Literatur - SEXUOLOGIE
Literatur - SEXUOLOGIE
Literatur - SEXUOLOGIE
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Sexuologie<br />
Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />
für Praktische Sexualmedizin<br />
Inhalt<br />
Orginalarbeiten<br />
44 Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose – Ergebnisse einer empirischen Studie bei Betroffenen und ihren Partnern<br />
4 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
23 Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion<br />
4 R. Basson<br />
30 Orgasmusinduzierte Prolaktinsekretion: Feed back-Mechanismus für sexuelle Appetenz oder ein reproduktiver Reflex?<br />
4 T. H.C. Krüger, Ph. Haake, M. S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />
Fortbildung<br />
39 Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmen be dingungen, Möglichkeiten und Grenzen<br />
4 H. A.G. Bosinski, J. Ponseti, F. Sakewitz<br />
Aktuelles<br />
48 Tagungen<br />
Anschrift der Redaktion<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />
D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />
Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />
D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />
E-mail: journals@urbanfischer.de<br />
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(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />
Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />
Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />
D-99423 Weimar.<br />
Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />
alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />
© 2002 Urban & Fischer Verlag<br />
Coverfoto: © gettyimages<br />
Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />
Forschung<br />
Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />
Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />
somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />
alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />
Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />
Sexoulogie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />
dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />
Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />
chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />
schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />
mit Sexual straftätern.<br />
Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />
almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />
störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />
chun gen (Paraphilien Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />
von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />
Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />
Wissenschaftlicher Beirat<br />
Dorothee Alfermann, Leipzig<br />
Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />
Walter Dmoch, Düsseldorf<br />
Günter Dörner, Berlin<br />
Wolf Eicher, Mannheim<br />
Erwin Günther, Jena<br />
Heidi Keller, Osnabrück<br />
Heribert Kentenich, Berlin<br />
Rainer Knussmann, Hamburg<br />
Götz Kockott, München<br />
Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />
John Money, Baltimore<br />
Elisabeth Müller-Luckmann,<br />
Braunschweig<br />
Piet Nijs, Leuven<br />
Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />
Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />
Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />
Wolfgang Sippel, Kiel<br />
Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />
Hans Martin Trautner, Wuppeltal<br />
Henner Völkel, Kiel<br />
Hermann-J. Vogt, München<br />
Reinhard Wille, Kiel<br />
Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) PSYNDEX · PsycINFO<br />
Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />
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Editorial<br />
Mit diesem ersten Heft von Band VIII erscheint die Ihnen<br />
vertraute Sexuologie in neuem Gewande: aus dem<br />
Klein- ist ein Normal-Format (Großformat würde noch<br />
besser klingen) geworden. Jedenfalls ist die Sexuologie<br />
im achten Jahr ihres Erscheinens auch äußerlich zur üblichen<br />
„Größe“ medizinischer Fachzeitschriften herangewachsen.<br />
Damit ist auch eine weitere Veränderung eingetreten:<br />
Ich bin – zweieinhalb Jahre nach meiner Ver -<br />
set zung in den Ru he stand – aus der Redaktion ausge -<br />
schie den, um diese Ar beit in jüngere und aktivere Hän -<br />
de zu legen. Die Profes soren Uwe Hartmann und Chris -<br />
tian Stief (beide Hanno ver) werden zukünftig gemeinsam<br />
mit Privatdozent Hart mut A.G. Bosinski und Prof.<br />
Klaus M. Beier das Redak tionsteam bilden.<br />
Mein Ausscheiden möchte ich kurz zum Anlass für<br />
einen knappen Rück- und Ausblick nehmen:<br />
Als ich 1992 als Nachfolger von Professor Wille zum Prä -<br />
sidenten der Gesellschaft für Praktische Sexualmedizin<br />
(GPS) gewählt wurde, hatten zahlreiche Pioniere die<br />
durch den Nationalsozialismus abgebrochene Tradition<br />
mitteleuropäischer Sexualwissenschaft/Sexualmedizin<br />
längst wie derauf genommen und seit Jahrzehnten intensive<br />
Ar beit geleistet. So wurden damals z. B. von der<br />
Gesellschaft zur Förderung sexualmedizinischer Fortbil -<br />
dung (GFSF) bereits seit 16 Jahren die Heidelberger<br />
„Fortbildungstage für Psy chosomatik und Sexualme di -<br />
zin“ ausgerichtet und jährliche Referatbände veröffentlicht;<br />
die GPS mit ihren von 1981 bis 1993 herausgegebenen<br />
Mitteilungen fühlte sich be son ders der Wissen -<br />
schaft verpflichtet und publizierte die Beiträge der wissenschaftlichen<br />
Sitzungen. Dennoch war die Gesamt -<br />
situation der Sexualmedizin weiterhin unbefriedigend,<br />
denn sexualmedizinisches Wissen war unter den Ärzten<br />
nicht in dem Maße verbreitet, wie es sich die Initiatoren<br />
der Fortbildungstage erhofft hatten, an den Universi -<br />
täten gab es nach wie vor nur ausnahmsweise entsprechende<br />
Ausbildungsmöglichkeiten und es fehlte im<br />
gesamten deutschen Sprachraum eine wissenschaftlich<br />
anerkannte sexualmedizinische Fachzeitschrift. GPS und<br />
GFSF haben sich aus dieser Situation heraus damals folgende<br />
Ziele gesetzt: Weiterführung bereits begonnener<br />
Initiativen für eine Zusatzbezeichnung Sexualmedizin,<br />
Grün dung einer den beiden bisherigen Fachgesell schaf -<br />
ten übergeordneten Akademie für Sexualmedizin und<br />
Herausgabe einer akademisch anerkannten Fachzeit -<br />
schrift. Im Rahmen der neuen Akademie sollte sowohl<br />
die Weiterführung von Fortbildungs- und wissenschaftlichen<br />
Tagungen als auch die Erarbeitung und Durch -<br />
führung post promotioneller sexualmedizinischer Cur -<br />
ricu la als Vor aussetzung einer Zusatzbezeichnung in An -<br />
griff genommen werden. Grundsätzlich sollte dadurch<br />
die Veran ke rung der Sexualmedizin an den Universi -<br />
täten und allgemein der wissenschaftlich und klinisch<br />
tätige Nachwuchs ge fördert werden. Das waren hochgesteckte<br />
Ziele.<br />
Im Rückblick auf die seither vergangenen zehn Jahre ist<br />
durch den engagierten Einsatz der in GPS und Aka -<br />
demie zusammenarbeitenden Ärzte und Psychologen<br />
er staunlich viel umgesetzt und erreicht worden: Die<br />
Aka de mie arbeitet erfolgreich seit 1994. Im Mai dieses<br />
Jahres fin den bereits die 26. Fortbildungstage für Sexual -<br />
medizin und Psy chosomatik in ununterbroche ner Folge,<br />
zugleich die 9. Jahrestagung der Akademie für Sexual -<br />
me dizin statt, diesmal in Leuven. Zweijährige Weiter -<br />
bildungslehrgänge werden seit 1997 in Berlin, Düssel -<br />
dorf, Hannover und Mün chen durchgeführt; in Berlin<br />
läuft bereits der dritte Kurs. Aus dieser Arbeit ist das An -<br />
fang 2001 erschienene Lehr buch Sexualmedizin von<br />
Beier, Bosinski, Hartmann und Loewit (Urban und<br />
Fischer) entstanden, das in zahlreichen Rezensionen als<br />
Standardwerk gelobt wird.<br />
Auch die Integration der Sexualmedizin in die deutsche<br />
(Mus ter-)Weiterbildungsordnung hat mittlerweile gute<br />
Aus sichten auf Er folg. In Berlin wird das Curriculum<br />
bereits als Zusatz qualifikation anerkannt, die entsprechenden<br />
Zer ti fikate wer den von der Ärztekammer ausgestellt<br />
und die Be zeich nung Sexualmedizin kann dort<br />
auf dem Praxis schild geführt werden. Das ist leider noch<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 2 – 3 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
nicht bundesweit der Fall, aber immerhin ein Anfang.<br />
Hier bleibt noch viel zu tun, obwohl sich durch die über<br />
hundert bisherigen Absolventen der Curricula aus allen<br />
medizinischen Dis ziplinen bzw. der Psychotherapie die<br />
Patientenversorgung spürbar zu bessern beginnt.<br />
Die Zeitschrift Sexuologie muss zwar noch unterstützt<br />
werden, wächst aber stetig und wird sich hoffentlich<br />
fest etablieren und selber tragen können. Ein<br />
Fernziel ist, sie auch für die universitäre For schung als<br />
Publikations organ attraktiv zu machen. Derzeit steht das<br />
gängige Be wer tungssystem der sog. Impact-Faktoren<br />
dem noch entgegen. Das ist leider ein allgemeines<br />
Problem kleiner und vor allem neuer Fächer, welches nur<br />
durch ein Um den ken der Entscheidungsträger bzw.<br />
durch sach- und fachgerechtere Maßstäbe gelöst werden<br />
kann.<br />
Insgesamt ist die Bedeutung und Notwendigkeit von<br />
Sexualmedizin sicher wesentlich stärker ins Bewusstsein<br />
ge treten, als dies noch vor 10 Jahren der Fall war. Man<br />
könnte, bei aller Ambivalenz dieser Entwicklung, sogar<br />
sagen, dass sich nun zahlreiche Verehrer für die einst<br />
verschmähte Braut interessieren. So erfreulich diese Bi -<br />
lanz erscheint, so sehr ist an die noch offenen Pos tulate<br />
zu erinnern: Auch wenn in Innsbruck eine Profes sur für<br />
Se xu almedizin ausgeschrieben wurde und demnächst<br />
besetzt werden soll, so hat doch insgesamt die universitäre<br />
Ver ankerung der Sexualmedizin kaum Fort schritte<br />
gemacht. Dementsprechend gibt es kaum akademischen<br />
Nach wuchs, die Personaldecke ist viel zu knapp.<br />
Die Be zeich nung Sexualtherapeut ist nach wie vor ungeschützt<br />
und kann beliebig usurpiert werden. Die Hono -<br />
rierung sexualmedizinischer Leistungen ist noch nicht<br />
ge nerell möglich und so fort. Es liegt also noch genügend<br />
Arbeit und Her ausforderung vor uns. Nach der bisherigen<br />
Bilanz dürfen wir jedoch zuversichtlich der<br />
Zukunft entgegensehen und wissen, dass wir mit dem<br />
beziehungs- und kommunikationsorientierten Konzept<br />
der Se xualität, wie es als roter Faden Kurse und Lehr -<br />
buch durchzieht, auch einen we sentlichen Bei trag zu<br />
einer zu gleich sach- und menschen ge rech teren Medizin<br />
leis ten.<br />
Kurt Loewit (Innsbruck)
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler<br />
Sklerose – Ergebnisse einer empirischen Studie<br />
bei Betroffenen und ihren Partnern<br />
Klaus M. Beier, David Goecker, Silke Babinsky, Christoph J. Ahlers<br />
Sexual and partnership aspects<br />
of Multiple Sklerosis<br />
Abstract<br />
In a questionaire survey the influence of Multiple Sklerose<br />
(MS on sexuality and partnership in 909 affected members<br />
(615 women, 294 men) of the German Multiple<br />
Sklerosis Society and their partners were investigated.<br />
Out of of 461 women and 210 men the partners ans -<br />
wered the questionaire. The average age of the patients<br />
was 45 years and the partnership lasted in average of<br />
18.5 years.<br />
Since their first symptoms of MS, men as well as<br />
women suffered a strong increase in sexual dysfunctions<br />
connected to subjectiv pain. Partners experienced a strong<br />
increase of sexual dysfunctions and a decrease of sexual<br />
contentment, too.<br />
The affected patients regarded specific symptoms of<br />
MS and far less medication (in particular glucocorticoides)<br />
as the deciding factors influencing their sexuality.<br />
The way both men and woman describe their partnership<br />
shows that general capabilities of communication,<br />
espacially caressing and showing feelings correlate both<br />
in men and women with partnership and sexual contentment,<br />
whereas the duration of disease and the level of<br />
disability did not correlate.<br />
Keywords: Multiple sclerosis, Partnership, Sexual dysfunctions,<br />
Sexual contentment, Glucocorticoides<br />
Zusammenfassung<br />
In einer Fragebogen-Erhebung wurden die Auswirkungen<br />
von Multipler Sklerose (MS) auf Sexualität und Part ner -<br />
schaft bei insgesamt 909 Betroffenenen (615 Frauen, 294<br />
Männer) der Landes verbände Schleswig-Holstein, Nieder -<br />
sach sen und Ham burg der Deutschen Multiplen Sklerose<br />
Gesellschaft (DMSG) sowie deren Partnern untersucht.<br />
Bei 461 Frauen und 210 Männer mit einem durchschnittlichen<br />
Alter von 45 Jahren lagen auch die Er he bungsbögen<br />
der Partner vor.<br />
Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen –<br />
die durchschnittliche Partnerschaftsdauer lag bei 18,5<br />
Jahren – war eine starke Zunahme sexueller Funktions -<br />
störungen (verbunden mit subjektivem Leidensdruck) seit<br />
dem Auftreten der Erstsymptome der MS festzustellen.<br />
Auch bei den Partnern/ innen kam es allerdings zu einem<br />
deutlichen Anstieg von sexuellen Funktionsstörungen und<br />
ebenso zu einer starken Abnahme der sexuellen Zu -<br />
friedenheit.<br />
Die Betroffenen gaben vor allem MS-spezifische Sym -<br />
ptome und weniger Medikamenteneinnahme (hier vornehmlich<br />
Glukokortikoide) als maßgeblich für die Be ein -<br />
flussung ihrer Sexualität an.<br />
Hinsichtlich der partnerschaftlichen Situation wurde<br />
deutlich, dass sowohl bei den Männern als auch bei den<br />
Frauen der Austausch von Zärtlichkeiten, die Mitteilung<br />
von Empfindungen wie überhaupt kommunikative Kom -<br />
petenzen mit partnerschaftlicher und sexueller Zufrie den -<br />
heit korrelierten, während Krankheitsdauer und -grad keinen<br />
Einfluss auf die Zufriedenheit hatten.<br />
Schlüsselwörter: Multiple Sklerose, Partnerschaft, Sexuelle<br />
Funktionsstörungen, Sexuelle Zufriedenheit, Glukokorti -<br />
koi de<br />
An Multipler Sklerose (MS) erkranken Menschen in<br />
der Regel im frühen bis mittleren Erwachsenenalter<br />
(zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr). Dies ist ein<br />
wichtiger Zeitpunkt im Leben für die Bildung einer<br />
Partnerschaft, der Gründung einer Familie und für die<br />
berufliche Karriere.<br />
Erfahrungsgemäß wird die Diagnose einer Multip -<br />
len Sklerose oft erst dann gestellt, wenn die Krankheit<br />
einen gewissen Schweregrad erreicht hat oder wenn<br />
sehr auffällige Symptome schon frühzeitig zu einer<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 4 – 22 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 5<br />
eingehenden neurologischen Abklärung führen. Be -<br />
sonders im ersten Schub wird das Krankheitsbild häufig<br />
nicht erkannt, sondern erst Jahre später. Die Erst -<br />
diagnose einer MS ist in der Vorstellung der Betrof -<br />
fenen nach wie vor gleichbedeutend mit dem baldigen<br />
Verlust der Gehfähigkeit und einer verkürzten Lebens -<br />
erwartung.<br />
Neben der Frage nach der Ursache für eine derart<br />
bedrohliche Krankheit stellt sich für den Betroffenen<br />
daher von Beginn an die Aufgabe, den Charakter der<br />
MS, ihr Ausmaß und ihre Folgen zu verstehen sowie<br />
angemessene Reaktionen auf Symptome, Warn -<br />
zeichen und Krisen zu erlernen. Gleichzeitig greifen<br />
vorübergehend oder dauerhaft vielfältige therapeutische<br />
und rehabilitative Maßnahmen ins tägliche Leben<br />
der Betroffenen ein, meist lange Zeit verknüpft mit der<br />
Hoffnung, nicht nur die körperliche und psychische<br />
Befindlichkeit zu stabilisieren, sondern vielleicht auch<br />
den Krankheitsprozess aufhalten zu können.<br />
Die Krankheit verläuft meist progressiv und die<br />
unvorhersehbare Entwicklung kann zu einem hohen<br />
Unsicherheitsfaktor für die Betroffenen und deren<br />
Familien werden (McCabe et al. 1996). Die progressive<br />
körperliche Behinderung führt zu einer zunehmenden<br />
Abhängigkeit von nahen Familienmitgliedern und<br />
besonders dem (Ehe-)Partner. Der Partner übernimmt<br />
oft pflegerische Tätigkeiten und somit können bisherige<br />
Rollenverteilungsmuster in Frage gestellt werden.<br />
Wenig bekannt und untersucht ist bisher, dass die<br />
Erkrankung auch Auswirkungen auf die Sexualität<br />
haben kann. Dabei sind organisch bedingte sexuelle<br />
Störungen eher häufige und frühe Symptome der<br />
Multiplen Sklerose; sie chronifizieren leichter aufgrund<br />
zusätzlicher krankheitsbedingter Probleme wie<br />
z.B. Müdigkeit, Spastik, sensorischen und/oder motorischen<br />
Beeinträchtigungen, Blasenstörungen sowie<br />
auch psychischen Faktoren, die mitunter bewusst verschwiegen<br />
werden, weil sie für die Betroffenen mit<br />
Scham und Angstgefühlen verbunden sind. Hinzu<br />
kom men mögliche Nebenwirkungen der medikamentösen<br />
Behandlung der Multiplen Sklerose ein -<br />
schließ lich der Therapie von Begleiterscheinungen<br />
(z.B. depressiver Symptome) – also substanzinduzierte<br />
Einflussfaktoren, die sich negativ auf das sexuelle<br />
Erleben und Verhalten auswirken können.<br />
Tatsächlich gehört die Multiple Sklerose zu den<br />
neurologischen Krankheiten, welche mit am häufigsten<br />
zu sexuellen Dysfunktionen führt. Sowohl sexuelle<br />
Appetenz, als auch die sexuelle Erregung (z.B.<br />
Erektion), die Orgasmusphase (z.B. Ejakulation) so -<br />
wie die sexuelle Entspannung können betroffen sein.<br />
In Einzelfällen wurden auch sexuelle Verhaltens -<br />
abweichungen beschrieben (Huws et al. 1991, Lund -<br />
berg 1978). Sexuelle Dysfunktionen können partieller,<br />
transitorischer oder fluktuierender, schlimmsten Fal -<br />
les auch kompletter und permanenter Natur sein. Die<br />
Häufigkeit und die Ursachen sexueller Funktions stö -<br />
rungen werden in der <strong>Literatur</strong> immer wieder kontrovers<br />
diskutiert. Folgende Punkte führen zu divergierenden<br />
Ergebnissen:<br />
! Unterschiede der Betroffenenstichproben z.B. hinsichtlich<br />
Anzahl der Probanden, Alter, Krankheitsverlauf,<br />
Krankheitsdauer, Grad der Behinderung<br />
! Uneinheitliche Kriterien für die Beurteilung sexueller<br />
Dysfunktionen<br />
! Methodische Unterschiede (Fragebogen, Inter -<br />
view, klinische Untersuchung)<br />
Bezüglich der Häufigkeit dominieren bei den Män -<br />
nern Erektionsstörungen, gefolgt von Orgasmus- und<br />
Appetenzstörungen (Tab. 1).<br />
Erektionsstörungen stehen eindeutig im Mittel -<br />
punkt des Forschungsinteresses. Verminderte penile<br />
Sensibilität, Ejaculatio praecox und Dyspareu nie finden<br />
weniger Beachtung.<br />
Tab. 1: Häufigkeit sexueller Dysfunktionen bei MS-betroffenen Männern<br />
in verschiedenen Studien (Einbezogene <strong>Literatur</strong>: Vas et al. 1969, Lilius et<br />
al. 1976, Minderhoud et al. 1984, Valleroy u. Kraft 1984, Schover et al.<br />
1988, Mattson et al. 1995, McCabe et al. 1996, Lottman et al.1998)<br />
Sexuelle Appetenzstörungen 12-48 %<br />
Erektionsstörungen 47-80 %<br />
Orgasmusstörungen 14-64 %<br />
Verminderte penile Sensibilität 5-85 %<br />
Ejaculatio praecox 4-25 %<br />
Vorliegende Studien berichten bei den betroffenen<br />
Frauen vor allem vom nachlassenden sexuellen In -<br />
teresse (Libidoabnahme bis -verlust), Lubrikations stö -<br />
run gen und Orgasmusschwierigkeiten, Sensibili täts -<br />
stö rungen im Genitalbereich, die zu veränderter Em -<br />
pfindungsfähigkeit führen können, woraufhin Be rüh -<br />
rungsreize unterschiedlich aufgenommen und auch<br />
teilweise als unangenehm empfunden werden (Denec -<br />
ke 1986). Blasen- und Darmstörungen sind dabei häufig<br />
mit sexuellen Störungen kombiniert, besonders<br />
Bla seninkontinenz stellt ein großes Problem beim<br />
Geschlechtsverkehr dar (Lundberg 1980). Zu diesen<br />
rein körperlichen Gründen für eine veränderte Sexu -<br />
alität bei Multipler Sklerose kommen vielerlei seelische<br />
Aspekte hinzu (Hofreiter 1997).<br />
Sexuelle Dysfunktionen werden in der <strong>Literatur</strong><br />
bei betroffenen Frauen mit einer Häufigkeit zwischen<br />
5-52% angegeben; Laumann und Mitarbeiter (1994)<br />
ermittelten dagegen eine Häufigkeit sexueller Dys -<br />
funk tionen bei gesunden Frauen von 8-34 %.
