecht (Gender) wichtiger als das biologische<br />

Geschlecht (sex) sei. Der intellektuelle Kampf im<br />

theologischen Disput triumphiere über die physische<br />

Seite der Männlichkeit in der Sexualität. Die Zunge<br />

werde zum Träger der Männ lichkeit und er setze – wie<br />

Wheeler meint – den Penis.<br />

Folgt man jedoch Taylors Interpretation, so steckt<br />

die mittelalterliche Männlichkeit in den Hoden, nicht<br />

im Penis. Die Hoden, die Abaelard verloren hat, sind<br />

Trä ger des Namens Petrus. Da Frauen mit dem Man -<br />

gel identifiziert werden, dem Mangel an männlichen<br />

Genitalien und männlicher Macht, effeminisiert sich<br />

der Mann ohne Genitalien symbolisch und sozial,<br />

wird mithin zur Frau. „Alle Tiere gehen in den weiblichen<br />

Zustand über, wenn sie kastriert worden sind“,<br />

so zitiert Taylor Aristoteles. Der Mangel an Genitalien<br />

kann sich – je nach Epoche – auf die Hoden oder den<br />

Penis beziehen, die Konsequenzen sind die gleichen.<br />

Eine Frau, der Ovarien oder Klitoris entfernt wurden,<br />

wird hingegen nicht diesem Ausmaß maskulinisiert,<br />

da ihr die signifikanten Körperteile fehlen.<br />

Psychoanalyse<br />

Abhandlungen über Eunuchen, nicht zuletzt historischer<br />

Provenienz, haben unter dem Einfluss der Gen -<br />

derstudien Konjunktur. Taylors provokante zentrale<br />

These geht darüber hinaus. In seiner höchst originellen<br />

Analyse der Psychoanalyse demontiert er die vorgebliche<br />

Universalität des Penisneids. Der Kas tra -<br />

tions komplex als Grundpfeiler der Psychoanalyse<br />

sieht im Besitz oder im Fehlen des Penis den essenziellen<br />

Unterschied der Geschlechter. Der Knabe fantasiert,<br />

dass alle Menschen, auch Frauen, einen Penis<br />

ha ben, so „wie ihn der Knabe vom eigenen Körper<br />

kennt.“ So jedenfalls sehen es Freuds infantile Sexu -<br />

altheorien. (Freud 1908:176) Wenn der Knabe ein<br />

nack tes Mädchen sieht, bekommt er Angst, dass sein<br />

Vater ihm den Penis abschneiden könnte. Das Mäd -<br />

chen hingegen empfindet Penislosigkeit als Nachteil,<br />

den es zu verleugnen, zu kompensieren oder zu reparieren<br />

sucht, so Freud. Der Dreh- und Angelpunkt der<br />

Kas trationsangst und damit der Entwicklung des<br />

Über-Ichs im Ödipuskomplex ist also der Penis. Ob<br />

das Kind einen Penis besitzt oder penislos und damit<br />

„kastriert“ ist, macht den Primat des Penis für die psychoanalytische<br />

Theorie kenntlich.<br />

Indem Taylor die Geschichte der Männlichkeit als<br />

eine Jahrtausende alte Geschichte des Primats der Te -<br />

stikel erzählt, die erst vor wenigen Jahrhunderten vom<br />

Primat des Penis abgelöst wurde, erhält die Ge -<br />

schlechtergeschichte ein anderes Fundament als in der<br />

Psychoanalyse. „Freuds Theorien über die Kastrati -<br />

ons angst und den Penisneid kastrierter Frauen können<br />

kaum eine zutreffende Beschreibung des ‘Patriar -<br />

chats’ sein, weil sie fast die gesamte Geschichte der<br />

Kas tration und fast die gesamte Geschichte des Patri -<br />

archats falsch wieder gibt“, so kanzelt Taylor Freuds<br />

Kastrationstheorie ab. (Taylor: 60)<br />

Die Psychoanalyse spiegelt den Aufstieg des Penis<br />

(the rise of the penis) in der westlichen Kultur wider,<br />

verbunden mit dem Niedergang der Hoden (fall of the<br />

scrotum). Die Herrschaft des Penis verdrängt die family<br />

jewels, wie die Hoden als wichtigster Besitz des<br />

Mannes in England bezeichnet wurden. In der Kunst -<br />

geschichte belegt Taylor dies an Michelangelos David,<br />

dessen Penis in Vergleich zu seinen Hoden für moderne<br />

Betrachter zu klein wirke. Das Phallische wird in<br />

der Neuzeit primär – oder wie es Foucault formulierte:<br />

Es beginnt der Aufstieg des nicht-reproduktiven<br />

Se xualregimes.<br />

Wann und weshalb setzte sich dieser Paradigmen -<br />

wechsel von den Hoden (und damit der Fruchtbarkeit<br />

Abb. 3: Darstellung einer Kastration in Practica copiosa von Caspar Stromayr<br />

(1559). Aus: Scholz (1997: 258)


92 Buchbesprechungen<br />

und der Zeugungskraft) hin zum Penis (also dem<br />

männ lichen Lustprinzip) durch? Der Shakespeare-Ex -<br />

perte Taylor datiert den Beginn des Umschwungs in<br />

das späte 16. Jahrhundert. In den Städten wuchs seitdem<br />

ein Bewusstsein, dass nicht mangelnde Frucht -<br />

bar keit, sondern übermäßige Fertilität und Überbevölkerung<br />

problematisch ist. Die Produktion von Überfluss<br />

verdrängt die Ökonomie der knappen Ressour -<br />

cen. Die Überproduktion in vielen Bereichen rückt<br />

erstmals in den Blick. „Zu viel Reproduktion – von<br />

Texten, Geld, Waren, Leute – können katastrophal<br />

sein. Und was ist das anatomische Zeichen der Repro -<br />

duk tion beim Mann? Die Hoden.“ (Taylor: 105)<br />

Im Alten Reich des reproduktiven Primats bedrohten<br />

Männer das Skrotum feindlicher Männer; die Ent -<br />

fernung der Testikel war ein Akt von Männern gegen<br />

Männer (vgl. Abb. 3). In den Mythen gelangte der<br />

Mann in den Be sitz der Frau durch die blutige Ent -<br />

man nung des bisherigen Machthabers. Die Zeugungs -<br />

kraft des Mannes stand im Zentrum männlicher Rang -<br />

kämpfe: Kronos ent mannt seinen Vater Uranos, auch<br />

der Göttersohn Zeus entmannt seinen Vater Kronos.<br />

Die Machtüber nahme im Generationenwechsel in der<br />

Form der ge walt tätigen Entmannung ging einher mit<br />

der Besitz ergreifung der Frau.<br />

Die Angst, seinen Penis zu verlieren, und auch der<br />

Penisneid von Frauen konnte als kulturelles Phäno -<br />

men erst in der Neuzeit entstehen, so Taylor. Erst die<br />

Moderne deutet die emanzipierte Frau als entmannend<br />

in Hinblick auf den Penis und die Frauenbewegung als<br />

antagonistisch zur Phallokratie.<br />

„Was will das Weib?“ fragte Freud. Frauen haben<br />

ein großes Interesse daran, nicht ungewollt geschwängert<br />

zu werden – dies hat der Mann Taylor auf dem<br />

Schwarzen Kontinent der Weiblichkeit erkundet. Die<br />

emanzipierte Form der Kastration in Form der Vasek -<br />

to mie entspreche den Bedürfnissen von Frauen, die<br />

kei nen Kinderwunsch haben bzw. bereits die ge -<br />

wünschte Anzahl von Kindern geboren haben. Die<br />

Vasektomie sei der Update der Kastration für das<br />

überbevölkerte 21. Jahrhundert. Der <strong>Literatur</strong>wissen -<br />

schaft ler outet sich als vasektomiert und damit up to<br />

date.<br />

<strong>Literatur</strong><br />

Barbier, P. (1998) Über die Männlichkeit der Kastraten. In: M.<br />

Dinges (Hg): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Kons -<br />

truktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und früher<br />

Neuzeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht: 123-152.<br />

Breidenstein, G. (1996): Geschlechtsunterschied und Sexual -<br />

trieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahr hun -<br />

derts. In: Ch., Eifert; A. Epple; M. Kessel; M., Michaelis;<br />

C., Nowak; K., Schicke; D., Weltecke (Hg): Was sind Frau -<br />

en? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktionen im his -<br />

to rischen Wandel. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 216-239.<br />

Bronfen, E. (1998): Das verknotete Subjekt. Hysterie in der<br />

Mo derne. Berlin: Volk & Welt.<br />

Connell, R. W. (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und<br />

Krise von Männlichkeiten. Opladen: Leske + Budrich (a. d.<br />

Engl.: Masculinities.)<br />

Ferroul, Y. (2000): Abelard’s Blissful Castration. In: J.J.<br />

Cohen und B. Wheeler (Hg): Becoming Male in the Middle<br />

Ages. New York, London: Garland: 129-149.<br />

Freud, S. (1939): Der Mann Moses und die monotheistische<br />

Re ligion: Drei Abhandlungen. Zit.n.: Studienausgabe, Bd.<br />

IX. Frankfurt am Main: S. Fischer 1972.<br />

Freud, S. (1908): Über infantile Sexualtheorien Zit.n.: Stu -<br />

dien ausgabe, Bd. V, Sexualleben. Frankfurt am Main: S.<br />

Fischer 1972.<br />

Guyot, P. (1980): Eunuchen als Sklaven und Freigelassene in<br />

der griechisch-römischen Antike. Stuttgart: Klett-Cotta.<br />

Irvine, M. (2000): Abelard and (Re)Writing the Male Body:<br />

Castration, Identity, and Remasculinization. In: J.J. Cohen<br />

und B. Wheeler (Hg): Becoming Male in the Middle Ages.<br />

New York, London: Garland: 87-106.<br />

Kuefler, M. (2001): The Manly Eunuch. Masculinity, Gender<br />

Ambiguity, and Christian Ideology in Late Antiquity. Chi ca -<br />

go, London: University of Chicago Press.<br />

Nanda, S. (199): Neither Man nor Woman. The Hijras of In -<br />

dia. Bel mont (California): Wadsworth.<br />

Nock, A.D. (1988): Eunuchs in ancient religion. In: A.K.<br />

Siems (Hg): Sexualität und Erotik in der Antike. Darm stadt:<br />

Wissenschaftliche Buchgesellschaft: 58-69 (Original:<br />

Archiv für Religionswissenschaft, hg. v. O. Weinreich und<br />

M.P. Nilsson, 23. Bd., Leipzig/Berlin: B.G. Teubner 1925:<br />

25-33).<br />

Ortkämper, H. (1993): Engel wider Willen. Die Welt der Kas -<br />

traten. Berlin: Henschel.<br />

Pfeiffer, K.L. (2002): Schnitt-Stellen und Schnittstellen: Se -<br />

zierung/Inszenierung des Körpers (Farinelli) und digitale<br />

Ästhetik (Farinelli). In: A. Barkhaus und A. Fleig (Hg):<br />

Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle. München:<br />

Wil helm Fink: 103-116.<br />

Ringrose, K.M. (1994): Living in the Shadows: Eunuchs and<br />

Gender in Byzanthium. In: G. Herdt (Hg): Third Sex, Third<br />

Gender. Beyond Sexual Dimorphism in Culture and<br />

History. New York: Zone Books: 85-109.<br />

Schlich, Th. (1998): Die Erfindung der Organtransplantation.<br />

Erfolg und Scheitern des chirurgischen Organersatzes<br />

(1880-1930). Frankfurt am Main, New York: Campus: 153-<br />

177.<br />

Scholten, H. (1995): Der Eunuch in Kaisernähe. Zur politischen<br />

und sozialen Bedeutung des praepositus sacri cubiculi<br />

im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Frankfurt am Main,<br />

Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang.<br />

Scholz, P.O. (197): Der entmannte Eros. Eine Kulturge -<br />

schichte der Eunuchen und Kastraten. Düsseldorf, Zürich:<br />

Artemis & Winkler.<br />

Taylor, G. (2000): Castration. An Abbreviated History of Wes -<br />

tern Manhood. New York, London: Routledge.<br />

Tuchel, S. (1998): Kastration im Mittelalter. Düsseldorf:<br />

Droste.<br />

Wheeler, B. (2000): Originary Fantasies: Abelard’s Cas tration<br />

and Confession. In: J.J. Cohen und B. Wheeler (Hg):<br />

Becoming Male in the Middle Ages. New York, London:<br />

Garland: 107-128.


Buchbesprechungen 93<br />

Hans Jellouschek: Beziehung & Bezauberung. Wie Paare<br />

sich verlieren und wieder finden, gespiegelt in Mär -<br />

chen und Mythen. Stuttgart: Kreuz Verlag 2000,<br />

186 Seiten; Preis: 19,90 €<br />

Was haben „Hänsel und Gretel“ mit dem „Fischer und<br />

seiner Frau“ zu tun, was „König Drosselbart“ mit<br />

„Orpheus und Eurydike“? Wie sind „Philemon und<br />

Baucis“ mit „Merlin und Viviane“ verbunden? Wo<br />

liegt die Gemeinsamkeit zwischen „Othello und Des -<br />

demona“ und der „Schönen und dem Tier"? In welchem<br />

Zusammenhang steht mit den Vorgenannten die<br />

„Nixe im Teich"?<br />

Wenn man den Autor kennt und zumal den Un ter -<br />

titel des Buches gelesen hat, liegt die Vermutung nicht<br />

fern, daß das Verbindende der neun erwähnten Mär -<br />

chen und Mythen die in ihnen verborgene Paarpro -<br />

blematik ist, die Jellouschek routiniert herausarbeitet,<br />

analysiert und dem Leser anschaulich zu vermitteln<br />

weiß.<br />

So begegnen wir in Hänsel und Gretel dem (meist)<br />

jungen Paar, das sich im Leid gefunden hat, das aus<br />

einer häuslichen Situation des Mangels herkommt und<br />

sich früh gebunden hat. Beseelt von der Hoffnung,<br />

sich am Pfefferkuchenhäuschen satt essen zu können,<br />

müssen sie bald feststellen, daß sie erneut mit Ab -<br />

hängigkeit, mit Unfreiheit konfrontiert sind: Gretel<br />

muss von früh bis spät für die Hexe schuften, Hänsel<br />

sitzt im Käfig und sieht sich einer existentiellen Be -<br />

drohung ausgesetzt. Daß die Befreiung aus dieser Si -<br />

tu ation erst möglich wird, als jeder für sich die für ihn<br />

anstehenden Aufgaben gelöst hat, zeigt der Autor an<br />

diesem Märchen eindrucksvoll auf.<br />

In Die Schöne und das Tier stellt uns Jellouschek<br />

ein ebenfalls junges Paar vor, das in seliger Ver -<br />

schmelzung, in symbiotischer Liebe des Anfangs verbunden<br />

ist. Dieser Zustand dauert bekanntlich nur eine<br />

begrenzte Zeit: so will auch diese Liebe, die anfänglich<br />

nur im Dunkel gelebt werden kann, bald „sehen“.<br />

Welche Schwierigkeiten das aufwirft und wie diese<br />

müh sam erst dann gemeistert werden können, als Ver -<br />

strickungen innerhalb der Herkunftsfamilien gelöst<br />

wer den, wird anhand des ursprünglichen Mythos von<br />

„Amor und Psyche“ dargestellt.<br />

Im König Drosselbart verbirgt sich hinter einer<br />

kras sen patriarchalen Ordnung, in der die Königs -<br />

tochter „gezähmt“ werden muss, eine unsichere, nicht<br />

abgelöste Vatertochter, die ihre nicht erledigte Abhän -<br />

gigkeit in die eigene Beziehung mitnimmt und an<br />

einen Partner gerät, der genauso strukturiert ist wie der<br />

Vater: autoritär und unterdrückend.<br />

Aber durch die Liebe wird eine Entwicklung ange -<br />

stoßen, die sowohl die schnippische Königs tochter<br />

ver ändert als auch den brutalen König Drosselbart.<br />

Am Ende des Märchens steht der gemeinsame Tanz:<br />

ein Bild für gleichberechtigtes Gegenüber, für erotisches<br />

Werben.<br />

In der Nixe am Teich geht es um männliche Angst<br />

vor weiblicher Nähe. Hier arbeitet der Autor als<br />

Grund problem die nicht vollzogene Ablösung des<br />

Man nes von der Mutter heraus, so daß er die Am -<br />

bivalenz ihr gegenüber in die eigene Partnerschaft<br />

mit nimmt. Als Weg aus dieser Situation zeigt das Mär -<br />

chen auf, daß Konflikte an dem Ort gelöst werden<br />

müs sen, an dem sie ihre Wurzel haben; daß dann,<br />

wenn man sich ihnen wirklich stellt, Heilung möglich<br />

ist.<br />

In Orpheus und Eurydike treffen wir eine Be -<br />

ziehungs dynamik an, die dadurch charakterisiert ist,<br />

dass die Partnerin sich weiterentwickelt hat und da -<br />

durch für ihren Mann, der die Entwicklung nicht mitgemacht<br />

hat, „gestorben“, nicht mehr erreichbar ist.<br />

Sein Versuch, sie wiederzugewinnen, stellt sein Be -<br />

streben dar, den alten „Beziehungsvertrag“ unverändert<br />

zu restaurieren und muss daher scheitern.<br />

Othello und Desdemona konfrontieren mit dem<br />

The ma der Eifersucht innerhalb einer Beziehung. Jel -<br />

lou schek stellt anhand des Dramas konstruktive und<br />

destruktive Varianten dieses Gefühls gegenüber und<br />

beleuchtet jeweils mögliche Ursachen.<br />

In dem Märchen vom Fischer und seiner Frau geht<br />

es um das Thema „unzufriedene, mäkelnde Frau – gutmütiger,<br />

hilfloser Mann“. Im Gegensatz zur üblichen<br />

Lesart erscheint hier „Ilsebill“ aber nicht als habgierige,<br />

größenwahnsinnige Frau, die ihren armen Mann<br />

peinigt und am Ende die gerechte Strafe erhält, sondern<br />

der Autor arbeitet heraus, wie ihre Unmäßigkeit<br />

und der zähe Widerstand des Fischers, der aber wirkliche<br />

Auseinandersetzung mit den eigentlichen Le -<br />

bens themen verweigert, sich gegenseitig bedingen<br />

und hochschaukeln.<br />

Merlin und Viviane behandelt das Problem des<br />

Paa res mit großem Altersunterschied. Jellouschek<br />

zeigt, daß in diesen Beziehungen neben vielfachen<br />

intern und extern bedingten Schwierigkeiten auch<br />

Chancen liegen. Der alte keltische Mythos zeigt Wege<br />

auf, wie dieses spezifische Potential genutzt werden<br />

kann.<br />

Der letzte Mythos behandelt das Paar im Alter.<br />

Phi le mon und Baucis dienen als lebendiges Vorbild<br />

für die Reflektion hierüber. Der Autor stellt heraus,<br />

dass die Phase „altes Paar“ immer bedeutender wird,<br />

da sie immer häufiger und immer länger erlebt werden<br />

kann. Anhand des antiken Vorbildes zeigt er, wie es<br />

diesem Paar gelingt, diese Phase lebendig und erfüllend<br />

bis zuletzt auszugestalten.<br />

Auf dem Hintergrund jahrzehntelanger Arbeit mit<br />

Paaren führt Jellouschek den Leser sehr kompetent,


94 Buchbesprechungen / Webtipp<br />

sehr einfühlsam, sehr gut verständlich, gleichwohl<br />

auch sehr vergnüglich durch ganz verschiedene Fa -<br />

cetten von Paarbeziehung in ganz unterschiedlichen<br />

Stadien und Lebenssituationen. Er zeigt anhand der<br />

Märchen und Mythen Probleme, Gefahren und Fall -<br />

stricke, aber auch mögliche Lösungsschritte auf. Da -<br />

bei bleibt der Ausblick immer optimistisch, immer<br />

lösungs- und ressourcenorientiert. Selbst dann, wenn<br />

das literarische Vorbild kein „Happy-End“ anbieten<br />

kann (wie z. B. in Othello/Desdemona), geht der Blick<br />

dahin, was hätte anders laufen müssen und können,<br />

damit ein besseres Ende zu erwarten gewesen wäre.<br />

Daher macht dieses Buch Mut. Die Botschaft lautet<br />

kurz und knapp: niemand ist in Dingen der Paarbe zie -<br />

hung ein hoffnungsloser Fall, wenn er nur die wirklichen<br />

Probleme ansieht, anpackt und sich nicht auf<br />

Nebenschauplätzen der eigentlichen Konflikte verausgabt.<br />

Dieses Buch ist für Fachleute und interessierte<br />

Laien gleichermaßen zu empfehlen. Es ist ein Buch,<br />

welches dem Anspruch „prodesse et delectare“ voll<br />

und ganz gerecht wird.<br />

A. Dabelstein, Kiel<br />

Der Webtipp<br />

Unter der Webadresse: http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/sexbibl/<br />

öffnet sich die nachfolgende Startseite:


Epidemiologie sexuell übertragbarer Krankheiten<br />

AIDS in der Bundesrepublik Deutschland (Auszug)<br />

Quelle: Sonderausgabe A/2002 HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland. Aktuelle epidemiologische Daten. Bericht I/2002<br />

aus dem Robert Koch-Institut. Die aktuelle Ausgabe des Epidemiologischen Bulletins kann über die Fax-Abruffunktion unter 018 88 754 –<br />

22 65 abgerufen werden. Ab 1997 stehen die Ausgaben im Internet zur Verfügung unter: http://www.rki.de/INFEKT/EPIBULL/EPI.HTM.<br />

Tabelle 1: Anzahl der berichteten AIDS-Fälle nach Geschlecht sowie der berichteten Todesfälle nach Bundesländern bzw. ausgewählten<br />

Großräumen und aufgeführten Zeiträumen der Registrierung<br />

Tabelle 2: Berichtete AIDS-Fälle bei männlichen und weiblichen Jugendlichen und Erwachsenen (>12 Jahre) nach Infektionsrisiko und aufgeführten<br />

Zeiträumen der Diagnose<br />

Legende: MSM = Männer,die Sex mit Männern haben, IVDA = i.v.Drogenabhängige, Hämo/Trans = Hämophile/Empfänger von Bluttransfusionen und<br />

Blut pro dukten (außer Hämophilen), Hetero = Heterosexuelle Kontakte (ausgenommen Patienten aus HPL-Ländern), HPL = Personen aus Hochprävalenz -<br />

ländern (HIV-Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung >1 %),in denen HIV endemisch ist und überwiegend heterosexuell übertragen wird (z.B. Karibik,<br />

Subsahara-Afrika), k.A. = Keine Angaben/Sonstige


96 Epidemiologie sexuell übertragbarer Krankheiten<br />

Tabelle 3: Anzahl der berichteten AIDS-Fälle nach Bundesländern, Großstädten über 100.000 Einwohner bzw. ausgewählten Großräumen<br />

sowie nach Infektionsrisiko (Stand 30.06. 2002)


Sexuologie<br />

Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />

für Praktische Sexualmedizin<br />

Inhalt<br />

98<br />

Orginalarbeiten<br />

Per Olov Lundberg: Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane<br />

107<br />

116<br />

125<br />

137<br />

141<br />

145<br />

Milan Zaviacic: Die weibliche Prostata. Orthologie, Pathologie, Sexuologie und forensisch-sexuologische<br />

Implikationen<br />

Rosemary Basson: Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion im<br />

Zusammenhang mit einer Störung der sexuellen Erregbarkeit<br />

Fortbildung<br />

Walter Dmoch: (Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen<br />

Dirk Rösing: „Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden. Die Partnerschaft ist zusammengewachsen.“<br />

4<br />

Diskussion<br />

Reinhard Wille, Reinhard H. Dennin, Michael Lafrenz: Hinter-Fragwürdigkeit der etablierten AIDS-<br />

Bekämpfungskonzeption<br />

Aktuelles: Tagungsankündigung, Urteil zu Viagra<br />

Anschrift der Redaktion<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />

D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />

Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />

D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />

E-mail: journals@urbanfischer.de<br />

Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />

Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />

64 45, Fax (03641) 62 64 21, Zur Zeit gilt die Anzeigenliste vom 01.01.2002<br />

Abonnementsverwaltung und Vertrieb: Urban & Fischer GmbH & Co. KG, Nieder -<br />

lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />

Telefon (03641) 62 64 44, Fax (03641) 62 64 43<br />

Bezugshinweise: Das Abonnement gilt bis auf Widerruf oder wird auf Wunsch befristet.<br />

Die Lieferung der Zeitschrift läuft weiter, wenn sie nicht bis zum 31.10 abbestellt wird.<br />

Erscheinungsweise: Zwanglos, 1 Band mit 4 Heften.<br />

Abo-Preis 2002: 129,- €*; Einzelheftpreis 39,- €*, Alle Prei se zzgl. Versandkosten.<br />

Vorzugspreis für persönliche Abon nenten 60,30 €*.<br />

*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />

wer den zur Zah lung akzeptiert: Visa/Eurocard/Mastercard/American Ex press (bitte Kar -<br />

ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />

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Postbank Leipzig, Konto-Nr. 149 249 903, BLZ 860 100 90<br />

Copyright: Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen<br />

ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />

(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />

Hinweis: Die römisch paginierten Seiten laufen außerhalb der Verant wor -<br />

tung der Herausgeber<br />

Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />

Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />

D-99423 Weimar.<br />

Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />

alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

© 2002 Urban & Fischer Verlag<br />

Coverfoto: © gettyimages<br />

Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />

Forschung<br />

Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />

Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />

somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />

alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />

Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />

Sexuologie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />

dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />

Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />

chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />

schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />

mit Sexual straftätern.<br />

Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />

almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />

störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />

chun gen (Paraphilien, Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />

von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />

Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

Dorothee Alfermann, Leipzig<br />

Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />

Walter Dmoch, Düsseldorf<br />

Günter Dörner, Berlin<br />

Wolf Eicher, Mannheim<br />

Erwin Günther, Jena<br />

Heidi Keller, Osnabrück<br />

Heribert Kentenich, Berlin<br />

Rainer Knussmann, Hamburg<br />

Götz Kockott, München<br />

Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />

John Money, Baltimore<br />

Elisabeth Müller-Luckmann,<br />

Braunschweig<br />

Piet Nijs, Leuven<br />

Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />

Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />

Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />

Wolfgang Sippell, Kiel<br />

Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />

Hans Martin Trautner, Wuppertal<br />

Henner Völkel, Kiel<br />

Hermann-J. Vogt, München<br />

Reinhard Wille, Kiel<br />

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Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />

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Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Die periphere Innervation der weiblichen<br />

Genitalorgane *<br />

Per Olov Lundberg<br />

The peripheral innervation of the<br />

genital organs of women<br />

Abstract<br />

In this review anatomical and physiological data concerning<br />

the peripheral innervation of the female genital<br />

organs are described and clinical implications discussed.<br />

Both the somatic and the autonomic nervous system<br />

are involved in the regulation of female genital functions.<br />

The spinal cord segments S 2-4 are the most important.<br />

Most of the innervation to the internal genitalia goes<br />

through the pelvic plexus. This is localised in the cervicovaginal<br />

region and is a combined sympathetic and parasympathetic<br />

structure also containing many nerve cells.<br />

The main somatic nerve innervating the external genitalia<br />

is the pudendal nerve. This nerve has a protective course<br />

and is mainly localised under or within the pelvic floor and<br />

is ending in the dorsal clitoridal nerve. There are also a<br />

number of somatic sensory nerves of other origin and<br />

somatic motor nerves direct from the spinal cord going<br />

above the pelvic floor.<br />

The clitoris is one of the most sensitive areas of the<br />

human body as regards exteroceptive stimuli. There are a<br />

number of sensory receptors for different qualities both in<br />

the clitoris and in the vulvar area. In the anterior part of the<br />

vaginal wall, corresponding to the G spot area, there are<br />

many more nerve fibers than in other parts of the vaginal<br />

walls. However, at the introitus there is a rich innervation<br />

of intraepitelial free nerve endings working as pain receptors.<br />

The cavernosal nerves to the clitoris are passing<br />

through the pelvic floor just beneath the urethra.<br />

Key words: neurosexology, female, sympathetic nervous<br />

system, parasympathetic nervous system, pelvic plexus,<br />

pudendal nerve, cavernosal nerves, clitoris, vagina, G-spot.<br />

Zusammenfassung<br />

Die anatomischen und physiologischen Zusammenhänge<br />

der peripheren Innervation der weiblichen Genitalorgane<br />

werden mit ihren klinischen Implikationen im Überblick<br />

dargestellt.<br />

An der Regulierung der weiblichen Genitalfunktionen<br />

ist sowohl das somatische wie auch das autonome Ner -<br />

vensystem beteiligt. Am wichtigsten sind die spinalen<br />

Segmente S 2-4.<br />

Die Innervation der inneren Genitalien ver läuft größtenteils<br />

durch das Beckengeflecht, das sich in der zervikovaginalen<br />

Region befindet und eine kombinierte sympathisch-parasympathische<br />

Struktur darstellt, die auch viele<br />

Nervenzellen enthält. Der die äußeren Ge nitalien innervierende<br />

somatische Hauptnerv ist der Ner vus pudendus,<br />

der auf einer geschützten Bahn haupt säch lich unter- oder<br />

innerhalb des Beckenbodens bis zum dorsalen Klitorisnerv<br />

verläuft. Über den Beckenboden laufen noch weitere<br />

somatische sensible Nerven anderer Herkunft, außerdem<br />

somatische motorische Nerven, die direkt aus dem<br />

Rückenmark kommen.<br />

Die Klitoris gehört zu den für exterozeptive Reize em -<br />

pfindlichsten Körperregionen. In der Klitoris und in der<br />

Vul varegion gibt es eine Reihe von sensorischen Rezep -<br />

toren für unterschiedliche Qualitäten. Die vordere Schei -<br />

den wand, die G-Punkt-Zone, enthält weitaus mehr Ner -<br />

ven fasern als andere Partien der Scheidenwände. Am Ein -<br />

gang gibt es aber eine starke Innervation von freien intraepitelialen<br />

Nervenendigungen, die als Schmerzrezeptoren<br />

fungieren. Die zur Klitoris führenden kavernösen Nerven<br />

laufen durch den Beckenboden dicht an der Urethra.<br />

Schlüsselwörter: Neurosexuologie, weiblich, sympathisches<br />

Nervensystem, parasympathisches Nervensystem,<br />

Beckengeflecht, Nervus pudendus, kavernöse Nerven,<br />

Klitoris, Vagina, G-Punkt.<br />

* Scand J Sex 2001, 4: 213-225 (für die Übersetzung vom Autor leicht<br />

überarbeitet). Aus dem Englischen von Dr. Thomas Laugstien.<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 98 – 106 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane 99<br />

An der Regulierung der weiblichen Genitalfunktionen<br />

ist sowohl das somatische wie auch das autonome<br />

Nervensystem beteiligt. Zu unterscheiden sind die ef -<br />

fe renten, motorischen Nerven, die Motorik, Sekretion<br />

und Gefäßsystem kontrollieren, und die afferenten,<br />

sen siblen Nerven, die Empfindungen von den inneren<br />

und äußeren Genitalorganen vermitteln. Zu unter -<br />

schei den sind ferner die Funktionen des somatischen<br />

und des autonomen Nervensystems. Sensorische Im -<br />

pulse können durch beide Systeme übertragen werden.<br />

Über die somatische sensorische Innervation der<br />

Haut in der Genitalregion wissen wir seit langem Be -<br />

scheid. Weniger gut erforscht und teilweise unklar<br />

sind aber die wichtigen sensorischen Im pulse aus den<br />

inneren Genitalorganen ein schließlich der Blutgefäße.<br />

Die somatische Kontrolle bezieht sich vor allem auf<br />

die Innervation der quergestreiften Mus keln in den<br />

verschiedenen Schichten des Becken bodens. Die autonome<br />

motorische Innervation reguliert die Durch -<br />

blutung. Auf diese Weise kommt es zur Erektion der<br />

Klitoris und der übrigen Schwell körper und zur Trans -<br />

udation der Vagina mit der da durch be wirkten Lub -<br />

rikation. Sie reguliert außerdem die sekretorischen<br />

Funk tionen der Lubrikation durch die Bart holin-<br />

Drüsen und durch die paraurethralen Drüsen (die<br />

weib liche Prostata; siehe Zaviacic 2001, bzw. nachfolgenden<br />

Artikel von Zaviacic in diesem Heft).<br />

Das autonome Nervensystem wird aus makroanatomischen<br />

Gründen traditionell in das sympathische<br />

und parasympathische Nervensystem unterteilt. Auch<br />

die Pharmakologie orientiert sich grundsätzlich an<br />

die ser Dichotomie. Im Beckengeflecht mischen sich<br />

aber beide Systeme, und die verschiedensten Trans -<br />

mit ter und Neuropeptide finden sich in den Nerven<br />

ko-lokalisiert, so dass die Unterscheidung schwer aufrechtzuerhalten<br />

ist. Daneben gibt es in der Becken -<br />

geflechtsregion Nervenzellen, und viele Beobach -<br />

tungen sprechen dafür, dass bei der Regulation der<br />

Beckenfunktionen axonale und lokale monosynaptische<br />

Reflexe mitspielen.<br />

Die periphere Innervation der weiblichen Genita -<br />

lien wurde auch andernorts (Lundberg 1994, 1999)<br />

untersucht. Die zentralnervöse Regulation der sexuellen<br />

Funktionen und Fähigkeiten wird an dieser Stelle<br />

nicht behandelt. Eine entsprechende Untersuchung<br />

aufgrund von Befunden aus der klinischen Neurologie<br />

findet sich bei Lundberg u.a. (2001).<br />

Das Beckengeflecht<br />

Das Beckengeflecht (plexus hypogastricus inferior)<br />

wurde zuerst 1867 von Frankenhäuser beschrieben. Es<br />

steht in sympathischer Verbindung mit dem Plexus<br />

hypogastricus superior und befindet sich in der Region<br />

neben Cervix uteri und oberhalb von Vagina und Rek -<br />

tum (Jung 1905, Labhardt 1906, Roith 1907, Fontaine<br />

& Herrmann 1932, Curtis et al. 1942, Donker 1986,<br />

Fritsch 1989).<br />

Die Beckennerven, die zum sakralen parasympathischen<br />

System gehören, treten aus den sakralen Seg -<br />

menten S 2-4, aber nie aus S 1 oder S 5 in das Becken -<br />

geflecht ein (Donker 1986, Arango-Toro & Mateu<br />

1992). Zwischen der sakralen sympathetischen Kette<br />

und dem Beckengeflecht gibt es direkte Verbindun -<br />

gen. Sie umfassen myelinhaltige Nervenfasern von bis<br />

zu 11 µ (Donker 1986). Innerhalb des Beckengeflechts<br />

gibt es, wie erwähnt, zahlreiche Nervenzellen, die als<br />

Ganglion hypogastricum oder Frankenhäuserscher<br />

Gang lion bekannt sind.<br />

Die sensorische Innervation aus den inneren<br />

Genitalien geht größtenteils durchs Beckengeflecht.<br />

Die Exstirpation des Beckengeflechts und des Fran -<br />

kenhäuser-Ganglions führt zum Verschwinden uteriner<br />

Schmerzempfindungen. Durch chirurgische Ein -<br />

griffe an Gebärmutter oder Rektum können diese<br />

Struk turen geschädigt werden (Donker 1986). Das<br />

Bec ken geflecht enthält also afferente wie auch efferente<br />

Nervenfasern und bestimmte Nervenzellen.<br />

Die afferenten (sensiblen) Nerven<br />

Die Innervation der Vulva<br />

Die Klitoris ist neben den Fingern der am dichtesten<br />

innervierte Teil der Körperoberfläche (Winkelmann<br />

1959). Tierstudien haben gezeigt, dass der Nervus dorsalis<br />

clitoridis doppelt so viele Nervenfasern enthält<br />

wie der Nervus dorsalis penis (Campbell 1976). Die<br />

vibratorische Wahrnehmungsschwelle der Klitoris ist<br />

niedriger als die der Glans penis. Die Klitoris gehört<br />

also zu den für äußere Reize empfindlichsten Körper -<br />

zonen. Eine Frau kann eine Schwingungsamplitude<br />

von 0,2 bis 0,4 µ verspüren, was ungefähr der sensorischen<br />

Schwelle der Hände entspricht (Helström &<br />

Lundberg 1992, Hulter u.a. 1998, Lundberg & Hulter,<br />

unveröff.). Bei der Glans penis liegt der entsprechende<br />

Wert erheblich höher. Mit zunehmendem Alter steigen<br />

die Empfindungsschwellen etwas an.<br />

Die sensiblen Nerven in der Klitoris bilden eine<br />

ex tensives Netzwerk um die Tunica des Klitoriskör -<br />

pers mit einer nervenfreien Zone in der 12-Uhr-Posi -<br />

tion (Baskin et al. 1999). Die meisten sensorischen<br />

Impulse aus der Klitoris werden vom bilateralen dorsalen<br />

Klitorisnerv übertragen. Diese Nerven verlaufen<br />

auf einer geschützten Bahn durch das Diaphragma<br />

uro genitale an der unteren Klitoris, unter dem Dia -<br />

phragma urogenitale und danach als Bestandteil des<br />

Nervus pudendus im Alcock-Kanal. Die geschützte


100 P.O. Lundberg<br />

Lage einer anatomischen Struktur deutet normalerweise<br />

darauf hin, dass sie während der Evolution be -<br />

sondere physiologische Bedeutung erlangt hat.<br />

Wenn Nerven dieses äußeren Genitals in einer frü -<br />

hen Lebensphase geschädigt werden, ist die Regene ra -<br />

tionsfähigkeit offenbar gut. Eine Frau, die im frühen<br />

Kindesalter eine pharaonische Beschneidung mit Ex -<br />

s tir pation der Klitoris erlebt hat, kann im Erwach se -<br />

nen alter durchaus eine Empfindungsschwelle für Vi -<br />

bra tio nen im Bereich von 0,4 bis 1,0 µ haben (Lund -<br />

berg & Hulter, unveröff.). Allerdings hat das kavernöse<br />

Ge webe nicht die gleiche Regenerationsfähigkeit.<br />

Zudem können viele sonstige externe Traumata einen<br />

oder mehrere andere sensible Nerven in der Genital -<br />

region schädigen. Die häufigsten Gründe sind Ge -<br />

burts trau mata und Episiotomien. Wird der Nervus pu -<br />

dendus – etwa im Rahmen einer Geburtsanästhesie –<br />

bloc kiert, ist auch die Klitoris anästhetisch. Wegen<br />

sei nes ge schützten Verlaufs wird der dorsale Klitoris -<br />

nerv bei der Geburt im allgemeinen nicht beschädigt.<br />

Trau matisiert werden können jedoch die perinealen<br />

Nerven und die vorderen rektalen Nerven, die beide<br />

Ab zwei gungen des Nervus pudendus sind. Intensives<br />

Rad fahren über lange Strecken oder Spinnen kann<br />

dazu führen, dass der dorsale Klitorisnerv – manchmal<br />

beid seitig – eingeklemmt wird. Ein relativ schmaler<br />

Fahrradsattel bewirkt deshalb eine bestimmten Typ<br />

von Schäden, der Reitsattel einen anderen Typ. So<br />

kann es beispielsweise bei einem Dressurritt zur wie -<br />

der holten Traumatisierung der perinealen Nerven<br />

kom men.<br />

Es gibt eine ganze Reihe von Studien über die sensorischen<br />

Rezeptoren der weiblichen Klitoris (u.a.<br />

Worthmann 1906, Geller 1922, von Frey 1924, Tello<br />

1932, Temesváry 1924, Yamada 1951a&b, Kantner<br />

1954, Krantz 1958, Campbell 1976). Sie sind aber<br />

zumeist älteren Datums und bedienen sich nicht mo -<br />

derner Untersuchungstechnik. Auch bei der Nomen -<br />

klatur der Nervenendigungen gibt es Unklarheiten.<br />

In der Klitorisregion gibt es drei Typen von ex te -<br />

ro zeptiven Nervenendigungen. Sie befinden sich nicht<br />

nur in der eigentlichen Klitoris, sondern auch in den<br />

inneren Labien und im Umkreis des Harn röhren -<br />

ausgangs. Die oberste Hautschicht enthält freie Ner -<br />

ven en digungen. Sie sind vor allem schmerz em -<br />

pfindlich. Die von ihnen aufgenommenen Impulse<br />

wer den durch sehr dünne Nervenfasern über periphere<br />

somatische Nerven und über das Rücken mark mit<br />

der geringen Geschwindigkeit von 1-2 m/Sek. übertragen.<br />

Die sogenannten Genitalnerven körperchen<br />

oder mukokutanen Nervenendigungen (Win kelmann<br />

1959) befinden sich unter der Hautschicht. Sie sehen<br />

wie Wollknäuel aus und haben einen zentralen<br />

„Kern“. Man nimmt an, dass sie durch diese Kon -<br />

struktion auf unterschiedliche Reize so ansprechen<br />

können, dass sich die kortikale Reaktion qualitativ<br />

ver ändert. Diese Nervenendigun gen reagieren auf<br />

Druck und Bewegung. Die von ih nen ausgehenden<br />

Impulse werden durch mitteldicke myelinhaltige<br />

Nervenfasern relativ schnell (mit 40-60 m/Sek.) in die<br />

Gehirnrinde übertragen. An den Nerven in der<br />

Umgebung der Schwellkörper sitzen relativ große,<br />

zwiebelförmig aufgebaute Nervenendigungen mit<br />

dicken Lamellen und einer zentralen Nervenfaser. Sie<br />

reagieren auf starken Druck und heftige Bewe gung.<br />

Die Nervenimpulse werden dann über dicke, myelinhaltige<br />

Nervenfasern mit sehr hoher Geschwin digkeit<br />

(100 m/Sek.) in die Hirnrinde übertragen. Die zwei<br />

letzteren Typen von Nervenendigungen liegen also<br />

innerhalb oder in der Nähe von kavernösem Ge webe.<br />

Der Signalverkehr über das Rückenmark ins Ge -<br />

hirn wird durch das Anschwellen des kavernösen Ge -<br />

we bes beeinflusst. Eine Berührung kann deshalb als<br />

bloße Berührung erlebt werden oder je nach dem Grad<br />

des Anschwellens sexuelle Qualität haben. Einige der<br />

genannten Nervenendigungen können von bestimmten<br />

Faktoren wie beispielsweise vom Hormonspiegel<br />

im Gewebe beeinflusst werden. In der oberen Vulva<br />

gibt es mehr Androgene und nahe der Vagina mehr<br />

Ös tro gene. Mit dem Übergang von der Vagina zur<br />

Vul va nehmen also die Androgenrezeptoren zu, wäh -<br />

rend Östrogen- und Progesteronrezeptoren abnehmen<br />

(Hodgins et al. 1998). Östrogenmangel kann zu einer<br />

veränderten Empfindungsqualität führen, so dass Be -<br />

rüh rung nicht als lustvoll, sondern als unangenehm<br />

erlebt wird.<br />

Schmerz- und druckempfindliche Nervenendigun -<br />

gen befinden sich in großer Zahl nicht nur in der Kli -<br />

toris, sondern auch in den kleinen und großen Scham -<br />

lippen (Krantz 1958). Taktile Nervenendigun gen be -<br />

finden sich besonders in den Labia majora, wo die In -<br />

nervation stärker den übrigen behaarten Haut par tien<br />

äh nelt. Die vibratorische Wahrnehmungs schwel le liegt<br />

hier bei 0,5 bis 1,5 µ (Lundberg & Hulter, unveröff.).<br />

Auch die klitorale Kälte- und Wär me empfindlichkeit<br />

lässt sich sehr exakt bestimmen. Die mittlere Schwelle<br />

liegt für Kälteempfindungen bei 35°C und für Wärme<br />

bei 38°C (Vardi et al. 2000). Die Kälteempfindlichkeit<br />

lässt sich sehr einfach testen, indem man ein paar<br />

Tropfen Olivenöl von Zim mertemperatur (21°C) auf<br />

die Klitoris tropft und die Vulva herablaufen lässt. Im<br />

oberen Teil der Vulva ist die Temperaturem pfindlich -<br />

keit größer als im Perine um.<br />

Die Klitoris kann zwei Reflexe hervorrufen, einen<br />

phasischen und einen tonischen. Der Bulbocave rno -<br />

sus-Reflex ist ein spinaler, somatischer und bilateraler


Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane 101<br />

phasischer Reflex. Der Reflexbogen geht durch den<br />

Nervus pudendus, und das Reflexzentrum befindet<br />

sich in den sakralen Rückenmarksegmenten 2-3. Der<br />

Reflex kann durch Berührung der Glans ausgelöst<br />

werden. Das führt zu einer Kontraktion des Bulboca -<br />

ver no sus und des äußeren Afterschließmuskels<br />

(Brind ley & Gillan 1982, Vodusek et al. 1983). Der<br />

tonische Reflex ist weniger gut erforscht. Die vibratorische<br />

Stimulation der Klitoris führt zur anhaltenden<br />

Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur (Gillan &<br />

Brindley 1979).<br />

Die Innervation der Vagina<br />

Eine Studie über die Innervation der vaginalen Häute<br />

hat festgestellt, dass die distalen Berei che der Schei -<br />

denwände mehr Nervenfasern haben als die proximalen<br />

(Hilliges et al. 1995). In der vorderen Wand fand<br />

sich eine sehr große Zahl von reich innervierten und<br />

nicht innervierten Blutgefäßen. Sie war dich ter innerviert<br />

als die hintere. Das stimmt mit frü he ren Unter -<br />

suchungen des Gebiets zwischen Urethra und Schei -<br />

denwand – der sogenannten Halban-Faszie – überein<br />

(Krantz 1958, Minh et al. 1981). Die Funktion der be -<br />

obachteten Nerven ließ sich nicht feststellen. Sie wurden<br />

aber als eine Mischung von sensiblen und autonomen<br />

Nerven betrachtet. Freie intraepiteliale Ner ven -<br />

en digungen fanden sich nur in der Region des<br />

Scheideneingangs und im Hymen (Krantz 1958). Die -<br />

se Nervenendigungen gelten vor allem als Schmerz -<br />

rezeptoren. Sie sind es wahrscheinlich, die durch Be -<br />

rüh rung nocizeptiven Schmerz (Hyperalgesie) z.B. bei<br />

Vestibulitis hervorrufen. Man hat gezeigt, dass die<br />

Zahl dieser Nervenendigungen, die das Neuropeptid<br />

CGRP (gene-related peptide) enthalten, in diesem be -<br />

sonderen Fall zunimmt (Weström & Willén 1998,<br />

Bohm-Starke et al. 1998, 1999).<br />

Weitere sensorische Rezeptoren hat man an verschiedenen<br />

Stellen der Scheidenwände und in deren<br />

Umgebung gefunden. In den Scheidenwandmuskeln<br />

wurden Muskelspindeln festgestellt. Es handelt sich<br />

um sensorische Organe, die darauf ansprechen, ob und<br />

wie schnell sich die Länge des Muskels verändert<br />

(Mould 1982). Man hat vermutet, dass die Dehnung<br />

des Ligamentum sacrouterinum der wichtigste Me -<br />

cha nismus für den weiblichen Orgasmus ist (Kakusch -<br />

kin 1930).<br />

Die Temperaturempfindlichkeit, insbesondere ge -<br />

gen Kälte, ist in diesem Körperteil von besonderer<br />

Bedeutung. Wir können durch diese sensorische Qua -<br />

lität im Rektum gasförmige, flüssige und feste Darm -<br />

inhalte unterscheiden (Miller et al. 1987). Das Unter -<br />

scheidungsvermögen für Berührungen ist in den inneren<br />

Beckenorganen nicht so entwickelt wie die Tem -<br />

peraturempfindung. Ein in die Vagina eingeführter<br />

Gegenstand lässt sich nach Größe und Form schwer<br />

un terscheiden, was auch von forensischer Bedeutung<br />

ist (Calmann 1898). Wie man weiß, erzeugt die Ein -<br />

führung eines runden Objekts – wie des Penis – in der<br />

Vagina weniger Unbehagen bzw. mehr sexuelle Erre -<br />

gung als ein asymmetrischer Gegenstand.<br />

Die vaginale Empfindlichkeit für elektrische Rei -<br />

ze hat man an Frauen untersucht (Weijmar Schultz et<br />

al. 1989) und dabei festgestellt, dass der Genitalbe -<br />

reich einschließlich der Klitoris für diese Art der Sti -<br />

mulation weniger empfindlich ist als die Hände. Die<br />

Scheidenwände über dem Eingang erwiesen sich als<br />

besonders unempfindlich. Eine besonders empfindsame<br />

Stelle fand man in der 12-Uhr-Position, das heißt<br />

in der vorderen Scheidenwand. Zur Untersuchung der<br />

vaginalen Empfindlichkeit wurden auch neurophysiologische<br />

Methoden entwickelt (Vardi et al. 2000). In<br />

der klinischen Praxis reicht es aber normalerweise<br />

aus, die Patientin zu fragen, ob der Stimulus links oder<br />

rechts in der Vagina auftritt. Wenn man einen Gegen -<br />

stand oder den Finger kurz gegen die vordere Schei -<br />

den wand drückt, was auch die Harnröhre stimuliert,<br />

können die meisten Patientiennen an der Urethra oder<br />

an der Blase eine Empfindung lokalisieren. Dieses<br />

Ge fühl deutet auf normale Sensibilität oder auf<br />

Hyperästhesie. Es wurden auch neurophysiologische<br />

Methoden zur Untersuchung der urethralen Sensibi li -<br />

tät entwickelt (siehe i.Überbl. Flink & Lundberg 1994<br />

u. 2002, Vodusek & Fowler 1999, Lundberg et al.<br />

2000).<br />

Tierversuche haben gezeigt, dass vaginale und zervikale<br />

Stimulation im Körper eine Reihe von physiologischen<br />

Reaktionen verursacht. Einer dieser Effekte<br />

ist die Ausbildung von Analgesie (Gomora et al.<br />

1994). Wenn die vordere Scheidenwand, der sogenannte<br />

G-Punkt-Bereich (Whipple 2000a), mechanisch<br />

intensiv stimuliert wird, steigt die Schmerz em -<br />

pfindlichkeits- und -toleranzschwelle im ganzen Kör -<br />

per erheblich an (Whipple & Komisaruk 1985, Ko -<br />

misa ruk & Whipple 1995, 2000). Mechanische Stimu -<br />

lierung kann auch in diesem Teil der Vagina sexuelle<br />

Erregung verursachen (Whipple 2000b). Diese Art der<br />

Stimulierung führt also zu Hypalgesie und nicht zu<br />

Hypästhesie.<br />

Eine solche Hypalgesie lässt sich weder durch<br />

Stimulierung der hinteren Scheidenwand noch durch<br />

Stimulierung der Klitoris erreichen. Bei Frauen tritt<br />

diese analgetische Funktion normalerweise bei der<br />

Ent bindung auf (Whipple et al. 1990). Die anatomischen<br />

Korrelate dieser physiologischen Kontroll -<br />

mecha nis men sind nicht vollständig bekannt. Die afferenten<br />

Bahnen verlaufen über die Beckennerven (bei<br />

Ratten: Peters et al. 1987), aber vermutlich auch über


102 P.O. Lundberg<br />

somatische Nervenfasern oberhalb des Beckenbodens<br />

nach S 3-4. Untersuchungen mit querschnittsgelähmten<br />

Ratten sprechen dafür, dass sich diese Schmerz -<br />

blockade über den Vagusnerv weiter vermittelt (Ko -<br />

misaruk et al. 1996).<br />

Die efferente Innervation<br />

Die Beckenbodenmuskulatur<br />

Der Beckenboden besteht aus zwei Schichten von<br />

quergestreiften Muskeln. Die äußere Schicht, das so -<br />

ge nannte Diaphragma urogenitale, befindet sich im<br />

vorderen Bereich, wo Urethra und Vagina hindurchgehen.<br />

Zweitens gibt es eine tiefere Schicht, das Dia -<br />

phragma pelvis, durch die auch das Rektum verläuft.<br />

Innerviert wird diese Muskulatur von den Onuf-Ker -<br />

nen in den sakralen Rückenmarksegmenten 2-5<br />

(Schrø der 1981). Daneben gibt es eine Reihe von<br />

Muskeln mit reiner Sphinkterfunktion. Sie haben zwei<br />

Typen von quergestreiften Muskelfasern von nur ge -<br />

rin gem Durchmesser (Schrøder & Reske-Nielsen<br />

1983). Die aeroben Fasern vom Typ 1 können eine<br />

lang anhaltende tonische Kontraktion hervorrufen.<br />

Da mit wird die Kontinenz aufrechterhalten. Die<br />

haupt sächlich glykolytischen Fasern vom Typ 2 können<br />

die Kontraktion rapide, aber kurzzeitig verstärken<br />

und auf diese Weise die Kontinenz in einer Stress-Si -<br />

tuation gewährleisten. Spontane Kontraktionen treten<br />

in der sexuell nicht stimulierten Vagina in Ruhe auf<br />

(Levin 1992).<br />

Die Beckenbodenmuskulatur verfügt über Östrogenrezeptoren<br />

(Smith et al. 1990). Ein Mindestgehalt<br />

an Östrogen im Gewebe ist für die Kontinenz notwendig.<br />

Auch in den Muskeln befinden sich Östrogenrezeptoren.<br />

Androgene sind für die Entwicklung der<br />

Beckenmuskeln von großer Bedeutung. Historisch<br />

war es eines der besten biologischen Testverfahren für<br />

Testosteron, die Zunahme dieser Muskelmasse bei<br />

Ratten zu messen. Die gestreifte Beckenbodenmus ku -<br />

latur wird (beim Diaphragma urogenitale) von unten<br />

durch den Nervus pudendus und (beim Musculus pu -<br />

bococcygeus) von oben (Lawson 1974, 1981) direkt<br />

durch die sakralen Segmente 3-5 des Plexus pudendus<br />

innerviert. Die Geburt kann die Muskeln und Nerven<br />

des Beckenbodens erheblich schädigen (Sultan et al.<br />

1994). Das lässt sich anhand von Messungen der terminalen<br />

motorischen Latenz des Nervus pudendus<br />

(Tetz schner et al. 1997) wie auch durch Elektromyo -<br />

graphie feststellen. In den meisten Fällen kommt es<br />

aber nach einer gewissen Zeit zu einer guten Rege -<br />

neration (Tetzschner et al. 1996). Eine normale und<br />

gesunde Beckenbodenmuskulatur gilt als wichtig<br />

sowohl für die Orgasmusfähigkeit wie auch für das<br />

Lustempfinden bei sexuellen Kontakten (Sultan &<br />

Chambles 1982).<br />

Nocizeptive Schmerzstimulation führt in diesem<br />

Bereich wie auch in vielen anderen Muskelpartien zu<br />

einer reflexogenen Muskelkontraktion. Anhaltende<br />

Kon traktionen der quergestreiften Muskeln verursachen<br />

normalerweise durch schlechte Oxygenierung<br />

und zunehmenden Milchsäuregehalt eine schmerzende<br />

und empfindliche Muskulatur. Diese Abwehr me -<br />

chanismen sind bei Frauen im Beckenboden häufig zu<br />

beobachten. Ein typisches Beispiel ist der nocizeptive<br />

Schmerz bei Vestibulitis und vielen anderen vulvovaginalen<br />

Störungen. Der versuchte Geschlechts -<br />

verkehr oder auch nur die Berührung der Schmerz -<br />

region mit einem Baumwolltupfer kann eine schmerzhafte<br />

Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur – be -<br />

sonders des Levator ani oder des Pubococcygeus –<br />

bewirken. Eine wichtige Behandlungsmaßnahme<br />

könn te darin bestehen, dass man diesen Frauen beibringt,<br />

ihre Beckenbodenmuskulatur nicht nur zu kontrahieren,<br />

sondern vor allem zu entspannen (Glazer et<br />

al. 1995). Das geschieht am leichtesten in einer Po -<br />

sition, in der die Muskeln aktiv durch wechselseitige<br />

Inhibition entspannt werden.<br />

Klinisch lässt sich die quergestreifte Becken -<br />

boden muskulatur am besten durch Palpation untersuchen.<br />

Man kann aber auch eine Reihe von neurophysiologischen<br />

Techniken anwenden (Flink & Lundberg<br />

2002, Vodusek & Fowler 1999, Lundberg et al. 2001).<br />

Die Innervation des kavernösen Gewebes<br />

von Klitoris, Bulbi vestibuli, Labien und<br />

Vagina<br />

Die Glans clitoridis ist der Glans penis homolog, und<br />

die Crura clitoridis entsprechen den zwei Corpora ca -<br />

vernosa des Penis (Stilwell 1976). Glans und Crura<br />

ent halten beide kavernöses Gewebe und sind von<br />

einer festen Tunica umgeben. Dem männlichen Cor -<br />

pus spongiosum entsprechen die Bulbi vestibuli (Vor -<br />

hofschwellkörper), die zweigeteilt auf jeder Seite des<br />

urethralen und vaginalen Ausgangs sitzen. Diese<br />

Knollen haben bei Frauen sehr unterschiedliche<br />

Größe. Sie sollen sich mit der Häufigkeit des sexuellen<br />

Verkehrs vergrößern, was wissenschaftlich nicht<br />

nachgewiesen ist. Bei sexueller Stimulierung gibt es<br />

eine mehr oder minder ausgeprägte Klitoriserektion.<br />

Detaillerte Interviews von Frauen ergeben normalerweise,<br />

dass sie tatsächlich eine Erektion bemerkt ha -<br />

ben, allerdings nicht bei jedem Geschlechtsverkehr.<br />

Die Erektion der Klitoris muss mit der vaginalen<br />

Lubrikation zeitlich nicht zusammenfallen. Sie be -


Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane 103<br />

nötigt normalerweise intensivere sexuelle Stimulation<br />

und steigert die sexuelle Erregung. Bestimmte Me -<br />

dikamente können bei der Klitoris ebenso wie eine<br />

Rei he von Rückenmarksstörungen einen echten Pria -<br />

pismus hervorrufen (Lundberg 1999).<br />

Die perineale Urethra ist in die vordere Scheiden -<br />

wand eingebettet und allseitig von vaskulärem Ge -<br />

webe umgeben, außer nach hinten, wo sie sich mit der<br />

vorderen Scheidenwand verbindet (O’Connell et al.<br />

1998). Dieses vaskuläre Gewebe kann als homolog<br />

mit dem proximalsten Teil des männlichen Schwell -<br />

körpers gelten.<br />

Der jeden der beiden Crura umgebende Musculus<br />

ischiocavernosus ist an der Erektion der Klitoris ebenfalls<br />

beteiligt. Bei sexueller Erregung erhöht sich das<br />

Blutvolumen in der klitoralen Vorhaut. Dieses Phäno -<br />

men bewirkt zusammen mit der tonischen Kontraktion<br />

des Musculus ischiocavernosus eine Hebung der Kli -<br />

toris, die zu verschwinden scheint. Die Neurosti mu -<br />

lation des Nervus pudendus führt bei Hunden zur<br />

Kom pression der Klitoris durch den Musculus ischiocavernosus<br />

(Diederichs et al. 1991). Der Musculus<br />

bulbocavernosus umgibt die Vorhofschwellkörper,<br />

geht dann weiter und schließt an der dorsalen Ober -<br />

fläche der Klitoris an. Die Muskeln umschlingen also<br />

von beiden Seiten die Klitoris. Wenn sie sich zusammenziehen,<br />

steigert sich die klitorale Erektion, indem<br />

die dorsale Klitorisvene zusammengedrückt wird.<br />

Dieser Mechanismus komprimiert auch das kavernöse<br />

Gewebe beiderseits des Scheideneingangs, die Bulbi<br />

vestibuli. Die passive Dilatation der Vagina bewirkt<br />

eine reflektorische Kontraktion von Musculus bulbocavernosus<br />

und ischiocavernosus (Shafik 1993). Die<br />

direkte vaginale Stimulation, z.B. durch Bewegungen<br />

des Penis, kann damit indirekt die Klitoris und die von<br />

ihr ausgehende sensorische Wahrnehmung affizieren.<br />

Die klitorale Elektromyographie indiziert eine<br />

sym pathische Aktivität des Klitoriskörpers. Diese<br />

Technik kann zur Feststellung sexueller Dysfunk -<br />

tionen bei Frauen von Nutzen sein (Yilmaz et al.<br />

2002).<br />

Die Innervation des kavernösen Gewebes entspringt<br />

durch die beidseitig verlaufenden kavernösen<br />

Nerven aus dem Beckengeflecht. Die elektrische Sti -<br />

mu lation der kavernösen Nerven bei Hunden erhöht<br />

die Durchblutung der Arteria pudenda interna und erigiert<br />

die Klitoris (Diederichs et al. 1991). Die kavernösen<br />

Nerven laufen unterhalb der Harnröhre durch<br />

den Beckenboden (O’Connell et al. 1998). Sie können<br />

deshalb durch bestimmte Formen der Inkontinenz-<br />

Chi rurgie beschädigt werden. Bei Ratten erhöht die<br />

Stimulation der Klitoris wie auch des Beckengeflechts<br />

die klitorale Durchblutung. Die vaginale Durch -<br />

blutung erhöht sich nur durch Stimulation des Becken -<br />

geflechts (Vachon et al. 2000). Bei Frauen steigert<br />

auch die elektrische Stimulation der Vorderwurzeln S2<br />

und S3 – nicht jedoch von S4 – die vaginale Durch -<br />

blutung (Levin & Macdonagh 1993).<br />

Neuropeptide und andere Neurotransmitter<br />

In der Klitoris gibt es eine starke peptiderge<br />

Innervation (Hauser-Kronberger et al. 1999). Ko-Lo -<br />

ka lisationsstudien haben deshalb in den Nervenfasern<br />

des kavernösen Gewebes die Koexistenz von VIP,<br />

PHM (peptide histidine methionine) und teilweise<br />

auch von Helospectin und Neuropeptid Y nachgewiesen,<br />

außerdem die Ko-Expression von Substanz P und<br />

CGRP in den Nervenfasern insbesondere unter- und<br />

innerhalb der Glans clitoris.<br />

VIP (vasoaktives intestinales Peptid) findet sich<br />

sowohl im Frankenhäuserschen Ganglion wie auch in<br />

den Nervenfasern der Vaginalhaut (Ottesen 1983). Die<br />

systemische Infusion von VIP erhöht ebenso wie die<br />

lokale Injektion in die Scheidenwand dosisabhängig<br />

die vaginale Durchblutung. Dies führt auch zur vaginalen<br />

Lubrikation (Ottesen et al. 1987). Se xuelle Sti -<br />

mulierung steigert im Blut den VIP-Gehalt (Ottesen<br />

1983). VIP hat physiologische Auswirkungen auf den<br />

Uterus. Es entspannt den Isthmus und bewirkt uterine<br />

Vasodilatation.<br />

VIP-haltige Nervenfasern wurden auch in oder bei<br />

den Gängen der paraurethralen Drüsen bzw. der weiblichen<br />

Prostata lokalisiert (Alm et al. 1980; i.Überbl.<br />

Zaviacic 1999). Diese Nerven können also bedeutsam<br />

für die Lubrikation der Urethra und damit für die<br />

weib liche Ejakulation sein, wobei es für diese Funk -<br />

tion in der Urethra noch weitere Kandidaten gibt – so<br />

die Freisetzung von Noradrenalin und die Stimulation<br />

von glattmuskulären Alpha-Adreno-Rezeptoren (An -<br />

ders son 2001). Drüsen und andere Körperstellen dieses<br />

Typs haben normalerweise Muskarinrezeptoren,<br />

die man auch in den Harnröhrenwänden gefunden hat.<br />

Auswertungen von negativen Reaktionen auf Medika -<br />

mente haben gezeigt, dass vulvo-vaginale Trockenheit<br />

ein typischer Nebeneffekt mindestens eines kompetitiven<br />

Muskarinrezeptor-Antagonisten ist (Lundberg &<br />

Ståhl i.Vorb.).<br />

Zwei weitere Peptide aus der gleichen vasoaktiven<br />

Peptidfamilie wie VIP, Helospectin und PACAP (hy -<br />

po physäres Adenylatzyklase aktivierendes Polypep -<br />

tid), fand man in den Haut der menschlichen Vagina<br />

und in den Wänden kleiner Gefäße (Graf et al. 1995).<br />

Auch die Peptide PHM (peptide histidine methi onine)<br />

und PHV (peptide histidine valine) sind in der<br />

menschlichen Vagina und Zervix vorhanden und biologisch<br />

aktiv (Palle et al. 1990, 1992). Stick oxid


104 P.O. Lundberg<br />

scheint für die klitorale Erektion wichtig zu sein, weil<br />

man die Immunoreaktivität der neuronalen Stick -<br />

oxidsynthase in den Nervenfasern und -bündeln der<br />

menschlichen Glans clitoris und in den klitoralen<br />

Schwellkörpern entdeckt hat (Burnett et al. 1997).<br />

Ganglienzellen wurden in den Adventitia um die Vagi -<br />

na entdeckt (Krantz 1958). Im oberen Drittel der Vagi -<br />

na sind sie häufig zwischen Blase und Scheidenwand<br />

anzutreffen. Die menschliche Vagina ist dicht von<br />

adre nergen Nerven sympathischer Herkunft innerviert<br />

(Owman et al. 1967). Cholinesterase-positive Nerven<br />

finden sich in der Umgebung der Blutgefäße. Para -<br />

zervikale Ganglien enthalten NADPH-Diaphorase-re -<br />

ak tive Nervenfasern, die offenbar durch die Freiset -<br />

zung von Stickoxiden eine wichtige Rolle für die Re -<br />

gulierung des vaskulären Tonus im Uterus spielen<br />

(Yoshida et al. 1995). In der bovinen Vagina fand man<br />

in der Scheidenwand und in den parazervikalen Gang -<br />

lien sowohl Substanz P, VIP und Neuropeptid Y wie<br />

auch NO (Lakomy et al. 1995, Majewski et al. 1995).<br />

Versuche mit Clonidin zur Unterdrückung der sympathischen<br />

Nerventätigkeit ergaben bei weiblichen Tie -<br />

ren wie auch bei Frauen, dass die Aktivierung des<br />

sym pathischen Nervensystems den vaskulären Part<br />

der anfänglichen sexuellen Erregung erleichtern kann,<br />

während dessen Inhibition ihn hemmen kann (Meston<br />

2000). Bei Tierversuchen (Kaninchen) hat man festgestellt,<br />

dass Angiotensin II über Angiotensin-Rezep -<br />

toren an der Regulierung des klitoralen kavernösen<br />

Glattmuskeltonus beteiligt ist (Park et al. 2000). Ni -<br />

trerge Transmission ist teilweise für die Entspannung<br />

verantwortlich (Cellek & Moncada 1998). Bei Ratten<br />

ko-exprimieren die zu vaskulären und nicht-vasku -<br />

lären glatten Muskeln gehenden Neuronen des Be -<br />

cken geflechts VIP und NPY (Houdeau et al. 1997).<br />

Bei Schweinen fand man in den uterus-innervierenden<br />

Neu ronen des parazervikalen Ganglions eine Reihe<br />

von biologisch aktiven Substanzen wie Tyrosin-Hy -<br />

droxylase, Neuropeptid Y, VIP, Galanin, Metenkepha -<br />

lin-Arg-Gly-Leu und CGRP (Wasowicz et al. 2002).<br />

Noradrenerge Neuronen haben offenbar keine große<br />

Bedeutung (Houdeau et al. 1995). Bei Menschen sind<br />

unsere Kenntnisse lückenhaft.<br />

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Anschrift des Autors<br />

Prof. Per Olov Lundberg, Sexology Unit, Neurocenter University Hospital, S-751 85 Uppsala (Schweden), Tel. / Fax: +4618 611 5026<br />

mail: PO.Lundberg@neurologi.uu.se


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Die weibliche Prostata. Orthologie, Pathologie,<br />

Sexuologie und forensisch-sexuologische<br />

Implikationen *<br />

Milan Zaviacic<br />

The Women’s Prostate: Ortholo -<br />

gy, Pathology, Sexology and<br />

Forensic-Sexology Implications<br />

Abstract<br />

The female prostate lies in the wall of the female urethra.The<br />

mean weight of the prostate of the adult female<br />

is 5.2 g. In approximately 70 % of adult women the greatest<br />

amount of prostatic tissue is in the distal half of the<br />

female urethra (meatal type of the female prostate). This<br />

type of the female prostate as a new female erogenous<br />

tone is important for the female (coital) orgasm. The<br />

female prostate possesses histologically the same structure<br />

as the prostate of the male. Through the urethra female<br />

prostate discharge its content. Similarly as in the postpubertal<br />

male, ultrastructure of the prostatic glands in the<br />

adult female display mature secretory (luminal), basal<br />

(reserve) and intermediary cells. The female prostate has<br />

at least two main functions: exocrine, production of female<br />

prostatic fluid and neuroendocrine function. PSA is<br />

immunohistochemically expressed mainly in apically<br />

superficial layer of secretory cells of the female prostate<br />

gland. In clinical practice, PSA is a valuable marker in diagnosis<br />

and monitoring of diseases of the female prostate.<br />

The female prostate presents with the same diseases, but<br />

substantially less frequently than the male prostate. To the<br />

present time, considerable progress has been achieved<br />

especially in the problem of female prostate carcinoma. In<br />

sexology the female prostate with its secretion participate<br />

in the female ejaculation phenomenon, as a substantial<br />

source of female ejaculate. Despite the fact that G-Spot<br />

can be easily identified through the digital examination of<br />

the anterior wall of the vagina, we failed to find a special<br />

* The Human Female Prostate and its Role in Woman’s Life: Sexology<br />

Implications, Scand J Sex 2001, 4: 199-211. Aus dem Englischen von<br />

Dr. Thomas Laugstien. – Teile dieses Beitrags wurden beim 15. Welt -<br />

kongress für Sexologie in Paris (24.-28. Juni 2001) als Invited Lecture<br />

auf dem Plenarsymposium Desire and Pleasure Dysfunctions (Lei -<br />

tung: Beverly Whipple) vorgetragen.<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 107 – 115 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie<br />

morphological structure in the vagina at the place of G-<br />

spot. The biological phenomenon of female ejaculation<br />

was and remains an attractive phenomenon of female<br />

sexuality. At masturbation, petting activities and intercourse<br />

with partners of both genders due to stimulation of the<br />

G-spot under orgasm (and/or during female sexual arousal<br />

too) ejaculation from urethra can be relatively easily<br />

induced. Forensic-sexological implications concem the critique<br />

of the importance of acid phosphatase test in confirmation<br />

of rape, secretory mechanisms of the female<br />

prostate and importance of asphyxia for inducing female<br />

ejaculation. At the present time of forensic DNA analysis<br />

in alleged cases of rape, demonstrated enzymic tests on<br />

acid phosphatase have only historical and not judistical<br />

value.<br />

Keywords: The human female prostate, orthology, exocrine<br />

function, sexology implications, female ejaculation, G-<br />

spot, typology of female ejaculators, forensic sexology<br />

implications.<br />

Zusammenfassung<br />

Die weibliche Prostata befindet sich in der Wand der<br />

weiblichen Urethra. Ihr Durchschnittsgewicht liegt bei der<br />

erwachsenen Frau bei 5,2 g. Das Prostatagewebe befindet<br />

sich bei ungefähr 70% der erwachsenen Frauen in der<br />

distalen Hälfte der Urethra. Dieser „meatale Typ“ der<br />

weiblichen Prostata ist als eine weitere erogene Zone<br />

wichtig für den weiblichen (koitalen) Orgasmus. Histolo -<br />

gisch hat die weibliche Prostata die gleiche Struktur wie<br />

die männliche. Sie entleert sich durch die Harnröhre. Ähnlich<br />

wie beim postpubertären Mann weisen die Prostata -<br />

drü sen bei der erwachsenen Frau reife (luminale) Sekre -<br />

tionszellen, basale (Reserve-)Zellen und intermediäre Zel -<br />

len auf. Die weibliche Prostata hat mindestens zwei<br />

Haupt funktionen: die exokrine Produktion weiblicher Pros -<br />

ta ta flüssigkeit und eine neuroendokrine Funktion. PSA<br />

wird immunhistochemisch vor allem in der apikalen<br />

Oberflächenschicht der Sekretionszellen ausgedrückt. Es<br />

ist in der klinischen Praxis ein wertvoller Marker zur Dia -<br />

gno se und Beobachtung von Erkrankungen. Die weibliche


108 M. Zaviacic<br />

Prostata weist die gleichen Krankheiten wie die männliche<br />

auf, die aber erheblich seltener auftreten. Besonders beim<br />

weiblichen Prostatakarzinom sind derzeit erhebliche Fort -<br />

schritte zu verzeichnen.<br />

In sexuologischer Hinsicht ist die weibliche Prostata<br />

mit ihrer Sekretion als Hauptquelle des weiblichen Eja -<br />

kulats am Phänomen der weiblichen Ejakulation beteiligt.<br />

Obwohl sich der G-Punkt durch digitale Untersuchung der<br />

äußeren Scheidenwände leicht identifizieren lässt, konnten<br />

wir in der Vagina an dieser Stelle keine spezielle Mor -<br />

phologie ausmachen. Das biologische Phänomen der<br />

weib lichen Ejakulation ist und bleibt ein attraktives Phä -<br />

nomen der weiblichen Sexualität. Durch Masturbation,<br />

Pet ting und im Verkehr mit Partnern beiderlei Geschlechts<br />

ist sie durch Stimulation des G-Punkts beim Orgasmus<br />

(und/oder auch während der sexuellen Erregung) relativ<br />

leicht herbeizuführen. Die forensisch-sexuologischen Im -<br />

pli kationen betreffen die Kritik an der Bedeutung des sauren<br />

Phosphatase-Tests beim Vergewaltigungsbefund, die<br />

Ausscheidungsvorgänge der weiblichen Prostata und die<br />

Bedeutung der Asphyxie bei der Herbeiführung der weiblichen<br />

Ejakulation. Beim gegenwärtigen Stand der forensischen<br />

DNA-Analyse hat der Enzymtest bezüglich der sauren<br />

Phosphatase nurmehr historische und keine juristische<br />

Bedeutung.<br />

Schlüsselwörter: Weibliche Prostata, Orthologie, exokrine<br />

Funktion, sexuologische Implikationen, weibliche Ejakula -<br />

tion, G-Punkt, Typologie weiblicher Ejakulatoren, forensisch-sexuologische<br />

Implikationen.<br />

In der Forschung zu Beginn des drittens Jahrtausends<br />

stellt sich die weibliche Prostata * als ein urogenitales<br />

Organ der Frau dar, das in seiner Struktur, in seinen<br />

Funk tionen (der exokrinen Produktion von Prostata -<br />

flüs sigkeit und der neuroendokrinen Funktion), in seiner<br />

Ausstattung mit prostataspezifischem Antigen<br />

(PSA) und in seiner Pathologie der männlichen<br />

Prostata ähnelt (Zaviacic & Whipple 1993, Zaviacic<br />

1997, Zaviacic & Ablin 1998, Zaviacic 1999, Zaviacic<br />

& Ablin 2000, Zaviacic et al. 2000a & b).<br />

Vergleich zur männlichen Prostata darstellt, die die<br />

Urethra umgibt. Histologisch weist sie die gleichen<br />

Strukturen wie die männliche auf, nämlich Drüsen<br />

(Abb. 1), Gänge (Abb. 2) und Glattmuskelzellen<br />

(Mus kelfasergewebe, Abb. 1 und 2). Die Gänge der<br />

weiblichen Prostata sind zahlreicher als ihre Drüsen<br />

und übertreffen auch die Zahl der männlichen Pros -<br />

tatagänge. Sie enthält auch mehr Muskelfasergewebe<br />

als die männliche Prostata. Die (paraurethralen) Gän -<br />

ge münden nicht etwa an den Seiten der weiblichen<br />

Harnröhre in die Vulva (Skene 1880), sondern durchdringen<br />

das Lumen der Urethra in voller Länge (Huff -<br />

man 1948, Zaviacic et al. 1983 u. 2000a, Wernert et al.<br />

1992). Durch die Urethra entleert sich die weibliche<br />

Prostata.<br />

Das Durchschnittsgewicht der weiblichen Prostata<br />

liegt bei der erwachsenen Frau bei 5,2 g und entspricht<br />

einem Fünftel bis einem Viertel des Gewichts der<br />

Prostata beim erwachsenen Mann. Ihre Größe beträgt<br />

3,3 cm (Länge) x 1,9 cm (Breite) x 1 cm (Höhe). Wenn<br />

wir den meatalen Typus (Abb. 3), bei dem sich das<br />

meiste Prostatagewebe in der distalen Hälfte der weiblichen<br />

Urethra befindet (Huffman 1948, Zaviacic et al.<br />

1983, Zaviacic 1999, Zaviacic et al. 2000a), als den<br />

häufigsten Typ ansehen (der sich bei über 66% der<br />

Frauen findet), dann wiegt sie 2,6 bis 5,2 g. Das entspricht<br />

ungefähr einem Zehntel bis einem Viertel des<br />

Durchschnittsgewichts der Prostata beim erwachsenen<br />

Mann.<br />

Abb. 1: Weibliche Prostatadrüsen in vaskularisiertem Muskelfaserge webe.<br />

(52-jährige Frau, HE, x 360)<br />

Gewicht, Größe, Makroanatomie<br />

und Histologie<br />

Die weibliche Prostata befindet sich in der<br />

Harnröhrenwand, die ihren Umfang begrenzt und auch<br />

den wichtigsten makroskopischen Unterschied im<br />

* Das Federative International Committee on Anatomical Terminology<br />

(FICAT) hat 2001 auf seiner Tagung in Orlando (Florida/USA) be -<br />

schlossen, den Begriff „weibliche Prostata“ in die nächste Ausgabe der<br />

Histology Terminology aufzunehmen. Diese Entscheidung verbietet es,<br />

zur Bezeichnung der Prostata bei der Frau weiterhin vom Ductus paraurethralis<br />

oder von Skene-Drüsen und -Gängen zu sprechen.<br />

Prostataspezifisches Antigen und<br />

die weibliche Prostata<br />

PSA ist derzeit der am häufigsten verwendete Marker,<br />

um normales und pathologisch verändertes Prosta ta -<br />

ge webe nicht nur bei Männern, sondern auch bei<br />

Frauen zu unterscheiden. Immunhistochemisch lokalisiert<br />

sich PSA vor allem auf der apikalen Ober flä chen-


Die weibliche Prostata 109<br />

Abb. 2: Kleiner Gang der weiblichen Prostata mit pseudostratifiziertem<br />

kolumnärem Epithel in der Auskleidung des Gangs. Das Prostatasekret ist<br />

im Lumen erkennbar. Der Gang ist von Muskelfasergewebe umgeben. (31-<br />

jährige Frau, HE, x 175)<br />

Abb. 3: „Vorderer (meataler)“ Typ der weiblichen Prostata nach dem<br />

Wachs modell von Huffman (1948).<br />

zo ne der sekretorischen Zellen der weiblichen Prosta -<br />

ta drüse und auf der Oberfläche des Urothels in anderen<br />

Partien des Urogenitaltrakts (Pollen & Dreilinger<br />

1984, Tepper et al. 1984, Sloboda et al. 1998, Zaviacic<br />

& Ablin 2000). Mit ihrer exokrinen Funktion, der<br />

Produktion weiblicher Prostataflüssigkeit, trägt die<br />

weib liche Prostata zur Bildung des weiblichen Eja -<br />

kulats bei. Cabello (1997) hat bei denselben Frauen<br />

vor und nach dem Orgasmus unterschiedliche PSA-<br />

Werte im Urin nachgewiesen. Die höheren PSA-Werte<br />

nach dem Orgasmus (über 30 ng/ml) erklären sich<br />

dadurch, dass der Inhalt der Prostata beim Orgasmus<br />

mit rhythmischen Muskelkontraktionen in der Umge -<br />

bung der Urethra durch die Gänge in die Urethra ge -<br />

presst wird. Die gesunde Frau mit normaler Prostata<br />

weist ein breites Spektrum von PSA-Serum-Werten<br />

von faktisch nicht feststellbaren Mengen bis hin zu<br />

den höchsten berichteten Werten von bis zu 0,9 ng/ml<br />

auf (Borchert et al. 1997). Erhöhte PSA-Serum-Werte<br />

können aus pathologischen Veränderungen herrühren,<br />

z.B. bei Prostatakarzinomen, bei denen Werte von bis<br />

zu 5,9 ng/ml feststellbar sind (Dodson et al. 1994). Die<br />

Zunahme kann sich aber auch durch eine Summierung<br />

der Werte ergeben, die aus der PSA-Produktion der<br />

nor malen oder pathologischen weiblichen Prostata<br />

und aus PSA von möglicherweise nicht-prostatischem<br />

Gewebe stammen, zum Beispiel bei weiblichen Brust -<br />

erkrankungen (Zaviacic 1999 und die dort angeführten<br />

Nachweise).<br />

Die Ultrastruktur der weiblichen<br />

Prostatadrüse<br />

Die Ultrastrukturanalyse der normalen Prostatadrüse<br />

der erwachsenen Frau zeigt unter dem Transmissions-<br />

Elektronenmikroskop, dass die Prostatadrüsen der er -<br />

wachsenen Frau wie beim postpubertären Mann reife<br />

Sekretions- und Basalzellen aufweisen. Der in der<br />

Aus kleidung ihres Lumens vorherrschende Zelltypus<br />

sind hohe zylindrische (luminale) Sekretionszellen<br />

ähn lich wie bei den männlichen Prostatadrüsen. Auf<br />

der Oberfläche der weiblichen Sekretionszellen finden<br />

sich kurze, stummelige Kleinzotten und Protuberan -<br />

zen des apikalen Zytoplasma mit Bläschenbildung.<br />

Zahlreiche sekretorische Vakuolen und Granulome,<br />

rauhes endoplasmatisches Retikulum, entwickelte<br />

Gol gi-Apparate und zahlreiche Mitochondria sind<br />

cha rakteristisch für ihre aktive sekretorische Kon -<br />

figuration mit apokriner (apikale Bläschen) und merokriner<br />

Sekretion (sekretorische Vakuolen und Granu -<br />

lome). Basale (Reserve-)Zellen wurden zwischen den<br />

Sekretionszellen und der Basalmembran festgestellt.<br />

Ihr Zytoplasma enthält rauhes endoplasmatisches Re -<br />

ti kulum und Mitochondria, aber keine sekretorischen<br />

Elemente (sekretorische Vakuolen und Granulome).<br />

Neben den zwei Grundtypen der reifen Prostatazellen<br />

wurden zwischen Basal- und Sekretionszellen oder in<br />

ihrer unmittelbaren Umgebung auch intermediäre Zel -<br />

len lokalisiert. Die Entdeckung von intermediären<br />

Zel len in der Auskleidung der Prostatadrüsen verweist<br />

auf die Funktion der basalen (Reserve-)Zellen für die<br />

Zellerneuerung in den weiblichen Prostatadrüsen. Die<br />

Ergebnisse der elektronenmikroskopischen Untersu -<br />

chung haben die heutige Auffassung von der weiblichen<br />

Prostata als einem funktionalen urogenitalen Or -<br />

gan nachdrücklich bestätigt (Zaviacic et al. 2000b).<br />

Die Krankheiten der weiblichen<br />

Prostata<br />

Durch das chronische Desinteresse der Urologen, Gy -<br />

nä kologen und gynäkologischen Urologen wie auch<br />

der Pathologen an diesem Organ wurde die Pathologie<br />

der weiblichen Prostata lange vernachlässigt. Sie<br />

weist dieselben Krankheiten wie die männliche auf,


110 M. Zaviacic<br />

die aber erheblich seltener auftreten. Dazu gehört die<br />

benigne weibliche Prostata-Hyperplasie (Folsom &<br />

O’Brien 1943, Sesterhenn et al. 1998), die Prostatitis<br />

bzw. das weibliche urethrale Syndrom (Gittes & Na -<br />

ka mura 1996) und das Prostatakarzinom (Zaviacic et<br />

al. 1993a, Sloboda et al. 1998 und die dort angegebenen<br />

Nachweise).<br />

Gegenüber den vor fünfzig Jahren veröffentlichten<br />

klinischen Untersuchungen von Huffman (1951) können<br />

wir erhebliche Fortschritte nur beim weiblichen<br />

Prostatakarzinom verzeichnen. Die morphologische<br />

Ähn lichkeit zwischen dem Adenokarzinom der weiblichen<br />

Urethra und dem männlichen Prostatakarzinom<br />

ist seit Jahrzehnten bekannt (Huffman 1951). Man hat<br />

im allgemeinen angenommen, dass der urethrale Drü -<br />

sen krebs bei Frauen aus den Skene-Gängen und -Drü -<br />

sen der weiblichen Prostata herrührt (ebd., Zaviacic et<br />

al. 1993a). Die Resultate von Svanholm et al. (1987),<br />

Spencer et al. (1990), Zaviacic et al. (1993a), Dodson<br />

et al. (1994), Ebisuno et al. (1995), Miyai & Ebisuno<br />

(1995), Oliva & Young (1996), Sloboda et al. (1998)<br />

und Sesterhenn et al. (1998) bezüglich der PSA- und<br />

PSAP-Positivität bei kanzerösen weiblichen Prostata -<br />

zellen haben zur Diagnose dieses Karzinomtyps entscheidend<br />

beigetragen.<br />

Der immunhistochemische Ausdruck des Prostata -<br />

mar kers PSAP im kanzerösen weiblichen Prostatage -<br />

webe ist nicht mit dem diagnostischen Wert von PSA<br />

zu verwechseln. Anders als das hochspezifische PSA<br />

reagiert PSAP mit vielen anderen Geweben (siehe Za -<br />

viacic et al. 1993a). Für die Pathologen ist eine positive<br />

immunhistochemische PSA-Färbung in kanzerösen<br />

weiblichen Prostatazellen ein wichtiger Indikator, um<br />

„wirkliche“ Prostata-Adenokarzinome von anderen<br />

Ade nokarzinomen der weiblichen Urethra zu unterscheiden<br />

(Sloboda et al. 1998 und die dort angegebenen<br />

Nachweise). Die Letzteren sind PSA-negativ und<br />

treten häufig am urethralen Divertikel auf (Oliva &<br />

Young 1996, Amin & Young 1997). Sie gelten nicht<br />

als prostatisch bedingt (entstammen also nicht der<br />

weiblichen Prostata), sondern sollen mesonephrisch<br />

bedingt sein (Sloboda et al. 1998). Bis heute hat man<br />

aufgrund von PSA-positiven Krebszellen über 25 Fäl -<br />

le von weiblichen Prostatakarzinomen berichtet, ob -<br />

wohl die tatsächliche Zahl zweifellos höher liegt. Erst<br />

seit Anfang der neunziger Jahre werden Tumore der<br />

weiblichen Urethra (bzw. der weiblichen Prostata)<br />

routinemäßig auf PSA untersucht. Wahrscheinlich<br />

wurden deshalb viele Fälle von weiblichem Prosta -<br />

takrebs ohne PSA-Test als Adenokarzinomfälle der<br />

weiblichen Urethra publiziert.<br />

Bei anderen Erkrankungen der weiblichen Pros -<br />

tata wie der benignen Prostata-Hyperplasie und der<br />

Prostatitis (dem weiblichen urethralen Syndrom) be -<br />

ruhen unsere Erkenntnisse hauptsächlich auf Fallstu -<br />

dien, während eine systematische Beschreibung dieser<br />

Krankheiten noch aussteht.<br />

Die Evaluierung der Inzidenz von Prostataerkran -<br />

kungen bei Frauen und die moderne Auffassung der<br />

weiblichen Prostata, die in ihr kein rudimentäres, sondern<br />

ein funktionales urogenitales Organ sieht, eröffnet<br />

für die klinische Untersuchung und Therapie der<br />

Er krankungen dieses weiblichen Organs neue Mög -<br />

lichkeiten.<br />

Die exokrine Funktion der weiblichen<br />

Prostata<br />

Die exokrine Funktion der weiblichen Prostata – die<br />

Produktion von Prostataflüssigkeit als Bestandteil des<br />

weiblichen Ejakulats (urethral ausgestoßener Flüssig -<br />

keit und Flüssigkeit, die durch kontinuierliche oder<br />

stimulierte Sekretion der weiblichen Prostata austritt)<br />

– hat Konsequenzen für die gynäkologische Urologie,<br />

für die Chronobiologie, für die forensische Medizin,<br />

für die Sexuologie, für die forenische Sexuologie und<br />

möglicherweise auch für die Reproduktionsmedizin.<br />

Sie betreffen die weibliche Inkontinenz (Zaviacic et<br />

al. 1987a), die Ausscheidungsmechanismen der weiblichen<br />

Prostata (Zaviacic et al. 1988c), den forensischen<br />

Vergewaltigungsnachweis (Tepper et al. 1984,<br />

Zaviacic et al. 1987a), die exfoliative hormonale Urin -<br />

zytologie (Zaviacic et al. 1984a&b) und andere Pro -<br />

bleme. Wer sich für diese Konsequenzen interessiert,<br />

sei auf das Buch und die CD von Zaviacic (1999) verwiesen.<br />

Sexuologische Implikationen<br />

Das biologische Phänomen der weiblichen Ejakula -<br />

tion war immer ein reizvoller Bestandteil der traditionellen<br />

Sexualkulturen im alten Indien (siehe das<br />

Anan ga-Rang aus dem 16. Jahrhundert), in Japan wie<br />

auch in anderen Regionen von Asien, Afrika (Stifter<br />

1988) und China (Pfister 2001). Das Ananga-Rang<br />

enthält eine detaillierte Anatomie der weiblichen Ge -<br />

ni talien mit Darstellungen der erotisch besonders sensiblen<br />

Region (saspanda nadi), deren (penokoitale)<br />

Stimulation bei der Frau besonders viel „Liebes saft“<br />

produziert (Samak 1997). Topologisch entspricht das<br />

Saspanda nadi der von Gräfenberg (1950) be schrie -<br />

benen erogenen Vaginalzone, die von Perry und<br />

Whipp le (1981) als „G-Punkt“ in die Sexualwissen -<br />

schaft eingeführt wurde.<br />

Die Rolle und die Bedeutung des G-Punkts im<br />

heutigen Sexualleben der Frau wurde von Whipple<br />

(1994) untersucht. Die penokoitale, digitale oder


Die weibliche Prostata 111<br />

durch einen Dildo (ein künstliches Glied) herbeigeführte<br />

Stimulation des G-Punkts, die durch die vordere<br />

Scheidenwand verspürt wird, führt zu einem Or -<br />

gasmus, bei dem eine milchig-opaleszierende Flüssig -<br />

keit aus der Urethra austritt. Diese Art des Austretens<br />

hat ebenso wie die Ähnlichkeit der urethralen Flüs -<br />

sigkeit mit dem männlichen Ejakulat dazu geführt,<br />

dass dieses Phänomen als weibliche Ejakulation (urethral<br />

expulsions) bezeichnet wurde. Die langdauernde<br />

Kontroverse, ob zwischen der weiblichen Prostata und<br />

diesem Ejakulationsphänomen ein Zusammenhang<br />

besteht, dürfte endgültig beigelegt sein. Durch den<br />

Nachweis von prostatischen Komponenten (insbesondere<br />

PSA) in der weiblichen Ejakulationsflüssigkeit<br />

steht fest, dass die weibliche Prostata eine Haupt -<br />

quelle für den urethralen Flüssigkeitsausstoß ist (Se -<br />

vely & Bennett 1978, Zaviacic 1999).<br />

Cabello (1997) hat unterschiedliche prä- und<br />

nach or gasmische PSA-Werte im Urin nachgewiesen,<br />

die darauf zurückzuführen sind, dass beim Orgasmus<br />

durch rhythmische Kontraktion der in der Harnröh -<br />

renumgebung befindlichen Muskeln PSA-haltige Prostatainhalte<br />

ausgestoßen werden. Offenbar können sich<br />

dabei unterschiedliche (vaginale und klitorale) Sti mu -<br />

lationsformen auf die PSA-Werte im weiblichen Eja -<br />

kulat auswirken. Bei der Selbstmassage der Ure thra<br />

über die vordere Scheidenwand durch freiwillige Ver -<br />

suchspersonen – eine Manipulation ähnlich der trans -<br />

rektalen Friktion der männlichen Prostata zur Ge win -<br />

nung männlicher Prostataflüsigkeit – kann das weib -<br />

liche Ejakulat außerordentliche hohe PSA-Werte von<br />

7,0 bis 33,0 ng/ml erreichen (Zaviacic T. jun., unveröff.).<br />

Cabello (2001) nimmt sogar an, dass auch die für<br />

die sexuelle Erregung der Frau (nach dem EPOR-<br />

Modell) charakteristische Lubrikation durch die Aus -<br />

schüttung weiblichen Prostatasekrets veranlasst wird.<br />

Obwohl sich der G-Punkt bei der gynäkologischsexuologischen<br />

Untersuchung durch digitales Ab -<br />

tasten der Vagina leicht identifizieren lässt (Zaviacic<br />

et al. 1988b), konnten wir an dieser Stelle entgegen<br />

unseren Erwartungen keine spezielle Morphologie<br />

ent decken, die in anderen Partien der vorderen Schei -<br />

denwand fehlt (Zaviacic et al. 1999). Anfang der achtziger<br />

Jahre hat man vermutet, der G-Punkt könne ein<br />

Bestandteil der Halban-Faszie sein (Minh 1981).<br />

Dann meinten Lenck & Vanneuville (1992), er sei mit<br />

dem urethralen Sphinkter identisch. Birnholz (2001)<br />

hat durch ultrasonographische Untersuchung nachgewiesen,<br />

dass die distalen Crura der Klitoris in der ge -<br />

genüber der vorderen Scheidenwand proximalen Em -<br />

pfindungszone an der als G-Punkt bekannten Stelle<br />

enden. Das könnte darauf hindeuten, dass das klitorale<br />

Schwellkörpergewebe an der Struktur des G-Punkts<br />

teilhat, und es könnte auch das lokale Anschwellen bei<br />

der Stimulation und das Abschwellen nach dem Or -<br />

gasmus erklären.<br />

Obwohl über die antomische Grundlage des G-<br />

Punkts weiterhin Unklarheit herrscht, gibt es keinen<br />

Zweifel, dass er als eine durch die vordere Scheiden -<br />

wand verspürte hochwirksame erogene Zone existiert.<br />

Es ist erstaunlich, dass dies noch immer bestritten<br />

wird. Das letzte Beispiel dürfte Hines (2001) sein, der<br />

in seinen Ausführungen bewusst alle bisher veröffentlichten<br />

Beiträge beiseite lässt, die sich zu seiner Exis -<br />

tenz positiv äußern.<br />

Das Ejakulationsphänomen lässt sich am einfachsten<br />

und normalerweise auch ohne Probleme durch<br />

Stimulation des G-Punkts herbeiführen. Die urethral<br />

aus gestoßene Flüssigkeit enthält Bestandteile der<br />

weib lichen Prostata, insbesondere prostataspezifisches<br />

Antigen, das auf die Beteiligung der Prostata an<br />

der Bildung des weiblichen Ejakulats hinweist. Wir<br />

ver muten, dass es sich dabei nicht um das Resultat<br />

einer direkten Stimulation der weiblichen Prostata<br />

han delt, sondern eher um einen indirekten Mecha -<br />

nismus, der den Inhalt der Prostata durch den Druck<br />

der Schwellkörpergewebe hinauspresst, die während<br />

der sexuellen Erregung und in den weiteren Phasen<br />

der weiblichen Sexualreaktion besonders durch die<br />

rhyth mischen orgasmischen Kontraktionen der die<br />

Ure thra umgebenden Muskeln anschwellen.<br />

Der Hauptteil des weiblichen Prostatagewebes<br />

(der sog. vordere, meatale Typ der weiblichen Pros ta -<br />

ta, der sich bei 66 % aller Frauen findet; Zaviacic et al.<br />

2000a, Zaviacic & Ablin 2002) liegt im distalen Teil<br />

der Urethra hinter ihrem Meatus und entspricht nicht<br />

der topologischen Situierung des G-Punkts mit seiner<br />

Ausrichtung auf die hintere Harn röhrengegend und<br />

den Harnblasenhals. Nur bei 10 % der Frauen befindet<br />

sich der Haupt teil des Pros tatage webes in dieser<br />

Region (hinterer Typ der weiblichen Prostata; vgl.<br />

ebd.). Bei dieser relativ kleinen Perso nen zahl gab es<br />

einen Zu sammenhang zwischen dem Hauptteil des<br />

weiblichen Prostatagewebes und der La ge des G-<br />

Punkts (Zaviacic et al. 2000a). Eichel (1997) und<br />

Eichel et al. (1988, 2001) haben darauf aufmerksam<br />

gemacht, dass der mea tale Typ der weiblichen Prostata<br />

wichtig ist für den koitalen Or gasmus, bei dem der<br />

vordere Teil der weiblichen Ure thra, wo sich der<br />

Hauptteil des Pros tatagewebes befindet, durch Druckund<br />

Gegendruck der Genitalregionen von Mann und<br />

Frau direkt stimuliert wird. Eichel lenkt unsere Auf -<br />

merksamkeit also vom G-Punkt im klassischen Ver -<br />

ständnis auf den Scheideneingang, auf den der urethrale<br />

Meatus und der Beginn der vorderen Urethra<br />

zulaufen.<br />

Das biologische Phänomen der urethralen Expul -<br />

sio nen ist bei der Frau nicht unmittelbar mit der Re -


112 M. Zaviacic<br />

pro duktion verbunden. Es ist und bleibt aber ein at -<br />

traktives Phänomen weiblicher Sexualität, bei dem<br />

sich die weibliche Prostata ejakulatorisch entleert.<br />

Durch Mas turbation oder partnerbezogenes Petting<br />

lässt sich der Orgasmus und die damit verbundene<br />

Ejakulation digital oder mittels speziell geformter Vi -<br />

bra toren zur Sti mulierung des G-Punkts relativ leicht<br />

herbeiführen.<br />

Aufgrund unserer Resultate bei der digitalen Sti -<br />

mulation des G-Punkts unter Laborbedingungen ha -<br />

ben wir drei Reaktionstypen auf diese Art der Sti -<br />

mulation beschrieben. Sie unterschieden sich nach der<br />

Dauer der Stimulation, nach der Reaktion auf die digitale<br />

G-Punkt-Massage und in Bezug auf den Höhe -<br />

punkt mit dem urethralen Flüssigkeitsausstoß. Die<br />

Grup pe mit „relativ schwer herbeizuführender Ex -<br />

pulsion“ erreichte die Ejakulation nach längerer G-<br />

Punkt-Massage auf dem Höhepunkt des Orgasmus.<br />

Die Gruppe mit „leicht herbeizuführender Expulsion“<br />

war mit der eigentlichen Stimulationstechnik am we -<br />

nigsten beschäftigt. Obwohl die Versuchspersonen<br />

die ser Gruppe ihre Empfindungen bei der Ejakulation<br />

als ein angenehmes Gefühl sexueller Erregung schilderten,<br />

unterschieden sie dieses Gefühl strikt von den<br />

Empfindungen bei dem durch Stimulierung der Kli -<br />

toris erreichten Orgasmus. Zwischen diesen beiden<br />

Ex tremen gab es eine „mittlere Gruppe“ (im Einzel -<br />

nen siehe Zaviacic et al. 1988b).<br />

Wenn der klitoral-labiale Komplex stimuliert<br />

wird, tritt die Ejakulation nach längerer sexueller Ab -<br />

stinenz oder bei oral-genitalem Kontakt (beim Cunni -<br />

lingus oder Lecken der Vulva) nach einer übermäßig<br />

ausgedehnten Plateauphase mit wiederholten Orgas -<br />

musschwierigkeiten auf. Manche Frauen induzieren<br />

die Expulsionen durch suprapubische Massage des<br />

Harn blasenhalses mittels Druck oder Reiben mit den<br />

Fingern im Spatium praevesicale Retzii. Eine solche<br />

Patientin erklärte sich bereit, an der klinischen Studie<br />

zum Fruktosenachweis in der weiblichen Ejakulation<br />

mitzuwirken (Zaviacic et al. 1988a).<br />

Forensisch-sexuologische<br />

Implikationen<br />

Die forensisch-sexuologischen und forensisch-medizinischen<br />

Aspekte des weiblichen Ejakulats (mit dem<br />

weiblichen Prostatasekret) und des weiblichen Eja -<br />

kulationsphänomens betreffen mindestens drei Ge -<br />

biete:<br />

! die Kritik an der Bedeutung der sauren Phospha -<br />

tase als Enzymtest beim Vergewaltigungsbefund;<br />

! die Untersuchung der Sekretionsmechanismen<br />

der weiblichen Prostata;<br />

! die Bedeutung der Asphyxie bei der Herbei füh -<br />

rung der weiblichen Ejakulation.<br />

Beim forensischen Vergewaltigungsnachweis hat sich<br />

her ausgestellt, dass der Enzymtest auf saure Phos -<br />

phatase (Rüsfeld 1946, Kaye 1947), der mit seinen<br />

quan titativen Modifikationen aus den siebziger Jahren<br />

(Schumann et al. 1976, Findley 1977) zur Feststellung<br />

von Spermaspuren bei fehlenden Spermatozoen (im<br />

Falle von Männern mit Azoospermie oder nach einer<br />

Va sotomie) Verwendung findet, für sich allein forensisch<br />

nicht relevant ist. Die Lage hat sich auch nicht<br />

da durch verbessert, dass als zusätzliche Parameter der<br />

Nachweis von Spermin und Fruktose verlangt wurde<br />

(Zaviacic et al. 1987a). Bezüglich der sauren Phospha -<br />

tase wurden die gleichen positiven Werte in weiblichen<br />

Ejakulatspuren (Zaviacic et al. 1987b) und in ge -<br />

tragener weiblicher Unterwäsche festgestellt (Zavia -<br />

cic et al. 1988c). Diese Spuren mit positiven sauren<br />

Phos phatase-Werten finden sich schon nach 24 Stun -<br />

den am Ausgang der Harnröhre. Wird die Wäsche länger<br />

getragen, wandern sie distal bei zunehmend positivem<br />

Enzymtest in den Scheideneingang. Es hat sich<br />

bestätigt, dass diese Spuren in getragener Unter -<br />

wäsche aus kontinuierlicher weiblicher Prostatase kre -<br />

tion herrühren. Sie sind ausschließlich weiblichen Ur -<br />

sprungs, ohne dass ein Mann irgendwie daran beteiligt<br />

ist (siehe im Einzelnen Zaviacic et al. 1987b, 1988c).<br />

Unsere Befunde waren Ende der achtziger Jahre<br />

hochaktuell und trugen zu einer kritischen Ein -<br />

schätzung der Bedeutung der sauren Phosphatase für<br />

die forensische Medizin bei. Heute, in der Zeit forensischer<br />

DNA-Analysen zur Feststellung biologischer<br />

Spuren nach Vergewaltigungen und ähnlichen Ver bre -<br />

chen, haben die makroenzymatischen Befunde nurmehr<br />

historischen und keinen juristischen Wert.<br />

Der Nachweis der kontinuierlichen Sekretion der<br />

weiblichen Prostata analog zur kontinuierlichen Se -<br />

kre tion der männlichen (Mann 1974) ergibt sich aus<br />

unseren forensischen Enzymanalysen der in vivo entstandenen<br />

Spuren an getragener weiblicher Unter wä -<br />

sche (Zaviacic et al. 1988c). Wir nehmen an (Zaviacic<br />

et al. 1999), dass diese kontinuierliche Sekretion mit<br />

dem Auftreten von Fruktose in der weiblichen Pros -<br />

tataflüssigkeit eine Rolle für die Reproduktion spielen<br />

könnte. Offenbar kann der Fruktosegehalt in der Um -<br />

gebung der Vagina sowohl vom Mann wie auch von<br />

der Frau beeinflusst werden. Der basale Fruktosege -<br />

halt in der Vagina entspricht der aus prostatischer<br />

Sekretion herrührenden Menge, die bei kontinuierlicher<br />

Ausscheidung (Zaviacic et al. 1988c) durch Gra -<br />

vitation aus der Urethra in die Vagina fließt. Nach der<br />

koitalen männlichen Ejakulation in der Vagina steigt<br />

der Saccharidgehalt durch die Fruktose aus den männlichen<br />

Samenbläschen erheblich an. Die Frau kann


Die weibliche Prostata 113<br />

also auf diesem Wege – wenn auch nicht im selben<br />

Maße wie der Mann – mit ihrer eigenen Fruktose die<br />

Motilität der Spermatozoen beeinflussen. Da eine gute<br />

Motilität zu den entscheidenden Faktoren für die Be -<br />

fruchtung des Eis mit den biologisch besten Sperma -<br />

to zoen gehört, könnte es sein, dass dieser Vorgang aufgrund<br />

der Bedeutung, die er für die Reproduktion hat,<br />

von beiden Geschlechtern sichergestellt wird (Zavia -<br />

cic 1999).<br />

Die Rolle der Asphyxie beim<br />

Phänomen der weiblichen<br />

Ejakulation<br />

Weil Asphyxie (die mechanische Asphyxie, beispielsweise<br />

bei suizidaler Abdrosselung) bekanntermaßen<br />

mit Erektion und insbesondere Ejakulation verbunden<br />

ist (Kokavec et al. 1987, Mego 2001), haben wir uns<br />

d amit beschäftigt, das entsprechende Phänomen bei<br />

Frauen zu untersuchen. Es wurde festgestellt, dass As -<br />

phy xie auch bei Frauen bedeutsam für die Einleitung<br />

der weiblichen Ejakulation sein kann. Sie kann agonale<br />

urethrale Expulsionen (Ejakulation) z.B. beim<br />

Stran gulieren, Ersticken und Hängen hervorrufen –<br />

alles typische Phänomene, mit denen die Gerichts -<br />

mediziner bei der Autopsie zu tun haben (Zaviacic et<br />

al. 1987a, Zaviacic 1988c). Die durch Asphyxie her -<br />

vor gerufene agonale Ejakulation war mittels saurer<br />

Phosphatase an der Unterwäsche leicht nachweisbar,<br />

wenn sie frisch war und das Opfer sie vor seinem Tod<br />

nicht getragen hatte. Handelte es sich um getragene<br />

Unterwäsche, musste man davon ausgehen, dass positive<br />

Spuren von asphyxiebedingter agonaler Ejaku la -<br />

tion mit positiven Spuren von kontinuierlicher Sekre -<br />

tion der weiblichen Prostata koinzidierten.<br />

Frauen bevorzugen im allgemeinen einen Orgas -<br />

mus mit Flüssigkeitsausstoß und versuchen ihn auch<br />

zu erreichen, weil er subjektiv größere Befriedigung<br />

als der Orgasmus ohne Ejakulation gewährt (Whipple<br />

1994, Zaviacic & Whipple 1993, Schubach 1997, Za -<br />

viacic & Whipple 2001). Das weibliche Ejakulations -<br />

phänomen kann deshalb auch für die Motive von<br />

lebensbedrohlichem paraphilen Verhalten, nämlich im<br />

Falle der Asphyxiophilie (des Koczwarismus), von<br />

Be deutung sein. Sexuelle Asphyxie wird von Frauen<br />

wie auch von Männern praktiziert, um die Erregung<br />

zu steigern und einen Orgasmus zu erreichen, der sich<br />

mit einem Flüssigkeitsausstoß aus der Urethra (einer<br />

Eja kulation) verbindet. Die Kenntnis dieses Phäno -<br />

mens könnte zu einer besseren Diagnose dieser „tödlichen<br />

Lust“ beitragen, deren letale Fälle oft mit Selbst -<br />

morden verwechselt werden, obwohl es sich um tödliche<br />

Unfälle handelt (Zaviacic 1994).<br />

Sieht man von den forensisch-sexuologischen As -<br />

pekten der intendierten Asphyxie bei sexueller As phy -<br />

xiophilie oder von anderen mit urethralen Expulsionen<br />

verbundenen Formen der Asphyxie ab, dann bleibt die<br />

weibliche Ejakulation ein attraktiver Bestandteil im<br />

Se xualleben der Frau. Man muss aber sowohl der Frau<br />

wie auch ihrem Partner klar machen, dass sie ein normaler<br />

Ausdruck weiblicher Sexualität ist (Zaviacic &<br />

Whipple 1993, Zaviacic et al. 1993b, Whipple 1994).<br />

Ihre Mitwirkung an der ejakulatorischen Evakuation,<br />

die für die meisten Frauen zu den lustvollsten Em -<br />

pfindungen beim Orgasmus gehört – und ihre im Ver -<br />

gleich zur männlichen Prostata relativ seltene Er -<br />

krankung – macht die weibliche Prostata zu einem<br />

Organ weiblicher Lust. Mein Vortrag auf dem 15.<br />

Welt kongress für Sexuologie in Paris (2001) trug deshalb<br />

den Titel „Die weibliche Prostata und die weibliche<br />

Lust“.<br />

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Anschrift des Autors<br />

Prof. Dr. Milan Zaviacic, Dept of Pathology, Comenius University School of Medicine, Sasinkova 4, 81108 Bratislava, Slovakia. Fax: 421 2 59357592<br />

mail: zaviacic@fmed.uniba..sk


Orginalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von<br />

Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion<br />

im Zusammenhang mit einer Störung der<br />

sexuellen Erregbarkeit *<br />

Rosemary Basson, Rosemary McInnes, Mike D. Smith, Gemma Hodgson und<br />

Nandan Koppiker<br />

Efficacy and Safety of Sildenafil<br />

Citrate im Women With Sexual<br />

Dysfunction Associated With<br />

Female Sexual Arousal Disorder<br />

Conclusions: Any genital physiological effect of sildenafil<br />

was not perceived as improving the sexual response in<br />

estrogenized or estrogen-deficient women with a broad<br />

spectrum of sexual dysfunction that included FSAD.<br />

Whether more specific subgroups of women with FSAD<br />

could potentially benefit from treatment with sildenafil is<br />

an area for future research.<br />

Abstract<br />

Objective: Sildenafil citrate (Viagra ® ) is indicated for the<br />

treatment of erectile dysfunction in men. The nitric oxidecyclic<br />

guanosine monophosphate pathway (NOcGMP) in -<br />

volved in penile erection and enhanced by sildenafil may<br />

also play a role in some components of the female sexual<br />

arousal response. The efficacy and safety of sildenafil we -<br />

re evaluated in estrogenized and estrogen-deficient wo -<br />

men with sexual dysfunction that included female sexual<br />

arousal disorder (FSAD).<br />

Methods: Patients were randomized to receive 10–100<br />

mg sildenafil or matching placebo. To assess efficacy, patients<br />

completed two global efficacy questions (GEQ), the<br />

Life Satisfaction Checklist (LSC), an event log of sexual<br />

activity, and a 31-item sexual function questionnaire (SFQ).<br />

To assess safety, adverse event (AE) data were recorded.<br />

Results: A total of 577 estrogenized and 204 estrogendeficient<br />

women were randomized to treatment. All were<br />

diagnosed with FSAD, but it was the primary presenting<br />

symptom in only 46% and 50% of women, respectively.<br />

Differences in efficacy between sildenafil and placebo<br />

were not significant for any patient or partner end points<br />

(e.g., the two GEQ, the sexual event logs, the LSC, and the<br />

SFQ). The main AE were headache, flushing, rhinitis, nausea,<br />

visual disturbances, and dyspepsia, which were generally<br />

mild to moderate in nature.<br />

* Efficacy and Safety of Sildenafil Citrate im Women With Sexual Dys -<br />

function Associated With Female Sexual Arousal Disorder, Journal of<br />

Women’s Health & Gender-Based Medicine, Bd. 11, Nr. 4, 2002 (©<br />

Mary Ann Liebert, Inc.). Aus dem Engl. von Dr. Thomas Laugs tien. –<br />

Die Studie wurde mit Unterstützung von Pfizer Inc. durchgeführt.<br />

Zusammenfassung<br />

Ziel: Sildenafilcitrat (Viagra ® ) ist für die Behandlung von<br />

Erek tionsstörungen bei Männern indiziert. Der an der pe -<br />

ni len Erektion beteiligte und durch Sildenafil verstärkte<br />

Stick stoffmonoxid-zyklisches Guanosinmonophos phat -<br />

(NOcGMP)- Pathway könnte auch bei bestimmten Kom -<br />

po nenten der weiblichen Sexualerregungs-Reaktion eine<br />

Rol le spielen. Die Wirkung und Unbedenklichkeit von Sil -<br />

de nafil wurde an Frauen mit Östrogenbehandlung und an<br />

Frauen mit Östrogenmangel untersucht, die eine sexuelle<br />

Dysfunktion in Verbindung mit einer sexuellen Erregungs -<br />

störung (FSAD) aufwiesen.<br />

Methoden: Die Patientinnen wurden für die Einahme von<br />

10-100 mg Sildenafil oder eines entsprechenden Placebo<br />

ran domisiert. Zur Feststellung der Wirkung beantworteten<br />

sie zwei Fragen zur Allgemeinwirkung (GEQ), protokollierten<br />

ihre sexuellen Aktivitäten und füllten eine Check -<br />

liste zur Lebenszufriedenheit (LSC) und einen 31-Punkte-<br />

Fragebogen zur Sexualfunktion (SFQ) aus. Zur Einschät -<br />

zung der Unbedenklichkeit wurden Nebenwirkungen<br />

(AE) festgehalten.<br />

Ergebnisse: Insgesamt wurden 577 Frauen mit Östrogenbehandlung<br />

und 204 Frauen mit Östrogenmangel für die<br />

Behandlung randomisiert. FSAD wurde bei allen diagnostiziert,<br />

war aber nur bei 46% bzw. 50% das Primär -<br />

symptom. Die Unterschiede in der Wirkung von Sildenafil<br />

und von Placebo waren im Endeffekt (z.B. in den zwei<br />

GEQ, den Aktivitätsprotokollen, dem LSC und SFQ) für die<br />

Patientinnen oder ihre Partner ohne Bedeutung. Die wichtigsten<br />

AE waren Kopfschmerzen, Hitzewallungen, Rhi -<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 116 – 124 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 117<br />

nitis, Übelkeit, Sehstörungen und Dyspepsie, die im allgemeinen<br />

leichter bis mäßiger Natur waren.<br />

Konsequenzen: Es konnte nicht festgestellt werden, dass<br />

eine physiologisch-genitale Wirkung von Sildenafil bei<br />

Frau en mit Östrogenbehandlung oder mit Östrogenmangel<br />

und einem breiten Spektrum sexueller Dysfunktionen<br />

unter Einschluss von FSAD die sexuelle Reaktion verbessert.<br />

Ob besondere Untergruppen von Frauen mit FSAD<br />

von einer Sildenafil-Behandlung profitieren könnten, bleibt<br />

zu erforschen.<br />

Einleitung<br />

Sexuelle Dysfunktionen bei Frauen sind ein stark verbreiteter<br />

Zustand, der weiterhin zunimmt und die Le -<br />

bensqualität vieler Frauen beeinträchtigt. Nach vorliegenden<br />

Schätzungen sollen 30-50 Prozent aller Frauen<br />

sexuelle Probleme haben, wobei der Anteil vom Le -<br />

bensalter abhängt (Laumann et al. 1999). Mit zunehmendem<br />

Alter und mit dem Eintritt der Menopause<br />

wächst die Häufigkeit unzureichender vaginaler Lu -<br />

brikation (Dennerlein et al. 1999, Avis et al. 2000).<br />

Die Symptome bezüglich einer Veränderung der genitalen<br />

Empfindungen und der Durchblutung lassen sich<br />

teilweise auf niedrige Östrogenwerte (< 50 pg/ml) zu -<br />

rückführen. Da Östrogen die genitale Stickstoffmon -<br />

oxid(NO-)Synthase und die NO-Aktivität reguliert,<br />

kön nen niedrige Östrogenwerte auch die vaginale und<br />

vulväre NO-Aktivität herabsetzen. Die lokale oder<br />

sys temische Östrogenbehandlung lindert viele genitale<br />

Sexualprobleme. Mit ihrer vasoprotektiven und va -<br />

sodilatorischen Wirkung (Levin 1999) verbessert eine<br />

adäquate Östrogenbehandlung normalerweise die va -<br />

ginale Lubrikation und die vulväre Kongestion des<br />

bul bären und klitoralen Schwellkörpergewebes in<br />

ihrer Reaktion auf die sexuelle Stimulation.<br />

Die subjektive Sexualerregung der Frau ist ein<br />

kom plexes Phänomen, das mentale Erregung, gesteigerte<br />

Sensitivität der genitalen und nicht-genitalen Zo -<br />

nen, ein mehr oder minder deutlich wahrgenommenes<br />

Schwellen und Pulsieren im Genitalbereich, vaginale<br />

Lubrikation, die Entspannung der glatten Vagi -<br />

nalmuskeln und andere körperliche Veränderungen<br />

ein schließt (Basson 2000, 2001). Das 3-Phasen-Mo -<br />

dell der weiblichen Sexualfunktion – Verlangen, Erre -<br />

gung und Orgasmus – wurde zuerst von Kaplan<br />

(1979) vorgelegt. Obwohl es Fragen aufwirft (Basson<br />

2000, 2001, Tiefer 1991, Basson et al. 2000), beruht<br />

auf diesem Modell auch die derzeitige Klassifikation<br />

der weiblichen sexuellen Dysfunktion (female sexual<br />

dysfunction – FSD) in der vierten Ausgabe des Di -<br />

agnostic and Statistical Manual of Mental Disorders<br />

(DSM-IV). FSD wird dabei in verschiedene Störun -<br />

gen unterteilt, zu denen vermindertes Sexualverlangen<br />

(hypoactive sexual desire disorder – HSDD), die<br />

weib liche Orgasmusstörung (female orgasmic disorder<br />

– FOD), Dyspareunie und die sexuelle Erregungs -<br />

störung (female sexual arousal disorder – FSAD) ge -<br />

hören (APA 1994). Erst neuerdings hat man FSD von<br />

der männlichen sexuellen Dysfunktion unterschieden<br />

(Basson et al. 2000). Im Einzelfall gibt es häufig multiple<br />

Dysfunktionen, besonders von HSDD und FSAD<br />

oder von FOD und FSAD. FSAD wurde kürzlich neu<br />

de finiert als die ständige oder wiederholte und persönliches<br />

Leiden verursachende Unfähigkeit, eine hinreichende<br />

Erregung zu erreichen oder aufrechtzuerhalten.<br />

Dies kann sich in mangelnder subjektiver Erre -<br />

gung oder mangelnder genitaler Lubrikation/Schwel -<br />

lung oder in anderen körperlichen Reaktionen aus -<br />

drüc ken (ebd.). Genitale Erregungsstörungen sind un -<br />

ter anderem eine verringerte vaginale Vasokongestion<br />

(und mithin Lubrikation), ein verringerter klitoraler,<br />

labialer und bulbärer Blutandrang, oft in Verbindung<br />

mit verringertem Sexualempfinden, und eine unzureichende<br />

Entspannung der glatten Vaginalmuskeln, die<br />

je des weitere Vordringen von der Vagina ins Becken<br />

limitieren (Basson 2000, 2001, Goldstein & Berman<br />

1998).<br />

Man nimmt an, dass die zunehmende Durchblu -<br />

tung von Vulva und Vagina im Zuge der sexuellen Er -<br />

re gung vor allem durch NO (Burnett et al. 1997) oder<br />

durch vasoaktives intestinales Peptid (VIP) vermittelt<br />

wird (Levin 1999). Die Bedeutung von NO für die Va -<br />

sokongestion des vulvären, bulbären und klitoralen<br />

Schwellkörpergewebes wird unter anderem durch die<br />

Entdeckung der NO-Synthase im menschlichen<br />

Schwell körpergewebe bestätigt (Burnett et al. 1997).<br />

Neuerdings ist es gelungen, Phosphodiesterase Typ 5<br />

(PDE5), die den NOcGMP-Pathway inhibiert (Boolell<br />

et al. 1996), aus dem kavernösen glatten Muskel der<br />

menschlichen Klitoris zu isolieren und nachzuweisen,<br />

dass Sildenafilcitrat (Viagra ® ) ein potenter und selektiver<br />

PDE5-Inhibitor ist (Park et al. 1998). Ob der<br />

VIP/zyklisches-Adenosinmonophoasphat(cAMP)-<br />

Pathway zur vasodilatorischen Wirkung von Sildena -<br />

fil mit beiträgt, ist unklar (Jeremy et al. 1997). Mit ei -<br />

nem doppelblinden Placebo-Versuch hat man gezeigt,<br />

dass Sildenafil im Falle von 24 Frauen mit einer Hys -<br />

te rektomie-Vorgeschichte bei fehlendem genitalem<br />

Se xualempfinden und Orgasmusunfähigkeit eine Bes -<br />

serung herbeiführen konnte (Berman et al. 2000).<br />

In den zwei hier dargestellten placebokontrollierten<br />

Studien mit fester und flexibler Dosis wurde Silde -<br />

nafil bei 577 östrogenbehandelten Frauen (10, 50 oder<br />

100 mg) und bei 204 Frauen mit Östrogenmangel<br />

(Anfangsdosis 50 mg) getestet, bei denen eine sexuelle<br />

Dysfunktion unter Einschluss von FSAD diagnosti-


118 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />

ziert worden war. Neben der Feststellung jeder dosisabhängigen<br />

Reaktion auf die Wirkung von Sildenafil<br />

anhand von validierten Fragebögen und sexuellen Ak -<br />

tivitätsprotokollen haben diese Studien auch die Wir -<br />

kung, Unbedenklichkeit und Verträglichkeit bei Frau -<br />

en nach der Menopause mit und ohne Östrogenersatztherapie<br />

(ERT) und bei Frauen vor der Menopause<br />

untersucht.<br />

Grundlagen und Methoden<br />

Die Patientinnen. – Von 684 untersuchten Frauen mit<br />

Östrogenbehandlung wurden 583 für die Behandlung<br />

randomisiert. Von diesen wurden wiederum 6 (3 Pla -<br />

cebo, 3 Sildenafil) aus der weiteren Untersuchung<br />

aus ge schlossen, weil es in 5 Fällen keine Anzeichen<br />

gab, dass die untersuchten Medikamente genommen<br />

wurden, und weil 1 Frau den Versuch aufgrund von<br />

Nebenwirkungen abbrach. 101 Frauen wurden nicht<br />

ins Sample aufgenommen, weil sie nicht den Auf nah -<br />

mekriterien entsprachen (53) oder ihre Einwilligung<br />

zu rückzogen (20), weil sie aufgrund von Nebenwir -<br />

kungen (4), Laboranomalitäten (4), Resultaten der Un -<br />

bedenklichkeitsprüfung (1) oder aus anderen Gründen<br />

(14) den Versuch abbrachen, die Anschlussunter -<br />

suchung versäumten (3) oder gegen das Versuchs pro -<br />

tokoll verstießen (2). Behandelt wurden also 577<br />

Frau en mit Östrogenbehandlung (151 mit Placebo,<br />

426 mit Sildenafil).<br />

Von 305 untersuchten Frauen mit Östrogenmangel<br />

wurden 211 für die Behandlung randomisiert. Von diesen<br />

wurden wiederum 7 (4 Placebo, 3 Sildenafil) aus<br />

der weiteren Untersuchung ausgeschlossen, weil es<br />

kei ne Anzeichen gab, dass sie die untersuchten<br />

Medikamente nahmen. 94 Frauen wurden nicht ins<br />

Samp le aufgenommen, weil sie nicht den Aufnah me -<br />

kriterien entsprachen (71), ihre Einwilligung zurückzogen<br />

(11), weil sie aufgrund von Nebenwirkungen<br />

(6) oder aus anderen Gründen (11) den Versuch abbrachen<br />

oder weil sie gegen das Versuchsprotokoll ver -<br />

stießen (2). Behandelt wurden also 204 Frauen mit<br />

Ös tro genmangel (101 mit Placebo, 103 mit Silde -<br />

nafil).<br />

Beide Studien waren multizentrisch angelegt und<br />

wurden in 65 Forschungszentren in 11 Ländern (bei<br />

Frauen mit Östrogenbehandlung) bzw. in 32 For -<br />

schungs zentren in 8 Ländern (bei Frauen mit Östrogenmangel)<br />

durchgeführt. Alle Patientinnen mussten<br />

eine feste Be ziehung zu einem männlichen Partner<br />

haben und mindestens in den letzten 6 Monaten vor<br />

der Unter suchung eines der folgenden Symptome aufgewiesen<br />

haben: oberflächliche oder introitale<br />

Dyspareunie aus schließlich aufgrund von mangelnder<br />

Lubrikation, FSAD und HSDD in Verbindung mit<br />

einer Erregungs störung oder FOD in Verbindung mit<br />

einer Erregungs störung. Die Patientinnen wurden ausgeschlossen,<br />

wenn sie eines der folgenden Kriterien<br />

erfüllten: eine als situationsbedingt angesehene sexuelle<br />

Dysfunk tion; andere sexuelle oder psychische<br />

Störungen, die als Primärdiagnose angesehen wurden;<br />

eine anderweitige Behandlung ihrer sexuellen<br />

Dysfunktion; und schließlich ein Ergebnis von ! 5<br />

hinsichtlich der Sexualfunktion auf der Life<br />

Satisfaction Checklist (LSC) (Fugl-Meyer et al. 1997)<br />

– d.h. wenn sie ein be frie digendes Sexualleben hatten.<br />

Frauen mit Östrogenbehandlung. – Die in diese Un -<br />

tersuchung aufgenommenen Frauen waren 18–55<br />

Jahre alt, befanden sich vor oder nach der Menopause<br />

und erhielten eine Östrogenersatztherapie (ERT). Pa -<br />

tien tinnen nach der Menopause, die keine systemische<br />

ERT erhielten oder deren ERT noch keine 6 Monate<br />

gedauert hatte, und Patientinnen mit chronischer Ös -<br />

tro gendefizienz oder klinischen Anzeichen für eine<br />

Östrogendefizienz wurden aus der Studie ausge -<br />

schlos sen. Patientinnen, die länger als 5 Jahre eine<br />

Ame norrhoe gehabt hatten, wurden ebenfalls ausgeschlossen.<br />

Frauen mit Östrogenmangel. – Die in diese Unter -<br />

suchung aufgenommenen Frauen waren 45–70 Jahre<br />

alt, befanden sich mindestens 2 Jahre nach der Meno -<br />

pause und erhielten keine ERT. Patientinnen, deren<br />

Me no pause noch keine 2 Jahre zurücklag oder die in<br />

den 6 Monaten vor der Untersuchung eine ERT erhalten<br />

hatten, wurden ausgeschlossen.<br />

Die Kontrollgruppe. – Diese Gruppe bestand aus un -<br />

be handelten, gesunden freiwilligen Versuchspersonen,<br />

die keine FSD-Diagnose aufwiesen, ähnliche demographische<br />

Eigenschaften hatten und in ihrem Alter (±<br />

5 Jahre) den östrogenbehandelten und östrogendefizienten<br />

Frauen in den oben genannten Studien entsprachen.<br />

Die Kontrollpersonen für die Untersuchung bei<br />

östrogenbehandelten Frauen mussten mindestens 18<br />

Jahre alt sein, die Menopause vor oder hinter sich<br />

haben und eine ERT bekommen. Die Kontrollper so -<br />

nen für die Untersuchung bei östrogendefizienten<br />

Frau en mussten 50 bis 60 Jahre alt sein und die Meno -<br />

pause länger als 2 Jahre seit der letzten Men stru a -<br />

tionsperiode hinter sich haben.<br />

Die Freiwilligen absolvierten insgesamt 2 Termi -<br />

ne, zu Beginn der Untersuchung und 4 Wochen später,<br />

bei denen sie die Checkliste zur Lebensqualität (Life<br />

Sa tisfaction Checklist – LSC) und den 31-Punkte-Fra -<br />

gebogen zur sexuellen Funktion (Sexual Function<br />

Ques tionnaire – SFQ) ausfüllten. Darüber hinaus protokollierten<br />

sie in den 4 Wochen ihre sexuellen


Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 119<br />

Aktivitäten. Gesunde Freiwillige wurden auch zur<br />

wei teren Validierung des SFQ hinzugezogen, dessen<br />

Entwicklung von Quirk (2002) beschrieben wird.<br />

Ablauf. – Beide FSD-Studien bestanden aus einer 4-<br />

wöchigen Anlaufphase ohne Behandlung mit einer an -<br />

schließenden 12-wöchigen doppelblinden Ver suchs -<br />

phase in Parallelgruppen. Nach den 4 Wochen wurden<br />

die Patientinnen mit einem computergenerierten Pseu -<br />

do-Zufallscode nach der Methode zufällig permutierter<br />

Blöcke in 1 von 4 Behandlungsgruppen eingeteilt.<br />

Da die unterschiedlich starken Sildenafil-Tabletten<br />

nicht das gleiche Aussehen hatten, gab es für jede der<br />

drei Stärken entsprechende Placebo-Tabletten zur Ge -<br />

währleistung des Blindheitsprinzips. Die Testme -<br />

dikamente wurden doppelblind und doppelt fiktiv verpackt.<br />

Die Forscher erhielten versiegelte Umschläge<br />

mit den Randomisierungscodes, so dass sich das<br />

Blind heitsprinzip in einzelnen Fällen notfalls aufheben<br />

ließ. Nach Aufhebung des Blindheitsprinzips zu -<br />

standegekommene Wirkungsdaten wurden aus der<br />

Ana lyse ausgeschlossen.<br />

In der Studie mit östrogenbehandelten Frauen<br />

wur den die Patientinnen zu Einnahme von 10, 50 oder<br />

100 mg Sildenafil oder eines entsprechenden Placebo<br />

nach Vorschrift, aber nicht öfter als einmal täglich<br />

ungefähr 1 Stunde vor der sexuellen Aktivität randomisiert.<br />

In der Studie mit östrogendefizienten Frauen<br />

wurden die Patientinnen zur Einnahme von 50 mg Sil -<br />

denafil oder eines entsprechenden Placebo randomisiert,<br />

wobei die Dosis je nach Wirkung und Ver -<br />

träglichkeit auf 25 oder 100 mg korrigiert werden<br />

konn te. Die Patientinnen absolvierten insgesamt 5<br />

Termine: einen zur Voruntersuchung, einen zu Unter -<br />

suchungsbeginn (0. Woche) und weitere Termine 4, 8<br />

und 12 Wochen später. Zusätzlich wurde für alle Pa -<br />

tien tinnen, die die Behandlung aufgrund von Neben -<br />

wirkungen oder behandlungsbedingten Laboranoma -<br />

litä ten abbrachen, ein Folgetermin in der 14. Woche<br />

ver einbart.<br />

Einschätzung der Wirkung. – In der 12. oder letzten<br />

Behandlungswoche wurde die Wirkung durch Analyse<br />

der Antworten auf eine Reihe von Fragen eingeschätzt.<br />

Zwei Fragen zur allgemeinen Wirksamkeit<br />

(global efficacy questions – GEQs) wurden gestellt:<br />

„Haben sich die körperlichen Reaktionen bei der sexuellen<br />

Aktivität durch die Behandlung verbessert?“<br />

(GEQ1) und: „Hat sich die Fähigkeit zum Ge -<br />

schlechts verkehr durch die Behandlung verbessert?“<br />

(GEQ2) Die Life Satisfaction Checklist (LSC), bestehend<br />

aus 4 Fragen an die Patientinnen und ihre Part -<br />

ner, wurde bei der Voruntersuchung, zu Behand lungs -<br />

beginn und in der 12. Woche ausgewertet. Zusätzlich<br />

führten die Patientinnen ab der 4-wöchigen Anlauf -<br />

phase während der gesamten 12-wöchigen Studie Pro -<br />

tokoll über ihre sexuellen Aktivitäten.<br />

Statistische Analyse. – Der Umfang der für die Studie<br />

zugrundegelegten Stichprobe von östrogenbehandelten<br />

Frauen wurde danach berechnet, dass die Ant wort -<br />

quoten der Placebo-Gruppe und der aktiv behandelten<br />

Gruppe bei der ersten GEQ um 20% differierten, so dass<br />

man von einer Aussagekraft von 80% und von einer 5-<br />

prozentigen Fehlerquote erster Art ausgehen kann.<br />

Das Sample wurde auf 107 Patientinnen pro Gruppe,<br />

d.h. auf insgesamt 428 Patientinnen kalkuliert. Bei<br />

einer angenommenen Ausfallquote von 20% waren für<br />

die Stichprobe 535 Patientinnen erforderlich.<br />

Die Umfangsberechnung der Stichprobe von ös -<br />

tro gendefizienten Frauen basiert auf einer antizipierten<br />

Antwortquote auf die erste GEQ von 55% in der<br />

Sildenafil-Gruppe und von 30% in der Placebo-Grup -<br />

pe (d.h. auf einer Differenz von 25%), so dass man<br />

von einer Aussagekraft von 80% und von einer 5-prozentigen<br />

Fehlerquote erster Art ausgehen kann. Das<br />

Sample wurde auf 69 Patientinnen pro Gruppe, d.h.<br />

auf insgesamt 138 Patientinnen berechnet. Bei einer<br />

an genommenen Ausfallquote von 20% waren für die<br />

Stichprobe 174 Patientinnen erforderlich.<br />

Die statistischen Analysen sämtlicher Wirkungen<br />

und Nebenwirkungen wurden anhand der Intent-totreat-Population<br />

durchgeführt. Alle statistischen Tests<br />

erfolgten auf einem 5%-igen Signifikanzniveau und<br />

wa ren zweiseitig. Die binären Daten wurden mit logistischer<br />

Regression analysiert. Andere Daten wurden<br />

mit einer Kovarianzanalyse (ANCOVA) ausgewertet;<br />

nur die Aktivitätsprotokoll-Fragen zur Lubrikation und<br />

zur sexuellen Gefühlswahrnehmung wurden nach dem<br />

Cochran-Mantel-Haensel-Test ausgewertet, der in diesem<br />

Falle geeigneter schien. Alle statistischen Mo del -<br />

le enthielten Angaben zur Behandlungsgruppe, zur Ba -<br />

seline, zum Institut, zur Hospital Anxiety and De pres -<br />

sion Scale, zum Körpergewichtsindex (BMI), zur Dau -<br />

er der Symptome, zum Raucherstatus, zur Pri mär stö -<br />

rung und zu Kovarianten der Alkoholauf nah me. Bei<br />

Mehrfachvergleichen zwischen einzelnen Do sie rungs -<br />

gruppen im Rahmen des ANCOVA-Modells wurde<br />

zur Generierung von 95%-Konfidenz-Inter val len der<br />

Tukey’sche Mehrfachvergleichstest herangezogen.<br />

Ergebnisse<br />

Demographie. – In zwei getrennten Studien wurden<br />

577 östrogenbehandelte und 204 östrogendefiziente<br />

Frauen für die Behandlung randomisiert. Die demographischen<br />

Baseline-Daten beider Gruppen sieht<br />

man in Tab. 1. Die Patientinnen waren in beiden Stu -


120 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />

dien zu 98% weiß; die restlichen 1% waren schwarz,<br />

asiatischer oder sonstiger Herkunft. Obwohl bei allen<br />

Frauen FSAD diagnostiziert wurde, war dies nur bei<br />

48% (43–52%) das primäre Problem. HSDD, FOD<br />

und Dyspareunie waren demgegenüber bei 28% (25–<br />

31%), 14% (5–21%) und 11% (6%–16%) die<br />

Primärdiagnose (Tab. 1).<br />

Einschätzung der Sexualfunktion. – Am Ende der<br />

Stu die (in der 12. Woche) beantworteten die Patien -<br />

tinnen, die für die Einnahme von 10, 50 oder 100 mg<br />

(östrogenbehandelte Frauen) oder 50 mg Sildenafil<br />

(östrogendefiziente Frauen) oder eines entsprechenden<br />

Pla cebo randomisiert worden waren, die Fragen<br />

GEQ1: „Haben sich die körperlichen Reaktionen bei<br />

der sexuellen Aktivität durch die Behandlung verbessert?“<br />

und GEQ2: „Hat sich die Fähigkeit zum Ge -<br />

schlechts verkehr durch die Behandlung verbessert?“<br />

(Tab. 2) Der Prozentsatz der Frauen, die beide Fragen<br />

mit Ja be antwortet haben, lag bei östrogenbehandelten<br />

und östrogendefizienten Frauen mit Sildenafil- oder<br />

Pla cebobehandlung im gleichen Spektrum von 33-<br />

49%. Die Wirkungen differierten zwischen beiden<br />

Gruppen nur wenig, und die Unterschiede waren statistisch<br />

nicht signifikant.<br />

Weitere vorliegende Daten betrafen die Antworten<br />

zu den Aktivitätsprotokollen (Abb. 1, 2), die LSC<br />

(Abb. 3) und den SFQ. Die Antworten auf 3 Fragen zu<br />

den sexuellen Aktivitätsaufzeichnungen, zu dem<br />

Punkt, der sich in der LSC auf die Zufriedenheit mit<br />

dem Sexualleben bezieht, und zum SFQ ließen keine<br />

statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Silde -<br />

nafil- und Placebo-Gruppe erkennen.<br />

Nebenwirkungen. – Die mittlere Anzahl der eingenommenen<br />

Dosen war in allen Gruppen vergleichbar<br />

und lag zwischen 15 und 21. Die wichtigsten Neben -<br />

wirkungen (AE) waren Kopfschmerzen und Hitze -<br />

wallungen, seltener Rhinitis, Übelkeit, Sehstörungen<br />

und Dyspepsie. Die Häufigkeiten sieht man in Tab. 3.<br />

Die AE waren im allgemeinen leicht bis mäßig. In der<br />

Gruppe der östrogenbehandelten Frauen gab es eine<br />

ernste AE (Menorrhagie), die der Untersuchungsleiter<br />

auf die Behandlung zurückführte. Die Zahl der Patien -<br />

tinnen, die den Versuch aufgrund von AE abbrachen,<br />

ist aus Tab. 3 zu entnehmen.<br />

Tab. 1: Demographische Basisdaten


Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 121<br />

Bewertung<br />

Sildenafil wurde in diesen beiden 12-wöchigen Stu -<br />

dien zur Einschätzung der Wirksamkeit und Unbe -<br />

denk lichkeit (10-100 mg) bei Frauen vor und nach der<br />

Menopause gut vertragen, es war aber nicht festzustel -<br />

len, dass das Medikament die sexuelle Reaktion bei<br />

ös trogenbehandelten oder östrogendefizienten Frauen<br />

mit einer Vielzahl von sexuellen Dysfunktionen verbessert.<br />

Auch in einer früheren Studie, in der Silde -<br />

nafil ohne Plazobo-Kontrolle getestet wurde, hat die<br />

Be handlung bei Frauen mit nicht genau definierter<br />

FSD die vaginale Lubrikation und die klitorale Sen -<br />

sitivät nicht verbessert (Kaplan et al. 1999). Mögliche<br />

Erklärungen für diese offensichtliche Unwirksamkeit<br />

könnten eine unvollständige Titration der Dosierung,<br />

eine unzureichende Behandlungsdauer und die Be -<br />

rücksichtigung eines zu breiten FSD-Spektrums sein.<br />

Man sollte festhalten, dass die Patientinnen in den<br />

zwei hier beschriebenen Studien eine heterogene Po -<br />

pu lation repräsentierten, indem nur 40-50% eine<br />

FSAD-Primärdiagnose hatten, während bei den übrigen<br />

Frauen primär HSSD und FOD diagnostiziert<br />

wur de. Auch dürfte eine weitere Subtypisierung von<br />

FSAD notwendig sein (Basson 2000, 2001), um ge -<br />

eignete Patientinnengruppen auszuwählen, die von<br />

einer Vasodilatationsbehandlung profitieren könnten –<br />

d.h. Frauen mit fehlender oder zu geringer genitaler<br />

Erregung (zu geringem Blutandrang) im Gegensatz zu<br />

fehlender subjektiver Erregung. Genitale Erre gungs -<br />

störungen beinhalten die mangelnde Lubrikation und/<br />

oder unzureichende Entspannung der glatten Vaginal -<br />

mus keln (female genital arousal disorder – vaginal)<br />

und die fehlende vulväre Kongestion, die unmittelbar<br />

als genitales Kribbeln/Pulsieren oder indirekt durch<br />

zu nehmende sexuelle Lustempfindungen aufgrund<br />

von genitaler Stimulation wahrgenommen wird (female<br />

genital arousal disorder – vulval). Zu den Frauen,<br />

die von der Behandlung mit vasoaktiven Wirkstoffen<br />

am meisten profitieren könnten, gehören diejenigen,<br />

die sexuell motiviert sind, auf mentaler Ebene sexuell<br />

erregt sind und das sexuelle Interesse behalten, die<br />

aber trotz der benötigten emotionalen Intimität und se -<br />

xuellen Stimulation nicht mit demselben vulvären und<br />

vaginalen Blutandrang reagieren, den sie früher direkt<br />

oder indirekt genossen haben. Das gilt nicht für die<br />

Mehrheit der Frauen mit FSAD-Diagnose, die über<br />

fehlende subjektive Erregung klagen und keine geni-<br />

Tab. 2: Prozentsatz der Ja-Antworten auf zwei Fragen zur Allgemeinwirkung (GEQ)<br />