6 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
Als Ursache sexueller Dysfunktionen wird in den meisten<br />
Studien der letzten 30 Jahre eine Kombination<br />
aus kortikalen und spinalen Läsionen sowie psychogenen<br />
Faktoren vermutet. Das Gehirn mit seinen komplexen<br />
neuronalen und hormonellen Funktions ab -<br />
läufen spielt eine besonderen Rolle bei der penilen<br />
Erektion und Ejakulation (Köhler u. Vogt 1996). Stö -<br />
rungen in diesem Bereich können daher sexuelle Dys -<br />
funktionen zur Folge haben (Lottmann et al.1998,<br />
McCabe et al. 1996). Barak et al. (1996) fanden einen<br />
Zu sammenhang von Anorgasmie und der mittels<br />
Kern spintomografie nachgewiesenen Plaqueläsions -<br />
größe im Gehirn.<br />
Einige neuere Studien versuchen mit moderner<br />
neurophysiologischer und neurovasculärer Diagnostik<br />
die Bedeutung organischer Faktoren für sexuelle Dys -<br />
funktion zu eruieren (Betts et al. 1994, Ghezzi et al.<br />
1995, Goldstein et al. 1982, Kirkeby et al. 1988, Lott -<br />
man et al. 1998). Jedoch können neurophysiologische<br />
Veränderungen meist nicht als alleinige Erklärung<br />
sexueller Dysfunktionen dienen. Eine neuere aufwendige<br />
Untersuchung zeigte bei Betroffenen mit und oh -<br />
ne erektiler Dysfunktion keine Unterschiede in der<br />
Häu figkeit abnormer neurophysiologischer Befunde<br />
(Ghezzi et al. 1995). Auch nächtliche spontane Erek -<br />
tionen können bei wahrscheinlich neurogener erektiler<br />
Dysfunktion normal sein und daher nicht zur Unter -<br />
scheidung von psychisch und organisch bedingter<br />
Erek tionsstörung als alleiniger Indikator dienen (Kir -<br />
ke by et al. 1988, Lottman et al. 1998, Valleroy & Kraft<br />
1984).<br />
Mehrere Studien haben den Zusammenhang sexueller<br />
Dysfunktionen mit MS-typischen Symptomen sowie<br />
Alter der Betroffenen, Krankheitsdauer, Grad der Be -<br />
hinderung und Verlaufsform untersucht. Aufgrund der<br />
häufigen Koinzidenz von neurogenen Blasen- und<br />
Mastdarmstörungen mit sexuellen Problemen (Tab. 2.)<br />
werden gemeinsame Steuerzentren des autonomen<br />
Ner vensystems für Erektion sowie Blasen- und Mast -<br />
darmfunktionen im Rückenmark vermutet (Bakke et<br />
al. 1996, Betts 1994, Hulter & Lundberg 1995, Min -<br />
der houd et al. 1984). Darüber hinaus können Harnund<br />
Stuhlinkontinenz sekundär zu sexuellen Stö -<br />
rungen bei den Betroffenen führen (Hatzichristou<br />
1996). Die Angst vor Harn- und Stuhlverlust und das<br />
Tra gen von Dauerkathetern können somit sexuelle<br />
Aktivitäten beeinträchtigen.<br />
Aus der physischen Behinderung der Betroffenen<br />
resultieren häufig psychische und soziale Faktoren,<br />
welche zusätzlich die Sexualität beeinflussen oder so -<br />
gar den wichtigsten Auslöser für sexuelle Dysfunk -<br />
tionen darstellen können. Wie andere chronische<br />
Krank heiten auch, kann die MS das Zusammenspiel<br />
von somatischen, psychischen und sozialen Faktoren<br />
aus dem Gleichgewicht bringen, welches das Funda -<br />
ment für sexuelle Gesundheit bildet (Jensen 1992).<br />
Psychische Probleme, besonders Depressionen<br />
und Angst, aber auch psychiatrische Symptome können<br />
mit dem sexuellen Erleben interferieren. Ein di -<br />
rekter Zusammenhang sexueller Dysfunktionen mit<br />
De pression wurde erst kürzlich beschrieben (Barak et<br />
al. 1996). Keine Korrelation sexueller Störungen mit<br />
Tab. 2: Von verschiedenen Autoren untersuchte Korrelationen sexueller Funktionsstörungen mit MS-typischen Symptomen<br />
Autor u. Erscheinungsjahr<br />
Vas et al.1969<br />
Lilius et al. 1976<br />
Minderhoud et al. 1984<br />
Valleroy u. Kraft 1984<br />
Denecke 1986<br />
Kirkeby et al. 1988<br />
Schover et al. 1988<br />
Stenager et al.1990<br />
Betts et al. 1994<br />
Ghezzi et al. 1995<br />
Hulter u. Lundberg 1995<br />
Mattson et al. 1995<br />
Bakke et al. 1996<br />
Barak et al. 1996<br />
McCabe et al. 1996<br />
Stenager et al. 1996<br />
Lottman et al. 1998<br />
ja<br />
-<br />
ja<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
nein<br />
ja<br />
ja<br />
ja<br />
ja<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
ja<br />
nein<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
Symptome bzw. Parameter<br />
Motorische<br />
Störungen<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
nein<br />
-<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
unsicher<br />
ja<br />
ja<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
ja<br />
Grad der<br />
Behinderung<br />
-<br />
ja<br />
ja<br />
nein<br />
nein<br />
nein<br />
-<br />
ja<br />
nein<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
ja<br />
-<br />
nein<br />
nein<br />
-<br />
Alter<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
-<br />
nein<br />
-<br />
nein<br />
nein<br />
-<br />
-<br />
ja<br />
nein<br />
ja<br />
nein<br />
-<br />
nein<br />
-<br />
Blasenstörungen<br />
Sensibilitätsstörungen<br />
Mastdarmstörungen<br />
Krankheitsdauer<br />
-<br />
nein<br />
nein<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
-<br />
nein<br />
-<br />
nein<br />
nein<br />
nein<br />
-
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 7<br />
Depression wurde hingegen von Valleroy u. Kraft<br />
(1984) beobachtet.<br />
Nur in wenigen Studien wurden die jeweiligen<br />
Part ner miteinbezogen. Die MS beeinflusst jedoch in<br />
hohem Maße die Partnerschaft und damit die Se -<br />
xualität des Partners. Wie aus Tabelle 3 ersichtlich<br />
wird, gehen die bisherigen Untersuchungen über eine<br />
Stichprobengröße von 50 nur selten hinaus; teilweise<br />
handelt es sich lediglich um Fallbeschreibungen.<br />
Methoden<br />
Mit Unterstützung von MS-betroffenen Mitgliedern<br />
des Landesverbandes Schleswig-Holstein der Deut -<br />
schen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) wurden<br />
zur Erhebung der Daten zwei Fragebögen entwickelt:<br />
ein Betroffenen- und ein Partnerbogen. Beide<br />
Erhebungsinstrumente waren von der Gliederung her<br />
gleich aufgebaut und bestanden aus jeweils sechs Tei -<br />
len:<br />
1. Soziodemographische Angaben zur Person und<br />
zum sozialen Umfeld wie Alter, Geschlecht, Ver -<br />
änderung der beruflichen Situation etc.<br />
2. Angaben zur Partnerschaft<br />
Die Items zum Parameter Partnerschaft ermöglichen<br />
es, die Qualität der Paarbeziehung einzuschätzen.<br />
Als Grundlage diente der „Partner -<br />
schafts fragebogen“ aus dem standardisierten „Fra -<br />
genbogen zur Partnerschaftsdiagnostik“ (FDP) von<br />
Hahlweg (Hahlweg 1988), der sich in die drei<br />
Kategorien Gemeinsamkeit/Kommunikation, Zärt -<br />
lich keit sowie Streitverhalten gliedert. Im Be -<br />
troffenenbogen wird im Falle von Partnerlosigkeit<br />
zusätzlich nach einem möglichem Zusammenhang<br />
mit der Erkrankung gefragt.<br />
3. Angaben zur Erkrankung bzw. Angaben zur Er -<br />
krankung des Partners und zum eigenen Befinden<br />
Zur Einschätzung der körperlichen Verfassung<br />
wur de eine Einteilung von 0 (ohne Beschwerden,<br />
keine Symptome) bis 9 (ständig ans Bett gebunden,<br />
kein Gebrauch der Arme möglich) erstellt, an -<br />
gelehnt an die für Studienzwecke vielfach genutzte<br />
DSS (Disability Status Scale) Einteilung von J.F.<br />
Kurtzke (1983), welche von 0 (normale neurologische<br />
Untersuchung, keine Symptome) bis 10 (Tod<br />
durch MS) verläuft. Die Einteilung beruht auf dem<br />
von Kurtzke verwendeten Parameter der Mobilität;<br />
weitere Parameter des Autors wie Pyramidenbahnund<br />
Hirnstammfunktion usw. wurden nicht berücksichtigt.<br />
Bei einem Versuch an sechs stationären<br />
MS-Betroffenen erwies sich diese Einteilung als<br />
verständlich und brauchbar. Die Betroffenen konnten<br />
einen ihrer körperlichen Verfassung entsprechenden<br />
Grad der Behinderung zuordnen.<br />
4. Angaben zur Sexualität<br />
Die Erfassung sexueller Funktionsstörungen von<br />
Betroffenen und deren Partnern erfolgte in Anlehnung<br />
an die DSM IV-Klassifikation (APA 1994),<br />
so dass die Studienergebnisse auf international gültigen<br />
Operationalisierungen basieren. Dementspre -<br />
chend wurde eine sexuelle Funktionsstörung nur<br />
dann als gegeben betrachtet, wenn von den Be -<br />
troffenen zugleich subjektiver Leidensdruck angegeben<br />
wurde.<br />
5. Angaben zur Medikamenteneinnahme<br />
Die Erhebung der Medikamente ist von vornherein<br />
mit einer Einschränkung vorgenommen worden:<br />
Es wurde zunächst in einem Item erfragt, ob die<br />
Probanden/innen medikamentös therapiert werden<br />
und in einem weiteren, ob sie einen Zusam men -<br />
hang zwischen den eingenommenen Medikamen -<br />
ten und ihrer Sexualität sehen. Es wurde ferner<br />
darum gebeten, die betreffenden Medikamente an -<br />
zu geben. In einem nächsten Item wurde nach den<br />
beobachteten Veränderungen der Sexualität entsprechend<br />
den verschiedenen Phasen des sexuellen<br />
Reaktionsablaufs sowie nach Häufigkeiten sexueller<br />
Aktivitäten und dem Auftreten sexueller Phan -<br />
tasien gefragt. Es konnte jeweils zwischen einer<br />
„Zu nahme“, „Abnahme“ bzw. „keine Verän de -<br />
rung“ der jeweiligen sexuellen Parameter gewählt<br />
werden.<br />
6. Informationsstand der Betroffenen über mögliche<br />
Auswirkungen der Erkrankung auf die Sexu -<br />
alität.<br />
In verschiedenen Items wurde erfasst, in wieweit<br />
MS-Betroffene und deren Partner von beruflichen<br />
Helfern auf Veränderungen der Sexualität auf -<br />
merk sam gemacht wurden, die mit der Erkrankung<br />
einhergehen können.<br />
Mit speziellen Items konnten die Betroffenen und ihre<br />
Partner subjektiv vermutete Zusammenhänge einschätzen;<br />
so z.B. hinsichtlich des Einflusses MS-spezifischer<br />
Pharmaka bzw. krankheitsbedingter Symp -<br />
tome auf die Sexualität. Die Mehrzahl der überwiegend<br />
geschlossenen, ordinalskalierten Items wurde in<br />
zwei Zeitebenen (1. „Vor Auftreten der Erstsymp -<br />
tome“ bzw. „Seit Auftreten der Erstsymptome bei<br />
Ihrem Partner“ und 2. „Während der letzten 12 Mona -<br />
te“) gestellt.
8 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
Tab. 3: Bisherige Studien zu den Auswirkungen von Multipler Sklerose auf Sexualität und Partnerschaft<br />
Arbeitsgruppe<br />
Design<br />
Stichproben<br />
Frauen Männer<br />
Hauptfragestellung<br />
Miller et al. 1965<br />
Review<br />
0 297<br />
Urogenitale Symptome<br />
Vas 1969<br />
Interview<br />
0 37<br />
Erektionsfähigkeit bei Koitus<br />
Lilius et al. 1976<br />
Fragebogen<br />
134 115<br />
Zusammenhang von Sexualstörungen und spinalen neurologischen<br />
Symptomen<br />
Lundberg 1980<br />
experimentell<br />
25 0<br />
Untersuchung der Patientinnen unter Berücksichtigung der unteren<br />
Rückenmarkssegmente<br />
Goldstein et al. 1982<br />
Interview<br />
45 41<br />
Zusammenhang sex. Dysfunktionen („Impotenz“) mit neurophysiologischen<br />
und urologischen Ergebnissen<br />
Minderhoud et al. 1984<br />
Fragebögen<br />
39 35<br />
Sex. Funktionsstörungen, allgemeiner Zustand,<br />
Temperaturstörungen der unteren Extremitäten, neurologische<br />
Parameter<br />
Szasz et al. 1984<br />
Interview<br />
47 26<br />
Demographische Daten, soziale Faktoren, krankheitsbedingte<br />
Symptome, Sexualität<br />
Vallory et al. 1984<br />
Fragebogen<br />
149 68<br />
Sex. Funktion und Orientierung, Mobilität, MS-assozierte<br />
Symptome, soziales Umfeld<br />
Denecke1985<br />
Interview<br />
55 37<br />
Individuelles Muster der Krankheitsbewältigung und familiärer<br />
Umgang mit der Krankheit<br />
Denecke 1986<br />
Interview<br />
35 29<br />
Art und Ausmaß sex. Funktionsstörungen und Reaktion der<br />
Patienten und der Partner darauf, Bewältigungsmöglichkeiten<br />
Fagan et al. 1986<br />
Interview<br />
149 68<br />
Fragen zu sexuellen Störungen<br />
Schover et al. 1988<br />
Kirkby et al. 1988<br />
Halbstrukturiertes Interview<br />
Verschiedene medizinisch-körperliche<br />
Untersuchungsverfahren<br />
0 14<br />
0 29<br />
Fragen zur Diagnostik sexueller Funktionsstörungen über alle<br />
Erregungsphasen<br />
MS und erektile Funktionsstörungen<br />
Woollett et al. 1988<br />
Interview<br />
9 11<br />
Demographische und soziale Aspekte<br />
Stenager et al. 1990<br />
Semistrukturiertes Interview,<br />
neuropsychologische Untersuchung<br />
65 52<br />
Fragen nach Depression, Angst, psychologisches Profil, sex.<br />
Aktivität im Zusammenhang mit MS<br />
Huws et al. 1991<br />
Fallstudie<br />
- 1<br />
Krankengeschichte, MRI-Scan<br />
Betts et al. 1994<br />
Interview oder Fragebogen (?)<br />
0 48<br />
Zusammenhang zwischen Impotenz und neurogenen<br />
Blasenstörungen<br />
Ghezzi et al. 1995<br />
EDSS nach Kurztke<br />
- 35<br />
neurologische und neurophysiologische Untersuchung<br />
Mattson et al. 1995<br />
Retro- u. prospektive Studie mit Fragebogen u. telef. Interv.<br />
65 36<br />
Häufigkeit und Art sex. Dysfunktionen und med. Beeinflussung<br />
Hulter et al. 1995<br />
Strukturiertes Interview<br />
47 0<br />
Veränderungen im Sexualleben und Korrelationen mit neurologischen<br />
Symptomen und Beeinträchtigung<br />
Barak et al. 1996<br />
neurol. u. psychol. Untersuchung; MRI; Interview basierend<br />
auf DSM-III-R; Fragebogen zur Sexualität<br />
32 9<br />
Untersuchung von Art und Ausmaß sexueller Dysfunktionen bei<br />
Patienten mit schubförmig remittierendem Verlauf und Korrelation<br />
dieser mit neurologischen, psychologischen und radiologischen<br />
Variablen<br />
Stenager et al. 1996<br />
5-Jahres follow-up Studie, Interview und körperliche<br />
Untersuchung<br />
27 22<br />
Beschreibung sexueller Funktionen und Dysfunktionen über einen<br />
Zeitraum von 5 Jahren bei MS-Betroffenen<br />
Bakke et al. 1996<br />
Kohortenstudie, 1987-95; strukturiertes Interview; klinisch<br />
neurologische Untersuchung<br />
130 79<br />
Zusammenhang von Blasen- und Mastdarmstörungen mit sex.<br />
Dysfunktionen<br />
Mc Cabe et al. 1996<br />
Fragebogen<br />
74 37<br />
Einfluß von MS auf Sexualität, soziale und familiäre Beziehung<br />
und allgemeine Lebensqualität und Zufriedenheit<br />
Lottman et al. 1998<br />
Interview, Fragebogen, psychophysiologische<br />
Untersuchungen, Vergleichsgruppe mit 16 gesunden<br />
Männern<br />
- 16<br />
Klärung der Ätiologie sexueller Dysfunktionen bei MS-Betroffenen<br />
mit Hilfe psychologischer, psychophysiologischer und physiologischer<br />
Untersuchungsmethoden<br />
Beier et al. 2000<br />
Fragebogen für Betroffene und Partner, retrospektiv, Zustand<br />
vor Auftreten d. Erstsymptome und während der letzten 12<br />
Monate<br />
615 294<br />
Erfassung sexueller Dysfunktionen bei Betroffenen und deren<br />
Partnern; Analyse soziodemographischer, partnerschaftlicher und<br />
krankheitsbedingter Faktoren
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 9<br />
Fortsetzung Tab. 3: Bisherige Studien zu den Auswirkungen von Multipler Sklerose auf Sexualität und Partnerschaft<br />
Einbezug der Partner<br />
Nein<br />
Untersuchung der<br />
Partnerschaft<br />
Nein<br />
Operationalisierte<br />
Erfassung der sexuellen<br />
Funktionsstörungen<br />
Nein<br />
Fragen zu Informationsstand<br />
und -erhalt<br />
Nein<br />
Fragen zur<br />
Medikamenteneinnahme<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
nein, nur erektile Dysfunktion<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Jeder 2.<br />
(Ja)<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Ja<br />
Nein<br />
Ja<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Ja<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein, nur erektile Dysfunktion<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja, eigenes Ratingsystem<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja, eigenes Ratingsystem<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein, nur sex. Aktitätsniveau<br />
erfasst<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja, 5 Items zur partnerschaftlichen<br />
Zufriedenheit<br />
Ja, Questionnnaire for screening<br />
sexual Dysfunctions<br />
Nein<br />
Nein<br />
Ja<br />
Ja<br />
Ja, nach DSM-IV<br />
Ja<br />
Ja
10 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
Datenerhebung<br />
Im August 97 wurden die Gruppenleiter der Selbst -<br />
hilfegruppen des Landesverbandes Schleswig-Hol -<br />
stein der DMSG bei einem Zusammentreffen informiert.<br />
Die Leiter übergaben die ihnen zugesandten<br />
Fra gebögen an die einzelnen Gruppenmitglieder. Es<br />
wur den zwei Vorstudien durchgeführt. Die zweite Er -<br />
hebung im Winter 97/ 98 umfasste 460 Fragebögen je -<br />
weils für Betroffene und deren Partner. Trotz der ge -<br />
wahrten Anonymität lag die Rücklaufquote bei der<br />
Erst erhebung mit 66 ausgefüllten Bögen bei nur 14,3<br />
%. Die Ergebnisse der Vorstudie wurden auf den „22.<br />
Fort bildungstagen für Sexalmedizin und Psycho so -<br />
matik“ im Juni 1998 in Osnabrück vorgestellt (vgl.<br />
Goecker et al. 1998).<br />
Im Rahmen der Hauptuntersuchung (September<br />
1998 bis April 1999) wurden an die ca. 6500 Mitg -<br />
lieder der Landesverbände Hamburg, Schleswig-Hol -<br />
stein und Niedersachsen der Deutschen Multiple Skle -<br />
rose Gesellschaft die Fragebögen für Betroffene und<br />
deren Partner verschickt. Insgesamt wurden 909<br />
(=14%) verwertbare Fragebögen zurückgesendet; darunter<br />
waren:<br />
a) 500 Probanden/innen, bei denen sowohl die Be -<br />
troffenen als auch deren Partner geantwortet haben<br />
b) 171 ‚unechte singles‘, d.h. in einer Partnerschaft<br />
lebende Betroffene, bei denen der Partner/ die<br />
Partnerin nicht antwortete<br />
c) 238 ‚echte singles‘, d.h. Betroffene, die nicht in<br />
einer Partnerschaft leben.<br />
Statistische Methoden<br />
Die desrkiptive Datenauswertung nach absoluten und<br />
relativen Häufigkeiten erfolgte mit dem Statistikprogramm<br />
SPSS 8.0. Im Rahmen der Zusammen hangs -<br />
analyse wurden folgende Rechenoperationen durchgeführt:<br />
(1) Chi-Quadrat-Test nach Pearson<br />
(2) Rangkorrelation nach Spaerman<br />
(3) Partielle Korrelation<br />
(4) U-Test nach Mann und Whitney zum Vergleich<br />
von zwei unabhängigen Stichproben<br />
(5) Wilcoxon-Test zum Vergleich von zwei abhängi-<br />
gen Stichproben<br />
(6) H-Test nach Kruskal und Wallis zum Vergleich<br />
von mehr als zwei unabhängigen Stichproben<br />
Ergebnisse<br />
Insgesamt haben 909 Betroffene geantwortet. Von diesen<br />
lebten 461 Frauen und 210 Männer in einer Part -<br />
nerschaft und in drei Viertel aller Fälle lagen auch ausgefüllte<br />
Fragebogen der Partner/innen zur Auswertung<br />
vor. Das Durchschnittsalter der Betroffenen lag etwa<br />
bei 46 Jahren (Männer) und 43 Jahren (Frauen), die<br />
durchschnittliche Partnerschaftsdauer bei 19,6 Jahren<br />
(Männer) und 17,5 Jahren (Frauen). Etwa zwei Drittel<br />
waren berufsunfähig und im Durchschnitt ca. 15 Jahre<br />
an Multipler Sklerose erkrankt (Tab. 4).<br />
Es handelt sich demnach um eine Stichprobe von<br />
überwiegend Paaren, die fast die Hälfte ihres Lebens<br />
Tab. 4: Übersicht über die befragten MS-Betroffenen (n = 909)<br />
615 Frauen 294 Männer<br />
Alter in Jahren 43,3 46,4<br />
Symptomdauer in Jahren (durchschnittlich) 14,2 15,3<br />
Jahre seit Diagnosestellung (durchschnittlich) 10,7 11,7<br />
Verlaufsformen<br />
- schubförmig mit/ohne Remissionen 31,5 % 21,2 %<br />
- chronisch-progredient 29,7 % 42,5 %<br />
- teils schubförmig, teils chronisch progredient 16,5 % 17,1 %<br />
- stabil 22,4 % 19,2 %<br />
Einteilung nach Kurtzke<br />
- 0 - 1 (ohne Beschwerden) 9,7 % 6,2 %<br />
- 2 - 3 (minimale Beeinträchtigung) 31,3 % 17,9 %<br />
- 4 - 5 (eingeschränkte Gehfähigkeit - bis 500 m ohne Hilfe) 17,4 % 21,3 %<br />
- 6 - 7 (stark eingeschränkte Gehfähigkeit 36,5 % 47,0 %<br />
– mit Hilfe ca. 100 m;überwiegend im Rollstuhl)<br />
- 8 - 9 (überwiegend ans Bett gebunden) 5,3 % 7,5 %<br />
z. Z. berufsunfähig, krank geschrieben oder (Früh-)Rentner 57,6 % 65 %<br />
z. Z. berufstätig 26,2 % 28,5 %<br />
Partnerschaftlich gebunden 461 Frauen 210 Männer<br />
Partnerschaftsdauer in Jahren (durchschnittlich) 17,5 19,6
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 11<br />
gemeinsam verbracht haben und auch bereit waren,<br />
gemeinsam an der Befragung teilzunehmen. Im fol -<br />
gen den sollen die wichtigsten Ergebnisse mit Häu -<br />
figkeitsangaben dargestellt werden.<br />
Sexuelle Funktionsstörungen<br />
Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen war<br />
eine starke Zunahme sexueller Funktionsstörungen<br />
seit Beginn der Multiplen Sklerose festzustellen (nur<br />
dann gezählt, wenn bei den Betroffenen zusätzlich<br />
Lei densdruck bestand). Bei den betroffenen Männern<br />
war dieser Anstieg besonders auffällig: Während vor<br />
Auftreten der Erstsymptome nur wenige (unter 5%)<br />
eine Appetenz-, Erregungs- oder Orgasmusstörung be -<br />
klagten, lag in den letzten 12 Monaten vor der Be -<br />
fragung bei jedem Dritten eine mit Leidensdruck verbundene<br />
sexuelle Dysfunktion vor. Bei den MS-be -<br />
troffenen Frauen beklagte vor Auftreten der Erst symp -<br />
tome jede zehnte eine sexuelle Funktionsstörung und<br />
für den Zeitraum der letzten 12 Monate etwa jede vier -<br />
te (vgl. Abb. 1) – allerdings war die hohe An zahl fehlender<br />
Angaben zu den entsprechenden Fragen sehr<br />
auffallend.<br />
Aber auch bei den Partnern/innen der MS-Be -<br />
troffenen nahm die Häufigkeit sexueller Funktions -<br />
störungen signifikant zu, wenn auch – insbesondere<br />
bei den Männern der MS-betroffenen Frauen – nicht<br />
so ausgeprägt (vgl. Abb. 2).<br />
Beeindruckend war eine starke Abnahme der sexuellen<br />
Zufriedenheit bei allen Betroffenen und ihren<br />
Partnern/innen: Während vor Diagnosestellung mehr<br />
als 90% der partnergebundenen Männer (Frauen:<br />
87%) mit ihrer Sexualität zufrieden waren, sank dieser<br />
Prozentsatz nach Diagnosestellung auf unter 50%<br />
(Frauen: 67%).<br />
Bei den MS-betroffenen Männern fiel ferner auf,<br />
dass die Betroffenen, die nicht in einer Partnerschaft<br />
le ben, weitaus häufiger sexuelle Dysfunktionen beklagen:<br />
Sie leiden fast doppelt so häufig unter sexuellen<br />
Funktionsstörungen wie die partnerschaftlich gebundenen<br />
MS-betroffenen Männer. Sehr häufig sind sexuelle<br />