Tab. 3: Behandlungsbedingte Nebenwirkungen (AE)


122 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />

Abb. 1A: Protokoll der sexuellen Aktivitäten: Lubrikation. Während der 12-wöchigen<br />

Untersuchung protokollierten die Frauen ihre sexuellen Aktivitäten und beantworteten<br />

drei allgemeine Fragen. Die Schaubilder zeigen anhand der Antworten auf<br />

Frage 1: „Gab es Probleme mit der Lubrikation?“ die Anzahl der Patientinnen, nach<br />

deren Angaben nie, zu 0–25%, zu 25–50%, zu 50–75%, zu 75–100% oder immer<br />

Lubrikationsprobleme auftraten. Die Antworten stellen die Mittelwerte für die letzten<br />

4 Wochen der Studie dar. (Sild = Sildenafil)<br />

Frauen mit Östrogenmangel<br />

Frauen mit Östrogenbehandlung<br />

Abb. 1B: (Fortsetzung) Genitale Gefühlswahrnehmung. Die Schaubilder zeigen<br />

anhand der Antworten auf Frage 2: „Haben sie ein Kribbeln/Pulsieren im<br />

Genitalbereich verspürt?“ die Zahl der Patientinnen, nach deren Angaben sich nie,<br />

zu 0–25%, zu 25–50%, zu 50–75%, zu 75–100% oder immer genitale Gefühle<br />

eingestellt haben. Die Antworten stellen die Mittelwerte für die letzten 4 Wochen<br />

der Studie dar. (Sild = Sildenafil)<br />

Number of Patients<br />

Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit Lubrikationsproblemen<br />

Frauen mit Östrogenmangel<br />

Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit Lubrikationsproblemen<br />

Frauen mit Östrogenbehandlung<br />

Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit genitaler Gefühlswahrnehmung<br />

Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit genitaler Gefühlswahrnehmung<br />

tale Reaktion wahrnehmen. Psychophysiologische<br />

Stu dien haben wiederholt gezeigt, dass der objektiv<br />

festgestellte genitale Blutandrang in der Reaktion auf<br />

visuelle erotische Reize bei Frauen mit FSAD-Dia -<br />

gnose ähnlich ist wie bei Frauen ohne FSAD, dass<br />

aber nur letztere die visuellen Reize als subjektiv erregend<br />

schildern (Laan et al. 1995, Laan & Everaerd<br />

1998, Morokoff & Heiman 1980, Palace & Gorzalka<br />

1990).<br />

Das Phänomen der Frauen, denen ihre genitale Re -<br />

ak tion egal ist – was durchaus vorkommt – oder für<br />

die diese Reaktion zwar vorhanden, aber nicht mit<br />

Lust verbunden ist, dürfte komplexer Natur sein und<br />

ist uns gegenwärtig nicht besonders klar. Man sollte<br />

festhalten, dass die zwei vorliegenden Studien nicht<br />

nur lediglich 40-50% Frauen mit FSAD-Primär -<br />

diagnose umfassten, sondern dass die Untersuchungs -<br />

leiter auch angewiesen waren, keine Frauen mit aus -<br />

schließlich genitaler (statt mentaler) Erregungsstörung<br />

aufzunehmen. Eine kleinere Studie (Caruso et al.<br />

2001) hat neuerdings die Wirksamkeit von Sildenafil<br />

bei Frauen vor der Menopause mit genitaler FSAD-<br />

Diagnose nachgewiesen.<br />

Die Nebenwirkungen erwiesen sich als vergleichbar<br />

mit den bei Männern festgestellten AE (Morales et<br />

al. 1998, Steers 1999); allerdings traten bei der 100<br />

mg-Dosis mehr Hitzewallungen, Kopfschmerzen und<br />

Sehstörungen (bei östrogenbehandelten Frauen) auf.<br />

Die AE waren jedoch zumeist vorübergehender und<br />

leichter bis mäßiger Natur.<br />

Zum besseren Verständnis der FSD zugrundeliegenden<br />

Vorgänge, ihrer Klassifikation und entsprechender<br />

Untergruppen von FSAD bedarf es weiterer<br />

Forschung. FSAD tritt bei Frauen normalerweise nicht<br />

allein auf, weil sich „Erregung“ und Verlangen in der<br />

Regel gleichzeitig einstellen oder beide zusammen<br />

fehlen (Laumann et al. 1999, Basson 2000, Basson et<br />

al. 2000, Leiblum 1998, Segraves & Segraves 1991,<br />

Ro sen et al. 1993). Bestimmte Untergruppen von<br />

Frau en können aus dem Geschlechtsverkehr zwar Ver -


Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 123<br />

langen und mentale Erregung beziehen, aber trotzdem<br />

eine bekannte neurologische Störung der genitalen Er -<br />

regungsreaktion aufweisen. Solche Frauen würden<br />

wahr scheinlich von einer Medikation wie Sildenafil<br />

profitieren, was durch neuere Forschungen an Frauen<br />

mit Wirbelsäulenschäden bestätigt wird (Sipski et al.<br />

2000).<br />

Konsequenzen<br />

Die Anwendung von Sildenafil bei Frauen mit breitem<br />

FSD-Spektrum wurde im allgemeinen gut vertragen,<br />

hatte aber im Vergleich zu Placebo keine besseren<br />

Wir kungsparameter. In Zukunft sollten spezifischere<br />

Un tergruppen von Frauen – besonders solche mit er -<br />

worbenem Verlust an physiologisch-genitaler Erre -<br />

gung, aber potenziell noch vorhandener Erregbarkeit<br />

durch sexuelle Reize – auf einen möglichen therapeutischen<br />

Nutzen von Sildenafil untersucht werden. Ein<br />

besseres Verständnis der verbreiteten Disharmonie<br />

von mentaler und genitaler Reaktion bei einer großen<br />

Zahl von erregungsgestörten Frauen ist dringend von -<br />

nöten.<br />

Danksagungen<br />

Principal Investigators: 148-374. Australien: R. Gil -<br />

bert, B. Stuckey, D. Cherry, R. McInnes. Kanada: R.<br />

Bas son. Dänemark: G. Wagner. Finnland: A. Pihlas -<br />

vaara, K. Juntunen, O. Hovatta, M. Räsänen, A.-M.<br />

Suik kari. Frankreich: J. Buvat, R. Virag, F. Hedon, C.<br />

Ho norat, M. Buvat-Herbaut. Deutschland: G. Prager,<br />

C. Rüffer-Hesse, G. Kockott, H. Sasse, D. Roeder, J.<br />

Stix, W. Müller-Holve, M. Linhardt, J. Herold, A.<br />

Brze zinka, M. Baumgärtner, W. Albrich, W. Alberti,<br />

H. Csef, J.E. Altwein, W. Weig, K.M. Beier, W. Ber -<br />

ner, H. Porst, H. Pittermann, T. Moesler, M. Schwarz,<br />

T. Kränzlin. Italien: A. Genazzani, P. Bolis, P. Crosig -<br />

nani, S. Venturoli, C. Benedetto. Niederlande: W.<br />

Wei jmar-Schultz, P. Weijenborg, R. Van Lunsen, W.<br />

Fon teijn. Norwegen: M. Andersen, K. Purvis, T. Enge -<br />

bretsen. Schweden: A. Fugl-Meyer, T. Höjerback, B.<br />

Gus tavii Koskinen, I. Sjöberg, A. Fianu-Jonasson, B.<br />

Wijma, B. Sjögren. Großbritannien: J. Dewsbury, W.<br />

Guir guis, A.J. Riley, A.J. Smithers, A. Jones, C. Mar -<br />

gon, J.R. Sutherst, M.C. Slack, S. Taylor, R. Thomp -<br />

son. 148-375. Australien: B. Stuckey. Canada: M.<br />

Stei ner, S. Holzapfel, R. Casey.<br />

Principal Investigators: 148-376. Australien: B.<br />

Stuckey, R. McInnes, D. Cherry. Österreich: M. Sator.<br />

Kanada: S. Holzapfel, M. Steiner, R. Casey. Finn -<br />

land: A. Pihlasvaara, K. Juntunen, M. Räsänen, A.-M.<br />

Suikkari, D. Apter. Deutschland: C. Rüffer-Hesse, G.<br />

Kockott, J. Herold, H. Csef, H. Porst, H. Pittermann,<br />

Abb. 2: Protokoll der sexuellen Aktivitäten: Lust. Dieses Schaubild zeigt die<br />

Antworten auf Frage 3: „Wieviel Lust haben Sie bei dieser sexuellen Aktivität verspürt?“<br />

Die Antworten orientierten sich an einer Skala von 1 bis 5, wobei 5 das<br />

größte Lustempfinden bedeutet. Es handelt sich um Mittelwerte für die letzten 4<br />

Wochen der Studie. (Sild = Sildenafil)<br />

Abb. 3: Checkliste zur Lebenszufriedenheit (LSC). Dargestellt wird die Zufriedenheit<br />

mit dem Sexualleben für Frauen mit Östrogenbehandlung und mit Östrogenmangel,<br />

die für eine Behandlung mit Sildenafil oder mit einem entsprechenden Placebo randomisiert<br />

wurden (oben) und für ihre Partner (unten). Die Antworten rangieren auf<br />

einer qualitativen Skala von 1 (sehr unbefriedigend) bis 6 (sehr zufriedenstellend).<br />

Die nach 12 Wochen erzielten Ergebnisse werden als prozentuale Veränderungen<br />

ausgedrückt.


124 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />

T. Moesler, T. Kränzlin, L. Maier. Norwegen: M. An -<br />

dersen, K. Purvis, T. Engebretsen. Südafrika: B.<br />

Levin son, M. Moss. Großbritannien: P.D. Kell, A.J.<br />

Smithers, J.R. Sutherst, S. Taylor, K. Young, S. Bar -<br />

nard, J.E. Miller, J. Robinson. 148-377. Australien: B.<br />

Stuckey. Kanada: S. Holzapfel, M. Steiner, R. Casey.<br />

Südafrika: A. Jacovides.<br />

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Korrespondenz-Adresse der Autoren<br />

Rosemary Basson, M.D., M.R.C.P., Vancouver Hospital and Health Sciences Center, Sexual Medical Unit, 855 West 12th Avenue, Vancouver,<br />

British Columbia V5Z 1M9, Canada, Tel. 604-875-8254, Fax: 604-875-8249, mail: Sexmed@interchange.ubc.ca


Fortbildung<br />

Sexuologie<br />

(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe<br />

in therapeutischen Situationen<br />

Walter Dmoch<br />

Countertransference and Sexual<br />

Medicine. Crossover in Therapy<br />

Situations<br />

Im Sommer 1994 erschien folgender Artikel in der<br />

Rhei nischen Post:<br />

Die Frauenberatungsstelle Neuss sucht nach<br />

Betroffenen<br />

Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie<br />

Im August 1994 wandten sich zwei Frauen an die<br />

Frau enberatungsstelle Neuss und berichteten, von<br />

einem seit langem in Neuss ansässigen Psychologen-<br />

Psychothera peuten während der Psychotherapie se xu -<br />

ellen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Nach<br />

einer Anfrage bei der „Frauenberatungsgruppe gegen<br />

Sexuellen Missbrauch Neuss und Kaarst“ stellte sich<br />

heraus, daß der Name des Therapeuten dort in Zu sam -<br />

menhang mit ähnlichen Vorwürfen schon mehr fach<br />

be kannt war.<br />

Was war vorgefallen?<br />

Unter dem Vorwand, Entspannungs- und Verhal -<br />

tens therapie zu betreiben, verlangte der Psychologe<br />

teils von Beginn der Therapie an, daß die Klientinnen<br />

sich ausziehen müßten, faßte ihnen auch an die Brust<br />

und an die Genitalien. Das ging sogar soweit, daß er<br />

seinen Finger in die Scheide einer Klientin einführte.<br />

Bei Nachfrage und Widerstand der Klientinnen gab er<br />

an, dass dies alles nötig wäre, da es sonst keine Hei -<br />

lung für sie gäbe. Darüber hinaus setzte er langsam<br />

und kontinuierlich die Klientinnen immer mehr unter<br />

Druck und versuchte so, ihre Gegenwehr zu verhindern.<br />

Diese Frauen werden jetzt Anzeige erstatten und<br />

sich damit wehren. Und sie wollen alle Frauen, die<br />

unsicher sind und vielleicht ähnliches erlebt haben,<br />

ermutigen, sich in der Frauenberatungsstelle zu melden,<br />

damit sie Entlastung und Unterstützung finden.<br />

Es folgte die Adresse und Telefonnummer der Frauenberatungsstelle.<br />

Obwohl sich eine größere Anzahl Betroffener zusammenfand<br />

und hier eine Vielfalt von Übergriffen ge -<br />

schildert wurde, kam es aufgrund der schwachen Be -<br />

weis lage zu Ermittlungen, nicht aber zu einer Ankla -<br />

ge; der Beschuldigte wurde aber von einer Männer -<br />

gruppe zu einem Gespräch eingeladen, zu dem er auch<br />

erschien, und es wurde ihm freundlich „unter Män -<br />

nern“ zu einer korrigierenden Therapie geraten; er<br />

stritt alles ab und sprach von einer Rachekampagne<br />

von Feministinnen.<br />

Wie Peters in einer Untersuchung über Fehlver hal -<br />

ten bei Therapeuten berichtete, sollen nach Reich<br />

nicht selten auch Analytiker unter dem Vorwand einer<br />

medizinischen Untersuchung „ihre Finger in die Va -<br />

gina” ihrer Patientinnen eingeführt haben (Peters<br />

1977).<br />

Es handelt sich offenbar um ein Sprengstück einer<br />

Instinkthandlung im Sinne von Bilz, der dies ein „In -<br />

stinktradikal“ nannte (1944); solche rudimentären in -<br />

stinktiven Antriebe prädisponieren zu unreflektiertem<br />

Handeln. Elemente solcher Instinktradikale lassen<br />

sich auch im Prozess von Übertragung und Gegen -<br />

übertragung ausmachen. Diese Sicht legt auch die vergleichende<br />

Verhaltensforschung (Eibl-Eibesfeld 1977)<br />

nahe.<br />

Man könnte befürchten, dass solche Übergriffe be -<br />

sonders dort erfolgen, wo sich Beratung bzw. Therapie<br />

direkt auf das Thema Sexualität fokussieren. Auch<br />

wenn sexualmedizinische Beratungen und Behand -<br />

lungen schon aufgrund ihrer zeitlichen Kürze meist<br />

das Geschehen in Übertragung und Gegenübertragung<br />

wenig oder gar nicht therapeutisch nutzen, treten diese<br />

Phänomene doch regelhaft auf und sind im Interak -<br />

tions prozess zu beachten. Sie können auch der therapeutischen<br />

Person helfen, die professionellen Grenzen<br />

zu bewahren, innerhalb derer Beratung und Therapie<br />

mög lich werden.<br />

Das betrifft prinzipiell auch die In ter aktionen beim<br />

Paargespräch, welches nach Mög lichkeit den Standard<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 125 – 136 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


126 W. Dmoch<br />

z.B. bei der Behandlung sexueller Funktionsstörungen<br />

darstellen sollte, auch wenn dieses Setting per se die<br />

Gefahr sexueller Übergriffe im Vergleich zu Einzel -<br />

gesprächen äusserst un wahrscheinlich erscheinen<br />

lässt. Übergriffe wie die ein gangs geschilderten lassen<br />

sich in ihrer Dynamik mit Hilfe des Übertragungskonzepts<br />

in ihrer Tendenz verstehen und als Fehl(be) -<br />

handlungen vermeiden. Daher soll die Entwicklung<br />

dieses therapeutischen Konzepts der Übertragung im<br />

Zusammenhang mit der Übergriffsproblematik dargestellt<br />

werden; auch historisch sind Zusammenhänge zu<br />

beschreiben.<br />

Der Verdacht oder konkrete Vorwurf, mit Abhän -<br />

gigen oder Schutzbefohlenen unerlaubte, oft sexuell<br />

konnotierte oder gar eindeutig sexuelle Handlungen<br />

durchgeführt zu haben, ist nicht neu und betrifft keineswegs<br />

nur klerikale Verhältnisse, wie jüngste Pres -<br />

se meldungen nahe legen könnten. Schon in Zeiten be -<br />

vor es eine formelle Psychotherapie gab, verdächtigte<br />

man den Hypnotiseur Friedrich Anton Mesmer (Be -<br />

gründer des animalischen Magnetismus), dass er seine<br />

„magnetischen“ Fähigkeiten missbraucht habe. Er<br />

muss te wegen verschiedener Verfolgungen seine Tä -<br />

tigkeit vom Bodensee nach Paris verlegen, aber auch<br />

dort gab es alsbald Anlass zu Zweifeln an seiner Be -<br />

handlungsweise: Beunruhigt über diese neue Behand -<br />

lungsform ließ Ludwig XVI 1784 eine Kom mis sion<br />

prüfen, ob der so genannte Mesmerismus zur Verfüh -<br />

rung von Frauen missbraucht werden könnte, was<br />

schließ lich auch bejaht wurde.<br />

Um Entgleisungen der therapeutischen Beziehung<br />

in Richtung von Missbrauchsverhalten zu verstehen,<br />

ist ein Blick in die Entwicklung der psychoanalytischen<br />

Therapie nützlich; denn hier ist die Theorie der<br />

Gesprächsführung und der Arzt-Patienten-Beziehung<br />

am weitesten elaboriert und daher kann man Orientie -<br />

rungshilfen für die Gestaltung der Beratungs- und Be -<br />

handlungssituationen auch in der Sexualmedizin ge -<br />

winnen.<br />

Auch die Anfänge der Psychoanalyse waren von<br />

Übertragungsproblemen und Agieren in der Therapie<br />

geprägt, für die man zunächst keine Begrifflichkeit<br />

und keine Erklärung hatte. So heißt es, Joseph Breuer<br />

habe die Behandlung der „Anna O“ (Berta Pappen -<br />

heim) aus Erschrecken über deren stürmische Übertragungsliebe<br />

– u. a. symptomatisches Inszenieren von<br />

Koitus-Pantomime, Scheinschwangerschaft und Ge -<br />

burtswehen – abgebrochen. In seinem Vortrag Zur<br />

Ätiologie der Hysterie (1896) vertrat Siegmund Freud<br />

die aus der Behandlung von Neurotikern ge wonnene<br />

Ansicht, hysterische Erkrankungen beruhten auf in der<br />

Kindheit aufgetretenen „sexuellen Erlebnis sen von<br />

vorzeitiger sexueller Erfahrung“. Dabei verwies er auf<br />

die ein Jahr zuvor mit Breuer publizierten Theoriebil -<br />

dungen über symptomauslö sen de Traumata aus den<br />

Studien über Hysterie: „So muss man an die bedeutsame<br />

Entdeckung Josef Breu ers anknüpfen, dass die<br />

Symp tome der Hysterie ihre Determinierung von (..)<br />

traumatisch wirksamen Erleb nis sen der Kranken herleiten.“<br />

Dabei gehe es nach seinem Verständnis um<br />

tat sächliche „sexuelle Erfahrun gen am eigenen Leib,<br />

um geschlechtlichen Verkehr.“<br />

Im gleichen Vortrag gliederte er die Verführungs -<br />

fälle in drei Gruppen: Sexuelle Attentate seitens fremder<br />

oder fernstehender Erwachsener, sexuelle Verfüh -<br />

run gen seitens Pflege- und Erziehungspersonen und<br />

sogenannte Kinderverhältnisse unter etwa gleichaltrigen<br />

Geschwistern.<br />

Obwohl sich Freud aus verschiedenerlei Rück -<br />

sichtnahmen später von dieser Auffassung einer se -<br />

xualtraumatischen Genese neurotischer Symptome<br />

dis tanzierte und statt dessen postulierte, unbewusste<br />

Phantasien seien die Quelle hysterischer Symptom -<br />

bildungen, wird dennoch zweierlei deutlich: dass die<br />

sexuell-traumatische Genese neurotischer Krankheits -<br />

bilder bereits seit über hundert Jahren bekannt ist und<br />

zugleich wird eine auf das Erkennen folgende vielfach<br />

motivierte Abwehr sichtbar.<br />

In seiner Vorlesung zur Einführung in die Psy cho -<br />

analyse (1917) bezeichnete Freud die erotischen Ge -<br />

fühle, welche seine Patientinnen ihm gegenüber zu er -<br />

kennen gaben, mit dem Begriff der „Übertragung“. In<br />

seiner Traumdeutung wird der Übertragungsbegriff<br />

aus gedehnt und als „Affektübertragung“ beschrieben.<br />

Freud ließ keinen Zweifel daran, dass der Analytiker<br />

diese neurotischen Liebeswünsche der Patienten we -<br />

der befriedigen noch ausnutzen oder gar in sexuelle<br />

Be ziehungen entarten lassen dürfe; das weist darauf<br />

hin, dass es Anlass zu solchen Warnungen gegeben<br />

haben muss. Zu den zuweilen überraschend auftauchenden<br />

Erscheinungsformen der Übertragung und<br />

ihrer zuweilen impulshaften Eigenart beschrieb Freud<br />

in seiner Selbstdarstellung (1925) eine eigene Erfah -<br />

rung:<br />

„Als ich einmal eine meiner gefügigsten Patien -<br />

tinnen, bei der die Hypnose die merkwürdigsten<br />

Kunst stücke ermöglicht hatte, durch die Zurückfüh -<br />

rung ihres Schmerzanfalls auf seine Veranlassung von<br />

ihrem Leiden befreite, schlug sie beim Erwachen ihre<br />

Arme um meinen Hals. Der unvermutete Eintritt einer<br />

dienenden Person enthob uns einer peinlichen Aus -<br />

einandersetzung, aber wir verzichteten von da an in<br />

still schweigender Übereinkunft auf die Fortset zung<br />

der hypnotischen Behandlung. Ich war nüchtern ge -<br />

nug diesen Zufall nicht auf die Rechnung meiner persönlichen<br />

Unwiderstehlichkeit zu setzen und meinte,<br />

jetzt die Natur des mystischen Elements, welches hinter<br />

der Hypnose wirkte, erfasst zu haben. Um es aus -


(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 127<br />

zuschließen oder wenigstens zu isolieren, mußte ich<br />

die Hypnose aufgeben“ (52).<br />

Auch wenn die <strong>Literatur</strong> die Geburtsstunde der<br />

Psy choanalyse meist mit der Behandlung von „Anna<br />

O“ und deren Erfindung der „talking cure“ datiert, die<br />

Formulierung einer eigentlichen psychoanalytischen<br />

Therapietheorie beginnt erst mit Freuds berühmten<br />

„Fall Dora“ (Ida Bauer), bei deren Behandlung Freud<br />

rückblickend erkannte, dass die Therapie scheitern<br />

muss te, weil ihm die eigentümliche „Übertragung“<br />

der Patientin nicht klar geworden war. Freud meinte,<br />

seine Patienten litten an „Reminiszenzen“, an Erinne -<br />

rungen aus früheren Traumata, die sie in einem Zwang<br />

zur Wiederholung szenisch und mit der Tendenz zum<br />

Agieren zu bewältigen suchten. Alle Gefühls ein stel -<br />

lungen von Seiten der Patienten, die eigentlich Per -<br />

sonen in früheren Beziehungen gelten und daher der<br />

aktuellen Bezogenheit inadäquat sind, gleichwohl<br />

unausweichlich in sie eingebracht werden, bezeichnete<br />

er als „Übertragung“.<br />

Greenson (1973) charakterisiert die Übertragung<br />

als einen „Irrtum in der Zeit“. und meint, dass in diesem<br />

„Anachronismus“ das Geheimnis der Neurose<br />

versteckt liege. Dementsprechend sieht er die Deutung<br />

der Übertragungen als den wichtigsten Bestandteil<br />

jeder psychoanalytischen Behandlung.<br />

Heute meint fast jedermann zu wissen, psychoanalytische<br />

Therapie bestehe wesentlich im „Deuten“, in -<br />

dem vorhandene aktuelle Konflikte auf frühkindliche<br />

Geschehnisse zurück geführt würden. Diese Vor stel -<br />

lung ist nicht völlig falsch, aber unvollständig und<br />

schief, denn auch kognitiv orientierte Beratungen und<br />

jede Therapierichtung enthalten sowohl Übertragungsphänomene<br />

als auch Deutungen seitens der therapeutischen<br />

Person. Es ist nahezu unmöglich, in therapeutischen<br />

und beratenden Begegnungen nicht<br />

Interpretationen (Deutungen) von Einstellungen und<br />

Verhaltensmustern zu nutzen. Um zu einer therapeutisch<br />

nutzbaren Deutung zu gelangen, muss der The -<br />

rapeut aber mit sehr viel Feingefühl nicht nur auf alles<br />

achten, was der Patient ihm entgegenbringt, sondern<br />

mit Innenschau auch wahrnehmen, was dies alles in<br />

ihm selbst auslöst.<br />

Argelander (1970) hat für diesen Prozess den<br />

Begriff „Szenisches Verstehen“ geprägt. Diese Auffas -<br />

sung des Übertragungs-Gegenübertragungs-Gesche -<br />

hens beinhaltet, dass ein Patient seine wichtigsten Be -<br />

ziehungsmodi (mitsamt den Beziehungswünschen und<br />

ihrer Abwehr) in der therapeutischen Situation infolge<br />

des so genannten „Wiederholungszwanges“ wieder<br />

auf leben lässt, als führe er ein altes Theaterstück auf,<br />

worin dem Therapeuten eine spezifische Rolle zugeschrieben<br />

wird. In dem Maße, wie die früheren Be -<br />

ziehungen des Patienten konflikthaft waren, enthält<br />

diese Re-Inszenierung die sogenannte „Übertragungsneurose“<br />

als ein wiederaufgenommenes Drama.<br />

Erfahrene Psychotherapeuten erkennen schon in<br />

der ersten Begegnung an scheinbar nebensächlichen<br />

Verhaltensdetails bedeutsame Bestandteile solcher<br />

Ge staltungstendenzen des Patienten und die darin enthaltene<br />

unbewusste Konflikthaftigkeit. (Argelander<br />

1970, Eckstaedt 1991). Dieses Konzept hat eine zentrale<br />

Bedeutung und brachte eine neue Dimension in<br />

die Psychotherapie.<br />

Veränderungen des Konzepts von<br />

Übertragung und Gegenüber -<br />

tragung<br />

Im klinischen Verständnis der Übertragung hat es<br />

Wand lungen gegeben. Man kann mit Cooper (1987)<br />

un ter scheiden zwischen einem „historischen” und<br />

einem „modernistischen“ Modell der Übertragung.<br />

Im klassischen Modell wird die Übertragung als<br />

neu rotische Wiederholung der Vergangenheit verstanden,<br />

als eine realitätsferne Verwechslung von Ver gan -<br />

genheit und Gegenwart. Daher ist die Aufmerksamkeit<br />

des Analytikers hier wesentlich retrospektiv eingestellt<br />

und das Konzept „Übertragung“ dient der Bear -<br />

beitung der „infantilen Neurose“, die auf diesem Wege<br />

aufgedeckt und aufgelöst werden soll.<br />

Im Unterschied hierzu betont das „modernistische<br />

Modell“ vor allem das Hier und Jetzt des Übertra -<br />

gungs geschehens als eine gegenwärtige neue Form<br />

der Bezogenheit, die in einem konstruktiven Sinne<br />

regulatorische Funktionen für das emotionale Erleben<br />

und das Verhalten des Patienten innerhalb der therapeutischen<br />

Beziehung hat.<br />

Sandler & Sandler (1983, 1987) haben in diesem<br />

Zusammenhang eine Differenzierung eingeführt zwischen<br />

dem Vergangenheits- und dem Gegenwartsun -<br />

be wussten. Dabei enthält das Gegenwartsunbewusste<br />

die zu aktuellen Wünschen und Phantasien aufbereiteten<br />

(nur indirekt zu erschließenden) Inhalte des<br />

Vergangenheitsunbewussten. Die„infantile Neurose“<br />

bekommt so den Rang eines Phantasmas unter vielen,<br />

im Gegenwartsunbewussten aktiven Phantasieproduk -<br />

tio nen. Damit wird der Analytiker zu einem aktiven,<br />

freilich zugleich beobachtenden und reflektierenden<br />

Teilnehmer der therapeutischen Zweierbeziehung, der<br />

den Patienten anleitet, seine in der Übertragung auftauchenden,<br />

meist mit Schamängsten und Schuld -<br />

gefühlen verbundenen Phantasien und Wünsche in ih -<br />

rer Bedeutung für die aktuelle interpersonale Bezo -<br />

gen heit zu erkennen und anzunehmen.


128 W. Dmoch<br />

Freud hat schon bei ihrer Entdeckung bemerkt, dass<br />

die Übertragung – an der er sich zunächst störte – sich<br />

im mer mit drängenden Gefühlen und Impulsen aktualisiert,<br />

als sei der Analytiker ein angemessener Em -<br />

pfänger, so dass hier eine Korrekturmöglichkeit be -<br />

steht: „.dass gerade sie (die Übertragungen) uns den<br />

un schätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und<br />

vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und<br />

manifest machen, denn schließlich kann niemand in<br />

absentia oder in effigie erschlagen werden“ (Freud<br />

1917).<br />

Genau dies macht die Übertragungsdeutung therapeutisch<br />

so wirksam: Die erlebte Wirklichkeit der –<br />

für den kritischen Verstand irrationalen – Gefühle er -<br />

höht die Empfänglichkeit für Deutungen und macht<br />

un mittelbar einsichtig, was jeweils gerade wiederholt<br />

wird; dies führt zu einer kognitiven und emotionalen<br />

Umorientierung.<br />

Die Abstinenz des Psychoanalytikers als ein wichtiges<br />

therapeutisch-technisches Mittel in der Therapie<br />

hat die Funktion, solche Wiederholungsinszenierun -<br />

gen möglichst unverfälscht erkennbar werden zu lassen;<br />

heute wird „Abstinenz“ meist als „behandlungstechnische<br />

Neutralität“ bezeichnet.<br />

Kernberg (1975) und Sandler (1988) haben ein<br />

Verstehensmodell der internalisierten Objektbezie -<br />

hun gen entwickelt, nach dem früher erfahrene Be -<br />

ziehungen zu den signifikanten Anderen verinnerlicht<br />

und der eigenen Geschichte als Teil der Identität (des<br />

Selbstkonzepts) zugeordnet werden. In der therapeutischen<br />

Situation erfahren diese Beziehungsweisen eine<br />

aktualisierte Reinszenierung. Der Analytiker erhält<br />

da bei wechselnde Rollenangebote und seine Bereit -<br />

schaft zur – therapeutisch reflektierten – Rollenüber -<br />

nah me (Sandler 1976) ist eine Voraussetzung dafür,<br />

dass die Inszenierung des neurotischen Beziehungs -<br />

dramas (Übertragungsneurose) überhaupt stattfinden<br />

kann.<br />

Gegenübertragung<br />

Freud hat die „Gegenübertragung“ als „unbewusstes<br />

Fühlen des Arztes“ gegenüber dem Patienten aufgefasst.<br />

Darum sollte der Analytiker möglichst keine<br />

blin den Flecken für seine eigenen Komplexe haben;<br />

hier aus leitet sich die Verpflichtung zur Eigenanalyse<br />

ab. Thomae & Kächele nennen in ihrem Lehrbuch<br />

(1985) die Gegenübertragung das „Aschenputtel“ der<br />

analytischen Theorie und stehen damit in guter Tra -<br />

dition mit Freud selbst, der die Gegenübertragung „an -<br />

stößig“ nannte.<br />

Als erste hat Paula Heimann (1950) nicht nur das<br />

Bild vom abstinenten, neutralen und durch die Übertragungsangebote<br />

des Patienten unbewegten Analyti -<br />

ker infrage gestellt. Sie hat vielmehr den diagnostischen<br />

und therapeutischen Wert der Gegenüber tra gungs-Re -<br />

ak tionen für das Verstehen des Patienten be tont.<br />

Unter diesen Gesichtspunkten kann uns das Kon -<br />

zept des „szenischen Verstehens“ einleuchten, wie es<br />

von Argelander (1970) beschrieben wurde: Die therapeutische<br />

Person stellt sich mit gleichschwebender<br />

Aufmerksamkeit auf die sich entfaltende „Szene“ ein,<br />

die der Patient (mit dem Analytiker als teilnehmendem<br />

Beobachter) innerhalb der therapeutischen Beziehung<br />

zur Aufführung bringt. Der Analytiker versucht dabei<br />

empathisch und introspektiv den Bedeutungsgehalt<br />

dieser Inszenierung zu erfassen, ohne sich diesen emotionalen<br />

Zugang durch theoretische Vorannahmen zu<br />

verbauen. Beim Verstehen dieser Szene lässt er sich<br />

von seinen Gegenübertragungsreaktionen leiten. Er<br />

lässt sich leiten im Verstehen, nicht ver-leiten etwa ins<br />

Handeln (Agieren), sondern er wahrt zum Schutz der<br />

therapeutischen Beziehung gegenüber den Übertragungsangeboten<br />

die therapeutisch-technische Neutra -<br />

li tät.<br />

Obwohl dieses Postulat in der psychoanalytischen<br />

Ausbildung vermittelt wird, fehlt es in den psychoanalytischen<br />

Ausbildungsinstituten allenthalben bis heute<br />

an konkreten Anleitungen, auf welche Weise diese<br />

pro fessionelle Haltung in kritischen Situationen be -<br />

wahrt werden kann.<br />

Klare Grenzen sind entscheidende Voraussetzun -<br />

gen für die Definition von Beziehungen. In beruflichen<br />

Beziehungen helfen sie, den Rahmen für die professionelle<br />

Arbeit zu sichern.<br />

In allen interpersonalen Situationen, in denen zwischen<br />

den Beteiligten die Macht in der Beziehung<br />

asym metrisch verteilt ist – wie etwa zwischen Meister<br />

/Lehrling, Vorgesetzter/Untergebener, Arbeitgeber<br />

/Ar beitnehmer, Arzt/Patient, – helfen Grenzen, die<br />

Hand lungsbereiche zu bestimmen und die Integrität<br />

der Beziehung wie auch der Beteiligten zu bewahren.<br />

Da Übertragung und Gegenübertragung in allen Be -<br />

ratungsverhältnissen vorkommen – auch wenn sie<br />

nicht therapeutisch genutzt werden – ist die Hand ha -<br />

bung der Übertragung und der Gegenübertragung<br />

auch in sexualmedizinischen Beratungen und ganz be -<br />

sonders in sexualmedizinischen Behandlungen zu<br />

beachten. Was aber, wenn – man schätzt sich, man<br />

ver steht sich, man mag sich – Übertragung und Ge -<br />

gen übertragung agiert werden, statt reflektiert und in -<br />

terpretiert und ein gar nicht geheimnisvoller Sprung<br />

vom Seelischen ins Körperliche bevorsteht?<br />

Die Medizin hat in diesem Punkt früh klar das professionelle<br />

ärztliche Verhalten definiert. So fragt be -<br />

reits Platon (427-347 v. Chr.) in der Politeia (342 d):<br />

„Stimmt es nicht auch, dass kein Arzt, als Arzt, erwägt<br />

oder bestimmt, was im Interesse des Arztes ist – son-


(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 129<br />

dern suchen sie nicht alle das Zuträgliche für ihre<br />

Patienten?“<br />

Diese Formulierung definiert 400 Jahre vor Chris -<br />

tus Therapie als angewandte Nächstenliebe. Gleich<br />

der nächste Satz könnte auf die aktuellen Ten den zen<br />

zur wirtschaftlichen Ausbeutung (IGEL) bezogen<br />

werden: „Denn von dem wahren Arzt ist zugestan den,<br />

er sei (einer), der über die Leiber die Re gierung führt,<br />

nicht aber der Gelderwerber (Pfenning fuchser).“<br />

Uns ist dieses allen bekannte Prinzip ausformuliert<br />

im Corpus Hippocraticum: „Wes sen Haus ich auch be -<br />

suche, ich komme für das Wohl des Kranken, halte<br />

mich fern von allem vorsätzlichen Fehlverhalten, al -<br />

lem Schaden und besonders von sexuellen Bezie -<br />

hungen mit weiblichen oder männlichen Personen,<br />

seien sie Freie oder Sklaven.“<br />

Die Geschichte der frühen psychoanalytischen Be -<br />

we gung kennt dennoch verschiedene zum Teil sehr<br />

krasse Fälle mit chaotisch agierten Übertragungs- und<br />

Gegenübertragungsbeziehungen auch in Form von se -<br />

xuellen Verhältnissen in therapeutisch begonnenen<br />

Be ziehungen.<br />

Berühmte Beispiele sind neben C.G. Jung u. a.<br />

auch August Aichhorn, Sandor Ferenczi, Frieda<br />

Fromm-Reichmann, Karen Horney, Margret Mah ler<br />

und Otto Rank. Sattsam in der auch nichtanalytischen<br />

Öffentlichkeit bekannt ist die Affäre, die Jung mit seiner<br />

Analysandin Sabina Spielrein hatte; als seine Frau<br />

dies bemerkte, nötigte Jung sie zu einer analytischen<br />

Behandlung durch ihn; ihre durchaus be gründete Ei -<br />

fer sucht wurde so zu einem analysewürdigen Symp -<br />

tom umdefiniert. Später wiederholte Jung die ses Spiel<br />

mit der Psychiaterin Antonia Wolff.<br />

Ganz ähnlich nahmen auch Otto Rank und Rene<br />

Allendy (der Gründer der französischen psychoanalytischen<br />

Gesellschaft) beide nacheinander während der<br />

Analyse zu ihrer Analysandin Anais Nin eine sexuelle<br />

Beziehung auf (Cremerius 1988, Grunert 1989).<br />

Hay nal (1989) zufolge nahm Ferenczi seine Ge -<br />

lieb te Gi zel la Palos in psychoanalytische Behandlung,<br />

weil sie zwar ein sexuelles Verhältnisses zu ihm unterhielt,<br />

gleichwohl sich nicht von ihrem Mann trennen<br />

wollte; als er bald darauf auch deren Tochter Elma Pa -<br />

los in Therapie nahm, wurde auch Elma seine Gelieb -<br />

te. Freud drängte auf Abbruch dieser Liasion und auf<br />

Fortführung der Analyse von Elma durch ihn selbst,<br />

vorgeblich um die Echtheit ihrer Liebe zu prüfen.<br />

Freud gab aus dieser Behandlung persönlichste Ge -<br />

heimnisse der Patientin an Ferenczi weiter, später<br />

über nahm Ferenczi wieder die Fortführung der Be -<br />

handlung.<br />

Dieses Durcheinander, das gleich mehrere Grenz -<br />

verletzungen enthält, zeigt deutlich den damaligen<br />

hilflosen Umgang mit Übertragungsproblemen, die<br />

aus agiert werden, statt sie zu reflektieren und therapeutisch<br />

zu nutzen.<br />

Georg Groddeck (wir verdanken ihm den Begriff<br />

des „Es“) nahm Emmy von Voigt in Analyse, dennoch<br />

gab er ihr zeitgleich eine Anstellung als Assistentin;<br />

alsbald begann er eine Liebesbeziehung, die später<br />

durch Heirat legitimiert wurde (Ferenzci & Grod deck<br />

1986)<br />

Liest man mit heutigem Verständnis, so scheinen<br />

die Analytiker der ersten Generation den Ödipuskomplex<br />

eher agiert als verstanden zu haben: Wie Lockot<br />

berichtet, ging Sandor Rado ganz ähnlich wie Grod -<br />

deck vor, als er sich in eine Patientin verliebte: er heiratete<br />

sie (Lockot 1985). Sein Schüler Harald Schultz-<br />

Hencke nahm die Ehefrau seines Analytikerkollegen<br />

Gustav Bally in analytische Behandlung noch wäh -<br />

rend er in Lehranalyse bei Rado war, machte ihr wäh -<br />

rend einer Behandlungsstunde einen Heiratsantrag<br />

und schloss mit ihr eine letztlich unglücklich ausgehende<br />

Ehe. (Lockot 1985).<br />

Wilhelm Stekel nahm wiederholt zu seinen Patien -<br />

tin nen sexuelle Beziehungen auf (Reich, zit. n. Peters<br />

1977). Auch Wilhelm Reich verliebte sich des öfteren<br />

in seine Analysandinnen und brach dann die Analysen<br />

ab, „um außerhalb der Analysen ein normales Lie bes -<br />

verhältnis zu beginnen” (Peters 1977: 52); er heiratete<br />

schließlich seine Analysandin Annie Pink.<br />

Wie Roazen berichtet, wurde Ernest Jones wegen<br />

des Vorwurfs mehrerer sexueller Übergriffe gegenüber<br />

Kindern inhaftiert, seine Arbeitsstelle im Kinderkran -<br />

ken haus wurde ihm gekündigt. Nach seiner Flucht<br />

nach Kanada wurde er auch dort auffällig und musste<br />

einer seiner Patientinnen 500 Dollar zahlen, um sie<br />

davon ab zu bringen, ihn öffentlich der Verführung zu<br />

beschuldigen (Roazen 1971). Als Freud während der<br />

Analyse von Joan Riviere erfuhr, dass sie während<br />

ihrer vorhergegangenen Analyse bei Jones ein sexuelles<br />

Verhältnis mit diesem hatte, versuchte Freud mit<br />

heftigen Ermahnungen auf Jones ein zu wirken (Gay<br />

1989).<br />

Zuweilen waren die sich aus solchem Agieren<br />

ergebenden Beziehungen äußerst verzwickt: So wurde<br />

Viktor Tausk der Geliebte der 18 Jahre älteren Lou<br />

Andreas Salome, weswegen Freud ihn nicht zur Lehr -<br />

analyse annahm und ihn statt dessen an Helene<br />

Deutsch verwies; diese aber war gerade selbst bei<br />

Freud in Lehranalyse. Als Freud auf Helene Deutschs<br />

Begeisterung für Tausk mit Eifersucht reagierte,<br />

dräng te er Helene Deutsch dazu, die analytische Be -<br />

handlung Tausks aufzugeben. Dieser wiederum verliebte<br />

sich in eine 16 Jahre jüngere Analysandin, be -<br />

gann ein sexuelles Verhältnis mit ihr und drängte auf<br />

Heirat; jedoch erschoss Tausk sich am Tag vor der<br />

standesamtlichen Trauung (Roazen 1971, Gay 1989).


130 W. Dmoch<br />

Helene Deutsch brach die Lehranalyse von Margaret<br />

S. Mahler ab, weil sie Mahler wegen deren paranoidmelancholischer<br />

Art als unanalysierbar beurteilte;<br />

Mah ler begann darauf bei August Aichhorn eine zweite<br />

Lehranalyse, aus der während der Therapie eine<br />

Liebesbeziehung wurde (Stepansky 1989, Grosskurth<br />

1991).<br />

Cremerius erwähnt (1988: 168), „die intime Be -<br />

zie hung Heinz Hartmanns mit Marie Bonaparte”, de -<br />

ren Sohn sich gleichzeitig bei Heinz Hartmann in<br />

Analyse befand.<br />

Diese Verwirrungen weisen darauf hin, wie<br />

schwer sich die frühen Psychoanalytiker mit dem Ab -<br />

stinenzgebot taten; dies mag unter anderem darin be -<br />

gründet sein, dass die Dynamik von Übertragung und<br />

Gegenübertragung noch unzulänglich verstanden war.<br />

Auch waren die damaligen Lehranalysen meist nur<br />

kurz und hatten nur begrenzte Ziele wie etwa die An -<br />

er kennung der Tatsachen unbewusster Vorgänge im<br />

Seelenleben, der Bedeutsamkeit von Träumen und der<br />

Bedeutung von Übertragung und Widerstand. Super -<br />

vi sionen zu Beginn der Behandlungstätigkeit waren<br />

nicht institutionalisiert und beschränkten sich meist<br />

auf die Zeit der eigenen Analyse.<br />

Zunächst herrschte in der psychoanalytischen Ge -<br />

meinde die Tendenz zum Verschweigen dieser Proble -<br />

matik vor, obwohl alle davon wussten; man wusste<br />

nicht, mit diesen Tatsachen umzugehen und verstand<br />

es vor allem nicht, einen psychoanalytischen Umgang<br />

damit zu pflegen.<br />

Es dauerte wohl auch daher ein halbes Jahrhun -<br />

dert, bis das Thema des sexuellen Missbrauchs in therapeutisch<br />

definierten Beziehungen in den professionellen<br />

Diskurs eingebracht wurde.<br />

Die professionelle Aufmerksamkeit für diese Pro -<br />

bleme schärfte sich erst in den letzten vierzig Jahren,<br />

wofür Publikationen stehen wie Carotenutos Die<br />

heimliche Symmetrie: Sabina Spielrein zwischen Jung<br />

und Freud (1982 in Italien veröffentlicht, 1984 in englischer<br />

Übersetzung erschienen, deutsch 1986).<br />

Tatsächlich hat die romantische Beziehung von C.<br />

G. Jung zu seiner Patientin Sabina Spielrein seinerzeit<br />

zu einem intensiven Briefwechsel mit Sigmund Freud<br />

geführt. Freud gestand seinem Schüler brieflich, auch<br />

er sei in ähnliche Verwicklungen geraten und nur mit<br />

Mühe habe er so etwas erreicht wie ein „near escape“.<br />

Als der Psychoanalytiker McCartney (1966) be -<br />

kannte, dass er in über 10% der Behandlungen von<br />

Patientinnen mit diesen intime Kontakte aufgenommen<br />

habe und behauptete, er habe seinen Patientinnen<br />

bei der Überwindung ihrer sexuellen Probleme geholfen,<br />

kam in den Vereinigten Staaten die Diskussion<br />

über sexuelle Übergriffe und Ausbeutung in der Psy -<br />

cho therapie in Gang. Zwar gab es zunächst keine<br />

wesentliche öffentliche Reaktion und keine juristische<br />

Sanktion, jedoch wurde McCartney aus der American<br />

Psychiatric Association ausgeschlossen.<br />

Eine heftige öffentliche Reaktion löste dagegen<br />

die provozierende Frage des Psychiaters Shepard<br />

(1971) „Should you sleep with your therapist?“ aus,<br />

weil seine Frage von den Medien aufgegriffen wurde.<br />

Auch er behauptete, sexuelle Beziehungen in Thera -<br />

pien seien für die Pa tienten notwendig für deren emotionales<br />

Wachstum. Als Shepard ein Jahr später ein<br />

weiteres Buch mit ähnlichen Standpunkten publizierte,<br />

entzog ihm die Be hörde die Zulassung für die ärztliche<br />

Tätigkeit. Irving Yalom (1998) behandelt diese<br />

Fragen in romanhafter Form, wobei die breite psychiatrische<br />

Öffentlichkeit weiß, dass es sich um einen<br />

Schlüsselroman mit realem Hintergrund handelt (Die<br />

rote Couch).<br />

Aber das alles ist doch so selten, könnte man einwenden.<br />

Tatsächlich wird dieser Einwand auch ge -<br />

macht, wie aus einer Pressemeldung erkennbar wird:<br />

Sexuelle Beziehung in der Therapie ist die<br />

Ausnahme<br />

(dpa) Aus einer von der Deutschen Forschungsge -<br />

mein schaft bezahlten Studie der Frankfurter Fach -<br />

hoch schule, die jetzt veröffentlicht worden ist geht<br />

her vor:<br />

Nach Einschätzung jedes zehnten Psychologen<br />

kön nen in Ausnahmefällen sexuelle Beziehungen in<br />

Therapien für den Klienten hilfreich sein; aber nur<br />

etwa 20 von 1200 befragten klinischen Therapeuten<br />

geben an, selbst schon einmal sexuellen Kontakt zu<br />

einem Patienten gehabt zu haben.<br />

„Sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und<br />

Klienten sind Ausnahmen“ betonte die Leiterin des<br />

Forschungsprojekts, Irmgard Vogt. Gut 95 Prozent der<br />

im Berufsverband Deutscher Psychologen organisierten<br />

klinischen Therapeuten lehnten solche Bezie -<br />

hungen zu Hilfesuchenden ab. Die Auswirkung eines<br />

sexuellen Verhältnisses seien in der Regel negativ,<br />

sagte Vogt.<br />

Allerdings habe jeder zweite Therapeut in den vergangenen<br />

fünf Jahren mit einem Hilfesuchenden zu<br />

tun gehabt, der angab, sexuellen Kontakt zu einem<br />

Therapeuten gehabt zu haben. Umarmungen und Be -<br />

rührungen der Schulter sind der Studie nach relativ<br />

häufig.<br />

Dabei neigten männliche Therapeuten eher dazu,<br />

Patienten anzufassen als weibliche Psycho logen. Zu -<br />

dem flirteten männliche Psychologen in der Therapie<br />

mehr und machten häufiger sexuelle An gebote als ihre<br />

Kolleginnen.<br />

Nach der Arbeit von Moggi et al. (1992) und der<br />

Metaanalyse Katherine Hall (2001), bei der sich eine


(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 131<br />

umfangreiche Übersicht zur <strong>Literatur</strong> findet, kann das<br />

Phänomen nicht als selten bezeichnet werden.<br />

Wissenschaftliche Ansätze<br />

Die erste wissenschaftlich fundierte Übersicht über<br />

die Häufigkeit von sexuellen Übergriffen von Ärzten<br />

gegenüber ihren Patienten brachte eine anonyme Um -<br />

frage unter 1000 männlichen Ärzten durch Kardener<br />

(1973): Von 460 antwortenden Ärzte bekannten rund<br />

10% erotische Kontakte mit ihren Patientinnen, 5%<br />

schlossen sexuellen Verkehr ein. Auch in dieser Tä -<br />

tergruppe fand sich bei 13% die Meinung, sie hätten<br />

ihren Patientinnen damit geholfen, sexuelle Blocka -<br />

den zu lösen; allerdings hielten 87% der Antwor -<br />

tenden derlei Beziehungen für unangemessen.<br />

Hintergründe für diese Untersuchung teilt Tschan<br />

in einem jüngsten Buch „Missbrauchtes Vertrauen“<br />

(2001) mit: Nachdem Kardeners Ehefrau entdeckt hat -<br />

te, dass ihr Ehemann sexuelle Kontakte mit Patien -<br />

tinnen hatte, wollte ihr Mann mittels dieser Unter -<br />

suchung nachweisen, dass sein Verhalten nichts<br />

Außer gewöhnliches sei; seine Frau ließ sich trotzdem<br />

scheiden. Die Kalifornische Psychiatrische Gesell -<br />

schaft schloß Kardener aus (Gary Schoener, persönliche<br />

Mitteilung, zit. nach Tschan 2001).<br />

Die große Mehrzahl missbräuchlichen Verhaltens -<br />

weisen (95%) ereignen sich (Bouhoutsos et al. 1983)<br />

zwischen männlichen Therapeuten und weiblichen Pa -<br />

tienten. In derselben Arbeit werden nur 3% sexuelle<br />

Kon takte von Therapeutinnen zu männlichen Patien -<br />

ten genannt, in 2,5% fand der sexuelle Kontakt zwischen<br />

einem männlichen Therapeuten und einem<br />

männ lichen Patienten statt und nur in 1,4% der Fälle<br />

zwi schen weiblichen Therapeutinnen und Patien -<br />

tinnen. Andere Arbeiten differenzieren diese Zahlen:<br />

Zum Geschlechterverhältnis fanden Anders & Wiesler<br />

(1995) bei einer Befragung von Folgetherapeuten,<br />

dass es in 86% männliche und in 14% weibliche Per -<br />

sonen waren, die mit Patienten sexuelle Beziehungen<br />

aufnahmen.<br />

Schoener (1989) gibt in 77% aller Fälle Übergriffe<br />

eines männlichen Therapeuten gegenüber weiblichen<br />

Patientinnen an. In 15% sind es Therapeutinnen,<br />

die mit Patientinnen sexuelle Kontakte eingingen, in<br />

5% handelt es sich um gleichgeschlechtliche Kontakte<br />

zwischen Männern und in 3% nahmen Therapeutinnen<br />

mit männlichen Patienten sexuelle Beziehungen auf.<br />

Obwohl nicht alle Übergriffe sexueller Natur sind,<br />

sondern auch emotionaler Missbrauch und wirtschaftliche<br />

Ausbeutung vorkommen, zentriere ich hier auf<br />

die sexuellen Handlungen.<br />

Alle Übergriffe, insbesondere aber sexuell gefärbte<br />

Handlungen oder sexuelle Begegnungen, die in therapeutischem<br />

Zusammenhang stattfinden, pervertieren<br />

die Grundbedingungen der Behandlung: Die übergriffige<br />

therapeutische Person zerstört das subtile Ge -<br />

flecht der therapeutischen Beziehung, das „vas hermeticum“<br />

(wie es Jung als Gefäß der Wandlung genannt<br />

hat) wird zerbrochen. Wandelt sich der Therapeut zum<br />

Liebespartner, tritt zugleich eine unheilvolle Konfu -<br />

sion von Rollen ein, die für den therapeutischen Pro -<br />

zess zerstörerisch ist. Als Patienten Betroffene können<br />

den eigenen Gefühlen und ihren Wahrnehmungen<br />

nicht mehr vertrauen, es entsteht Verwirrung über Zu -<br />

neigung, Liebe und sexuellem Bedürfnis. Auch der<br />

Therapeut kann bei magelnder fachlicher Distanz sei -<br />

ne Aufgabe nicht mehr erfüllen.<br />

Folgen bei den Patienten<br />

! Der eigentliche Missbauchsvorgang belastet traumatisch<br />

! Eine sekundäre Traumatisierung tritt durch<br />

Schuld zuweisung an die Opfer ein<br />

! Die Rolle als Opfer mit negativen Kognitionen<br />

verfestigt die Traumatisierung und eine resignierte<br />

Grundhaltung<br />

Symptomatische Beeinträchtigungen<br />

! Unsicherheit mit den eigenen Grenzen und den<br />

Grenzen anderer<br />

! Ambitendenz in nahen Beziehungen<br />

! Gefühle des Isoliertseins<br />

! Dissoziative Gestörtheit, somatoforme Störungen<br />

! Kognitive Verunsicherung:<br />

! Eigene Wahrnehmungen und Gefühle werden als<br />

nicht verlässlich empfunden, die Repräsentanz<br />

von Selbst und Welt werden erschüttert; die<br />

Fähigkeit, sich selbst und anderen zu vertrauen,<br />

wird nachhaltig beeinträchtigt.<br />

Unterdrückte Wut und ihre Folgen wie<br />

! emotionale Labilität, Depression und Suizidne -<br />

gung<br />

! selbstverletzendes Verhalten<br />

! sexuelle Störungen<br />

! Entfremdungserlebnisse und Körperbildstörungen<br />

Heilungsmöglichkeiten<br />

Betroffene benötigen Hilfe beim Aufgeben der Opfer -<br />

rolle und beim Lernen, Liebe und Sexualität klar zu<br />

un terscheiden. Die hierzu notwendigen therapeutischen<br />

Strategien sind von Becker-Fischer (1996) so -<br />

wie Fischer & Riedesser (1999) ausführlich dargestellt.<br />

Tschan (2001) legt nach seinen Erfahrungen mit<br />

Opfern und Tätern großen Wert darauf, dass die Bera -<br />

tung von Täter und Opfer aus derselben Beziehung<br />

im mer strikt getrennt wird:


132 W. Dmoch<br />

„Die Opfer als die Schwächeren und Traumatisierten<br />

brauchen einen besonderen Schutz, und schon mit ge -<br />

sundem Menschenverstand erkennt man, dass es für<br />

das Opfer unzumutbar ist, mit dem Täter zusammentreffen<br />

zu können. Als Traumahelfer macht man sich<br />

bei Nichtbeachtung dieses Grundsatzes für die Retrau -<br />

matisierung des Opfers mitverantwortlich.“<br />

Tschan beschreibt in diesem Zusammenhang ein<br />

spe zifisches Täterverhalten unter dem Aspekt des Tä -<br />

ter-Opfer-Ausgleichs, der im Sinne des Täters instrumentalisiert<br />

werden soll:<br />

„Zu Beginn der Behandlung drängen Täter oft auf<br />

eine Gegenüberstellung mit dem Opfer und versuchen<br />

den Traumahelfern weiszumachen, dass damit alle<br />

Kon flikte aus der Welt geschafft werden könnten. Ins -<br />

geheim erhoffen sie sich aber damit, das Opfer von<br />

wei teren Schritten und Aussagen abhalten zu können<br />

und somit letztendlich ungeschoren davonzukommen.<br />

Man hüte sich vor derartigen Dreiparteiengesprächen,<br />

die regelmäßig zur Retraumatisierung des Opfers füh -<br />

ren. Es muss allein dem Opfer überlassen werden,<br />

wann und ob es zu einer Aussprache mit einem Täter<br />

bereit ist.“<br />

Dies verweist auch darauf, dass es nicht ausreicht,<br />

übergriffige Therapeuten nachträglich durch Straf -<br />

maß na hmen zu sanktionieren, sondern dass auch prä -<br />

ventive Aufgaben gestellt sind.<br />

Zum Problem der Rehabilitation<br />

von übergriffigen Therapeuten<br />

In der Täterberatung sind genaue Kenntnisse über ty -<br />

pische Abwehrstrategien erforderlich. Tschan (l.c.) be -<br />

tont, es sei oft hilfreich, gleich zu Beginn den Tätern<br />

klar zu machen, wie durchschaubar ihre Ab wehr -<br />

manöver seien. Auch müsse ihnen erklärt werden, dass<br />

die Beratung keine juristische Beurteilung darstellen<br />

kann. Die Aufgabe bestehe vielmehr darin, zusammen<br />

mit dem Täter dessen individuelles Verhalten zu untersuchen<br />

und wo notwendig, seine Habituationen zu<br />

ver ändern und ihm Bewältigungsstrategien zu vermitteln.<br />

Es geht dabei um die Identifizierung der Täter -<br />

strategie, die als kreisförmiges Modell des Verhaltens<br />

beschrieben ist.<br />

Der vitiöse Zirkel des<br />

Missbrauchs<br />

Wegbereitend für die Entwicklung eines Konzepts<br />

vom sexuellen Missbrauch als einem kreisförmigen<br />

Pro zess und dessen Anwendung für ein präventives<br />

Trai ning waren Gorton et al. (1996a,b) die diese ur -<br />

sprünglich für pädophile Sexualstraftäter entwickelten<br />

Techniken verwendet haben. Das Kreismodell impliziert<br />

auch, dass oft der gleiche Täter mehrfach für<br />

übergriffiges Verhalten verantwortlich ist. Aufgrund<br />

seiner allgemeinen Gültigkeit ist dieses zirkuläre Mo -<br />

dell des Verhaltens für die Arbeit mit missbrauchenden<br />

Fachleuten gut geeignet. Schoener (1999) hat dieses<br />

Modell zu einem interaktiven Training für Fach -<br />

leute elaboriert.<br />

Der Missbrauch beginnt im Kopf<br />

Imaginationen sexueller Fantasien gegenüber Pers -<br />

onen, zu denen sexuelle Kontakte verpönt sind, lösen<br />

sowohl Ängste wie auch Schuld- und Schamgefühle<br />

aus, wenn sie als reale Handlungsentwürfe aufgefasst<br />

werden, statt sie deskriptiv als Abbildungen eines Be -<br />

ziehungsaspekts in der Therapie zu nutzen. Imaginativ<br />

antizipierte Strafverfolgungen mit beruflichen Konse -<br />

quenzen rufen dann angstbesetzte Vorstellungen hervor<br />

und es treten Schuldgefühle gegenüber den emo -<br />

tio nal abhängigen Personen auf; vielleicht machen<br />

sich auch Schamgefühle angesichts der Impulse und<br />

Imaginationen bemerkbar, die wiederum zu Abwehr in<br />

Form von Spaltungsvorgängen Anlass geben.<br />

Es handelt sich dabei um einen psychischen Ab -<br />

wehrvorgang, der dazu dient, unerträglich wider -<br />

sprüch liche emotionale Zustände auszublenden. Sym -<br />

bolisch gesprochen wird eine Art Zyste oder Krypta<br />

im Ich errichtet. Nach außen ist solch ein abge kap sel -<br />

ter Komplex durch verschiedene Pseudo-Er klä rungen<br />

gesichert, die den Missbrauch scheinbar legitimieren<br />

und relativieren. Die missbrauchende Fach per son<br />

kon struiert hierzu eine persönliche Unschulds vor stel -<br />

lung für ihr Tun wie etwa: „Wir hatten uns verliebt“.<br />

Sol che kognitiven Verzerrungen und Abspal tungen<br />

mit der untergründigen Konnotation, dass Lie be doch<br />

alles erlaube sowie alles verzeihe, haben Ab -<br />

wehrfunktion. Hinzu kommen bewusste Rationa li -<br />

sierungen, Beschönigungen und Opferbeschuldi gun -<br />

gen wie: „Andere machen es auch“ oder „Eine lustvolle<br />

Begegnung hat noch niemandem geschadet“ und<br />

der häufiger Verweis auf die Einwilligung der Be -<br />

troffenen als Einstieg in die Opferbeschuldigung.<br />

Soziale Manipulation: Grooming<br />

Aus der Forschung mit Pädophilen stammen Er -<br />

kenntnisse über das die Umgebung manipulierende<br />

Täterverhalten, die sich auf den hier behandelten<br />

Bereich übertragen lassen.<br />

In der vergleichenden Verhaltensforschung be -<br />

zeich net man das soziale Lausen und Fellpflegen als<br />

„grooming“. Man spricht im Englischen vom Bräuti -<br />

gam als dem „bridegroom“, der die Braut streichelt.<br />

Groo ming bedeutet auch, einem Pferd das Fell zu


(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 133<br />

striegeln. In diesem Zusammenhang ist mit diesem<br />

Be griff gemeint, dass Täter alle Beteiligten manipulieren,<br />

um sie sich geneigt zu machen und jeden Verdacht<br />

gegenüber ihren Absichten zu zerstreuen. Diesem Ver -<br />

halten sind Unbeteiligte ebenso ausgesetzt wie die un -<br />

mittelbare Umgebung des Opfers und die Betroffenen<br />

selbst.<br />

In den folgenden Beispielen werden verschiedene<br />

Elemente von Grooming und übergriffigem Verhalten<br />

erkennbar:<br />

Äußern die Opfer Bedenken hinsichtlich intimer<br />

Kon takte im Rahmen des fachlichen Verhältnisses,<br />

werden diese von Tätern relativiert.<br />

Beispiel: Ein Psychotherapeut aus einer rheinischen<br />

Großstadt trug seiner Patientin im zweiten Be -<br />

willi gungsabschnitt einer Langzeit-Psychotherapie<br />

eine se xuelle Begegnung am Wochenende an. Ihre<br />

Beden ken, er sei doch verheiratet und seine Frau er -<br />

warte ein Kind, relativierte er mit dem Hinweis: Seine<br />

Frau sei gerade wegen vorzeitiger Wehen im Kranken -<br />

haus, sie stehe nicht zur Verfügung und insofern entgehe<br />

ihr ja nichts.<br />

Zuweilen wird das Behandlungsverhältnis beendet,<br />

da mit ab sofort nichts mehr hinderlich sei; schon<br />

Wil helm Reich hatte diesen Weg gewählt.<br />

Beispiel: Ein psychosomatisch orientierter Frau -<br />

en arzt überwies seine langjährige Patientin wegen<br />

sexueller Erlebensstörungen in eine Paartherapie zu<br />

mir; am Abend des gleichen Tages, an dem er die<br />

Über weisung ausgestellt hatte, rief er die Patientin zu<br />

Hause an und wies sie darauf hin, dass er besondere<br />

fachliche Kennt nisse habe, die ihr ungewöhnliche Er -<br />

fahrungen ermöglichen würden. Er schlug ihr ein Tref -<br />

fen in dem neben seiner Praxis gelegenen Hotel vor.<br />

Manchmal erreicht der Täter sein Ziel auch durch<br />

Drohungen, wodurch das Opfer gefügig gemacht<br />

wird. Das folgende Beispiel, das in der Presse gemeldet<br />

und kommentiert wurde, enthält auch die Tendenz<br />

zur Opferbeschuldigung.<br />

Beispiel: Ein 47-jähriger Frauenarzt hatte nach der<br />

Überzeugung des Gerichts seine Praktikantin mit einer<br />

unglaublichen Geschichte zum Geschlechtsverkehr<br />

überredet. Das Mädchen hatte befürchtet, schwanger<br />

zu sein, nachdem ihre Regel ausgeblieben war. Der<br />

Gynäkologe machte ihr weis, sein Sperma sei in der<br />

Lage, die Leibesfrucht abzutöten. Er habe ein entsprechendes<br />

Medikament eingenommen. Als ihre Schwan -<br />

gerschaft ausblieb, sah die Praktikantin die Aussage<br />

des Arztes bestätigt. Einige Monate später stellte der<br />

Gynäkologe seiner Praktikantin eine Ausbildungs -<br />

stelle in seiner Praxis in Aussicht. Er redete dem Mäd -<br />

chen ein, sie erwarte erneut ein Kind, wieder sollte<br />

Geschlechtsverkehr eine Schwangerschaft verhindern.<br />

Da die junge Frau die Lehrstelle nicht gefährden wollte,<br />

ließ sie sich erneut auf eine sexuelle Begegnung<br />

ein. Der Arzt beteuerte vor Gericht seine Unschuld<br />

und sprach von einem Racheakt. Seine frühere Prak -<br />

tikan tin habe ihn nur angezeigt, weil sie keine Lehr -<br />

stelle bekommen habe. Dem vermochten die Richter<br />

nicht zu folgen. Schließlich habe die Jugendliche ihre<br />

Er lebnisse lange für sich behalten. Der Vorsitzende<br />

Rich ter sprach von gravierenden psychischen Folgen<br />

der Taten, die das Mädchen an den Rand des Selbst -<br />

mordes gebracht hatten.<br />

Aus rechtlichen Gründen vermochte die Kammer<br />

kein generelles Berufsverbot gegen den Mediziner<br />

aus zusprechen. Die Richter untersagten ihm jedoch,<br />

vier Jahre lang weibliche Jugendliche zu behandeln<br />

oder zu beschäftigen. Nach Aussagen einiger Zeu -<br />

ginnen hatte sich der Arzt auch an anderen Mädchen<br />

vergriffen. Bei einer jungen Frau wollte der Gynäko -<br />

loge angeblich Hand anlegen mit der Begründung, ein<br />

Orgasmus könne den Feten abtreiben.<br />

Das Urteil brachte den Heidelberger Gynäkologen<br />

für zwei Jahre und neun Monate hinter Gitter. Zudem<br />

ordnete das Heidelberger Landgericht ein begrenztes<br />

Berufsverbot an.<br />

Sexuelle Übergriffe geschehen zuweilen im<br />

Sprech zimmer des Arztes, zuweilen bei Verabre -<br />

dungen außerhalb. Manchmal ereignen sie sich nur<br />

wenige Male, manchmal werden sie über einen längeren<br />

Zeitraum hinweg fortgesetzt.<br />

Beispiel: Ein Professor für Gynäkologie, der im<br />

Rah men seiner endokrinologischen Beratungen auch<br />

psychotherapeutische Behandlungen anbietet, für die<br />

er keine Ausbildung hat, hat mir innerhalb von 15<br />

Jahren vier seiner Patientinnen zur Behandlung von<br />

Trauer reaktionen überwiesen, nachdem er längere se -<br />

xuelle Verhältnisse mit ihnen hatte. Die letzte Über -<br />

wei sung betraf die Ehefrau eines Mitglieds der gleichen<br />

Hoch schule, die sich jeden Samstag in der Praxis<br />

ihres Ge lieb ten zu sexuellen Begegnungen eingefunden<br />

hatte. Bei einer Verabschiedung und der Frage<br />

nach dem nächsten Samstag war die Antwort: „Da<br />

geht es nicht, da heirate ich doch“.<br />

Nach einem sexuellen Übergriff bleiben beim Tä -<br />

ter häufig Scham- und Schuldgefühle, vor allem aber<br />

Angst zurück. Die Angst betrifft eine drohende An -<br />

zeige, etwaige berufliche und gesellschaftliche Kom -<br />

plikationen. Daher versuchen Täter häufig selbst die<br />

Opfer zu nötigen, alle etwa vorhandenen Beweise zu<br />

beseitigen. Wenn dennoch etwas heraus kommt, wird<br />

selbst bei ganz offensichtlichen und schwerwiegenden<br />

Übergriffen alles geleugnet oder bagatellisiert, Sach -<br />

verhalte werden verdreht und das Opfer wird eingeschüchtert<br />

oder gar der Verleumdung beschuldigt. Da<br />

dem Missbrauch verschiedene Grenzüberschreitungen<br />

voran gehen, hat Schoener diese Entwicklung mit glit-


134 W. Dmoch<br />

schigen Schräge verglichen: Innerhalb der fachlichen<br />

Beziehung werden kumulativ Grenzverletzungen<br />

begangen, bei denen eine vorausgehende geringgradige<br />

Grenzüberschreitung die nächste, schwerer wiegende<br />

ermöglicht. Da es sich um einen längeren Pro -<br />

zess handelt, der nicht überraschend abläuft, können<br />

auf verschiedenen Ebenen Einhalt gebietende Siche -<br />

rungen im Verhalten implantiert werden.<br />

In dem zuletzt geschilderten Beispiel wird ein<br />

Umstand erkennbar, der bedenkenswert erscheint: Es<br />

wird ohne nennenswerte oder mit einer nur geringen<br />

Ausbildung Psychotherapie betrieben oder ein psychotherapieähnliches<br />

Behandlungsverhalten angestrebt.<br />

Aus den Arbeiten der Gruppe um Fischer<br />

(1994) ist bekannt, dass viele der Täter auch mit einer<br />

anerkannten Psychotherapieausbildung Behandlungen<br />

übernehmen, die länger dauern oder schwieriger sind<br />

als die Kompetenz der Behandler erlaubt.<br />

Auch bei den meisten Psychotherapeuten hat es<br />

wäh rend der Ausbildung außer indirekten moralischen<br />

Appellen kaum eine systematische Vorbereitung auf<br />

den Umgang mit Grenzen gegeben.<br />

Viele der Interessenten und Teilnehmer der sexualmedizinischen<br />

Kurse haben keine oder nur eine geringe<br />

psychotherapeutische Ausbildung und auch sie<br />

erhalten bisher zu wenig konkrete Hilfe, sich und ihre<br />

Patienten vor Entgleisungen im Behandlungsprozess<br />

zu schützen. So manche zu Beginn einfach aussehende<br />

sexualtherapeutische Beratung oder Behandlung<br />

kann unversehens an Dynamik gewinnen und in<br />

schwierig zu handhabende Situationen führen.<br />

Ein Gynäkologe fragte in einer Balintgruppe recht<br />

erstaunt: „Warum soll ein Frauenarzt, der bei körperlicher<br />

Untersuchung direkte Berührungen vornehmen<br />

muss, bei einer Patientin mit koitaler Empfin dungs -<br />

störung nicht auch die Lokalisation des Gräfen -<br />

bergpunktes und dessen Sensibilität demonstrieren?“<br />

Strategien zur Hilfe?<br />

Erst 1994 erschien eine praktische und umfassende<br />

Darstellung zur Frage „Grenzen einhalten: Die<br />

Aufrechterhaltung von Sicherheit und Integrität im<br />

psychotherapeutischen Prozess“ und ein Jahr darauf<br />

erschien „Grenzen und Grenzverletzungen in der<br />

Psychoanalyse“ der Psychiater Gabbard & Lester<br />

(1995). Zugleich wurde vermehrt zur Beurteilung und<br />

zum Umgang mit Fachleuten anderer Professionen<br />

publiziert, die sexuellen Umgang mit ihren Patienten<br />

hatten, u.a. auch über Geistliche, die sexuellen<br />

Kontakt mit Gemeindemitgliedern aufnahmen ( es ist<br />

offenbar kein Problem, das erst jüngst entstanden ist).<br />

Diese Publikationen führten zu Beurteilungs- und<br />

Behandlungsmethoden von Fachpersonen, die Grenz -<br />

verletzungen aller Art – nicht nur sexuelle Übergriffe<br />

– begingen. Die Ausnutzung von Vertrauens verhält -<br />

nis sen durch Fachleute kann im Bildungsbereich, im<br />

Bereich von Sport- und Freizeit und auch im Ge sund -<br />

heitswesen geschehen.<br />

Um als Opfer und als Täter betroffenen Personen<br />

zu helfen, war eine Fülle von Fragen zu klären:<br />

Was ist unter sexuellem, was unter emotionalem Miss -<br />

brauch durch Fachleute zu verstehen?<br />

Lassen sich Umstände besonderer Risiken auf<br />

Seiten der Opfer und der Täterseite ermitteln?<br />

Wie kann man missbräuchliches Verhalten durch<br />

Fachleute mindern oder verhindern? Welches sind die<br />

Folgen für Betroffene und ihre Angehörigen?<br />

Welche Hilfsmöglichkeiten stehen für als Opfer<br />

oder Täter Betroffene zur Verfügung?<br />

Fischer et al. (1995) beurteilen aus ihren Unter -<br />

suchungen die Rehabilitationsmöglichkeiten für übergriffige<br />

Psychotherapeuten eher pessimistisch. Thera -<br />

piewillige missbrauchende Fachleute haben es demge -<br />

mäss schwer, geeignete und bereite Therapeuten zu<br />

finden. Vielleicht war dies ein Motiv für die flämischen<br />

Autoren Vanhoek und van Daele, im Jahr 2000<br />

ein „Arbeitsbuch Täterhilfe“ zu publizieren, das sich<br />

als eine Anleitung zur Selbsthilfe an Sexualtäter wendet<br />

und ihnen eine Chance für Schritte zu Eigen -<br />

verantwortlichkeit bietet; viele der darin beschriebenen<br />

Schritte zur Kontrolle des Übergriffsverhaltens<br />

sind für Täter in therapeutischen Situationen übertragbar.<br />

Es bleibt aber fraglich, ob bereits übergriffig ge -<br />

wor dene Fachleute auf sich allein gestellt die Kraft<br />

und Beharrlichkeit haben, solch ein Abgren zungs -<br />

manual selbständig abzuarbeiten; in einer therapeutischen<br />

Beziehung zu einer fachkundigen kollegialen<br />

Person können auch Zeiten der Entmutigung und Ver -<br />

zweiflung überwunden werden; auch erscheint es<br />

frag lich, ob die Stärkung der eigenen Gewissens -<br />

funktion außerhalb der therapeutisch gestalteten Be -<br />

ziehung zu einer das emotionalen Fortschreiten bejahenden<br />

und bestätigenden therapeutischen Person zu<br />

Stande kommt.<br />

Die Scheu von Psychotherapeuten, übergriffig ge -<br />

wor dene Kollegen in Behandlung zu nehmen, könnte<br />

zum Teil an den widersprüchlichen und heftigen Ge -<br />

gen übertragungsreaktionen liegen, die von Abscheu,<br />

Ablehnung und Verurteilung bis hin – im Sinne einer<br />

Identifikation mit dem Täter – zu verborgener Scham,<br />

heimlichem Mitleid, halb eingestandenem Bedauern<br />

und gar einer eindeutigen Parteinahme tendieren kann.<br />

Diese Tendenzen können zum Agieren von Affekte in<br />

Form von Opferbeschuldigungen führen. Auch die<br />

Ge fahr emotionaler Korrumpierbarkeit aus Fürsorge<br />

für den Behandlungskandidaten ist sorgfältig zu be -<br />

achten. Mitwisser können sich mit quälenden Ge -


(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 135<br />

danken an eine Mitverantwortung konfrontiert fühlen<br />

und die Furcht, selbst etwa durch eine Verleum dungs -<br />

klage in juristische Verwicklungen zu geraten, ist nicht<br />

zu unterschätzen. Hier könnte eine fachlich kompeten -<br />

te Supervision hilfreich sein, auf die eigentliche Auf -<br />

gabe zu zentrieren. Übernimmt der Therapeut zu viel<br />

Ver antwortung, kann dies vielleicht den notwendigen<br />

Wandlungsprozess beeinträchtigen. Da die Behand -<br />

lung von übergriffigen Tätern mit solchen komplizierten<br />

Problemen der Gegenübertragung verbunden sind,<br />

ist eine solche Aufgabe nur durch therapeutisch erfahrene<br />

Personen bei obligater Supervision zu bewältigen.<br />

Gegenüber den Täter-Kollegen empfiehlt Tschan<br />

(2001) eine „sehr eindeutige therapeutische Haltung.<br />

Die Täterberatung sollte nicht im moralischen Sinne<br />

verurteilend sein, hingegen mit klarer Haltung, was<br />

die Verantwortung der betreffenden Fachperson be -<br />

trifft.“<br />

Etwas später fordert Tschan: „Gleich zu Beginn je -<br />

der Be ratung muss das Auftragsverhältnis klargestellt<br />

wer den. Folgende Fragen müssen beantwortet werden:<br />

Kommt er auf Druck von Dritten (Arbeit geber,<br />

Gerichte, Behörden, Berufsverbände, Ange hö rige<br />

etc.)? Will er seinen eigenen möglichen Schaden minimieren<br />

und möglichst ungeschoren davonkommen<br />

oder bereut er seine Handlungen und sieht den<br />

Schaden ein, den er angerichtet hat?<br />

Was erwartet der Täter von einer Beratung, welches<br />

sind seine Zielsetzungen?<br />

Das Ziel der Beratung besteht darin, beim Täter<br />

die notwendigen Verhaltensänderungen zu ermöglichen,<br />

die einen emotionalen Lernprozess einzuleiten.<br />

Das soll den Tätern möglich machen, sich in die<br />

Situation des Opfers zu versetzen, damit sie das Un -<br />

recht ihres Tuns auch wirklich einsehen können und<br />

sie ihre Impulse besser kontrollieren lernen.“<br />

Was kann man vorbeugend und<br />

als Rehabilitation tun?<br />

Tschan meint, dass es nicht genüge, die Ver feh lungen<br />

strafrechtlich würdigen zu lassen; es müsse auch über<br />

Vorbeugung und Schutz vor Wiederholung nachgedacht<br />

werden. Daher schlägt er vor, im Rahmen eines<br />

zukünftig anzuwendenden Rehabilitations kon zeptes<br />

für alle missbrauchenden Fachleute diese vor Be -<br />

handlungsaufnahme durch eine unabhängige Instanz<br />

im Hinblick auf ihre Rehabilitierbarkeit zu beurteilen<br />

(2001).<br />

Tschan zeigt sich jedoch nicht unkritisch, indem er<br />

warnt: „Es ist davon auszugehen, dass sich nur ein<br />

kleiner Bruchteil von missbrauchenden Fachleuten<br />

frei willig für eine Beratung meldet. Die Motivation<br />

für einen derartigen Schritt reicht von echter Einsicht<br />

über das eigene Fehlverhalten oder Angst vor möglichen<br />

administrativen und rechtlichen Folgen bis zum<br />

Druck von außen im privaten Bereich (Ehepartner,<br />

Angehörige).“<br />

In Deutschland haben die Arbeiten von Monika<br />

Becker-Fischer und Gottfried Fischer (1994) die<br />

Grund lage für eine Gesetzesänderung abgegeben, wie<br />

sie inzwischen mit der Schaffung des Paragraphen 174<br />

c StGB rechtskräftig wurde. Hier hat der Gesetzgeber<br />

für den nötigen Schutz gesorgt, aber dieser ist erst<br />

nachträglich wirksam: Es wird ein Prinzip durch ein<br />

strafbewehrtes Verbot geschützt, nicht aber die Opfer<br />

Fest steht: Sexuelle Übergriffe kommen neben Miss -<br />

brauchshandlungen anderer Art in beachtenswerter<br />

Zahl vor.<br />

Die Folgen bei den Opfern sind sehr nachteilig.<br />

Die Täterstrategien sind bekannt. Bestrafungen, wenn<br />

sie denn zustande kommen, schützen nicht vor<br />

Folgetaten.<br />

Die wichtigsten Risikomerkmale der Täter – abgesehen<br />

von individueller Problematik – sind bekannt:<br />

Je kürzer die psychotherapeutische Ausbildung und je<br />

geringer der Supervisionsanteil, desto eher wird ein<br />

Psychotherapeut übergriffig handeln.<br />

Es liegen Übungsprogramme vor, mit denen Täter<br />

und Gefährdete lernen können, professionelle Distanz<br />

zu wahren. Hier müssen aber auch Strukturen geschaffen<br />

werden, Opfern und Tätern zur Rehabilitation hilfreich<br />

zu sein.<br />

Abgrenzungstraining<br />

Seit einigen Jahren liegen Erfahrungen (Epstein 1994,<br />

Gorton et al. (1996) mit dem ursprünglich für pädophile<br />

Täter entwickelten „boundary training“ vor, das<br />

auch als Abgrenzungstraining für Fachleute geeignet<br />

ist, um sie bereits vom Beginn ihrer Laufbahn an zu<br />

sensibilisieren und auf mögliche Situationen vorzubereiten,<br />

die zu Grenzüberschreitungen führen könnten.<br />

Die Zielgruppe eines solchen Abgrenzungstrainings<br />

sind Fachleute, die auf Grund ihres Tätigkeits spek -<br />

trums in Gefahr kommen können, Grenzen nicht einzuhalten.<br />

Da die Akademie für Sexualmedizin nicht nur Psy -<br />

chotherapeuten mit längerer und qualitativ differenzierter<br />

Ausbildung in ihre Kurse aufnimmt, sondern<br />

auch Fachärzte mit geringeren psychotherapeutischen<br />

Fähigkeiten und Fertigkeiten, hat sie Verantwortung<br />

für eine präventive Schulung der künftigen sexualmedizinisch<br />

Tätigen Kollegen und will diese auch wahrnehmen.<br />

Dies könnte sie in vermehrtem Umfang um -<br />

setzen, indem sie in der sexualmedizinischen Aus bil -<br />

dung auch eine Kompetenzerweiterung im Abgren -


136 W. Dmoch<br />

zungsverhalten und ein Bewusstsein für Grenzen im<br />

se xualmedizinischen Kontext vermittelt, was wie einleitend<br />

festgestellt weniger im Paargespräch als vielmehr<br />

in Einzelgesprächen zum Tragen kommen sollte.<br />

Das Curriculum (Vogt et al. 1995) vermittelt Ärzten<br />

aus verschiedenen medizinischen Fachbereichen wertvolles<br />

Wissen und Können, um sexualmedizinisch in<br />

ihren jeweiligen beruflichen Bereich tätig zu werden<br />

und bereitet sie mit erheblichem Aufwand an Selbst -<br />

erfahrung und Supervision auf therapeutische Situ -<br />

atio nen vor, die ihnen bis dahin ungewohnt waren. Es<br />

ist ein Bestandteil der Verantwortung und Fürsorge -<br />

pflicht der Lehrenden, auch präventiv tätig zu werden.<br />

Ich bin der Auffassung, dass die ASM nicht den<br />

Fehler der etablierten psychotherapeutischen Ausbil -<br />

dungs institutionen wiederholen darf, dieses Thema in<br />

ihren Weiterbildungen und im professionellen Diskurs<br />

zu vernachlässigen.<br />

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Yalom, I. (1998): Die rote Couch. München: Goldmann.<br />

Anschrift des Autors<br />

PD Dr. Walter Dmoch, Bromberger Str. 22, 40599 Düsseldorf, mail: walter.dmoch@uni-duesseldorf.de


Fortbildung<br />

Sexuologie<br />

„Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden.<br />

Die Partnerschaft ist zusammengewachsen.“ *<br />

Dirk Rösing<br />

„Confidence and Security are<br />

now present. Our Partnership<br />

has grown.“<br />

Im folgenden wird über den Verlauf einer Sexual the -<br />

ra pie berichtet. Wegen einer Erektionsstörung stellte<br />

sich ein junger Mann in der Sprechstunde für Erektile<br />

Dys funk tion der Poliklinik für Urologie der Ernst-<br />

Moritz-Arndt Universität Greifswald vor. Nach einer<br />

Zeit von 8 Wochen in denen 4 Gespräche mit dem<br />

Mann geführt wurden, konnte er motiviert werden<br />

seine Widerstände, die Partnerin am gemeinsamen<br />

Gespräch teilnehmen zu lassen, aufzugeben. Die The -<br />

rapie umfasste 9 Stunden und erstreckte sich über<br />

einen Zeitraum von 4 Monaten. Es wird nachfolgend<br />

aufgezeigt, dass die Einbeziehung der Partnerin entscheidend<br />

für den erfolgreichen Thera pieverlauf war<br />

und beide davon in einem überschaubaren Zeitin -<br />

tervall profitierten.<br />

Anlass der Erstvorstellung<br />

Herr L. stellte sich mit einer Überweisung eines am -<br />

bulant tätigen urologischen Kollegen zur weiteren Ab -<br />

klä rung einer erektilen Dysfunktion vor. Die be reits<br />

be stimm ten Testosteronwerte waren im Norm bereich.<br />

Ein Therapieversuch mit Apomorphin war ge scheitert.<br />

Der 30 jährige gutaussehende Mann berichtet im<br />

Erst gespräch über seine „Potenzprobleme“ mit den<br />

Wor ten: „Es passiert gar nichts mehr“.<br />

Herr L. ist ordentlich gekleidet, wirkt gepflegt. Er<br />

ist schüchtern, hilflos und kann zunächst kaum Blick -<br />

kon takt halten. Es fällt ihm schwer, über seine Sexua -<br />

li tät zu sprechen. Eine differenziertere Analyse der<br />

Pro blematik wird nur durch ständiges Nachfragen<br />

möglich.<br />

Vor einem Monat habe er Frau P. kennengelernt.<br />

Sie sei seine erste Frau. Beim Petting habe er eine<br />

Erektion bekommen, aber beim Versuch den Koitus zu<br />

* Worte eines 30 jährigen Mannes mit Erektionsstörung am Ende einer<br />

Paartherapie.<br />

vollfüh ren, kam es zur Gliederschlaffung. „Ich dachte<br />

es kommt von der Aufregung“. Weitere Versuche<br />

einen Koi tus zu erreichen scheitern. Herr L. berichtet<br />

über mor gendliche sowie bei der Masturbation auslösbare<br />

Erektionen. Er äußert die Befürchtung, durch jahrelang<br />

durchgeführte Selbstbefriedigung, nicht in der<br />

Lage zum Vollzug eines Geschlechtsverkehres zu sein.<br />

Seine Part nerin beschreibt Herr L. als tolerant. Sie sei<br />

das „was man sich immer erträumt hat“. Es wäre ihm<br />

je doch sehr peinlich über diese Thematik mit ihr zu<br />

sprechen. Seine „Misere“ belaste ihn sehr stark, so<br />

dass eine schnelle Lösung eingefordert wird. „Wenn<br />

es einmal klappen würde, wäre das Problem gelöst.<br />

Ich will nur normal sein.“ Er berichtet über gemeinsame<br />

Zu kunfts pläne, w.z.B. einen Kinderwunsch seiner<br />

Part nerin, der so nicht erfüllbar ist.<br />

Seine Freundin, die ihn jedes mal bis ins Warte -<br />

zim mer begleitete, mit ins Gespräch einzubinden,<br />

wird wie derholt energisch zurückgewiesen. 8 Wochen<br />

nach dem Erstkontakt, ohne wesentliche Veränderun -<br />

gen der Sexualproblematik, aber weiterer positiver<br />

Ge staltung der Partnerschaft ist Herr L. mit einem Ge -<br />

spräch zu dritt einverstanden.<br />

Lebensgeschichtliche und sozio -<br />

sexuelle Entwicklung<br />

Herr L. bezeichnet sich als einen „Einzelgänger“. „Ich<br />

hätte gern Freunde gehabt, aber ich habe mich immer<br />

abgeschottet“. Nach dem Abschluss der 10. Klasse<br />

folg te eine Lehre und Zivildienst. Seit einigen Jahren<br />

arbeitet er als Angestellter in einem Baumarkt.<br />

Herr L. hat bis zur jetzigen Partnerschaft gemeinsam<br />

mit den Eltern in einer Wohnung gelebt. Die Be -<br />

ziehung bezeichnet er als „sehr gut“. Die Vorstellung<br />

seiner Freundin im Elternhaus habe „Freude bereitet“.<br />

Er hat einen 10 Jahre älteren Bruder, zu dem wenig<br />

Kon takt besteht.<br />

Bis zum 18. Lebensjahr habe er im elterlichen<br />

Schlaf zimmer geschlafen. Sexuelle Handlungen zwischen<br />

den Eltern habe er nie bemerkt. Die sexuelle<br />

Auf klärung sei zu Hause kein Thema gewesen. Er<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 137 – 139 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


138 D. Rösing<br />

habe sei ne Mutter nur einmal nackt im Bad „überrascht“,<br />

woraufhin sie erschrocken sei und sich ein<br />

Hand tuch vorgehalten habe.<br />

Mit 14 Jahren begann er zu masturbieren. Mit 18<br />

Jah ren besorgte er sich „normale“ pornographische<br />

Fil me, die er als Masturbationsvorlage verwendete.<br />

Pa ra phile Phan tasien bestehen nicht.<br />

Erstkontakt mit dem Paar und<br />

Bezie hungsentwicklung<br />

Die 29 jährige Frau P. ist aufgeschlossen und wirkt<br />

dadurch attraktiv. Sie berichtet von einer zunehmenden<br />

Lösung der „Verkrampfung“ bei ihrem Freund.<br />

„Wir können jetzt lockerer darüber reden. Es geht<br />

eben noch nicht voll los, das braucht seine Zeit.“<br />

Herr L. und Frau P. sind seit einigen Jahren Ar -<br />

beits kollegen. Seit längerer Zeit habe Herr L. den<br />

Wunsch nach näheren Kontakten zu ihr. Er habe sie<br />

jedoch nie daraufhin angesprochen. Eine SMS von<br />

Frau P., in der sie ihm ein Angebot zum näheren Ken -<br />

nenlernen unterbreitet, wird von Herrn L. angenommen.<br />

Beide führen daraufhin ein langes Gespräch miteinander.<br />

Nach ca. 4 Wochen zieht Herr L. in die Woh -<br />

nung von Frau P.<br />

Frau P. hatte vor dieser Bindung einen Partner.<br />

Nach dem sie anfänglich auch einige Male koital verkehrt<br />

hatten, seien sexuelle Kontakte von Seiten des<br />

Partners abgebrochen worden. „Ich bin weggeschoben<br />

worden. Ich habe in einem kalten Bett gelegen.“ Nach<br />

verbalen Beschimpfungen ist Frau P. ohne Ankün -<br />

digung aus der Wohnung ausgezogen.<br />

Während des Erstkontaktes mit dem Paar wird die<br />

Zuneigung zwischen beiden spürbar. Hilfesuchend<br />

greift Herr L. nach der Hand seiner Partnerin. Frau P.<br />

erwidert diese Geste. Häufig nehmen beide Blickkon -<br />

takt miteinander auf, unsicher spielt er mit den Fin -<br />

gern an der Tischkante.<br />

Therapieverlauf<br />

Nach den ersten Stunden wird die sexuelle Unerfah -<br />

ren heit beider Partner deutlich. Die Versagensangst,<br />

Angst den Partner verlieren zu können sowie die Un -<br />

fähigkeit über seine Gefühle zu sprechen, stehen bei<br />

Herrn L. im Vordergrund. Auch bei Frau P. werden<br />

Ängste deutlich durch unerfüllte Sexualität ähnliches<br />

aus der Biogra phie wieder zu erleben. Schon nach den<br />

ersten Gesprä chen schildert Frau P. Veränderungen im<br />

Umgang mit dem Thema Sexualität. „Ich sehe das<br />

jetzt lockerer, und es belastet mich nicht mehr so sehr<br />

wie am Anfang.“<br />

Bei der sexuellen Funktionsstörung handelt es sich<br />

um eine Erektionsstörung vom situativen Typ geprägt<br />

durch Leistungsangst und sexuelle Unerfahrenheit<br />

(DSM-IV 302.72, ICD-10 F52.2).<br />

Das Paar ist motiviert und äußert seine Bereit -<br />

schaft an einer Sexualtherapie.<br />

Nach Aufnahme der Sensualitätsübung I verbunden<br />

mit einem Koitusverbot berichtet Frau P. über das<br />

Gefühl tie fer Entspannung. „Ich kann mich fallen lassen.“<br />

Zu gleich gibt sie ihrem Partner positive Rück -<br />

informa tionen über seinen Körper wie z. B. „er hat<br />

sehr schöne Füße“. Auch Herr L. empfindet die Übungen<br />

als „sehr an genehm und erregend“. Beide reden<br />

nun über das Thema Sexualität wesentlich in ten siver<br />

miteinander.<br />

In der zweiten Therapiestunde wirkt Herr L. sehr<br />

un zufrieden mit dem Therapieverlauf. „Es bringt nicht<br />

den gewünschten Erfolg.“ Frau P. beschreibt ihre Em -<br />

pfin dungen ambivalent. Sie fühlt sich in der Rolle des<br />

Gestreicheltwerdens zwar sehr entspannt, äußert aber<br />

„schlechtes Gewissen“ ihrem Partner gegenüber zu<br />

haben. Hier wird dem Paar nochmals der enorme Leis -<br />

tungsdruck gespiegelt und die Fehlvorstellung in dieser<br />

Phase der Therapie seinem Partner etwas beweisen<br />

zu müssen. Positiv verstärkt wird die einsetzende Fä -<br />

hig keit von Herrn L., jetzt besser über seine Gefühle<br />

und Enttäuschungen sprechen zu können. Diese Fä -<br />

higkeit, Ängste und Erwartungen zu verbalisieren und<br />

so Missverständnisse zu vermeiden, wird in den nächsten<br />

Stunden deutlich. Den Wunsch nach einem Kind<br />

hatte Frau P. vor zwei Jahren ihren Kolleginnen ge -<br />

gen über geäußert und gleichzeitig betont, dass eine<br />

Partner schaft dafür nicht Bedingung wäre. Dies sei<br />

Herrn L. „zugetragen“ worden. Auch die Situation,<br />

dass sie ihren letzten Partner plötzlich verlassen hatte,<br />

bewirkte bei Herrn L. Verlustängste. „Das war schon<br />

im Kopf drin. Ich hatte Angst verlassen zu werden.“<br />

Mit wachsender Nähe und Vertrautheit zwischen den<br />

Partnern wird es möglich Gefühle und Empfindungen<br />

anzusprechen und auf die aktuelle Situation zu reflektieren.<br />

Frau P. ist in der Lage die Übungen als Körper -<br />

sprache zu übersetzen und sagt: „Es hat etwas mit Ver -<br />

trauen zu tun darüber zu sprechen und sich fallen lassen<br />

zu können.“<br />

In den folgenden Stunden wird es nun möglich<br />

über den Sensate focus II zum stimulierenden Strei -<br />

cheln zu wechseln. Herr L. berichtet jetzt über zunehmende<br />

Erek tionen und beide sind in der Lage sich<br />

gegenseitig orgasmusfähig zu stimulieren. Der Zu -<br />

sam menhang zwi schen der beziehungsorientierten<br />

und genital-sexuellen Dimension wird in dieser Phase<br />

verstärkt bearbeitet. Frau P. sagt rückblickend auf die<br />

Beziehungs entwicklung, welche inzwischen 5 Monate<br />

besteht: „Das Eingangsproblem ist als Tagesthema<br />

nicht mehr relevant. Zuerst waren wir sehr steif im<br />

Umgang miteinander. Ich kann mich immer mehr


„Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden. Die Partnerschaft ist zusammengewachsen“ 139<br />

ohne schlechtes Gewissen fallen lassen. Auch im alltäglichen<br />

Leben besteht Harmonie.“ Auch Herr L. ist<br />

nun zunehmend in der Lage, über seine Gefühle zu<br />

sprechen. „Ich fühle mich jetzt besser und bin stolz<br />

darauf. Ich merke, dass es durch kleine Schritte besser<br />

wird.“ Das Paar findet ein eigenes sexuell erregendes<br />

Vokabular für sich. Das Orgasmuserleben gestaltet<br />

sich intensiv, abwechslungsreich und gehört nun zu<br />

den Übungen dazu. „Es ist sehr schön zu erleben, wie<br />

er seinen Orgasmus bekommt. Ich finde es spannend<br />

den Orgasmus immer wieder als etwas Neues zu er -<br />

fahren.“<br />

In den Therapiesitzungen wird nun verstärkt die<br />

Bedeutungserteilung einen Orgasmus bei sich und seinem<br />

Partner zu erleben hervorgehoben. Worte wie<br />

„Vertrauen, Akzeptanz, Geborgenheit und Nähe“ werden<br />

zur Übersetzung des körperlichen Ausdrucks verwendet.<br />

Die ehrliche und vertrauensvolle Atmosphäre<br />

zwischen den Partnern, die in den Therapiestunden<br />

wiederholt herausgearbeitet wird, gestattet es beiden<br />

auch Zurückweisung sexueller Aktivitäten, bedingt<br />

durch alltägliche Stressoren, nicht als etwas Verlet -<br />

zendes zu empfinden.<br />

In der 6. Therapiestunde berichten beide, bei noch<br />

bestehendem Koitusverbot, miteinander einen Koitus<br />

erlebt zu haben. „Es war sehr schön und hat in die<br />

Situation gepasst. Es hat unserer Beziehung gut<br />

getan.“ Dieses Erlebnis wird zunächst ausreichend<br />

gewürdigt. Gleichzeitig gilt es im Folgenden das<br />

Erreichte zu stabilisieren und die von ihm beklagte<br />

„schnelle Ejakulation“ nicht manifest werden zu lassen.<br />

Dem Paar werden die Übungen des Penisein -<br />

führens („quiet vagina“) erläutert. Die Partner sind<br />

nun in der Lage, diese Übungen ohne Schwierigkeiten<br />

durchzuführen, dabei sprechen sie miteinander über<br />

ihre Gefühle und geben diese in den Therapiestunden<br />

wieder und verstärken somit das Erlebte positiv.<br />

Gefragt nach dem Zusammenhang zwischen Partner -<br />

schaft und erlebter Sexualität antwortet Frau P.: „Es ist<br />

kompakt. Ich glaube es, wenn er sagt er findet mich<br />

hübsch, weil ich ihn spüre“. Auch Herr L. ist nun in<br />

der Lage den Koitus als Körpersprache wahrzunehmen.<br />

„Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden.<br />

Die Partnerschaft ist zusammengewachsen.“<br />

Das Paar beschreibt in der 8. Therapiestunde verschiedene<br />

Stellungen ohne Schwierigkeiten probiert<br />

zu haben, auch die Abstände bis zur Ejakulation sind<br />

größer geworden. Die Grenzen werden nun als Aus -<br />

druck wachsender Selbstständigkeit der Partnerschaft<br />

vom Paar eigenständig aufgeweicht. In der 9. Stunde<br />

berichten beide über einen Nachmittag, bei dem es zu<br />

einem dreistündigen sexuellen Miteinander kam. „Es<br />

war sehr schön, sehr intensiv, das Beste bisher.“<br />

In der Partnerschaft bestehen jetzt feste Zukunfts -<br />

pläne. Der Geschlechtsverkehr erfolgt ohne Verhü -<br />

tungs mittel. Beide sind sich einig das Thema Kinder -<br />

wunsch so auf sich zu kommen zu lassen. Die nächste<br />

Konsultation des Paares wird im gegenseitigen Ein -<br />

verständnis nach einem Monat erfolgen.<br />

Am Therapieverlauf kann beispielhaft dargestellt<br />

werden, dass ohne die Einbeziehung der Partnerin ein<br />

derart befriedigendes Ergebnis für das Paar wahrscheinlich<br />

nicht möglich gewesen wäre. Durch die po -<br />

sitiven Rückmeldungen und die einfühlsame Art der<br />

Partnerin war es Herrn L. möglich, Erektionen zu zu -<br />

las sen und diese als Körpersprache zu begreifen.<br />

Gleichzeitig profitierte Frau P. davon, durch das entstandene<br />

Vertrauen in der Partnerschaft, auch ihre<br />

Ängs te verbalisieren zu können. Das Kernproblem<br />

Partnerschaft und Sexualität als Einheit zu betrachten,<br />

wird am Beispiel des Paares durch Äußerungen des<br />

Symptomträgers im Erstkontakt und am Ende der<br />

Sexualtherapie deutlich. „Wenn es einmal klappen<br />

wür de, wäre das Problem gelöst“. „Vertrauen und<br />

Sicher heit sind jetzt vorhanden. Die Partnerschaft ist<br />

zusammengewachsen.“<br />

Anschrift des Autors<br />

Dr. med. Dirk Rösing, Klinik und Poliklinik für Urologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Fleischmannstr. 42-44, 17487 Greifswald,<br />

mail: dirk.roesing@uni-greifswald.de


••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />

Neu: VIRIDAL 40 µg<br />

Zur Behandlung der erektilen Dysfunktion steht den<br />

Be troffenen eine Vielzahl von Therapieoptionen zur<br />

Verfü gung.<br />

Je nach Ätiologie der Erkrankung wird durch die orale<br />

Me dikation jedoch keine zufriedenstellende Erektion<br />

er zielt. Insbesondere Patienten nach einer radikalen<br />

Pros tatektomie oder Diabetiker reagieren in vielen<br />

Fällen un befriedigend auf orale Präparate.<br />

Für diese Patienten ist die Schwellkörper-Auto in -<br />

jektions-Therapie mit Alprostadil (SKAT) die The rapie<br />

der Wahl. Das Zweikammersystem von VIRIDAL ist da -<br />

bei für die Patienten extrem komfortabel in der Anwen -<br />

dung.<br />

VIRIDAL ist als 10 µg, 20 µg und jetzt auch als 40<br />

µg Stär ke erhältlich, so dass auch schwerste Störun -<br />

gen therapierbar sind. VIRIDAL ist damit das einzige<br />

Prä parat zur SKAT, das auch in dieser hohen Do sierung<br />

zur Verfügung steht.<br />

Shabsigh et al. (Urology 2000. 55: 477 - 480) zeigte,<br />

dass gerade bei Sildenafil-Non-Respondern die mittlere<br />

Al pros tadil-Dosis bei SKAT bei 28,3 µg lag. Patien -<br />

ten, die mehr als 20 µg Alprostadil für eine zufriedenstellende<br />

Erek tion benötigen, konnten bisher in<br />

Deutschland nicht be handelt werden. Für die se Klientel<br />

steht nun VIRIDAL 40 µg zur Verfügung.<br />

VIRIDAL ist sehr gut verträglich, denn es wirkt dort,<br />

wo es wirken soll – lokal in den Schwellkörpern.<br />

Caelyx in der First-line Therapie des metastasierten<br />

Mammakarzinoms – effektiv und besser verträglich<br />

Neue Studiendaten erstmals auf der 38. Jahrestagung der<br />

American Society of Clinical Oncology (ASCO) Ende Mai 2002<br />

präsentiert<br />

Pegyliertes Liposomales Doxorubicin (Caelyx) hat sich im Vergleich mit freiem<br />

Doxorubicin in einer randomisierten Phase III-Studie bei Patien tinnen<br />

mit unvorbehandeltem metastasiertem Mammakarzinom als eben so wirksam<br />

bei erheblich geringeren Nebenwirkungen erwiesen – dies berichtete<br />

Nely Wigler vom Tel Aviv Medical Center, Israel, anlässlich der 38. Jah res -<br />

tagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) Ende Mai 2002<br />

in Orlando.<br />

In die Studie waren 509 Patientinnen mit metastasiertem Mamma kar -<br />

zinom eingeschlossen worden. 254 Patientinnen erhielten Caelyx in einer<br />

Do sierung von 50 mg/m 2 alle 4 Wochen, 255 Patientinnen freies Doxo -<br />

rubicin in einer Dosierung von 60 mg/m 2 alle drei Wochen. Primäre End -<br />

punk te der Studie waren das progressionsfreie Überleben und die Kardio -<br />

toxizität. Das progressionsfreie Überleben unterschied sich unter Caelyx<br />

nicht signifikant von freiem Doxorubicin, das Gesamt überleben war in beiden<br />

Studienarmen vergleichbar. Deutlich unterschiedlich war jedoch die<br />

Kardiotoxizität der beiden Substanzen. Von den insgesamt 509 Patien -<br />

tinnen zeigten 58 Patientinnen einen Abfall der LVEF (linksventrikulären<br />

Ejektionsfraktion): 10 unter Caelyx und 48 unter Doxorubicin (p = 0.0006).<br />

Zwei der mit der pegylierten liposomalen Formulierung behandelten Pa -<br />

tien tinnen entwickelten eine Herz in suffizienz im Vergleich mit 12 Patien -<br />

tinnen unter Doxorubicin. Weitere Nebenwirkungen, die unter Doxorubicin<br />

weit häufiger auftraten, wa ren Alopezie, Übelkeit und Erbrechen. Lediglich<br />

Hautreaktionen waren unter Caelyx häufiger.<br />

„Diese Ergebnisse mit Caelyx bedeuten einen wichtigen Fortschritt für<br />

die Chemotherapie des metastasierten Mammakarzinoms“ – so Nely Wig -<br />

ler wörtlich. „Die Verminderung von Nebenwirkungen wie Alo pezie, Übelkeit<br />

und Erbrechen bringen den Patientinnen eine signifikant verbesserte<br />

Lebensqualität. Die erheblich verringerte Kardioto xizität versetzt die The -<br />

ra peu ten in die Lage, den Patientinnen mit metastasiertem Mamma -<br />

karzinom die volle Chemotherapiedosis über einen längeren Zeitraum zu<br />

verabreichen.“<br />

Brustkrebs ist heute die häufigste Krebserkrankung der Frau. Schät -<br />

zungs weise 50.000 Frauen erkranken in Deutschland jährlich an einem<br />

Mammakarzinom, etwa 18.000 versterben an dieser Erkrankung pro Jahr.<br />

Brustkrebs ist damit nach Lungenkrebs die zweihäufigste Todes ursache<br />

bei den Krebserkrankungen. Für Patientinnen mit metastasiertem Mam -<br />

makarzinom beträgt das 5-Jahres-Überleben lediglich 20%, das Mittel<br />

liegt bei 2 oder 3 Jahren nach Feststellung der Metasta sierung.<br />

Caelyx ist in Deutschland seit 1996 für die Behandlung des AIDS-assoziierten<br />

Kaposi Sarkoms und seit 2000 für die Therapie des fortgeschrittenen<br />

Ovarialkarzinoms zugelassen. Mit einer Zulassung für die Be handlung<br />

des metastasierten Mammakarzinoms wird im Herbst 2002 gerechnet.<br />

I<br />

Nach Selbstangaben der Industrie


Diskussion<br />

Sexuologie<br />

Hinter-Fragwürdigkeit der etablierten AIDS-<br />

Bekämpfungskonzeption<br />

Reinhard Wille, Reinhard H. Dennin, Michael Lafrenz<br />

Questionability of the established<br />

concept of combating AIDS<br />

In unserer schnelllebigen und zudem ökonomisch und<br />

öko logisch globalisierten sowie kommunikativ weltweit<br />

vernetzten Epoche ist ein Vierteljahrhundert eine Zeit -<br />

spanne, in der Veränderungen eintreten können, die damalige<br />

Überzeugungen als überholt und nicht mehr zeitge -<br />

mäß erscheinen lassen.<br />

Wer hätte sich um 1977 vorstellen können,<br />

! dass Deutschland wiedervereinigt, aber<br />

! dass der bundesrepublikanische Sozialstaat auf ho -<br />

hem Wohlstandsniveau nicht mehr bezahlbar ist und<br />

! dass ausgerechnet die traditionell ausbildungsbewusste<br />

und bildungsstolze Bundesrepublik bei der innereuropäischen<br />

PISA-Studie auf einem kümmerlichen<br />

Platz ganz weit unten gelandet ist,<br />

! dass auch trotz notorischer Erhebungsmängel und<br />

verzerrender Nebentendenzen immer noch von offizieller<br />

Seite die polizeiliche Ermittlungsstatistik als<br />

Grundlage für kriminologische Entwicklungsten den -<br />

zen herangezogen wird?<br />

! dass das monatliche Ritual der Verkündigung der Ar -<br />

beitslosenzahlen in Nürnberg auf geschönten Statis ti -<br />

ken beruhte.<br />

Da dürfen, ja müssen die AIDS-Statistiken insoweit in<br />

Frage gestellt werden, als sie zur Untermauerung der<br />

Grund konzepte der offiziellen AIDS-Bekämpfungs-Stra -<br />

te gien herangezogen werden – und zwar sowohl von den<br />

am Status quo Interessierten als auch von den skeptischen<br />

und kritischen Reformern.<br />

Vor gut 15 Jahren stellten die seinerzeit zuständige<br />

Bun desministerin Rita Süßmuth und ihr leider viel zu früh<br />

verstorbener Berater Siegfried Dunde die Weichen für das<br />

damals neuartige Konzept einer gesellschaftlich orientierten<br />

HIV-Praeventions-Strategie (Aufklärung und hoher<br />

Wis sensstand um Risiken und Chancen, Enttabuisierung<br />

der Kondombenutzung; Verbot der Ausgrenzung und Dis -<br />

kri minierung – Symbol Rote AIDS-Schleife –, statt dessen<br />

„Positiv leben“ und szenen-interne Betreuung durch staatlich<br />

(mit-)finanzierte Selbsthilfegruppen). Die Alternative,<br />

nämlich die klassischen Individuum-zentrierten Konzepte<br />

mit nicht gezielter HIV-Testung und gezielter Spezial prä -<br />

vention der HIV-Positiven, wurde in den meisten osteuropäischen<br />

Ländern, aber auch in wenigen US-Staaten be -<br />

vorzugt. Das Süßmuth-Dunde-Konzept nahm inkauf, dass<br />

die erwarteten Einstellungsänderungen der Hauptrisiko -<br />

grup pen einen langen Zeitraum beanspruchen und die an -<br />

gestrebte Risikominimierung nur eine relative sein kann<br />

und zeitlich verzögert einsetzen werde. In der Tat hat laut<br />

neueren Erhebungen (Bochow 1989, Dannecker 1990,<br />

John son et al. 1994) Kondombenutzung unter Homophi -<br />

len rasant zugenommen, von selten auf gut 70% (und partiell<br />

sogar mehr). Dort, wo ein hoher Infektionssockel von<br />

bis zu 10% (und mitunter mehr) vorzufinden ist, reicht<br />

eine Unsafe-Sex-Quote von 20-25% aus, um einen Teil<br />

der Erstinfektionen zu erklären. Die anfänglichen Ver -<br />

suche, durch Kriminalisierung und Pönalisierung eine ab -<br />

schreckende Wirkung zu erreichen, verebbten schnell,<br />

! teils aus strafrechtsdogmatischen Gründen (wegen<br />

der erfreulich niedrigen Infektionsquote pro ungeschützten<br />

Kontakt kann nur eine versuchte Körper -<br />

verletzung zu einer nennenswerten Strafbarkeit füh -<br />

ren, die im StGB nur bei gefährlicher Körperverlet -<br />

zung vorgesehen ist)<br />

! teils aus kriminalpsychologischen Gründen (zwischen<br />

Ansteckung und Tod liegen durchschnittlich<br />

etwa 10 Jahre, ein psychologisch nicht überbrückbares<br />

Ursache-Wirkungs-Intervall).<br />

! teils aus der Erkenntnis, dass weder das Geschlechts -<br />

krankheitengesetz von 1953 noch das Bundes seu -<br />

chen gesetz Zwangseingriffe – etwa Therapien wider<br />

Willen des Patienten – vorsahen.<br />

! teils aus der Erfahrung, dass auch früher sexuell übertragbare<br />

Krankheiten nicht mittels des Strafrechtes<br />

effektiv bekämpft wurden, sondern durch gesund -<br />

heits polizeiliche Kontrollen der damals wesentlichen<br />

Infektionsquelle Prostitution.<br />

Der Protest der englischen Oberschicht-Mütter, die sich<br />

nicht länger damit abfinden wollten, dass ihre Söhne sich<br />

in Oxford oder Cambridge venerisch infizierten und an<br />

Tabes oder Paralyse elend zugrunde gingen, führte etwa<br />

vor 100 Jahren zur sogenannten Suffragetten-Bewegung,<br />

die über ihre anfänglichen Intentionen hinaus erfolgreich<br />

für feministische Ideale wie Gleichberechtigung auch<br />

beim Wahlrecht kämpfte.<br />

In Deutschland brachte die sogenannte sexuelle Re -<br />

volution im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts u.a. die ge -<br />

nerelle Aufhebung des Ehemonopols für erlaubte Sexu -<br />

alität und damit zunehmende Freizügigkeit schon ab der<br />

Adoleszenz, synchron auch die Erweiterung der sexuell<br />

erotischen Normalität (Partnertausch, Promiskuität und<br />

bis dahin als pervers geltende orale und anale Praktiken),<br />

und insbesondere die schrittweise Entkriminalisierung der<br />

männlichen Homosexualität (1969/1979 und 1994) mit<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 141 – 143 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


142 R. Wille, R.H. Dennin, M. Lafrenz<br />

sich. Mehr oder weniger offen Schwule und Lesben finden<br />

sich heute in Leitungsfunktionen wohl aller politischen<br />

Par teien, so dass der mitunter recht schrill inszenierte<br />

Christopher-Street-Day zu einer lieben, aber fast schon<br />

ana chronistisch anmutenden Tradition geworden ist.<br />

So erfreulich diese Normalisierung der gleichgeschlechtlich<br />

lebenden und liebenden Minderheit ist – und<br />

das gilt gleichermaßen für die faktische Entpönalisierung<br />

der Übertragung von Geschlechtskrankheiten und auch für<br />

AIDS –, so sollte die Rücknahme des Strafrechtes auch für<br />

Ärzte gelten, die anlässlich einer eingewilligten Blutent -<br />

nahme zur klinischen Diagnostik auch einen HIV-Test<br />

mit laufen lassen (Stille 2001). Denn die in der Blutentnah -<br />

me liegende tatbestandsmäßige Körperverletzung ist<br />

durch die Einwilligung gedeckt, also nicht strafbar. Der<br />

Erst-Autor hat seinerzeit als Landes-AIDS-Beauftragter in<br />

Schleswig-Holstein diese arztrechtliche Besonderheit der<br />

Kollegenschaft mit der Begründung vermittelt, dass die<br />

damals noch gesellschaftlich diskriminierte männliche<br />

Ho mosexualität ein besonderes Persönlichkeitsrecht erforderlich<br />

mache. Wenn vor 15 Jahren allerdings einige Juris -<br />

ten (Herzog 1988) eine psychische Destabilisierung bis<br />

hin zur (Prä-)Suizidalität durch die arztrechtlich gebotene<br />

Offenbarung des HIV-positiven Laborergebnisses behaupteten<br />

und u.a. daraus ein Recht auf Nichtwissen ableiteten,<br />

dann widerspricht diese Unterstellung nicht nur der medizinischen<br />

Empirie, sondern auch dem Grundkonzept eines<br />

einsichtigen, vernünftigen und um einen hohen Wissen -<br />

stand bemühten Adressaten der AIDS-Bekämpfungs-<br />

Kampagne. Wegen des großen zeitlichen Aufwandes und<br />

der zivil- und strafrechtlichen Risiken haben (zu) viele<br />

Ärzte auf den HIV-Test verzichtet und damit die epidemiologisch<br />

brisante Heerschar der aus Angst ungetesteten<br />

Ahnungslosen vermehrt. Heute herrscht in der Bevöl -<br />

kerung nicht mehr Panik und Schrecken, sondern eher eine<br />

beängstigende Gleichgültigkeit gegenüber der AIDS-Ge -<br />

fährdung und bei den Mitbürgern mit Risikoverhalten an -<br />

gesichts der verbesserten antiretroviralen Therapie (ART)<br />

angstverdrängender Gleichmut vor. Arztrechtlich er -<br />

scheint es kraß einseitig, dass dem potentiellen (Über-)<br />

Träger einer tödlichen Krankheit ein Recht auf Nicht -<br />

wissen zur Seite stehen soll, der Arzt aber unter Straf -<br />

drohung steht, wenn er die richtig vermutete Diagnose<br />

labortechnisch absichert und pflichtgemäß dem Patienten<br />

übermittelt. Hinsichtlich seiner strafrechtlichen Dignität<br />

erinnert das eben angeführte „Recht auf Nicht-Wissen“ an<br />

das von einem Lübecker Schöffengericht aufgestellte<br />

„Recht auf Rausch“.<br />

Zur ärztlichen Verunsicherung trägt zusätzlich ein Ur -<br />

teil vom OLG Frankfurt (August 1999) bei, das sogar eine<br />

Offenbarung des positiven HIV-Befundes gegenüber ge -<br />

fährdeten Intimpartnern/innen verlangt, also die ärztliche<br />

Schweigepflicht aufhebt, falls HIV-Positiver und HIVnegative<br />

Partnerin beim gleichen Arzt Patienten sind.<br />

Zurück zur skeptischen Eingangssentenz über den<br />

Realitätsgehalt von Stastitiken. Die Datenerhebung für die<br />

HIV-Statistiken unterliegt einer nicht unerheblichen<br />

Selektion, weiterhin Definitionsschwierigkeiten etwa zwischen<br />

Homo-, Bi- und Heterosexuellen (seit kurzem MSM<br />

und Hetero) sowie Überschneidungen von Auslands- und<br />

Prostituiertenkontakten, mit und ohne Drogenmissbrauch.<br />

Verwirren könnte den epidemiologischen Laien auch die<br />

nosologisch gebotene Differenzierung von HIV-Neuin fek -<br />

tion im Diagnose-Jahr und HIV-Erstdiagnosen.<br />

Ein u.E. wesentliches Manko liegt aber bei den bes -<br />

tenfalls nur indirekt, jedenfalls keineswegs vollständig<br />

erfaßten „ahnungslos HIV-Infizierten“, immerhin 80% der<br />

HIV-Erstdiagnostizierten. Darüber hinaus enthält die auf<br />

Wissen und Eigen verantwortung setzende gesellschaftsbezogene<br />

Anti-AIDS-Konzeption in Deutschland eine im -<br />

ma nente Schwach stelle bei Mitbürgern<br />

! die nicht die deutsche Sprache ausreichend beherrschen<br />

! die noch patriarchalisch geprägten Vorstellungen über<br />

die Rolle von Frau und Mann unterliegen und durch<br />

touristische Migrantinnen, die aus Osteuropa und<br />

Übersee über Ringe von Menschenhändlern und Zu -<br />

hältern nach Deutschland eingeschleust werden und<br />

hier als Prostituierte nicht dem Prinzip Verantwortung<br />

und Solidarität folgen, sondern den menschenverachtenden<br />

Usancen einer frühkapitalistischen Rotlicht -<br />

szene<br />

Geradezu fatal wirkt sich dabei aus, dass die soziale Um -<br />

schichtung in den GUS-Staaten zur Verarmung weiter<br />

Krei se und damit auch zu einer Verelendungsprostitution<br />

mit explodierenden HIV-Infektionsquoten geführt hat. Auf<br />

die epidemiologische Bedrohung wurde schon vor 2 Jah -<br />

ren (Wille & Hansen 2000) eindringlich und in Übereinstimmung<br />

mit O. Hamouda (RKI) und I. Kon (Moskau)<br />

auf dem 5. Congress of Sexology in Berlin hingewiesen,<br />

und eine mit empfindlichen Konventionalstrafen bewährte<br />

Krankenversicherungspflicht der Bordelliers für ihre an -<br />

schaffenden Touristinnen gefordert, erwartungsgemäß oh -<br />

ne Nachhall, geschweige denn Nachhaltigkeit. Jeder wissenschaftlich<br />

Tätige muß damit rechnen, dass selbst empirisch<br />

gut belegte wissenschaftliche Postulate von Politi -<br />

kern nur dann beachtet werden, wenn sie ohnehin deren<br />

gerade aktuellen Interessen entsprechen.<br />

Diese Infektionsquelle ist deshalb so brisant, weil die<br />

„Migrantinnen“ aus Osteuropa und Übersee bei uns illegal<br />

leben und nach dem gültigen Infektionsschutzgesetz<br />

(IfSG) nicht (mehr) auf übertragbare Krankheiten labormedizinisch<br />

untersucht werden, da auch beim IfSG der<br />

Gesetzgeber vom Prinzip der Eigenverantwortung ausgeht.<br />

Die in den alten und besonders in den neuen Bun -<br />

desländern früher so aktiven Amtsärzte sind heute Ange -<br />

stellte der (vom Kreistag und vom Gesundheitsbudget<br />

abhängigen) Kreisgesundheitsbehörde und müssen ihre<br />

Aktivitäten stark reduzieren. Schon ab 1992 haben Ge -<br />

sundheitsämter in Schleswig-Holstein die früher für eingetragene<br />

HwG-Personen obligatorischen Kontrollunter -<br />

su chun gen eingestellt (vgl. Wille & Hansen 2000). Seit<br />

2001 ist Prostitution in Deutschland auch nicht mehr sittenwidrig<br />

oder illegal, sondern wie in Holland ein versicherungs-<br />

und steuerpflichtiger Beruf, vielleicht in der<br />

modischen Form einer Ich-AG.


Hinter-Fragwürdigkeit der etablierten AIDS-Bekämpfungskonzeption 143<br />

Wenn die AIDS-Statistiken wegen der durchlöcherten<br />

Erhebungsmethoden unzuverlässig sind, sollten das zu -<br />

ständige Ministerium und die BZgA sich nicht auf diese<br />

unsichere Grundlage berufen. Wie schon vor 15-20 Jahren<br />

schlingert Deutschland zur Zeit wieder zwischen Hysterie<br />

und Besänftigung und werden wieder kritische Auffas -<br />

sungen von der Gegenseite als unseriös abgewimmelt.<br />

Dass kritisches Hinterfragen zumal vor Wahlen bei<br />

Ministerialen unerwünscht ist, ist nachvollziehbar, wenn<br />

auch nicht nachweisbar. Aber die Mitteilungspflicht der<br />

epidemiologisch, sexualmedizinisch und arztrechtlich<br />

Wissenden sollte bei der öffentlichen Diskussion als rollenspezifische<br />

Aufgabe wenigstens toleriert, besser noch<br />

ausdrücklich anerkannt werden.<br />

Unseres Erachtens stellt damals wie heute das Straf -<br />

recht kein wirksames Instrument zur AIDS-Bekämpfung<br />

dar. Selbst wenn einmal wie kürzlich in Schweden ein<br />

HIV-positiver Däne bei einer besonderen Beweislage zu<br />

sieben Jahren Haft verurteilt wurde, weil er mit mehreren<br />

Schwedinnen ungeschützten Verkehr hatte und zwei von<br />

ihnen nachweisbar infizierte, so fallen derartig okkasionelle<br />

Einzelurteile bei 2000 HIV-Erstdiagnosen in<br />

Deutsch land pro Jahr nicht ins Gewicht. Gerade weil wir<br />

prinzipiell gegen kontraproduktives Bestrafen sind, halten<br />

wir es mit dem sozialanthropologischen Prinzip der persönlichen<br />

Verantwortung für unvereinbar, dass wissentlich<br />

lebensbedrohende Infektionen der Intimpartner/innen<br />

dann straf- und zivilrechtlich unbeanstandet bleiben, wenn<br />

der HIV-Negative im aufgeklärten Konsens mit seiner/m<br />

HIV-positivem Partner/in auf Safer-Sex-Praktiken verzichtet.<br />

Versicherungsrechtlich sieht das BSG V in seinem<br />

§ 52 zwar vor, dass bei vorsätzlicher (…) Herbeiführung<br />

einer Krankheit die Krankenkassen in angemessener Höhe<br />

ihre Leistungen kürzen können. Der Grat zwischen be -<br />

dingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist so<br />

schmal, dass es die Kassen i.a. nicht auf eine gerichtliche<br />

Entscheidung ankommen lassen. In den ersten Jahren<br />

nahm die AIDS-Rechtsprechung eher bedingten Vorsatz<br />

an; bei der desaströsen Finanzsituation der öffentliche<br />

Bud gets kann es bei der kommenden Reform der Kran -<br />

kenversicherung nicht auszuschliessen sein, dass u.U.<br />

sogar beide Partner zu den beträchtlichen Kosten jahrelange<br />

AIDS-Therapie finanziell herangezogen werden. Wie<br />

schon Hans Giese (1955) betont hat, ist die Sexualität auf<br />

Wir-Bildung angelegt und nach aktuellen Lehrbuchwissen<br />

wird (nur) in der Paarbeziehung das menschliche<br />

„Grundbedürfnis“ nach Akzeptanz, Annahme, Nähe, Ge -<br />

borgenheit und Sicherheit abgedeckt (Beier et al. 2001). In<br />

der medizinischen Dia gnostik und Therapie ist das Paar,<br />

die Zweierge mein schaft, in seinen gegenseitigen Abhän -<br />

gig keiten das anzusprechende Gegenüber, nicht etwa zwei<br />

vernunftbegabte und nach den Vorstellungen der Juristen<br />

freie Individuen.<br />

Daher darf umso weniger die Grenze zum parasozialen<br />

Unrecht, nämlich zur bedingt vorsätzlichen lebensbedrohenden<br />

Infektion eines intimen Freundes verwischt werden,<br />

sondern muß mit sensiblem Rechtsgefühl präzisiert<br />

und durch psychagogische Erinnerungsimpulse immer<br />

wie der aufgefrischt werden. Das Prinzip Verantwortung<br />

gilt auch für die strukturell und/oder presserechtlich Ver -<br />

antwortlichen der Publikationsorgane der AIDS-Selbst -<br />

hilfe-Gruppen. Wer nicht inkauf nehmen will, dass bei<br />

einer kommenden Reform der Krankenversicherung die<br />

nicht ganz unbeträchtlichen Kosten der AIDS-Therapie<br />

(jährlich etwa 50.000 Euro pro Patient) zur Disposition<br />

gestellt werden, sollte höchst sensitiviert auf die Gebote<br />

der Rechtsordnung achten und dabei die Maß stäbe der<br />

gesamten Versichertengemeinschaft zugrunde le gen und<br />

nicht die internen der Adressaten der AIDS-Hilfe-Szene.<br />

Der sexuellen Gestimmtheit und dem toxischen Im -<br />

perativ psychotroper Drogen gemeinsam ist eine herabgesetzte<br />

Bestimmbarkeit durch rationale Argumente, ein<br />

Sich-Ausliefern an subcorticale Befindlichkeiten, in denen<br />

Prävention und Prophylaxe einen stark herabgesetzten<br />

Stellenwert erhalten. Wenn nicht ständige Erinnerungsund<br />

Ermunterungskampagnen für das Einhalten des zwischenmenschlich<br />

notwendigen Sicherheitsverhalten sorgen,<br />

nehmen zu leicht Wunschvorstellungen und Selbst -<br />

rechtfertigungen überhand.<br />

Wenn schon hohe Kleriker in Rom von der „Ecclesia<br />

semper reformanda“ sprechen, dann gilt das ständige<br />

Hinterfragen erst recht für jedes Menschenwerk, und dazu<br />

muss man unbestreitbar wohl auch zeitgebundene AIDS-<br />

Konzepte, ihre Strategien und Statistiken zählen.<br />

<strong>Literatur</strong><br />

Beier, K.M.; Bosinski, H.; Hartmann, U.; Loewit, K. (2001):<br />

Sexu al medizin. Urban & Fischer, München, Jena.<br />

Bochow, M (1989): AIDS und Schwule. AIDS-Forum. DAH BD<br />

IV.<br />

Dannecker, M (1990): Homosexueller Männer und AIDS. Kohl -<br />

hammer: Stuttgart/Berlin/ Köln.<br />

DAH (2002): Deutsche AIDS-Hilfe e.V., siehe: www.aidshilfe.de.<br />

Giese, Hans (1955): Die Sexualität des Menschen. Berlin:<br />

Springer.<br />

Herzog, W. (1988): Das Strafrecht im Kampf gegen AIDS-Des pe -<br />

rados.<br />

Johnson et al. (1994): Sexual Attitudes and Lifestyles. Oxford:<br />

Black well Scientific Publications<br />

Stille, W. (2001): Ärztezeitung 20, 217: 2ff.<br />

Wille, R.; Hansen, Th. (2000): Die Prostitution in Deutschland um<br />

die Jahrtausendwende. Sexuologie 2/3: 141-154.<br />

Anschriften der Autoren<br />

Prof. em. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Wille, Sexualmed. Forschungs- u. Beratungsstelle am Klinikum der Universität Kiel, Arnold-Heller-Str. 12, 24105 Kiel<br />

Prof. Dr. rer. nat. habil Reinhard H. Dennin, Institut für Medizinische Mikrobiologie & Hygiene, Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum, Ratzeburger<br />

Allee 160, 23538 Lübeck, mail: dennin@hygiene.MU-luebeck.de<br />

Dr. Michael Lafrenz, Universität Rostock, Medizinische Fakultät / Klinikum, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, Abteilung für Tropenmedizin und<br />

Infektionskrankheiten, Ernst-Heydemann-Str. 6, 18057 Rostock


••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />

Zeitgemäße Therapie der Erektilen Dysfunktion<br />

Vielversprechende Datenlage bei<br />

Tadalafil<br />

Urologen setzen auf den weiterentwickelten<br />

PDE 5-In hibitor<br />

In dem weiterentwickelten PDE 5-Hemmer Tadalafil von<br />

Lilly ICOS sehen führende Experten eine deutliche Ver -<br />

besserung der Therapie der Erektilen Dysfunktion (ED).<br />

„Insbesondere die integrierten Daten aus sechs Phase-III-<br />

Studien verdeutlichen die Potenz des neuen Thera peu -<br />

tikums“, so Dr. Axel-Jürg Potempa, Urologe, Sexu al ex per -<br />

te und Studienleiter aus München. „Tadalafil zeichnet sich<br />

durch einen raschen Wirkeintritt, ein breites Wirk zeit fens -<br />

ter und ein günstiges Nebenwirkungsprofil aus“, bringt<br />

Potempa die wichtigsten Charakteristika auf den Punkt.<br />

Tadalafil (Markenname CialisTM) wurde Ende Juli vom<br />

European Committee for Proprietary Medici nal<br />

Pro ducts (CPMP) positiv bewertet und zur Zulas sung<br />

empfohlen.<br />

Vielversprechende integrierte Daten<br />

Der Anteil der Patienten mit leichter bis schwerer ED aus vier Pha -<br />

se-III-Studien, die von verbesserten Erektionen berichteten, lag bei<br />

81 Prozent. Von den Patienten aus insgesamt fünf Studien, die in<br />

dem Zeitraum von 12 bis 24 Stunden nach Einnahme von Tadalafil<br />

sexuell aktiv waren, berichteten sogar 80 Prozent über erfolgreichen<br />

Geschlechtsverkehr. In der jüngsten Studie hatten etwa 60<br />

Prozent der Betroffenen noch 36 Stunden nach Tadalafileinnahme<br />

erfolgreich intimen Verkehr. Vergleichbar sind die integrierten Er -<br />

gebnisse aus sechs Phase-III-Studien im Hinblick auf die besonders<br />

häufig und stark von ED betroffenen Diabetiker: Bei 76 Prozent der<br />

Diabetes mellitus-Patienten waren die Erektionen verbessert.<br />

„Auch in punkto Wirkeintritt zeigt Tadalafil ein Produkt-Charak -<br />

teristikum, das den Anforderungen an eine moderne ED-Medika -<br />

tion gerecht wird: Bei etwa einem Drittel der Patienten setzt die<br />

Wirkung schon nach 16 Minuten ein“, weist Potempa auf eine<br />

wich tige Compliance-fördernde Eigenschaft hin.<br />

Gute Verträglichkeit – zufriedene Patienten<br />

„Die Zufriedenheit der Studienteilnehmer spiegelt sich auch in der<br />

Abbruchrate wider: Weniger als zwei Prozent brachen die Studien<br />

ab“, so Potempa, der<br />

auch gleich eine weitere<br />

Erklärung anführt: „Die<br />

geringe Ausprä gung<br />

von Nebenwirkun gen<br />

wie Kopf schmerzen oder<br />

Dys pep sie, die im Stu -<br />

dien ver lauf dazu noch<br />

weiter abnahmen, verdeutlichen<br />

die gute Ver -<br />

träglichkeit von Ta da la -<br />

fil.“<br />

Studienleiter Dr. Axel-Jürg Potempa aus München<br />

Hinzu kommen die fehlenden pharmakologischen Interaktionen<br />

zwischen Tadalafil und reich haltigen Mahlzeiten sowie Alkohol.<br />

„Ein besonders wichtiger Aspekt im Alltag des Patienten“, weiß<br />

Potempa aus langjähriger Praxiserfahrung zu berichten. „Einem<br />

romantischen Dinner mit einem Gläschen Wein steht als sinnliches<br />

Vorspiel nun nichts mehr im Weg.“ Das gilt auch für stabile Herz-<br />

Patienten, die nicht mit Nitraten therapiert werden. Ungeachtet<br />

dessen, ob sie andere blutdrucksenkende Medikamente einnahmen<br />

oder nicht, konnten folgende Ergebnisse dokumentiert werden:<br />

Tadalafil zeigte keinen klinisch relevanten Einfluss auf Blut -<br />

druck oder Herzfrequenz.<br />

Urologen setzen auf Tadalafil<br />

„Die bisherigen Daten zu Wirksamkeit, Wirkdauer und Sicherheit<br />

zeigen, dass Tadalafil die Therapie der ED voranbringen wird“, ist<br />

Potempa vom Erfolg des weiterentwickelten PDE 5-Inhibitors überzeugt.<br />

„Ein Medikament mit diesen Charakteristika, insbesondere<br />

das breite Wirkzeitfenster von mindestens 24 bis zu 36 Stunden,<br />

befreit den Patienten vom Zwang Medikation und sexuelle Akt -<br />

ivitäten koppeln zu müssen und erlaubt eine Sexualität, wie sie vor<br />

der ED war. Und das ist therapeutisches Neuland, auf das wir<br />

Urologen uns für unsere Patienten freuen“, macht der Sexual -<br />

experte abschließend den Nutzen des Präparates deutlich. „Aus<br />

den Erfahrungen meines Praxisalltags weiß ich, dass gewisse<br />

Bedürfnisse der ED-Patienten noch nicht erfüllt werden können.<br />

Das wird sich wohl bald ändern.“<br />

Nach seiner positiven Bewertung im Juli hat das European Com -<br />

mit tee for Proprietary Medicinal Products Tadalafil zur Zu -<br />

lassung empfohlen. Die Markteinführung von Tadalafil mit Mar -<br />

kenname CialisTM wird für die erste Jahreshälfte 2003 erwartet.<br />

II<br />

Nach Selbstangaben der Industrie


Aktuelles<br />

Sexuologie<br />

Sexualität und kulturelle Vielfalt<br />

27. Fortbildungstage für Sexualmedizinund Psychosomatik zugleich<br />

10. Jahrestagung der Akademie für Sexualmedizin<br />

in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin der Fort- und<br />

Weiterbildungskommission der Deutschen Urologen<br />

Frankfurt am Main, 29. – 31. Mai 2003<br />

Wissenschaftliche Leitung<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. K. M. Beier, Dr. med. H.J.Berberich, Priv.-Doz. Dr. med. H. A. G. Bosinski, Prof. Dr. med. Fröhlich<br />

Prof. Dr. med. U. Hartmann, Prof. Dr. med. K. Loewit, Prof. Dr. med. H.-J. Vogt<br />

Tagungspräsident<br />

Dr. med. H. J. Berberich<br />

Die Akademie für Sexualmedizin lädt gemeinsam mit der Gesellschaft für Praktische Sexualmedizin alle sexualmedizinisch tätigen<br />

und/oder interessierten ärztlichen und psychologischen Kolleginnen und Kollegen ein zu ihrer 10. Jahrestagung. Gleichzeitig<br />

sind dies die 27. Fortbildungstage für Sexualmedizin, welche 1976 erstmals von W. Eicher, H.-J. Vogt und F. Conrad in Heidelberg<br />

organisiert wurden. Die jetzt bevorstehende Jubiläumstagung findet erstmals in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für<br />

Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin der Fort- und Weiterbildungskommission der Deutschen Urologen statt..<br />

Die Thematik der Plenarvorträge ist breit gefächert, wie es der Vielgestaltigkeit der Sexualmedizin entspricht und ausgerichtet am<br />

Gegenstandskatalog der curricular fundierten Fortbildung „Sexualmedizin/ Sexualtherapie“. Die Seminararbeit steht gleichrangig<br />

neben den Vorträgen und kann auch zum modularen Erwerb der Zusatzbezeichnung Psychotherapie sowie für die Curricula<br />

„Sexualmedizin/Sexualtherapie“ genutzt werden.<br />

Weitere Informationen über das Kongressbüro<br />

Dr. med. H. J. Berberich<br />

Facharzt für Urologie / Umweltmedizin<br />

Kasinostraße 31 65929 Frankfurt am Main-Höchst<br />

Tel.: 069-316776, Fax: 069-316717<br />

e-mail: berberich@uro-psycho.de<br />

Teilnehmerregistrierung und Kongressorganisation<br />

medi-log GmbH, Breckenheimer Straße 1, 65719 Hofheim a.T., Tel.:06192/901593, Fax: 06192/901594<br />

Tagungsort<br />

Frankfurt am Main – Haus der Jugend<br />

Vorläufiges wissenschaftliches Programm<br />

Donnerstag, 29. Mai 2003<br />

8.30 Uhr<br />

Eröffnung: Grußworte<br />

9.00 – 10.30 Uhr: Sexualmedizin und Gesellschaft<br />

H.A.G. Bosinski (Kiel): Gesellschaftliche Herausfor derun -<br />

gen an die Sexualmedizin<br />

W. Schiefenhövel (Andechs/München): Liebe und<br />

Sexuali tät in kulturvergleichender Perspektive<br />

11.00 – 12.30 Uhr: Seminargruppen<br />

14.30 – 16.00 Uhr: Seminargruppen<br />

16.30 bis 18.00 Uhr: Kulturdifferenzen in der Be -<br />

handlung<br />

P. Wetzels (Hannover): Migration und Sexualdelinquenz<br />

H. Karatepe (Frankfurt/M): Probleme türkischer Männer<br />

in der sexualmedizinischen Sprechstunde<br />

18.30 Uhr: Empfang des Tagungspräsidenten mit<br />

Fest vortrag<br />

H.J. Berberich (Frankfurt/M.): Zur Kultur geschichte der<br />

Kastration<br />

Sexuologie 9 (3) 2002 145 – 146 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Freitag, 10. Mai 2003<br />

Samstag, 11. Mai 2003<br />

9.00 – 10.30 Uhr: Sexualität und Internet<br />

K. Leidlmair (Innsbruck): Intimkommunikation im Internet<br />

H. Schorn (Ahaus): Patienteninformation über das<br />

Internet<br />

11.00 bis 12.30 Uhr: Seminargruppen<br />

14.30 – 16.00 Uhr: Sexualität und kultureller Em -<br />

pfangsraum<br />

U. Hartmann (Hannover): Sexuelle Einstellungen und Ge -<br />

wohn heiten im Ländervergleich – Daten einer internationalen<br />

Vergleichsstudie<br />

K.M. Beier et al. (Berlin): Erektionsstörungen und Lebens -<br />

qualität – Ergebnisse einer deutschen Repräsentativstudie<br />

16.30 – 18.00 Uhr: Seminargruppen<br />

19.30: Festabend im Südbahnhof Frankfurt mit<br />

Kabarett, Jong lage und Livemusik<br />

9.00 – 10.30 Uhr: Neues über die Sexualität der<br />

Frau<br />

K.P. Jünemann (Kiel): Neue Befunde zur weiblichen<br />

Sexualphysiologie (angefragt)<br />

C. Rüffer-Hesse (Hannover): „Luststörungen“ bei Frauen:<br />

Medikamentöse und sexualtherapeutische Behandlungs -<br />

optionen<br />

11.00 – 12.30 Uhr: Seminargruppen<br />

14.30 – 16.00 Uhr: Männliche Luststörung:<br />

Zwischen zuviel und zuwenig<br />

E. Janssen (Bloomington/USA): Variations in sexual desire<br />

and response: Inhibition and excitation proneness<br />

R. Schulte (Gemmringheim) „Sex-Sucht" zwischen<br />

Norma lität und Dissozialität<br />

16.30 Uhr: Verabschiedung<br />

Themen und LeiterInnen der Seminargruppen<br />

I. Grundlagen<br />

1. G. Kockott: Anamnese & Gesprächsführung bei<br />

sexu ellen Störungen<br />

2. K. Loewit: Prinzipien sexualmedizischer Interventionen<br />

3. V. Banthien: Grundlagen der Kommunikation<br />

4. W. Dmoch: Erotische Übertragung in der Sexualtherapie<br />

II. Schwerpunkt-Seminare<br />

5. Ch. J. Ahlers & J. Ponseti: Therapie bei Sexualstraftätern<br />

6. H. Völkel: Sexuelle Deviationen und Störungen aus tiefenpsychologischer<br />

Sicht<br />

7. M. & H. Neubauer: Einführung in die imaginative<br />

Technik bei Paaren<br />

III. Fallsupervision / Selbsterfahrung<br />

8. G. Haselbacher: Fallseminar<br />

9. G. Kumpan: Postgraduiertengruppe<br />

10. P. Nijs: Themenzentrierte Selbsterfahrung<br />

Kasse muss Viagra zahlen<br />

Krankenkassen müssen ihren Versicherten zur Behandlung einer Erektionsschwäche das Arzneimittel Viagra als Sachleistung gewähren.<br />

Dies entschied das Sozialgericht Dortmund am 26. Juli diesen Jahres (AZ.: S 24 KN 81 /01 KR).<br />

Einem 51-jährigen Knappschaftsversicherten aus Bochum war ärztlich bescheinigt worden, seit über zwei Jahren an einer Erektions schwä -<br />

che zu leiden. Ursache war eine Diabetes-Erkrankung. Die Bundesknappschaft lehnte die Kassenübernahme für Viagra jedoch ab, weil<br />

dieses Arzneimittel der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz diene. Derartige Mittel seien nach den Arzneimittel-Richtlinien von<br />

der Verordnung ausgeschlossen. Der 51jährige erhob daraufhin Klage gegen die Bundesknappschaft. Das Sozialgericht Dortmund gab<br />

dieser Klage statt. Der Versicherte habe einen gesetzlichen Anspruch auf die Versorgung mit apothekenpflichtigen Medikamenten. Der<br />

Ausschluss von Mitteln zur Behandlung der erektiven Dysfunktion in den Arzneimittelrichtlinien sei unwirksam, da es gegen übergeordnetes<br />

Gesetzes recht verstoße. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen dürfe in seinen Richtlinien nicht generell Krankheiten<br />

von der vertragsärztlichen Behandlung ausschließen. Nur der Gesetzgeber könne einen nach dem Sozialgesetzbuch bestehenden Kran -<br />

ken behand lungsanspruch zurücknehmen.