Dysfunktionen auch bei denjenigen MS-betroffenen<br />
Männern, die aktuell unter einer Harninkontinenz<br />
lei den: Zwei Drittel von ihnen beklagen eine Erek -<br />
tionsstörung, nur etwas weniger eine Orgasmus stö -<br />
rung und gut die Hälfte eine Appetenzstörung. Einen<br />
ungünstigen Einflussfaktor stellt ferner die Verlaufs -<br />
form der MS dar: bei chronisch-progredientem Ver -<br />
lauf ist die Häufigkeit sexueller Funktions störungen<br />
bei den Betroffenen deutlich höher, was Männer wie<br />
Frauen gleichermaßen betrifft (vgl. Abb. 3).<br />
Krankheitsspezifische Symptome<br />
und Sexualität<br />
Die Erstsymtpome vor Diagnosestellung waren bei<br />
den betroffenen Männern und den Frauen in erster<br />
Linie Sehstörungen, Gangstörungen und Sensibilitäts -<br />
störungen. Bei den befragten Männern standen hinsichtlich<br />
der aktuellen körperlichen Symptome Be -<br />
wegungs-, Gleichgewichts- und Sensibilitätsstö run gen<br />
im Vordergrund, aber auch Harndrang/-verhalt oder<br />
Spastik wurde noch von fast der Hälfte der Betrof -<br />
fenen angegeben. Bei den Frauen hingegen dominierten<br />
Sensibilitäts-, Bewegungs- und Gleichgewichts -<br />
stö rungen sowie Müdigkeit.<br />
Etwa 70 % der männlichen und 40 % der weiblichen<br />
MS-Betroffenen sehen einen unmittelbaren Zu -<br />
sammenhang zwischen Veränderungen ihrer Sexuali -<br />
tät und den verschiedenen Krankheitssymptomen der<br />
MS.<br />
Im Vergleich zwischen männlichen und weiblichen<br />
Betroffenen wird deutlich, dass mehr Männer als<br />
Frauen vor allem Bewegungsstörungen (Männer:<br />
44%; Frauen: 30%) und Spastik (Männer: 39%; Frau -<br />
en: 29%) sowie psychische Anspannung (Männer:<br />
19%; Frauen: 13%) als krankheitsbedingte Einfluss -<br />
fak toren angeben. Auch bei den Frauen dominiert<br />
zwar die Angabe körperlicher Symptome als Grund<br />
für sexuelle Beeinträchtigungen; häufiger als Männer<br />
berichten sie aber über Schmerzen als ein ihre Sexu -<br />
alität störendes Symptom (Männer: 8%; Frauen:<br />
16%). Auffällig ist, dass Sensibilitätsstörungen –<br />
obschon sie bei sehr vielen Betroffenen aktuell eine<br />
sehr große Rolle spielen – für die Sexualität als beeinträchtigend<br />
nur von 17 % der Frauen und 15 % der<br />
Männer angesehen werden.<br />
Die Sensibilität im Genitalbereich hat im Laufe<br />
der Erkrankung bei fast 40 % der betroffenen Frauen<br />
abgenommen, was nur bei lediglich 20 % der betroffenen<br />
Männer der Fall ist, die wiederum häufiger (in 8<br />
% der Fälle) als Frauen (in 5 % der Fälle) über<br />
schmerzhafte genitale Empfindungen klagen.<br />
Einfluss von Medikamenten<br />
74 % der MS-betroffenen Männer und 66 % der MSbetroffenen<br />
Frauen nahmen zum Zeitpunkt der Befragung<br />
Medikamente zur Behandlung der Multiplen<br />
Sklerose ein. Die Abbildung 4 zeigen jeweils für die<br />
Männer und Frauen die am häufigsten genannten Me -<br />
di kamentengruppen, wobei deutlich wird, dass beide<br />
Geschlechter am häufigsten Glukokortikoide, Spas -
12 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
Abb. 1: Gesamtstichprobe MS-betroffener Männer (nur partnerschaftlich gebundene: n=210) und Frauen (n=615); prozentuale Häufigkeit sexueller Dysfunktionen,<br />
die mit Leidensdruck verbunden sind - jeweils vor Auftreten der Erstsymptome und in den letzten 12 Monaten<br />
Abb. 2: Gesamtstichprobe der Partner (n=334) und Partnerinnen (n=166) MS- betroffener Männer und Frauen; prozentuale Häufigkeit sexueller Dysfunktionen,<br />
die mit Leidensdruck verbunden sind - jeweils vor Auftreten der Erstsymptome und in den letzten 12 Monaten<br />
Abb. 3: MS-betroffene Männer/Frauen mit schubförmig-remittierendem und chronisch-progredientem Verlauf; prozentuale Häufigkeit sexueller Dysfunktionen in<br />
den letzten 12 Monaten
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 13<br />
mo lytika, Immunsuppressiva und/oder Interferone<br />
ein nehmen; etwa die Hälfte der Betroffenen nimmt<br />
lediglich ein Medikament und jeweils ein Viertel zwei<br />
oder drei Medikamente parallel ein.<br />
15 % der befragten Frauen und 20 % der Männer<br />
sehen einen Zusammenhang zwischen den eingenommenen<br />
Medikamenten und einer Veränderung ihrer<br />
Sexualität. Besonders deutlich kommt dies zum Aus -<br />
druck bei den Glukokortikoiden: Ca. ein Viertel der<br />
Män ner und fast vier Fünftel der Frauen bringen mit<br />
diesen eine Verschlechterung von sexuellen Funktio -<br />
nen bzw. der genitalen Sensibilität in Zusammenhang.<br />
Ein deutlich kleinerer Anteil – zwischen einem Fünftel<br />
und einem Zehntel – berichtet hingegen von einer Ver -<br />
besserung verschiedener sexueller Funktionen durch<br />
die Einnahme von Glukokortikoiden (vgl. Abb. 5).<br />
Ein Einfluss von Medikamenten auf die Sexualität<br />
wird hingegen bei den Interferonen deutlich seltener<br />
von den Betroffenen angegeben und betrifft hier etwa<br />
ein Fünftel der Männer, die über eine Ver schlech te -<br />
rung der Erektionsfähigkeit berichten, während bei<br />
den Frauen weniger als 10 % ungünstige Auswir kun -<br />
gen verspüren. Noch geringer ist der Einfluss von Spas -<br />
molytika auf die Sexualität der Betroffenen und be -<br />
sonders gering ausgeprägt bei den Immunsup pres siva.<br />
Abb. 4: Gesamtstichprobe MS-betroffener Männer (n=294) und MS-betroffener<br />
Frauen (n=615); Eingenommene Medikamente (Mehrfachnennungen möglich)<br />
Partnerschaft und Erkrankung<br />
Ca. drei Viertel der MS-Betroffenen (Frauen wie Männer)<br />
lebten zur Zeit der Befragung in einer Partner -<br />
schaft (davon 1 % der Männer und 2 % der Frauen in<br />
einer gleichgeschlechtlichen Beziehung).<br />
Die Partnerschaftsdauer betrug bei den Frauen<br />
durchschnittlich 17,5 und bei den Männern 19,6 Jahre<br />
– d.h. es handelte sich um Beziehungen, die meist be -<br />
reits vor dem Auftreten der ersten Symptome bestanden<br />
und demnach trotz dem Ausbruch der Er krankung<br />
aufrecht erhalten werden konnten. Von den ca. 25 %<br />
MS-Betroffenen, die zum Zeitpunkt der Be fragung<br />
nicht partnergebunden lebten, meinten ca. zwei Drittel<br />
der Frauen und drei Viertel der Männer, dass sie aufgrund<br />
der MS-Erkrankung ihren Partner verloren hätten<br />
und etwa ein Viertel gaben Angst vor einer neuen<br />
Partnerschaft aufgrund der Erkrankung an. Lediglich<br />
ein Zehntel wollten keine neue Partnerschaft mehr<br />
ein gehen.<br />
Imposant ist, dass zwischen den partnerschaftlich<br />
gebundenen und den nicht in einer Partnerschaft le -<br />
benden MS-Betroffenen keine Unterschiede hinsicht<br />
lich der Krankheitsdauer, der Verlaufsform oder auch<br />
dem Krankheitsgrad nach Kurtzke feststellbar wa ren:<br />
Diese stehen also nicht im Zusammenhang mit dem<br />
Auseinandergehen einer bestehenden Partner schaft.<br />
Die Untersuchung der Partnerschaften selbst zeigt,<br />
dass die partnerschaftliche Zufriedenheit bei Aus -<br />
tausch von Zärtlichkeiten und gemeinsamer Gestal -<br />
tung des Alltags hoch ist. Hervorzuheben ist aber insbesondere,<br />
dass die partnerschaftliche Zufriedenheit<br />
nicht mit Alter, Krankheitsdauer und Krankheitsgrad<br />
sowie der finanziellen oder der beruflichen Situation<br />
im Zusammenhang steht: Partnerschaftliche Zufrie -<br />
den heit kann also auch dann bestehen, wenn der Grad<br />
der körperlichen Beeinträchtigung hoch, die Krank -<br />
heitsdauer schon lang und die finanzielle oder die<br />
berufliche Situation schlecht ist.
14 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
Abb. 5: Gesamtstichprobe MS-betroffener Männer (n=47) und MS-betroffener<br />
Frauen (n=37), die Glukokortikoide einnehmen: Beeinflussung der Sexualität aus der<br />
Sicht der Betroffenen<br />
Sexualität an. Darüber hinaus werden von etwa einem<br />
Drittel der Betroffenen eine kompetente Beratung seitens<br />
der behandelnden Ärzte/innen gewünscht. Auf fal -<br />
lend häufig (30% der männlichen und 28% der weiblichen<br />
MS-Betroffenen; 29% der Partnerinnen und<br />
30% der Partner) wurde eine Paarberatung favorisiert.<br />
Diskussion<br />
Die Sexualität der von Multipler Sklerose betroffenen<br />
Patienten-(paare) wird ebenso wie die Sexualität Ge -<br />
sunder von zahlreichen Faktoren, wie z.B. dem Alter,<br />
dem Geschlecht, dem Familienstand, dem Zustand der<br />
Partnerschaft und nicht zuletzt von der bereits gelebten<br />
Sexualität des Paares beeinflusst. Mit dem Auf -<br />
treten von Multipler Sklerose können allerdings zu -<br />
sätzliche Einflüsse, wie die Auswirkungen krankheitsspezifischer<br />
Symptome und Pharmaka sowie soziale<br />
und intrapsychische Faktoren (Ängste und Depres sio -<br />
nen) die Partnerschaft und Sexualität der Patienten<br />
und deren Partner erheblich beeinträchtigen. Ein we -<br />
sent liches Ergebnis der hier vorgelegten Studie ist die<br />
Feststellung, dass nicht nur weibliche und männliche<br />
Betroffene in hohem Ausmaß unter sexuellen Dys -<br />
funk tionen leiden, sondern dass das sexuelle Erleben<br />
und Verhalten der Partner qualitativ und quantitativ<br />
fast genauso stark verändert ist. In früheren Unter -<br />
suchungen, bei denen die Partner mit einbezogen wurden,<br />
konnten hinsichtlich der Veränderungen der Se -<br />
xu alität ähnliche Feststellungen getroffen werden, die<br />
aber aufgrund sehr kleiner Stichproben sehr schwer<br />
ein schätzbar waren.<br />
Informationsstand der Betroffenen<br />
über Sexualität und diesbezüglich<br />
gewünschte<br />
Veränderungen<br />
Nur ein kleiner Teil der Betroffenen und ihrer Partner/<br />
innen erhielten von beruflichen Helfern Informationen<br />
über Veränderungen der Sexualität im Verlauf der Erkrankung:<br />
So wurden 66% der männlichen Betrof -<br />
fenen und 79% der Partnerinnen nicht auf eventuell<br />
auf tretende sexuelle Probleme hingewiesen; bei den<br />
weiblichen Betroffenen waren es 87% und 86,5% ih -<br />
rer Partner.<br />
Ca. 45 % der Betroffenen und ihrer Partner gaben<br />
einen Bedarf an Informationsmaterialen zum Thema<br />
Methodische Einschränkungen<br />
In der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um<br />
eine Auswahl von Mitgliedern der Deutschen Mul -<br />
tiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG) und darunter<br />
noch überwiegend derjenigen, die in einer Partner -<br />
schaft lebten und deren Partner einen Fragebogen ausgefüllt<br />
hatte. Trotz dieses schwer einschätzbaren Se -<br />
lek tionseffektes (vermutlich haben vor allem eher<br />
part nerschaftlich zufriedene Paare teilgenommen)<br />
musste dieser in Kauf genommen werden, um Part -<br />
nerschaft und Sexualität des Paares aus Sicht beider<br />
Partner analysieren zu können.<br />
Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Vorteile<br />
dieser Studie – Stichprobengröße, Einbeziehung des<br />
Partners/der Partnerin, operationalisierte Erfassung<br />
von sexuellen Funktionsstörungen und deren Zusam -<br />
menhang mit MS-bedingt eingenommenen Medika -<br />
menten und/ oder partnerschaftlichen Faktoren – in<br />
der bisherigen Forschung eine einmalige Kombination
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 15<br />
darstellen (vgl. hierzu auch Tab. 3). Allein die vielen<br />
wi dersprüchlichen Daten zur Häufigkeit sexueller<br />
Funk tionsstörungen in bisherigen Studien lassen sich<br />
umstandslos durch die feh lende Operationalisierung<br />
der Variable „Funktions störung“ erklären – eine Pro -<br />
ble matik, der in der hier vorgestellten Untersuchung<br />
durch die Orientierung an der Kriteriologie des DSM-<br />
IV Rechnung getragen wurde.<br />
Grundsätzlich muss hervorgehoben werden, dass<br />
es eine Fülle von Begrenzungen gibt, die bei der Er -<br />
hebung von Selbstbeschreibungsdaten zu sexuellem<br />
Erleben und Verhalten berücksichtigt werden müssen.<br />
So kann die Validität der Angaben beispielsweise er -<br />
heblich eingeschränkt sein, wenn aus Aversion bezüglich<br />
des erfragten Sachverhalts oder aus Selbstschutz<br />
die Befragten falsche oder beschönigte Auskünfte ge -<br />
ben. Auch können sich bei der Beantwortung gerade<br />
einer großen Anzahl von Fragen – zumal bei älteren<br />
Menschen – durch mangelnde Erinnerungsfähigkeit<br />
der Betroffenen bzw. ihrer Partner unabsichtlich fal -<br />
sche Antworten einschleichen. Schließlich ist immer<br />
auch mit Problemen im Verständnis der teilweise<br />
kom plexen Fragen zu rechnen. Damit ist zugleich der<br />
Vorteil von Interviewstudien beschrieben, bei denen<br />
durch die Gesprächssituation mehr Rückkopplungsund<br />
Kontrollmöglichkeiten bestehen. Fragebogen -<br />
studien garantieren wiederum Objektivität sowie die<br />
bestmögliche Form zur Wahrung der Anonymität,<br />
wel che bei sexualmedizinischen Fragestellungen die<br />
Akzeptanz und Teilnahmebereitschaft erhöhen kann<br />
(Clement 1990); zu fordern ist dann aber eine ausreichende<br />
Retest-Reliabilität, wie sie bei der hier vorgelegten<br />
Studie für das verwendete Testinstrument gegeben<br />
war.<br />
Die Rücklaufquote von 14% ist in Anbetracht des<br />
umfangreichen Fragebogens und der affektiven Auf -<br />
ge ladenheit des Themas als eher hoch anzusehen.<br />
Den noch wäre es von erheblichem Interesse, mehr<br />
über die ‚Non-Responder‘ zu erfahren, weil schwer<br />
vor stellbar erscheint, dass diese Betroffenen oder ihre<br />
Partner nicht mit krankheits- oder behandlungsbe -<br />
ding ten Auswirkungen von Multipler Sklerose auf ihre<br />
Sexualität und Partnerschaft zurecht kommen müssten.<br />
Nach den hier vorgestellten Studienergebnissen<br />
lei den beispielsweise die gesunden Frauen (i.e. Part -<br />
nerinnen MS-kranker Männer) sogar häufiger als die<br />
Erkrankten an Veränderungen ihrer Sexualität.<br />
Körperliche Symptomatik<br />
Fast die Hälfte der in diese Studie einbezogenen Be -<br />
troffenen (Männer: 47 %; Frauen: 36,5%) war stark in<br />
der Gehfähigkeit eingeschränkt (DSS 6-7), somit im<br />
Übergang von mittlerer zu schwerer körperlicher Be -<br />
ein trächtigung. Dies ist für viele Betroffene aufgrund<br />
der Angst, zukünftig auf einen Rollstuhl angewiesen<br />
zu sein, mit einer besonderen Stressbelastung verbunden<br />
(Stenager et al. 1991b).<br />
Trotz eines mittleren Durchschnittsalters (Männer:<br />
46,4 Jahre; Frauen: 43,3 Jahre) waren zur Zeit der Er -<br />
hebung weniger als ein Drittel der Betroffenen berufstätig,<br />
was möglicherweise auf ein Nachlassen der<br />
kog nitiven Leistungen zurückgeführt werden kann<br />
(Rao et al. 1991b).<br />
Die zunehmende körperliche Beeinträchtigung<br />
spie gelt sich neben der Verminderung der Erwerbs -<br />
tätigkeit auch in dem Fernbleiben vieler Betroffener<br />
(zwei Drittel) von öffentlichen und kulturellen Veran -<br />
staltungen wieder (vgl. Rao et al. 1991b, Stenager et<br />
al. 1991b).<br />
Einer der am häufigsten untersuchten Parameter<br />
im Zusammenhang mit sexuellen Funktionsstörungen<br />
ist der Grad der Behinderung (Tab. 2.). Üblicherweise<br />
wird zur Einschätzung der Behinderung die Einteilung<br />
nach Kurtzke verwendet. Die hier benutzte Einteilung<br />
orientiert sich ebenfalls an der Kurtzke-Skala, aus<br />
Praktikabilitätsgründen jedoch nur an dem wichtigen<br />
Parameter der Mobilität. Weitere Parameter wie etwa<br />
Pyramidenbahn- und Hirnstammfunktionen usw. fanden<br />
keine Berücksichtigung. Trotz eingeschränkter<br />
Aus sagekraft kann die Skalierung in diesem Rahmen<br />
als brauchbar bewertet werden. Fast die Hälfte der<br />
männ lichen Betroffenen, aber nur ein Drittel der Frau -<br />
en, fühlt sich durch Bewegungsstörungen, welche mit<br />
dem Grad der Behinderung zunehmen, in ihrer sexuellen<br />
Aktivität beeinträchtigt. Insgesamt spielen der<br />
Grad der Behinderung und die damit verbundenen Be -<br />
wegungsstörungen im Vergleich zu anderen Fakto ren<br />
eine eher wichtige Rolle hinsichtlich sexueller Dys -<br />
funktionen.<br />
Häufig untersucht wurde in bisherigen Studien der<br />
Zusammenhang von Blasenstörungen mit sexuellen<br />
Dysfunktionen. Ein vielfach beschriebener positiver<br />
Zusammenhang (Tab.2) wird dahingehend interpretiert,<br />
dass Teile des autonomen Nervensystems zumindest<br />
teilweise gemeinsam für Blasenfunktionen und<br />
sexuelle Funktionen verantwortlich sind (z.B. Bakke<br />
et al. 1996, Betts et al. 1994, Minderhoud et al. 1984).<br />
In den meisten Studien wird jedoch die Stärke des Zu -<br />
sammenhanges nicht spezifiziert oder es fehlen Aus -<br />
sagen über die Art der sexuellen Dysfunktionen, welche<br />
mit Blasenstörungen in Verbindung gebracht werden.<br />
In der hier vorgestellten Untersuchung korrelieren<br />
die Variablen „Harninkontinenz“ und „Harn drang/<br />
-verhalt“ positiv, wenn auch schwach (r=0,25-0,36)<br />
mit Erektionsstörungen bei Selbstbefriedigung und
16 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
Ge schlechtsverkehr bei (männlichen) Betroffenen mit<br />
und ohne Partner. Das bedeutet: Männer, die unter<br />
Harn inkontinenz bzw. Harndrang/-verhalt leiden, häufig<br />
auch unter generalisierter Erektionsstörung leiden,<br />
wobei dieser Zusammenhang ebenso für Orgasmus -<br />
stö rungen bei Selbstbefriedigung und Geschlechts -<br />
verkehr zutrifft, allerdings nur bei partnerschaftlich<br />
gebundenen Betroffenen. Der Zusammenhang zwischen<br />
Erektions- bzw. Orgasmusstörungen und Bla -<br />
senstörungen ist statistisch allerdings als gering zu be -<br />
werten. Auch die Beobachtung in dieser Studie, dass<br />
bei harninkontinenten Männern Appetenzstörungen,<br />
sexuelle Aversion, Erektions- und Orgasmusstörungen<br />
häufiger sind als in der Gesamtstichprobe, ist mit<br />
Vorbehalt zu betrachten: Die Teilstichprobe der harninkontinenten<br />
Männer ist durchschnittlich älter, hat<br />
eine längere Krankheitsdauer und ist nach der Kurtz -<br />
ke-Skala körperlich schwerer beeinträchtigt.<br />
Der Zusammenhang zwischen Blasen- und Mastdarmstörungen<br />
und Erektionsstörungen ist in der hier<br />
vorgestellten Untersuchung statistisch ebenfalls nicht<br />
signifikant geworden. Damit ist die von vielen Au -<br />
toren geäußerte Hypothese, gemeinsame Teile des au -<br />
tonomen Nervensystems seien für Blasen- und Mast -<br />
darmfunktionen sowie sexuelle Funktionen verant -<br />
wort lich, nicht widerlegt. Es ist eher von Erektionsstö -<br />
rungen im Zusammenhang von fortschreitender<br />
Krank heit, Alter und insbesondere, wie von Lottmann<br />
et al. (1998) beschrieben, von physiologischen Fak -<br />
toren wie genitalen Sensibilitätsstörungen und motorischer<br />
Beeinträchtigung auszugehen. Der geringe Zu -<br />
sammenhang von Erektionsstörungen und Blasen stö -<br />
rungen könnte auch damit zusammenhängen, dass ers -<br />
tens die penile Erektion von zentralen exzitatorischen<br />
Mechanismen abhängig ist, wogegen Blasenfunk -<br />
tionen von störungsanfälligeren zentralen inhibitorischen<br />
Mechanismen gesteuert werden und zweitens<br />
wird die Erektion insgesamt mehr vom autonomen<br />
Nervensystem beeinflusst, wogegen Blasenfunktionen<br />
eher vom somatosensorischen Nervensystem gesteuert<br />
werden, welches anfälliger für Läsionen im Rah -<br />
men der MS ist (Lottman et al. 1998).<br />
Die Hauptverlaufsformen der MS sind die schubförmig-remittierende<br />
und die chronisch-progrediente<br />
Verlaufsform. Betroffene Frauen mit chronisch-pro -<br />
gre dientem Verlauf leiden häufiger an sexuellen Funk -<br />
tionsstörungen (dabei im besonderen die 30-jährigen)<br />
als die betroffenen Frauen mit schubförmig-remittierendem<br />
Verlauf, wo sich keine wesentlichen Unter -<br />
schiede in den verschiedenen Altersklassen (30-, 40-<br />
und 50jährigen) zeigen. Die chronisch langsam progrediente<br />
Verlaufsform geht mit wesentlich stärkerer<br />
körperlicher Beeinträchtigung einher. In der hiesigen<br />
Untersuchung korrelieren darüber hinaus signifikant<br />
der Grad der körperlichen Beeinträchtigung sowie die<br />
Verlaufsform der MS mit allen sexuellen Funk -<br />
tionsstörungen (mit Ausnahme der Dyspareunie und<br />
des Vaginismus).<br />
Partnerschaft<br />
Partnerschaftliche Zufriedenheit wird im wesentlichen<br />
von Parametern wie Zärtlichkeit, Gemeinsamkeiten,<br />
Streitverhalten, Kommunikation und Beziehungskon -<br />
flikten beeinflusst und korreliert bei den männlichen<br />
MS-Betroffenen nicht mit anderen „äußeren“ Um -<br />
ständen wie Krankheitsdauer, Alter, Grad der Behin -<br />
derung, der finanziellen und beruflichen Situation. Ein<br />
erhöhtes Trennungsrisiko speziell für Betroffene in<br />
schlechter körperlicher Verfassung (Lilius et al. 1976)<br />
deutet sich ebenfalls nicht an. Vielmehr korreliert partnerschaftliche<br />
Zufriedenheit bei Betroffenen und Part -<br />
nerninnen positiv mit den Faktoren Zärtlichkeit und<br />
Gemeinsamkeiten (r=0,7; p=0,0001).<br />
Partnerschaftliche Zufriedenheit, gute partnerschaftliche<br />
Kommunikation und insbesondere die<br />
Part nerschaftsparameter Zärtlichkeit und Gemeinsam -<br />
keiten korrelieren bei partnerschaftlich gebundenen<br />
Be troffenen mit sexueller Zufriedenheit, Häufigkeit<br />
sexueller Aktivität sowie sexueller Appetenz und<br />
Aver sion (r= 0,26-0,64), jedoch nicht oder sehr gering<br />
mit Erektionsstörungen.<br />
Viele der MS-betroffenen Frauen vermeiden, über<br />
eingeschränktes sexuelles Empfinden oder sexuelle<br />
Probleme zu sprechen und überspielen dem Partner<br />
gegenüber ihre Probleme. Sensibilitätsstörungen im<br />
Genitalbereich, die zu veränderter Empfindungs fä hig -<br />
keit führen können, woraufhin Berührungsreize unterschiedlich<br />
aufgenommen und auch teilweise als unangenehm<br />
empfunden werden, können zum sexuellen<br />
Rückzug der betroffenen Frauen führen und/oder sie<br />
können eine Abneigung gegen sexuelle Aktivitäten<br />
entwickeln. In Unkenntnis der Problematik kann dieses<br />
Verhalten vom Partner als Zurückweisung oder<br />
Abnahme der gegenseitigen Zuneigung erlebt werden.<br />
Zusätzlich kann auf seiten der Partner die sexuelle<br />
Attraktivität der erkrankten Frau aufgrund körperlicher<br />
Symptome nachgelassen haben. Oft können die<br />
Partner auf die veränderten sexuellen Bedürfnisse<br />
ihrer Partnerin nicht eingehen, weil sie nicht ausreichend<br />