Sexuologie<br />

Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />

für Praktische Sexualmedizin<br />

Inhalt<br />

Orginalarbeiten<br />

148 Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen: Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung<br />

zu den Determinanten sexueller Zufriedenheit<br />

4 Susanne Philippsohn, Kristina Heiser, Uwe Hartmann<br />

155 Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienreparation mit Kunststoffnetz<br />

4 Jürgen Zieren, Dirk Beyersdorff, Klaus M. Beier, Jochen M. Müller<br />

160 Sexualität und Menopause<br />

4 Mechthild Neises<br />

170 Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland. Analyse der HIV-Statistiken<br />

4 Reinhard Wille<br />

Fortbildung<br />

180 Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion<br />

4 Tim Schneider, Herbert Sperling, Herbert Rübben<br />

Diskussion<br />

186 Betreuungsrecht und Kindesmissbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts<br />

4 Guido Loyen, Wolfgang Raack<br />

Aktuelles<br />

187 Grußworte anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Piet Nijs, Buchbesprechung, Jahresinhaltsverzeichnis<br />

Anschrift der Redaktion<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />

D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />

Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />

D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />

E-mail: journals@urbanfischer.de<br />

Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />

Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />

64 45, Fax (03641) 62 64 21, Zur Zeit gilt die Anzeigenliste vom 01.01.2002<br />

Abonnementsverwaltung und Vertrieb: Urban & Fischer GmbH & Co. KG, Nieder -<br />

lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />

Telefon (03641) 62 64 44, Fax (03641) 62 64 43<br />

Bezugshinweise: Das Abonnement gilt bis auf Widerruf oder wird auf Wunsch befristet.<br />

Die Lieferung der Zeitschrift läuft weiter, wenn sie nicht bis zum 31.10 abbestellt wird.<br />

Erscheinungsweise: Zwanglos, 1 Band mit 4 Heften.<br />

Abo-Preis 2002: 129,- €*; Einzelheftpreis 39,- €*, Alle Prei se zzgl. Versandkosten.<br />

Vorzugspreis für persönliche Abon nenten 60,30 €*.<br />

*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />

wer den zur Zah lung akzeptiert: Visa/Eurocard/Mastercard/American Ex press (bitte Kar -<br />

ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />

Bankverbindung: Deutsche Bank Jena, Konto-Nr. 390 76 56, BLZ 820 700 00 und<br />

Postbank Leipzig, Konto-Nr. 149 249 903, BLZ 860 100 90<br />

Copyright: Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen<br />

ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />

(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />

Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />

Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />

D-99423 Weimar.<br />

Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />

alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

© 2003 Urban & Fischer Verlag<br />

Coverfoto: © gettyimages<br />

Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />

Forschung<br />

Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />

Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />

somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />

alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />

Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />

Sexuologie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />

dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />

Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />

chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />

schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />

mit Sexual straftätern.<br />

Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />

almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />

störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />

chun gen (Paraphilien, Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />

von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />

Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

Dorothee Alfermann, Leipzig<br />

Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />

Walter Dmoch, Düsseldorf<br />

Günter Dörner, Berlin<br />

Wolf Eicher, Mannheim<br />

Erwin Günther, Jena<br />

Heidi Keller, Osnabrück<br />

Heribert Kentenich, Berlin<br />

Rainer Knussmann, Hamburg<br />

Götz Kockott, München<br />

Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />

John Money, Baltimore<br />

Elisabeth Müller-Luckmann,<br />

Braunschweig<br />

Piet Nijs, Leuven<br />

Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />

Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />

Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />

Wolfgang Sippell, Kiel<br />

Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />

Hans Martin Trautner, Wuppertal<br />

Henner Völkel, Kiel<br />

Hermann-J. Vogt, München<br />

Reinhard Wille, Kiel<br />

Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) PSYNDEX · PsycINFO<br />

Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />

nis können Sie jetzt auch kostenlos per e-mail (ToC Alert Service) erhalten. Melden Sie sich an: http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei<br />

Frauen: Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung<br />

zu den Determinanten sexueller Zufriedenheit<br />

Susanne Philippsohn, Kristina Heiser, Uwe Hartmann<br />

Sexual Satisfaction and Sexual<br />

Myths among Women: Results of<br />

a Survey on the Determinants of<br />

Sexual Satisfaction<br />

Abstract<br />

The present study focuses on the clarification of the meaning<br />

of sexual satisfaction derived from masturbation, petting,<br />

and coitus for women. Another important point was<br />

the identification of determining factors for orgasm, se -<br />

xual satisfaction and satisfaction with sex life in general.<br />

For the first time, the influence of sexual „myths“ on se -<br />

xual satisfaction and orgasm was examined. These myths<br />

were adapted for women from the ten male sexual myths<br />

developed by Zilbergeld. We also investigated the effects<br />

of attitudes towards sexuality, quality of the partnership,<br />

the dealing with sexuality during childhood and sexual<br />

abuse on sexual satisfaction and orgasm. The study was<br />

carried out by means of a self-developed questionnaire.<br />

102 women of different age and education participated.<br />

In accordance with Jayne’s two-dimensional model,<br />

sexual satisfaction and orgasm proved to be interdependent,<br />

but not identical. It was possible to provide a de -<br />

scription of sexual satisfaction comprising a set of various<br />

emotional qualities. Our data indicate that sexual satisfaction<br />

from coitus has more or less the same meaning for<br />

all women of our sample, whereas sexual satisfaction<br />

from masturbation or petting have highly subjective qualities.<br />

Some of the sexual myths as well as the attitude<br />

towards sexuality and the quality of partnership showed<br />

a significant impact on female sexuality.<br />

Our results indicate that the new classification of<br />

female sexual dysfunction should be extended and modified.<br />

Keywords: Sexual satisfaction, Orgasm, Sexual myths,<br />

Mas turbation, Petting, Coitus<br />

Zusammenfassung<br />

Die Hauptziele der vorliegenden Untersuchung bestanden<br />

in Klärung der Begriffe „sexuelle Befriedigung“ und<br />

„Zufriedenheit mit dem Sexualleben insgesamt“ sowie in<br />

der Bestimmung einiger Einflussfaktoren auf das Orgas -<br />

mus erleben und die sexuelle Befriedigung/Zufriedenheit<br />

mit dem Sexualleben.<br />

Mit Hilfe eines Fragebogens wurde an 102 Frauen<br />

unterschiedlichen Alters und Bildungsstandes untersucht,<br />

was sexuelle Befriedigung durch Masturbation, Petting<br />

und Koitus unabhängig vom Erleben eines Orgasmus subjektiv<br />

bedeutet. In die möglichen Determinanten der Or -<br />

gasmuskonstanz, der sexuellen Befriedigung und der Zu -<br />

friedenheit mit dem Sexualleben insgesamt wurden erstmals<br />

sogenannte Sexualmythen einbezogen. Sie wurden<br />

von den zehn von Zilbergeld für Männer entwickelten Se -<br />

xualmythen für Frauen abgeleitet. Daneben wurde die<br />

Rolle der Einstellung zu Sexualität, der Qualität der Part -<br />

ner schaft, des Umgangs mit Sexualität in der Ur -<br />

sprungsfamilie und sexuellen Missbrauchs als Deter mi -<br />

nanten sexueller Zufriedenheit überprüft.<br />

Die Ergebnisse zeigten, dass, passend zur Theorie Jay -<br />

nes, sexuelle Befriedigung und Orgasmuskonstanz voneinander<br />

abhängig, aber nicht identisch sind. Der Begriff<br />

„sexuelle Befriedigung“ konnte in seiner inhaltlichen Be -<br />

deutung weiter erhellt werden. Es zeigte sich, dass die se -<br />

xuelle Befriedigung beim Koitus für alle befragten Frauen<br />

eine sehr ähnliche Bedeutung hat, während die Be -<br />

friedigung bei Masturbation und Petting von stark subjektiver<br />

Qualität ist. Einige der Mythen erwiesen sich ebenso<br />

wie die Einstellung zur Sexualität und die Qualität der<br />

Partnerschaft als außerordentlich bedeutsam für die weibliche<br />

Sexualität.<br />

Aus den Ergebnissen können einige Schlussfolgerun -<br />

gen hinsichtlich der aktuellen Klassifikationen weiblicher<br />

Sexualstörungen gezogen werden.<br />

Schlüsselwörter: Sexuelle Befriedigung, Orgasmus, Sexu -<br />

almythen, Masturbation, Petting, Koitus<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 148 – 154 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen 149<br />

Einleitung und Fragestellung<br />

Wenn es um die Erforschung weiblicher Sexualität<br />

geht, erscheinen häufig die Begriffe „sexuelle Be frie -<br />

digung“ oder „Zufriedenheit mit dem Sexualleben“.<br />

Wirklich wichtig genommen werden sexuelle Be frie -<br />

digung und Zufriedenheit mit dem Sexualleben allerdings<br />

nicht: Die Bedeutung dieser Begriffe bleibt meistens<br />

unklar; sie werden zum Teil – hauptsächlich in<br />

älteren Untersuchungen – einfach synonym mit dem<br />

Er leben eines Orgasmus verwendet, zum Teil nicht<br />

wei ter hinterfragt; Störungen der sexuellen Befrie -<br />

digung fanden auch bei der „International Consensus<br />

Development Conference on Female Sexual Dys func -<br />

tion: Definitions and Classifications“ trotz intensiver<br />

Diskussion letztlich keine Aufnahme in die Klassi -<br />

fikation Basson et al. 2001).<br />

Bereits 1981 hat Jayne ein Modell aufgestellt, in<br />

dem sexuelle Befriedigung und Orgasmuskonstanz für<br />

Frauen als zwei eigenständige, allerdings voneinander<br />

abhängige Dimensionen sexuellen Erlebens aufgefasst<br />

wurden. Danach ist eine einfache Gleichsetzung der<br />

sexuellen Befriedigung mit dem Erleben eines Or -<br />

gasmus nicht statthaft. Vielmehr erhöht das Erleben<br />

eines Orgasmus die sexuelle Befriedigung in der Re -<br />

gel, ist aber weder notwendig noch hinreichend für<br />

eine hohe sexuelle Befriedigung.<br />

Egidi und Bürger veröffentlichten 1981 eine Stu -<br />

die, in der sie einige Frauen selbst beschreiben ließen,<br />

was für sie sexuelle Befriedigung bedeute. Damit be -<br />

gann die inhaltliche Klärung der Begriffe. Inzwischen<br />

existieren einige Arbeiten zu diesem Thema, die allerdings<br />

noch kein konsistentes Bild ergeben. Ein Teil<br />

unserer hier vorgestellten Untersuchung diente daher<br />

dem Zweck, auf dem Weg der Begriffsklärung einen<br />

Schritt weiter zu kommen. In diesem Zusammenhang<br />

erschien ebenfalls von Interesse, ob sexuelle Befrie -<br />

digung für Frauen eher von vergleichbarer Qualität<br />

und damit gut messbar ist oder ob es sich um etwas<br />

interindividuell sehr Unterschiedliches handelt, das<br />

sich damit einer Objektivierung entzieht.<br />

Der zweite Teil unserer Studie diente der Diffe -<br />

renzierung einiger, im Folgenden näher ausgeführter<br />

Determinanten der Orgasmuskonstanz bei Mastur ba -<br />

tion, Petting und Koitus, der durch Masturbation, Pet -<br />

ting und Koitus erlangten sexuellen Befriedigung und<br />

schließlich der Zufriedenheit mit dem Sexualleben<br />

insgesamt.<br />

Sexualmythen: Zilbergeld (1988) stellte zehn „Sexu -<br />

al mythen“ vor, die im Wesentlichen Männer betreffen.<br />

In Anlehnung daran wurden für die vorliegende Studie<br />

die folgenden Mythen für Frauen entwickelt:<br />

1. Beim Sex zählt nur die Leistung, insbesondere das<br />

Er reichen eines Orgasmus;<br />

2. Die Frau ist beim Sex passiv und folgt dem, was der<br />

Mann bestimmt;<br />

3. Die Frau übernimmt beim Sex Führung und Verant -<br />

wortung;<br />

4. Die Frau ist zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse<br />

des Mannes da;<br />

5. Eine Frau ist immer bereit und will immer;<br />

6. Jeder Körperkontakt muss zum Sex führen;<br />

7. Sex = Geschlechtsverkehr;<br />

8. Sex sollte natürlich und spontan sein;<br />

9. Den Orgasmus müssen beide Partner gleichzeitig<br />

er reichen;<br />

10. Sexualität ist etwas Unreines, Schmutziges.<br />

Einstellung zu Sexualität: Die Einstellungen zu verschiedenen<br />

Bereichen der Sexualität können auf der<br />

Dimension permissiv versus restriktiv variieren. Für<br />

die folgenden Bereiche wurde untersucht, ob eine permissivere<br />

Einstellung in Zusammenhang mit einer<br />

höheren Orgasmuskonstanz bzw. größerer sexueller<br />

Be friedigung in den o. g. Bereichen steht: Kommu ni -<br />

ka tion mit anderen über Sexualität, Masturbation, se -<br />

xuelle Sozialisation von Kindern und Jugendlichen,<br />

Ju gendsexualität und vorehelicher Geschlechts ver -<br />

kehr, Sexualität im Alter, Stellenwert der Sexualität im<br />

Verhältnis zu anderen Dingen des Alltags, Gründe für<br />

sexuelle Betätigung und Pornographie.<br />

Partnerschaft: Der Zusammenhang der Qualität der<br />

Partnerschaft mit Orgasmuskonstanz bzw. sexueller<br />

Befriedigung wurde für die folgenden Bereiche untersucht:<br />

Stabilität der Partnerschaft, Kommunikations -<br />

verhalten, Rollenverteilung in der Partnerschaft,<br />

Machtverteilung in der Partnerschaft, Gefühle der<br />

Part ner zueinander, Akzeptanz durch den Partner, Er -<br />

füllung von Wünschen durch den Partner und Ähnlichkeit<br />

des Partners mit dem Vater und mit einem<br />

gedachten Idealpartner.<br />

Des weiteren wurde der Einfluss des Sozialstatus,<br />

des Umgangs mit Sexualität in der Ursprungsfamilie<br />

und eines erlebten sexuellen Missbrauchs bzw. erlebter<br />

Sexualität unter Gewaltanwendung auf die Se xu -<br />

alität untersucht.<br />

Methodik<br />

Zur Untersuchung der genannten Fragestellungen<br />

wurde ein umfangreicher Fragebogen entwickelt, der<br />

die oben genannten Bereiche umfasst. Um eine bessere<br />

Auswertbarkeit zu ermöglichen, enthielt er nahezu<br />

ausschließlich geschlossene Fragen. Die Items zur in -<br />

halt lichen Klärung der Begriffe „sexuelle Befrie di -<br />

gung“ und „Zufriedenheit mit dem Sexualleben insge-


150 S. Philippsohn, K. Heiser, U. Hartmann<br />

samt“ wurden aus den Aussagen der von Egidi und<br />

Bürger (1981) befragten Frauen abgeleitet. Der Vali -<br />

dierung dienten Skalen zur Selbsteinschätzung. Einige<br />

der Items für den Bereich „Einstellung“ wurden dem<br />

SES-1 (Frenken & Vennix 1981) entnommen, andere<br />

zur Beurteilung der Partnerschaft den TSST (Zimmer<br />

1985). Zum Vergleich des Partners mit dem Vater und<br />

einem gedachten Idealpartner wurden Polaritäten pro -<br />

file verwendet.<br />

Die Fragebögen wurden im Schneeballverfahren<br />

an 170 Frauen unterschiedlichsten Alters und Bil -<br />

dungs standes, möglichst mit festem Partner, verteilt.<br />

Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Pro -<br />

gramm SPSS für Windows, Version 10.0.7.<br />

Ergebnisse<br />

1. Stichprobenbeschreibung<br />

Die Rücklaufquote betrug mit 103 Fragebögen 60,6%.<br />

102 Fragebögen waren auswertbar. Die Abbildungen 1<br />

– 4 geben einen Überblick über die sozialen Daten der<br />

beteiligten Frauen.<br />

Es handelt sich nicht um eine repräsentative Stich -<br />

probe, man kann den Grafiken jedoch entnehmen,<br />

dass die Sozialdaten der teilnehmenden Frauen sehr<br />

weit gestreut sind: das Alter der Frauen liegt zwischen<br />

unter 20 bis über 60 Jahren (Median in der Alters -<br />

gruppe der 31- bis 35-jährigen); der Bildungsstand va -<br />

ri iert von Hauptschulabschluss bis hin zu abgeschlossenem<br />

Studium mit einem Überwiegen höherer<br />

Bildung; über die Hälfte der Frauen ist verheiratet, die<br />

übrigen sind ledig oder geschieden bzw. getrennt le -<br />

bend. 28 Frauen leben nicht mit einem festen Partner<br />

zusammen, die übrigen leben seit bis zu über 30 Jah -<br />

ren mit einem festen Partner.<br />

Abb. 1: Alter der an der Untersuchung teilnehmenden Frauen<br />

Abb. 2: Bildungsstand der an der Untersuchung teilnehmenden Frauen<br />

Abb. 3: Familienstand der an der Untersuchung teilnehmenden Frauen<br />

Abb. 4: Zusammenleben mit festem Partner


Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen 151<br />

2. Sexuelle Befriedigung und Zufriedenheit<br />

mit dem Sexualleben insgesamt<br />

Es bestehen signifikante Korrelationen zwischen se -<br />

xu eller Befriedigung und Orgasmuskonstanz (Korre -<br />

la tionskoeffizient r = 0,627** für Masturbation; r =<br />

0,495** für Petting; r = 0,667** für Koitus). Dennoch<br />

gibt es einige Frauen, die trotz seltenen oder fehlenden<br />

Orgasmus bei Petting oder Koitus eine hohe Befrie -<br />

digung erleben. Umgekehrt existieren für alle drei un -<br />

tersuchten Formen sexueller Betätigung Frauen, die<br />

trotz einer hohen Orgasmuskonstanz nur eine mittlere<br />

bis niedrige Befriedigung erfahren. Auch durch die<br />

folgenden Ergebnisse bei der inhaltlichen Klärung des<br />

Begriffes der sexuellen Befriedigung wird deutlich,<br />

dass sexuelle Befriedigung durch Masturbation, Pet -<br />

ting und Koitus nicht mit dem Erleben eines Orgas -<br />

mus gleichzusetzen ist.<br />

Mit Hilfe von Clusteranalysen lässt sich feststellen,<br />

dass sexuelle Befriedigung durch Koitus für die<br />

meisten Frauen eher das Gleiche bedeutet. Im einzigen<br />

großen Cluster (88 Frauen) lassen sich 79,4% der<br />

Varianz 1 durch das Gefühl, nach Koitus entspannt zu<br />

sein, das Erleben eines Orgasmus, die Abwesenheit<br />

des Gefühls, weit entfernt vom Partner zu sein und die<br />

Empfindung eines „satten Wohlgefühls“ erklären.<br />

Sexuelle Befriedigung durch Petting erweist sich<br />

da gegen als von stark subjektiver Qualität. Zwei<br />

Gruppen von Frauen (Clusteranalyse) sind getrennt<br />

auf die Frage hin untersucht worden, mit welchen<br />

Gefühlen sexuelle Befriedigung durch Petting am ehesten<br />

beschrieben werden kann. Für die größere<br />

Gruppe (54 Frauen) lassen sich 78,6% der Varianz 1<br />

sexueller Befriedigung durch die Gefühle, nach<br />

Petting nicht einsam zu sein und glücklich, „eins“ mit<br />

sich selbst und „eins“ mit dem Partner zu sein er -<br />

klären. Für die kleinere Gruppe (19 Frauen) erklären<br />

die Gefühle, nach Petting „eins“ mit dem Partner, ge -<br />

borgen, nicht unruhig, nicht weit entfernt vom Partner<br />

und frei von sexueller Spannung zu sein, sogar 91,1%<br />

der Varianz 1 .<br />

Sexuelle Befriedigung durch Masturbation erweist<br />

sich ebenfalls als von stark subjektiver Qualität. Es<br />

sind drei Gruppen von Frauen (Clusteranalyse) ge -<br />

trennt untersucht worden. In der größten Gruppe (29<br />

Frauen) erklären Gefühle von ausgeglichen, nicht einsam<br />

und „eins“ mit sich selbst sein und das Erleben<br />

eines Orgasmus zusammen 82,7% der Varianz sexueller<br />

Befriedigung, in der mittelgroßen Gruppe (24<br />

Frau en) die Gefühle, nach Masturbation entspannt,<br />

1 Regressionsanalyse<br />

„eins“ mit sich selbst und ausgeglichen zu sein,<br />

91,7% der Varianz und in der kleinsten Gruppe (acht<br />

Frauen) allein die Empfindung eines „satten Wohl -<br />

gefühls“ 94,8% der Varianz.<br />

Für die Zufriedenheit mit dem Sexualleben insgesamt<br />

spielt der Koitus die größte Rolle, wobei die<br />

sexuelle Befriedigung durch Koitus wichtiger ist als<br />

die Orgasmushäufigkeit.<br />

3. Determinanten der Orgasmuskonstanz<br />

und sexuellen Befriedigung<br />

Etliche der im Folgenden ausgeführten Einfluss fak -<br />

toren wirken sich deutlich mehr oder sogar aus -<br />

schließlich auf entweder die Orgasmuskonstanz oder<br />

die sexuelle Befriedigung aus, was ein weiteres Indiz<br />

für die angenommene Zweidimensionalität ist. Aus<br />

Gründen der Übersichtlichkeit wird z. T. auf eine Auf -<br />

führung im Einzelnen verzichtet.<br />

Sozialstatus: Nicht verheiratete und höher gebildete<br />

Frauen und Frauen, die noch nicht so lange mit<br />

einem festen Partner zusammenleben, verfügen in dieser<br />

Studie eher über positive Masturbations er -<br />

fahrungen (Bildung – Orgasmuskonstanz: r =<br />

0,273**; Partnerschaft – Orgasmuskonstanz: r =<br />

-0,220*; Bildung – sexuelle Befriedigung: r =<br />

0,387**), verheiratete und geschiedene/getrennt<br />

lebende Frauen dagegen berichten eher über eine hö -<br />

here Orgasmuskonstanz bei Koitus.<br />

Zwei der zehn untersuchten Sexualmythen weisen<br />

deutlich negative Zusammenhänge mit der durch<br />

partnerschaftliche Aktivität erlangten sexuellen Be -<br />

friedigung und der Zufriedenheit mit dem Sexualleben<br />

insgesamt auf: Beim zweiten Mythos („Die Frau ist<br />

beim Sex passiv und folgt dem, was der Mann be -<br />

stimmt“) wurden die zugehörigen Items zum Zweck<br />

der statistischen Analyse zu einer Skala zusammengefasst<br />

(Cronbachs ! = 0,7510). Signifikante Zusam -<br />

men hänge bestehen mit der durch Petting erlangten<br />

sexuellen Befriedigung (r =-0,232*) und der Zu frie -<br />

denheit mit dem Sexualleben insgesamt (r = -0,204*).<br />

Im Bereich des sechsten Mythos („Jeder Kör per kon -<br />

takt muss zum Sex führen“) sind zwei Items von Be -<br />

deu tung. „Männer umarmen Frauen nur, wenn sie Sex<br />

von ihnen wollen“ korreliert negativ mit der Orgas -<br />

mus konstanz bei Koitus (r = -0,270**), der durch<br />

Petting (r = -0,240*) und Koitus (r = -0,335**) erlangten<br />

sexuellen Befriedigung und der Zufriedenheit mit<br />

dem Sexualleben insgesamt (r = -0,330**). „Wenn ich<br />

Nä he oder Zärtlichkeit brauche, kann ich mich an meinen<br />

Partner anlehnen, ohne dass unbedingt Gedanken<br />

an Sexualität aufkommen“ korreliert positiv mit der<br />

sexuellen Befriedigung durch Koitus (r = 0,227*).<br />

Beide Mythen sind allerdings eher bei älteren Frauen


152 S. Philippsohn, K. Heiser, U. Hartmann<br />

zu finden (M2: r = 0,244*; M6: Korrelations ko effi -<br />

zient der einzelnen Items zwischen r = 0,228* und r =<br />

0,325**) und daher vermutlich langsam am Aus ster -<br />

ben. Eine Absicherung dieser These müsste durch eine<br />

Folgeuntersuchung stattfinden. Der achte My thos<br />

(„Sex sollte natürlich und spontan sein“) zeigt mäßige<br />

negative Auswirkungen ausschließlich auf die Mas -<br />

turbation. Die Korrelationen der einzelnen Items mit<br />

Orgasmuskonstanz oder Befriedigung weisen Koeffi -<br />

zienten zwischen r = -0,222* und r = -0,225* auf.<br />

Drei der zehn Mythen sind zur Zeit von großer<br />

Bedeutung. Dies sind der vierte, der fünfte und der<br />

zehnte Mythos. Der vierte Mythos („Die Frau ist zur<br />

Befriedigung sexueller Bedürfnisse des Mannes da“),<br />

untersucht als Skala aus vier Items (! = 6889), zeigt<br />

unabhängig von sozialen Faktoren eine Verbreitung<br />

von etwa 17% in ausgeprägter und weiteren etwa 31%<br />

in abgeschwächter Form. Seine negativen Auswir -<br />

kungen auf die gesamte partnerschaftliche Sexualität<br />

sind beträchtlich: Die Orgasmuskonstanz bei Koitus (r<br />

= -0,306**), die sexuelle Befriedigung durch Petting<br />

(r = -0,262*) und Koitus (r = -0,380**) und die<br />

Zufriedenheit mit dem Sexualleben insgesamt (r =<br />

-0,310**) nehmen ab. Der fünfte Mythos („Eine Frau<br />

ist immer bereit und will immer“), ebenfalls als Skala<br />

aus drei Items (! = 0,6013), ist zur Zeit nur mäßig verbreitet<br />

– lediglich sechs Prozent in ausgeprägter und<br />

weitere 25% in abgeschwächter Form – , wirkt sich<br />

jedoch negativ auf einen großen Teil der partnerschaftlichen<br />

Sexualität aus, nämlich Orgasmus kons -<br />

tanz (r = -0,219*) und sexuelle Befriedigung (r =<br />

-0,312**) durch Koitus und Zufriedenheit mit dem<br />

Sexualleben insgesamt (r = -0,308**). Der zehnte<br />

My thos („Sexualität ist etwas Unreines, Schmutzi -<br />

ges“) weist eine nicht unbedeutende Verbreitung auf;<br />

diese lässt sich aus den einzelnen Items ganz grob auf<br />

etwa zwölf bis 49% in ausgeprägter und weiteren 20 –<br />

38% in mäßiger Form schätzen. Mit zunehmendem<br />

Bildungsstand nimmt die Prävalenz des Mythos ab<br />

(Kor relationskoeffizienten zwischen r = 0,202* und r<br />

= 0,248*). Es bestehen hauptsächlich negative Aus -<br />

wirkungen zweier Items auf die Orgasmuskonstanz<br />

bei Petting (Korrelationskoeffizienten r = -0,220* und<br />

r = -0,219*).<br />

Die noch verbleibenden vier Mythen erwiesen<br />

sich zum Teil als unbedeutend für die Sexualität der<br />

Frauen, zum Teil müssen sie nochmals mit veränderten<br />

Items überprüft werden..<br />

Eine permissivere Einstellung zu Sexualität steht<br />

in allen Bereichen hauptsächlich in positivem Zu -<br />

sammenhang mit Orgasmuskonstanz und sexueller<br />

Be friedigung durch Masturbation. Die Korrelation der<br />

Gesamtskala „Einstellung“ (! = 0,8889) liegt bei r =<br />

0,263* für die Orgasmuskonstanz und r = 0,405** für<br />

die sexuelle Befriedigung. Für einige Bereiche besteht<br />

außerdem ein positiver Zusammenhang einer permissiven<br />

Einstellung mit der Orgasmuskonstanz bei Pet -<br />

ting: Der Korrelationskoeffizient der Skala „Jugend -<br />

sexualität und vorehelicher Geschlechtsverkehr“ (! =<br />

0,7501) liegt bei r = 0,219*, bei Gründen für sexuelle<br />

Betätigung für das Item „Sex ist hauptsächlich zum<br />

Vergnügen da“ bei r = 0,241. Lediglich beim Stellen -<br />

wert der Sexualität im Verhältnis zu anderen Dingen<br />

des Alltags bestehen teilweise Zusammenhänge mit<br />

dem Koituserleben und der Zufriedenheit mit dem Se -<br />

xualleben insgesamt: Frauen, die sexuelles Zusam -<br />

menpassen in der Wichtigkeit über das Funktionieren<br />

des Haushaltes und des Zusammenlebens stellen, zeigen<br />

eine größere Zufriedenheit mit dem Sexualleben<br />

insgesamt (r = 0,203*), und Frauen, die sexuelles Zu -<br />

sam menpassen über den finanziellen Verdienst des<br />

Ehe manns stellen, zeigen eine größere Orgasmus -<br />

kons tanz bei Koitus (r = 0,202*), größere sexuelle Be -<br />

friedigung durch Koitus (r = 0,287**) und größere Zu -<br />

friedenheit mit dem Sexualleben insgesamt (r =<br />

0,200*).<br />

Die Qualität der Partnerschaft hängt in den meisten<br />

Bereichen am stärksten mit der Zufriedenheit mit<br />

dem Sexualleben insgesamt zusammen (Korrelationen<br />

zwischen r = 0,202* und r = 0,668**), kaum weniger<br />

mit der sexuellen Befriedigung durch Koitus (r =<br />

0,207* bis r = 0,544**). Danach rangieren Orgas mus -<br />

konstanz bei Koitus (r = 0,224* bis r = 0,295**) und<br />

sexuelle Befriedigung durch Petting (r = 0,204* bis r<br />

= 0,346**). Hierbei handelt es sich durchweg um partnerbezogene<br />

Sexualität und deutlich überwiegend um<br />

die psychische Dimension der Sexualität, nämlich die<br />

sexuelle Befriedigung, weniger um die körperliche<br />

Sei te, die Orgasmuskonstanz. Vereinzelt zeigen sich<br />

Zusammenhänge mit der Masturbation.<br />

Sexu ali tät in der Ursprungsfamilie: Für die<br />

Frau en unserer Studie hat es keinen signifikanten Ein -<br />

fluss auf die Sexualität, ob während der Kindheit und<br />

Jugend in der Familie über Sexualität geredet wurde,<br />

durch wen sie sexuell aufgeklärt wurden, wie offen<br />

ihre Eltern Gefühle gezeigt haben und ob ihnen Sexu -<br />

alität durch die Eltern als etwas Schlechtes vermittelt<br />

wurde.<br />

Sexueller Missbrauch und Sexualität unter Ge -<br />

waltanwendung wurden gemeinsam als sexueller<br />

Miss brauch erfragt. 13 der 102 Frauen gaben unter<br />

dieser Prämisse sexuellen Missbrauch an. Es ließen<br />

sich kaum signifikante Auswirkungen auf die Sexu -<br />

alität feststellen. In der Tendenz zeigten sich um so<br />

eher Auswirkungen, je jünger die Frauen bei Beginn<br />

des sexuellen Missbrauchs waren.


Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen 153<br />

Diskussion<br />

Sexuelle Befriedigung durch Masturbation, Petting<br />

und Koitus lässt sich inhaltlich offenbar gut durch die<br />

oben genannten Begriffskombinationen beschreiben.<br />

Zur Untersuchung der sexuellen Befriedigung wurden<br />

allerdings Begriffe verwendet, die sich in ihrer Be -<br />

deutung überlappen. Aus diesem Grunde gibt es z. T.<br />

etliche andere, ähnliche Kombinationen von Items, die<br />

in der statistischen Auswertung nur geringfügig<br />

schlech ter abschneiden.<br />

Interessant ist die Frage, warum sexuelle Be -<br />

friedigung durch Koitus für die meisten Frauen eher<br />

das Gleiche bedeutet, während sexuelle Befriedigung<br />

durch Petting oder Masturbation von stark subjektiver<br />

Qualität ist. Es könnte ein Zusammenhang mit der<br />

Häufigkeit bestehen, in der die befragten Frauen diesen<br />

drei Aktivitäten nachgehen, denn Koitus ist die se -<br />

xuelle Aktivität, die von den Frauen am weitaus häufigsten<br />

praktiziert wird, Masturbation dagegen diejenige,<br />

die am seltensten ausgeübt wird. Danach wäre<br />

ein Angleichen der Erwartungen unterschiedlicher<br />

Frau en mit zunehmender Erfahrung möglich. Eben -<br />

sogut könnte ein in unterschiedlichem Maße vorhandenes<br />

Schrifttum zu unterschiedlich einheitlichen Er -<br />

wartungen führen. Hierbei handelt es sich aber um<br />

Ver mutungen, die in weiteren Studien überprüft werden<br />

müssen.<br />

Aufgrund unserer deutlichen Ergebnisse eines<br />

zwar hochsignifikanten Zusammenhangs der sexuellen<br />

Befriedigung mit der Orgasmuskonstanz, aber<br />

einer nicht bestehenden Identität beider, ist eine Auf -<br />

nahme sexueller Befriedigungsstörungen als eigenständige<br />

Kategorie in eine moderne Klassifikation se -<br />

xu eller Störungen zu fordern. Solange das nicht ge -<br />

schehen ist, sollten sie dennoch Berücksichtigung in<br />

Diagnostik, Therapie und weiterer Forschung finden.<br />

Bei den untersuchten Determinanten sexueller Be -<br />

friedigung (bzw. der Orgasmuskonstanz) liegen die<br />

Ergebnisse einiger im Rahmen bisheriger Unter su -<br />

chungen, die Ergebnisse anderer sind dagegen weniger<br />

erwartungsgemäß. Von besonderer Wichtigkeit<br />

sind die Sexualmythen, da sie bei Frauen erstmalig<br />

Gegenstand der Untersuchung waren und sich z. T. in<br />

bedeutender Weise auf die weibliche Sexualität auswirken.<br />

So sind die Ergebnisse zum Einfluss des Sozial -<br />

status auf die Sexualität im Großen und Ganzen mit<br />

denen Laumanns (1994: 84, 114, 119ff.) vergleichbar.<br />

Bezüglich der Partnerschaft wurden signifikante<br />

Zusammenhänge mit partnerschaftlicher Sexualität<br />

gefunden. Von besonderem Interesse ist dabei die Fra -<br />

ge eines gerichteten Zusammenhangs, d. h.: Beein -<br />

flusst eher die Sexualität die Partnerschaft oder umgekehrt<br />

die Partnerschaft die Sexualität? Diese Frage<br />

nach der Kausalität kann aufgrund einer solchen Un -<br />

tersuchung nicht beantwortet werden. Ein Vergleich<br />

mit anderen Veröffentlichungen zu diesem Thema<br />

macht allerdings deutlich, dass man einen gerichteten<br />

Zusammenhang vorwiegend in Form eines Einflusses<br />

der Qualität der Partnerbeziehung auf das sexuelle<br />

Erleben annehmen muss (s. Egedi & Bürger 1981:<br />

129; Arentewicz & Schmidt 1993: 45 , 53; Blumstein<br />

& Schwartz 1983: 201; Buddeberg 1987: 142).<br />

Wie bereits erwähnt, bestehen vereinzelt statistisch<br />

signifikante Zusammenhänge mit der Mastur -<br />

bation. Diese lassen sich aber nicht in einen konzeptionellen<br />

Gesamtzusammenhang stellen. Daher ergibt<br />

sich die Frage, ob es sich um tatsächlich bedeutsame<br />

Korrelationen handelt oder eher um zufällig aufgetretene<br />

Signifikanzen, wie es bei einer großen Anzahl<br />

von Items vorkommen kann. Aus bisherigen Unter -<br />

suchungen gehen keine derartigen Zusammenhänge<br />

hervor, was die Wahrscheinlichkeit der zweiten Mög -<br />

lichkeit erhöht.<br />

Dass die Einstellung zur Sexualität hauptsächlich<br />

mit der Masturbation, wesentlich weniger mit Pet -<br />

ting und fast gar nicht mit Koitus und Zufriedenheit<br />

mit dem Sexualleben insgesamt in Zusammenhang<br />

steht, könnte daran liegen, dass Koitus ohnehin als<br />

eheliche Sexualaktivität überall akzeptiert und verbreitet<br />

ist. Dagegen spielen offenbar für eine partnerschaftliche<br />

Sexualaktivität ohne Koitus oder gar<br />

Masturbation innerhalb einer Partnerschaft Einstel -<br />

lungs faktoren eine größere Rolle.<br />

Die Ergebnisse zum Umgang mit Sexualität in<br />

der Ursprungsfamilie befinden sich in Übereinstimmung<br />

mit Teilen der Ergebnisse Uddenbergs (1974),<br />

nach dessen Untersuchung es keine Rolle spielt, wieviel<br />

Information über Sexualität eine Frau von ihrer<br />

Mutter erhalten hat (s. 42). Sie stehen dagegen in völligem<br />

Gegensatz zu den Ergebnissen Darlings und<br />

Hicks‘ (1983), die herausfanden, dass die erinnerte<br />

Bot schaft der Eltern, Sex sei etwas Schlechtes, negative<br />

Auswirkungen auf die sexuelle Befriedigung habe<br />

und dass es sich positiv auswirke, wenn die Eltern zu<br />

Hause Sexualität oft diskutierten (s. 240).<br />

Sexualmythen unter Frauen sind – wie erwähnt –<br />

erstmalig Gegenstand der Untersuchung gewesen. Ein<br />

Teil der Mythen weist eindeutig negative Auswir kun -<br />

gen auf die weibliche Sexualität auf. Das bedeutet,<br />

dass sie sowohl in der zukünftigen Forschung als auch<br />

bei der Suche nach Ursachen einer konkreten Sexual -<br />

störung nicht mehr außer Acht gelassen werden sollten.


154 S. Philippsohn, K. Heiser, U. Hartmann<br />

Insbesondere ist in diesem Zusammenhang eine<br />

Betrachtung des in der neuen Klassifikation der In -<br />

ternational Consensus Development Conference on<br />

Female Sexual Dysfunction (Basson et al. 2001) eingeführten<br />

Begriffes „receptivity to sexual activity“ –<br />

zu deutsch „Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität“ –<br />

notwendig. Eine Definition dieser Kategorie wird in<br />

der Veröffentlichung nicht gegeben. Es wird aber<br />

deut lich, dass es sich um etwas anderes als „sexuelle<br />

Erregbarkeit“ handeln muss. Das heißt, dass eine ge -<br />

störte Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität bei ungestörter<br />

sexueller Erregbarkeit als sexuelle Störung aufgefasst<br />

wird. Wann aber kann es zu einer solchen Si -<br />

tuation kommen? Etwa dann, wenn ein Partner sexuelle<br />

Aktivität mit seiner Partnerin wünscht, obwohl sie<br />

keine Lust hat? Hier wird nun deutlich, welch große<br />

Bedeutung den Ergebnissen zum fünften Mythos<br />

(„Eine Frau ist immer bereit und will immer“) zukommen.<br />

Aus ihnen geht nämlich eindeutig hervor, dass es<br />

umfassend negative Auswirkungen auf die Sexualität<br />

einer Frau hat, wenn sie sich auf sexuelle Aktivitäten<br />

einlässt, ohne wirklich Lust dazu zu haben.<br />

Es wird demnach deutlich, dass man sowohl bei<br />

der Definition des Begriffes „receptivity to sexual<br />

activity“ als auch bei der Zuweisung dieser Diagnose<br />

stets bedenken muss, dass wenigstens ein Minimum<br />

sexuellen Verlangens unabdingbare Voraussetzung für<br />

„Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität“ ist.<br />

<strong>Literatur</strong><br />

Arentewicz, G.; Schmidt, G. (1993): Sexuell gestörte Bezie hungen.<br />

Konzept und Technik der Paartherapie. Stuttgart: En ke.<br />

Basson, R. et al. (2001): Report of the International Consensus De -<br />

ve lop ment Conference on Female Sexual Dysfunction: De fini -<br />

tions and Classifications. J Sex Marital Ther 27: 83-94.<br />

Blumstein, Ph.; Schwartz, P. (1983): American Couples: Money,<br />

Work, and Sex. New York: Morrow Publishers.<br />

Buddeberg, C. (1987): Sexualberatung. Eine Einführung für Ärzte,<br />

Psy chotherapeuten und Familienberater. Stuttgart: Ferdinand En -<br />

ke Verlag.<br />

Darling, C.A.; Hicks (1983): Recycling Parental Sexual Messages. J<br />

Sex Marital Ther 9: 233-243.<br />

Egidi, K.; Bürger, G. (1981): Das Gefühl der Befriedigung. Was Se -<br />

xu al forscher nicht erfassen können, sagen die Frauen selbst. Rein -<br />

beck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.<br />

Frenken, J.; Vennix, P. (1981): SES Sexuality Experience Scales.<br />

Lis se: Swets & Zeitlinger B.V.<br />

Jayne, C. (1981): A Two-Dimensional Model of Female Sexual Res -<br />

ponse. J Sex Marital Ther 7: 3-30.<br />

Laumann, E.O.; Gagnon, J. H.; Michael, R. T.; Michaels, S. (1994):<br />

The Social organisation of sexuality: sexual practices in the Uni -<br />

ted States. Chicago: The University of Chicago Press.<br />

Uddenberg, N. (1974): Psychological aspects of sexual inadequacy<br />

in women. J Psychosom Res 18: 33-47.<br />

Zilbergeld, B. (1988): Männliche Sexualität. Tübingen, 14. Aufl.:<br />

Deut sche Gesellschaft für Verhaltenstherapie.<br />

Zimmer, D. (1985): Sexualität und Partnerschaft: Grundlagen und<br />

Pra xis psychologischer Behandlung. München; Wien; Baltimore:<br />

Urban und Schwarzenberg.<br />

Anschrift der Autoren<br />

Dr. Susanne Philippsohn, Dr. Kristina Heiser, Dipl.-Psych., Prof. Dr. Uwe Hartmann, Dipl.-Psych., Arbeitsbereich Klinische Psychologie, Abteilung für<br />

Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule, Konstanty-Gutschow-Str. 8, 30623 Hannover,<br />

mail: hartmann.uwe@mh-hannover.de


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier<br />

Leistenhernienreparation mit Kunststoffnetz<br />

Jürgen Zieren, Dirk Beyersdorff, Klaus M. Beier, Jochen M. Müller<br />

Sexual Function and Testicular<br />

Perfusion after Inguinal Hernia<br />

Repair with Mesh<br />

Abstract<br />

Background: Open tension-free techniques of hernia re -<br />

pair using synthetic meshes revealed an excellent patient<br />

comfort with low recurrence rates. The influence of the<br />

resulting fibrosis on testicular perfusion and sexual function<br />

is still unclear.<br />

Methods: In a prospective observation study testicular<br />

volume, perfusion, and sexual function was investigated<br />

before plug and patch repair, after 3 months, and every 6<br />

months thereafter. Testicular volume and perfusion was<br />

examined by a standardized scrotal ultrasound and du -<br />

plex sonography. Sexual function was assessed by a validated<br />

anonymized questionnaire.<br />

Results: Seventy-three patients were included and follow-up<br />

examinations by questionnaire and sonography,<br />

respectively, were completed in 73 and 68 patients after<br />

3 months, 51 and 43 after 6, and 24 and 14 after 12<br />

months. Preoperative testicular volume and flow volume<br />

was comparable between the side of hernia and the contralateral<br />

side (average 10.2 ± 4.8 cm 3 versus 9.8 ± 5.3,<br />

respectively) and showed no significant differences during<br />

follow-up. In 11 (15%) patients with preexisting disorders<br />

sexual function was normalized postoperatively. Ten<br />

(14%) other patients (3 of them with neuralgia pain)<br />

described limitations of sexual activity due to inguinal pain<br />

(n = 4; 6%) or a loss of sensivity in the inguinal area (n =<br />

6; 8%) after the procedure. Among these, sexual function<br />

recovered spontaneously within 12 months postoperatively<br />

in 6 patients (2 with inguinal pain, 4 with loss of sensitivity).<br />

In all other patients sexual function showed no<br />

changes after inguinal hernia repair.<br />

Conclusions: So far there is no evidence for a significant<br />

im pairment of the cord structures and the sexual function<br />

after inguinal hernia repair in the plug and patch technique.<br />

Keywords: Plug and patch; Mesh; Tension-free; Cord<br />

structure; Sexual function; Testicular perfusion<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 155 – 159 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie<br />

Zusammenfassung<br />

Hintergrund: Offene spannungsfreie Verfahren der Leis -<br />

ten hernienreparation mit Implantation von Kunststoff net -<br />

zen haben einen exzellenten Patientenkomfort und geringe<br />

Rezidivraten ergeben. Unklar ist, welchen Einfluß die Fi -<br />

bro sierung der Kunststoffnetze auf die Testicularperfusion<br />

und die Sexualfunktion hat.<br />

Methoden: Im Rahmen einer prospektiven Beobach -<br />

tungs studie wurden das testiculäre Volumen und Perfu -<br />

sion so wie die Sexualfunktion vor Plug und Patch Repa -<br />

ration, 3 Monate postoperativ und anschließend alle 6<br />

Mo nate untersucht. Testicularvolumen und -perfusion<br />

wur den mit tels standardisierter Skrotal- und Duplex so -<br />

nographie ermittelt, die Sexualfunktion wurde mit einem<br />

validierten anonymen Fragebogen erhoben.<br />

Ergebnisse: 73 Patienten wurden eingeschlossen. Die<br />

Nachsorgeuntersuchungen mit Fragebogen und Sono -<br />

graphie konnten nach 3 Monaten bei 73 bzw. 68, nach 6<br />

Monaten bei 51 bzw. 43 Patienten und nach 12 Monaten<br />

bei 24 bzw. 14 Patienten durchgeführt werden. Das präoperative<br />

Testicularvolumen war vergleichbar zwischen<br />

Her nienseite und Gegenseite (Durchschnitt 10.2 ± 4.8<br />

cm 3 versus 9.8 ± 5.3) und zeigte keinen signifikanten<br />

Unterschied im Verlauf.<br />

Bei 11 (15%) mit präoperativen Störungen der Sexual -<br />

funk tion kam es postoperativ zu einer Normalisierung.<br />

Zehn (14%) weitere Patienten (darunter 3 mit Neuralgie)<br />

berichteten über Einschränkungen der Sexualfunktion aufgrund<br />

von Leistenschmerzen (n = 4; 6%) oder aufgrund<br />

eines Sensibilitätsverlustes (n = 6; 8%) postoperativ.<br />

Unter diesen Patienten kam es innerhalb von 12 Mo -<br />

na ten postoperativ bei 6 Patienten zu einer spontanen<br />

Normalisierung der Sexualfunktion (2 mit Leistenschmer -<br />

zen, 4 mit Sen sibilitätsverlust). Bei allen an deren Patienten<br />

kam es postoperativ zu keiner Änderung der Sexual funk -<br />

tion.<br />

Schlußfolgerung: Bislang ergibt sich kein Hinweis für<br />

eine signifikante Beeinträchtigung der Samenstrang struk -<br />

turen und der Sexualfunktion nach Leistenhernien re pa -<br />

ration in der Plug und Patch Technik.<br />

Schlüsselwörter: Plug and Patch; Kunststoffnetz; spannungsfrei;<br />

Samenstrangstrukturen, Sexualfunktion, Testi -<br />

cu lar perfusion


156 J. Zieren, D. Beyersdorff, K. M. Beier, J. M. Müller<br />

Dass operative Eingriffe im Abdominal-, Becken- und<br />

Urogenitalbereich auch sexualmedizinisch relevante<br />

Folgen nach sich ziehen können, ist im Zusammen -<br />

hang mit Krebserkrankungen (z. B. Rektumkarzinom,<br />

Prostatakarzinom) durch einige erste Studien belegt<br />

und findet immer stärker Beachtung. Bereits die Pla -<br />

nung von Operationen bzw. die Auswahl des chirurgischen<br />

Zentrums und des operativen Vorgehens ist als<br />

wichtige Weichenstellung anzusehen, da mit Blick auf<br />

die Sexualfunktionen ein möglichst nervenschonendes<br />

Operationsverfahren anzustreben ist (vgl. Beier et al.<br />

2001). Wenig Beachtung hingegen fanden bisher die<br />

weniger schwerwiegenden, dafür aber sehr häufig<br />

durch geführten Leistenhernienoperationen, die in na -<br />

hezu allen allgemeinchirurgischen Abteilungen und<br />

so gar ambulant zu den Routineeingriffen gehören. Da -<br />

bei sind gerade sie aus sexualmedizinischer Sicht so -<br />

wohl hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die<br />

Sexualfunktionen als auch auf die Hodenperfusion<br />

von Interesse.<br />

Lange Zeit bestand das Standardverfahren darin,<br />

nach Reposition des Bruchsacks den Fasziendefekt<br />

durch Vernähen ortsständigen Bindegewebes zu ver -<br />

schließen (z.B. Shouldice oder Bassini-Operation).<br />

Teil weise unbefriedigende Ergebnisse mit hohen post -<br />

operativen Beschwerden und Rezidivraten führten in<br />

den 80er Jahren auch zur Verwendung von nicht resorbierbaren<br />

Kunststoffnetzen. Diese werden weitgehend<br />

ohne Spannung entweder über einen klassischen Leis -<br />

tenschnitt von außen oder über die „Schlüssel -<br />

lochtechnik“ – d.h. minimal-invasiv (endoskopisch)<br />

von abdominal eingebracht. Erste klinische Ergebnis -<br />

se dieser auch als „spannungsfrei“ bezeichneten Ver -<br />

fahren sind bezüglich postoperativer Schmerzen und<br />

Rezidivraten im Vergleich zu den früheren Stan -<br />

dardverfahren sehr gut (Lichtenstein & Shulman 1986,<br />

Rutkow & Robbins 1993, Zieren et al. 1998).<br />

Tier experimentelle Untersuchungen und klinische<br />

Erfah rungen (Klosterhalfen et al. 1998, Klinge et al.<br />

1998) haben jedoch gezeigt, dass die zumeist verwendeten<br />

Kunststoffnetze aus Polypropylene über eine<br />

chronische Fremdkörperreaktionen zu Verhärtungen<br />

und Schrump fungen führen können (Schumpelick).<br />

Ange sichts der engen Lagebeziehung der Kunststoff -<br />

netze zu den Samenstrangstrukturen beim Mann stellt<br />

sich damit die Frage nach möglichen Langzeiteffekten<br />

durch die Netze. Im Rahmen einer propsektiven Beob -<br />

achtungsstudie wurde daher die Hodendurchblutung<br />

und Sexualfunktionen bei Patienten vor und nach<br />

„Plug und Patch Reparation“ standardisiert untersucht.<br />

Methoden<br />

Die Studie wurde als prospektive Beobachtungsstudie<br />

angelegt und von der Ethikkommission der Charité ge -<br />

nehmigt. Von Januar 1999 bis Januar 2000 wurden 133<br />

Männer vor elektiver Operation eines einseitigen nicht<br />

inkarzerierten Leistenbruchs in der Chirurgische Kli -<br />

nik Charité, Campus Mitte, nach schriftlicher Ein ver -<br />

ständniserklärung in die Studie aufgenommen. Aus -<br />

schlusskriterien waren Alter unter 18 Jahren, Rezidivoder<br />

inkarzerierte Leistenhernie und Hodenerkrankun -<br />

gen (Tumor, Orchitis).<br />

Operationsverfahren<br />

Die Plug und Patch Reparation wurde zumeist unter<br />

standardisierter Lokalanästhesie nach Amid (1:1 Ge -<br />

misch 0.5% Carbostesin, 1% Xylocithin, Fa. Astra)<br />

oder auf Patientenwunsch in Intubationsnarkose<br />

durch geführt. Nach Leistenschnitt und Eröffnung der<br />

Externusaponeurose wurde der Bruchsack freipräpariert<br />

und in die Bauchhöhle reponiert. In allen Fällen<br />

wurde aus einem eingeschnittenen ca. 10 x 10cm<br />

großen Prolene-Netz ein Kegel geformt und hinter<br />

dem inneren Leistenring (indirekte Hernie) bzw. die<br />

direkte Bruchpforte eingeführt.<br />

Anschließend wurde der innere Leistenring durch<br />

Naht so eingeengt, dass er für die Kleinfingerspitze<br />

pas sierbar blieb. Zusätzlich wurde ein Onlay Patch aus<br />

Prolene (ca. 5 x 10cm), der mit einem Schlitz und<br />

einer runden Öffnung für den Durchtritt der Sa men -<br />

stranggefäße versehen war, auf die Leistenkanal -<br />

hinterwand aufgebracht und der Schlitz anschließend<br />

ver schlossen (Abb.1-3). Schließlich wurde die Ex te -<br />

rnu sa poneursoe fortlaufend vernäht, Subcutan- und in -<br />

tracutane Hautnaht beendeten den Eingriff.<br />

Abb. 1: Aus einem Kunststoffnetz wird ein Kegel geformt (sogenannter<br />

„Plug“)


Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienreparation 157<br />

Abb. 2: Der „Plug“ wird hinter dem inneren Leistenring eingeführt und<br />

fixiert<br />

Abb. 3: Der „Onlay-Patch“ mit einem Schlitz für den Durchtritt der Samen -<br />

strangstrukturen wird auf der Leistenkanalhinterwand aufgebracht<br />

Postoperativ konnten die Patienten unmittelbar auf -<br />

stehen und bei unauffälligem Lokalbefund noch am<br />

Ope rationstag die Klinik verlassen. Die Wieder auf -<br />

nahme körperlicher und sexueller Aktivität wurde<br />

nicht limitiert und konnte vom Patienten frei entschieden<br />

werden.<br />

Untersuchungen<br />

Die Hauptzielkriterien der Studie waren mögliche<br />

Ver änderungen der Sexualfunktionen und der Hoden -<br />

perfusion. Die Hernienlokalisation (direkt/indirekt)<br />

wur den präoperativ sonografisch bestimmt und folgende<br />

Variablen auf zu operierender und der Ge -<br />

genseite untersucht: Testicularvolumen (cm 3 ), Blut -<br />

fluß der A. spermatica (Vmax [cm/sec]) durch Hoden -<br />

sonografie sowie Farb Duplex Sonografie mittels 7<br />

Mhz Schallkopf durch denselben Untersucher (DB)<br />

analog zu der von Kupzyk-Joeris (1989) beschriebenen<br />

Technik.<br />

Die Sexualfunktionen der Patienten wurden mit<br />

einem Erhebungbogen erfasst, der am Institut für Se -<br />

xu al wissenschaft und Sexualmedizin der Charité ent -<br />

wik kelt, hinsichtlich der Re-Test-Reliabilität ge prüft<br />

und im Rahmen verschiedener Studien zu Aus wirkun -<br />

gen chronischer Erkrankungen auf Sexua li tät und Part -<br />

ner schaft (z. B. Morbus Parkinson, vgl. Beier et al.<br />

2000, oder Multiple Sklerose, vgl. Beier et al. 2002)<br />

eingesetzt worden ist. Das Erhebungs ins tru ment enthält<br />

Fra gen zum sexuellen Erleben und Ver halten mit<br />

einer Erfassung sexueller Funktionsstörun gen (Ap pe -<br />

tenz stö rungen, Erektionsstörungen, Orgas mus störun -<br />

gen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) so wie zur<br />

sexuellen und partnerschaftlichen Zu frie denheit. Er<br />

wurde für die Zwecke der hiesigen Studie adaptiert,<br />

etwa um evtl. auftretende Wundprobleme mit zu erfassen.<br />

Die Erhebungen wurden präoperativ sowie 3 Mo -<br />

nate, 6 Monate und 12 Monate postoperativ durchgeführt.<br />

Da bei wurden die Patienten gebeten, ein persön -<br />

liches Code-Wort zu benutzen (und über die verschiedenen<br />

Messzeitpunkte beizubehalten), damit bei der<br />

Aus wertung prä- und postoperative Frage bö gen zugeordnet<br />

werden konnten, gleichzeitig aber die Ano ny -<br />

mität gewahrt wurde. Die nicht operierte Seite sowie<br />

präoperative Ergebnisse dienten als Kontrolle. Zur<br />

statistischen Analyse wurde der Mann-Whitney U Test<br />

für kontinuierliche nicht parametische Daten ge nutzt;<br />

das Signifikanzniveau wurde auf p < 0.05 festgelegt.<br />

Ergebnisse<br />

Insgesamt wurden 73 Patienten mit einem Durch -<br />

schnittsalter von 57+14 Jahren in die Studie aufgenommen.<br />

Präoperativ klagten bereits 11 (15%) der Pa -<br />

tienten während des Geschlechtsverkehrs über Schmer -<br />

zen durch den Leistenbruch. Eine Verkleinerung des<br />

Hodenvolumens wurde präoperativ von keinem Pa -<br />

tienten angegeben. Bei den Lokalbefunden handelte es<br />

sich um 52 (71.2%) indirekte, 21 (28.8.%) direkte und<br />

14 (19.1%) kombinierte direkte/indirekte Leistenher -<br />

nien. Der durchschnittliche Herniendefekt betrug<br />

2.8+1.7 cm (1.1-4.6). Intraoperative Komplikationen<br />

traten nicht auf; popstoperative Komplikationen be -<br />

standen in Wundproblemen (Serome n=11; 15%; Hä -<br />

matom n = 8; 11%; Infektion n = 2; 2.7%) und Neu -<br />

ralgie (n = 6; 8.2%). Die Wundkomplikationen heilten<br />

spontan und folgenlos innerhalb von 3 Monaten wäh -<br />

rend die Neuralgien bei 4 (5.5%) Patienten partiell<br />

persistierten (Tabelle 1). Die Sexualfunktionen und<br />

Testicularvolumen konnte bei allen Patienten präoperativ,<br />

bei 73 bzw. 68 nach 3 Monaten, 51 bzw. 43 nach<br />

6 Monaten und 24 bzw. 14 nach 12 Monaten untersucht<br />

werden. Während des Follow-ups sind 3 Pa tien -<br />

ten (4.1%) verstorben, 7 (9.5%) verzogen und 6


158 J. Zieren, D. Beyersdorff, K. M. Beier, J. M. Müller<br />

Tab. 1: Ergebnisse I<br />

Alter (Jahre); MW+SD<br />

Typ der Leistenhernie<br />

Indirekt<br />

Direkt<br />

Kombiniert (direkt/indirekt)<br />

Herniengröße (cm); MW+SD<br />

Komplikationen<br />

Intraoperativ<br />

Postoperativ<br />

Serom<br />

Hämatom<br />

Infektion<br />

Neuralgie<br />

* Werte in Klammern sind %<br />

57+14<br />

52 (71)*<br />

21 (29)<br />

14 (19)<br />

2.8+1.7<br />

0<br />

27 (37)<br />

11 (15)<br />

8 (11)<br />

2 (3)<br />

6 (8)<br />

(8.2%) mit anamnestisch unauffälligen Befunden<br />

konn ten nicht zur Nachuntersuchung motiviert werden.<br />

Präoperativ zeigte die Hodenperfusion der nicht<br />

operierten Seite keinen signifikanten Unterschied zur<br />

Hernienseite. Auch postoperativ ergab sich weder<br />

zwi schen den Seiten noch im Vergleich zu präoperativen<br />

Befunden ein signifikanter Unterschied in der Ho -<br />

denperfusion (Tabelle 2). Bei allen Patienten mit präoperativen<br />

Schmerzen infolge des Leistenbruches und<br />

Einschränkungen der Sexualfunktionen hatten sich<br />

diese innerhalb von 3 Monaten postopertaiv normalisiert.<br />

Sexuelle Störungen durch Leistenschmerzen wa -<br />

ren postoperativ signifikant geringer als präoperativ<br />

(p < 0.05). Allerdings klagten 10 (14%) Patienten mit<br />

un auffälligem präoperativen Befund über Einschrän -<br />

kungen der Sexualfunktionen (vornehmlich der sexuellen<br />

Appetenz) und qualitativem Verlust des sexuellen<br />

Erlebens durch Leistenschmerzen (n = 4; 6%) bzw.<br />

Sensibilitätsverlust im Leistenbereich (n = 6; 8%,<br />

Tabelle 2) nach 3 Monaten. Bei 6 dieser Patienten (2<br />

mit Leistenschmerzen, 4 mit Sensibilitätsverlust) kam<br />

es zu einer völligen Normalsierung innerhalb von 12<br />

Monaten. Die Mehrheit der Patienten (n = 63, 86%)<br />

zeigte überhaupt keine Änderung in ihrem sexuellen<br />

Erleben und Verhalten im Vergleich zu den präoperativen<br />

Befunden. Darüberhinaus konnte keine Korrela -<br />

tion zwischen Sexualfunktion und Testicularvolumen<br />

bzw. -perfusion beobachtet werden.<br />

Diskussion<br />

Im Gegensatz zu den großen klinischen Erfahrungen<br />

bezüglich technischer Aspekte der spannungsfreien<br />

Her nienreparation mit Kunststoffnetzen existieren nur<br />

wenige Untersuchungen zu den lokalen Komplikatio -<br />

nen an den Samenstrangstrukturen. Silich (1996) be -<br />

richtete über eine Erosion des Samenleiters durch eine<br />

Kante des implantierten Kunststoffnetzes, die zu ei -<br />

nem schmerzhaften Spermatogranulom 4 Jahre nach<br />

spannungsfreier Hernienreparation mit einem Poply -<br />

pro pylen-Netz geführt hat. Nach Exzision des<br />

Spermato granuloms konnte eine mikroskopische<br />

Samen leiter kon struktion durchgeführt werden. In<br />

einer ersten ex perimentellen Studie wurde von Uzzo<br />

(1999) untersucht, welchen Einfluß der konventionelle<br />

Nahtver schluß bzw. die Implantation eines Kunst -<br />

stoffnetzes zur Hernienreparation auf die Samen lei -<br />

terstrukturen in einem Hundemodell hat. Dabei wur -<br />

den keine signifikanten Unterschiede bezüglich Testi -<br />

cularvolumen, testiculärer Temperatur, Blutfluss und<br />

Vasogramm im prä- und postoperativen Vergleich so -<br />

wie zwischen den beiden Verfahren festgestellt. Histo -<br />

logische Unter su chungen zeigten eine normale Sper -<br />

ma togenese in den Hoden wobei eine muskuläre<br />

Verdickung des Samen leiters in der Netzgruppe ausgeprägter<br />

war. Eine Ero sion oder Stenose des Samen -<br />

leiters durch das Netz wur de nicht beobachtet. Bei Re-<br />

Operationen von Pa tien ten, bei denen zur Hernien ver -<br />

sorgung laparoskopisch das Kunststoffnetz intraperitoneal<br />

vor die Bruch lücke eingebracht worden war,<br />

wur den bereits früher klinisch asymptomatische<br />

Adhä sionen des Kunst stoffnetzes an den Samenleiter -<br />

Tab. 2: Ergebnisse II<br />

Präoperativ Postoperativ (Monate) P<br />

3 6 12<br />

Testiculauntersuchung<br />

Gesamtzahl der Patienten (n) 73 68 43 14<br />

Testicularvolumen (cm 3 ), MW+SD 10.2+4.8 11.4+5.2 10.9+3.7 11.3+4.9 NS<br />

Testicularvolumen (cm/sec), MW+SD 0.032+0.15 0.036+0.09 0.029+0.12 0.035+0.18 NS<br />