über die Erkrankung informiert bzw. aufgeklärt<br />
sind oder Gespräche mit der Partnerin über sexuelle<br />
Problem scheuen. Wie sich in der hiesigen Studie<br />
gezeigt hat, treten in zufriedenen Partnerschaften seltener<br />
sexuell unzufriedene Frauen mit sexuellen Funktionsstörungen<br />
auf, und bei diesen Paaren ist ein
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 17<br />
Gespräch über sexuelle Themen eher möglich als in<br />
unglücklichen Partnerschaften.<br />
Sexuelle Funktionsstörungen<br />
Männer: Die Ergebnisse der Studie zeigen eine deutliche<br />
Zunahme aller sexuellen Dysfunktionen nicht<br />
nur bei den MS-Betroffenen, sondern auch bei den<br />
Partnerinnen. Dies kann als Hinweis darauf verstanden<br />
werden, dass es sich um sexuelle Dysfunktionen<br />
handelt, die im Verlauf der Erkrankung entstanden<br />
sind und nicht schon immer vorgelegen haben. Vor<br />
Auftreten der Erstsymptome liegen alle sexuellen<br />
Dys funktionen jeweils unter 4% bei den Betroffenen<br />
und unter 7,3% bei den Partnerinnen. Insgesamt gibt<br />
ein kleinerer Teil der Betroffenen (11%) als der Par -<br />
tnerinnen (13%) an, bereits vor der Erkrankung sexuelle<br />
Probleme gehabt zu haben. Die hohe Prävalenz<br />
sexueller Dysfunktionen während der letzten 12 Mo -<br />
na te spiegelt sich auch in der Einschätzung der Be -<br />
troffenen (71,4 %) und der Partnerinnen (67%) wider,<br />
welche meinen, die Multiple Sklerose übe einen negativen<br />
Einfluss auf ihre Sexualität aus. Bei den MSbetroffenen<br />
Männern stehen Erektions störungen beim<br />
Geschlechtsverkehr (47%) und der Selbstbefriedigung<br />
(52%) im Vordergrund, gefolgt von Orgasmus stö -<br />
rungen. Dies entspricht den Er gebnissen der meisten<br />
früheren Studien (z.B. McCabe et al. 1996, Lott man et<br />
al. 1998). Dazu muss betont werden, dass diese Häu -<br />
figkeit sexueller Dys funk tionen deutlich über derjenigen<br />
der männlichen Allge meinbevölkerung liegt (in<br />
der Alters gruppe von 30-49 Jahren haben bei spiels -<br />
weise „nur“ ca 10% der Männer Erektions stö rungen<br />
und ca. 20% der Frauen Orgas mus störungen [vgl.<br />
Laumann et al. 1994]).<br />
Primär werden organische Faktoren, wie z.B.<br />
demy elinisierte Herde im Rückenmark und Gehirn als<br />
Ursache von insbesondere Erektionsstörungen, aber<br />
auch Orgas musstörungen vermutet. Durch die Krank -<br />
heit bedingte psychische und soziale Probleme werden<br />
von vielen Autoren als zusätzliche Ursache diskutiert<br />
(vgl. Tab. 3). Weiterhin kommt der Qualität der Part -<br />
ner schaft eine besondere Bedeutung zu. Es wird eine<br />
ge ringe Kommu nikation zwischen den Partnern beobachtet<br />
(z.B. De necke 1986, McCabe et al. 1996) und<br />
Sexualtherapie zur Verbes serung der Lebensqualität<br />
empfohlen (z.B. Lott man et al. 1998, Schover et al.<br />
1988). Körperliche Symp tome als Ursache der Erek -<br />
tionsstörungen deuten sich auch in dieser Studie an.<br />
Erektionsstörungen bei Selbst befriedigung korrelieren<br />
bei allen Betroffenen stark mit Erektions störungen bei<br />
Geschlechtsverkehr (r>0,8; p=0,0001). Dies verdeutlicht<br />
die eher generalisierte Na tur der Erektions -<br />
störungen und unterstreicht organische und physiologische<br />
Faktoren als Ursache. Auch nimmt die Häufig -<br />
keit sowohl von Geschlechtsverkehr als auch Selbst -<br />
befriedigung deutlich ab. Ein Zeichen dafür, dass bei<br />
verminderter sexueller Aktivität mit dem Partner die<br />
Häufigkeit von Selbstbefriedigung nicht kompensatorisch<br />
zunimmt.<br />
Frauen: Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass bereits<br />
vor der Erkrankung sowohl bei den später betroffenen<br />
Frauen und auch deren Partnern sexuelle Funk -<br />
tionsstörungen und/oder partnerschaftliche Probleme<br />
vorhanden gewesen sind. Insbesondere bei den betroffenen<br />
Frauen aber auch bei deren Partnern kommt es<br />
zu einer starken Zunahme sexueller Funktions stö -<br />
rungen im Verlauf der Multiplen Sklerose. Wäh rend<br />
des letzten Jahres traten sexuelle Funktions störungen<br />
in der Gesamtstichprobe bei den betroffenen Frauene<br />
zwischen 5-30% (vor Erkrankung 2-10%) und bei den<br />
Partnern zwischen 4-17% (vor der Erkrankung 0-3%)<br />
auf. In den bisherigen Studien lagen die Angaben bei<br />
betroffenen Frauen zwischen 5-52% (Lilius et al.<br />
1976, Lundberg 1980, Minder houd et al. 1984, Va -<br />
lleroy et al. 1984, Szasz et al. 1984, Stenager et al.<br />
1992, Hulter et al 1995, Mattson et al. 1995, Stenager<br />
et al. 1996). Dabei wurden am häufigsten Appe tenz -<br />
störungen, sexuelle Aversion, Erre gungs- und Or gas -<br />
musstörungen beim Geschlechts verkehr und Ent span -<br />
nungsstörungen genannt. Im besonderen Maße be trof -<br />
fen sind Frauen, die unter Harn inkontinenz leiden<br />
(auf fallend war allerdings auch die hohe Anzahl fehlender<br />
Angaben zu den entsprechenden Fragen). Im<br />
Gegen satz zu Lundberg (1995), wo fast 90% der be -<br />
troffenen Frauen Blasen störungen angaben, liegt der<br />
Wert in der hiesigen Studie deutlich niedriger (20%).<br />
Besonders hervorzuheben und bisher in der <strong>Literatur</strong><br />
auch noch nicht beschrieben ist der Befund, dass 26%<br />
der partnerschaftlich gebundenen MS-be troffenen<br />
Männer und 22% ihrer Partnerinnen sowie 21% der<br />
MS-betroffenen Frauen und 13% ihrer Part ner eine<br />
„sexuelle Aver sion“ angaben d.h., eine starke Abnei -<br />
gung gegen se xu elle In ter aktion, die auf massive und<br />
mutmaßlich auch „pathogen“ wirkende Vor behalte ge -<br />
gen über den Partner schlie ßen lässt. Es ist denkbar,<br />
dass diese sich auch aus anderen (nicht-sexuellen)<br />
Quel len speisen dürften (z.B. die unliebsame Übernahme<br />
pflegerischer Tätigkeiten).<br />
Medikamente<br />
Männer: In dieser Studie beobachtet die Mehrheit der<br />
MS-betroffenen Männer keine Beeinflussung ihrer Sexualität<br />
im Falle einer Medikation mit Gluko korti -
18 K. M. Beier, D. Goecker, S. Babinsky, Ch. J. Ahlers<br />
koiden, Interferonen, Immunsuppressiva oder Spas -<br />
mo lytika. Im Falle einer Beeinflussung berichten die<br />
Betroffenen überwiegend eine Verschlechterung sexueller<br />
Appetenz, Erektions- und Orgasmusfähigkeit<br />
sowie genitaler Sensibilität. Am häufigsten wird eine<br />
Beeinflussung der Sexualität unter einer Medikation<br />
mit Glukokortikoiden beobachtet. Die von Mattson et<br />
al. (1995) beschriebene Verbesserung allgemeiner se -<br />
xu eller Funktionen unter einer Behandlung mit Gluko -<br />
kortikoiden kann hier nicht bestätigt werden. Un -<br />
geklärt bleibt der Widerspruch, dass die Beeinflussung<br />
sexueller Appetenz unter Glukokortikoiden von den<br />
Betroffenen eher als negativ bewertet wird, wogegen<br />
eine Vergleichsgruppe ohne Behandlung mit diesem<br />
Medikament eine niedrigere (p=0,014) sexuelle Appe -<br />
tenz zeigt.<br />
Frauen: Zwei Drittel der befragten Frauen nehmen<br />
Medikamente ein. Die körperlichen Symptome der<br />
Multiplen Sklerose werden durch die Medikamente<br />
verbessert. Bei den Glukokortikoiden kommt es je -<br />
doch zusätzlich zu einer dysphorisierenden Wirkung<br />
mit Stimmungsschwankungen, Depressionen und in -<br />
nerer Unruhe, und die betroffenen Frauen geben eine<br />
negative Beeinflussung der sexuellen Probleme, insbesondere<br />
der sexuellen Appetenz, der sexuellen Erre -<br />
gung und des Orgasmusempfindens an. Hier er gibt<br />
sich ebenfalls der bereits dargestellte Wider spruch zur<br />
Studie von Mattson et al. (1995), wonach die Behand -<br />
lung mit Kortikoiden zu einer Verbesse rung der sexuellen<br />
Funktionen bei vielen Betroffenen führte (hier<br />
muss sicherlich die geringe Probandenzahl berücksichtigt<br />
werden). Augenscheinlich ist eine frühzeitige<br />
Information über mögliche Auswirkungen der Medi -<br />
kamenteneinnahme auf die Sexualität notwendig und<br />
gegebenenfalls ein Wechsel in der medikamentösen<br />
Behandlung angebracht.<br />
Informationsstand<br />
Wie die hier vorgelegten Ergebnisse zeigen, fühlen<br />
sich die Betroffenen über Auswirkungen der MS auf<br />
die Sexualität unzureichend informiert und wünschen<br />
sich mehr Hilfestellungen – einschließlich der Einbe -<br />
ziehung des Partners in die Beratung – durch die sie<br />
betreuenden Ärzte/innen.<br />
Die Hauptschwierigkeit für die MS-Betroffenen,<br />
die mit ihrer Sexualität und/oder Partnerschaft unzufrieden<br />
sind, besteht offensichtlich darin, dass sie mit<br />
Verän-derungen ihrer gewohnten Sexualität konfrontiert<br />
werden, zunächst ratlos reagieren und nicht wissen,<br />
ob es Hilfestellungen gibt und an wen sie sich<br />
dies bezüglich am besten wenden könnten. Auch fällt<br />
es – trotz der Liberalisierungstendenzen in unserer<br />
Ge sellschaft – weiterhin den meisten Menschen<br />
schwer, eine eigene sexuelle und/oder partnerschaftliche<br />
Verunsicherung selbst gegenüber dem Partner –<br />
geschweige denn gegenüber anderen Menschen – zum<br />
Thema zu machen. Unternimmt ein Patient dennoch<br />
den Versuch, das für ihn belastende Problem anzusprechen,<br />
stößt er meist auf jene Unsicherheit, die er<br />
von sich selbst schon kennt – auch bei den betreuenden<br />
Ärzten, zumal diese in ihrer Aus- und Weiter -<br />
bildung in der Regel nicht auf derartige Gespräche<br />
vorbereitet sind (allerdings gibt es seit 1997 für<br />
Allgemein- und Fachärzte auch ohne psychotherapeutische<br />
Spezialisierung curricular fundierte sexualmedizinische<br />
Fortbildungen – vgl. Vogt et al. 1995 sowie<br />
Beier 1999 –, welche zur eigenständigen Diagnostik<br />
und Therapie von sexuellen Störungen qualifizieren).<br />
Dabei wäre es wichtig, die Patienten zu ermutigen, die<br />
mit der Erkrankung einhergehenden Veränderungen<br />
hinsichtlich der Partnerschaft und der Sexualität wahrzunehmen<br />
und diese gegenüber beruflichen Helfern<br />
offen anzusprechen. Diesem Zweck soll auch die Pub -<br />
likation der wichtigsten Ergebnisse der hier vorgestellten<br />
Studie in einem Leitfaden für Betroffene und<br />
ihre Partner (Beier 2002) dienen.<br />
Therapeutische Möglichkeiten<br />
Die hier vorgelegten Ergebnisse einer großen Erhe -<br />
bung von MS-betroffenen Männern und Frauen und<br />
ihren Partnern hat im Sinne einer Bestandsaufnahme<br />
deutlich machen können, dass viele Betroffene insbesondere<br />
die Symptome der Erkrankung und teilweise<br />
auch Medikamente mit Veränderungen ihrer Sexualität<br />
in Zusammenhang bringen. Sie haben ferner gezeigt,<br />
dass die partnerschaftliche Zufriedenheit nicht nur die<br />
Verarbeitung ggf. auftretender sexueller Beeinträchti -<br />
gungen positiv beeinflusst, sondern dass die Betrof -<br />
fenen selbst eine gute partnerschaftliche Beziehung<br />
als gesundheitserhaltenden bzw. -fördernden Schutz -<br />
faktor ansehen. Darum sollte die Nutzung und ggf. Op -<br />
ti mierung des Schutzfaktors Partnerschaft auch grö -<br />
ßere Aufmerksamkeit beanspruchen und es bei der<br />
Therapie von sexuellen Funktionsstörungen folglich<br />
nicht um die reine Wiederherstellung von Funktionen<br />
gehen. Darüber hinaus aber ist bisher viel zu wenig<br />
beachtet worden, dass die sexuellen Beeinträchti-gungen<br />
selbst Anzeichen des Krankheitsgeschehens sein<br />
können und darum einer sorgfältigen Beobachtung bedürfen,<br />
weil sich daraus nicht nur Konsequenzen für<br />
die Behandlung der MS ergeben, sondern auch psychosoziale<br />
Verschlechterungen mitberücksichtigt werden<br />
müssen, die sich wiederum negativ auf das<br />
Krankheitsgeschehen und die Sexualfunktionen aus-
Sexualität und Partnerschaft bei Multipler Sklerose 19<br />
wirken können. Ganz falsch wäre es also die sexuellen<br />
Symptome zu übergehen und ihnen keine Beachtung<br />
zu schenken.<br />
Bei Unzufriedenheit über die sexuelle und/oder<br />
die partnerschaftliche Situation sind – unter Einbe -<br />
ziehung des Partners/der Partnerin folgende Fragen zu<br />
klären:<br />
! Gibt es einen Zusammenhang mit der Krankheit<br />
oder bestanden die Probleme bereits vor der Diagnosestellung?<br />
! Gibt es einen Zusammenhang mit den spezifischen<br />
MS-Symptomen?<br />
! Gibt es einen Zusammenhang mit den MS-bezogen<br />
oder anderweitig verordneten Medikamenten?<br />
! Gibt es einen Zusammenhang mit sexuellen<br />
Schwierigkeiten aufgrund von unterschiedlichen<br />
Vorstellungen und Erwartungen in der Partner -<br />
schaft?<br />
Die Ergebnisse der Befragung von MS-Betroffenen<br />
machen deutlich, dass sich therapeutische Maß nah -<br />
men dann vor allem auf folgende vier Aspekte beziehen<br />
können:<br />
1. Die Beeinflussung der speziellen Symptome der<br />
MS, wenn diese sich negativ auf das sexuelle Erleben<br />
und Verhalten auswirken.<br />
2. Eine Veränderung der aktuellen Medikation, sofern<br />
vermutet wird, dass diese sich negativ auf das sexuelle<br />
Erleben und Verhalten auswirkt.<br />
3. Einflussnahme auf die partnerschaftliche Bezie -<br />
hung, sofern zwischen den Partnern unterschiedliche –<br />
und vor allem unausgesprochene – Vorstellungen und<br />
Erwartungen bestehen und<br />
4. Verbesserung der sexuellen Funktion(en) durch die<br />
Anwendung von Medikamenten oder Hilfsmitteln.<br />
Erste klinische Studien belegen, dass Sildenafil die<br />
Erektionsfähigkeit bei MS-betroffenen Männern deutlich<br />
verbessert. In einer randomisierten, plazebokontrollierten<br />
Doppelblindstudie konnten Fowler und<br />
Mitarbeiter (1999) zeigen, dass 89% der 103 doppelblind<br />
mit Sildenafil behandelten Patienten, aber nur<br />
27% der Kontrollgruppe über eine verbesserte Erek -<br />
tionsqualität berichteten. In einer anderen Publikation<br />
dieser Arbeitsgruppe (vgl Miller et al. 1999) wurde<br />
allerdings deutlich, dass die partnerschaftliche Be -<br />
ziehung sich nur bei 11,2% Verumgruppe und 2,3%<br />
der Placebogruppe verbesserte – wobei es sich jedoch<br />
um Angaben handelte, die lediglich von den MS-be -<br />
troffenen Männern stammten – die Partnerinnen also<br />
nicht einbezogen worden waren. Dies belegt, wie<br />
wirk lichkeitsfremd es ist, von einer intakten Sexual -<br />
funktion (bzw. ihrer Wiederherstellung) auf eine zu -<br />
frie den stellende partnerschaftliche Beziehung schließen<br />
zu wollen.<br />
Daraus folgt, dass für die Klärung des sexuellen<br />
„Ist-“ und „Soll-Zustandes“ immer die Einbeziehung<br />
des Part ners/der Partnerin erforderlich ist, weil sonst<br />
keine Möglichkeit besteht, dessen Vorstellungen und<br />
Er war tungen kennenzulernen. Es ist dann möglich, im<br />
Rah men von Beratungsgesprächen nicht nur Informa -<br />
tionen zu vermitteln, sondern auch Unbekanntes zu<br />
erfahren oder Fehlvorstellungen über den Partner oder<br />
falsche Erwartungshaltungen an den Partner zu korrigieren.<br />
Es können so gezielte Anregungen zur Verbes -<br />
serung der sexuellen und/oder partnerschaftlichen<br />
Situ ation gegeben werden. Dafür sind sowohl auf<br />
Seiten des Beraters Kenntnisse über neurologische<br />
Zusammenhänge erforderlich als auch eine spezielle<br />
sexualmedizinische Kompetenz, so dass die verschiedenen<br />
Behandlungsmöglichkeiten mit dem Paar ge -<br />
meinsam durchgesprochen und auch partnerschaftliche<br />
Konflikte geklärt werden können.<br />
Haben das Gespräch und die Abklärung der sexuellen<br />
Symptome ergeben, dass vermutlich weder MSspezifische<br />
Symptome noch Medikamente für die<br />
Symptomatik verantwortlich sind und Einigkeit zwischen<br />
den Partnern besteht, dass eine Veränderung der<br />
sexuellen Beziehung für beide wünschenswert ist, gibt<br />
es eine Reihe von therapeutischen Möglichkeiten, die<br />
eine Verbesserung der sexuellen Funktion bewirken<br />
können (vgl. Beier et al. 2001).<br />
Wichtig ist dabei vor allem eine pragmatische Vorgehensweise,<br />
die an den Bedürfnissen und Möglich -<br />
keiten des jeweiligen Betroffenen und seines Partners<br />
orientiert ist. Dabei gilt insbesondere, dass ein Rück -<br />
zug aus sexueller Aktivität die schlechteste Lösungs -<br />
variante darstellt, sondern es im Gegenteil heißen sollte:<br />
Verstärkung aller positiv erlebbaren noch möglichen<br />
bzw. durch Übung auch verbesserbaren sexuellen<br />
Funktion entweder für sich selbst (Selbst be frie -<br />
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T-cells specific for myelin basic protein<br />
in peripheral blood and cerebrospinal fluid of patients<br />
with multiple sclerosis. J Exp Med, 179: 973-984.<br />
Zipp, F.; Sommer, N.; Rösener, M.; Dichgans, J.; Martin, R.<br />
(1997): Multiple Sklerose: Neue therapeutische Strategien<br />
im experimentellen Stadium. Nervenarzt 68: 94-101.<br />
Anschriften der Autoren<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, David Goecker, Silke Babinsky, Dipl.-Psych. Christoph J. Ahlers,<br />
Institut für Sexual wissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität<br />
zu Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, e-mail: klaus.beier@charite.de
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Neubewertung der weiblichen sexuellen<br />
Reaktion<br />
Rosemary Basson<br />
Re-appraisal of womens’s sex<br />
response<br />
Abstract<br />
Acceptance of sexual motivation over and beyond any<br />
intrinsic hunger for a sexual experience per se leads to a<br />
reconceptualization of female sex response. Women have<br />
a dormant potential to access sexual desire during an<br />
experience that began sexually neutral. Their willingness<br />
to find and be receptive to stimuli stems largely from the<br />
wish to be emotionally closer to the partner and communicate<br />
in a sexual way. Despite the presence of sexual stimuli,<br />
a number of psychological and biological reasons<br />
can prelude their effectiveness. If arousal is accessed, providing<br />
it is enjoyed and the stimulation can continue, a<br />
hunger for sexual sensations per se, develops. Any problematic<br />
outcome unfortunately lessons any motivation to<br />
repeat the experience of deliberately finding a way to<br />
move from neutrality to one of arousal. Use of this alternative<br />
model clarifies the common comorbidity of lowerde<br />
sexual desire with other forms of female sexual dysfunction.<br />
Keywords: Sexual motivation, female sex response,<br />
female sexual dysfunktions<br />
Zusammenfassung<br />
Die Annahme einer sexuellen Motivation jenseits und<br />
über ein angeborenes Verlangen nach sexueller Erfahrung<br />
per se führt zu einer Neukonzeptualisierung der weiblichen<br />
sexuellen Re aktionen. Frauen haben ein latentes Po -<br />
tential, sexuelles Verlangen während einer Erfahrung, die<br />
mit sexueller Neu tralität beginnt, zu entwickeln. Ihre Be -<br />
reit schaft, sexuelle Reize zu suchen und darauf zu reagieren,<br />
stammt weitgehend vom Wunsch her, dem Partner<br />
emotional näher zu sein und auf sexuelle Weise mit ihm<br />
zu kommunizieren. Auch wenn sexuelle Stimuli vorhanden<br />
sind, kann eine Anzahl psychologischer und biologischer<br />
Gründe ihre Wirksamkeit verhindern. Wenn Erre -<br />
gung eintritt – vorausgesetzt sie wird genossen und die<br />
Stimulierung kann andauern –, dann entwickelt sich ein<br />
Ver langen nach sexuellen Empfindungen per se. Jede problematische<br />
Folge verringert bedauerlicherweise jegliche<br />
Motivation, die Suche nach einem Weg, um vom Zustand<br />
der Neutralität in einen der Erregung zu gelangen, ab -<br />
sichtlich zu wiederholen. Der Einsatz dieses alternativen<br />
Modells erklärt auch die häufige Komorbidität zwischen<br />
erniedrigtem sexuellen Verlangen und anderen Formen<br />
weib licher sexueller Dysfunktionen.<br />
Schlüsselworte: Sexuelle Motivation, weiblicher sexueller<br />
Re ak tionszyklus, weibliche sexuelle Dysfunktion<br />
Trotz der vielen gedankenreichen Überlegungen in der<br />
<strong>Literatur</strong> (Tiefer 1991, Levine 1988, Pfaus 1999, Re -<br />
gan & Berscheid 1996, Andersen Cyranowski 1995,<br />
Singer & Toates 1987) zur Frage, warum Frauen und<br />
Männer miteinander überhaupt in sexuellen Kontakt<br />
treten wollen oder dem zustimmen, bleibt das Modell<br />
der sexuellen Reaktion, wie es den Fachleuten im Ge -<br />
sundheitswesen oder den Sexualforschern vertraut ist,<br />
dasjenige von Masters, Johnson und Kaplan. Ausge -<br />
hend vom sexuellen Verlangen – das offensichtlich in<br />
beiden Partnern vorhanden ist –, fokussiert dieses Mo -<br />
dell auf einem phasenweisen Ablauf der genitalen Re -<br />
ak tionen. Die lineare Ab folge von sexuellem Verlan -<br />
gen, Erregung, Plateau-, Or gas mus- und Entspan -<br />
nungs phase erlaubte die Benen nung von Dysfunk tio -<br />
nen jeder dieser aufeinander folgenden Komponen ten.<br />
Allerdings wurde auch eine andere Dysfunktion offen-<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 23 – 29 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
24 R. Basson<br />
Abb. 1: Sexueller Reaktionszyklus nach Masters, Johnson & Kaplan (traditionelles<br />
Modell)<br />
Verlangen<br />
Plateau<br />
Erregung<br />
Orgasmus<br />
Zeit<br />
Entspannung<br />
sichtlich – das Fehlen eines aktiven Wunsches nach<br />
sexuellen Erfahrungen (s. Abb. 1).<br />
Dieses Modell stellt für Frauen wie für Männer<br />
eine starke Verkürzung dar. Wir haben vielerlei Grün -<br />
de, uns auf Sexualität einzulassen. Oft haben einer<br />
oder beide Part ner nicht von Anfang an Verlangen<br />
nach oder sind „hungrig“ nach Sex per se, sondern sie<br />
verspüren einen Wunsch nach Intimität, der auf sexuelle<br />
Weise ausgedrückt werden kann. Besonders für<br />
Frau en können die genitalen Funktionen gelegentlich<br />
oder sogar oftmals relativ unwichtig sein. Im folgenden<br />
wird ein alternatives Modell der weiblichen sexuellen<br />
Reaktion beschrieben, welches aber in einigen<br />
Punk ten auch für die sexuelle Reaktion des Mannes<br />
von großer Bedeutung ist.<br />
Warum haben Frauen Lust auf<br />
Sexualität?<br />
Frauen sprechen von vielen Gründen, Lust auf Sexu -<br />
alität zu haben, die über spezifisch-sexuelles Ver lan -<br />
gen oder den „Geschlechtstrieb“ hinausgehen (Tie fer<br />
1991, Hat field & Rapson 1993, Regan & Berscheid<br />
1996). Sie sprechen von einem Bedürfnis, sich dem<br />
Part ner durch gegenseitige Berührungen und Lieb -<br />
kosungen mit allen Sinnen emo tional nahe zu fühlen.<br />
Es ist ein nonverbaler Weg, Zuneigung zu zeigen oder<br />
zu vermitteln, dass man den Partner vermisst hat oder<br />
zu bestätigen, dass ein Streit vorüber ist, oder einfach<br />
der Wunsch, dem Partner Liebe zu schenken. Zusätz -<br />
liche Gründe sind, sich angezogen und zugleich anziehend<br />
zu fühlen. Ich meine, dass Levin’s „Sexuelle Mo -<br />
tivation“, die vom Hunger nach Sexualität unter schei -<br />
det (und ebenso von einem bewussten Wunsch nach<br />
sexueller Betätigung, Levine 1988) bei Frauen weitgehend<br />
von ihren Bedürfnissen nach Intimität herrührt.<br />
Meine klinische Erfahrung und die Berichte in der<br />
<strong>Literatur</strong> unterstützen dieses Konzept, dass nämlich<br />
für Frauen die motivierende Kraft typischerweise<br />
mehr ist, als ein angeborenes Verlangen nach Sexu -<br />
alität. Zudem sind die traditionellen „Marker“ angeborener<br />
oder „spontanter“ sexueller Bedürftigkeit für<br />
Frau en nicht besonders bedeutsam. Es konnte nicht<br />
nachgewiesen werden, dass die Zahl der sexuellen<br />
Phantasien mit der Stärke der sexuellen Appetenz<br />
einer Frau korreliert. Wir wissen, dass autoerotisches<br />
Verhalten wie Phantasien und Selbst stimulierung bei<br />
gesunden Frauen nicht nur auf einem niederen Niveau<br />
stattfinden, sondern auch extrem variabel in ihrer<br />
Häufigkeit sind (Laumann et al. 1999). Eben so berichten<br />
Frauen, dass sie absichtlich phantasieren, um er -<br />
regt zu werden oder zum Orgasmus zu kommen<br />
(Lunde et al. 1991). Somit könnten Frauen mit starkem<br />
sexuellen Verlangen tatsächlich Phantasien seltener<br />
einsetzen. Nur wenige oder gar keine sexuellen<br />
Gedanken scheinen bei sexuell zufriedenen Frauen das<br />
Übliche zu sein. In einer Studie von Cawood und Ban -<br />
croft (1996) an 140 über 40 Jahre alten Frauen gaben<br />
fast 50% der prämenopausalen Frauen an, einmal im<br />
Monat, seltener oder nie an Sex zu denken. Die Zahlen<br />
für die peri- und postmenopausale Gruppe mit ähnlich<br />
geringer Häufigkeit von Gedanken an Sexualität be -<br />
trugen 56% respektive 77%.<br />
Beginnen sexuelle Erlebnisse von<br />
Frauen mit bewusstem Verlangen<br />
nach Sexualität?<br />
Obwohl Frauen sicherlich offenbar „spontanes“ sexuelles<br />
Verlangen empfinden, scheint dies bei sexuell<br />
gesunden Frauen in Stichprobenuntersuchungen selten<br />
zu sein bzw. gänzlich zu fehlen wie z. B. bei 32% in<br />
einer dänischen Studie (Garde & Lunde 1980). Es<br />
scheint, dass es für sehr viele Frauen in langfristigen<br />
mo nogamen Part nerschaften viele (und für einige<br />
Frauen alle) sexuellen Erlebnisse von einem Zustand<br />
der sexuellen Neu tralität ausgehen. Ihre Gründe für<br />
die Bereitschaft, von diesem Zustand der Neutralität<br />
aus weiterzugehen, schließen alle die vorher aufgeführten<br />
Motivationsfak toren ein.<br />
Auf welchem Weg gelangen<br />
Frauen zu sexueller Erregung?<br />
Sexuelle Reize in einem entsprechenden intimen<br />
Kontext scheinen für die sexuelle Antwort einer Frau<br />
wesentlich zu sein. Das ist nicht so klar im traditionel-
Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion 25<br />
len Modell, aber ist auch schon früher erkannt worden.<br />
Kaplan beschrieb ein Verlangen als Antwort auf äu -<br />
ßere Auslöser und zugleich einen inneren „biologischen“<br />
Trieb (Kaplan 1979). Singer und Toates verwiesen<br />
auf äußere Stimuli, die mit dem inneren<br />
Zustand interagieren können (Singer & Toates 1987).<br />
Sie erkannten den inneren Zustand je doch nicht als<br />
Bedürfnis nach Intimität, sondern eher als einen<br />
Zustand sexueller Entbehrung.<br />
Was bedeutet sexuelle Erregung<br />
für Frauen?<br />
Meistens beziehen sich Frauen auf ihre mentale sexuelle<br />
Erregung, die gut damit übereinstimmt, wie aufregend<br />
sie den Stimulus finden (Laan et al. 1995), die<br />
aber nur schlecht mit objektiven Messungen des er -<br />
höhten genitalen Blutzustromes als Antwort auf den<br />
Stimulus korrelieren. Diese Desynchronisierung zwischen<br />
der subjektiven Erfahrung und der objektivierbaren<br />
Blutanfüllung im erektilen Gewebe wurde in<br />
vielen Gruppen von Frauen bestätigt (Laan et al. 1995,<br />
Wouda et al. 1998, Meston & Gorzalka 1995, Meston<br />
& Heiman 1998, Morokoff & Heiman 1980). Vor -<br />
läufige Studienergebnisse legen nahe, dass auf we -<br />
sentlich höheren Niveaus der Erregung, wie sie im<br />
Laboratorium nur schwer zu erreichen sind, eine bessere<br />
Korrelation vorliegt (Everaerd et al. 2000). Der<br />
klinisch relevante Punkt liegt darin, dass Patientinnen,<br />
die über ein niederiges Erregungsniveau berichten, in<br />
der Regel nicht die genitale Durchblutungssteigerung<br />
damit verbinden. Die meisten Frauen können nämlich<br />
den Grad der Durchblutung innerhalb ihres erektilen<br />
Gewebes in der Vulva nicht genau einschätzen. Em -<br />
pfin dungen von Pochen oder Pulsieren können trotz<br />
un gestörter sexueller Erfahrungen sehr zart, kurz,<br />
unbeständig sein oder gänzlich fehlen. Üblicherweise<br />
sind Frauen sich nur eines kleinen Teiles ihres erektilen<br />
Gewebes in der Vulva bewusst (nämlich an Schaft<br />
und Eichel der Klitoris). Sie nehmen die ausgedehnten<br />
bulbären und periurethralen Strukturen nicht wahr.<br />
Allerdings kann das Anschwellen des erektilen Ge -<br />
webes indirekt bewusst werden, wenn diese Bereiche<br />
direkt massiert werden, was zunehmend lustvolle se -<br />
xuelle Sensationen bewirken und entsprechend den<br />
Wunsch nach Wiederholung hervorrufen kann. Wir<br />
müs sen die Frauen über diese besondere Reak tions -<br />
fähigkeit befragen, eher als oder zumindest zusätzlich<br />
zur üblichen Frage nach dem Feuchtwerden der Schei -<br />
de. Nach heutigem Wissen haben die Labo rato riums -<br />
befunde von Studien, die mittels vaginaler Plethys -<br />
mographie den genitalen Blutfluss untersucht haben,<br />
bestätigt, dass die Mehrzahl der Frauen, die über Erre -<br />
gungsstörungen klagen, trotz physikalisch objektiv<br />
vor handener Kongestion (Blutanfüllung) als Antwort<br />
auf erotische Stimuli über keine lustvollen genitalen<br />
Em pfin dungen berichten. Zusätzliche manuelle Sti -<br />
mu lation hat sich im Laboratorium als nicht durchfürbar<br />
erwiesen, da sonst der Plethysmograph unverlässlich<br />
misst. Aber die Alltagserfahrung dieser Frauen ist,<br />
dass das Massieren der (sich wahrscheinlich mit Blut<br />
füllenden) Genitalien nicht zu erhöhter sexueller Lust<br />
und Erregung führt. Ihr Problem liegt in einer Ent -<br />
koppelung von Seele und Kör per. Das hat natürlich<br />
gro ße Bedeutung für vasokongestive Medikationen,<br />
die möglicherweise die genitale Durchblutung fördern<br />
soll – diese Therapie wird denjenigen Frauen nicht<br />
helfen, bei denen ein Anschwellen der Genitalien<br />
nicht das Problem ist. Man müsste Unter gruppen<br />
weiblicher sexueller Erregungsstörungen differenzieren,<br />
um Frauen ohne genitales Anschwellen von solchen<br />
unterscheiden zu können, die eine genitale Reak -<br />
tion zeigen, welche aber ohne jede Verbindung mit<br />
subjektiv lustvoller Erregung ist (Basson 1983).<br />
Tab. 1: Subtypen sexueller Erregungsstörungen bei Frauen<br />
generalisierte sexuelle<br />
genitale<br />
fehlende Errgegung<br />
unangenehme<br />
lustlose Erregung<br />
Erregungstörung<br />
Erregungstörung<br />
Erregung<br />
mentale Erregung<br />
–<br />
+<br />
–<br />
–<br />
–<br />
genitale<br />
Vasokongestion<br />
–<br />
–<br />
+<br />
+<br />
+<br />
Indikation für vasoaktive<br />
nicht primäre<br />
ja<br />
nein<br />
nein<br />
nein<br />
Substanzen<br />
Therapieoption
26 R. Basson<br />
Warum ist es für bestimmte<br />
Frauen schwierig, erregt zu werden?<br />
Viele psychologische Faktoren können die Verarbei -<br />
tung der Reize im limbischen und paralimbischen Sys -<br />
tem beeinflussen, so dass die Frau erregt oder nicht<br />
erregt werden kann. Wenn wir uns daran erinnern, was<br />
alles daran beteiligt ist, erregt, hochgradig erregt zu<br />
werden, und für kurze Zeit in einen veränderten Be -<br />
wusst seins zustand mit orgasmischer Entspannung zu<br />
gelangen, dann wird die Wichtigkeit eines gewissen<br />
Maßes an emotionaler Intimität, wie es die betreffende<br />
Frau eben braucht, erkennbar. Die Bedeutung von<br />
Sexualität als einer Kommunkationsweise liegt auch<br />
darin, dass solch eine Botschaft von äußerstem Ver -<br />
trauen und der Bereit schaft, sich hoch verletzlich zu<br />
machen, oft nicht „ge sagt“ werden kann.<br />
Der Mangel an emotionaler Intimität mit dem<br />
Part ner lässt aber nicht nur häufig keine subjektive<br />
Erregung zu, sondern darüber hinaus können die eigenen<br />
Gefühle oder Sichtweisen der Frau selbst ihre be -<br />
ständige Erregbarkeit ausschließen. Das „feedback“<br />
von den Gefühlen her kann positiv sein und die limbische<br />
Verarbeitung der Reize fördern, z. B. wenn die<br />
Frau ihre Empfindungen genießt, sich in ihrem<br />
Selbstwertgefühl gestärkt und attraktiv fühlt. Wenn<br />
allerdings negative Emotionen wie Schuld, Ver legen -<br />
heit oder Scham vorhanden sind, dann wird es zu<br />
einem negativen „feedback“ kommen, der die bewusste<br />
Wahrnehmung physiologischer Veränderun gen,<br />
selbst wenn sie stattgefunden haben, beeinträchtigen<br />
kann. Es scheint aber, dass bei einigen Frauen trotz<br />
negativer Affekte und einem Mangel an subjektiver<br />
Erregung die genitalen Reaktionen auch andauern<br />
können (Laan et al. 1995).<br />
Die kognitive Bewertung der Frau – nicht nur der<br />
Stimuli und ihres Zusammenhanges –, sondern auch<br />
ihrer eigenen Reaktion und der Konsequenzen ihres<br />
Sexualverhaltens wird diese Antwort modulieren.<br />
Wahr nehmungen, die jede Erregung negativ beeinflussen,<br />
beinhalten störende nicht-sexuelle Ablen kun -<br />
gen, frühere negative Erfahrungen, ein geringschätziges<br />
sexuelles Selbstbild, Mangel an Sicherheit (betreffend<br />
Kontra zeption, sexuell übertragbare Krankhei -<br />
ten, emotionale oder physische Sicherheit).<br />
Andersen und Cyranowski (1995) vermuten, dass<br />
die kognitiven Einschät zungen einer Frau ihre eigenen<br />
Ansichten über ihre Se xualität widerspiegeln und ihr<br />
eigenes Selbst-Konzept oder „sexuelles Schema“ ein<br />
wichtiger Teil davon sind. Andere vertreten die An -<br />
sicht, dass ein negatives Selbstbild Konservativismus,<br />
Zögerlichkeit und Peinlichkeit fördern, während ein<br />
positives Selbstbild die Bereitschaft zur Annahme der<br />
für die Förderung sexueller Erregung notwendigen<br />
Sti muli begünstigen kann. Levin’s dritte Komponente<br />
seines dreiteiligen Modells des Verlangens ist der be -<br />
wusste Wunsch, als eine sexuelle Person wahrgenommen<br />
zu werden (Levine 1988).<br />
Abbildung 2 schlägt ein einfaches Diagramm vor,<br />
um die kognitiven und emotionalen „feedback“-Me -<br />
cha nis men wiederzugeben, die kontinuierlich das Er -<br />
le ben der sexuellen Erregung einer Frauen modulieren.<br />
Die Rückmeldung von der Reaktion der Genitalien<br />
erscheint – in deutlichem Gegensatz zur Situation<br />
beim Mann – von geringerer Bedeutung zu sein (Laan<br />
et al. 1995, Everaerd et al. 2000, Laan et al. 1993,<br />
Laan et al. 1994). Während die sexuelle Erregung von<br />
Männern durch den bestätigenden Stimulus des An -<br />
schwellens der Genitalien gesteigert werden kann,<br />
fehlt Frauen ein vergleichbarer direkt bestärkender<br />
Sti mulus (Basson 2001a). Indirekte Verstärkungen,<br />
wie sie durch das Mas sieren und Liebkosen und zu -<br />
nehmend schnellere Sti mulation der Vulva erfolgen<br />
kann, sind unter Umständen bei sexuellen Praktiken,<br />
die sich auf den Geschlechts verkehr konzentrieren,<br />
nicht möglich. Während – wie bereits früher festgestellt<br />
– für Männer ohne sexuelle Probleme das An -<br />
schwellen des Penis gut mit der subjektiven Er regung<br />
korreliert, können die meisten Studien diesen Zusam -<br />
menhang bei Frauen nicht finden.<br />
Abb. 2: Subjektive sexuelle Erregung wird zu einem großen Teil von der<br />
Bewertung des Reizkontextes beeinflußt und nur z.T. vom genitalen feed -<br />
back. Kognitive und emotionale Reaktionen auf eine beliebige subjektive<br />
Erre gung und auf jedes Bewußtwerden genitaler Empfindungen tragen zu<br />
einer zusätzlichen Modulation der Reaktion bei.<br />
Erkennung als<br />
„sexuell“<br />
körperliche<br />
Reaktion;<br />
genitale<br />
Vasokongestion<br />
Sexuelle Stimuli<br />
+<br />
–<br />
?<br />
+<br />
–<br />
Kontext und Stimuli<br />
passend<br />
Subjektiv empfundene<br />
Erregung<br />
emotionale Antwort
Neubewertung der weiblichen sexuellen Reaktion 27<br />
Biologische Faktoren, die verhindern, dass Reize in<br />
Erregung umgewandelt werden, umfassen Müdig keit,<br />
Depression, Nebenwirkungen von Medikamen ten,<br />
Schwä chezustände jeglicher Ursache und gelegentlich<br />
ovarielle Hormondysbalancen oder Hyper pro laktin -<br />
ämie. Solche psychologischen und biologischen Fak -<br />
toren bestimmen die Erregbarkeit der Frau (An dersen<br />
& Cyranowski 1995, Whalen 1966, Ban croft 1989).<br />
Was folgt auf sexuelle Erregung<br />
im sexuellen Erleben von Frauen?<br />
Das folgende Modell macht klar, dass, wenn die<br />
Erregung andauern kann, d.h. wenn die Frau sich darauf<br />
konzentriert, der Reiz anhält und sie die Erfahrung<br />
se xueller Erregung genießt, sich dann auch der<br />
Wunsch einstellt, fortzufahren, nämlich um der sexuellen<br />
Em pfindungen willen (ebenso wie um ihrer<br />
ursprünglichen Ziele willen, nämlich sich dem Partner<br />
möglichst nahe zu fühlen). So folgt das Verlangen<br />
tatsächlich eher der Erregung, als dass es ihr vorausgeht<br />
und danach fallen die zwei zusammen (vgl. Abb.<br />
3). Dieses Konzept der Entwicklung sexuellen Ver -<br />
langens wurde auch von Levine (2001) diskutiert.<br />
Gibt es eine lineare Ereignisabfolge<br />
bei der sexuellen Reaktion<br />
der Frau?<br />
Wie in Abb. 2 dargestellt wird, scheint die sexuelle<br />
Reak tion der Frau mehr kreisförmig zu sein und ihre<br />
Kom ponenten sind keine getrennten Einheiten. Bei -<br />
spiels wei se werden Verlangen und Erregung gleichzeitig<br />
erlebt (man beachte die Schwierigkeit, die<br />
Frauen haben, zwischen Erregungs- und Verlangens -<br />
problemen zu unter schei den und auf die übliche<br />
Komorbidität der beiden) (Leiblum 1998, Segraves &<br />
Segraves 1991).<br />
In ähnlicher Weise sind die Orgasmuserfahrungen<br />
von Frauen unterschiedlich; sie hängen sehr stark von<br />
der begleitenden Erregung ab. Orgasmen können multipel<br />
sein und sehr unterschiedliche Intensität aufweisen,<br />
es kann auch ein Plateau hochgradiger Erregung<br />
ge geben sein, welches unter Umständen bis zu einer<br />
Minu te an dau ern kann und gelegentlich sind<br />
Orgasmen gar nicht nötig. Trotz der Definitionen von<br />
weiblichen Or gas mus störungen im DSM-IV (1994)<br />
und dem Konsen sus der Amerikanischen Gesellschaft<br />
für Urologische Krank heiten bezüglich weiblicher<br />
sexueller Dysfunk tionen (Bas son et al. 2000), welche<br />
Orgasmusstörungen auf ein Fehlen der Auslösung des<br />
Orgasmus nach einer Periode angemessener sexueller<br />
Erregung begrenzen, hat die Mehrzahl der Frauen mit<br />
Orgasmus-Sorgen eine Vielfalt von Erregungs pro -<br />
blemen (Andersen & Cyra nowski 1995, Derogatis et<br />
al. 1986, Hoon & Hoon 1978).<br />
Welche Bedeutung haben Er -<br />
folgs- oder Misserfolgserlebnisse<br />
für das sexuelle Erleben?<br />
Ein Erfolgserlebnis verstärkt emotional und physisch<br />
die eigentliche Kraft hinter dem sexuellen Reaktions -<br />
zyklus einer Frau, d.h. den Grad von emotionaler Inti -<br />
mität mit dem Partner. Umgekehrt vermindert ein<br />
Miss erfolgs erlebnis wegen chronischer Dys pareunie,<br />
einer Störung des Partners, ungeschicktem sexuellem<br />
Verhalten oder den Wirkungen von Medi kamenten das<br />
Gefühl von Nähe zum Partner und den Wunsch, in<br />
Zukunft wiederum auf sexuelle Weise zu kommunizieren.<br />
Wo fügt sich gelegentliches oder<br />
häufiges spontanes sexuelles<br />
Verlangen in das Konzept ein?<br />
Üblicherweise berichten Frauen in der Anfangsphase<br />
einer Beziehung oder um die Mitte des Men stru -<br />
ationszyklus (vielleicht verbunden mit der erhöhten<br />
Tes tosteron- und Androstendion-Produktion zu dieser<br />
Abb. 3: Alternatives Modell des weiblichen sexuellen Reaktionszyklus – das Erleben<br />
geht von der sexuellen Neutralität aus.<br />
+<br />
+<br />
Körperliche und<br />
emotionale<br />
Zufriedenheit<br />
Emotionale<br />
Intimität<br />
+<br />
Sexuelle<br />
Neutralität<br />
Steigende Erregung und<br />
Verlangen nach Fortsetzung<br />
Sexuelle<br />
Erregung<br />
Empfänglich für<br />
sexuelle Stimuli<br />
Biologische und psychologische<br />
Faktoren, welche das<br />
limbische System beeinflussen
28 R. Basson<br />
Zeit), oder wenn sexuelle Aktivität selten ist, über<br />
spontanes Verlangen nach Sexualität, ohne dass ihnen<br />
Reize aus der Umgebung oder dem eigenen Verhalten<br />
bewusst werden. Abbildung 4 zeigt, dass dieses spontane<br />
Verlangen den auf Intimität beruhenden Reak -<br />
tionskreis verstärken kann, indem es das Verlangen<br />
nach weiteren sexuellen Reizen fördert und die Erreg -<br />
barkeit erhöht.<br />
Es ist zu vermuten, dass spontanes Verlangen die<br />
„Trieb“-Komponente von Levine’s dreiteiligem Mo -<br />
dell (1988) und das angeborene biologische Ver langen<br />
nach Kaplan (1979) repräsentiert. Weiter können<br />
Selbst sti mulierung, Gelegenheitssex und Sex mit mi -<br />
ni maler In timität gelegentlich diesen spontanen Typ<br />
des Verlangens widerspiegeln.<br />
Anwendung des alternativen<br />
Reaktionszyklus auf gängige<br />
sexuelle Dysfunktionen mit<br />
erniedrigtem sexuellen Verlangen<br />
Abb. 4: Ineinander übergehende sexuelle Reaktionszyklen – spontane<br />
sexuelle Lust, die den auf Intimität beruhenden Zyklus intensiviert.<br />
+<br />
+<br />
Zufriedenheit<br />
Erregung und<br />
Verlangen<br />
emotionale Intimität<br />
Sexuelle<br />
Neutralität<br />
Spontanes sexuelles<br />
Verlangen<br />
führt direkt zur Erregung,<br />
so wie in traditionellen<br />
Modellen angenommen<br />
sexuelle<br />
Erregung<br />
Empfänglich für sexuelle<br />
+ +<br />
Stimuli<br />
Biologische und psychologische<br />
Faktoren, die das<br />
limbische System beeinflussen<br />
Chronische Dyspareunie geht häufig letztlich mit<br />
minimalem sexuellen Verlangen selbst für nichtpenetrierenden<br />
Sex einher. Die Frau hat gelernt, sexuelle<br />
Reize wegen der wiederholten Misserfolgserlebnisse<br />
zu vermeiden. Verbleibende Reize werden wegen der<br />
ge danklich negativen Einstellung wahrscheinlich<br />
nicht in Erregung umgesetzt. Üblicherweise wird die<br />
emotionale Intimität des Paares getrübt – die Frau, die<br />
wiederholt Verletzungen erfahren hat, fühlt sich ge -<br />
braucht oder sogar missbraucht. Sexuell aktive Zeiten<br />
sind nicht sexuell intime Zeiten – eher bleibt sie verwirrt,<br />
vielleicht grollend-ärgerlich und fragt sich, wa -<br />
rum sie weiterhin et was tun sollte, das für sie so negativ<br />
ist. Die Schmerz bekämpfung ist daher logischerweise<br />
nur eine Kompo nente der Therapie.<br />
Plötzlicher Verlust der ovariellen Androgene<br />
wegen vorzeitiger chirurgischer oder medikamentenbedingter<br />
Menopause kann sowohl von verringerter<br />
Erregbarkeit als auch Verlust der früher üblichen Mar -<br />
ker „spontanen“ Verlangens begleitet sein. Phanta -<br />
sierte und nicht-genitale physische Reize führen dann<br />
nicht nur zu keiner Erre gung, sondern die fehlende<br />
Wir kung des peripheren Testosterons, das an der<br />
Durchblutung von Vulva und Vagina beteiligt ist, kann<br />
genitales Lusterleben deutlich begrenzen; es ist wahrscheinlich,<br />
dass Testosteron !-1-adrenerge Reaktio -<br />
nen reguliert, wie es für die glatte Muskulatur des Cor -<br />
pus cavernus und Penis postuliert wird (Reilly et al.<br />
1997). Die emotionale Intimität des Paares kann zweifach<br />
leiden: Unter dem Verlust erfüllenden Zusam -<br />
menseins und unter der Verwirrung und den Miss -<br />
verständnissen über dessen Ursachen. Es ist wichtig,<br />
dass eine Frau ihren Zyklus und die Voraus setzungen<br />
ihres sexuellen Verlangens versteht. Sonst könnte<br />
auch eine Testosteronsubstitution zu physiologischen<br />
Spie geln die sexuelle Zufriedenheit nicht wiederherstellen.<br />
Beachtenswert in einer kürzlich durchgeführten<br />
Untersuchung über die physiologische Substitu -<br />
tion mit transdermalem Testosteron bei Frauen, die<br />
vorher ovarektomiert wurden und dabei Libido und<br />
Erregbarkeit verloren hatten, ist die Tatsache, dass<br />
eine über den Placeboeffekt hinausgehende positive<br />
Wir kung nur bei Frauen gesehen wurde, die einen<br />
hohen (im Gegensatz zu denen mit einem mittleren)<br />
Testosteronspiegel aufwiesen; zudem beschränkte sich<br />
die ser positive Effekt auf die älteren Frauen in der<br />
Studie (außer der Testo steronsubstituierung wurden<br />
keine anderen Interventi onen unternommen).<br />
Chronische Kinderlosigkeit verbindet sich leider<br />
oft mit erniedrigtem Verlangen. Die emotionale Inti -<br />
mität des Paares hat wegen der vielfachen Stressoren<br />
durch Arzt besuche und medizinische Untersuchungen,<br />
negative Wir kungen von Medikamenten, erfolglosen<br />
Zyklen und misslungener In-vitro-Befruchtung gelitten.<br />
Wenn man an bestimmten Tagen Geschlechts -<br />
verkehr haben muss, kann dies zu mechanischen und<br />
emotional frustrierenden Er fahrungen führen. Das Ge -<br />
fühl von sexuellem Selbst vertrauen und Attraktivität<br />
einer Frau kann leiden und hemmt dadurch die Umset -<br />
zung jeglicher sexueller Reize in Erregung. Sexuelle<br />
Erfahrungen können wegen der nunmehr begrenzten<br />
psychosexuellen Interaktion frustrierend bleiben – der<br />
Schwerpunkt lag für zu lange Zeit auf dem mechanischen<br />
Akt des Geschlechtsverkehrs un ter Verlust spielerischer<br />
Erotik.