Evaluation der Sexualfunktion<br />

Gesamtzahl der Patienten (n) 73 73 51 24<br />

Störungen der Sexualfunktionen 11 (15) 10 (14) 7 (14) 4 (17) NS<br />

Leistenschmerzen 11 (15) 4 (6) 3 (6) 2 (8) S<br />

Parästhesie 11 (15) 6 (8) 4 (8) 2 (8) NS<br />

! Werte in Klammern sind %<br />

! NS = nicht signifikant, S = signifikant


Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienreparation 159<br />

strukturen beobachtet (Fitzgibbons et al. 1994). Zu -<br />

sammenfassend decken sich diese Ergeb nisse mit den<br />

bisherigen klinischen Erfah run gen. Es ist nicht davon<br />

auszugehen, dass die Implantation von Kunststoff net -<br />

zen zur Her nienreparation die Samen strangstrukturen<br />

oder die Se xualfunktionen negativ beeinflusst. Die je -<br />

nigen Patien ten, die bereits vor der Operation über<br />

Schmer zen in folge des Leistenbruchs und Einschrän -<br />

kungen ihrer Se xualfunktionen beklagten, profitierten<br />

von dem Ein griff, während der Anteil derjenigen Pa -<br />

tien ten, die prä operativ keine Beeinträchtigung ihres<br />

sexuellen Er lebens und Verhaltens durch Leisten -<br />

schmerzen bzw. Sensibilitätsverlust im Leistenbereich<br />

aufwiesen, sehr wohl aber nach dem Eingriff bei<br />

lediglich 14 % lagen, wobei die Studie keinen Auf -<br />

schluss darüber ermöglicht, ob andere Faktoren (Ko -<br />

morbidität, partnerschaftliche Beziehungssituation)<br />

einen zusätzlichen Ein fluss gehabt haben könnten.<br />

Ohne hin ist es ein Nach teil der Studie, dass die Part -<br />

nerinnen der operierten Männer nicht in die Unter -<br />

suchung mit einbezogen wurden, wozu es allerdings<br />

eigener Fragebögen und eines hohen organisatorischen<br />

Aufwandes (4 Mess zeitpunkte!) bedurft hätte.<br />

Hingewiesen sei aber auch darauf, dass lediglich 14%<br />

der operierten Männer eine klinisch relevante<br />

Sexualstörung aufwiesen, während die Prävalenz für<br />

die entsprechende Altersgruppe (das Durchschnitts -<br />

alter der operierten Männer lag bei nach 57 Jahren)<br />

aus repräsentativen Untersuchungen (also an nichtklinischen<br />

Stichproben) deutlich höher liegt. Nach den<br />

Daten von Laumann et al. (1994) gaben 31% der Män -<br />

ner Probleme mit der sexuellen Appe tenz, der Er re -<br />

gung oder dem Orgasmus an (untersuchter Alters be -<br />

reich: 18 – 59 Jahre). Allerdings besteht auch hier<br />

noch weiterer Forschungsbedarf, insbesondere zur<br />

Fra ge der Komorbidität und der Bedeutung partnerschaftlicher<br />

Faktoren. Ein solcher Ansatz bietet sich<br />

ebenso für weitere Studien zu den Auswirkungen von<br />

Leistenhernienoperationen auf Sexualität und Partner -<br />

schaft der Betroffenen an. Wie verschiedene Stu dien<br />

gezeigt haben, können die Kunststoffnetze auch zu<br />

einer anhaltenden chronisch inflammatorischen Reak -<br />

tion mit Schrumpfung und Verhärtung des Implantates<br />

führen (Klinge et al. 1996), so dass weitere Nachun -<br />

tersuchungen angestrebt werden sollten. Darüberhin -<br />

aus sollten zusätzliche tierexperimentelle Studien im<br />

Detail untersuchen, welchen Einfluss die Implantation<br />

eines Polypropylen-Stopfens hinter den inneren Leis -<br />

ten ring – wie bei der Plug und Patch Re pa ration – auf<br />

die in unmittelbarem Kontakt befindlichen Samenlei -<br />

ter strukturen hat.<br />

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study comparing laparoscopic and open tension-free inguinal hernia<br />

repair with Shouldice’s operation. Am J Surg 175: 330-3.<br />

Anschrift der Autoren<br />

PD Dr. med. Jürgen Zieren, Prof. Dr. Jochen M. Müller, Medizinische Fakultät Charité der Humboldt Universität zu Berlin, Klinik für Allgemein-, Visceral-, Gefäßund<br />

Thoraxchirurgie, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin, mail: juergen.zieren@charite.de;<br />

Dr. med. Dirk Beyersdorff, Institut für Radiologie, Campus Charité Mitte, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin;<br />

Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, Institut für Sexual wissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität zu Berlin, Luisenstr.<br />

57, 10117 Berlin, mail: klaus.beier@charite.de


Orginalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Sexualität und Menopause *<br />

Mechthild Neises<br />

Sexuality and Menopause<br />

Abstract<br />

Menopause is a phase in a woman’s life cycle that is very<br />

often looked upon merely as an aspect of deficiency<br />

based on hormonal activity and loss of generative function.<br />

Yet this becomes evident in the term „climacteric“<br />

which signifies a beginning decline after having reached<br />

a summit – a „climax“. The problem is restricted to changes<br />

in sexual experience and behavior of menopausal<br />

women. It should, however, be kept in mind that this<br />

describes only one aspect of a woman’s aging process.<br />

Further facets of what is called physical maturity, such as<br />

life experience, personality development, model function<br />

and social welfare, may well go together with psychical<br />

and physical differentiation and productivity.<br />

Sexuality during menopause is essentially influenced<br />

by the following factors: psychosocial status, educational<br />

status, professional status and every day stress situations.<br />

Further important factors are a woman’s own negative<br />

perception of the menopause, experiences of physical or<br />

psychical illness as well as sexual behavior in the past<br />

whereby the sexual partner plays the most important role.<br />

The duration of a partnership and the feelings towards<br />

the partner are decisive. The menopause itself influences<br />

the sexual reaction while only the postmenopausal phase<br />

leads to a reduction of libido and sexual activity accompanied<br />

by a strong increase in dyspareunia. Under psychosomatic<br />

aspects the menopause is to be seen as a<br />

border situation in which the topic of separation is being<br />

reanimated by the loss of fertility, generative function and<br />

biologically determined options which may result in a<br />

destabilization of the psychological equilibrium. The hit -<br />

herto known self-reliance is called into question and may<br />

lead to a maturity crisis or even culminate in a rupture of<br />

psychical, physical and social integrity. The chance given in<br />

this crisis is to find a way for revision and a new start, i.e.<br />

to reinvent one’s identity and to develop a new sense of<br />

life on a higher stage of maturity.<br />

Keywords: Menopause, Sexuality, Partner relationship, At -<br />

tai nable maturity<br />

* Manuskript wurde nach einem Vortrag erstellt, der gehalten wurde anlässlich der<br />

„9.Jahrestagung der Akademie für Se xualmedizin, Sexuelle Gesundheit und<br />

Lebensqualität“, 9.-11. Mai 2002, Leu ven, Belgien<br />

Zusammenfassung<br />

Die Menopause ist eine Lebensphase der Frau, die häufig<br />

ausschließlich unter dem Defizitaspekt betrachtet wird,<br />

wel cher sich auf die hormonelle Aktivität und den Verlust<br />

der generativen Funktion bezieht. Dies wird schon in dem<br />

Begriff Klimakterium deutlich, welches einen beginnenden<br />

Rückgang nach einem Gipfel – „Klimax“ – bezeichnet.<br />

Das Thema wird begrenzt auf die Veränderung des<br />

sexuellen Erlebens und Verhaltens der Frau in der Me -<br />

nopause. Dabei sollte bewusst bleiben, dass dies nur eine<br />

Seite des Älterwerdens der Frau beschreibt. Die weiteren<br />

Facetten für das, was wir unter seelischer Reifung, Le -<br />

bens erfahrung, Persönlichkeitsprägung, Vorbildfunktion<br />

und Fürsorge verstehen, kann durchaus mit einer seelisch<br />

geistigen Differenzierung und Produktivität einhergehen.<br />

Die Sexualität in der Menopause wird wesentlich be -<br />

ein flusst durch die psychosoziale Situation, den Ausbil -<br />

dungs stand und das Berufsleben sowie Alltagsstressoren.<br />

Wesentlich ist die eigene negative Wertung der Meno -<br />

pause, Erfahrung von körperlicher oder seelischer Krank -<br />

heit sowie das Sexualleben in der Vergangenheit. Die<br />

wich tigste Bedeutung kommt der Beziehung zum Se xu -<br />

alpartner zu. Dabei sind die Dauer der Beziehung und die<br />

Ge fühle für den Partner mitbestimmend. Der Einfluss der<br />

Menopause zeigt sich ausschließlich auf die sexuelle Re -<br />

agibilität, während erst die Veränderung in der Postme -<br />

nopause zu einer Abnahme der Libido und der Häufigkeit<br />

der sexuellen Aktivität führt bei gleichzeitig starker Zu nah -<br />

me der Dyspareunie. Unter psycho-somatischen Aspek -<br />

ten ist das Klimakterium als Schwellensituation zu sehen<br />

in der das Thema Trennung erneut aktualisiert wird, und<br />

zwar Abschied von der Fruchtbarkeit und der Potenz des<br />

Gebärens und den biologisch determinierten Wahlmöglichkeiten.<br />

Im psychologischen Erleben ist dies verbunden<br />

mit einer Verunsicherung. Es wird das bisherige Selbst -<br />

verständnis in Frage gestellt, was zu einer Reifungskrise<br />

füh ren kann bis hin zur Erschütterung der körperlichen,<br />

psychischen und sozialen Integrität. Die Chance dieser<br />

Krise ist, dass sie zu Aufbruch und Neubeginn führen<br />

kann, das heißt zu einer Umorganisation der Identität und<br />

zu einer neuen Sinnhaftigkeit auf einem reiferen Niveau.<br />

Schlüsselwörter: Menopause, Sexualität, Partnerbezie -<br />

hung, Reifungschance<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 160 – 169 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Sexualität und Menopause 161<br />

Einleitung<br />

Die Menopause ist eine Lebensphase der Frau, die<br />

häufig ausschließlich unter dem Defizitaspekt be -<br />

trachtet wird, welcher sich auf die hormonelle<br />

Aktivität und den Verlust der generativen Funktionen<br />

bezieht. Dies wird schon in dem Begriff Klimakterium<br />

deutlich, welches einen beginnenden Rückgang nach<br />

einem Gipfel, „Klimax“ bezeichnet. In der <strong>Literatur</strong><br />

der 80-er und 90-er Jahre wird die Menopause in Ver -<br />

bindung gebracht mit dem Verfall des Körpers bis hin<br />

zu dem Tode Näherrücken (Cromus 1993). Kon -<br />

strukti ver wird das, was eine Frau während des Kli -<br />

makteriums erlebt mit dem Begriff Veränderung in<br />

Ver bindung gebracht (Raguse-Stauffer 1995). Im Er -<br />

leben der Frau wird dabei der unwiederbringliche Ver -<br />

lust der Gebärfähigkeit verknüpft mit vielem anderen,<br />

das als endgültig verloren erlebt wird und benannt<br />

wer den exemplarisch Attraktivität und sexuelle Er -<br />

lebnisfähigkeit. Solche Zuschreibungen lassen die<br />

progressiven Aspekte des Klimakteriums als Entwick -<br />

lungsphase außer Acht. So zum Beispiel die äußeren<br />

Veränderungsmöglichkeiten, die sich in dieser Le -<br />

bensphase anbieten wie das Wiederaufnehmen oder<br />

Intensivieren einer Berufstätigkeit oder auch eine Be -<br />

rufsausbildung, die eine neue konstruktive Aktivität<br />

darstellen kann. Sies (1992) sagt dazu, dass wir der<br />

Be trachtung dieser Lebensphase nicht gerecht werden<br />

solange wir von dem Ideal des Unbeschädigtseins als<br />

ab solutem Wert ausgehen, an dem alle anderen Zu -<br />

stände gemessen werden. Nach ihrer Meinung sollte<br />

anstelle des Ideals der Vollkommenheit der Wunsch<br />

nach Vollständigkeit treten. Damit müssen die Diffe -<br />

renzen zwischen beschädigt und heil nicht ausgeglichen<br />

werden, sondern dienen als Spannungspotenzial<br />

für eine weitere Entwicklung. Demnach könnte die<br />

Frage für eine Frau, die sich in dieser Lebensphase mit<br />

dem Älterwerden auseinandersetzen muss eher lauten,<br />

wie kann ich mich identisch mit mir selber fühlen<br />

obwohl ich mich öfters weder „Herr im eigenen<br />

Körper“ noch „von anderen anerkannt“ fühle? (Schle -<br />

singer-Kipp 1995) Es finden sich zahlreiche Künst le -<br />

rinnen und Wissenschaftlerinnen, welche erst im hö -<br />

heren Alter mit ihren produktiven Leistungen Auf -<br />

merksamkeit gefunden haben. So besteht kein Zwei -<br />

fel, dass diese Phase der Veränderung nicht gleichzusetzen<br />

ist mit einer Verminderung der Lebensqualität,<br />

sondern sofern es um die geistige und künstlerische<br />

Produktivität geht möglicherweise erst dann ein<br />

Freiraum geschaffen wird, welcher die Leistungs fä -<br />

hig keit voll ermöglicht.<br />

Mein Thema begrenzt mich auf die Veränderungen<br />

des sexuellen Erlebens und Verhaltens der Frau wäh -<br />

rend und nach der Menopause und es sollte bewusst<br />

sein, dass dies nur die eine Seite des Älterwerdens der<br />

Frau beschreibt. Die andere Seite ist das, was wir un -<br />

ter seelischer Reifung, Lebenserfahrung, Persön -<br />

lichkeitsprägung, Vorbildfunktion und Fürsorge verstehen<br />

und was, wie erwähnt, durchaus mit einer zu -<br />

nehmenden seelisch-geistigen Differenzierung und<br />

Pro duktivität einhergehen kann.<br />

Sexualität im höheren<br />

Lebensalter<br />

Die medizinisch-therapeutische <strong>Literatur</strong> richtet häufig<br />

den Blick auf sexuelle Probleme älterer Menschen<br />

und es ist uns sehr vertraut, in diesen Kategorien, das<br />

heißt den Problem-bezogenen, zu denken und zu be -<br />

werten. Darum möchte ich zunächst anhand von zwei<br />

Zitaten den Blick richten auf das, was Sexualität ist<br />

und sein kann, das heißt den lustvollen Aspekt.<br />

„Sexualität ist das, was wir daraus machen: eine<br />

teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Ab -<br />

wehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, eine<br />

Waffe der Aggression (Herrschaft, Macht, Strafe, Un -<br />

ter werfung), ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein<br />

idea ler Zustand, das Böse, das Gute, Lust oder Ent -<br />

spannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbst -<br />

achtung, ein Ausdruck der Zuneigung, eine Art der<br />

Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Ver -<br />

gnügen, Vereinigung mit dem All, mystische Extase,<br />

indirekter Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg<br />

zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Art<br />

menschliches Neuland zu erkunden, eine Technik,<br />

eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer<br />

Krank heit oder Gesundheit oder einfach eine sinnliche<br />

Erfahrung.“ (Müller-Luckmann 2000)<br />

Aus distanzierterem und sachlicherem Blick win -<br />

kel von Springer-Kremser (2002) heißt es „Sexua lität<br />

bezeichne nicht allein die Aktivitäten und Lust, die<br />

vom Funktionieren des Genitalapparates abhängen,<br />

son dern eine ganze Reihe von Erregungen und Ak -<br />

tivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine<br />

Lust verschaffen, die aus der Befriedigung des Be -<br />

dürfnisses nach Nähe, Intimität, Zärtlichkeit resultiert,<br />

also nicht auf die Stillung eines physiologischen Be -<br />

dürfnisses (Atmung, Hunger, Ausscheidungs funk tion)<br />

reduzierbar ist. Sie finden sich als Komponenten in<br />

der sogenannten normalen Form der sexuellen Lie be.“<br />

In Interviews zur Sexualität älterer Frauen wird<br />

zum einen deutlich, dass Sexualität kein generelles Ta -<br />

buthema ist, dennoch selten spontan darüber gesprochen<br />

wird und oft Umschreibungen benutzt werden.<br />

Bei vielen Frauen wird bei direktem Nachfragen deutlich,<br />

dass Hemmungen und Unsicherheiten bei kon -<br />

kre ten Benennungen bestehen. Von vielen Frauen wird


162 M. Neises<br />

ein Nachlassen des sexuellen Interesses beschrieben.<br />

Dies wird jedoch nicht in den Zusammenhang mit<br />

Wech seljahren oder Alter gebracht sondern eher auf<br />

länger bestehende sexuelle Schwierigkeiten in der<br />

Part nerschaft bezogen. So führen Frustrationen gegen -<br />

über dem Ehemann, mit dem Zärtlichkeit und sexuelle<br />

Befriedigung nicht erlebt werden konnte dazu, dass<br />

Sexu a lität vermieden wird oder Geschlechtsverkehr<br />

wird als eine Pflichtübung dargestellt und das Alter<br />

oder gynäkologische Diagnosen wie zum Beispiel Hor -<br />

mon man gel oder eine Reizblase werden benutzt, diese<br />

Pflicht übung nun endlich einzustellen. Die sexuellen<br />

Pro bleme in einer Ehe treten oft erst offen zutage<br />

wenn die Kinder aus dem Haus sind und das Paar wieder<br />

ver sucht, die Beziehung miteinander auszubauen.<br />

Gelegentlich ist es in dieser Lebenssituation erst nach<br />

der Paartrennung aus der Ehe möglich, Sexualität als<br />

etwas eigenes zu erleben und als spielerisches Aus pro -<br />

bieren eigener Wünsche und nicht mehr die anerzogene<br />

völlige Ausrichtung auf den Mann. Diese größere<br />

Klarheit hinsichtlich der eigenen Wünsche führt bei<br />

Frauen zu oft stärker gelebter Zärtlichkeit und Gebor -<br />

genheitswünschen (Neises 2001).<br />

Betrachtet man die Prävalenz von sexuellen Dys -<br />

funktionen bei Frauen, so wird diese von Ärzten, die<br />

regelmäßig Fragen nach der sexuellen Funktion in ihre<br />

Anamnese einbeziehen mit 50% angegeben. Wo bei<br />

sexuelle Dysfunktion definiert ist als Störung in einer<br />

oder mehreren Phasen des sexuellen Reaktions zyklus’<br />

oder durch Schmerzen beim Geschlechts ver kehr. Be -<br />

trachtet man speziell gynäkologische Patien tinnen, so<br />

sind es 38%, die Schwierigkeiten im Bereich der Se -<br />

xu alität angeben. Dies sind überwiegend Hemmun -<br />

gen, Ängste, 15% davon be schrei ben Probleme beim<br />

Or gasmus und 16% mangelnde Freude am Ge -<br />

schlechts verkehr. Zwei Drittel dieser Frauen betonen<br />

gleichzeitig ihre globale Zufriedenheit in der sexuellen<br />

Beziehung (Vermillion & Holmes 1997). Die Be -<br />

fragung von 100 verheirateten Paaren außerhalb der<br />

medizinischen Sprechstunde zeigte, dass 63% der<br />

Frauen und 40% der Männer Erfahrungen mit sexuellen<br />

Dysfunktionen angaben (Ebd. 1997). Dies steht in<br />

Kontrast zur <strong>Literatur</strong> über sexuelle Probleme älterer<br />

Menschen, die zu drei Viertel Erektionsprobleme von<br />

Männern zum Thema hat und bei Frauen am häufigsten<br />

die Dyspareunie. Betrachtet man die Faktoren,<br />

die Einfluss auf die sexuelle Reaktion und damit auf<br />

sexuelle Dysfunktionen bei Frauen haben, lassen sich<br />

neben Alter, Menopause und Hormonersatztherapie<br />

(HRT), die Gegenstand dieser Übersicht sind und un -<br />

ter Ausklammerung der besonderen Situation von<br />

Schwan gerschaft, Wochenbett und Stillperiode noch<br />

die folgenden Faktoren auflisten (Heiman & Meston<br />

1997, Vermillion & Holmes 1997):<br />

! Operationen<br />

! Medikamente<br />

! Alkohol<br />

! Drogen und andere Substanzen<br />

! sexuelle Traumatisierung<br />

! chronische Erkrankungen<br />

! körperliche Behinderung<br />

! psychologische Faktoren<br />

! interaktionale Faktoren<br />

Tatsächlich besteht bei älteren Frauen eine sehr geringe<br />

Nachfrage nach der Behandlung von sexuellen Stö -<br />

rungen im Gegensatz zu älteren Männern, die wegen<br />

Erektionsproblemen häufig Ärzte und Beratungs ein -<br />

richtungen aufsuchen (von Sydow 2001).<br />

60% der über 50-jährigen Frauen erleben ihre<br />

Lubrikation aus ausreichend, 40% finden sie unzureichend.<br />

60% der Männer und 58% der Frauen über 60<br />

Jahre kennen männliche Erektionsprobleme aus eigener<br />

Erfahrung. Mit 55 Jahren erleben sich etwa 10%<br />

aller Männer als völlig impotent, mit 70Jahren etwa<br />

15% und sehr viel mehr leiden unter „minimaler oder<br />

moderater Impotenz“. Es handelt sich hier zum Teil<br />

um einen normalen Alterungsprozess, wobei auch Er -<br />

kran kungen und Medikamente einen negativen Effekt<br />

ha ben können, und emotional-sexuelles Vermeidungs -<br />

ver halten, das oft von Männern und Frauen praktiziert<br />

wird. Ältere Frauen wie auch Männer führen die Be -<br />

en digung der koitalen Aktivität meist auf ein Ein -<br />

schlafen der männlichen sexuellen Initiative zurück<br />

wegen Krankheit oder Abnahme der Potenz. Sexuelle<br />

Probleme des Mannes führen bei Paaren wesentlich<br />

häu figer zur Beendigung des Geschlechtsverkehrs<br />

(14-40%) als sexuelle Probleme der Frau (4-6%).<br />

Häu fig steht die koitale Aktivität des Paares in einem<br />

engen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand<br />

des Mannes, nicht aber mit dem der Frau (von Sydow<br />

2000).<br />

Ein besonderer Aspekt ergibt sich aus der Verän -<br />

derung der Sexualität durch chronische Erkrankungen<br />

wie zum Beispiel das Mammakarzinom. Eine Be -<br />

fragung von 220 Patientinnen mit Mammakarzinom<br />

zu Fragen der Krankheitsbewältigung und Lebens qua -<br />

lität einschließlich Sexualität mittels strukturiertem<br />

In terview und Selbsterhebungsfragebögen ergab bei<br />

80% der Frauen, die in einer Partnerschaft lebten, und<br />

etwa 70%, die die Bereitschaft hatten sich zum Thema<br />

Sexualität mitzuteilen, dass bis zu fünf Jahre postoperativ<br />

von rund 40% der Frauen leichte bis schwere<br />

Ein schränkungen in der Sexualität angegeben wurden.<br />

Diese Veränderungen konnten mit der Frage nach der<br />

Libido nicht erfasst werden. Diese wurde meist als<br />

kons tant oder gering beeinträchtigt angegeben. 41%<br />

der Frauen litten zu unterschiedlichen Zeitpunkten an


Sexualität und Menopause 163<br />

Dyspareunie, 45% der Frauen beschrieben eine Ab -<br />

nah me des Wunsches nach Sexualität beim Partner,<br />

gleichzeitig gaben 67% der Frauen an, dass die Ver -<br />

änderung der Sexualität nicht zu Partnerproblemen<br />

führt. 41% gaben den Wunsch an, über Sexualität<br />

spre chen zu können und 80% hatten den Wunsch nach<br />

mehr Information zu möglichen Auswirkungen der Er -<br />

krankung und Behandlung auf die Sexualität (Neises<br />

1998, Neises 1994).<br />

Psychosomatische Aspekte der<br />

Menopause<br />

Die Betrachtung der epidemiologischen Aspekte des<br />

Kli makteriums bezogen auf Zahlen in Deutschland<br />

an hand des Statistischen Jahrbuches 1996 und der<br />

Daten des Bundesministeriums für Gesundheit 1995<br />

(zit. in Ditz 2000) beträgt die mittlere Lebenser war -<br />

tung für Frauen heute 79,3 Jahre, das mittlere Me -<br />

nopausenalter liegt bei 52,2 Jahren, das heißt die postmenopausale<br />

Lebensphase umfasst 25 bis 30 Jahre bei<br />

10 Millionen 50- bis 70-jährigen Frauen. Allein die<br />

Häufigkeiten, wie sie in den Zahlen ausgedrückt sind<br />

unterstreichen, wie wichtig der Fokus der Betrachtung<br />

ist. Die Zusammenstellung der klimakterischen Be -<br />

schwer den von Hauser et al. (1994) in einer <strong>Literatur</strong> -<br />

übersicht zeigt neben dem häufigsten Symptom Hit -<br />

zewallungen (in fast 73%) das Thema Sexualität erst<br />

auf Rang 12, Libidoabnahme (31%) und Rang 17,<br />

Dyspareunie (7,6%) (Tabelle1). Die übrigen Symp -<br />

tome wie zum Beispiel Nervosität, Reizbarkeit,<br />

Schwin del und Müdigkeit, um nur einige zu nennen,<br />

charakterisieren einen psychosomatischen Symptom -<br />

komplex weshalb es wichtig ist, die Lebensphase un -<br />

ter psychologischen und psychodynamischen As pek -<br />

ten zu betrachten.<br />

Im Klimakterium kommt das Thema der Trennung<br />

wieder auf, wie es im weiblichen Lebenszyklus häufiger<br />

wiederkehrt, so in der Adoleszenz, in der es die<br />

Trennung vom kindlichen Körperschema und von Au -<br />

tonomievorstellungen ist. In der Schwangerschaft ist<br />

es die Trennung vom vertrauten Körperschema und<br />

eben so von Autonomievorstellungen. In der Geburt<br />

und im Wochenbett ist es die Durchtrennung der Na -<br />

be lschnur und erneut die Änderung des Körper sche -<br />

mas. Und schließlich in der Menopause der Ab schied<br />

von der Potenz, der Fruchtbarkeit und den biologisch<br />

determinierten Wahlmöglichkeiten (Springer-Kremser<br />

2002). Im psychologischen Erleben ist dies ver bunden<br />

mit einer Verunsicherung. Es wird das bisherige<br />

Selbst verständnis in Frage gestellt, was ähnlich wie in<br />

der Adoleszenz zu einer Reifungskrise führen kann,<br />

das heißt zur Erschütterung der körperlichen, psy chi -<br />

schen und sozialen Integrität. Die Chance dieser Krise<br />

ist, dass es zum Aufbruch und zum Neubeginn führen<br />

kann, das heißt zu einer Umorganisation der Identität<br />

und zu einer neuen Sinnhaftigkeit auf einem reiferen<br />

Niveau.<br />

Von den hormonellen Umstellungen, die sich im<br />

Körper der Frau vollziehen, wird äußerlich das Auf -<br />

hören der Menstruation wahrgenommen, was auch das<br />

Ende der Gebärfähigkeit bedeutet. Die bewussten und<br />

unbewussten Vorstellungen, die diese Vorgänge auslösen,<br />

sind ausschlaggebend für die Bedeutung, die die<br />

einzelne Frau ihnen gibt. Die Art und Weise wie das<br />

Aufhören von Menstruation und Gebärfähigkeit interpretiert<br />

werden kann zu einer veränderten Wahr neh -<br />

mung ihrer selbst führen und auch zu der Erwartung<br />

oder Befürchtung, von anderen als verändert wahrgenommen<br />

zu werden. Unter diesem Einfluss werden<br />

auch weitere Veränderungen, die in diese Lebensphase<br />

häufig fallen, wahrgenommen, dazu gehören Verän de -<br />

rungen in der Beziehung zum Partner, zu den erwachsen<br />

werdenden und sich loslösenden Kindern und zu<br />

den alten von Krankheit und Tod bedrohten Eltern<br />

(Ra guse-Stauffer 1995). Ob in dieser Zeit aktiv Um -<br />

stel lung herbeigewünscht und verwirklicht werden<br />

kann hängt davon ab, wie die körperlichen Verän -<br />

derungen verstanden und verarbeitet werden. Insofern<br />

ist das Klimakterium als Schwellensituation zu verstehen,<br />

die unbewältigte neurotische Selbstwert-, Bezie -<br />

hungs- und Triebkonflikte erneut aktualisiert. Unter<br />

die ser Belastung können bisher adaptive Abwehr -<br />

formen in Abhängigkeit von der Persönlichkeit und<br />

Tab. 1: <strong>Literatur</strong>übersicht zu klimakterischen Beschwerden (nach Hauser et al.<br />

1994)


164 M. Neises<br />

von traumatisierenden Früherfahrungen dekompensieren<br />

und zu den beschriebenen psychosomatischen<br />

Erkrankungen führen. Auf die Tatsache, dass etwas<br />

unwiederbringlich zuende geht reagieren Menschen<br />

sehr unterschiedlich. Dies kann Trauer sein, die einen<br />

längeren Ablösungsprozess begleitet, oder aber auch<br />

Wut, die unter Umständen Angst und Schuldgefühle<br />

auslöst und in ein depressives Erleben mündet.<br />

Verleugnung und Flucht sind eine weitere Alternative.<br />

Ein Konzept des Verlustes als Modell zur Entstehung<br />

klimakterischer Beschwerden hat Ditz (2000) entwik -<br />

kelt (Abbildung1). Für die psychosomatische Arbeit<br />

mit Frauen in dieser Lebensphase heißt es, die folgenden<br />

Schlüsselbereiche zu bearbeiten, dazu gehören<br />

! die Einstellung zur körperlichen Alterung,<br />

! die Bedeutung des Verlustes der Fertilität,<br />

! die Abnahme der Leistungsfähigkeit und kompetitiven<br />

Möglichkeiten,<br />

! die Veränderung der familiären Beziehungen,<br />

! die Veränderung der Sexualität,<br />

! die Auslösesituation der klimakterischen Be -<br />

schwer den.<br />

Diese Auflistung macht deutlich, dass die Verän de -<br />

rung der Sexualität nur eine Facette im Erleben dieses<br />

Lebensabschnittes ist.<br />

Abb. 1: Das Konzept des Verlusts als Modell zur Entstehung klimakterischer Beschwerden (nach Ditz 2000)<br />

Hormonersatztherapie (HRT) und<br />

Sexualität<br />

Ältere Frauen gelten im medizinischen Diskurs viel -<br />

fach als erotisch beeinträchtigt durch die hormonelle<br />

Umstellung der Wechseljahre und häufig wird ih nen<br />

alleine deshalb eine Rettung durch Hormon ga ben<br />

empfohlen (von Sydow & Reimer 1995). Nach der<br />

Untersuchung von Schultz-Zehden (1998a) sind die<br />

Frauen, die HRT erhalten stärker belastet durch kli -<br />

makterische Beschwerden insgesamt und zeigen dabei<br />

deutlich mehr Nervosität, Erregbarkeit, aber auch ein<br />

stärkeres Verlusterleben und ein stärkeres Bedro -<br />

hungs er leben. Dieses Ergebnis wirft einige Fragen<br />

auf, so zum Beispiel ob vielleicht Ärzte/Ärztinnen<br />

eher belastetere und psychisch klagsamere Frauen für<br />

eine HRT auswählen, ob vielleicht belastete Frauen<br />

eher eine HRT fordern und ob sich vielleicht die Grup -<br />

pe mit HRT in ihrer Selbstwahrnehmung von der<br />

Grup pe ohne HRT unterscheidet. Fragt man nach der<br />

Kausalattribuierung von klimakterischen Beschwer -<br />

den, so schreiben 86% der Frauen ihre Beschwerden<br />

aus schließlich oder mindestens teilweise der Hormon -<br />

umstellung zu. Wesentlich für die Entscheidung für<br />

eine HRT ist für Frauen auch die Einstellung zum<br />

Alter (Schultz-Zehden 1998b). Man kann davon ausgehen,<br />

dass über ein Drittel (36%) aller Frauen Altern<br />

akzeptiert, sich dabei ein positives Körpergefühl be -<br />

wahrt und gesundheitsbewusstes Verhalten hinsicht-


Sexualität und Menopause 165<br />

lich Ernährung, sportlicher Aktivitäten und zum<br />

Beispiel Nichtrauchen praktiziert. Etwa ein weiteres<br />

Drittel (32%) der Frauen nehmen Distanz zum Alter<br />

ein, das heißt diese Gruppe lebt weder gesundheitsbewusst<br />

noch fürchtet sie gesundheitliche Risiken, was<br />

ein hohes Maß an Verleugnung voraussetzt. Die restlichen<br />

32% verteilen sich auf Frauen, die eine große<br />

Angst vor körperlichem Altern und vor Krankheit<br />

haben. Diese fühlen sich durch ihre abnehmende Leis -<br />

tungs fähigkeit besonders belastet und nehmen auch in<br />

be sonders hohem Maß Medikamente ein. Bei einer<br />

Un tergruppe (8%) steigert sich diese Belastung so<br />

weit, dass Alter als Bedrohung erlebt wird. Diese<br />

Grup pe gehört auch zum größten Teil zu den Hormon -<br />

an wen derinnen mit der Vorstellung, dass die Hor mon -<br />

an wen dung zu einer Verlangsamung des Alterungs -<br />

pro zesses führt. Neben dem Gesundheitsverhalten allgemein<br />

sind es die Einstellung zur Menopause, der<br />

Kultur kreis, das Bildungsniveau und der sozioökonomische<br />

Status, die die Ausprägung von Symptomen<br />

im Kli makterium voraussagen lassen, ebenso die<br />

Erwerbs tätigkeit und die familiäre Orientierung. So<br />

lässt sich ge nerell sagen, dass Frauen mit einem traditionell<br />

weiblichen Rollenverhalten unter den Wech -<br />

seljahrs beschwerden stärker leiden als selbstbewusste<br />

Frauen mit eher männlich-instrumentellen Eigen -<br />

schaf ten, das heißt Frauen, deren Selbstbewusstsein<br />

mehr von eigenen Tätigkeiten und eigenen Problem -<br />

lösungen geprägt ist und die damit weniger abhängig<br />

sind von Zuwen dungen durch den Partner und durch<br />

die Kinder. Da mit lässt Berufstätigkeit sich quasi als<br />

Schutzfaktor for mulieren während die Gruppe der<br />

Hausfrauen sich durch klimakterische Symptome am<br />

stärksten belastet fühlt.<br />

Die HRT-Nutzung in Deutschland der letzten 20<br />

Jahre hat in den 80-er Jahren zu einer Steigerung der<br />

so genannten Jemals-Nutzerin von fünf auf 20% ge -<br />

führt und in den 90-er Jahren von 20 auf 40%, wobei<br />

die aktuellen Nutzerinnen seit Anfang der 90-er Jahre<br />

mit etwa 28% angegeben werden (Heinemann et al.<br />

2002). Der Einfluss der HRT auf die Lebensqualität ist<br />

vielfach untersucht, dahingegen sehr viel weniger der<br />

Einfluss auf die Sexualität. Für wenige Substanzen<br />

lie gen – wie zum Beispiel für Tibolon-Untersuchun -<br />

gen in einem Doppelblindvergleich zu E2/NETA<br />

(17"-Östradiol / Norethisteronacetat) vor. Dabei wur -<br />

de die Häufigkeit, der Genuss und die Befrie digung<br />

untersucht. Diese Bereiche sowie das Gesamtergebnis<br />

zeigten einen signifikanten Gruppenunterschied (Nat -<br />

horst-Boos & Hammar 1997). In weiteren Untersu -<br />

chungen zur sexuellen Funktion und zum sexuellen<br />

Er leben wurde dies durch eine HRT kaum beeinflusst,<br />

war jedoch wesentlich davon abhängig, inwieweit<br />

eine Frau spontan die Menopause erlebte oder nach<br />

Hys terektomie und Ovarektomie (Nathorst-Boos et al.<br />

1993) (Abbildung 2). Dennerstein fand in einer Unter -<br />

suchung bei Frauen nach Hysterektomie und Ovarek -<br />

to mie positive Auswirkungen einer alleinigen Östrogentherapie<br />

auf sexuelles Begehren und Erleben<br />

(1980). Sie interpretierte diese Wirkung als Folge des<br />

insgesamt verbesserten Allgemeinzustandes nach Lin -<br />

derung der klimakterischen Beschwerden. Ein signifikanter<br />

Unterschied zwischen den beiden Gruppen<br />

zeigt sich für die Bereiche wie sie mit einer abgeänderten<br />

Version des McCoy’s Sex Scale Questionnaire<br />

erhoben wurden. Beckermann (2001) kommt in ihrer<br />

Übersichtsarbeit zum Einfluss der Östrogen-Gesta -<br />

gen-Hormontherapie zu dem Ergebnis, dass bei Frau -<br />

en, die nicht durch Operation (Hysterektomie und<br />

Ovar ektomie) ins Klimakterium kamen, Östrogene<br />

kei ne effektive Behandlungsmöglichkeit von sexuellen<br />

Problemen darstellen und dass generell hormonelle<br />

Faktoren sowohl für die Sexualität von Frauen als<br />

auch von Männern eine untergeordnete Rolle gegenüber<br />

erlernten soziokulturellen, kommunikativen und<br />

affektiven Faktoren spielen. Über die Bedeutung von<br />

physiologischen Androgenspiegeln, Prolaktin, Oxy to -<br />

cin, IGF-Werten (insulin-like growth factor) oder an -<br />

deren biochemischen Faktoren für die Sexualität von<br />

Frauen liegen derzeit noch keine gesicherten Er kennt -<br />

nisse vor. Interessanterweise kommt eine Studie, die<br />

in Bulgarien durchgeführt wurde und in der menstruierende<br />

Frauen verglichen wurden mit postmenopausalen<br />

Frauen mit und ohne HRT, von denen etwa 17%<br />

operativ in die Menopause versetzt wurden, zu einer<br />

sehr positiven Bewertung bezüglich des Ein flusses der<br />

HRT auf verschiedene Aspekte des sexuellen Erle -<br />

bens. Alle Bereiche des Sexuallebens waren signifikant<br />

niedriger bei den postmenopausalen Frau en in<br />

Abb. 2: Tibolon und seine Wirkung auf verschiedene Parameter der Sexualität im<br />

doppelblinden Vergleich zu E2/NETA bei 437 postmenopausalen Frauen nach 48<br />

Wochen (nach Nathorst-Boos et al. 1993)


166 M. Neises<br />

der Gruppe ohne HRT, sowohl im Vergleich zu den<br />

Frau en die noch menstruierten als auch im Ver gleich<br />

zu den Frauen unter HRT. Die signifikanten Un ter -<br />

schiede beziehen sich sowohl auf erotische Ge danken<br />

als auch das Lust- und Orgasmuserleben und die Erre -<br />

gungsfähigkeit sowohl durch den Partner wie auch<br />

durch erotische Stimuli (Tabelle 2). In der Unter su -<br />

chung bleibt der Zugang zu dieser Studie als auch die<br />

Tab. 2: Eine Untersuchung zum psychologischen Befinden und zur Sexualität von<br />

bulgarischen Frauen – signifikanter Einfluss einer Hormonersatztherapie (nach Boris -<br />

sova et al. 2001)<br />

Indikation zu einer HRT offen. Man kann darüber spekulieren<br />

inwieweit der Luxus der Verfügbarkeit einen<br />

Einfluss auf das Ergebnis hat.<br />

Veränderung der Sexualtät in der<br />

Menopause<br />

Die wesentliche Frage zum Thema Sexualität und<br />

Menopause stellt Lorraine Dennerstein in einer Unter -<br />

suchung von 2001 mit der Frage, sind die Ver än -<br />

derungen in der sexuellen Funktion während des mittleren<br />

Lebensabschnitts dem Alter oder der Menopause<br />

zuzuschreiben. Sie führt zunächst vielfältige Variablen<br />

auf, die die weibliche Sexualität in der Menopause<br />

beeinflussen:<br />

! Psychosoziale Situation<br />

! Beziehung zum Sexualpartner<br />

! Dauer der Beziehung<br />

! Gefühle für den Partner<br />

! Sexualleben in der Vergangenheit<br />

! Ausbildungsstand<br />

! Stressoren<br />

! Berufsleben<br />

! Persönlichkeitseigenschaften<br />

! Negative Wertung der Menopause<br />

! Erfahrung von körperlicher oder seelischer<br />

Krankheit<br />

Abb. 3: Einfluss von Variablen auf die weibliche Sexualität in der Menopause (nach Dennerstein 2001)


Sexualität und Menopause 167<br />

Diese Variablen werden in einem Fließdiagramm (Ab -<br />

bildung 3) dargestellt. Die Abbildung zeigt, dass der<br />

Hormonspiegel einen herausragender Einfluss auf die<br />

mangelhafte Lubrikation und damit auf das Symptom<br />

der Dyspareunie hat, aber auch weitere Meno pau sen -<br />

symptome beeinflusst, deren Summe sich auf das<br />

Wohl befinden und in der Folge auf die sexuelle Rea -<br />

gibilität auswirkt und damit Einfluss auf die Libido<br />

und die Häufigkeit der sexuellen Aktivität hat. Der<br />

Ein fluss der Menopause zeigte sich ausschließlich auf<br />

die sexuelle Reagibilität während signifikante Ver än -<br />

de rungen in der Postmenopause sowohl auf die Ab -<br />

nahme der Libido als auch auf die Abnahme der Häu -<br />

figkeit der sexuellen Aktivität Einfluss hatten bei<br />

gleich zeitig starker Zunahme der Dyspareunie. Dane -<br />

ben fand sich ein starker Effekt der Gefühle für den<br />

Part ner auf die Libido, die während des Untersu -<br />

chungs zeitraums bezogen auf den Menopausenzeit -<br />

raum fielen und gleichzeitig nahmen Potenzprobleme<br />

des Partners zu. Dennerstein kommt zu der zusam -<br />

men fassenden Bewertung, dass die sexuelle Reagi -<br />

bilität signifikant abnimmt über die Zeit, das heißt we -<br />

sentlich im menopausalen Übergang. Andere Parame -<br />

ter der weiblichen Sexualität, insbesondere die Libido,<br />

die Häufigkeit der sexuellen Aktivität und die Dys -<br />

pareunie, werden sehr viel prononcierter in der Post -<br />

menopause beeinflusst. Aspekte der Partnerbeziehung<br />

werden in der Menopause ebenso beeinflusst und es<br />

sind sowohl die biologischen als auch die psychosozialen<br />

Faktoren, die die weibliche Sexualität in dieser<br />

mittleren Lebensphase beeinflussen. Dabei kommt<br />

ins besondere den Beziehungsaspekten in der Partner -<br />

schaft eine herausragende Bedeutung zu.<br />

Interessant ist auch der Vergleich der menopausalen<br />

Frauen mit jüngeren Frauen (Tabelle 3). Dabei ist<br />

wie erwähnt die unzureichende Lubrikation ein häufiges<br />

Problem in der fünften Dekade im Vergleich zur<br />

etwa zweiten Lebensdekade, andererseits sind<br />

Schmer zen beim Ge schlechtsverkehr sowie das Erle -<br />

ben der Sexualität als nicht lustvoll und auch die<br />

Angst hinsichtlich der se xuellen Performance deutlich<br />

geringer während mangelhaftes sexuelles Interesse<br />

und Orgasmusstörungen etwa gleich häufig sind. Ver -<br />

gleicht man Singles und Verheiratete, beklagen Sing -<br />

les an erster Stelle den Mangel an Zärtlichkeit und erst<br />

danach den Mangel an sexuellen Kontakten.<br />

Zusammenfassen lassen sich die Ergebnisse der<br />

Studien über den Einfluss der Menopause wie Tabelle<br />

4 zeigt. Es kommt zu einer Abnahme der koitalen Ak -<br />

tivität bei unveränderter Masturbationsaktivität. Die<br />

Befunde zum sexuellen Interesse sind widersprüchlich,<br />

sowohl unverändert als auch abnehmend. Etwas<br />

seltener werden erotische Phantasien und Träume. Bei<br />

sexuell aktiven Frauen bleiben sexueller Genuss,<br />

Erregbarkeit und orgasmische Kapazität voll erhalten.<br />

Die Zunahme der Lubrikationsschwäche wird als ge -<br />

ring bewertet mit der Angabe des Anstieges von „selten“<br />

hin zu „gelegentlich“ und erst zur Postmenopause<br />

hin wird das Problem bedeutsam. Nicht unterschätzt<br />

werden darf die Abnahme der Zufriedenheit mit dem<br />

Partner als Liebhaber während die Zufriedenheit mit<br />

dem Partner als Freund und Mensch erhalten bleibt.<br />

66% der Frauen erleben ihre subjektiv eingeschätzte<br />

Attraktivität unverändert und ca. 30% der Frauen ma -<br />

chen sich Sorgen wegen ihrer Attraktivität (von Sy -<br />

dow 2001).<br />

Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die<br />

Veränderung der sexuellen Aktivität abhängig ist vom<br />

Alter und von der Partnerschaft. Dabei spielt eine<br />

wesentliche Rolle, ob Frauen in einer Partnerschaft le -<br />

ben und zufrieden mit der Partnerschaft sind. Bei vorhandener<br />

sexueller Aktivität wird die sexuelle Zu -<br />

friedenheit wesentlich mitbestimmt durch die Zufrie -<br />

Tab. 3: Sexuelle Funktionsstörungen im Altersvergleich (von Sydow 2001)<br />

Tab. 4: Ergebnisse von Studien über den Einfluss der Menopause auf die<br />

Sexualität<br />

! Abnahme der koitalen Aktivität<br />

! Unveränderte Masturbationsaktivität<br />

! Widersprüchliche Befunde zum sexuellen Interesse (unverändert oder<br />

Abnahme?)<br />

! Etwas seltenere erotische Phantasien und Träume<br />

! Sexueller Genuss, Erregbarkeit und orgasmische Kapazität bleiben<br />

sexuell aktiven Frauen voll erhalten<br />

! Geringe Zunahme von Lubrikationsschwäche („selten“ bis „gelegentlich“)<br />

! Abnahme der Zufriedenheit mit dem Partner als Liebhaber<br />

! Zufriedenheit mit dem Partner als Mensch/Freund bleibt erhalten<br />

! 66 % der Frauen erleben ihre subjektiv eingeschätzte Attraktivität<br />

unverändert<br />

! ca. 30 % der Frauen machen sich Sorgen wegen ihrer Attraktivität


168 M. Neises<br />

denheit mit der eigenen Gesundheit, die wiederum re -<br />

le vant ist für die Zufriedenheit mit der Partnerschaft.<br />

Eine hohe Zufriedenheit sowohl mit ihrer Partner -<br />

schaft als auch mit ihrer Sexualität zeigen die Frauen,<br />

die die Fähigkeit haben, über ihre eigenen Bedürfnisse<br />

zu sprechen und dabei gleichzeitig auf die emotionalen<br />

Bedürfnisse anderer adäquat einzugehen (Klaiberg<br />

et al. 2001). Die Veränderung der sexuellen Rea gi bi -<br />

lität in der Menopause hat vielfältige Einflussfaktoren,<br />

die auch individuell geprägt sind. Dazu gehört die be -<br />

wusste Wahrnehmung von sexuellen Stimuli, ihre Ein -<br />

schätzung im Kontext der Situation und der emotionalen<br />

Antwort und schließlich die physiologisch-genitalen<br />

Veränderungen (Basson 2002).<br />

Konsequenzen für die psychosomatische<br />

Grundversorgung<br />

Die Erfahrung der Frau in der Menopause als Rei -<br />

fungskrise und Reifungschance verbunden mit Tren -<br />

nungs- und Verlusterfahrungen spiegelt sich in der<br />

Kom plexität der psychosomatischen Reaktions wei -<br />

sen. Für die klimakterische Frau sind Trennung und<br />

Abschied zentrale Themen. Dabei geht es um einen<br />

Abschied für immer. In diesem Thema liegt auch eine<br />

der wesentlichen Aufgaben der alternden Frau, die den<br />

Verlust eines Teils ihrer selbst als Geschlechtswesen<br />

akzeptieren muss mit der schrittweisen Korrektur ih -<br />

res Körperbildes und der Anpassung an das sich verändernde<br />

Körperbild. Der Verlust von öffentlicher At -<br />

trak tivität und Fruchtbarkeit ist eine starke narzisstische<br />

Kränkung, auf die Wut und Aggression wie auch<br />

Verunsicherung und Trauer angemessene Gefühle<br />

sind. Dabei sind für viele Frauen sowohl die intensive<br />

Trauer als auch Aggressivität und Wut für das bewusste<br />

Erleben nicht zu akzeptieren. Die häufigsten Ab -<br />

wehr mechanismen die einsetzen, um den Verlust nicht<br />

spüren zu müssen, sind Ungeschehenmachen und Ver -<br />

leug nung. Misslingt die notwendige Trauerarbeit,<br />

kann dies in eine depressive Reaktion führen. Weitere<br />

Formen der Anpassungsstörung können der Medika -<br />

menten- oder auch Alkoholabusus sein.<br />

Vielen Frauen gelingt die notwendige Trauerarbeit<br />

und die damit verbundene Notwendigkeit, Bilanz in<br />

ihrem bisherigen Leben zu ziehen und unter Umstän -<br />

den bisherige Beziehungen zu überdenken oder in Fra -<br />

ge zu stellen. Die Aufweichung bisheriger Abwehr -<br />

mechanismen birgt auch eine Chance zum Neubeginn<br />

und zur Bereicherung. Insbesondere wenn Ängste und<br />

Verluste nicht abgewehrt und verleugnet werden müssen,<br />

sondern angesehen und angegangen werden können,<br />

haben sie kein zerstörerisches sondern ein reifendes<br />

Potenzial. Das Abschiednehmen von wichtigen<br />

Selbst anteilen wie der Attraktivität und der Frucht -<br />

barkeit ist ein schmerzlicher Prozess, aber die Voraus -<br />

setzung für ein anderes befriedigendes Weiterleben im<br />

Alter. Je mehr Attraktivität und Fruchtbarkeit die aus -<br />

schließlichen Quellen des narzisstischen Gleichge -<br />

wichts waren, desto schwieriger wird der Abschied<br />

und desto größer die Bestrebungen, durch Festhalten<br />

und Verleugnen den Verlust zu umgehen (Fervers-<br />

Schor re 1999).<br />

Für die psychosomatische Grundversorgung heißt<br />

das, im Klimakterium zu einer ganzheitlichen Diagno -<br />

se im Sinne des biopsychosozialen Modells zu kommen,<br />

also die individuelle Situation zu erfassen. Dazu<br />

gehört, was das Älterwerden des Körpers und der Ver -<br />

lust der Fertilität für die jeweilige Frau bedeutet, der<br />

Umgang mit der Abnahme der Leistungsfähigkeit und<br />

der kompetitiven Möglichkeiten, welche Veränderun -<br />

gen in den familiären Beziehungen und in der Sexua -<br />

li tät von Bedeutung sind und schließlich die Aus -<br />

lösesituation der klimakterischen Beschwerden zu er -<br />

fas sen. Im nächsten Schritt geht es um die Hilfe stel -<br />

lung bei der Reifungskrise. Dazu gehört ein umfassen -<br />

des Informieren über die Veränderungen der körperlichen<br />

Funktionen, Information zu aktiven Bewälti -<br />

gungs schritten, wie zum Beispiel Selbsthilfegruppen,<br />

und offenes Ansprechen von Mythen und Tabus zum<br />

Al ter und zur Sexualität im Alter. Dieses Gespräch<br />

braucht als Basis eine tragfähige, vertrauensvolle Be -<br />

ziehung, in dem eine offene und patientinnenzentrierte<br />

Kommunikation möglich ist. Darüber hinaus sollte<br />

selbstverständlich eine somatisch notwendige Thera -<br />

pie abgeklärt werden. Dies umfasst das Informieren<br />

über die Möglichkeiten der HRT, insbesondere welche<br />

klimakterischen Beschwerden damit beeinflusst werden<br />

können, welche Nebenwirkungen zu erwarten und<br />

welche Risiken bekannt sind. Die Notwendigkeit des<br />

Einsatzes von Psychopharmaka sollte abgeklärt werden<br />

wie auch die Notwendigkeit einer Psychotherapie.<br />

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Adresse der Autorin<br />

Prof. Dr. Dr. med. Mechthild Neises, Medizinische Hochschule Hannover, Psychosomatische Frauenheilkunde, Pasteurallee 5, 30655 Hannover,<br />

mail: Neises.MHH@gmx.de


Orginalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in<br />

Deutschland. Analyse der HIV-Statistiken<br />

Reinhard Wille<br />

The first two Decades of the<br />

AIDS-Age in Germany. A Statisti -<br />

cal Analysis<br />

Abstract<br />

Following a brief historical summary, the politically desired<br />

limitations of compulsary disease notification as grounds<br />

for statistical evaluation are revealed. The six subgroups<br />

(Homo/Bisexuals, IVDU; Heterosexuals; inhabitants from<br />

high prevalence countries; pattern II; hämophiliacs/transfusion<br />

recipients and perinatally acquired HIV) exhibit<br />

extreme variations in their respective quantitative and prognostic<br />

trends. The ever increasing percentage of HIV<br />

positive heterosexuals (17%) and inhabitants from high<br />

prevalence countries (20%) are only seemingly disconcerting.<br />

However, they do tend to sustain the smouldering<br />

and effectively uncontrollable HIV epidemie. So far<br />

Germany has, nevertheless, fared relatively well compared<br />

to the apocalyptic disaster seen elsewhere, at this time<br />

particularly in Afrika and, likely, soon also in Asia.<br />

Keywords: AIDS-Age, HIV-AIDS-Statistics, 6 ways of in -<br />

fek tion, Extremely different trends<br />

Zusammenfassung<br />

Nach kurzem Abriss der Vorgeschichte werden die politisch<br />

gewollten Einschränkungen der „Labormeldepflicht“<br />

als Grundlage der statistischen Aussagemöglichkeiten<br />

aufgezeigt. Die sechs Untergruppen (Homo / Bi; IVDA;<br />

Hetero; HPL / Pattern II; Hämo / Trans und PPI) zeigen<br />

extreme Unterschiede in ihren quantitativen und prognostischen<br />

Trends. Die stetig ansteigenden Zahlen in den<br />

Rubriken Hetero (17 Prozent) und HPL (20 Prozent) erweisen<br />

sich jedoch als nur scheinbar beängstigend; sie unterhalten<br />

aber bei uns den effektiv nicht kontrollierbaren<br />

„HIV-Schwelbrand“. Dennoch ist Deutschland bisher relativ<br />

glimpflich davongekommen angesichts des apokalytischen<br />

Desasters anderswo, zurzeit besonders in Afrika<br />

und bald auch in Asien.<br />

Schüsselwörter: AIDS-Ära, HIV-AIDS-Statistiken, 6 Infek -<br />

tions wege, eminent differente Trends<br />

Der Umgang mit der HIV-AIDS-Herausforderung hält<br />

auch unserer Gesellschaft mit ihren tradierten Tabus<br />

samt den uns eigenen betrüblichen und tröstlichen<br />

(Un)Tugenden den Spiegel vor. Angst und Verdrän -<br />

gung führten anfangs zu Panik und Hysterie, die 10<br />

Jahre später ebenso unvermittelt in Desinteresse und<br />

Fatalismus umschlugen.<br />

Die rote AIDS-Schleife mahnt Solidarität und<br />

Sen sibilität für alle von der HIV-Pandemie Bedrohten<br />

und Betroffenen an, ein stilles Symbol für Besinnung<br />

und Rückbesinnung.<br />

Der Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember ruft zu einer<br />

offenen Bilanzierung über Erfolge und Defizite im<br />

Kampf gegen die bei uns „schleichende“ Bedrohung,<br />

die weltweit in einigen Regionen bereits apokalytische<br />

Ausmaße erreicht hat.<br />

Ausgangssituation vor 20 Jahren<br />

Wenn man die einschlägigen Statistiken unter die kritische<br />

Lupe nimmt, so stehen die Zahlen über HIV-<br />

Neuinfektionen unter dem Handikap, dass mit der<br />

Labormeldepflicht nicht HIV-Infizierte als Person<br />

erfasst werden, sondern anonymisierte positive Labor -<br />

befunde, die zwangsläufig trotz größter Anstren gun -<br />

gen unvollständig und auch wegen eventueller Dop -<br />

pel meldungen unzuverlässig sind.<br />

Als Anfang der 80er Jahre aus Kalifornien und<br />

New York die ersten AIDS-Fälle Experten und Öffentlichkeit<br />

alarmierten, dominierte passager die Be zeich -<br />

nung GRID (gay related immune deficiency syndrom),<br />

weil es sich ganz überwiegend um Homose -<br />

xuelle handelte, die an Kaposi-Sarkom und den opportunistischen<br />

Pneumonien erkrankten. Das Teenager-<br />

Idol Rock Hudson bekannte sich 1984 in einem spektakulärem<br />

Medienauftritt zu seiner bis dahin ver -<br />

schwie genen homophilen Neigung, die für Kenner der<br />

einschlägigen Hollywood-Szene offenes Party-Thema<br />

war.<br />

Zwar war der (vielfach als Schandparagraph apostrophierte)<br />

Paragraph 175 StGB ab 1973 nur auf<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 170 – 179 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 171<br />

Kon takte eines Volljährigen zu einem Minderjährigen<br />

(unter 18 Jahre) eingeengt, aber es bestand in weiten<br />

Kreisen nicht nur wegen des kirchlichen Verdiktes aus<br />

Rom („contra naturam“) immer noch eine stark ab -<br />

wer tende Einstellung. Wegen dieser diskriminierenden<br />

Atmosphäre konnte der gleichgeschlechtlich orientierten<br />

Minderheit Offenheit und vorbehaltlose seuchenpräventive<br />

Kooperation kaum zugemutet werden.<br />

Als Erster hat Montagnier den tückischen Retro- und<br />

Lentivirus sichtbar und züchtbar gemacht, so dass in<br />

Frankreich und auch in den USA (Gallo) der Suchtest<br />

Elisa und der Western-Blot-Bestätigungstest entwik -<br />

kelt wurden. Eingesetzt in größerem Umfange wurden<br />

diese bis heute gebräuchlichsten HIV-Diagnostika<br />

aber bei der viel leichter zugänglichen und für den In -<br />

fektionsweg über Transfusionen entscheidenden<br />

Grup pe der Blutspender, die mit dem infizierten Blut<br />

auf Hämophile und andere Empfänger die tödlichen<br />

HIV-Viren übertrugen. Bei den Homophilen dagegen<br />

bestanden starke generelle Widerstände gegen den<br />

AIDS-Test, die wegen des seuchenpolizeilichen<br />

Zwangs-outens durchaus einfühlbar waren, aber ge -<br />

gen arztethische und arztrechtliche Tradition auch auf<br />

die klinische Diagnostik ausgedehnt wurden. Aus nah -<br />

me war Bayern, weil sich dort anders als in allen anderen<br />

alten Bundesländern das Modell der amtlichen<br />

Überwachung (Gauweiler), sonst überall dagegen das<br />

Süßmuth-Modell des freiwilligen Selbst schut zes<br />

durch setzte. Da die damalige Gesundheits minis terin<br />

lediglich Wege aus der Angst aufzeigen wollte, begnügte<br />

man sich mit der anonymen Labor melde pflicht.<br />

Der AIDS-Experte der DDR Sönnichsen (Cha rité)<br />

demonstrierte 1987 auf einer Europakarte, dass vom<br />

Ural bis zum Atlantik mit Ausnahme der BRD, Bel -<br />

gien und Holland sowie England und Portugal überall<br />

eine namentliche Meldepflicht eingeführt war.<br />

Statistik<br />

Schon ab 1985 veröffentlichte das BGA/RKI die mit<br />

großem methodischem Aufwand ständig verbesserten<br />

Zahlen in übersichtlich gestalteten HIV- und AIDS-<br />

Sta tistiken. Trotz weiter bestehender Unsicherheiten<br />

kann man in Deutschland für den Zeitraum von 1984<br />

bis 2002<br />

! von 60.000, unter Einbeziehung eines geschätzten<br />

Dunkelfeldes<br />

! von 70.000 HIV-Infektionen / Test-Positiven, ferner<br />

! von 24.000 AIDS-Erkrankten,<br />

! von denen 20.0000 verstorben sind, ausgehen.<br />

Bei einer Einwohnerzahl von gut 80 Mio. ergibt<br />

sich daraus als grober Anhaltspunkt ein Wert von unter<br />

1 Promille, d.h., von 1000 Menschen in der Bundes re -<br />

publik hatte in den vergangenen 20 Jahren e i n e r<br />

einen pathogenen Kontakt mit dem HIV-Virus. Diese<br />

zum Teil geschätzten und deshalb auch hier abgerundeten<br />

Eckdaten liegen deutlich unter den meisten<br />

Hoch rechnungen des ersten (hysterischen) AIDS-<br />

Jahrzehnts.<br />

Selbst wenn sich dieser statistische Rückblick<br />

unter sexualwissenschaftlichen Präventionsaspekt auf<br />

die HIV-Neuinfektionen beschränkt (und die AIDS-<br />

Zahlen vorerst vernachlässigt, obwohl sich wegen der<br />

ohnehin schon langen und durch die Kom bina tions -<br />

therapie noch weiter verlängerten Manifestationszeit<br />

beachtliche, aber aus Unkenntnis nicht immer beachtete<br />

Differenzen ergeben, s.u. Anmerkungen zum<br />

Schles wig-Holsteinischen Ärzteblatt 11/2002), so<br />

kann auch dann nur eine holzschnittartige Grob zeich -<br />

nung die nach Situation und Prognose extremen Diffe -<br />

renzen der in den Statistiken erfassten Unter gruppen<br />

wie dergeben. Alle positiven oder negativen Ver än -<br />

derungen relativieren sich erheblich, wenn man die<br />

fehlenden Angaben (k.A.) mitdenkt, die sich aber er -<br />

freulicherweise allein von 1993 bis 2001 in den statistischen<br />

(Halb-)Jahresberichten des RKI von über 40<br />

auf unter 20 Prozent mehr als halbierten. Ferner sind<br />

auch gesetzliche Vorgaben (zuletzt das Infektions -<br />

schutzgesetz IfSG) und neue Erfassungsmodalitäten<br />

zu beachten (vgl. Abb. 1 und 2).<br />

Die sechs Untergruppen nach den<br />

Infektionswegen<br />

I. Homo-/Bi (MSM = Männer Sex mit Männern)<br />

II. Hetero<br />

III. Spritz-Drogenabhängige (IVDA)<br />

IV. Patienten aus Hochprävalenzländern (HPL, Pattern<br />

II)<br />

V. Hämo/Trans (Hämophile / Empfänger von Blut -<br />

transfusionen)<br />

VI. PPI (prä- oder perinatale vertikale Transmission)<br />

zeigen je nach sexuellen Usancen sowie Alter und<br />

Geschlecht höchst unterschiedliche Trends, weil sich<br />

! Fortschritte in Diagnostik und besonders in der<br />

! Therapie<br />

! Änderungen im Risikoverhalten (u.a. Safer-Sex,<br />

! Partnerfrequenz und Poppers)<br />

! Gruppenspezifische Interessenslage durch Partyund<br />

Designer-Drogen, Substitution<br />

! Akzeleration (Vorverlegung der Menarche, damit<br />

auch der früher einsetzenden sozio-sexuellen<br />

! Adoleszenz, Ablösung vom Elternhaus und mitunter<br />

auch Drogenerfahrungen) unterschiedlich<br />

auswirken.


172 R. Wille<br />

Abb 1: AIDS in der Bundesrepublik Deutschland, An zahl der berichteten AIDS-Fälle nach Halbjahr der Diagnose mit Anteil der als verstorben berichteten<br />

Fälle sowie auf der Basis des bisher beobachteten Meldeverzuges noch zu erwartende Berichte nach Halbjahr der Diagnose, Stand 30.06.2002, aus: RKI,<br />

Epidemologisches Bulletin, 09.08.2002, Sonderausgabe B<br />

Abb 2: HIV in der Bundesrepublik Deutschland, HIV-Erstdiagnosen ab 1993 nach Diagnosejahr und Infektionsrisiko, Stand: 30.06.2002, aus: RKI,<br />

Epidemologisches Bulletin, 09.08.2002, Sonderausgabe B<br />

Da Lebenswirklichkeiten langfristig auch auf Stan -<br />

dards und Normen abfärben, sollen auch die jeweiligen<br />

sozialrechtlichen Begleitargumente auf ihre<br />

Aktualität hinterfragt werden.<br />

Mit diesem Rund- und Rückblick können über die<br />

Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands hinaus<br />

auch innereuropäische Nachbarn (z.B. hohe Inziden -<br />

zen in den Mittelmeer-Anrainern) verglichen werden,<br />

um schließlich weltweit das staatsbedrohliche Desas -<br />

ter (u.a. in Teilen des mittleren und südlichen Afrikas)<br />

einzubeziehen und dann erst argumentativ abgesicherte<br />

Wertungen abzugeben wie: dort offener zivilisationsgefährdender<br />

Flächenbrand, hier unterschwellig<br />

sich weiterfressender Schwelbrand.


Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 173<br />

Trends der letzten Jahre<br />

Der wichtigste medizinisch-virologische Fortschritt<br />

liegt in der Entwicklung einer wirksamen antiviralen<br />

Therapie (ART), die speziell in differenzierender<br />

Kom bination (HART) das Fortschreiten der Krank -<br />

heitsstadien um Jahre zurückhalten kann und auch die<br />

Infektiosität herabsetzt.<br />

Die so gewonnene Zeitspanne mit erfreulich verbesserter<br />

Lebensqualität erweist sich auch epidemiologisch<br />

als mindergefährlich bei Pannen oder Nach -<br />

lässigkeiten im Safer-Sex-Verhalten.<br />

Damit verliert das frühere Argument an Gewicht,<br />

bei einer unheilbaren Krankheit – insoweit vergleichbar<br />

mit der erst spät auftretenden und dann qualvoll<br />

zum Tode führenden Chorea Huntington – sei bei Ab -<br />

wägung der individuellen Vor- und Nachteile das Ab -<br />

tauchen ins Nicht-Wissen-Wollen vorzuziehen. Das<br />

zeit liche Hinausschieben der AIDS-Morbidität und -<br />

mortalität durch die effektive HART setzt aber die<br />

Diagnose und damit den HIV-Test voraus. Dieser verliert<br />

für lebensbejahende Infizierte den Symbol cha -<br />

rakter für Zwangs-outen und rechtliche Schlech ter -<br />

stellung, sondern öffnet jetzt eine positive Perspektive<br />

aus dem Dunkel fatalistischen Verharrens. Damit wird<br />

die seinerzeit sogar mit einem Boykottaufruf gegen<br />

die vermeintliche Homosexuellenaushorchung ve r -<br />

bun dene Warnung des Sexualpublizisten Günter<br />

Amendt (1987), dass jede Mitarbeit an sozialwissenschaftlichen<br />

Studien der homosexuellen Minderheit<br />

scha de, vollends fragwürdig. Amendt richtete seine<br />

Polemik speziell gegen M. Dannecker (1990), der ge -<br />

gen diese Widerstände seine spontan geplante und<br />

dann vom Bonner Ministerium finanzierte Studie<br />

publizierte. Die Deutsche AIDS-Hilfe nahm ein BGH-<br />

Urteil gegen einen Zivilangestellten der US-Armee<br />

zum Anlass für ihren im November 1988 ergangenen<br />

Be schluss: Aufgrund des BGH-Urteils wird die Deut -<br />

sche AIDS-Hilfe in Zukunft aus politischen Gründen<br />

vom HIV-Anti-Test abraten. Diese damals etablierte<br />

Ab lehnung und arztrechtliche Kriminalisierung eines<br />

diagnostisch begründeten HIV-Testes passt bei konsequentem<br />

Überdenken heute nicht mehr in unsere Zeit.<br />

Zudem bahnt sich bei bestimmten (z.B. familienrechtlichen)<br />

Konstellationen mit wenigen Beteiligten die<br />

Mög lichkeit an, in Weiterentwicklung eines seit 1992<br />

bekannten Sequenzierungsverfahren über das Virus-<br />

Genom eine individuelle Zuschreibung des Virus-<br />

Transmitters zu erreichen. Noch ist nicht abzusehen,<br />

ob dieser bei einem Zahnarzt in Florida vor 10 Jahren<br />

bereits angewendete indirekte genetische Fingerprint<br />

forensisch im deutschen Zivil- oder gar im Strafrecht<br />

anerkannt wird.<br />

Die spezifischen Probleme und Trends der sechs<br />

statistischen Untergruppen divergieren stark:<br />

Homo- und bisexuelle Männer<br />

Da zu Beginn der AIDS-Ära fast ausschließlich junge<br />

und bis dato gesunde Homosexuelle (Bisexuelle wurden<br />

erst anschließend statistisch subsumiert und damit<br />

auch der interessierten Öffentlichkeit bekannter) an<br />

AIDS erkrankten, bestimmte die damalige Situation<br />

der homosexuellen Subszene, die – im Wortsinne -<br />

notwendigen Schritte der Gesundheitspolitik. Tradi -<br />

tionell begründetes Misstrauen gegen eine zwar nur<br />

noch latente, aber dennoch spürbare „Rosa-Winkel“-<br />

Mentalität, besonders in der älteren Generation, stand<br />

um 1984/85 bei der sozialpolitischen Weichenstellung<br />

einer vorbehaltlosen Offenheit der Hauptbetroffenen -<br />

gruppe entgegen. Die Gesundheitsministerin Rita<br />

Süß muth, beraten durch Siegfried Dunde, entschied<br />

sich gegen namentliche Meldepflicht, woraus sich<br />

auch die Duldung der kollektiv-psychologischen Vor -<br />

behalte bis hin zur Kriminalisierung gegenüber dem<br />

HIV-Test ergab, mit dem allein die Diagnose gesichert<br />

werden konnte. Obwohl wie die meisten osteuropäischen<br />

Länder, so auch die DDR zeigte, dass sich -<br />

erleichtert durch dort nur wenige Fälle - eine klinische<br />

Fahndung nach den Infektionsketten durchaus mit<br />

ärztlich-psychologischer Diskretion durchführen lässt,<br />

nahm das bundesdeutsche Modell des freiwilligen<br />

Selbstschutzes samt Selbststeuerung durch gleichartig<br />

Orientierte die immanenten Nachteile der (bestenfalls)<br />

verzögert eintretenden und obendrein keineswegs<br />

sicher effizienten Bekämpfung einer todbringenden<br />

Seuche in Kauf. Konsequent nennt Rita Süßmuth<br />

(1987) ihre Broschüre nicht „Wege aus der Gefahr“,<br />

sondern „Wege aus der Angst“; ihre sozialpolitisch<br />

neu artige Konzeption bekennt sich zu einem Vorrang<br />

des Sozialrechtes und der Gesellschaftspolitik unter<br />

Hintanstellung der Medizin und des Strafrechtes. Mit<br />

diesem Modell inklusive finanzieller Unterstützung<br />

der szene-internen Selbsthilfegruppen gelingt ihr die<br />

Einbeziehung der Hauptbetroffenen und zugleich auch<br />

die sozialethische Integration der homosexuellen<br />

Minderheit. Bei der partei-intern bekannten Eigenwil -<br />

ligkeit der CDU-Politikerin scheint es nicht ganz un -<br />

plausibel, dass sie das erwartbare Murren der auf seuchenhygienische<br />

Effizienz eingeschworenen Medizi -<br />

ner einkalkuliert haben könnte.<br />

Es gibt kein Kollektiv außer den Homo-/Bise xu -<br />

ellen, das so unmittelbar, so leidvoll, so häufig, also<br />

ex trem einprägsam nahe Freunde oder Intimpartner<br />

ver loren hat. Deren anfangs mehr latenten Ängste,<br />

dann die lang hingezogenen und extrem wechselhaften<br />

Krankheitsverläufe, nicht selten frustrierende


174 R. Wille<br />

Kon flikte mit der Familie und das unerbittliche, häufig<br />

elende Sterben stellen tief einprägsame psychische<br />

Engramme und tragische Lebensereignisse dar.<br />

Dennoch herrscht bei der homosexuellen Subpo -<br />

pu lation immer noch deutlich höhere Partnermobilität<br />

und relativ große Untreuetoleranz vor. Der Kondom -<br />

gebrauch ist nahezu aus dem Stand in wenigen Jahren<br />

auf 70 Prozent und segmental sogar mehr angestiegen.<br />

Aber kein kritischer Beobachter der MSM-Szene be -<br />

hauptet, dass auf der interpersonalen Verhaltensebene<br />

die aids-präventiv wünschenswerte Obergrenze er -<br />

reicht ist oder sogar erreichbar sein kann.<br />

Es gibt weiterhin positive Relativveränderungen,<br />

etwa bei Anwendung der Poppers (Amylnitrate) und<br />

beim Besuch der dark-rooms und Saunen.<br />

Auch wenn Martin Dannecker, der 1974 eine sehr<br />

hohe Promiskuität seines damaligen, aus Szenetreff -<br />

punkten rekrutierten Untersuchungskollektives (17%<br />

mit jährlich 150 und mehr Intimpartnern / Median<br />

14,3) präsentierte, in seinem repräsentativen Report<br />

1990 eine deutliche Verminderung fand (Median jetzt<br />

5,5), so sollte bei diesen Angaben eine auch bei hete -<br />

ro sexuellen Männern weit verbreitete subjektive Dis -<br />

krepanz zwischen dem idealen (tendenziell monogamen)<br />

und tatsächlichem (freizügigem) Verhalten be -<br />

rücksichtigt werden.<br />

Es fehlen für die Homo- und Bisexuellen konkrete<br />

An gaben über das verbleibende HIV-Sockelrisiko,<br />

das immerhin offensichtlich so hoch ist, um die jährlich<br />

etwa 700 HIV-Neuinfektionen in der MSM-<br />

Rubrik des RKI zu erklären.<br />

Zieht man sich aus dem Internet die Interviews von<br />

Michael Lenz über „Beziehungsweise Partner schaf -<br />

ten“ heraus (herausgegeben von der Deutschen AIDS-<br />

Hilfe), so findet man sicherlich zutreffende Überschriften<br />

wie: Menschen sind nicht monogam; Sex mit<br />

anderen hat etwas Aufregendes; u.ä.m., aber keine<br />

(aids-präventiv wünschenswerten) Anmahnungen von<br />

anzustrebender Partnertreue und striktem Safer-Sex.<br />

Nach den repräsentativen Erhebungen in USA und<br />

Großbritannien (Johnson et al.; Laumann et al, 1994)<br />

kann man von etwa 5 Prozent Homosexuellen ausgehen.<br />

In Deutschland leben etwa 20 Millionen Männer<br />

im sexuell aktivsten Alter von 15 bis 64 Jahren. Die<br />

daraus sich ergebende Ausgangszahl von 1 Million<br />

sollte man um die tatsächlich partnerschaftlich Ge -<br />

bundenen und um die sexuell Inaktiven reduzieren,<br />

de ren Anzahl grob geschätzt auf 250.000 angesetzt<br />

werden kann. Die dann verbleibenden 750.000 nicht<br />

monogamer Homosexueller infizieren – im Gruppen -<br />

durch schnitt natürlich – jährlich ca. 700 = knapp 1<br />

Promille ihrer Intimpartner mit der zum Tode führenden<br />

Krankheit.<br />

Von dem Frankfurter Soziologen Hondrich (1988)<br />

stammt der Satz: „Biologistisch gesprochen wird eine<br />

Subpopulation durch ihre eigene Politik stärker dezimiert<br />

als durch die von der Gegenseite favorisierte Po -<br />

litik“. Auch wenn man Dezimierung nicht wortwörtlich<br />

sondern metaphorisch als Minderung liest, so<br />

bleiben die mindestens 15.000 in zwei Jahrzehnten<br />

bereits an AIDS verstorbenen Homophilen ein unwiederbringlicher<br />

Verlust und die jährlich 700 Neuan -<br />

steckungen weiterhin eine Herausforderung, über die<br />

zwecks Verbesserung des status quo offen und öffentlich<br />

nachzudenken, erlaubt sein muss.<br />

Hämo/Trans<br />

Vor einem völlig anderen Problemhintergrund und in<br />

ganz anderen Dimensionen hat auch die „Blut-AIDS-<br />

Katastrophe“ in Deutschland weitreichende Folgen<br />

gezeitigt und wesentliche Reformen des Blut spen -<br />

dewesens, beim Bundesgesundheitsamt und im Arzt -<br />

recht bewirkt.<br />

Weil einfühlbare Entschädigungsinteressen der<br />

Hämo/Trans-Opfer mit den kommerziellen Interessen<br />

der Gegenseite, nämlich den Versicherern der Her -<br />

steller von Blut- und Plasmapräparaten sowie auch der<br />

Blutspendeeinrichtungen frontal kollidierten, weil<br />

weiterhin das Arzneimittelgesetz (AMG) einen juristischen<br />

Rahmen mit politischen Verant wortlichkeiten<br />

absteckte, hat sich der Deutsche Bundestag mit einem<br />

1993 eingesetzten Untersu chungs ausschuss über:<br />

„AIDS, Gesundheits gefährdung durch Blut und Blut -<br />

übertragung sowie zur haftungsrechtlichen Seite und<br />

ggf. finanziellem Aus gleich“ beschäftigt.<br />

1994 legte der Ausschuss den von Scheu (CDU)<br />

juristisch kristallklar aufgebauten und äußerst pointiert<br />

formulierten Abschlussbericht von 271 Seiten<br />

und einem Anhang von weiteren 400 Seiten vor (BTD<br />

12/8591). Dort werden die nosologischen und epidemiologischen<br />

Fakten kenntnisreich aufgeführt und mit<br />

ganz unverhohlenem Kopfschütteln zwischen den<br />

Zeilen Versäumnisse und Verschulden höchster Funk -<br />

tionäre in Berlin (BGA) und Genf (WHO) mit persönlichen<br />

Konsequenzen verdeutlicht. Es wackelten nicht<br />

nur Präsidentenstühle wegen retrospektiv kaum glaublicher<br />

Problem-Ausblendungen als Symptom von In -<br />

kompetenz und Verdrängung, sondern es wurde auch<br />

Übermut der Ämter und autoritäres Redeverbot für<br />

ProfessorInnen aufgespießt. Beklemmend sind die ge -<br />

nerellen Absagen der angefragten GutachterInnen und<br />

umgekehrt deren Ablehnungen wegen Befangenheit<br />

durch die Prozessgegner, weil fast alle fachlich prominenten<br />

Wissenschaftler beruflich mit den Pharma -<br />

firmen, Forschungsinstituten und Blutspendeein rich -<br />

tungen eng verbandelt waren, so dass es zu keinem Zi -


Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 175<br />

vil- oder Strafurteil kam. Das böse Wort vom Krähen-<br />

Komment machte die Runde; der BGH äußerte sich<br />

am 17. Dezember 1991 zur ärztlichen Aufklärungs -<br />

pflicht mit dem Leitsatz:<br />

Patienten sind immer dann über das Risiko einer<br />

Infektion mit Hepatitis und AIDS bei der Transfusion<br />

von Fremdblut aufzuklären, wenn es für den Arzt<br />

ernst haft in Betracht kommt, dass bei ihnen intraoder<br />

postoperativ eine Bluttransfusion erforderlich<br />

wer den kann. Darüber hinaus sind solche Patienten<br />

auf den Weg der Eigenblutspende als Alternative zur<br />

Transfusion von fremden Spenderblut hinzuweisen,<br />

soweit für sie diese Möglichkeit besteht, nachdem<br />

schon ab 1988 in anderen höchstrichterlichen Urteilen<br />

neue verbindliche Entwicklungslinien zu einem verschärften<br />

Arzthaftungsrecht aufgezeigt wurden.<br />

Auch unter den virologischen und transfusionsmedizinischen<br />

Experten bilden Unwissen und Dissens<br />

den Hintergrund, dass die Notwendigkeit eines HIV-<br />

Tests, die arztrechtliche Konsequenz eines positiven<br />

Test ergebnisses, die Mitteilungspflicht an den Patien -<br />

ten und Beratung über das nunmehr gebotene Safer-<br />

Sex-Verhalten nicht erkannt, sondern verharmlost, ja<br />

in einem Falle sogar belehrend ridiculisiert wurde,<br />

und zwar peinlicherweise mit dem immunologisch<br />

genau umgekehrten Indizwert der Antikörper bei<br />

Mumps und HIV/AIDS. Von der Opferseite wurde im<br />

Prozessverlauf vorgebracht, dass nicht ein einziger<br />

Patient nach einem positiven Test über die Einbe zie -<br />

hung und Kooperation der Ehefrau / Intimpartnerin<br />

zwecks gemeinschaftlicher Risikominderung aufgeklärt<br />

wurde. Wer damals an den einschlägigen interdisziplinären<br />

Treffen teilgenommen hat, musste häufig<br />

feststellen, wie etwa das Interesse für den Zeit -<br />

punkt der Serokonversion oder die Ursachen der er -<br />

freulich niedrigen Infektionsquote von unter 10 Pro -<br />

zent bei längerem (weil ahnungslos) ungeschützten<br />

Sexualverkehr von sero-differenten Partnern weit<br />

mehr interessierten als eine patientenorientierte ärztliche<br />

Empathie. Das fachspezifisch sexualmedizinische<br />

Ansprechen des „Paares als Patient“ stieß bei den meisten<br />

Vertretern der medizinischen Blut- und Transfu -<br />

sionsexperten auf Unverständnis, mitunter sogar auf<br />

un verhohlene Ablehnung. Diese Turbulenzen wurden<br />

von den dramatischen deutschlandpolitischen Ereig -<br />

nissen am Ende der 12. Legislaturperiode übertönt<br />

und blieben selbst für Experten (Autor war seinerzeit<br />

AIDS-Beauftragter in Schleswig-Holstein) intransparent.<br />

Nach längerem Tauziehen kam es schließlich zu<br />

einem Vergleich, in dem von insgesamt über 2.300<br />

Hä mo/Trans-Fällen gut 1300 mit durchschnittlich<br />

65.000 DM (die Opferseite sprach von „Almosen“ für<br />

Moribunde) auf der Grundlage des AMG abgefunden<br />

wurden. Das AMG wurde mehrfach nachgebessert,<br />

die Managementfehler führten zur Aufteilung des bis<br />

dahin eigenständigen Bundesgesundheitsamtes<br />

(BGA) in Teilinstitute, u.a. Robert-Koch-Institut<br />

(RKI) und Paul-Ehrlich-Institut (PEI), die dem Bun -<br />

desgesundheitsministerium unterstellt sind; die<br />

Sicher heit des Blutspenderwesens wurde erheblich<br />

ver bessert, so dass seit 1995 nur noch ein bis zwei<br />

Fälle HIV-Neuinfektionen unter der Rubrik Hämo/<br />

Trans auftauchen. Diese Zahl entspricht etwa dem seit<br />

langem bekanntem Restrisiko von 1 auf 6 Millionen<br />

Bluttransfusionen.<br />

Intravenös injizierende Drogenabhängige<br />

(IVDA)<br />

Geht man bei den weit auseinander liegenden Schät -<br />

zungen über die Größe dieser statistischen Unter -<br />

gruppe von einem vielleicht realistischen Mittelwert<br />

aus, so sollen zur Zeit etwa 100.000 Männer und<br />

50.000 Frauen in Deutschland als IVDA „an der Nadel<br />

hängen.“ In den HIV-Statistiken hat sich ihr Anteil seit<br />

Jahren bei etwa 12, neuerdings 10 Prozent (N= ca.<br />

200) stabilisiert.<br />

Tatsächlich scheinen aber dafür mehrere, weitgehend<br />

gegenläufige Trends in der Drogenszene verantwortlich<br />

zu sein, die sich in den Zahlen des RKI offenbar<br />

neutralisieren.<br />

Zum einen nimmt der Konsum von Drogen generell<br />

zu, auch weil das Alter der Drogenprobierer seit<br />

Jahren deutlich sinkt, offenbar eine Auswirkung der<br />

Ak zeleration, der ätiologisch umstrittenen und auch<br />

nicht immer linear verlaufenden Vorverlegung der<br />

körperlichen Pubertät mit komplementärer Verlänge -<br />

rung der sozialen Adoleszenz. Wenn das durchschnittliche<br />

Menarche-Alter heute bei 13,46 Jahren (Engel -<br />

hard, in Beier et al., 2000) liegt, dann beginnt das<br />

Interesse für Partnerschaft schon vorher und führt auf<br />

dem Wege der Verselbständigung zur inneren Ablö -<br />

sung vom Elternhaus bei erhaltener und wegen der<br />

neuen Erlebnisbereiche sogar verstärkten finanziellen<br />

Abhängigkeit. Das erwachende Interesse am anderen<br />

Geschlecht bleibt heute kein „Geplänkel mit dem<br />

Thema Liebe“, sondern geht oft bereits in einem Alter<br />

weit unter 14 Jahren in erste Disco-Begegnungen und<br />

bald darauf in körperliche Kontakte und schließlich in<br />

Sexualverkehr über. Ist der Partner strafmündig, fallen<br />

die se frühen Erfahrungen „unter den Staatsanwalt“.<br />

Immer häufiger werden Kindergynäkologen von 11-<br />

bis 14-Jährigen wegen Kontrazeption und/oder<br />

Schwan gerschaft konsultiert. Mütter werden zwar<br />

noch um kontrazeptiven Rat und erotische Orien tie -<br />

rung gefragt, aber selbst bei wahrgenommenen Fi -<br />

nanz- und Fürsorgepflichten können sie drohende


176 R. Wille<br />

Fehl entwicklungen ihrer Kinder nicht mehr erkennen<br />

und dürfen auch elternrechtlich nicht mehr effektiv<br />

ge gensteuern. In der neuen verhaltensformenden Peergroup<br />

kreisen zwecks Aufputschung für das modische<br />

Dauertanzen ständig neu zusammengebackene Desig -<br />

ner-Drogen mit meist unterschätztem Suchtpotential.<br />

Wird die Wirksubstanz etwa von Ecstasy apothekenrechtlich<br />

indiziert, so stehen überall Küchenlabors be -<br />

reit, um pharmakologisch leicht abgeänderte neue<br />

Dro gen auf den Teenager-Markt zu werfen, die in<br />

erster Linie die Rechtsbestimmungen umgehen und<br />

erst sekundär neue Suchtparadiese schaffen sollen<br />

(Thomasius, 2000).<br />

Dieser artifiziellen Atmosphäre mit suggestiver<br />

Griffnähe zur gerade aktuellen Scenen-Droge sind la -<br />

bile Kinder und Jugendliche in der peripubertären<br />

Um bruchphase nicht gewachsen, so dass schon früh<br />

und zunehmend deletäre Drogenkarrieren in Gang<br />

kommen.<br />

Spätestens beim Übergang zu Spritzdrogen steigt<br />

die Gefahr des rituell gemeinsamen Nadelgebrauches.<br />

Der übermäßige Geldbedarf (ca. 4.000 Euro im Mo -<br />

nat) bahnt bei einigen jungen Frauen den Einstieg in<br />

die Beschaffungsprostitution. Um die dortige Banali -<br />

sie rung der mitmenschlichen Bezüge und die soziale<br />

Verelendung zu stoppen, sind flächendeckend meist<br />

niederschwellige staatliche Substitutionsprogramme<br />

etab liert. Drogenambulanzen berichten von einem<br />

frap panten Rückgang des vorher florierenden Nadel -<br />

um tausches (in einer Kieler Ambulanz in kurzer Zeit<br />

nach Einführung der Substitution von über 250.000<br />

auf unter 120.000 Kanülen; mündliche Mitteilung).<br />

Von den 50.000 Fixerinnen gehen 25-30 Prozent trotz<br />

fester – allerdings nicht selten asexueller – Freund -<br />

schaften bei Bedarf auf den Beschaffungsstrich, auf<br />

dem die Freier die Preise drücken und für „ohne Gum -<br />

mi“ mehr zahlen, ohne ihre Gefährdung durch eine<br />

HIV-Infektion zu realisieren. Die Beschaffungsprosti -<br />

tuierten grenzen sich in ihrer Identität von den professionellen<br />

Prostituierten ab, die allerdings auf ihre Ge -<br />

sundheit weit mehr achten und weitestgehend nicht<br />

HIV-infiziert sind, während bei den IVDA-Prosti tu -<br />

ierten und besonders bei den „Immigrantinnen“ die<br />

HIV-Quote zwischen 10 bis 25 Prozent liegen soll.<br />

Die Welt der Drogen ist schon extrem artifiziell,<br />

die neuen Designer-Glückspillen umgehen die un -<br />

glaub würdig gewordenen Ordnungen eines Staates,<br />

der sich z.B. bei der Berliner Love-Parade als Mittäter<br />

der ungeniert auftretenden Drogendealer aufführt und<br />

der seine einkalkulierten Steuermehreinnahmen wiederum<br />

in die Substitutionsprogramme einbringt, um<br />

da mit den Kreislauf der künstlichen Welten zu schlie -<br />

ßen. Bundesweit werden etwa 60.000 Fixer substituiert,<br />

davon 20.000 Frauen.<br />

In einer eigenen Studie an Codein-substituierten<br />

Patienten des Kieler Arztes Dr. Gorm Grimm gab der<br />

deutliche AIDS-präventive Effekt den Ausschlag,<br />

trotz allergrößter ärztlicher Bedenken eine gedämpfte<br />

Befürwortung der Substitution auszusprechen (Wille<br />

et al. 1991).<br />

Prä-/perinatale Infektion (PPI)<br />

Für die sogenannte vertikale Mutter-Kind-Trans -<br />

mission genügt ein erfreulich kurzes Erfolgskapitel:<br />

Gemeldet wurden noch zwischen 1993 und 2001<br />

insgesamt etwa 320 durch ihre HIV-positiven Mütter<br />

infizierten Kinder. Diese anfangs noch etwa 2 Prozent<br />

verdünnen sich ab 1987 auf 1-2 Fälle jährlich, so dass<br />

die beiden Infektionsquellen PPI und die Hämo/Trans<br />

irgendwann ganz aus den HIV-Statistiken eliminiert<br />

werden können.<br />

Für den Rückgang kann ein stark verbessertes ge -<br />

burtsmedizinisches Management mit rechtzeitiger<br />

Sec tio und auf Tage bis maximal Wochen beschränkte<br />

pe rinatale antivirale Medikation verantwortlich ge -<br />

macht werden. Wichtiges Dosierungskriterium ist die<br />

mütterliche Viruslast; die beim Säugling zu 100 Pro -<br />

zent postnatal nachweisbaren mütterlichen Antikörper<br />

besagen noch nicht, ob auch eine kindliche Infektion<br />

statt gehabt hat. Lange Zeit galten ein Jahr postpartal<br />

60 Prozent der Kinder als infiziert, angesichts der<br />

stark geminderten prognostischen Aussichten quoad<br />

vitam vielleicht zu hoch angesetzt. Schon um 1990<br />

sprach man von 30 Prozent bleibend HIV-infizierter<br />

Kleinkinder; mit systematischer Anwendung der Sec -<br />

tio und antiviralen Medikamente sank dieser anfangs<br />

sogar eine medizinische Abruptio-Indikation begründende<br />

Anteil auf wenige Prozent, so dass heute ge -<br />

wünschte Schwangerschaften medizinisch entsprechend<br />

abgesichert mit recht guter Gesundheitser war -<br />

tung ausgetragen werden könnten.<br />

Kontrovers diskutiert wurde in den vergangen Jahren<br />

die Frage, ob angesichts des absehbaren AIDS-Todes<br />

der Mutter deren Wunsch nach einem Kind unterstützt<br />

werden oder man unter Umständen sogar durch medizinisch<br />

mögliche Maßnahmen zu der Existenz eines<br />

Kindes beitragen sollte, das als Halbwaise ungünstigenfalls<br />

auch ohne Vater oder familiäre Einbettung<br />

einen äußerst belasteten Lebensweg beginnen müsste.<br />

Vielleicht lässt sich das in dieser Frage sehr emotionale<br />

Engagement einiger Beraterinnen als Reaktion auf<br />

eine unverhohlen androzentrische Ablehnung dieser<br />

aus männlicher Sicht dubiosen Mutterwünsche verstehen.


Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 177<br />

Hetero und HPL (Pattern II)<br />

Rein begrifflich weisen diese beiden verbliebenen Un -<br />

ter gruppen in den HIV-Statistiken keine Gemein sam -<br />

keit auf. Weil aber ihre spezifische Problematik nur<br />

mit sexualwissenschaftlichen Kenntnissen erfasst<br />

wer den kann, sollen sie in einem Kapitel abgehandelt<br />

werden. Denn in den beiden Rubriken Hetero und<br />

HPL finden sich Virusübertragungen durch (überwiegend)<br />

heterosexuelle Kontakte mit Partnern, die in den<br />

AIDS-endemischen Ländern selbst Virusträger wurden<br />

oder mit Partnern intim verkehrten, die etwa als<br />

Bisexuelle Risikokontakte hatten. Beide Gruppen zeigen<br />

langsam aber stetig ansteigende Größen ord nun -<br />

gen (HPL 20%, Hetero 17%) bei den ca. 2.000 HIV-<br />

Neuinfektionen, aber ähnlich auch tendenziell im<br />

AIDS-Fallregister (dort jährlich zurzeit rund 500 Fäl -<br />

le, s.o. Schaubild). Aus dem Geschlechterver hältnis –<br />

in beiden Rubriken sind mehr Frauen als Männer aufgeführt<br />

– ist der Schluss erlaubt, dass typischerweise<br />

Intimkontakte zwischen Frauen und Männern stattfanden,<br />

von denen sich eine(r) mit einer HIV-Risiko -<br />

person sexuell eingelassen hatte, mit dem Unter -<br />

schied, dass dies bei den „Heteros“ überwiegend in<br />

Deutschland, bei den Pattern II in den HPL-Heimat -<br />

ländern geschah. Mutmaßlich wagen einige mit dort<br />

be reits erkennbaren Krankheitsstadien die illegale<br />

Ein reise nach Deutschland als letzten Versuch, zu<br />

einer Therapie zu gelangen. Da die Zahl der „Illega -<br />

len“ in Deutschland auf eine Million geschätzt wird,<br />

sind auch andere Motive denkbar.<br />

Ebenfalls unbekannt ist, ob die Vorpartner der<br />

„He teros“ von ihrer HIV-Infektion etwas wussten oder<br />

ahnten oder ob sie den nicht getesteten Ahnungslosen<br />

zugerechnet werden müssen. Bei den heutigen freizügigen<br />

Begegnungsformen der Geschlechter und dem<br />

weit verbreiteten Gleichmut gegenüber sexuell übertragbaren<br />

Krankheiten ist Letzteres wahrscheinlicher,<br />

da im Allgemeinen von Bisexuellen weder MSM-<br />

Kontakte noch bezahlte Sexerlebnisse mit möglicherweise<br />

infizierten Partnerinnen in der ständigen Paar -<br />

beziehung offenbart und eventuelle Konsequenzen<br />

(HIV-Test nach drei bis sechs Monaten Sero kon -<br />

versionsintervall) thematisiert werden.<br />

Die entscheidende Relativierung erfolgt aber<br />

durch die statistische Einbeziehung aller nicht aus -<br />

schließlich monogam lebender Personen. Auf den ers -<br />

ten Blick würde man bei dieser Grundgesamtheit we -<br />

gen der sozialen Kontrolle an regionale Unterschiede<br />

nach Stadt und Land, nach Konfession und Boden -<br />

ständigkeit und auch nach alten und neuen Bundes -<br />

ländern denken. Denn im deutsch-deutschen Vergleich<br />

gab es in vielen Parametern des Sexualverhaltens eine<br />

deutlich größere Zurückhaltung bei den in der DDR<br />

so zialisierten Jugendlichen, die sich aber in den<br />

Jahren nach 1990 weitgehend den Standards und dem<br />

Verhalten der westdeutschen Jugendlichen angenähert<br />

haben (Starke & Weller 2000). Speziell die Deutsch -<br />

land karte mit den regionalen Inzidenzen (AIDS pro<br />

Mio. E) in den Epidemiologischen Bulletins zeigt<br />

helle Gebiete (0-50 AIDS-Fälle) neben Teilen von<br />

Ober franken und der bayrischen Oberpfalz aus -<br />

schließlich östlich des ehemaligen Eisernen Vorhan -<br />

ges, so dass dort die tiefdunkle Insel Berlin (kumulierte<br />

Inzidenzen über 1000) umso kontrastreicher hervortritt.<br />

Die Wahrscheinlichkeit, sich in den neuen<br />

Bun desländern bei einer der etwa drei Millionen<br />

Frauen im Alter zwischen 15 und 50 Jahren anzustek -<br />

ken, ist auch heute noch recht gering. Wenn die<br />

Grund gesamtheit der Hetero-Frauen in Ost und West<br />

nicht mitgedacht wird, könnte unkommentiert der statistische<br />

Anstieg auf 20 Prozent bedrohlich aussehen,<br />

bei kritischer Betrachtung wohl zu Unrecht; denn die -<br />

se Prozentangaben beziehen sich auf die 2000 HIV-<br />

Neuinfektionen und die etwa 500 AIDS-Fälle jährlich.<br />

Dies zu wissen, kann für die Beratungsinhalte des<br />

Arz tes vorne an der Präventionsfront durchaus von<br />

ausschlaggebender Bedeutung sein.<br />

So findet sich im Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt<br />

(11/2002) auf Seite 4 ein stark verkleinertes<br />

Schau bild mit verschiedenen Segmenten, die den An -<br />

teil der Infektionswege von „AIDS in Europa“ erkennen<br />

lassen, vielleicht als Beitrag zum Welt-AIDS-Tag<br />

gedacht. Auf diesem Schaubild kann man staunend<br />

zur Kenntnis zu nehmen, dass 37 Prozent auf heteround<br />

nur noch 20 Prozent auf homosexuelle Kontakte<br />

zurückzuführen sind (die 33 Prozent IVDA können in<br />

diesem Zusammenhang vernachlässigt werden). Aus<br />

Botswana mit über 38 Prozent (!!) HIV-Infizierter und<br />

aidskranker Bevölkerung könnte ein effekthaschender<br />

Journalist noch härtere Horrorbilder als Realität publizieren.<br />

Wenn man den Kontext außer Acht lässt, kann<br />

man bekanntlich „mit der Wahrheit lügen“. Falls es<br />

unkritische Leser unter den Ärzten des nördlichsten<br />

Bundeslandes gibt, werden diese auf eine völlig<br />

falsche Fährte gesetzt, und zwar durch eine „objektive“<br />

Desinformation. Denn es wäre ganz fehlerhaft,<br />

eine gezielte böswillige Desinformation anzunehmen.<br />

Bei der Platzierung dieses (h)ausgemachten Unsinnes<br />

im Ärzteblatt Schleswig-Holstein dürfte subjektiv<br />

wohl eher ignoranter Aktionismus im Sinne einer un -<br />

bewussten Fahrlässigkeit eine Rolle gespielt haben.<br />

Für die Einordnung der (meist) bezahlten Sexual -<br />

kon takte ist es epidemiologisch uninteressant, ob die -<br />

se in Deutschland (Hetero) oder im Ausland (HPL)<br />

stattfinden. Motor ist einmal das heute weit verbreitete<br />

wenig wählerische Sexualverhalten ohne personale<br />

Bindung mit dem nach G. Schmidt (2000) sexualmo-


178 R. Wille<br />

ralisch umgewandelten Beziehungsparadigma: Ob<br />

hetero-, bi- oder homosexuell, oral, zart oder ruppig,<br />

bieder oder raffiniert, normal oder pervers, von hinten<br />

oder von vorne, ist moralisch ohne Belang. Von Be -<br />

lang ist, dass es vereinbart wird. Auch Kondome und<br />

Safer-Sex können ausgehandelt werden, und so wurde<br />

Verhandlungsmoral zu einem wichtigen Faktor der<br />

Vorbeugung von HIV-Infektionen und AIDS. Einige<br />

Zeilen später führt G. Schmidt Interviewangaben an:<br />

„just fun, no drama; ein bisschen Rauchen, ein bisschen<br />

Trinken, ein bisschen Sex (...) Oberflächlich und<br />

entsetzlich banal könnte man nörgeln, aber es ist eine<br />

Sexualität frei von falschem Tiefsinn, entmystifizierter<br />

entdramatisierter Sex. Und so scheint es, als sei die<br />

Sexualität zu Beginn des Jahrhunderts gründlich entrümpelt;<br />

vom Katholizismus, vom Patriarchat (fast)<br />

und von der Psychoanalyse. Das ist nicht wenig für 50<br />

Jahre, fast schon eine Erfolgsgeschichte.“<br />

Neben dem Partnerwechsel ist als zweiter Faktor<br />

für die AIDS-Pandemie heute die globale Migration<br />

und speziell in die immer noch vermeintlich reiche<br />

Bundesrepublik anzusehen. Aus Osteuropa (u.a. Ukra -<br />

ine und Bulgarien) werden Migrantinnen als Touris -<br />

tinnen eingeschleust, da hier ihre Menschenhändler<br />

und Zuhälter größere Profite mit ihnen erzielen als in<br />

ihrer Heimat. Die Gesundheitsämter haben ihre früher<br />

regelmäßigen Kontrolluntersuchungen der einge -<br />

schrie benen HwG-Personen schon seit Jahren eingestellt.<br />

Der grüne Koalitionspartner rühmt sich seines<br />

parlamentarischen Erfolges bei der rechtlichen Aner -<br />

kennung der Prostitution, wobei er sich argumentativ<br />

auf Beseitigung einiger tatsächlich ärgerlicher Wider -<br />

sprüchlichkeiten aufgrund der anachronistischen „Sit -<br />

ten widrigkeit“ beruft. Vor diesem rechtlichen und mo -<br />

ra lischen Hintergrund bieten in Deutschland ohne ge -<br />

sundheitliche oder ausländerrechtliche Kontrolle<br />

Frau en ihre käuflichen Sexdienste an, obwohl bekannt<br />

ist, dass unter den Migrantinnen viele – schätzungsweise<br />

15 bis 20 Prozent – HIV-Trägerinnen sind (Kon,<br />

Igor / Moskau, zit. in: Wille & Hansen 2000).<br />

Der gegenseitige Austausch von Lust- gegen Geldge -<br />

winn findet zwar auf höchst unterschiedlichem Niveau<br />

statt, keineswegs immer unter vulgären und/oder apersonalen<br />

Begleitumständen. Aber bei dem gegebenen<br />

Währungs- und Wohlstandsgefälle ist er auf allen Ebe -<br />

nen so verlockend, dass sich schon der Gedanke an ein<br />

Verbot verbietet. Wenn schon „Amor omnia vincit“,<br />

dann siegt erst recht Cupido über alle Vor- und Rück -<br />

sichten, über alle Prophylaxe und Prävention. Eine<br />

verbindliche Sexualmoral ist schon seit längerem am<br />

Ver schwinden (G. Schmidt, 1988), aber sicherlich<br />

nicht vollständig. Denn ohne kollektive Erwartungs -<br />

haltungen und daraus sich formenden Standards wür -<br />

de das „gewöhnliche Chaos der Liebe“ in offenen Ge -<br />

schlechterkrieg übergehen. So irritiert schon jetzt die<br />

selbstbewusste Eigenständigkeit adoleszenter (13-15<br />

Jahre alter) Mädchen ihre zwei Jahre später pubertierenden<br />

Alterskameraden. Mancher Junge fühlt sich<br />

von weiblichen Direktinitiativen zu einem sofortigen<br />

Kurzerlebnis nicht nur situativ überfordert, sondern<br />

auch chronisch verunsichert, wenn er in seinem ab -<br />

weisenden Verlegenheitserröten dann noch als schwul<br />

und/oder impotent, als abnormer Versager oder perverser<br />

Außenseiter lächerlich gemacht wird. Irgend -<br />

wann bilden sich aus dem amoralischen Chaos neue<br />

Standards heraus, die vielleicht nur für bestimmte<br />

Sub populationen gelten, die relativ unverbunden ne -<br />

ben einander eigene sexuell-erotische Selbstregulie -<br />

run gen einhalten. Gerade für Sexualkontakte und<br />

Dau erbindungen bestanden immer schon Klassenun -<br />

ter schiede, wie sie noch von Kinsey in seinen beiden<br />

Reporten (1948 für Männer, 1953 für Frauen) berichtet<br />

und interpretiert werden.<br />

Eine kommende Geschlechtermoral wird wegen<br />

der einschneidenden Veränderungen in den letzten 50<br />

Jahren andere konkrete Inhalte vorschreiben als in frü -<br />

heren Zeiten. So werden nicht nur die von G. Schmidt<br />

(2000) vorgebrachte soziogene Entmystifizierung der<br />

Sexualität, sondern auch die durch die Akzeleration<br />

bedingten biologischen Veränderungen einbezogen<br />

sein. Vielleicht liegt in nebeneinander existenten<br />

Gruppenmoralitäten sogar die bessere Chance, dass<br />

die Vorverlegung der Menarche eher anerkannt wird<br />

als bisher die Verlängerung der Lebensdauer, die<br />

schein bar unvermutet als „demographischer Faktor“<br />

unsere heutigen Rentenpolitiker zu hektischem Han -<br />

deln nötigt.<br />

Als bei den Anhörungen zur großen Strafrechts -<br />

reform vor 30 Jahren der Hamburger Sexualforscher<br />

Eberhard Schorsch die empirisch gesicherte Tatsache<br />

zur Sprache brachte, dass seit Einführung des Straf -<br />

gesetzbuches 1871 die Menarche um mindestens drei<br />

Jahre früher eintritt, und er daraus den Vorschlag formulierte,<br />

das Schutzalter in § 176 StGB von 14 auf 12<br />

Jahre herabzusetzen, erntete er bei erzkonservativen<br />

Juristen heftigste Entrüstung und auch bei vielen Zeit -<br />

ge nossen kopfschüttelnde Ablehnung. Wer heute diesen<br />

entwicklungspsychologisch gerechtfertigten Vor -<br />

schlag wiederholen wollte, müsste angesichts der fe -<br />

ministisch aufgeheizten öffentlichen Atmosphäre ge -<br />

gen Pädophile mit weit härteren Hostilitäten rechnen.<br />

Die im Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte<br />

der Meinung und Forschung (Artikel IV und V GG)<br />

scheinen in den letzten Jahren des zweiten Jahr -<br />

tausends nicht mehr so unangetastet zu sein wie in den<br />

45 Jahren davor. Die Sexualmedizin / Sexualwis sen -<br />

schaft kennt fachspezifisch heftige Positionskämpfe<br />

verschiedener Schulen; hier folgen Strömungen und


Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 179<br />

Ge genströmungen schneller aufeinander als etwa in<br />

den Naturwissenschaften. Der sexualmedizinische Er -<br />

kenntnisfortschritt erweist sich am stabilsten, wenn er<br />

von einem bio-psycho-sozialen Menschenbild ausgeht,<br />

in dem die Sexualität ein weitgehend autonomes<br />

Eigenleben besitzt, dem Politiker oder Planungs kom -<br />

missionen nur marginal Gewalt antun können.<br />

Wohl jeder außereuropäische Staatsmann oder So -<br />

zial politiker wäre erleichtert und froh, wenn angesichts<br />

der HIV/AIDS-Pandemie in seinem Lande nur<br />

ein unterschwelliger Schwelbrand wie in Deutschland<br />

zu bekämpfen wäre. Aber dieser HIV/AIDS-Schwel -<br />

brand hier ist in der sexuellen Wirklichkeit unserer<br />

Zeit ohne jede amtliche Kontrolle und letztlich auch<br />

nicht kontrollierbar. Der bisher für Deutschland relativ<br />

glimpfliche Ausgang darf nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

dass sich hinter den nüchternen Statistik-Zah -<br />

len unendlich viel persönliches Leid und biographische<br />

Tragödien verbergen, unter ihnen einige vielleicht<br />

vermeidbare.<br />

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Adresse des Autors<br />

Prof. em. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Wille, Sexualmed. Forschungs- u. Beratungsstelle am Klinikum der Universität Kiel, Arnold-Heller-Str. 12, 24105 Kiel


Fortbildung<br />

Sexuologie<br />

Prostaglandin E1 und lokale Therapie<br />

der erektilen Dysfunktion<br />

Tim Schneider, Herbert Sperling, Herbert Rübben<br />

Prostaglandin E1 and local<br />

Therapy of Erectile Dysfunction<br />

Abstract<br />

Male erectile dysfunction has been accepted as a disease<br />

in public and its therapy has changed profoundly during<br />

this evolution. Besides oral therapy, intracavernosal injection-therapy<br />

and the Medicated Urethral System for Erec -<br />

tion (MUSE ® ) still have their place in the treatment of ED,<br />

although they are mostly used as second-line therapy in<br />

sidenafil-non-responders or patients with contraindica -<br />

tions against oral medication. The leading substance is<br />

prostaglandin E1 (PGE1), which reaches response-rates of<br />

70-75% in more than 10.000 patients treated in a clinical<br />

setting by intracavernous injection therapy. At home response-rates<br />

did even reach 90%. Success-rates of papaverine<br />

alone or in combination with phentolamine do not<br />

surpass 70% in most studies and priapism is reported in<br />

more than 10%. MUSE ® is available in the EU since 1999<br />

and provides a needle-independent option for patients<br />

suffering from ED. Athough first encouraging results of<br />

response-rates greater than 70% are reported, 30-35%<br />

seems to be a realistic response-rate, that can be achieved<br />

with the 500 and 1000µg dosage. Local transdermal<br />

application of PGE1 is in clinical testing and seems to provide<br />

encouraging success-rates. Finally, local therapy is still<br />

one of the main therapeutical options and a wider variety<br />

of pharmacological substances and applications for local<br />

use can be expected in the nearby future.<br />

Keywords: Erectile dysfunction, Prostaglandin E1, Alprosta -<br />

dil, SKAT, MUSE<br />

Zusammenfassung<br />

Parallel zur Anerkennung der erektilen Dysfunktion (ED)<br />

des Mannes als Erkrankung hat sich auch die Therapie der<br />

ED grundlegend gewandelt. Derzeit existieren mit der<br />

Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT) vasoaktiver<br />

Substanzen, dem Medicated Urethral System for Erection<br />

(MUSE ® ) und verschiedenen oral applizierbaren Sub stan -<br />

zen multiple potente Therapieoptionen der ED. Die lokale<br />

Therapie der ED wird mittlerweile meist als Second-line<br />

Therapie eingesetzt. Führend in der lokalen Therapie der<br />

ED ist das Prostaglandin E1 (PGE1). Bei mittlerweile über<br />

10.000 in Studien mittels SKAT behandelten Patienten<br />

wur de eine Erfolgsrate von 70-75% bei intrakavernöser<br />

Injektion in der Klinik erzielt. Unter häuslichen Bedingun -<br />

gen liegen die Erfolgsraten sogar über 90%. Die Erfolgs ra -<br />

ten von Papaverin allein oder in Kombination mit Phen to -<br />

lamin bei der SKAT liegen nicht über 70% und in über<br />

10% der Fälle kommt es zu Priapismen. Die intraurethrale<br />

Applikation von PGE1 stellt eine nadelfreie Alter native zur<br />

SKAT dar und ist seit 1999 in der EU zugelassen. MUSE ® ‚<br />

bietet allen Patienten mit Abneigung ge gen SKAT aufgrund<br />

der Spritzengebundenheit oder Kon traindikationen<br />

gegen SKAT bzw. orale Präparate eine ergänzende The -<br />

rapieoption. Trotz anfänglichen Berichte von einer Wir -<br />

kungsrate bis zu 70% scheint insgesamt eine An sprech -<br />

rate von MUSE ® ‚ von 30-35% bei Einsatz der höheren<br />

Konzentrationen (500-1000µg) in häuslicher Um ge bung<br />

realistisch. Die lokale transdermale Applika tion von PGE1<br />

findet sich derzeit noch in klinischer Tes tung, scheint aber<br />

ebenfalls erfolgversprechend. Schluss endlich hat die lokale<br />

Therapie weiterhin einen festen Platz in der Behandlung<br />

der ED, wobei das verfügbare Armen tarium durch weitere<br />

Produkte sicherlich noch er weitert wird.<br />

Schlüsselworte: Erektile Dysfunktion, Prostaglandin E1,<br />

Alprostadil, SKAT, MUSE<br />

Einleitung<br />

Nach der Enttabuisierung der erektilen Dysfunktion<br />

(ED) des Mannes und Anerkennung als Erkrankung<br />

durch die Weltgesundheitsorganisation, wird die ED<br />

in zwischen als Erkrankung mit ausgeprägtem Verlust<br />

an Lebensqualität und konsekutiver Problematik für<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 180 – 185 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 181<br />

die Partnerbeziehung sozial akzeptiert. Parallel zu dieser<br />

Entwicklung hat sich auch die Therapie der ED<br />

grundlegend gewandelt. Nachdem anfänglich neben<br />

Phytotherapeutika nur operativ rekonstruierende oder<br />

mechanische Hilfsmittel wie die Vakuumerektions -<br />

hilfe als therapeutische Optionen der ED zur Ver fü -<br />

gung standen, existieren zum heutigen Zeitpunkt mit<br />

der Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT)<br />

vasoaktiver Substanzen und dem Medicated Urethral<br />

System for Erection (MUSE ® ) wirksame lokale The -<br />

ra pieoptionen. Zusätzlich ergänzen oral applizierbare<br />

Substanzen mit peripherem Wirkmechanismus wie<br />

z.B. die Phosphodiesterase-Typ-V-(PDE-5)-Inhibito -<br />

ren und auch zentralem Wirkansatz wie das Apo mor -<br />

phin die therapeutischen Möglichkeiten der ED. Wei -<br />

tere oral oder auch lokal applizierbare Substanzen be -<br />

finden sich in der klinischen Erprobung und werden<br />

demnächst die bereits verfügbaren Therapieoptionen<br />

ergänzen.<br />

Das Ziel dieser Reihe von Übersichtsarbeiten ist<br />

es, die derzeit und demnächst zur Verfügung stehenden<br />

Therapieoptionen im einzelnen aufzuzeigen. Im<br />

Rahmen dieser ersten Arbeit soll daher die lokale<br />

Therapie der ED unter der besonderen Be rück sichti -<br />

gung des Prostaglandin E1 (PGE1) vorgestellt werden.<br />

Schwellkörper-Autoinjektions -<br />

therapie (SKAT)<br />

Bis zur Markteinführung von Sildenafil war die<br />

Schwell körperpharmakontherapie der Goldstandard in<br />

der Behandlung der ED als First-line Therapie. Mitt -<br />

ler weile sind multiple oral applizierbare Pharmaka<br />

verfügbar, so dass die SKAT-Therapie bis auf wenige<br />

Ausnahmen (z.B. absolute Kontraindikationen gegen<br />

orale Medikation) als Second-line Therapie bei unzureichender<br />

Wirkung oraler Pharmaka eingesetzt wird.<br />

Durch die direkte Applikation des Pharmakons in das<br />

Corpus cavernosum können hohe lokale Wirkstoff -<br />

konzentrationen erzielt werden, welche zu einer guten<br />

Wirkungs-Nebenwirkungs-Relation führen. Mit einer<br />

Effektivität von 70-80% ist die SKAT-Therapie hochwirksam<br />

und bietet durch die direkte intrakavernöse<br />

Applikation nur geringe systemische Nebenwirkun -<br />

gen (Stief et al. 2000). Schlußendlich ist SKAT für Pa -<br />

tienten, die eine möglichst rasche Erektion wünschen,<br />

die auf eine orale Medikation nicht reagieren oder<br />

aber eine Kontraindikation zu einer solchen aufweisen<br />

eine optimale Therapieoption, wenngleich sicherlich<br />

die Notwendigkeit der Selbstinjektion eine Einbuße<br />

im Anwendungskomfort gegenüber den oralen Präpa -<br />

raten darstellt.<br />

Anwendung<br />

Die Injektion in den Penis erfolgt basisnah lateral im<br />

Winkel von 90° in das Corpus cavernosum zur Ver -<br />

meidung einer Läsion der Harnröhre oder des Gefäß -<br />

nervenbündels (Abb.1). Verwendet werden sollten 27-<br />

29 Gauge Kanülen. Nach der diagnostischen Schwell -<br />

körperinjektion durch den Arzt, bietet sich für die<br />

Anleitung des Patienten zunächst die Probe injektion<br />

von Kochsalz an. Eine sitzende Haltung auf der Kante<br />

der Untersuchungsliege ist anzuraten. Hat der Patient<br />

unter ärztlicher Anleitung die SKAT-Tech nik erlernt,<br />

kann diese nachfolgend eigenständig unter häuslichen<br />

Bedingungen durchgeführt werden.<br />

Für den dauerhaften Erfolg der SKAT ist sowohl<br />

eine sorgfältige Patientenselektion als auch eine suffiziente<br />

Anleitung durch den Mediziner in Bezug auf<br />

die Applikationsweise notwendig. Hierdurch kann die<br />

Zahl der Therapieabbrecher gering gehalten werden.<br />

Patienten mit Gerinnungsstörungen, unter Therapie<br />

mit Antikoagulatien oder die aufgrund kardialer Vor -<br />

schäden sexuelle Aktivität unterlassen sollten als auch<br />

Patienten mit stattgehabtem Priapismus oder hochgradiger<br />

Induratio Penis Plastica sollte diese The rapie<br />

nicht offeriert werden. Weiterhin sollte SKAT Pa tien -<br />

ten mit unzureichendem manuellem Geschick, extremer<br />

Adipositas oder ausgeprägten psychischen Stö -<br />

run gen nicht angeboten werden. Eine schriftliche Ein -<br />

willigung des Patienten vor der erstmaligen diagnostischen<br />

Schwellkörperinjektion (SKIT) ist anzuraten.<br />

Neben penilen Schmerzen bei der Injektion kön nen<br />

Hämatome und Fibrosen der Schwellkörper auf treten.<br />

Kommt es zu der gefährlichsten Kompli ka tion der<br />

SKAT, der anhaltenden Dauererek tion über länger als<br />

6 Stunden (Priapismus), so ist eine sofortige fachurologische<br />

Vorstellung zur Vermeidung hypoxischer<br />

Dau erschäden des Schwellkörpergewebes notwendig.<br />

Abb. 1: Technik der Schwellkörperautoinjektionstherapie mit lateraler Injektion un -<br />

ter Schonung der Harnröhre und des dorsalen Gefäßnervenbündels (Bildmaterial mit<br />

freundlicher Genehmigung der Hoyer-Madaus GmbH, Monheim)


182 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />

Prostaglandin E1 (z.B. Caverject ® ,<br />

Viridal ® )<br />

Pharmakologie<br />

Prostaglandine und weitere Produkte des Arachidon -<br />

säu re stoffwechsels finden sich nahezu ubiquitär im<br />

menschlichen Organismus und weisen ein erstaunlich<br />

breites Wirkungsspektrum auf. Sie werden auch als<br />

Ge webshormone bezeichnet und werden in den unterschiedlichen<br />

Zellen und Organen auf verschiedene<br />

Sti muli jeweils neu synthetisiert und freigesetzt<br />

(Giertz et al. 1992). Auch PGE1 gehört zu der Gruppe<br />

der Prostanoide, die als Mediatoren multipler physiologischer<br />

Prozesse in den meisten menschlichen Ge -<br />

weben vorkommen (Abb. 2). Bei der lokalen Therapie<br />

der ED wirkt PGE1 relaxierend auf die glatte Schwell -<br />

kör permuskulatur. Über Bindung an spezifische Re -<br />

zep toren an der Zellwand wird die membranständige<br />

Adenylatzyklase aktiviert, woraus eine in tra zelluläre<br />

cAMP-Erhöhung resultiert, die eine komplexe intrazelluläre<br />

Regulationskaskade aktiviert und schluss -<br />

end lich über sinkende Kalziumspiegel zu einer Re la -<br />

xation der Muskulatur führt. Diskutiert wird auch eine<br />

präsynaptische Hemmung der Noradrenalinfrei set -<br />

zung aus adrenergen Nervenendigungen. PGE1 hat<br />

eine Plasmahalbwertzeit von 15µg PGE1 auftreten<br />

und durch Zusatz von Natriumbikarbonat oder<br />

Pro cain gemildert werden können. Priapismen finden<br />

sich nach der Titrationsphase selten (bis 1%), häufiger<br />

werden penile Fibrosen beklagt (7-11%), die aber zu<br />

50% spontan abheilen und damit nur in 5-7% der<br />

Patienten nach langjähriger Therapie zu persistierenden<br />

Fibrosen führen (Montorsi 2002).<br />

Weiterhin wird durch die intrakavernöse Applika -<br />

tion von PGE1 ein „Trainingseffekt“ der glatten sinusoidalen<br />

Muskulatur beschrieben. Dies konnte über<br />

ver besserte penile arterielle Flußwerte in der Doppler -<br />

sonographie nachgewiesen werden und resultierte in<br />

wiederkehrenden Spontanerektionen in 37% von 70<br />

Patienten nach 12 Monaten in der Studie von Brock<br />

und Mitarbeitern (2001). Ebenfalls wird eine Neovas -<br />

ku larisation des kavernösen Gewebes diskutiert, die<br />

bislang aber histologisch nicht nachgewiesen werden<br />

konnte.<br />

Papaverin<br />

Pharmakologie<br />

Papaverinhydrochlorid ist ein Opiumalkaloid, welches<br />

über die Hemmung der Phosphodiesterase zu einer<br />

Vermehrung von cAMP und cGMP führt und die !1-<br />

Rezeptor-vermittelte Kontraktion der glatten Muskel -<br />

zel len über Beeinflussung der Kalziummobilisation<br />

ab schwächt. Bei intrakavernöser Applikation resultiert<br />

eine Relaxation der glatten Muskelzellen (Wang und<br />

Large 1991). Papaverin wird hepatisch metabolisiert<br />

und ist hepatotoxisch wirksam, was einen Transami -<br />

nasenanstieg oder sogar eine medikamenten-induzierte<br />

Hepatitis bewirken kann (Montorsi 2002).<br />

Klinische Erfahrungen<br />

Die erste Publikation über die intrakavernöse Appli -<br />

kation von Papaverin beim Menschen erfolgte 1982<br />

von Virag. Inzwischen ist eine Erfolgsrate von 61%<br />

bei Injektion in der Klinik und Behandlung von insgesamt<br />

über 2000 Patienten in zahlreichen Studien dokumentiert<br />

(Porst 1996). Die Dosierung bei der Papa -<br />

verin-Monotherapie reicht von 10 – 60mg. Im Ver -<br />

gleich zu einer Erfolgsrate von 72% bei PGE1 konnte


Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 183<br />

in einer Studie mit 447 Patienten nur bei 31% der<br />

allein mit Papaverin behandelten Patienten eine suffiziente<br />

Erektion erzielt werden (Porst 1989). Aufgrund<br />

der o.g. hepatotoxischen Wirkung und einer Priapis -<br />

musrate von bis zu 18% ist die Monotherapie mit<br />

Papaverin verlassen worden, wenngleich die problemlose<br />

Lagerung ohne Kühlung sowie der Preisvorteil<br />

sicherlich zu einer weiteren Existenz dieser Therapie<br />

insbesondere in finanzschwachen Ländern führen<br />

wer den (Montorsi 2002).<br />

Phentolamin / Papaverin<br />

(z.B. Androskat ® )<br />

Pharmakologie<br />

Phentolaminmesylat wirkt als ! 1 - und ! 2 -adrenerger<br />

Rezeptorblocker, der arterielle Gefässe dilatiert und<br />

die sympathische Hemmung der Erektion verhindert.<br />

Bei alleiniger intrakavernöser Applikation reicht die<br />

erektionsverstärkende Wirkung der Substanz nicht<br />

aus, so dass diese in Kombination mit Papaverin oder<br />

PGE1 gegeben wird.<br />

Klinische Erfahrungen<br />

1983 wurde von Brindley der Einsatz von Phento -<br />

lamin als Monotherapie bei ED erstmalig beschrieben.<br />

Im weiteren Verlauf hat sich die Kombinations the -<br />

rapie von Phentolamin mit Papaverin aber aufgrund<br />

bes serer Resultate durchgesetzt. Diese wurde 1985<br />

von Zorgniotti und Lefleur publiziert, die bei Gabe<br />

von 30mg Papaverin in Kombination mit 1mg Phen to -<br />

lamin eine Erfolgsrate von 71% bei 250 Patienten er -<br />

zielen konnten. In einer Studie mit 447 Patienten<br />

konnte bei 61% der mit einer Papaverin / Phento la -<br />

min-Kombination behandelten Patienten eine suffiziente<br />

Erektion erzielt werden, PGE1-Monotherapie<br />

zeig te eine Erfolgsrate von 72% (Porst 1989). Ins -<br />

gesamt liegt die Erfolgsrate der Kombinationstherapie<br />

bei 60-70%. Die Nebenwirkungsrate gleicht der alleinigen<br />

Papaverin-Therapie mit bis zu 15% Priapismen<br />

und 12% Fibrosierungen nach Langzeitgebrauch<br />

(Porst 1996).<br />

Heut zutage wird der Trimix ergänzend bei PGE1 Non-<br />

Respondern eingesetzt. Auch bei ausgeprägten penilen<br />

Schmerzen bei PGE1 Injektion stellt der Trimix<br />

mit seiner deutlich geringeren PGE1-Komponente<br />

eine therapeutische Option dar. Injiziert werden z.B.<br />

10.5mg Papaverin, 0.5mg Phentolamin und 5µg<br />

PGE1.<br />

Medicated Urethral System for<br />

Erection (medikamentöses urethrales<br />

System zur Erektions ver -<br />

stärkung) (MUSE ® )<br />

Die intraurethrale Applikation von PGE1 mittels eines<br />

sterilen Einmalsystems stellt eine nadelfreie Alter -<br />

native zur SKAT dar und ist seit 1999 in der EU zugelassen.<br />

MUSE # ist in den Stärken 250, 500 und<br />

1000µg PGE1 verfügbar und stellt für alle Patienten<br />

mit Abneigung gegen die intrakavernöse Injektion<br />

aufgrund der Spritzengebundenheit oder Kontraindi -<br />

ka tionen gegen SKAT bzw. orale Präparate eine ergänzende<br />

Therapieoption dar.<br />

Anwendung<br />

Die Erstanwendung sollte unter ärztlicher Aufsicht<br />

erfolgen, eine Anfangsdosis von 500µg hat sich in der<br />

Praxis bewährt (Abb.3). Vor der Applikation des<br />

Pellets sollte der Patient urinieren, da der verbleiben-<br />

Abb. 3: Anwendung des Medicated Urethral System for Erection (MUSE®) (Bild -<br />

material mit freundlicher Genehmigung der Abbott GmbH, Ludwigshafen)<br />

Prostaglandin E1 plus Phento la -<br />

min plus Papaverin (Trimix)<br />

Die sogenannte Trimix-Mischung von PGE 1, Phen -<br />

tolamin und Papaverin wurde 1991 von Benett und<br />

Mit arbeitern erstmalig beschrieben, die eine Erfolgs -<br />

rate von 92% bei 116 Patienten erzielen konnten.


184 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />

der Resturin in der Harnröhre für die Auflösung in der<br />

Harnröhre notwendig ist. Anschließend erfolgt eine<br />

Massage des Penis durch den Patienten zur Unter stüt -<br />

zung der Resorption des Pellets für 1 Minute.<br />

Das PGE1 wird vom Urothel der Harnröhre resorbiert<br />

und gelangt über kommunizierende Gefäße vom<br />

Corpus spongiosum in die Corpora cavernosa. Dort<br />

führt es, wie bei direkter intrakavernöser Gabe, zur<br />

Relaxation der glatten Muskelzellen und der kavernösen<br />

Arterien. 80% des intraurethral applizierten PGE1<br />

werden innerhalb der ersten 10 Min. resorbiert<br />

(Leung wattanakij et al. 2001). Nach 5-10 Min. be -<br />

ginnt die Wirkung des PGE1 und erreicht nach 20<br />

Min. die maximale erektile Antwort. Bei Dosierungen<br />

bis zu 1000µg wird eine Wirkdauer bis zu 80Min. be -<br />

schrieben (Leungwattanakij et al. 2001). Kontra indi -<br />

kationen sind bekannte Überempfindlichkeit gegen<br />

PGE1, Urethritis, schwere penile Anomalien wie ausgeprägte<br />

Harnröhrenengen oder Hypospadien, stattgehabter<br />

Priapismus und kardiale Schäden, die gegen<br />

eine sexuelle körperliche Betätigung sprechen. Wäh -<br />

rend der Schwangerschaft sollte MUSE ® nur un ter<br />

Ver wendung eines Kondoms angewandt werden.<br />

Klinische Erfahrungen<br />

Die Erfolgsraten der Anwendung von MUSE ® in der<br />

Klinik und auch unter häuslichen Bedingungen variieren<br />

in der <strong>Literatur</strong> sehr stark. Anfängliche klinische<br />

Studien zeigten eine Erfolgsrate von über 60% beim<br />

Einsatz in der Klinik (Padma-Nathan et al. 1997;<br />

Leung wattanakij et al. 2001). In einer koreanischen<br />

Mul ticenter Studie konnte ebenfalls bei 59% von 334<br />

Patienten in der Klinik behandelten Patienten eine suffiziente<br />

Erektion erzielt werden. Von diesen Res pon -<br />

dern berichteten weitere 78% über einen Erfolg der<br />

Therapie unter häuslichen Bedingungen (Kim et al.<br />

2000). Fulgham und Mitarbeiter konnten aber 1998<br />

nur eine Erfolgsrate von 13% bei 500µg und 30% bei<br />

der 1000µg Dosierung beobachten. Insgesamt ha ben<br />

in dieser Studie nur 18% der Patienten die The ra pie zu<br />

Hause fortgeführt. Trotz der o.g. anfänglichen Berich -<br />

te von einer Wirkungsrate bis zu 70% scheint insgesamt<br />

eine Ansprechrate von MUSE von 30-35% bei<br />

Einsatz der höheren Konzentrationen (500-1000µg) in<br />

häuslicher Umgebung realistisch (Stief et al. 2000).<br />

Bezüglich der Erfolgsrate ist die transurethrale<br />

Ap pli kation von PGE1 der intrakavernösen Applika -<br />

tion unterlegen. Shabsigh und Mitarbeiter (2000) be -<br />

richten in einer randomisierten Multicenterstudie von<br />

einer Erfolgsrate der SKAT von 82% im Ver gleich zu<br />

53% bei MUSE ® . Bei Misserfolg von MUSE ® ist<br />

Sildenafil in einem großen Prozentsatz der Patien ten<br />

erfolgreich, wohingegen der Einsatz von MUSE ® bei<br />

Sildenafil-Non-Respondern bei einer Er folgs rate von<br />

weniger als 1% wenig erfolgversprechend ist (Mydlo<br />

2000a). Trotzdem kann ggf. eine Kombination beider<br />

Therapieoptionen zu einem Therapieerfolg führen<br />

(Mydlo et al. 2000b).<br />

Nebenwirkungen sind vor allem penile Schmerzen<br />

bei bis zu 41% der Nutzer, sowie Schwindel (14%)<br />

und Mikro- bzw. Makrohämaturie bei weiteren 5%.<br />

Dauererektionen oder Harnröhrenstrikturen wurden<br />

bislang nicht beobachtet, wenngleich Harnwegsin fek -<br />

te in bis zu 0.2% auftreten. Bis auf eine Kasuistik sind<br />

Priapismen nicht bekannt (Padma-Nathan et al. 1997;<br />

Spivack et al. 1997; Leungwattanakij et al. 2001). Als<br />

Nebenwirkungen bei der Frau wird selten eine Vagi -<br />

nitis beschrieben, die jedoch zum Teil auf eine unzureichende<br />

Lubrikation der Vagina und auch lange se -<br />

xu elle Abstinenz zurückgeführt wird (Leungwatta -<br />

nakij et al. 2001).<br />

Transdermale lokale Prostaglan -<br />

din E1-Applikation<br />

(z.B. Topiglan ® )<br />

Neben der transurethralen und intrakavernösen<br />

Applikation von PGE1 bzw. anderen erektionsför -<br />

dern den Substanzen erscheint insbesondere eine trans -<br />

dermale Applikation in Form von Salbe bzw. Gel<br />

attraktiv. Erste Ergebnisse existieren mit topischem<br />

PGE1 (Topiglan # ), welches bei bis zu 38% der<br />

Patienten und Anwendung in der Klinik zu suffizienten<br />

Erektionen geführt hat (Goldstein et al 2001).<br />

Daten über die koitale Erfolgsrate bei Anwendung zu<br />

Hause stehen derzeit noch nicht zur Verfügung, werden<br />

aber nach Abschluss einer aktuell laufenden Phase<br />

III-Studie an 460 Paaren demnächst publiziert werden.<br />

(McMahon 2002). Das Gel wird direkt auf die Glans<br />

aufgetragen und die Resorption des Pharmakons wird<br />

durch einen Enhancer (SEPA: soft enhancer of percutaneous<br />

absorption, eine spezielle Substanz, die die<br />

Resorption durch eine reversible Veränderung der<br />

Lipid struktur des Stratum corneum steigert) vermittelt.<br />

Brennen und Rötung der Penishaut wurden von<br />

20% der Patienten bei primärer Applikation des Gels<br />

auf Penisschaft und Glans beklagt, so dass Topiglan#<br />

nur noch auf die Glans aufgetragen wird (McVary et<br />

al.1999; McMahon 2002). Nebenwirkungen beim<br />

weiblichen Partner wurden durch direkte intravaginale<br />

Applikation und eine Phase-III-Studie an 37 Paaren<br />

untersucht, hier zeigte sich kein signifikanter Unter -<br />

schied zwischen Topiglan # und Placebo (McMahon<br />

2002). Lokale Symptome waren leichtes Brennen oder<br />

Irritationen wie bei post-menopausalen Beschwerden.


Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 185<br />

Schlussfolgerung<br />

Trotz der zunehmenden Anzahl an oral applizierbaren<br />

Substanzen zur Therapie der ED hat die lokale The -<br />

rapie mit der intrakavernösen, intraurethralen sowie<br />

trans dermalen Applikation erektionsfördernder Sub -<br />

stanzen ihren festen Platz in der Therapie der ED.<br />

Wäh rend insbesondere die SKAT bis vor kurzem als<br />

First-line Therapie angewandt wurde, wird sie heute<br />

meist erst bei Misserfolg der oralen Präparate oder<br />

Kontraindikationen gegen diese eingesetzt. Auch bietet<br />

die lokale Applikation von Pharmaka gegenüber<br />

der oralen einen deutlichen Vorteil bzgl. des Neben -<br />

wirkungspektrums und eine nahezu sofort einsetzende<br />

Wirkung ohne größere Latenzzeiten. Ein weiterer<br />

The ra pieansatz, der zunehmend verfolgt wird, ist die<br />

Kombinationstherapie oraler und lokaler Verfahren<br />

zur Steigerung der Erfolgsraten der jeweiligen Einzel -<br />

substanzen. Unter allen lokal applizierbaren Substan -<br />

zen nimmt das PGE1 derzeit die führende Rolle ein.<br />

Dennoch befinden sich weitere Substanzen zur lokalen<br />

Applikation in der Entwicklung, so dass mit einer<br />

weiteren Verbesserung der Erfolgsraten und Ausdeh -<br />

nung der lokalen Therapieoptionen in naher Zukunft<br />

zu rechnen ist.<br />

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Adresse der Autoren<br />

Dr. med. Tim Schneider, Dr. med. Herbert Sperling, Prof. Dr. med. Dr. h.c. Herbert Rübben, Urologische Universitätsklinik Essen, Hufelandstr. 55,<br />

45122 Essen, mail: tim.schneider@uni-essen.de


Diskussion<br />

Sexuologie<br />

Betreuungsrecht und Kindesmissbrauch –<br />

Eine selten genutzte Ergänzung des<br />

Strafrechts<br />

Guido Loyen, Wolfgang Raack<br />

Rigth of Custody and Childabuse<br />

– A seldom used Complement of<br />

Penalsystem<br />

Immer wieder, wenn die Öffentlichkeit ein besonders<br />

brutales Sexualverbrechen diskutiert, werden Stim -<br />

men laut, die schärfere Gesetze fordern. So titelte im<br />

Fall der neunjährigen Peggy die Welt am Sonn tag vom<br />

20. 5. 2001: „Schär ferer Kampf gegen Sexualstraftäter<br />

– Siche rungs verwahrung und Zwangs-Kastration<br />

gefordert“. Die öffentliche Diskussion scheint wie<br />

selbst verständlich vorauszusetzen, dass harte Strafen<br />

die einzig denkbare Reaktion sind und dass nach deren<br />

Ver büßung der Wiederholungsgefahr durch „Weg sper -<br />

ren“ vorgebeugt werden sollte.<br />

Abseits von derartigen publikumswirksamen For -<br />

de rungen wollen die Autoren die bereits vorhandenen<br />

gesetzlichen Möglichkeiten aus juristischer und ärztlicher<br />

Sicht diskutieren und an Hand eines über vier<br />

Jahre beobachteten Falles überlegen, inwiefern das<br />

Betreuungsrecht als Resozialisierungsmaßnahme dazu<br />

beitragen kann, den Schutz der Opfer vor den Tätern<br />

und der Täter vor sich selbst zu verbessern.<br />

Sexueller Mißbrauch von Kindern ist häufig. Die<br />

diesbezüglich umfassendste Studie für Deutschland<br />

stammt von Wetzels (1997): Bei enger Definition se -<br />

xu ellen Mißbrauchs (sexuelle Berührung, Penetration)<br />

fand er eine Prävalenzrate von 8,6% für Frauen und<br />

2,8% für Männer. Bei Zugrundelegung einer weiter<br />

ge fassten Definition (z. B. Exhibitionismus) stiegen<br />

diese Raten auf 18,1% für Frauen und 7,3% für Män -<br />

ner. In 27,1 % der Fälle waren die Täter Familien an -<br />

gehörige. Bezogen auf ein enges Inzestverhältnis (d.h.<br />

Väter bzw. Stiefväter als Täter) fanden sich Opferraten<br />

von 1,3% bei Frauen und 0,3% bei Männern. Die<br />

Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2000 nennt<br />

15.581 Fälle von sexuellem Kindesmißbrauch. Beier<br />

et al. (2001, 405) schätzt die Dunkelzifferrate auf 1 :<br />

5, d.h. auf ein gemeldetes kommen fünf nicht gemeldete<br />

De lik te.<br />

Sexueller Missbrauch von Kindern kann in sehr<br />

un ter schiedlicher Form geschehen. So ist immer wieder<br />

die Frage aufgeworfen worden, ob es nicht auch<br />

un pro ble matische pädosexuelle Handlungen geben<br />

könne (Lautmann 1994). Dannecker (2001) tritt dieser<br />

Auf fassung jedoch entschieden entgegen: „die klinische<br />

Erfahrung (...) ist Grund genug, den generellen<br />

Trau maverdacht, unter dem der sexuelle Mißbrauch<br />

steht, aufrecht zu erhalten“. Hirsch (1999) und Singer-<br />

Kap lan (2000) haben die Folgen sexuellen Miß -<br />

brauchs im Sinne einer schweren Störung der Persön -<br />

lichkeitsent wicklung und insbesondere der Bezie -<br />

hungs fähigkeit ausführlich beschrieben.<br />

Es kommt immer wieder vor, dass Täter ihrerseits<br />

sexuell missbraucht worden sind – für die Mehrzahl<br />

gilt dies aber nicht. Das psychoanalytische Konzept<br />

des Wiederholungszwangs erklärt dies als Identifi ka -<br />

tion mit dem Aggressor: Das frühere Opfer wird zum<br />

Täter, kann so die in der Kindheit erlebte Ohnmacht<br />

abwehren (Hirsch 1999). Die häufige Wiederholung<br />

mit vertauschten Rollen ist aber auch verhaltensmedizinisch<br />

im Sinne des Lernens am Modell erklärbar.<br />

Wirksame Prävention müßte an dieser Stelle einsetzen,<br />

um die Weitergabe dieses Verhaltensmusters zu<br />

un ter brechen.<br />

Trotz dieser schwerwiegenden Schäden werden<br />

nur die wenigsten Täter tatsächlich juristisch zur Ver -<br />

antwortung gezogen. Oft ist die Tat schwer nachzu -<br />

wei sen, die Täter entstammen dem engsten Fami lien -<br />

kreis und belegen die Kinder mit Sprechverbot. Ande -<br />

rerseits ist die Überwachung tatsächlich verurteilter<br />

Täter oft lückenhaft und zeitlich begrenzt.<br />

Die Rückfallgefahr ist schwer zu objektivieren, in<br />

der <strong>Literatur</strong> werden sehr unterschiedliche Zahlen ge -<br />

nannt, je nachdem welche Deliktgruppen ein- bzw.<br />

aus geschlossen werden. Egg (2000) geht für die<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 186 – 191 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 187<br />

Gruppe der Vergewaltiger und Kindesmißbraucher<br />

von 12-20% aus, Nedopil (2000) geht von einer Rück -<br />

fall quote von 50% aus. Die Polizeiliche Kriminal sta -<br />

tistik für das Jahr 2000 nennt eine Zahl von 45,3%.<br />

Beier (in: Beier et al. 2001) hat darauf hingewiesen,<br />

dass die Rück fallgefahr von der differentialtypologischen<br />

Zuord nung der Täter abhänge. So würden bei<br />

den „genuinen Pädophilen“, also Tätern mit pädophiler<br />

Haupt- oder Nebenströmung etwa die Hälfte bis<br />

mehr als drei viertel dieser Täter erneut dissexuell auffällig,<br />

während die sexuell unerfahrenen Jugendlichen<br />

und auch die stark intelligenzgeminderten Täter nur zu<br />

einem Zehn tel bis maximal einem Viertel erneut straffällig<br />

würden. Besonders schwer einschätzbar blieben<br />

die dissozialen Persönlichkeiten.<br />

Die meisten tatsächlich verurteilten und inhaftierten<br />

Täter müssen selbst bei vermuteter weiterer Ge -<br />

fährlichkeit entlassen werden. Und was geschieht<br />

dann?<br />

Nach Nedopil (2000) könne der Schutz der Gesell -<br />

schaft vor schuldfähigen Straftätern, die seit ihrer Ver -<br />

urteilung keine zusätzliche psychische Störung entwickelt<br />

haben, nicht Aufgabe der Psychiatrie sein. Er<br />

warnt vehement davor, den Krankheitsbegriff auf eine<br />

reine „Gefährlichkeit“ auszudehnen. Wichtig sei die<br />

Un terscheidung zwischen juristischem Krankheits -<br />

begriff, der v. a. auf die Ausprägung und das Ausmaß<br />

der jeweiligen Störung abhebt und dem medizinischen<br />

Krankheitsbegriff, der in einem ganz anderen Kontext<br />

zu sehen sei. Für Wiederholungsstraftäter müssten an -<br />

dere Lösungen als das „Wegsperren“ gefunden werden.<br />

Aber wie könnten die konkret aussehen ?<br />

Fallbeschreibung<br />

Der Täter, im Folgenden Hr. V. genannt (jetzt 27 Jahre<br />

alt), war zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt. Die erste psychiatrische<br />

Begutachtung durch den ärztlichen Autor<br />

erfolgte 1998, zu diesem Zeitpunkt hatte Hr. V. seine<br />

vierjährige Jugendhaftstrafe verbüßt. An laß der<br />

Begutachtung war die Einschätzung von seiten der<br />

Strafvollzugsbehörde, bei Hr. V. bestehe ein deutliches<br />

Gewaltpotential, die Rückfallgefahr wurde als „eher<br />

wahrscheinlich“ eingeschätzt. Bis zum Jahre 2001<br />

erfolgten insgesamt 4 ausführliche psychiatrische<br />

Untersuchungen, in die auch die Eindrücke des<br />

Betreuers und die ausführlichen Therapieberichte des<br />

Therapeuten eingingen. Nachdem der Bruder des Hr.<br />

V. (im Folgenden Hr. B. genannt) 2001 in den Ver -<br />

dacht geriet, seine Tochter mißbraucht zu haben – es<br />

handelte sich hierbei um eines der Mädchen, die schon<br />

Hr. V. mißbraucht hatte – erfolgte eine Begutachtung<br />

des Hr. B. wie auch der Kindsmutter sowie weiterer<br />

Familienangehöriger, so dass sich ein recht differenziertes<br />

Bild der familiären Situation ergab:<br />

Hr. V. ist das siebte von acht Kindern: drei Schwes -<br />

tern (+5, +4, +3 Jahre), drei Brüder (+8, +5, +1 Jahre)<br />

und ein Halbbruder (-3 Jahre). Die Großfamilie lebte<br />

ur sprüng lich in einer rheinischen Kleinstadt. Der Va -<br />

ter (heute 57 Jahre alt) war ursprünglich Bauarbeiter,<br />

ist seit 24 Jahren arbeitslos, seither lebt die Familie<br />

von der Sozialhilfe. Mehrere Familienangehörige be -<br />

schrei ben regelmäßigen Alkoholkonsum und Gewalt -<br />

ausbrüche, insbesondere gegenüber den Söhnen und<br />

der Ehefrau und sexuelle Nötigung der Ehefrau und<br />

von Bekannten im Beisein der Kinder. Die Mutter<br />

(heute 53 Jahre alt) wird als an ihren Kindern wenig<br />

interessiert und passiv beschrieben. Die Eltern verlieren<br />

das Sorgerecht für ihre drei Töchter aufgrund<br />

schwerer Verwahrlosung, diese wachsen bei Pflege -<br />

eltern auf und kommen erst mit ca. 20 Jahren wieder<br />

in Kontakt mit der Ursprungsfamilie. Der Halbbruder<br />

P. wuchs außerhalb dieser Familie auf.<br />

Die beiden Brüder des Hr. V. – Hr. B. und der später<br />

an einem hypoglykämischen Schock verstorbene<br />

Hr. H. – wachsen ab etwa dem 7. Lebensjahr in einem<br />

Heim für schwer erziehbare Jugendliche auf. Hr. B.<br />

wird im Heim mehrfach wegen aggressiver Verhal -<br />

tens weisen und zeitweiligen Alkohol- und Drogen -<br />

konsums auffällig. Im Rahmen des Verfahrens gegen<br />

Hr. B. gibt dieser zu, seine Ehefrau über Jahre regel -<br />

mäßig vergewaltigt zu haben.<br />

Hr. V. war somit das einzige der Kinder, das ununterbrochen<br />

in der Ursprungsfamilie aufwuchs. Im<br />

Alter von sieben Jahren musste Hr. V. wegen aggressiver<br />

Verhaltensweisen die Schule wechseln und be -<br />

such te dann aufgrund intellektueller Defizite eine<br />

Lern- und Sprachbehindertenschule. Er selbst berichtete<br />

in diesem Zusammenhang über Unruhezustände<br />

und Konzentrationsstörungen, er sei auch „sprachfaul“<br />

gewesen und habe gestottert. Eine testpsychologische<br />

Quantifizierung der Intelligenzanlage erfolgte<br />

zu keinem Zeitpunkt. Ob bei Hr. V. eine Aufmerk sam -<br />

keitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHD) (Boerner<br />

2001) vorgelegen haben könnte, war im Nachhinein<br />

nicht zu klären. Im Rahmen der Sonderschule erwarb<br />

er den Hauptschulabschluss. Seit dem 16. Lebensjahr<br />

arbeitete er als Hilfsarbeiter im Baugewerbe.<br />

Er schildert sich selbst als „zurückgezogenes<br />

Kind“, habe wenige Freunde gehabt. Er berichtete, im<br />

Alter von elf Jahren von seinem damals 20-jährigen<br />

Bruder (dem später verstorbenen Hr. H.) sexuell<br />

mißbraucht worden zu sein, dies sei ihm damals „ganz<br />

normal vorgekommen“. Im Alter von ca. 14 Jahren<br />

habe er begonnen, sich regelmäßig selbst zu befriedi-


188 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />

gen, in seinen Fantasien habe er sich sowohl Kinder<br />

als auch gleichaltrige Frauen vorgestellt. Mit 16/17<br />

Jahren habe er wenige Monate eine erste Freundin<br />

gehabt, mit ihr aber nicht sexuell verkehrt. Mit 19<br />

habe er zum ersten mal sexuellen Verkehr mit einer<br />

gleichaltrigen Frau gehabt, die Beziehung sei durch<br />

seine Inhaftierung beendet worden.<br />

Seit etwa dem 18. Lebensjahr lebte er im Haushalt<br />

des Bruders (Hr. B.), dessen Ehefrau und deren drei<br />

Kinder (damals 5, 4 und 3 Jahre). Er wurde von der<br />

Schwägerin überrascht, als er gerade im Begriff war,<br />

sich masturbatorisch an seinem vierjährigen Neffen zu<br />

befriedigen. Im Verlaufe des Gerichtsprozesses wurde<br />

offenkundig, dass er die Kinder mehrfach mißbraucht<br />

hatte. Er wurde wegen sexuellen Mißbrauchs von Kin -<br />

dern in sieben Fällen, einmal in Tateinheit mit Kör -<br />

perverletzung, zu einer vierjährigen Jugendstrafe verurteilt.<br />

Bei der Entlassung aus der JVA wurde ihm ein<br />

deut liches Gewaltpotential bei steigendem inneren<br />

und äußeren Druck attestiert, die Rückfallgefahr als<br />

„eher wahrscheinlich“ eingeschätzt.<br />

Zum Zeitpunkt der ersten betreuungsrechtlichten<br />

Begutachtung 1998 war er nun 24 Jahre alt und hatte<br />

die Haftstrafe verbüßt. Er bezeichnete sich selbst als<br />

„möglicherweise bisexuell „, schilderte jedoch immer<br />

noch sexuelle Fantasien mit Kindern. Eine Partnerin<br />

hatte er nicht. Er wirkte selbstunsicher, Ich-schwach<br />

und besaß ein nur wenig ausgeprägtes Problembe -<br />

wusst sein und tendierte dazu, seine sexuellen Fanta -<br />

sien zu verharmlosen. Auf Grund des mangelnden<br />

Problembewusstseins fehlte auch ein echtes Interesse<br />

an einer Therapie. Er selbst schätzte seine Rück -<br />

fallgefahr mit „30 zu 70“ ein. Auffällig waren insbesondere<br />

starke Stimmungsschwankungen und eine nur<br />

gering ausgebildete Fähigkeit, Frustrationen zu ertragen.<br />

Sein Verhalten wirkte sehr spontan, und er klagte<br />

selbst darüber, seinen Handlungsimpulsen „ausgeliefert“<br />

zu sein.<br />

Im Rahmen der ersten Begutachtung wurden folgende<br />

Diagnosen gestellt:<br />

! Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer<br />

Pädophilie (ICD 10: F 65.4)<br />

! Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (ICD<br />

10: F 60.3)<br />

! Verdacht auf Alkoholmißbrauch bei gegenwärtiger<br />

Abstinenz (ICD 10: F 10.20)<br />

Vor diesem Hintergrund erfolgte 1998 erstmalig die<br />

Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung. Der Ge -<br />

richtsbeschluss nennt als Aufgabenkreise der Betreu -<br />

ung:<br />

! Gesundheitsfürsorge,<br />

! Bestimmung des Aufenthaltes mit Befugnis zur<br />

ge schlossenen Unterbringung oder zur Anord -<br />

nung unterbringungsähnlicher Maßnahmen, so -<br />

weit dies zur Abwehr von Behandlungsabbrüchen<br />

und Krisen erforderlich ist,<br />

! Rentenangelegenheiten,<br />

! Sozialhilfeangelegenheiten und Versicherungsan -<br />

sprüche,<br />

! Die Begleitung und Koordinierung jedweder Re -<br />

ha bilitaionsmaßnahmen.<br />

Obwohl gleichzeitig auch eine Bewährungs hel -<br />

ferin tätig wurde, kam es erst auf nachhaltigen Druck<br />

des Betreuers und gegen den anfänglichen Widerstand<br />

des Betroffenen zur Aufnahme einer Therapie.<br />

Der Betreuer ordnete die sozialen und finanziellen<br />

Verhältnisse, was zu einer Abnahme von Konflikten<br />

und Spannungszuständen führte. Im Rahmen der<br />

mehr fach durch Abbruch gefährdeten Therapie lernte<br />

Hr. V., konfliktträchtige Situationen frühzeitiger zu er -<br />

kennen, Kontakten mit Kindern aus dem Wege zu ge -<br />

hen, seinen mißbräuchlichen Alkoholkonsum zu reduzieren<br />

und aufkommende sexuelle Spannung rechtzeitig<br />

autoerotisch abzuführen.<br />

Bis Anfang 2001 erfolgten 3 weitere Begutach -<br />

tungen durch den ärztlichen Coautor, etwa im Abstand<br />

von je einem Jahr. Im Verlauf dieser Zeit wirkte Hr. V.<br />

zunehmend reifer, weniger impulsiv und allgemein<br />

belastbarer. Problembewußtsein und Behandlungs mo -<br />

tivation wirkten authentischer. Pädophile Fantasien<br />

kamen zwar noch vor, pädophile Handlungen wurden<br />

aber nicht mehr bekannt. Gleichzeitig versuchte er<br />

eine Annäherung an eine gleichaltrige Partnerin. Seit<br />

der Haftentlassung geht er einer regelmäßigen Tätig -<br />

keit nach.<br />

Diskussion<br />

Diese juristische Vorgehensweise nach dem<br />

Betreuungsrecht bietet gegenüber den herkömmlichen<br />

Möglichkeiten der strafrechtlichen Führungsaufsicht<br />

oder der öffentlich-rechtlichen Unterbringung erhebliche<br />

Vorteile.<br />

Zwar hat das Strafrecht mit der Möglichkeit einer<br />

obligatorischen unbefristeten Führungsaufsicht nach<br />

Verbüßung der Strafhaft dem Sicherungsbedürfnis der<br />

Bevölkerung in dem einschlägigen Bereich Rechnung<br />

getragen, aber in den Folgen ist dies sehr unvollkommen<br />

geblieben, da der Verstoß gegen Weisungen wäh -<br />

rend der Führungsaufsicht lediglich ein neues Straf -<br />

verfahren auslöst, § 145 a StGB, ohne dass die Wei -<br />

sung selbst durchgesetzt würde.


Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 189<br />

Ein insbesondere in Bayern festzustellender Ruf in<br />

der Bevölkerung nach einem „Wegsperren“ überführter<br />

und verurteilter Sexualstraftäter nach Verbüßung<br />

der Strafhaft, um dem erwarteten oder zu erwartenden<br />

Rückfall vorzubeugen, hat sicherlich dazu beigetragen,<br />

dass auch die wissenschaftliche Diskussion und<br />

ein schlägige Rechtsprechung hier besonders intensiv<br />

und exemplarisch für die Bundesrepublik insgesamt<br />

ist (vgl. Bosinski et al. 2002). Eine Möglichkeit zur<br />

geschlossenen Unterbrin gung eröffnen die öffentlich<br />

rechtlichen Unterbrin gungsgesetze der Länder im Fal -<br />

le einer psychischen Erkrankung, die zu einer Gefähr -<br />

dung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führt.<br />

Nach Artikel 1 Abs. 1 des Bayerischen Unterbrin -<br />

gungsgesetzes kann in einem psychiatrischen Kran -<br />

kenhaus oder sonst in geeigneter Weise gegen oder<br />

ohne seinen Willen untergebracht werden, wer psychisch<br />

krank oder in Folge von Geistesschwäche oder<br />

Sucht psychisch gestört ist und dadurch im erheblichen<br />

Maße die öffentliche Sicherheit und Ordnung<br />

stört.<br />

Der Begriff der psychischen Krankheit im Sinne<br />

die ses Gesetzes erfasst alle Arten geistiger Abnor -<br />

mität, alle psychischen Abweichungen von der Norm,<br />

gleichgültig, welche Ursache sie haben oder wie sie<br />

zustande gekommen sind. Es muß nicht eine Geis -<br />

teskrankheit oder echte Psychose im medizinischen<br />

Sin ne vorliegen, vielmehr fallen unter den genannten<br />

Begriff auch die sog. Psychopathien, d.h. Störungen<br />

des Willens- Gefühls- und Trieblebens, welche die bei<br />

einem normalen geistig reifen Menschen vorhandenen,<br />

zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen<br />

und Gefühle beeinträchtigen, wenn sie nur einen die<br />

Freiheitsentziehung rechtfertigenden Schweregrad der<br />

Persönlickeitsstörung haben, wobei der Schweregrad<br />

dieser Störung Krankheitswert im Sinne des Gesetzes<br />

zukommen lässt. Ebenso muß die von psychisch<br />

Kran ken ausgehende Gefährdung von Rechtsgütern<br />

der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit<br />

entsprechen (vgl. BayObLG NJW 2000, 881).<br />

Zwar erkennt die Rechtsprechung an, dass bei der<br />

Beurteilung, ob der ermittelte medizinische Sachver -<br />

halt den gesetzlichen Begriff der psychischen Krank -<br />

heit ausfüllt, ob der Betroffene in Folge der Krankheit<br />

die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich ge -<br />

fährdet und ob seine zwangsweise Unterbringung deshalb<br />

erforderlich ist, der Richter nicht ohne die Dia -<br />

gnose des Sachverständigen auskommt und die psychiatrische<br />

Wissenschaft sich hierbei üblicherweise an<br />

einem Klassifikationssystem, überwiegend an dem<br />

von der WHO herausgegebenen ICD orientiert.<br />

Gleichwohl hat die Zuordnung des psychiatrischen<br />

Befunds zu einem medizinischen Krank -<br />

heitsbegriff für die Annahme einer Krankheit im juristischen<br />

Sinne keine Verbindlichkeit, sondern stellt<br />

lediglich einen wesentlichen Anhaltspunkt dar (vgl.<br />

BayObLG a.a.O mit weiteren Nachweisen).<br />

Der Vorwurf, dass mit einer derartigen teleologischen<br />

Auslegung und mit dem Rückgriff auf die<br />

Zwec ke des Unterbringungsrechts eine wissenschaftliche<br />

Grenzziehung zwischen Kriminalität und Krank -<br />

heit, zwischen Täter und Patient verhindert wird, liegt<br />

nahe. Mit Recht weist Nedopil (2000) auf die Frag -<br />

würdigkeit der Klassifikationssysteme zur Bestim -<br />

mung des Begriffs „Krankheit“ hin, insbesondere<br />

wenn von ihr wie im psychiatrischen Bereich nicht nur<br />

Ansprüche auf Versorgung und Hilfe, sondern auf<br />

zivilrechtliche Betreuungsmaßnahmen, Unterbringun -<br />

gen in geschlossenen Einrichtungen, Geschäftsunfä -<br />

hig keit und Schuldunfähigkeit abhängen. Eine Psy -<br />

chia trisierung von Kriminellen nährt nicht nur die Be -<br />

fürchtung, dass das Psychiatrische Krankenhaus wieder<br />

zur Verwahranstalt werden könnte, in welche die<br />

Allgemeinheit jene absondert, von denen sie sich belästigt<br />

oder bedroht fühlt, sie wird darüber hinaus zu<br />

einer Wiederbelebung alter Vorurteile gegenüber psychisch<br />

Kranken führen.<br />

Wie zuvor schon in Baden-Württemberg wird diesen<br />

Bedenken seit dem 1. 1. 2002 mit einer nach den<br />

Lan despolizeigesetzen nachträglich festgesetzten<br />

Sicherungsverwahrung Rechnung getragen, wogegen<br />

allerdings erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken<br />

bestehen. Dies hat dazu geführt, dass z. b. in Baden-<br />

Würt temberg eine rechtskräftige Unterbringungs an -<br />

ord nung noch in keinem Fall erfolgt ist (Ullenbruch<br />

2002). Die Diskussion kann sich jedoch in Zukunft<br />

auf die Altfälle beschränken, da der Bundestag mittlerweile<br />

am 7. 6. 2002 – vom Vermittlungsausschuss<br />

am 27. 6. 2002 bestätigt – den Gesetzentwurf BT-<br />

Dr.14/8586 – verabschiedet hat, der eine nachträgliche<br />

Anordnung der Sicherheitsverwahrung nur für den<br />

Fall vorsieht, dass ein entsprechender Vorbehalt<br />

bereits im Strafurteil erklärt wird. Diese bundesrechtliche<br />

Lösung ist verfassungsrechtlich unproblematisch,<br />

da sie im Gegensatz zu den landesrechtlichen<br />

Vorschriften nicht mit dem verfassungsrechtlichen<br />

Rückwirkungs-verbot gem. Art. 103 Abs. 2 GG kollidiert.<br />

Im Gegensatz zu dem dem Schuldprinzip verhafteten<br />

Strafrecht und dem Sicherungsbedürfnis rechnung<br />

tragenden Maßregelvollzugsrecht verfolgt das<br />

Betreuungsrecht fürsorgliche Gesichtspunkte, indem<br />

der betroffenen Person wegen einer der im Gesetz<br />

genannten psychischen Krankheiten oder einer auf<br />

einer geistigen oder seelischen Behinderung beruhenden<br />

Hilfebedürftigkeit ein Betreuer als gesetzlicher


190 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />

Vertreter mit bestimmten Aufgaben z. B. Vermö -<br />

genssorge, Gesundheitssorge und Aufenthaltsbe stim -<br />

mung bestellt wird (§ 1896 BGB).<br />

Das Aufenthaltsbestimmungsrecht umfasst sowohl<br />

die Aufenthaltssicherung als auch die Aufenthalts ver -<br />

änderung, wobei die Übertragung auf einen Betreuer<br />

dann in Betracht kommt, wenn der Betreute in diesem<br />

Bereich zu keiner eigenen Entscheidung fähig ist oder<br />

sich mit einer selbst getroffenen Entscheidung schädigen<br />

würde. Hierbei ist in der Regel die Verbindung mit<br />

der Gesundheitsfürsorge geboten, um z. B. die Ein -<br />

nahme der erforderlichen Medikamente sicher zu stellen,<br />

wobei erforderlichenfalls der Betreuer berechtigt<br />

ist, die geschlossene Unterbringung zu beantragen, die<br />

in einem weiteren Verfahren zu prüfen ist (vgl. z. B.<br />

Bay ObLG Fam RZ 2002 1247).<br />

Innerhalb seines Aufgabenbereichs hat der Be -<br />

treuer die Möglichkeiten zur Beseitigung, Linderung<br />

oder Verhütung der Krankheit oder Behinderung auszuschöpfen<br />

(Rehabilitationspflicht), § 1901 Abs. 4<br />

BGB. Folgerichtig kann eine Unterbringung auch nur<br />

zum Wohl des Betreuten durch den Betreuer zur<br />

Abwehr einer Selbstschädigung oder Selbstge fähr -<br />

dung erfolgen, § 1906 Abs. 1 Ziff. 1 BGB. Die Selbst -<br />

gefährdung muss ihre Ursache in der psychischen<br />

Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung<br />

haben.<br />

Im Gegensatz zu dem im öffentlich-rechtlichen<br />

Un ter bringungsrecht durch den Schweregrad be -<br />

stimmten Krankheitsbegriff ist für die Betreu er -<br />

bestellung die durch die Krankheit oder Behin de rung<br />

be wirkte Beeinträchtigung der Selbstbe stim mung<br />

maß gebend, die dazu führt, die eigenen Angele gen -<br />

heiten ganz oder teilweise nicht selbst zu besorgen<br />

oder besorgen lassen zu können (Bienwald 1999).<br />

Beschreibungen und Zuordnungen von Krankheits -<br />

bildern kommt hierbei ebenfalls nur der Wert von<br />

Anknüpfungspunkten zu. Die Betreuerbestellung<br />

zwecks Resozialisierung setzt zwar die Mitwirkungs -<br />

bereitschaft des Betreuten voraus, lässt jedoch bei der<br />

Gefahr einer Selbstschädigung, wozu eine Rückfalltat<br />

ohne weiteres gehören kann, eine Unterbringung<br />

durch aus zu. Eine Unterbringung zur Verhinderung<br />

einer Selbstschädigung in Folge psychischer Krank -<br />

heit setzt nämlich voraus, dass der Betreute aufgrund<br />

der Krankheit seinen Willen nicht frei bestimmen<br />

kann. Dies sagt das Gesetz zwar nicht ausdrücklich,<br />

der Sachverhalt ergibt sich aber aus einer verfassungskonformen<br />

Auslegung des Gesetzes (vgl. BayObLG<br />

FamRZ 1993, 600).<br />

Bullens (1999) hat nachdrücklich auf das erhebliche<br />

Maß der Verleugnung und Idealisierung des Miß -<br />

brauchs durch die Täter hingewiesen. Leidensdruck<br />

und Behandlungsmotivation seien oft gering und oberflächlich.<br />

Die Unterbringungsdrohung sei ein wichtiges<br />

Instrument zur Aufrechterhaltung des für die The -<br />

rapie notwendigen Leidensdrucks.<br />

Der in dem Betreuungsbeschluß genannte Aufga -<br />

ben kreis des Betreuers ermöglicht so, dem geäußerten<br />

Therapiewunsch Verbindlichkeit beizulegen und in<br />

Krisensituationen schnell einschreiten zu können.<br />

Schorsch (1989) hat darauf hingewiesen, daß<br />

Pädophilie weder generell schlecht noch generell gut<br />

sei. Pädophilie sei zunächst einmal nur eine der vielen<br />

Erscheinungsformen der Sexualität und bedeute nicht,<br />

daß dieses zunächst subjektive Phänomen automatisch<br />

Gegenstand medizinischer Behandlung, juristischer<br />

Kontrolle oder moralischer Bewertung werden müßte.<br />

Es gibt eine große Zahl pädophil veranlagter Men -<br />

schen, die in der Lage sind, ihre auf Kinder gerichtete<br />

Sexualität ausschließlich autoerotisch und im Rahmen<br />

von Fantasien auszuleben. Hierzu bedarf es jedoch<br />

einer reifen Persönlichkeitsstruktur mit einer guten<br />

Impulskontrolle.<br />

Beier (in: Beier et al. 2001, 350ff) unterteilt die<br />

Grup pe pädophiler Sexualdelinquenten differentialtypologisch<br />

in zwei Grup pen, bei welchen „der sexuelle<br />

Übergriff auf das Kind eine „Ersatzhandlung“ für die<br />

eigentlich ge wünschte sexuelle Beziehung zu einem<br />

altersentsprechenden Partner ist (etwa 35%) und zum<br />

anderen Täter, bei denen ein primäres (genuines) In -<br />

teresse am Kind als einem spezifischen sexuell-erotischen<br />

Sti mulus (besteht).“ Er nimmt bei der ersten<br />

Grup pe eine „pädophile Nebenströmung“, bei der<br />

zwei ten Gruppe eine „pädophile Hauptströmung“ an.<br />

Besonders problematisch sei die Kombination mit<br />

Dissozialität. Die Gruppe der pädophilen Täter ist also<br />

sehr heterogen.<br />

Vor dem Hintergrund des geschilderten Falles sehen<br />

wir insbesondere für die Gruppe der weniger schwer<br />

gestörten Sexualstraftäter z. B. mit pädophiler Neben -<br />

strömung ohne ausgeprägte Dissozialität eine Mög -<br />

lich keit zusätzlicher Hilfe durch die Einrichtung einer<br />

gesetzlichen Betreuung.<br />

Die meisten tiefenpsychologischen Konzepte ge -<br />

hen davon aus, dass bei frühen Störungen der Per -<br />

sönlichkeitsentwicklung wichtige seelische Struk -<br />

turen, die für die Konfliktbewältigung notwendig sind,<br />

nicht oder nur unzureichend angelegt werden. Solche<br />

Menschen können selbst bei geringfügigen Konflikten<br />

starke Ängste und Spannungen entwickeln, die sich<br />

dann in Aggression äußern oder sexualisiert werden.<br />

In der Sprache der Verhaltensmedizin könnte man<br />

sagen, dass grundlegende Konfliktbewältigungs stra -<br />

tegien nicht erlernt wurden und dass statt dessen inadäquates<br />

oder destruktives Verhalten gelernt wurde.


Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 191<br />

Im vorliegenden Fall konnten wir anhand der<br />

Schil derungen des Betroffenen und der umfangreichen<br />

fremd anamnestischen Daten eine ganze Reihe<br />

solcher Situationen herausarbeiten. Arbeitslosigkeit,<br />

wachsende Schulden und Isolation erzeugten ein ho -<br />

hes Maß an Unzufriedenheit. Der familiäre Hinter -<br />

grund und die katastrophale frühkindliche Situation<br />

machten das Ausmaß der Sozialisationsdefizite deutlich,<br />

die Ursa chen der geringen sozialen Kompetenz<br />

des Hr. V. wa ren unübersehbar.<br />

Der Betreuungsverlauf zeigte, dass die alltägliche<br />

Bewältigung finanzieller, beruflicher und privater Kri -<br />

sen zu einer deutlichen Reduktion von Impuls -<br />

handlungen führte. Nur aufgrund des Insistierens des<br />

Be treuers nahm Hr. V. eine Therapie auf. Durch regel -<br />

mäßige Verhaltenskontrolle, positive Verstärkung und<br />

in Krisensituationen zeitweilige Unterbringungs -<br />

drohung gelang es, Abbruchtendenzen entgegenzuwirken<br />

und so einen positiven Therapieverlauf psychosozial<br />

zu flankieren.<br />

Hr. V. hatte zunächst überhaupt keine Vorstellung,<br />

wie er mit seinen pädophilen Strebungen umgehen<br />

soll te, diese Triebwünsche wirkten abgespalten, un -<br />

kon trollierbar und erschienen ihm wie ein Fremd kör -<br />

per. Erst im Verlauf der Therapie gelang es ihm, sich<br />

sei ner auf Kinder gerichteten sexuellen Wünsche be -<br />

wußter zu werden, was überhaupt erst die Basis für die<br />

weitere Behandlung legte. Die regelmäßige The rapie<br />

er möglichte es ihm, sozial verträglichere Verhal tens -<br />

weisen im Sinne einer Vermeidung potenziell se xu -<br />

eller Situationen oder regelmäßiger autoerotischer<br />

Span nungsreduktion zu erlernen.Die Betreuung wurde<br />

sozusagen zu einem äußeren Korsett für ein schwaches<br />

und brüchiges Ich und ermöglichte durch konkrete<br />

Anleitung wichtige Entwicklungsschritte, die Hr.<br />

V. ohne diese Hilfe von sich aus wahrscheinlich nicht<br />

getan hätte.<br />

Wir sind uns darüber im Klaren, dass dieser bislang<br />

positive Verlauf nicht in jedem Fall erreichbar<br />

sein wird. Ohne die grundsätzliche Einsicht des Be -<br />

troffenen und seine Bereitschaft, die Betreuung als zu -<br />

sätzliche Unterstützung zu akzeptieren, wäre dieser<br />

Ver lauf wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Ins -<br />

besondere für schwerer gestörte Personen mit starkem<br />

Aggressionspotenzial und geringer Koope ra tions be -<br />

reitschaft ist dieses Modell ungeeignet, da dieser Per -<br />

sonenkreis eher gegen die Betreuung agieren wird.<br />

Es wird daher die Aufgabe des ärztlichen Sach -<br />

verständigen und des Gerichts sein, die Betroffenen<br />

nicht nur defizitorientiert, sondern auch auf mögliche<br />

Entwicklungspotenziale hin zu betrachten. In jedem<br />

Fall ist es lohnend, vor einer Haftentlassung die Be -<br />

treu ungseinrichtung als flankierende Resozialisie -<br />

rungs maßnahme in Betracht zu ziehen.<br />

<strong>Literatur</strong>:<br />

„Schärferer Kampf gegen Sexualstraftäter“, Leitartikel der<br />

Welt am Sonntag vom 20. 5. 2001.<br />

Beier, K. M.; Bosinski, H. A. G.; Hartmann, U.; Loewit, K.<br />

(2001): Sexualmedizin. Grundlagen und Praxis. München:<br />

Urban & Fischer-Verlag.<br />

Bienwald (1999): In: J. v. Staudingers Kommentar zum Bür -<br />

gerlichen Gesetzbuch, Buch 4. Familienrecht, 13. Auflage,<br />

Sellier-de Gruyter, Berlin.<br />

Boerner, R. J. et. al. (2001): Aufmerksamkeitsdefizit- / Hy -<br />

peraktivitätsstörung des Erwachsenenalters (ADHD), Al -<br />

ko holabhängigkeit sowie kombinierte Persönlichkeits-stö -<br />

rung, Nervenheilkunde 20: 403-7.<br />

Bosinski, H. A.G. ; Ponseti, J.; Sakewitz, F. (2002): Therapie<br />

von Se xu al straftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingun -<br />

gen, Möglich kei ten und Grenzen. Sexuologie 9 (1): 39ff.<br />

Bullens (1999): Der Täter ist ein netter Mensch, In: KiZ –<br />

Kind im Zentrum im EJF – Evangelisches Jugend – und<br />

Fürsorgewerk: Wege aus dem Labyrinth. Berlin, Im Eigen -<br />

verlag.<br />

Dannecker (2001): Sexueller Miss brauch und Pädosexualität.<br />

In: V. Sigusch (Hrsg.): Sexuelle Störungen und ihre Be -<br />

handlung, 3. Aufl., 2001, Thieme-Verlag, Stuttgart: 472.<br />

Egg, R. (2000): Rückfall nach Sexualstraftaten, Sexuologie 7<br />

(1) 12-26.<br />

Hirsch (1999): Realer Inzest: Psychodynamik des sexuellen<br />

Mißbrauchs in der Familie, Psychosozial-Verlag Gießen<br />

Lautmann, R. (1994): Die Lust am Kind. Portrait des Pädo -<br />

philen. Hamburg: Klein-Verlag.<br />

Nedopil, N. (2000): Grenzziehung zwischen Patient und<br />

Straf täter, NJW 12: 837-840.<br />

Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2000.<br />

Singer-Kaplan (2000): Sexualtherapie bei Störungen des se -<br />

xu ellen Verlangens. Stuttgart: Thieme-Verlag,<br />

Ullenbruch, Th. (2002): Nachträgliche Sicherungsverwah -<br />

rung – Fragen über Fragen, Neue Zeitschrift für Strafrecht:<br />

466.<br />

Wetzels, P. (1997): Prävalenz und familiäre Hintergründe se -<br />

xuellen Kindesmißbrauchs in Deutschland: Ergebnisse<br />

einer repräsentativen Befragung, Sexuologie 4 (2): 89-107.<br />

Adresse der Autoren<br />

Dr. med. Guido Loyen, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Eigelstein 103-113, 50668 Köln,<br />

mail: dr.loyen@gmx.de<br />

Dr. jur. Wolfgang Raack, Familien- und Vormundschaftsrichter, Direktor des Amtsgerichts Kerpen, Amtsgericht Kerpen, Nordring 2-8, 50151 Kerpen,<br />

mail: verwaltung@ag-Kerpen.nrw.de


••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />

Interview mit Prof. Porst<br />

Sie gelten in Deutschland als einer der Experten in Sachen<br />

erektile Dysfunktion. Haben Sie durchschnittlich mehr ED-<br />

Patienten als andere Urologen?<br />

Meine Praxis ist hochspezialisiert auf dieses Krankheitsbild: 80 Prozent meiner<br />

Patienten haben Sexualstörungen, insbesondere Potenzstörungen.<br />

Haben Sie ein durchschnittliches Patientengut hinsichtlich der<br />

Ursachen der ED in Ihrer Praxis oder kommen eher die schweren<br />

Fälle zu Ihnen?<br />

Ich glaube, dass die Praxis eher den Durchschnittspatienten in Deutschland<br />

reflektiert, da rund die Hälfte der Patienten direkt ohne Überweisung zu mir<br />

kommt. Ich sehe sehr viele Patienten noch ohne Vorbehandlung, teilweise<br />

natürlich auch schwerere Fälle, die vom Urologen überwiesen werden. Ins -<br />

gesamt kommen aber ED-Patienten zu mir, die sonst auch zu anderen<br />

Urologen gehen würden.<br />

Was halten Sie von der Partnerberatung? Bevorzugen Sie es,<br />

wenn die Partnerin Ihre Patienten bei den Bespre chungsbzw.<br />

Untersuchungsterminen begleitet?<br />

Ich halte es für wünschenswert und habe die Partnerin sehr gern dabei. In der<br />

Praxis ist es allerdings nur in etwa zehn Prozent der Fall, oft geht das aus<br />

organisatorischen Gründen nicht. Wenn Partnerschaftskonflikte in der<br />

Anamnese offenbar werden, bestelle ich grundsätzlich die Partnerin mit ein.<br />

Allerdings kann der Arzt eine ganze Menge mit dem Mann allein klären, denn<br />

über 80 Prozent der Männer, die zu mir kommen, haben das Problem in<br />

extenso vorher mit ihrer Partnerin besprochen. Die Partnerinnen wissen in der<br />

Regel, dass der Mann bei mir ist.<br />

Welchen Eindruck haben Sie von der „Offenheit“ der Pa tien -<br />

ten? Fällt es den Patienten heute bereits leichter über ED zu<br />

sprechen als noch vor vier Jahren?<br />

In der Offenheit hat sich nicht allzu viel geändert, generell ist das Thema noch<br />

weitgehend tabuisiert. In dieser Hinsicht ist meine Praxis allerdings nicht repräsentativ,<br />

da die Patienten mit einer anderen Einstellung in meine „Spe -<br />

zialitätenpraxis“ kommen. Es hat sich dahingehend etwas geändert, dass die<br />

Patienten nicht mehr so lange warten – früher oft drei bis fünf Jahre bis sie<br />

sich einem Arzt offenbarten. Da sie heute wissen, dass leicht anwendbare<br />

Substanzen verfügbar sind, kommen einige schon nach drei Monaten, um<br />

einen ärztlichen Rat einholen. Der Zeitraum bis zum Ent schluss, ärztliche Hilfe<br />

anzunehmen, verkürzt sich zunehmend.<br />

Welche Wege der Enttabuisierung halten Sie für richtig und<br />

hilfreich?<br />

Meiner Ansicht nach muss noch viel Aufklärungsarbeit bei den Frauen geleistet<br />

werden. Hier gibt es viele Ressentiments: Das stärkste davon ist sicherlich,<br />

dass die Penisse der Männer immer „funktionieren“ müssen. Viele Frauen<br />

haben noch im Kopf, dass eine Potenzstörung beim Mann ein Angriff auf die<br />

eigene sexuelle Anziehungskraft ist, was natürlich nicht der Fall ist. Sie fühlen<br />

sich oft beleidigt, wenn „er“ nicht mehr funktioniert, verdächtigen, dass es im<br />

Hintergrund eine zweite Person gibt. Die Frauen sollten lernen, dass das nicht<br />

so ist und überwiegend organische Störungen zugrunde liegen. Hier müssen<br />

wir noch viel Aufklärungsarbeit leisten.<br />

Wie schätzen Sie die Rolle der Gynäkolgen bei dem Thema ED<br />

ein?<br />

Die Gynäkologen sind in einer zwiespältigen Situation, denn sie werden durch<br />

ihre Patientinnen mit den sexuellen Nöten der Männer konfrontiert, können<br />

aber auf Grund Ihrer Ausbildung natürlich nur die Frauen behandeln. Dabei<br />

beschränkt sich die überwiegende Mehrzahl der Gynäkologen auf die reine<br />

Krebsvorsorge-Unter su -<br />

chung und fahndet nicht<br />

nach eventuell vorhandenen<br />

sexuellen Problemen<br />

bzw. geht auf diese ein, so -<br />

fern sie von den Frauen di -<br />

rekt geäussert werden. Wir<br />

wis sen, dass etwa 40 Pro -<br />

zent der Frauen von potenzgestörten<br />

Männern selbst<br />

erhebliche Sexualstörungen<br />

ha ben. Bei der „wiedererwachten“<br />

Sexualität ihres<br />

Man nes werden sie mit der<br />

ei genen „Unzulänglichkeit“<br />

konfrontiert und bleiben Prof. Hartmut Porst<br />

dann oft auf der Strecke.<br />

Hier ist noch viel Kooperation zwischen den Fachgruppen erforderlich. Ins -<br />

gesamt ist das gesamte Gebiet der Sexualforschung und Behandlung sexueller<br />

Störungen ein Stiefkind in den deutschen Universitäten, sowohl bei den<br />

Urologen wie bei den Gynäkologen.<br />

Welche Ansatzpunkte in der Ausbildung sehen Sie hier?<br />

Meines Erachtens gehört in beiden Fachbereichen, Urologie wie auch Gyn -<br />

äkologie, die moderne Sexualmedizin dazu. Dazu zählen nicht nur die Be ra -<br />

tungsmedizin, sondern auch die therapeutischen Möglichkeiten auf diesem<br />

Ge biet wie Arzneitherapie und operative Therapien. Davon erfährt der Me -<br />

dizinstudent in der Regel nichts.<br />

Wie viele Erstverwender von PDE-5-Inhibitoren bleiben bei<br />

der Medikation?<br />

Nach zwei Jahren Anwendung bleiben nur etwa 50-60 Prozent derjenigen<br />

dabei, die auf PDE5-Inhibitoren reagieren. Das Aussteigen hängt oft damit<br />

zusammen, dass die Patienten nach der ersten Verordnung nicht mehr weiter<br />

betreut werden. Wenn die Patienten regelmäßig weiter bestellt werden, auch<br />

mit der Partnerin gesprochen wird, sieht es etwas besser aus. Der momentan<br />

verfügbare PDE5-Hemmer hat sicherlich auch Schwächen, die künftig in<br />

anderen Präparaten ausgeglichen werden. Insgesamt ist mehr Motivation<br />

durch die Ärzte nötig.<br />

Welches sind Ihrer Meinung nach die entscheidenden Vorteile<br />

von Tadalafil?<br />

Ich kenne die Substanz sehr gut, da ich über dreihundert Studien-Patienten in<br />

den letzten Jahren damit behandelt habe. Der entscheidende Vorteil ist, dass<br />

der Patient und vor allem das Paar nicht mehr planen muss. Die Substanz<br />

wirkt, wie wir mittlerweile wissen, über ein bis zwei Tage. So kann Sex wieder<br />

so stattfinden, wie es früher üblich war, nämlich wenn man Lust aufeinander<br />

hat. Ein weiterer Vorteil ist natürlich auch, dass das Neben wir kungs -<br />

profil sehr gut ist. Das Wirkprofil ist vergleichbar mit Sildenafil.<br />

Welche Anforderungen würden Sie an eine ED-Therapie stellen,<br />

die bislang noch in keinem Medikament verwirklicht<br />

sind?<br />

Der ideale Weg wäre, dass Patienten mit ED „Aufbauspritzen“ mit gentechnisch<br />

hergestellten Substanzen bekommen, die drei bis vier Monate die<br />

Schwellkörperfunktion aufrechterhalten. Obwohl dies in der Gentechnologie<br />

im Tierversuch bereits erfolgreich durchgeführt werden kann, werden diese<br />

möglichen Therapien nicht in den nächsten fünf bis acht Jahren kommen, dies<br />

ist zur Zeit noch Zukunftsmusik. Derzeit hat Tadalafil bereits einen Durchbruch<br />

geschaffen, weil es Neuerungen in der ED-Therapie bringt. Insbesondere kommen<br />

die Paare weg von der „Planerei“, was der Idealvorstellung einer modernen<br />

ED-Behandlung doch sehr nahe kommt.<br />

I<br />

Nach Selbstangaben der Industrie


Aktuelles<br />

Anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Piet Nijs<br />

wurden die folgenden Grußworte überbracht von<br />

Frau Prof. Dr. Dr. M. Neises und Herrn Prof. Dr. P.<br />

Petersen im Na men der Deut schen Gesellschaft<br />

für Psycho so matische Frauen heil kun de und Ge -<br />

burtshilfe, DGPFG e.V.:<br />

Prof. Nijs’ Wirken als Professor für Psychiatrie<br />

und Psy chosomatik und Sexualwissenschaftler<br />

strahl te weit über Europa hinaus. Er hat der Gyn ä -<br />

ko logischen Psy chosomatik und der Sexualwis -<br />

sen schaft zusammen mit seinen Kolle gen in Eu -<br />

ropa zu hohem Ansehen innerhalb der Medizin,<br />

da rüber hinaus auch in den Kulturwissenschaften<br />

und vor allem im gesellschaftlichen Leben Bel -<br />

giens verholfen. Als Direktor des In stituts für Eheund<br />

Sexualwissenschaften der Katho lischen Uni -<br />

versität Leuven, als Gründer und Leiter der Ab tei -<br />

lung für Gynäkologische Psychosomatik und als<br />

Grün der und Leiter der Abteilung Sexualtherapie<br />

an der Universitätsklinik Leuven formte er über<br />

meh rere Jahr zehnte ein hochqualifiziertes, inter -<br />

dis ziplinäres Team, dessen praktische und wissenschaftliche<br />

Arbeit weitreichende Wirkung hatte.<br />

Als Autor veröffentlichte Prof. Nijs mehr als 500<br />

Publikationen, darunter 25 Bücher in niederländischer,<br />

französischer, englischer und deutscher<br />

Spra che. Er wirkte als Mitbegründer und Redak -<br />

teur zahlreicher wissenschaftlicher Zeit schriften<br />

(wie European Federation of Sexuology; Eu ro pean<br />

Society of Dance Therapy; Leuvensche Cahier vor<br />

Seksuologe; Journal of Psychosomatics and Gyn e -<br />

co logy) und als Mitglied europäischer und amerikanischer<br />

Fachge sellschaften.<br />

Sein Engagement galt der patientenorientierten<br />

Me dizin, „tender loving care“ in der Arzt-Patient-<br />

Be zie hung ist sein leitendes Motto gewesen. We -<br />

sent liche Arbeitsfelder sind Familienplanung (das<br />

Wort von der „kontrazeptiven Revolution“ stammt<br />

von ihm), Repro duktionsmedizin, Partnertherapie<br />

und Sexual the rapie. Auf diesen Gebieten hat er<br />

Sexuologie<br />

grund legende Arbeiten geschrieben. Seine Inten -<br />

tion ist dabei die kulturanthropologische Vertie -<br />

fung und Er wei terung dieser Gebiete; die Integra -<br />

tion einer mechanistisch vorgehenden Medizin in<br />

ein ganzheitlich ausgerichtetes Gebäude der Heil -<br />

kunde ist sein Herzensanliegen. Eine prak tische<br />

Folge dieses Konzeptes: An der Uni ver sitäts frau -<br />

en klinik Leuven lag die Geburtenrate nach Invi -<br />

trofertilisation etwa doppelt so hoch wie sonst im<br />

europäischen Durchschnitt – warum? Hier ließen<br />

sich Paare vor dem medizinischen Eingriff auf eine<br />

qua lifizierte Beratung durch kompetente sexual -<br />

thera peutische Berater/Thera peuten ein.<br />

Seine hohe wissenschaftliche und therapeutische<br />

Kom petenz paarte sich bei Prof. Nijs mit<br />

äußers ter Be scheidenheit – wie es dem guten Arzt<br />

und Therapeuten schon immer zur Ehre gereicht.<br />

Er war ein Glücksfall für die europäische Heilkun -<br />

de. Wenn es zukünftig weiter solche Glücksfälle in<br />

der Heilkunde gibt, so wäre es gut um die Medizin<br />

bestellt. Wir wünschen Herrn Prof. Nijs auch weiter<br />

ein fruchtbares Wirken.<br />

Sexuologie 9 (4) 2002 193 – 194 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie


194 Buchbesprechung<br />

B. Gromus: Sexualstörungen der Frau. Göttingen: Ho grefe,<br />

Verlag für Psychologie 2002, 119 Seiten, Preis: € 20,35<br />

Zur Thematik der weiblichen Sexualstörungen, die in den<br />

letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund drängt, hat<br />

Beatrix Gro mus ein „Manual für die Praxis“ zur Verfügung<br />

gestellt. Mit der In ten tion, Frauen zu dem ihnen zustehenden<br />

erfüllten Sexu alleben zu verhelfen, hat die Autorin ein<br />

Buch vorgelegt, um The ra peuten grundlegende Infor ma tio -<br />

nen zur Beratung und The rapie von weiblichen Sexual -<br />

störungen zu vermitteln, wobei auch den betroffenen<br />

Frauen Hilfe angeboten werden soll, „um die eigene Symp -<br />

tomatik besser verstehen und einordnen zu können“. Ihr<br />

An liegen hat die Autorin meines Erachtens insgesamt<br />

erfüllt.<br />

Auf 119 Seiten vermittelt sie einen knappen, aber vielaspektigen<br />

Überblick über weibliche Sexualstörungen und<br />

ihre Be handlung mit praxisorientierten Anregungen, die die<br />

breite Er fahrung der Autorin in diesem Bereich widerspiegeln.<br />

Nach einer Beschreibung der einzelnen Störungs -<br />

bilder entsprechend ICD-10 und DSM-IV mit epidemiologischen<br />

und prognostischen An gaben, behandelt sie differentialdiagnostische<br />

Aspekte und biologische Grundlagen.<br />

Wert legt sie auf die Vermittlung von charakteristischen<br />

Merkmalen des weiblichen sexuellen Erlebens und Ver hal -<br />

tens und beschreibt die sexuelle Sozialisation der Frau mit<br />

den Veränderungen und Merkmalen der verschiedenen Le -<br />

bens abschnitte bis in das späte Erwachsenenalter. Bei der<br />

nun folgenden Darstellung der Störungstheorien betont sie<br />

die kognitiv-behavioralen Modellvorstellungen mit prädisponierenden<br />

Fakto ren, auslösenden und aufrechterhaltenden<br />

Bedingungen. In Kap. 3 stellt sie diagnostisches Vorge -<br />

hen und Therapieplanung ausführlich dar und gibt dem An -<br />

fän ger Fragenlisten vor (auch als beigefügte Handkarten)<br />

zur Durchführung einer umfassenden Exploration. Fast die<br />

gesamte zweite Hälfte des Buches (Kap. 4 und 5) ist der<br />

Beratung und Therapie weiblicher Sexualstörungen gewidmet.<br />

Bei der Beratung geht die Autorin auf die sexuelle<br />

Situation der Frau in den verschiedenen Lebensphasen ein,<br />

wobei sie pragmatisch die unterschiedlichen Problempunk -<br />

te mit Lö sungs angeboten abhandelt. Auch körperliche und<br />

psychische Erkrankungen mit ihrem Einfluss auf die Sexu -<br />

alität werden mit Beratungsaspekten dargestellt. Bei der<br />

The rapie weiblicher Se xualstörungen wird das bewährte<br />

kon ventionelle Konzept der Paartherapie, auf der Grundla -<br />

ge von Masters & Johnson/modifiziert durch Arentewicz &<br />

Schmidt, mit den verschiedenen Ele menten und Übungen<br />

breiter vorgestellt. Dabei geht die Autorin auch auf die Be -<br />

handlungsmodifikationen bei entsprechenden Stö rungsbil -<br />

dern ein. Den Abschluß bildet eine kurze Aus ein an der set -<br />

zung mit den derzeit noch in der Entwicklung befindlichen<br />

somatischen Therapieoptionen für die Frau, wobei die Au -<br />

torin die sog. Medikalisierung der weiblichen Sexualität als<br />

po tentielle Gefahr für das Verständnis des weiblichen Sexu -<br />

al er lebens kritisch beurteilt.<br />

Das vorgelegte Manual stellt meines Erachtens eine<br />

hilfreiche Einführung und erste Anleitung für den sexual -<br />

therapeutisch in teressierten Anfänger dar, indem die Auto -<br />

rin eine Vielzahl von we sentlichen Aspekten zu der umfassenden<br />

und komplexen Thematik weiblicher Sexual stö run -<br />

gen vorstellt. Der künftige Käu fer muss allerdings wissen,<br />

dass viele der geschilderten Themen nur kurz und knapp<br />

abgehandelt werden, als ein erster einführender Überblick.<br />

So schreckt zumindest, trotz der The men vielfalt, der Um -<br />

fang des Buches nicht.<br />

Der Käufer sollte des weiteren wissen, dass die Autorin<br />

weitgehend auf die schon langjährig bekannten, wichtigsten<br />

Standardwerke zur Behandlung sexueller Störungen rekurriert.<br />

Nun sind gerade die weiblichen Patienten und ihre<br />

Sexual pro bleme in den letzten zwei Jahrzehnten viel komplizierter<br />

geworden, betrachtet man sie mit dem heute deutlich<br />

differenzierteren diagnostischen Blick. Die altbewährten<br />

Therapiemaßnahmen sto ßen in vielen Fällen an unüberwindliche<br />

Grenzen, trotz unterstützender Einbindung der –<br />

von der Autorin allerdings kritisierten, m.E. unverzichtbaren<br />

– psychodynamischen Interventions maß nahmen. Not -<br />

ge drungen steuert die Sexualtherapie auf In novationen zu,<br />

eine Diskussion, die in dem vorliegenden Buch kaum an -<br />

klingt. Die deutliche Abwehr z.B. möglicher künftiger so -<br />

ma tischer Behandlungsoptionen sollte doch mehr Offenheit<br />

Platz machen, um den Frauen den Zugang zu potentieller<br />

so matischer Hilfe nicht zu verschließen – selbstverständlich<br />

mit der notwendigen kritischen Aufmerksamkeit und<br />

Distanz. Auch der Einsatz der konventionellen sexualtherapeutischen<br />

Verfahren, ein schließlich der Interventionsviel -<br />

falt einer Reihe weiterer The rapieschulen, zeigt sich inzwischen<br />

zunehmend begrenzt, z.B. bei der Behandlung der<br />

über die gestörte Funktion hinausgehenden Appetenzpro -<br />

ble me.<br />

Hier hätte man sich, mit einem kritischen Blick auf die<br />

Gren zen der bisherigen Behandlungsverfahren, weitere In -<br />

for ma tionen gewünscht zu den jüngsten Überlegungen und<br />

therapeutischen Ansatzpunkten, wie sie z.B. von David<br />

Schnarch entwickelt und eingebracht wurden.<br />

Ein großer Vorzug des vorliegenden Bandes ist seine<br />

Über sichtlichkeit und Strukturiertheit. Der gesamte Text ist<br />

inhaltlich klar gegliedert, und seitliche Überschriften geben<br />

den Inhalt des jeweiligen Absatzes oder Abschnittes schlagwortartig<br />

und präzise wieder. Diese inhaltliche Strukturie -<br />

rungshilfe, verbunden mit Übersichtstabellen, Zusammen -<br />

fassungen und optischen Hervor hebungen, macht den Text<br />

lesefreundlich und eingängig.<br />

Insgesamt eine hilfreiche Einführung und erste, pragmatische<br />

Anleitung für den künftigen Sexualberater und<br />

Sexualthera peu ten, die hoffentlich neugierig macht, sich<br />

wei ter in die Thematik zu vertiefen, um die vielseitigen Fa -<br />

cetten und psychodynamischen Zusammenhänge weiblicher<br />

Sexualität und ihrer Störun gen intensiver zu ergründen<br />

und verändern zu können.<br />

K. Heiser (Hannover)


••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />

Therapie der Erektilen Dysfunktion<br />

Markteinführung des PDE5-Hemmers<br />

Cialis TM von Lilly<br />

Bad Homburg. Ab dem 3. Februar 2003 wird der neue Phos -<br />

phodiesterase5-Inhibitor Cialis TM (Tadalafil) von Lilly ICOS zur<br />

Behandlung der Erektilen Dysfunktion (ED) auf dem deutschen<br />

Markt erhältlich sein. Dies teilte das Unternehmen auf<br />

einer Pressekonferenz am 30. Januar 2003 in Frankfurt mit.<br />

Cialis TM zeichnet sich gegenüber den anderen Arzneimitteln<br />

zur ED-Therapie durch ein erheblich längeres Wirkzeitfenster<br />

aus: Die Wirkung ist bis zu 24 Stunden gewährleistet. Cialis<br />

befähigte einige Patienten, bereits nach 16 Minuten, eine<br />

Erektion zu bekommen. Dadurch wird den Anwendern er -<br />

möglicht, innerhalb dieses Wirkzeitfensters Sex wieder spontan<br />

zu erleben. Ein weiterer Vorteil des neuen Arzneimittels<br />

ist, dass die Wirkung nicht durch die Nahrungs- und Alko -<br />

holaufnahme beeinträchtigt wird.<br />

Mit der Indikation Erektile Dysfunktion wird Lilly seine Kom pe -<br />

tenz in der Urologie weiter ausbauen, wie Katrin Blank, Pres se -<br />

sprecherin des Unternehmens, Bad Homburg ausführte. Da rüber<br />

hinaus ist das 1996 eingeführte Nukleosidanalogum Gem zar ®<br />

seit einem Jahr auch zur Behandlung des Harn bla sen krebses zu -<br />

gelassen und bereits als Standardtherapie anerkannt. An Dulo -<br />

xetin, einem Medikament zur Behandlung der Stress harn in kon -<br />

tinenz in der späten klinischen Entwicklung, knüpfen sich weitere<br />

Erwartungen auf urologischem Gebiet. Gleichzeitig sieht<br />

Blank die Erektile Dysfunktion als ideale Ergänzung zum Portfolio<br />

der Diabetes- und KHK-Präparate von Lilly. „Diese Erkrankungen<br />

sind bei einer Mehrzahl der Patienten für Erektionsstörungen<br />

verantwortlich, so dass hier Synergien und Kompetenz im Unter -<br />

nehmen genutzt werden können“, so die Pressesprecherin.<br />

Professor Hartmut Porst, ED-Spezialist und Studienleiter deutscher<br />

Studien aus Hamburg, unterstrich die Neuartigkeit des<br />

Moleküls. „Bei Tadalafil handelt es sich um eine grundlegend an -<br />

dere Struktur als bei anderen Phosphodiesterase5-Hemmern“,<br />

so Porst. Die unterschiedliche Pharmakokinetik des Wirkstoffs<br />

liegt hierin begündet. Mit einer Halbwertszeit von 17,5 Stunden<br />

hält die erektionsfördernde Wirkung von Tadalafil bis zu 24 Stun -<br />

den an, nach Porst Studienerfahrung bei manchen Männern<br />

auch länger. In der Dosierung von 20 mg erwies sich Tadalafil als<br />

effektiv: „75 Prozent aller Paare konnten den Koitus erfolgreich<br />

zu Ende führen“, wie Porst berichtet. „Mit Cialis wird eine neue<br />

Ära in der Behandlung der erektilen Dysfunktion eingeläutet,<br />

denn es ermöglicht den Betroffenen einen zeitlichen Freiraum<br />

für sexuelle Aktivitäten und kommt so den Bedürfnissen der<br />

Men schen entgegen,“ fasst Porst seine bisherigen Erfahrungen<br />

zusammen.<br />

gingen mit fortgesetzter Behandlungsdauer zurück“, so Man -<br />

ning. Ein besonderes Augenmerk lag in den Studien auf be -<br />

stimm ten Patientengruppen wie den Diabetikern oder Pa tienten<br />

mit multipler antihypertensiver Medikation. Interaktions studien<br />

zeig ten hier, dass auch in diesen Gruppen keine Ein schrän kun -<br />

gen für die Therapie mit Cialis bestehen.<br />

Auf die Besonderheiten von Herz-Patienten in der Therapie mit<br />

Cialis ging Prof. Eckhart Peter Kromer, Kardiologe und Ärztlicher<br />

Direktor im Klinikum Stadt Hanau, besonders ein und wies darauf<br />

hin, dass die Patienten im Vorfeld einer Verordnung von<br />

PDE5-Hemmern auf ihr kardiales Risiko abgeklärt werden sollten.<br />

Eine strenge Kontraindikation bestehe während der Cialis-<br />

Therapie für Nitrate – ebenso wie bei der Einnahme von anderen<br />

PDE5-Inhibitoren. „Allerdings kommt den Nitraten langfristig<br />

kein prognostischer Effekt zu. Sie sind aus kardiologischer Sicht<br />

in der Regel als unnötig als zu betrachten“, so Kromer. Vielmehr<br />

gäbe es andere therapeutische Optionen wie bespielsweise<br />

ACE-und CSE-Hemmer, die sowohl prognostisch besser als auch<br />

für die Einnahme von Tadalafil unproblematisch seien. Dennoch<br />

empfiehlt Kromer wegen der potenziellen Gefährdung durch<br />

einen Blutdruckabfall, die Männer ausdrücklich vor der gleichzeitigen<br />

Einnahme von Cialis und Nitraten zu warnen.<br />

Dr. Udo Bermes, niedergelassener Urologe aus Wiesbaden,<br />

nahm als Prüfarzt an den klinischen Studien mit Tadalafil teil. Für<br />

die betroffenen Patienten sei die Frage nach dem Sexualleben<br />

oft wie ein „Sesam öffne Dich“ und damit Grundlage einer positiven<br />

Arzt-Patientenbeziehung. Die ED-Behandlung mit Cialis er -<br />

möglicht seiner Meinung nach zukünftig eine verbesserte Pa -<br />

tientenbetreuung in der Praxis. Die Studienteilnehmer beurteilten<br />

vor allem das breite Wirkzeitfenster von Tadalafil als wichtig für<br />

eine harmonische Sexualität und damit für ihre Paarbeziehung.<br />

„Die Befreiung von psychischem und zeitlichem Druck steht da -<br />

bei für die Betroffenen im Vordergrund“, berichtet Bermes von<br />

seinen Erfahrungen.<br />

Cialis wird in zwei Dosierungen erhältlich sein: die N1-Packung<br />

Cialis TM in der 10mg Dosierung (PZN 36393; 47,99 €) enthält vier<br />

Tabletten. Die N1-Packungen in der 20mg-Dosierung enthalten<br />

4 Tabletten oder 8 Tabletten (PZN 46298; 47,99 € / PZN 46299;<br />

90,28 €).<br />

Die Verträglichkeit von Tadalafil konnte in Studien an über 4000<br />

Patienten nachgewiesen werden. PD Dr. Martina Manning vom<br />

Lilly Medical Department berichtet über Kopfschmerzen und<br />

Dys pepsie, die mit 14 bzw. 10 Prozent als häufigste Neben -<br />

wirkung in den Studien beobachtet wurden. „In der Regel waren<br />

die unerwünschten Wirkungen leicht bis mäßig ausgeprägt und<br />

Nach Selbstangaben der Industrie<br />

II


INHALTSVERZEICHNIS <strong>SEXUOLOGIE</strong> BD IX (2002)<br />

CONTENTS <strong>SEXUOLOGIE</strong> VOLUME IX (2002)<br />

Orginalarbeiten<br />

Basson, R.: Neubewertung der weiblichen sexuellen Re ak tion<br />

23<br />

Basson, R.: Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil<br />

bei Frauen mit sexueller Dysfunktion im Zu sammenhang mit<br />

einer Störung der sexuellen Erreg barkeit 116<br />

Beier, K. M.; Goecker, D.;Babinsky, S.; Ahlers, Ch. J.: Sexualität<br />

und Partnerschaft bei Multipler Sklerose – Ergebnisse einer<br />

empirischen Studie bei Betroffenen und ihren Partnern 4<br />

Hartmann, U.; Niccolosi, A.; Glasser, D. B.; Gingell, C.; Buvat,<br />

J.; Moreira, E.; Lauman, E.: Sexualität in der Arzt-Patient-<br />

Kom munikation. Ergebnisse der „Globalen Studie zu sexuellen<br />

Einstellungen u. Verhaltensweisen“ 50<br />

Krüger, T. H.C.; Haake, Ph.; Exton M. S.; Schedlowski, M.;<br />

Hartmann U.: Orgasmusinduzierte Prolaktinsekre tion: Feed -<br />

back-Mechanismus für sexuelle Appetenz oder ein reproduktiver<br />

Reflex? 30<br />

Lundberg, P. O.: Die periphere Innervation der weiblichen<br />

Genitalorgane 98<br />

Neises, M.: Sexualität und Menopause 160<br />

Philippsohn, S.; Heiser, K.; Hartmann, U.: Sexuelle Befrie di -<br />

gung und Sexualmythen bei Frauen: Ergebnisse einer Fra -<br />

gebogen untersuchung zu den Determinanten sexueller Zu frie -<br />

denheit 148<br />

Rauchfuß, M.; Altrogge, C.: Paarbeziehung und Schwan -<br />

gerschaftsverlauf 61<br />

Zaviacic, M.: Die weibliche Prostata. Orthologie, Patholo gie, Se -<br />

xu ologie und forensisch-sexuologische Implika tionen 107<br />

Zieren, J., Beyersdorff, D.; Beier, K. M.; Müller, J. M.: Sexualität<br />

und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienre -<br />

paration mit Kunststoffnetz 155<br />

Wille, R.: Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutsch -<br />

land. Analyse der HIV-Statistiken 170<br />

Fortbildung<br />

Bosinski, H. A.G. ; Ponseti, J.; Sakewitz, F.: Therapie von Se xu -<br />

al straftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen,<br />

Möglich kei ten und Grenzen 39<br />

Dmoch, W.: (Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe<br />

in therapeutischen Situationen 125<br />

Fröhlich, G.: Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden<br />

Männern“ 75<br />

Rösing, D.: „Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden. Die<br />

Partnerschaft ist zusammengewachsen.“ 137<br />

Schneider, T.; Sperling, H.; Rübben, H.: Prostaglandin E1 und<br />

lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 180<br />

Historia<br />

Beier, K. M.; Alisch, R.: Das Institut für Sexualwissen schaft und<br />

die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933) 83<br />

Diskussion<br />

Loyen, G.; Raack, W.: Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch –<br />

Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 186<br />

Wille, R.; Dennin, R. H.; Lafrenz, M.: Hinter-Fragwürdigkeit der<br />

etablierten AIDS-Bekäm pfungs konzeption 141<br />

Orginalia<br />

Basson, R.: Re-appraisal of womens’s sex response<br />

23<br />

Basson, R.: Efficacy and Safety of Sildenafil Citrate im Women<br />

With Sexual Dysfunction Associated With Female Sexual<br />

Arou sal Disorder 116<br />

Beier, K. M.; Goecker, D.;Babinsky, S.; Ahlers, Ch. J.: Sexual<br />

and partnership aspects of Multiple Sklerosis<br />

4<br />

Hartmann, U.; Niccolosi, A.; Glasser, D. B.; Gingell, C.; Buvat,<br />

J.; Moreira, E.; Lauman, E.: Sexuality in patient-physiciancommunication.<br />

Results of „The Global Study of Sexual Atti -<br />

tu des and Behaviors“ 50<br />

Krüger, T. H.C.; Haake, Ph.; Exton M. S.; Schedlowski, M.;<br />

Hartmann U.: Prolactin secretion after orgasm: feedback-me -<br />

chanism for sexual drive or a reproductive reflex?<br />

30<br />

Lundberg, P. O.: The peripheral innervation of the genital organs<br />

of women 98<br />

Neises, M.: Sexuality and Menopause 160<br />

Philippsohn, S.; Heiser, K.; Hartmann, U.: Sexual Satisfaction<br />

and Sexual Myths among Women: Results of a Survey on the<br />

Determinants of Sexual Satisfaction<br />

148<br />

Rauchfuß, M.; Altrogge, C.: Partnership and Pregnancy<br />

61<br />

Zaviacic, M.: The Women’s Prostate: Orthology, Pathology, Se -<br />

xo logy and Forensic-Sexology Implications 107<br />

Zieren, J., Beyersdorff, D.; Beier, K. M.; Müller, J. M.: Sexual<br />

Function and Testicular Perfusion after Inguinal Hernia Repair<br />

with Mesh 155<br />

Wille, R.: The first two Decades of the AIDS-Age in Germany. A<br />

Statistical Analysis 170<br />

Case Studies<br />

Bosinski, H. A.G. ; Ponseti, J.; Sakewitz, F.: Treatment of incarcerated<br />

sex offenders: General framework, opportunities, and<br />

limits 39<br />

Dmoch, W.: Countertransference and Sexual Medicine. Cross -<br />

over in Therapy Situations 125<br />

Fröhlich, G.: Neue Irrwege: New misleading ways: „Penisen -<br />

large ment for healthy men“ 75<br />

Rösing, D.: „Confidence and Security are now present. Our<br />

Partnership has grown.“ 137<br />

Schneider, T.; Sperling, H.; Rübben, H.: Prostaglandin E1 and<br />

local Therapy of Erectile Dysfunction 180<br />

Historia<br />

Beier, K. M.; Alisch, R.: The Institute for Sexology and the Dr.<br />

Magnus Hirschfeld-Foundation (1919-1933) 83<br />

Discussion<br />

Loyen, G.; Raack, W.: Rigth of Custody and Childabuse – A seldom<br />

used Complement of Penalsystem 186<br />

Wille, R.; Dennin, R. H.; Lafrenz, M.: Questionability of the established<br />

concept of combating AIDS 141


Originalarbeiten<br />

Sexuologie<br />

Sexuologie 9 (1) 2002 65 – 77 / © Urban & Fischer Verlag<br />

http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie

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