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Anschrift der Autorin<br />
Prof. Dr. Rosemary Basson, Division of Sexual Medicine, Department of Psychiatry, Echolon Building,<br />
Vancouver Hospital & Health Science Centre, 855 West 12th Avenue, Vancouver, B.C. V5Z 1M9,<br />
Canada, e-mail: Sexmed@interchange.ubc.ca
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Orgasmusinduzierte Prolaktinsekretion: Feedback-<br />
Mechanismus für sexuelle Appetenz oder ein<br />
reproduktiver Reflex?<br />
Tillmann H.C. Krüger, Philip Haake, Michael S. Exton,<br />
Manfred Schedlowski, Uwe Hartmann<br />
Prolactin secretion after orgasm:<br />
feedback-mechanism for sexual<br />
drive or a reproductive reflex?<br />
Abstract<br />
The characterisation and relevance of the neuroendocrine<br />
response to human sexual activity has received little scientific<br />
attention. Due to large methodological differences in<br />
inducing sexual activity, collecting blood samples and the<br />
experimental setting the acute neuroendocrine response<br />
pattern to sexual arousal and orgasm remained heterogeneous<br />
and poorly understood.<br />
Therefore, we developed a model to record continuously<br />
the neuroendocrine response to various forms of<br />
sexual stimulation, including film, masturbation, and coitus<br />
in both men and women using a continuous blood sampling<br />
technique.<br />
Beside a transient cardiovascular and sympathoadrenal<br />
activation this series of studies have consistently de -<br />
monstrated that plasma prolactin concentrations are substantially<br />
increased following orgasm in both men and<br />
women. In contrast, no alterations were found following<br />
sexual arousal without orgasm. Furthermore, elevations of<br />
prolactin following orgasm remained increased over the<br />
experimental session, and were still raised 60 min following<br />
sexual arousal.<br />
There is clinical and experimental evidence suggesting<br />
that the prolactin response to orgasm may not only affect<br />
reproductive organs, but also play an important role in the<br />
control of acute sexual arousal following orgasm. We therefore<br />
proposed a theoretical model suggesting that<br />
orgasm-induced prolactin release modifies dopaminergic<br />
systems within the central nervous system (CNS) that are<br />
responsible for controlling sexual appetence and function.<br />
Keywords: Sexual arousal, orgasm, prolactin, catecholamines,<br />
testosterone<br />
Zusammenfassung:<br />
Nur wenige Studien haben sich mit den neuroendokrinen<br />
Se kretionsmustern während sexueller Aktivität beim<br />
Menschen beschäftigt. Aufgrund methodischer Unter -<br />
schiede in der Art der sexuellen Stimulation, der Blutent -<br />
nahmetechnik und des experimentellen Settings haben<br />
diese Arbeiten nur sehr heterogene Befunde zu neuroendokrinen<br />
Effekten von sexueller Erregung und Orgasmus<br />
hervorgebracht.<br />
Unter Zuhilfenahme einer automatischen Blutabnah -<br />
me te chnik entwickelten wir ein Untersuchungsparadigma<br />
zur sys te matischen Erfassung von neuroendokrinen Effek -<br />
ten auf verschiedene Formen der sexuellen Stimulation<br />
durch erotische Filme, Mas turbation oder Geschlechts -<br />
verkehr bei Männern und Frauen.<br />
In dieser Studienreihe zeigte sich neben einer vorübergehenden<br />
kardiovaskulären und sympathoadrenergen<br />
Aktivie rung ein konsistenter Anstieg der Prolaktin-Plas -<br />
makonzen tra tionen nach dem Orgasmus bei Frauen und<br />
Männern. Sexuelle Erre gung ohne Orgasmus führte zu<br />
keinen hormonellen Ver än derungen. Prolaktinspiegel blieben<br />
während der ganzen Un ter suchung und 60 Minuten<br />
nach dem Orgasmus signifikant erhöht.<br />
Klinische und experimentelle Daten deuten darauf hin,<br />
dass Prolaktin nicht nur an reproduktiven Organen Effekte<br />
ausüben, sondern darüber hinaus eine wichtige Rolle in<br />
der Regulation sexuellen Verhaltens nach dem Orgasmus<br />
spielen kann. Wir entwickelten ein theoretisches Modell,<br />
nach dem orgasmus-induzierte Prolaktinveränderungen<br />
dopaminerge Transmitter syste me im zentralen Nerven -<br />
system (ZNS) modulieren, die für die Kontrolle von sexueller<br />
Appetenz und Funk tion verantwortlich sind.<br />
Schlüsselworte: Sexuelle Erregung, Orgasmus, Prolaktin,<br />
Ka te cho lamine, Testosteron<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 30 – 38 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 31<br />
Das Zusammenspiel von Sexualität und Hormonen<br />
scheint dem Laien streckenweise vertrauter als dem<br />
aus gewiesenen Sexualexperten. So werden außer ge -<br />
wöhnli che Verhaltensweisen verliebter Menschen mit<br />
einem „Durchbrennen von Hormonen“ erklärt und fast<br />
jeder schreibt das berauschende Gefühl des Verliebt -<br />
seins oder den ekstatischen Zustand eines Orgasmus<br />
vor allem der Wirkung von Hormonen zu. So stark die<br />
Ahnung eines regen Wechselspiels von Botenstoffen<br />
und sexueller Ak tivität ist, so wenig verlässliche For -<br />
schungsdaten existieren tatsächlich zu Hormonen und<br />
sexueller Aktivität beim Menschen (Krüger et al.<br />
1998).<br />
Während längerfristige Effekte hormoneller Ver -<br />
än de run gen von zum Beispiel Hypogonadismus oder<br />
Hy per prolaktinämie auf sexuelle Funktionen recht gut<br />
un ter sucht sind (Krüger 2000), erscheinen die Be -<br />
funde zu akuten Effekten von sexueller Aktivität auf<br />
das Endo krinium oder umgekehrt die Auswirkungen<br />
akuter Hor monveränderungen auf appetetive und konsumatorische<br />
Sexualparameter heterogen und wenig<br />
ver standen (Krü ger 2000). Dies hat jedoch große Be -<br />
deutung für ein umfassendes Verständnis der menschlichen<br />
Sexualphy siologie und hier vor allem der neuroendokrinen<br />
Regula tionsmechanismen. Es wird an -<br />
ge nommen, dass insbesondere neuroendokrine Dysre -<br />
gulationen an der Beein trächtigung sexuelle Funk -<br />
tionen ursächlich beteiligt sind (Buvat et al. 1996,<br />
Buvat & Lemaire 1997, Stief et al. 1997). Die Wir -<br />
kung neuer, hormonartiger Substanzen wie zum Bei -<br />
spiel dem Apomorphin macht deutlich, welcher Stel -<br />
len wert dem neuroendokrinen System in der Regu -<br />
lation sexuellen Verhaltens beizumessen ist (Heaton et<br />
al. 2000).<br />
Diese Annahme wird seit langem durch tierexperimentelle<br />
Beobachtungen untermauert, in denen eine<br />
se xuelle Stimulation zu einer vermehrten Sezer nie -<br />
rung von Testosteron, Oxytocin, adrenalen Steroiden<br />
oder Prolak tin führte (Bronson & Desjardin 1982,<br />
Purvis et al. 1986, Takahashi 1990, Colborn et al.<br />
1991, Hillegaart et al. 1998). Andere Untersuchungen<br />
dokumentieren, dass kom plexe sexuelle Verhalten -<br />
weisen wie beispielsweise Monogamie, Partnerwahl<br />
oder sexuelle Präferenzen einer neuroendokrinen<br />
Kontrolle unterliegen (Slob et al. 1987, Young et al.<br />
1998). Insgesamt belegen tierexperimentellen Befun -<br />
de, dass Hormone, Neurotransmitter, Mo no amine und<br />
Neuropeptide sexuelles Verhalten so wohl stimulatorisch<br />
als auch inhibitorisch steuern können (Argiolas<br />
1999, Giuliano & Rampin 2000).<br />
Hormone und sexuelle Aktivität:<br />
Bislang ein uneinheitliches<br />
Muster<br />
Im Gegensatz zu einer Vielzahl tierexperimenteller<br />
Be funde liegen wenig und zum Teil widersprüchliche<br />
Daten über die funktionellen Zusammenhänge zwischen<br />
sexueller Erregung und neuroendokrinen Para -<br />
metern beim Men schen vor (Schiavi & Segraves<br />
1995). Film-induzierte sexuelle Erregung führte in<br />
zwei Studien zu signifikanten Anstiegen der Plas ma -<br />
adrenalin und Katecho laminspiegeln im Urin (Levi<br />
1969, Wiedekind et al. 1974), diese Effekte konnten<br />
jedoch in anderen Unter suchungen nicht repliziert<br />
wer den. Erhöhte Cortisol spiegel wurden nach Mastur -<br />
bation beobachtet (Purvis et al. 1976), und in einer<br />
anderen Studie positiv mit der Film-induzierten sexuellen<br />
Erregung assoziiert (Brown & Heninger 1975).<br />
Im Gegensatz dazu blieben die Cortisolspiegel in zwei<br />
anderen Experimenten durch die sexuelle Erregung<br />
unverändert (Rowland et al. 1987, Carani et al. 1990).<br />
Ähnlich divergierende Befunde berichten Experi -<br />
mente über die Effekte sexueller Erregung auf hypophysäre<br />
Hormone. Während einige Untersucher er -<br />
höh te Plas makonzentrationen von LH sowie verminderte<br />
Prolaktinspiegel nach sexueller Stimulation be -<br />
obachteten (La Ferla et al. 1978, Rowland et al. 1987,<br />
Stoléru et al. 1993), blieben anderen Studien zufolge<br />
die LH-, FSH-, GH-, Prolaktin- sowie "-Endorphin -<br />
kon zentratio nen nach Film-induzierter sexueller Erre -<br />
gung, Mastur bation und Koitus unverändert (Lee et al.<br />
1974, Brown & Heninger 1975, Purvis et al. 1976,<br />
Carani et al. 1990, Stoléru et al. 1993).<br />
Ein ebenso uneinheitliches Bild zeigt die Analyse<br />
der sexuellen Erregungseffekte auf die Testosteron -<br />
spiegel, die nach sexuelle Stimulation entweder an -<br />
steigen (Purvis et al. 1976, La Ferla et al. 1987,<br />
Stoléru et al. 1993, Pirke et al. 1974, Fox et al. 1972)<br />
oder unverändert bleiben (Carani et al. 1990, Rowland<br />
et al. 1987, Lee et al. 1974).<br />
Als Gründe für diese Heterogenität in den experimentellen<br />
Befunden sind sicherlich die unterschiedlichen<br />
methodischen Ansätze zu diskutieren. Dabei<br />
variierte die sexuelle Stimulation von der Darbietung<br />
sexuell stimulierender Filme, über sexuelle Fantasien<br />
bis zu Mas tur bation und Koitus. Folglich gestaltete<br />
sich Dauer und Intensität der sexuellen Stimulation<br />
äußerst unterschiedlich und variabel. Ein Teil der Stu -<br />
dien untersuchte lediglich die Auswirkungen von se -<br />
xu eller Erregung auf endokrine Parameter, in anderen<br />
Arbeiten stand wiederum der Orgasmus im Mit -
32 T.H.C. Krüger, Ph. Haake, M.S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />
telpunkt. Deutliche Unterschie de be stan den zudem in<br />
der Technik der Blutentnahme, die in der Regel nicht<br />
kontinuierlich sondern punktuell durch den Versuchs -<br />
leiter erfolgte. Die Sicherung der Pri vat sphäre der<br />
Studienteilnehmer war somit oftmals nicht gewährt,<br />
so dass allein durch die Präsenz der Untersu cher im<br />
Versuchsraum mit artifizieller Beeinflussung des neuroendokrinen<br />
System gerechnet werden muss. Da -<br />
rüber hinaus finden in diesen Untersuchungen die zirkadiane<br />
Rhythmik und pulsatile Freisetzung der neuroendokrinen<br />
Variablen sowie der Zeitpunkt der Blut -<br />
abnah me nach sexuelle Stimulation wenig Beachtung<br />
(Sched lowski et al. 1992, Richter et al. 1996). Auch<br />
das experimentelle Setting gestaltete sich sehr uneinheitlich,<br />
welches im schlechtesten Falle aus einer<br />
Untersuchungs kabine bestand, in der der Proband eine<br />
Spermaprobe abgeben sollte.<br />
Sexualität im Labor: Etablierung<br />
eines neuen Paradigmas<br />
Vor dem Hintergrund der unbefriedigenden Befund -<br />
lage entwickelten wir ein experimentelles Design zur<br />
Untersuchung akuter neuroendokriner Effekte wäh -<br />
rend sexueller Erregung und Orgasmus bei Männern<br />
und Frauen (Abb. 1). An den Untersuchungen nahmen<br />
in der Regel jeweils 10 heterosexuelle, gesunde Män -<br />
ner oder Frauen teil, die keine Vorbehalte gegenüber<br />
Masturba tion oder erotischen Filmen angaben. In ei -<br />
nem balancierten cross-over-design fanden zwei<br />
Abb. 1: Untersuchungsparadigma zur Analyse von hormonellen Veränderungen<br />
durch sexuelle Aktivität bei Männern und Frauen. Jede Versuchsperson nahm in<br />
einem cross-over design an einer Experimental- und Kontrollsitzung teil, während<br />
der ein Dokumentarfilm gezeigt wurde. In der Experimentalbedingung war dieser<br />
Film durch einen 20-minütigen Abspann erotischer Sequenzen unterbrochen. In<br />
einem Teil der Experimente waren die Probanden aufgefordert, nach 10 Minuten zu<br />
masturbieren oder Geschlechtsverkehr auszuüben.<br />
Untersuchungster mine statt, die unter Berücksichti -<br />
gung der zirkadianen Rhythmik der zu bestimmenden<br />
Hor mone jeweils um 15 Uhr begannen. In der Kon -<br />
trolluntersuchung wurde ein 60 minütiger Dokumen -<br />
tarfilm präsentiert. Unter Expe rimentalbedingungen<br />
sa hen die Probanden zunächst einen Dokumentarfilm<br />
für 20 Minuten, dann einen erotischen Film von 20<br />
Minuten, auf den wiederum ein zwanzigminütiger Do -<br />
kumentarfilm folgte. Während der ersten 10 Minuten<br />
der erotischen Sequenz waren die Ver suchsteilnehmer<br />
aufgefordert, zunächst nur den Film zu schauen (antizipatorische<br />
Phase). Abhängig von der je weiligen Stu -<br />
die und Fragestellung sollten die Probanden im Ver -<br />
lauf der weiteren 10 Minuten entweder den Film weiter<br />
verfolgen (Bedingung sexuelle Erregung), mittels<br />
Masturbation zum Orgasmus gelangen (Bedingung<br />
Mas turbation) oder Geschlechtsverkehr mit dem<br />
Partner bzw. der Partnerin ausüben (Bedingung Koi -<br />
tus). Im letzteren Fall verhielt sich die zu untersuchende<br />
Person möglichst passiv, um durch körperliche<br />
Ak tivität bedingte neuroendokrine Effekte vorzubeugen.<br />
30 Minuten vor Beginn der Messungen wurde ein<br />
venöser Zugang gelegt, der über einen dünnen<br />
Schlauch mit einer Pumpe im angrenzenden Raum<br />
verbunden war. Auf diese Weise wurde ein kontinuierlicher<br />
Blutfluss ge währt, ohne in die Privatsphäre des<br />
Probanden intervenieren zu müssen (Schedlowski et<br />
al. 1992, Krüger et al. 1998). Die Blutproben wurden<br />
je nach Messung in sechs bis sieben 10-minütige In -<br />
tervalle portioniert, sofort auf Eis gekühlt und nach<br />
der Untersuchung zentrifugiert und bis zur endokrinologischen<br />
Analyse bei –70º C eingefroren (Krüger et<br />
al. 1998).<br />
Die Aufzeichnung der kardiovaskulären Parameter<br />
erfolge über eine kleine Fingermanschette die wie der<br />
intravenöse Zugang am nichtdominanten Arm/ Finger<br />
an gebracht wurde und so eine kontinuierliche Regis -<br />
trie rung von Herzfrequenz und Blutdruck im Nach bar -<br />
raum ermöglichte (Schedlowski et al. 1992, Richter et<br />
al. 1996).<br />
Bei der Untersuchung von Frauen wurde ein Vagi -<br />
nal ple thys mograph für die Aufzeichnung von Verän -<br />
derun gen des vaginalen Blutflusses eingesetzt (nicht<br />
in der Koitus bedingung). Mittels indirekter Aufzeich -<br />
nung von Bek ken bodenkontraktionen konnte mit dieser<br />
Technik außerdem der Zeitpunkt des Orgasmus er -<br />
fasst werden.<br />
Dieses Untersuchungsparadigma ermöglichte die<br />
konsequente Analyse neuroendokriner und kardiovaskulärer<br />
Effekte von sexueller Aktivität unter verschiedenen<br />
Stimulationsbedingungen bei Männern und<br />
Frauen.
Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 33<br />
Orgasmus-induzierte Hormonveränderungen<br />
Die Ergebnisse dieser Untersuchungsreihe belegen,<br />
dass sexuelle Stimulation und Orgasmus zu signifikanten<br />
Ver änderungen im systolischen und diastolischen<br />
Blutdruck, der Herzfrequenz sowie signifikanten<br />
An stiegen in den Adrenalin- und Noradrenalin kon -<br />
zentra tionen bei Män nern und Frauen führt (Krüger et<br />
al. 1998, Exton et al. 1999). Im Gegensatz dazu blieben<br />
andere Aktivierungs- und Stresshormone wie Cor -<br />
tisol, das Wachstumshormon (hGH) und "-Endorphin<br />
unverändert. Diese Beob achtung räumt dem katecholaminergen<br />
Ant wortmuster eine gewisse Spezifität<br />
ein, welche dieses Sekretions muster nicht nur im Sin -<br />
ne einer allgemeinen Aktivie rungsreaktion erscheinen<br />
lässt. Insbesondere Nor adre nalin zeigte sich bei ge -<br />
nauerer Betrachtung un mittelbar nach dem Orgasmus<br />
erhöht (Krüger et al. 1998). Hier sind vor allem Ef -<br />
fekte auf ! 1 -Adreno zeptoren von Blutgefäßen im pe -<br />
nilen Schwellkör pergewebe und der Vagina zu diskutieren.<br />
Dieser Mecha nismus könnte postorgastisch die<br />
Detumescenz beim Mann bzw. die Drosselung der<br />
Blutzufuhr in der weiblichen Scheide mitverursachen.<br />
Die Plasmakonzentrationen des Luteinisierendes<br />
Hor mons (LH) und des Testosteron zeigten einen kleinen,<br />
aber konsistenten Anstieg nach dem Orgasmus.<br />
Auch wenn diese Effekte nur diskret ausgeprägt wa -<br />
ren, sind hier dennoch Langzeiteffekte auf Strukturen<br />
in der Peripherie und im zentralen Nervensystem zu<br />
diskutieren. Stoléru und Mitarbeiter (1993) konnten<br />
zeigen, dass bei neuroendokrinen Messungen über<br />
einer längeren Zeitraum eine Veränderung insbesondere<br />
der Pulsatilität des LH in Form einer Erhöhung<br />
der Pulsationsfrequenz und -amplitude nach sexueller<br />
Aktivität zu verzeichnen ist. Dementsprechend zeigten<br />
sich auch Testosteron plasmaspiegel verändert.<br />
Dass die gonadotrope Achse im Rahmen sexuellen<br />
Verhaltens auf alle Fälle interessant bleibt, wird außer -<br />
dem durch Daten unserer Arbeitsgrup pe zu hormonellen<br />
Veränderungen nach sexueller Ab stinenz unterstrichen<br />
(Exton et al. 2001b). Unter Verwen dung des gleichen<br />
Untersuchungsparadigmas wurden in einem<br />
cross-over design die Effekte einer dreiwöchigen<br />
sexuellen Abstinenz bei ansonsten sexuell aktiven<br />
Män nern auf das neuroendokrine Reaktionsmuster<br />
wäh rend sexueller Aktivität im Labor untersucht.<br />
Interessan ter weise fanden sich in der Abstinenzbe -<br />
dingung signifikant höhere Testosteronplasmaspiegel<br />
als in der Gruppe der sexuell aktiven Männer. Zu<br />
Beginn der Messung waren die Plas maspiegel des Ste -<br />
roids jedoch noch unverändert bzw. tendenziell niedriger,<br />
so dass hier möglicherweise von einem Re ini -<br />
tiationsmechanismus ausgegangen werden kann, der<br />
über das Testosteron die für sexuelles Verhalten wichtigen<br />
Strukturen in der Peripherie, vor allem aber im<br />
zentralen Nervensystem (ZNS) unterhalten und reaktivieren<br />
könnte. Diese Annahme wird durch eine Viel -<br />
zahl von tierexperimentellen Studien ge stützt, die vor<br />
allem im ZNS Transmittersysteme be schrieben haben,<br />
die durch Testosteron moduliert werden und maß geb -<br />
lich sexuelles Appetenzverhalten steuern (Schmidt &<br />
Rubinow 1997, Etgen et al. 1999).<br />
Während das Gros der Hypophysenhormone von<br />
sexueller Aktivität weitgehend unbeeinflusst blieb,<br />
stellt das Prolaktin eine Ausnahme dar. Mit einer<br />
Latenz von wenigen Minuten nach dem Orgasmus<br />
waren signifikante Anstiege in den Plasmakon zen -<br />
trationen zu verzeichnen, die bei der Frau ausgeprägter<br />
(100%-Zunahme) als beim Mann (50%-Zunahme)<br />
ausfielen. Zudem blieben die Prolaktinspiegel noch<br />
eine Stunde nach dem Orgas mus signifikant erhöht<br />
(Abb. 2) (Krüger et al. 1998, Exton et al. 2001a). Die -<br />
ser Effekt zeigte sich deutlich an den Orgasmus ge -<br />
kop pelt. Um die Orgasmus-Spezifität der Prolaktin -<br />
veränderungen zu untermauern, zeigten wir in nachfolgenden<br />
Untersuchungen, dass Film-induzierte se -<br />
xuelle Erregung ohne Orgasmus keine Veränderungen<br />
der Prolaktin-Plasmaspiegel bewirken (Abb. 2) (Exton<br />
et al. 2000). Es ist zudem unwahrscheinlich, dass die<br />
Pro lak tinveränderungen durch die physische Stimu -<br />
lation während der Masturbation oder des Koitus be -<br />
dingt sind. Es fand sich keine Korrelation zwischen<br />
Sti mulations dauer und Prolaktinerhöhung. Außerdem<br />
konnten wir an sechs Probanden zeigen, dass der Vor -<br />
gang der Mastu r bation ohne Orgasmus zu keinen Ver -<br />
änderungen der Pro laktinspiegel führt (Manuskript in<br />
Vorbereitung).<br />
Prolaktin – Galaktorrhoe und<br />
Lustverlust?<br />
Die konsistente Datenlage zu orgasmus-induzierten<br />
Prolaktinerhöhungen bei Männern und Frauen erfordert<br />
einen umfassenderen Blick in die Physiologie und<br />
Pathophysiologie dieses Hormons. Im klinischen Be -<br />
reich werden Prolaktinerhöhungen vor allem mit Ga -<br />
lak torrhoe und Amenorrhoe bei Frauen bzw. Müttern<br />
assoziiert; über die Wirkungen im männlichen Orga -<br />
nis mus herrscht weitgehend Unklarheit. Eine Vielzahl<br />
von human- und tierexperimentellen Studien belegt je -<br />
doch die umfassende Bedeutung dieses Peptides für<br />
Se xual verhalten (Krüger et al. 2001). Die Synthese
34 T.H.C. Krüger, Ph. Haake, M.S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />
des Prolak tins ist vorwiegend auf den Hypo phy -<br />
senvorderlappen beschränkt und wird hauptsächlich,<br />
im Gegensatz zu den meisten anderen Hypophy sen -<br />
hormonen, durch einen in hibitorischen, dopaminergen<br />
Tonus hypothalamischer Kerngebiete reguliert. Ein<br />
kürz lich identifizierter Prolak tin-Releasing Factor er -<br />
wies sich in nachfolgenden Unter suchungen als nicht<br />
spezifisch, mit nicht unerheblichen Wirkungen auf die<br />
Oxytocinsekretion (Maruyama et al. 1999). Unter vielen<br />
weiteren diskutierten Substanzen hat das Thyre o-<br />
tropin-Releasing-Hormon (TRH) die stärkste Wir kung<br />
auf die Prolaktinfreisetzung. Außer auf hypo phy särer<br />
Ebene wird Prolaktin in deutlich geringeren<br />
Konzentrationen in vielen anderen Geweben des tierischen<br />
und menschlichen Organismus wie zum Bei -<br />
spiel der Haut, Lunge, Nebenniere, vor allem aber an<br />
verschiedenen Stellen des weiblichen und männlichen<br />
Reproduktionsapparates synthetisiert (Ben-Jonathan<br />
et al. 1996, Bole-Feysot et al. 1998). Prolaktinre ze p-<br />
toren werden in den Brustdrüsen, Prostata, Neben -<br />
hoden und Eierstöcke und weiteren reproduktiven Or -<br />
ga nen und vor allem in bestimmten Arealen des zentralen<br />
Nerven systems exprimiert, die von entscheidender<br />
Bedeutung für die Steuerung des Sexualverhaltens<br />
sind (siehe Review Krüger et al. 2001).<br />
Die mögliche Tragweite Orgasmus-induzierter<br />
Pro lak tinerhöhungen wird deutlich, wenn man sich<br />
die Effekte chronischer Hyperprolaktinämie verdeutlicht.<br />
Ex perimentelle und klinische Daten belegen<br />
deutliche Auswirkungen erhöhter Prolaktinspiegel auf<br />
appetetive und konsumatorische Aspekte des Sexual -<br />
verhaltens beim Menschen (Buvat et al. 1985, Carani<br />
Abb. 2: Prolaktinveränderungen während sexueller Aktivität. Durch Koitus oder Masturbation induzierter Orgasmus führt zu ausgeprägten Anstiegen der Prolaktin-<br />
Plasmakonzentrationen von etwa 50% bei Männern und 100 % bei Frauen. Dieser Effekt ist 60 min nach dem Orgasmus noch zu verzeichnen.<br />
Prolaktinveränderungen zeigen sich orgasmusgekoppelt, sexuelle Erregung allein führt zu keinen Veränderungen der Prolaktinkonzentrationen. (?) kennzeichnet die<br />
experimentelle Untersuchungsbedingung, (?) kennzeichnet die Kontrollbedingung (modifiziert nach Krüger et al. 1998, Exton et al. 1999, 2000, 2001a).<br />
Prolaktin (ng/ml)<br />
Prolaktin (ng/ml)<br />
Prolaktin (ng/ml)<br />
Prolaktin (ng/ml)<br />
Prolaktin (ng/ml)<br />
Prolaktin (ng/ml)
Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 35<br />
et al. 1996, Walsh et al. 1997). Physiologischerweise<br />
treten erhöhte Prolaktinspiegel während der Stillpe -<br />
riode auf. Neben der laktogenen Wirkung auf das<br />
Brust drüsengewebe ist zu dem die inhibitorische<br />
Wirkung des Prolaktins auf die GnRH-Pulsatilität und<br />
damit der Sekretion von Sexual steroiden von Bedeu -<br />
tung und erklärt das Auftreten einer vorübergehenden<br />
Amenorrhoe und vermindertem sexuellen Verlangen.<br />
Dies kann als ein durchaus ökonomischer Mecha -<br />
nismus aufgefasst werden, da eine zu rasche, erneute<br />
Schwangerschaft die energetischen Re serven des Or -<br />
ga nismus überfordern könnte.<br />
Pathologisch erhöhte Prolaktinspiegel finden sich<br />
bei Prolaktinomen verschiedenster Ursache, schwerer<br />
Hypo thyreose und chronischem Nierenversagen. Vie -<br />
le Medi ka mente vor allem aus der Gruppe dopaminantagonistisch<br />
wirkender Substanzen wie z.B. typische<br />
Neuro leptika, aber auch Substanzen der neueren<br />
Antide pressi va-Generation wie die Selektiven-Sero -<br />
tonin-Wiedauf nah me hemmer (SSRI) können zu einer<br />
erhöhten Sekre tion von Prolaktin führen mit konsekutiver<br />
Beeinträch tigung sexueller Funktionen (Meltzer<br />
et al. 1997, Hum mer et al. 1999). Die Symptomatik ist<br />
meist durch verminderte sexuelle Appetenz und Or -<br />
gasmusschwierig keiten gekennzeichnet.<br />
Bei hypothalamisch-hypophysär bedingter Hyper -<br />
pro lak tinämie hat die Gabe von Dopaminagonisten<br />
wie zum Beispiel Bromocriptin oder der neueren Sub -<br />
stanz Cabergolin über eine Normalisierung der Pro -<br />
laktin-Plas makonzentrationen eine deutliche Verbes -<br />
serung sexueller appetetiver und konsumatorischer<br />
Funk tionen zur Folge (Verhelst et al. 1999). Insgesamt<br />
kann von einer en gen Verbindung von chronischer<br />
Hy perprolaktinämie und beeinträchtigen Sexualfunk -<br />
tionen ausgegangen werden.<br />
corpus cavernosum hin mit daraus resultierender<br />
Detumescenz (Aoki et al. 1995, Ra et al. 1996). Die in<br />
den Studien verwendeten Prolak tinkonzentrationen<br />
wa ren zwar deutlich höher als nach dem Orgasmus,<br />
die Wirkung der Prolaktinapplikation reich te allerdings<br />
nur etwa 15 Minuten, was ungefähr der Dauer<br />
der Refraktärphase entspräche. Ob dieser Mecha nis -<br />
mus im Rahmen eines komplexen peripheren Regel -<br />
kreislaufs für die Detumescenz beim Mann eine Rolle<br />
spielt, bleibt dahingestellt.<br />
Interessant scheint aber auch die Betrachtung<br />
anderer reproduktiver Organe, an denen Prolaktin im<br />
Sinne eines endokrinen reproduktiven Reflexes eine<br />
wichtige Funk tion bei Männern und Frauen ausüben<br />
könnte. Im Gegen satz zu chronischer Hyperpro lak -<br />
tinämie belegen tierexperimentelle Daten, dass akute<br />
Prolaktinerhöhungen be stimmte Funktionen der Ho -<br />
den und Eierstöcke fördern (Outhit et al. 1993, Goffin<br />
et al. 1999). In Leydig-Zellen unterstützt Prolaktin die<br />
Zellmorphologie, erhöht die Rezeptordichte für LH<br />
und stimuliert die Steroidbio synthese in Zusammen -<br />
arbeit mit LH. Außerdem wird die Rezeptorexpression<br />
für FSH an den Sertolizellen erhöht, die Spermato -<br />
Abb. 3: Theoretisches Modell hypothetisierter Wirkmechanismen postorgastisch<br />
erhöhter Prolaktin-Plasmaspiegel bei Männern und Frauen (nach Krüger et al. 2001)<br />
Biologische Relevanz akuter<br />
Prolaktinerhöhung nach dem<br />
Orgasmus<br />
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse müssen die<br />
Effekte von akuten Prolaktinerhöhungen nach dem<br />
Or gas mus bei Männern und Frauen betrachtet werden.<br />
Un serer Arbeitshypothese zufolge kann Prolaktin so -<br />
wohl periphere als auch zentrale Effekte ausüben<br />
(Abb. 3).<br />
Periphere Effekte: Obwohl noch nicht intensiv<br />
un ter sucht, scheint Prolaktin Effekte auf peniles<br />
Gewebe zu haben. Tierexperimentelle Untersu chun -<br />
gen deuten auf eine inhibitorische Wirkung des Pro -<br />
lak tins auf die Rela xation der glatten Muskulatur des
36 T.H.C. Krüger, Ph. Haake, M.S. Exton, M. Schedlowski, U. Hartmann<br />
zyten-Spermatiden-Konversion gefördert und die<br />
Energiebereitstellung in Spermatozoen erhöht. Pro -<br />
laktin unterstützt den Transport und die Mobilität von<br />
Spermatozoen im Nebenhoden, fördert die Fähigkeit<br />
zur Verschmelzung mit Oozyten und beschleunigt eine<br />
erfolgreiche Penetration. Ähnliche Effekte werden auf<br />
die Funktionen von akzessorischen Drüsen und die<br />
Neben nieren beschrieben. Insgesamt lassen diese Be -<br />
ob ach tungen vermuten, dass postorgastisch erhöhte<br />
Pro laktin kon zentrationen einen fördernden und stimulierenden<br />
Ein fluss auf verschiedene Gewebe der<br />
männlichen Re produktionsorgane ausüben können.<br />
Diese Annahme findet auch im weiblichen Orga -<br />
nis mus Unterstützung. Experimentellen Daten belegen,<br />
dass Prolaktin sowohl luteotrope als auch luteolytische<br />
Wirkungen ausüben kann, die die Gelbkör per -<br />
reifung und -zerstörung umfassen (siehe Review von<br />
Bole-Feysot et al. 1998). In Zusammenarbeit mit an -<br />
deren lutetropen Sub stanzen wie LH und hCG ist es<br />
für die Regulation der Progesteronsynthese mitverantwortlich.<br />
Tierexperimen tel len Daten zufolge sind or -<br />
gas mus-induzierte Prolak tinerhöhungen bei weiblichen<br />
Ratten für die Erhaltung des an sich kurzlebigen<br />
Gelbkörpers verantwortlich und für die daraus resultierende<br />
Verlängerung der Proges teron se kretion, welches<br />
für die Entwicklung der Ge bärmutterschleimhaut<br />
und die Implantation der Blasto zyste benötigt wird.<br />
Knock-out Mausmodelle zeigen, dass Tiere ohne Pro -<br />
laktinrezeptoren aufgrund einer Stö rung der Physio -<br />
logie von Eierstock, Eierleiter und Ge bärmutter zeitlebens<br />
steril bleiben (Goffin et al. 1999).<br />
In Abgrenzung zu den inhibierenden Effekten<br />
chro nischer Hyperprolaktinämie kann insgesamt gesehen<br />
eine Art neuroendokriner reproduktiver Reflex<br />
hypothetisiert werden, dessen physiologische Bedeu -<br />
tung zumindest im Tiermodell dargestellt wurde und<br />
auch im menschlichen Organismus der Auf rechter -<br />
haltung und Verbesserung reproduktiver Fähig keiten<br />
bei tragen könnte.<br />
Abb. 4: Dopaminerge Transmittersysteme, die an der Regulation sexueller<br />
Funktionen und Verhaltens beteiligt sind (modifiziert nach Hull et al. 1999)<br />
Zentrale Effekte: Alternativ dazu entwickelten wir<br />
die Hypothese eines Rückkopplungs-Mecha nismus,<br />
dem zufolge postorgastisch erhöhte Prolaktin spiegel<br />
auf zentrale Transmittersysteme einwirken und damit<br />
sexuelle Appetenz und Sättigung modulieren. Unter<br />
den verschiedenen Transmittersystemen des ZNS ist<br />
in diesem Zusammenhang das dopaminerge System<br />
von entscheidender Bedeutung, da es zum einen mit<br />
einer hohen Dichte an Prolaktin re zeptoren versehen<br />
ist und zum an deren eine Schlüs selrolle in der<br />
Steuerung sexuellen Verhaltens darstellt (Hull et al.<br />
1999, Krüger et al 2001). Drei dopaminerge<br />
Netzwerke stehen dabei im Mittel punkt der Be -<br />
trachtung: (1) das neuroendokrine hypothalamische<br />
und incerto-hypothalamische System, zu dem vor<br />
allem die mediale präoptische Area (MPOA) zählt, (2)<br />
das mesolimbokortikale System (MLC) und (3) das<br />
nigrostriatale System (NS) (Abb. 4). Diese Trans mit -<br />
ter systeme werden als maßgebliche Regulatoren<br />
unter schied licher Komponenten sexuellen Verhaltens<br />
angesehen, wobei jedes System unterschiedliche<br />
Schwer punkte hat (Mas et al. 1995, Hull et al. 1999).<br />
Die sexualphysiologisch stimulierenden Effekte von<br />
dopaminagonistisch wirkenden Substanzen, wie zum<br />
Beispiel dem Apomor phin, unterstreichen die Bedeu -<br />
tung dieser Sys teme (Hea ton et al. 2000, Meston &<br />
Frohlich 2000). Im einzelnen gilt die MPOA als eines<br />
der wichtigsten neuronalen Korrelate für die Steue -<br />
rung von motivationalen und konsumatorischen Sexu -<br />
alverhaltens. Das mesolimbokortikale System zählt zu<br />
den Belohnungssystemen verschiedener Organismen<br />
und ist im sexuellen Kontext vor allem für appetetive<br />
Verhaltensmuster von Be deutung. Das ni gro striatale<br />
System soll vor allem für die Steuerung motorischer<br />
Komponenten sexuellen Verhal ten verantwortlich sein<br />
wie zum Beispiel das Verfolgen des Sexu al partners<br />
vor der Kopulation im Tiermodell (Robbins & Everitt,<br />
1992, Hull et al. 1999).<br />
Die Wirkung peripheren Prolaktins auf zentrale<br />
Neu ro nenverbände ist vor allem in tierexperimentellen<br />
Stu dien nachgewiesen worden. Demnach ist vor<br />
allem ein negativer Feedback-Mechanismus auf hypothalamische<br />
Neurone umfassend beschrieben, der für<br />
die Regulation der Prolaktinsekretion wie bei den an -<br />
deren hypophysären Hormonen verantwortlich ist<br />
(DeMaria et al. 1999). Obwohl Prolaktin aufgrund seiner<br />
Größe von 199 Aminosäuren nicht in der Lage ist,<br />
die Blut-Hirn-Schran ke zu passieren, kann es über die<br />
Blut-Liquor-Schranke (plexus choroideus) und die zirkumventriku<br />
lären Organe die in der Nähe der Ven -<br />
trikel befindlichen Strukturen erreichen (Sobrinho<br />
1993, Gangong 2000). Periphere und zentrale Pro -<br />
laktinapplikation im Tierver such belegt eine inhibitorische,<br />
zum Teil auch exzitatorische Wir kung auf do -
Orgasmus-induzierte Prolaktinsekretion 37<br />
paminerge Neurone der beschriebenen Trans mitter -<br />
systeme.<br />
In Abb. 3 sind die von uns diskutierten Wirk me -<br />
cha nis men einer akuten Prolaktinausschüt tung zusammenfassend<br />
graphisch dargestellt. Dem nach könnte<br />
Pro lak tin im Sinne eines reproduktiven endokrinen<br />
Re flexes die physiologischen Vorausset zun gen im<br />
weiblichen und männlichen Organismus für eine er -<br />
folgreiche Konzeption maßgeblich fördern. Darüber<br />
hinaus besteht die Mög lichkeit eines Rück kopp lungs -<br />
mecha nismus von Prolak tin zu den oben erwähnten<br />
dopaminergen Strukturen im ZNS. Prolak tin könnte<br />
dem nach durch eine Inhibition dieser Neu ronen -<br />
verbände sexuelle Appetenz nach dem Orgasmus<br />
modulieren und damit einen Teilaspekt eines umfassenden<br />
Netz werks verschiedener Transmitter sys teme<br />
für die Re gulation sexuellen Verhaltens darstellen<br />
.<br />
Ausblick<br />
Um die Hypothese eines derartigen Rückkopplungs -<br />
me chanis mus zu prüfen, untersuchen wir derzeit die<br />
akuten Effekte von pharmakologisch manipulierten<br />
Prolaktin spiegeln auf eine Reihe von sexuellen Para -<br />
metern. Diese Studien sollen außerdem Informationen<br />
zu offenen Fra gen dieses Feedback-Modells liefern.<br />
Da bei soll vor al lem geklärt werden, ob akute Pro -<br />
laktinveränderungen nach dem Orgasmus die von uns<br />
diskutierte biologische Relevanz haben oder nur ein<br />
peripherer Marker eines erniedrigten dopaminergen<br />
Tonus in hypothalamischen Neuronen repräsentieren.<br />
Letztlich ist auch noch unklar, ob akute periphere Pro -<br />
laktinveränderungen beim Men schen tatsächlich un -<br />
mittelbare Effekte im ZNS auslösen können, so wie es<br />
bereits im Tiermodell gezeigt wurde.<br />
Dennoch, vorläufige Daten deuten darauf hin, dass<br />
ver hältnismäßig geringe, akute Veränderungen der<br />
Pro lak tin-Plasmaspiegel durchaus zu deutlichen Ver -<br />
änderungen sexueller Appetenz und Funktion führen<br />
können.<br />
Die in dem Artikel erwähnten Studien sind Teil eines von der<br />
Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes<br />
(Sche 341/10-1).<br />
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Anschriften der Autoren<br />
Dr. med. Tillmann H.C. Krüger, Dr. med. Philip Haake, PD Dr. phil. Michael S. Exton, Prof. Dr. phil. Manfred Sched -<br />
lowski, Institut für Medizinische Psychologie, Universitätsklinikum Essen, Hufelandstrafle 55, 45122 Essen, e-mail:<br />
epkrueger@hotmail.com<br />
Prof. Dr. phil. Uwe Hartmann, Abteilung für Klinische Psychologie, Medizinische Hochschule Hannover, 30623 Han -<br />
nover, e-mail: hartmann.uwe@mh-hannover.de
Fortbildung<br />
Sexuologie<br />
Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug –<br />
Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen<br />
Hartmut A.G. Bosinski, Jorge Ponseti, Falk Sakewitz<br />
Treatment of incarcerated<br />
sex offenders: General framework,<br />
opportunities,<br />
and limits<br />
1. Einleitung<br />
Im Januar 1998 wurde – in Reaktion auf eine Serie<br />
von Kindestötungen und sexuellem Kindesmissbrauch<br />
– das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten<br />
und anderen gefährlichen Straftaten“ verabschiedet.<br />
Der neugefasste § 66, Abs. 3 StGB gibt an, um welche<br />
Straftaten es in diesem Gesetz geht, nämlich um<br />
Verbrechen und Vergehen<br />
! gem. § 174 StGB (sexueller Missbrauch von<br />
Schutz be fohlenen, von Gefangenen, behördlich<br />
Verwahrten, Kranken, Hilfsbedürftigen [174a], un -<br />
ter Ausnutzung einer Amtsstellung [174b] oder<br />
eines Beratungs-, Be handlungs- oder Betreuungs -<br />
verhältnisses [174c]),<br />
! gem. §§ 176, 176a,b StGB (sexueller Kindes -<br />
missbrauch der verschiedenen Schweregrade),<br />
! gem. § 179 StGB (sexueller Missbrauch Wider -<br />
stands unfähiger),<br />
! gem. § 180 StGB (Förderung sexueller Handlun -<br />
gen Min der jähriger),<br />
! gem. § 182 StGB (sexueller Missbrauch Jugendli -<br />
cher),<br />
! gem. § 223a und b (jetzt § 224, § 225) StGB (ge -<br />
fährliche Körperverletzung und Misshandlung von<br />
Schutz befohlenen) und<br />
! gem. § 323 a StGB (Rauschtat, sofern diese mit<br />
einem der vorgenannten Delikte in Zusammenhang<br />
stand).<br />
Neben einer Reihe von Veränderungen in der Fest -<br />
legung der Straftatbestände und Strafrahmen (insbesondere<br />
bezüglich des sexuellen Kindesmissbrauchs),<br />
zur Verhängung der Sicherungsverwahrung gem. § 66<br />
StGB, zur Führungsaufsicht, zur Strafrestaussetzung<br />
von Frei heitsstrafen usw. hat dieses Gesetz auch<br />
Auswirkungen auf die Therapie verurteilter Sexu -<br />
alstraftäter. Dies wird schon durch die Information des<br />
Bundes jus tiz minis teri ums (BMJ) zur Einführung des<br />
o.g. Gesetzes (BMJ v. 14.11.1997) deutlich, wenn es<br />
dort heißt: „Um insbesondere die Gefahr von Wie -<br />
derholungstaten zu reduzieren, setzt das Gesetz auf<br />
eine Erweiterung der Therapie mög lichkeiten für be -<br />
handelbare Straftäter im Strafvollzug.“<br />
In diesem Zusammenhang müssen insbesondere<br />
fol gende durch die Strafrechtsänderung 1998 eingeführte<br />
Neuerungen betrachtet werden:<br />
1. Die Neufassung § 56c, Abs. 3 Nr. 1 ermöglicht<br />
nun die gerichtliche Anordnung einer psychotherapeutischen<br />
Behandlung, indem sie eine Behandlungs-<br />
Wei sung für die Bewährung oder die Führungs auf -<br />
sicht nur dann an die Zustimmung des Verurteilten<br />
bin det, wenn diese Behandlung mit einem körperlichen<br />
Eingriff verbunden ist.<br />
2. Das im Rahmen der Gesetzesreform veränderte<br />
Straf vollzugsgesetz (StVollzG) sieht vor, dass bei<br />
wegen o.g. Sexualstraftaten zu Freiheitsstrafe Verur -<br />
teilten „be sonders gründlich geprüft werden (muss),<br />
ob die Verle gung in eine sozialtherapeutische Anstalt<br />
angezeigt ist“ (§ 6 StVollzG). Wurde der Betreffende<br />
zu mehr als zwei Jahren Haft verurteilt, so soll über<br />
diese Verlegung nach Ablauf von sechs Monaten je -<br />
weils erneut entschieden werden (StVollzG § 7). Ein<br />
Gefangener soll der Neu fassung § 9 StVollzG zufolge<br />
in eine sozialtherapeutische Anstalt verlegt werden,<br />
wenn er wegen Straftaten gem. §§ 174 bis 180 oder<br />
182 StGB zu einer Freiheits strafe von über zwei<br />
Jahren verurteilt worden ist und die Indikation zur<br />
Behandlung gem. §§ 6 bzw. 7 StVollzG geprüft und<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 39 – 47 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
40 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />
bejaht wurde. Ab 2003 muss er unter diesen Bedin -<br />
gungen dorthin verlegt werden.<br />
Auch wenn die Strafrechtsänderung diesen Ge -<br />
sichts punkt nicht expressis verbis anspricht, so wird<br />
doch die Bedeutung der intramuralen Therapie von<br />
Se xu al straf tätern im Regelvollzug (also in Jus tiz -<br />
vollzugs an stalten, JVA) insgesamt zunehmen. Hier für<br />
können fol gende Grün de angeführt werden:<br />
1. Es ist zu erwarten, dass nicht alle der oben<br />
benannten Täter die Voraussetzungen für die Auf -<br />
nahme in die Sozialtherapie erfüllen werden. Es kann<br />
darüber hinaus vermutet werden, dass diese Ein rich -<br />
tungen auch kapa zitätsmäßig nicht in der Lage sein<br />
werden, alle infrage kommenden Delinquenten aufzunehmen.<br />
Zu dieser Skep sis berechtigt vor allem die<br />
Tatsache, dass die Zahl der wegen eines Sexual de -<br />
liktes verhängten, über zwei Jahre hinausgehenden<br />
Frei heitsstrafen in den letzten 10 Jahre kontinuierlich<br />
zugenommen hat, und zwar stärker als die der Ge -<br />
samtverurteilungen wegen eines Deliktes gegen die<br />
sexuelle Selbstbestimmung (s. Tab. 1).<br />
Die intramurale Therapie im Regelvollzug wird somit<br />
subsidiär für jene in einer Sozialtherapeutischen An -<br />
stalt angeboten werden müssen (Rotthaus 1998).<br />
2. Darüber hinaus wäre es unverständlich, wenn<br />
zwar eine zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafe mit<br />
einer gerichtlich angeordneten Therapie verknüpft<br />
werden kann, der zu einer zeitigen Haftstrafe von über<br />
zwei Jahren ohne Bewährung verurteilte Täter – mit<br />
einer zumeist ja gravierenderen Straftat – aber ohne<br />
Therapie bleibt. Dies widerspräche im übrigen auch<br />
der gesetzlichen Vorgabe zum Ziel des Strafvollzuges,<br />
der (lt. § 2 StVollzG) darin besteht, dass „der Ge fan -<br />
gene fähig werden (soll), künftig in sozialer Verant -<br />
wortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“<br />
3. Entsprechend der neuen Fassung des § 454 StPO,<br />
Abs. 2, soll nun bei aufgrund o.g. Sexualdelikte zu<br />
einer zeitigen Haftstrafe von mehr als zwei Jahren<br />
Verurteilten im Falle der Erwägung der Strafrest -<br />
aussetzung zur Be wä hrung durch die Strafvoll stre -<br />
ckungskammer ein Sach verständigengutachten eingeholt<br />
werden, „wenn nicht aus zu schließen ist, dass<br />
Grün de der öffentlichen Sicher heit einer vorzeitigen<br />
Entlassung des Verurteilten entgegenstehen.“ Der<br />
Gut achter hat sich namentlich da zu zu äußern, „ob bei<br />
dem Verurteilten keine Gefahr mehr be steht, dass dessen<br />
durch die Tat zutage getretene Ge fähr lichkeit fortbesteht.“<br />
Hieran wurde von verschiedener Seite Kritik<br />
geäußert (z.B. Schöch 1998; Nedopil 1999), die vor<br />
allem auf die Unschärfe dieser Rechts begriffe und<br />
letzt lich auf die dadurch erheblich reduzierte Mög -<br />
lichkeit der – zu Resozialisierungs zwec ken unabdingbaren<br />
– Entlassungserprobung auf Be wäh rung ab -<br />
stellt.<br />
In unserem Erörterungszusammenhang soll jedoch<br />
auf Bestrebungen eingegangen werden, sowohl vor<br />
dem Hintergrund des Sicherungsauftrages gem.<br />
StVollzG als auch bei der (nun beinahe obligaten 1 )<br />
Prognosebegut achtung zur Prüfung des Antrags auf<br />
Strafrestaussetzung zur Bewährung (sog. 2/3-Ent -<br />
lassung) auf Erkenntnisse aus der psychotherapeutischen<br />
Behandlung zurückzu grei fen. In diesem Zu -<br />
sammenhang soll auch auf die jüngs ten Bestrebungen<br />
zur nachträglichen Anordnung der Sicherungsver -<br />
wahrung (gem. § 66 StGB) bei Se xualstraftätern eingegangen<br />
werden; diese soll während bzw. zum Ende<br />
der Haftzeit bei jenen Sexualstraftätern ver hängt werden<br />
können, die sich während der Ver büßung als therapieunwillig,<br />
therapieunfähig oder erheblich gefährlicher<br />
erwiesen haben.<br />
Tab. 1: Verurteilte Sexualstraftäter (alle Delikte des 13. Abschnitts<br />
StGB, „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung") *<br />
Jahr Verurteilte Sexualstraf- Freiheitsstrafe<br />
täter insgesamt<br />
über 2 Jahre<br />
1990 4779 677<br />
1991 4643 713<br />
1992 4869 849<br />
1993 5061 853<br />
1994 5342 1026<br />
1995 5469 980<br />
1996 5571 1017<br />
1997 6105 1090<br />
1998 6619 1182<br />
1999 5542 1217<br />
2000 5432 1125<br />
* Quelle: Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt Wiesbaden; Achtung: Auch bis<br />
zum Jahr 2000 liegen Verurteiltenzahlen aus den Neuen Bundesländern nicht vor!<br />
2. Therapieablauf und<br />
Rahmenbedingungen<br />
Seit Mitte der 80er Jahre wird durch das schleswigholsteinische<br />
Justizministerium ein an der Kieler<br />
Sexu al medizinischen Forschungs- und Beratungs -<br />
stelle angesiedeltes Drittmittelprojekt zur „Intramu -<br />
ralen Therapie von Sexualstraftätern“ finanziert.<br />
Gegenwärtig arbeiten zwei Psychologen (Zweit- und<br />
Drittautor) unter fachlicher Anleitung und Supervision<br />
1 Im Unterschied zur nach wie vor obligaten Begutachtung bei der geplanten vorzeitigen<br />
Entlassung aus einer lebenslangen Freiheitsstrafe verbleibt auch bei der<br />
neuen Fassung des § 454 StPO dem Gericht noch ein Ermessensspielraum für die<br />
Bestellung eines Gutachtens: Es kann die entscheidungsleitende Gefährdung der<br />
öffentlichen Sicherheit – etwa im Falle eines gebrechlichen Verurteilten, oder<br />
aber eines erkennbar uneinsichtigen und weiterhin aggressiven Täters – durchaus<br />
auch selbst beurteilen.
Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 41<br />
durch den Erstautor in diesem Projekt in zwei<br />
Justizvollzugsanstalten (JVA) des Landes (s.a. Ponseti<br />
et al. 2001). Tabelle 2 zeigt die Be handlungszahlen der<br />
Jahre 1999-2001<br />
Die therapeutische Arbeit folgt einem kognitivbehavioralen<br />
Ansatz, der hier nur hinsichtlich seines<br />
Ablaufs und der Rahmenbedingungen skizziert werden<br />
soll: Jeder Strafgefangene mit einem Sexualdelikt<br />
wird bei seiner Aufnahme in die JVA auf die Mög -<br />
lichkeit einer intramuralen Therapie (mit Name und<br />
Sprechzeiten des Therapeuten) hingewiesen. Es wird<br />
ihm nahegelegt, an den Therapeuten einen Antrag auf<br />
ein erstes Gespräch zu stellen.<br />
Die Betreuung ist in drei Komplexe (Vorbereitung,<br />
Beratung, Therapie) gegliedert, innerhalb derer verschiedene<br />
Ebenen unterschieden werden, die wiederum<br />
in Phasen (a = Phase der Klärung, b = Phase der<br />
Weiter ent wicklung) unterteilt sind (s. Abbildung 1).<br />
Alle Vollzugsbeamten (und auf Wunsch auch die<br />
Prog no segutachter) erhalten das differenzierte Thera -<br />
pie kon zept mit einer schriftlichen Hand rei chung, in<br />
der ver deut licht wird, dass zwar die numerische<br />
Reihenfolge der Ebenen nicht unbedingt eine notwendige<br />
Abfolge darstellt, die jeder Patient zur Erreichung<br />
der angestrebten Therapieziele zwangsläufig durchlaufen<br />
muss, dass aber das Aufsteigen in eine „höhere<br />
Ebene“ als ein ge wisser Therapiefortschritt gewertet<br />
werden kann. Sie wer den darüber informiert, dass für<br />
den Wechsel einer Ebene bestimmte Voraus setzungen<br />
erfüllt sein müssen und dass, wenn diese nicht gegeben<br />
sind, die Ebene bis auf weiteres beibehalten wird<br />
(die Therapie also stagniert). Schließlich wird darauf<br />
hingewiesen, dass die Behandlung erforderlichenfalls<br />
auch unterbrochen bzw. vollständig abgebrochen werden<br />
kann.<br />
Die Besonderheiten des Regelvollzuges bringen es<br />
mit sich, dass zwischen den berechtigten Siche rungs -<br />
interessen einerseits und dem notwendigen therapeutischen<br />
Schutzrahmen andererseits vermittelt werden<br />
muss. Dies tangiert erheblich die Problematik der<br />
3. Schweigepflicht<br />
Es ist zunächst nachvollziehbar, dass die Anstaltsmit -<br />
arbeiter unter dem Gesichtspunkt der Sicherung, der<br />
Vollzugs- und Lockerungsgestaltung sowie der Entlas -<br />
sungs vorbereitung Angaben darüber erhalten möchten,<br />
wie sich der Strafgefangene entwickelt, welche<br />
„Fort schritte“ er macht usw. Sie werden darin in ge -<br />
wisser Weise durch die neue Fassung des StVollzG (in<br />
der Fas sung vom 26.8.1998) bestärkt: Dort verlangt §<br />
182, Abs. 2 und Abs. 4 von den Schwei ge pflichts -<br />
bewahrern (gem. § 203 StGB Abs. 1,2 und 5 also auch<br />
Tab. 2: Behandlungszahlen im Rahmen des Kieler Forschungsprojektes<br />
„Intramurale Therapie von Sexualstraftätern“<br />
1999 2000 2001<br />
Behandelte Täter mit Delikten gem.<br />
§ 176 StGB (Sexueller Kindesmissbrauch) 28 36 39<br />
Aufschub / Abbruch der Behandlung* 13 11 24<br />
wegen Leugnens 9 9 12<br />
wegen mangelnder Kooperativität o.ä. 2 2 10<br />
wegen mangelnder Sprachkenntnisse 2 - 2<br />
Behandelte Täter mit Delikten gem. §§ 177,<br />
178 StGB (Vergewaltigung / sex. Nötigung) 23 20 28<br />
Aufschub / Abbruch der Behandlung* 13 9 9<br />
wegen Leugnens 9 7 7<br />
wegen mangelnder Kooperativität o.ä. 4 2 2<br />
Sonstige behandelte Sexualstraftäter 1 1 2<br />
* Einige dieser Pat. suchen in der Folgezeit unter veränderten Bedingungen erneut um Therapie nach<br />
und erscheinen ggf. im Folgejahr (weitere Erläuterg. s. Text)<br />
Ärzten, Berufs psychologen und Sozialarbeitern),<br />
„sich gegenüber dem Anstaltsleiter zu offenbaren,<br />
soweit dies für die Auf gabenerfüllung der Vollzugs -<br />
behörde oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren<br />
für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter er -<br />
forderlich ist“ (wobei dies für Ärzte nur als Be -<br />
fugniserteilung und nicht als Auflage formuliert ist).<br />
An dieser Festlegung ist von verschiedener Seite<br />
Kritik geäußert worden (z.B. Böllinger 1999; Schöch<br />
1999). Und in der Tat – sobald Einblicke in individuelle<br />
Therapieinhalte genommen werden sollen, wäre<br />
dies ein Einbruch in den geschützten Rahmen der Psy -<br />
chothera pie, der letztlich kontraproduktiv zu einem<br />
der intendierten Ziele der Reform – größere Sicherheit<br />
der Allge meinheit durch Besserung der Täter – wäre:<br />
Der Patient, der sich nicht der Verschwiegenheit seiner<br />
Äußerungen sicher sein kann, wird keinen Einblick in<br />
seine tatsächlichen Gedanken, Gefühle, Motive, Nei -<br />
gungen und Im pulse geben, er wird vielmehr bemüht<br />
sein, „einen guten Eindruck zu machen“, im mer in der<br />
Hoffnung, der The ra peut möge „für ihn gut sagen“. In<br />
einer solchen Pseu do-Therapie würden ge rade nicht<br />
die problemhaften An teile der Persön lichkeit thematisiert,<br />
sondern der Bildung von Fassa denpersön lich -<br />
keiten Vorschub geleistet.<br />
Das von uns erarbeitete Procedere zum Umgang<br />
mit der Schweigepflicht orientiert sich deshalb an den<br />
sog. Sankelmarker Thesen (Beier & Hinrichs, 1995)<br />
und sieht eine standardisierte Form der Meldung über<br />
den Stand der Therapie an die Anstaltsleitung oder an<br />
den mit der Prognose zum 2/3-Termin beauftragten<br />
Gutachter vor (s. Abbildung 2):<br />
Da die Mitarbeiter der JVA und auf Wunsch auch<br />
der Gutachter das oben referierte Therapiekonzept<br />
ken nen, können sie relativ rasch erkennen, in welchem
42 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />
Abb. 1: Übersicht über die Ebenen des Therapiekonzeptes<br />
Ab schnitt der Betreuung sich der betreffende Ge -<br />
fangene befindet, ob in der Therapie-Vorbereitung<br />
(Ebe ne 0,1 oder 2), auf der Beratungsebene (Ebene 3<br />
und 4) oder in der Einzel- bzw. Gruppentherapie (Ebe -<br />
ne 5 bzw. 6, jeweils differenziert nach Phase der Klä -<br />
rung oder Phase der Wei ter entwicklung). Ebenso ist<br />
ggfs. erkennbar, wann, durch wen und warum es zum<br />
Abbruch oder zu einem Ab schluss einer Therapie ge -<br />
kommen ist. Diese Infor ma tionen können in die Über -<br />
le gungen zu Lockerungen oder vorzeitiger Entlassung<br />
miteinbezogen werden; darüber hinaus gehende, individuelle<br />
Angaben zu den konkreten Patienten werden
Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 43<br />
Abb. 2: Musterbogen für Behandlungsdokumentation für Sexualstraftäter im Regelvollzug (Sexualmedizin Kiel)<br />
hingegen nicht gemacht. Auch versteht es sich von<br />
selbst, dass weder die Therapeuten noch ihr Supervi -<br />
sor für die Begutachtung der behandelten Pro banden<br />
zur Verfügung stehen. Um der Ge fahr einer Instru -<br />
men tali sierung der Thera pie vorzubeu gen, wird weiterhin<br />
vor Beginn jeder Thera pie mit den Patienten<br />
folgender schriftlicher Vertrag geschlossen:
44 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />
THERAPIEVERTRAG<br />
Um psychotherapeutische Hilfestellung zu ermöglichen, ist der Aufbau einer offenen, ehrlichen und von gegenseitigem Vertrauen<br />
getragenen Beziehung not wen dig. Dazu sollen die folgenden Punkte vertraglich geregelt werden:<br />
Schweigepflicht<br />
Alle Informationen, die im Rahmen der psychotherapeutischen Gespräche offenbar werden, unterliegen einer gesetzlichen<br />
Schweigepflicht und werden daher streng vertraulich behandelt. Nur im Rahmen der therapeutischen Supervision, das ist die fachliche<br />
Beratung von Therapeuten, kann ohne Namensnennung über Therapieinhalte gesprochen werden. Allgemeine Informationen<br />
über die Einhaltung der Therapietermine und Therapiephasen können an die Leitung der JVA weitergegeben werden. Eine darüber<br />
hinausgehende Entbindung von der Schweigepflicht durch den Patienten ist vertragswidrig und führt zur Beendigung der Therapie.<br />
Therapiestunden<br />
Therapiestunden werden in gemeinsamer Absprache vereinbart. Das bedeutet, daß sich beide Seiten an die vereinbarten Termine<br />
zu halten haben. Sollten wichtige Gründe für eine Absage vorliegen, so ist die jeweils andere Seite möglichst frühzeitig darüber zu<br />
informieren und ein neuer Termin abzusprechen.<br />
Beenden der Therapie<br />
Falls wichtige Faktoren einen weiteren Therapiefortschritt wesentlich behindern oder unwahrscheinlich machen, kann die Therapie<br />
von beiden Seiten jederzeit beendet werden. Eine derartige Entscheidung ist dann der jeweils anderen Seite zu erläutern. Die oben<br />
geregelte Schweigepflicht gilt jedoch auch über das Therapieende hinaus.<br />
Erklärung<br />
Ich habe die oben dargestellte Vereinbarung gelesen, ihren Inhalt verstanden und erkläre mich mit allen Punkten einverstanden.<br />
Unterschrift:<br />
Patient; Therapeut<br />
Auf diese Weise soll verhindert werden, dass der Ge -<br />
fan gene den Therapeuten gegenüber der Strafvoll -<br />
strec kungs kammer von der Schweigepflicht entbindet,<br />
der dann – als sachverständiger Zeuge – Aussagen<br />
zum individuellen Verlauf machen müsste (womit<br />
eben das The ra pieziel konterkariert würde). Diese<br />
Ver einbarung hat zwar nur bedingt bindenden Cha -<br />
rakter, hat sich jedoch bislang auch deshalb bewährt,<br />
weil für alle Beteiligten erkennbar wird, dass ein Pa -<br />
tient, der sie bricht, nicht wirklich die Therapie<br />
wünscht (da er damit deren Ab bruch initiiert), sondern<br />
diese für Lockerungen oder vorzeitige Haftentlassung<br />
instrumentalisiert.<br />
4. Grenzen<br />
Zwar hat sich die oben dargestellte Praxis, deren Kon -<br />
formität mit dem neugefassten § 182 StVollzG uns<br />
durch das Justizministerium des Landes Schleswig-<br />
Holstein be stätigt wurde, nun bereits über Jahre be -<br />
währt und es dürfte bundesweit einmalig sein, dass in<br />
einem Bundesland jedem inhaftierten Sexualstraf täter<br />
eine Therapie angeboten werden kann.<br />
Gleichwohl stößt die Psychotherapie bei strafgefangenen<br />
Sexualstraftätern im Regelvollzug, verglichen<br />
mit der Behandlung von auf freiem Fuß befindlichen<br />
Pro banden in einer frei zugänglichen Ambulanz,<br />
immer auf eine Reihe systemimmanenter Grenzen.<br />
Einige werden unabänderlich sein; aus ihnen die Un -<br />
möglichkeit therapeutischer Beeinflussung von Sexu -<br />
alstraftätern in diesem Setting abzuleiten, käme einem<br />
therapeutischen Ni hi lismus gleich. Neben den strukturellen<br />
und räumlichen Einschränkungen sowie den<br />
sprachliche Barrieren bei Nicht-Muttersprachlern<br />
seien hier vor allem folgende Probleme genannt:<br />
1. Fehlende oder nur sehr beschränkte Mög -<br />
lich keit zur Einbeziehung einer Partnerin. Neben<br />
den Ein schrän kungen für die Diagnostik (Validierung<br />
von An gaben zur vita sexualis) setzt dies einer<br />
Therapie, die den kommunikativen Aspekt der – prinzipiell<br />
auf ein Ge genüber angelegten – Sexualität in<br />
den Vorder grund stellt (Beier et al. 2001), enge Gren -<br />
zen. Die Be ar bei tung der kommunikativen Funk tion<br />
des Sexu ellen muss so stets auf der virtuellen Ebene<br />
bleiben.<br />
2. Fehlende oder nur eingeschränkt mögliche<br />
Ex po sition in vivo.<br />
3. Fehlende Tat-Anerkennung durch den Ver -<br />
ur teil ten. Ca. 30% der Gefangenen behaupten zu -<br />
nächst, es handele sich in ihrem Falle um ein Fehl ur -<br />
teil oder man habe die Taten nur auf anwaltlichen Rat<br />
ein geräumt (um ein geringeres Strafmaß zu erreichen).<br />
Zwar reduziert sich dieser Prozentsatz im Laufe<br />
der vorbereitenden bzw. der auch diesen Probanden<br />
angebotenen bedarfs orien tier ten und Beratungs-Ge -
Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 45<br />
spräche (Ebene 3 und 4). Die weiterhin tatleugnenden<br />
Ge fan ge nen können jedoch schon deshalb nicht in<br />
Therapie genommen werden, weil diese sich sonst in<br />
einer nachträglichen „Beweis wür di gung“ erschöpfen<br />
wür de.<br />
4. Häufig fehlende fachkundige Begutachtung<br />
im er ken nenden Verfahren. Neben den Feststel lun -<br />
gen zur Schuldfähigkeit im erkennenden Verfahren<br />
stellt der Gut achter eine Diagnose und ggfs. Indi ka -<br />
tion zur Be handlung. Er ist dabei nicht durch die<br />
Schwei ge pflicht gebunden und kann wesentlich mehr<br />
und bessere Er kenntnismittel einsetzen als der intramurale<br />
Psy cho therapeut. Neben einer Reihe medizinisch-technischer<br />
Un tersuchungsmethoden ist hier vor<br />
allem – nach gebotener prozessualer Absicherung –<br />
die Befragung signifikanter Dritter zu nennen, die ge -<br />
rade in rebus sexualibis von eminenter Bedeutung ist.<br />
Diese Einschränkung hinsichtlich fehlender Vor -<br />
gutachten gilt im übrigen in vollem Umfang auch für<br />
die gerichtlich angewiesene ambulante Therapie von<br />
Se xualstraftätern im Rahmen der Bewährung oder der<br />
Führungsaufsicht: Zunehmend beobachten wir, dass<br />
Richter – die ja eine ärztliche Dia gno se und Therapie-<br />
Indikation nicht stellen können – eine solche Weisung<br />
zur Psychotherapie ohne sachverständige Begutach -<br />
tung des Probanden erlassen. Es bleibt dabei völlig<br />
un geprüft, ob überhaupt adäquate therapeutische Ka -<br />
pa zität verfügbar ist, ob die The rapie ambulant möglich<br />
ist usw. Dies geht soweit, dass Freiheitsstrafen nur<br />
deshalb zur Bewährung ausgesetzt werden, weil der<br />
Verurteilte bereit sei, sich in eine psychotherapeutische<br />
Behandlung zu begeben. Fin det er keinen Thera -<br />
peuten – weil es zu wenige von ihnen gibt, oder weil<br />
diese die Behandlungs mög lichkeit aus Gründen, die in<br />
der Person des Ver urteilten liegen (Sprachbarriere, er -<br />
heb liche intellektuelle Minderbegabung usw.) ablehnen<br />
–, so kann dies dem Verurteilten nicht vorgeworfen<br />
werden (indem man seine Bewährung widerruft):<br />
Er bleibt unbehandelt in Freiheit.<br />
5. Probleme und Desiderata – die<br />
vorbehaltlich und die nachträglich<br />
angeordnete Sicherungsver -<br />
wahrung<br />
Die justizielle Praxis hat inzwischen gezeigt, dass in<br />
einigen wenigen Fällen die gem. § 454 StPO, Abs. 2<br />
(n.F.) veranlasste Prognose-Begutachtung zur sog.<br />
2/3-Entlassung „zu spät kommt“. Wir hatten bereits<br />
im Vorfeld der Strafrechtsänderung (Bosinski 1997)<br />
da rauf hingewiesen, dass bei einer (sicher nur seltenen)<br />
gutachterlichen Feststellung nach wie vor bestehender<br />
Gefährlichkeit zum Zeitpunkt der beantragten<br />
„vorzeitigen Entlassung“ sich tatsächlich nicht viel<br />
ändert: Der Gefangene muss seine Haftzeit voll verbü -<br />
ßen, kommt dann aber „unverändert“ in Freiheit, allerhöchstens<br />
mit Anordnung einer Führungsaufsicht und<br />
entsprechenden Weisungen (deren Nicht-Befolgung<br />
aber aus unserer Erfahrung nur geringe Konsequenzen<br />
nach sich zieht).<br />
Diese Situation ist offensichtlich unbefriedigend<br />
und hat dazu geführt, dass die CDU/CSU-Fraktion im<br />
Juli 2001 (BT-Drucksache 14/6709) einen Gesetzent -<br />
wurf in den Bundestag einbrachte, der unter anderem<br />
vorsieht, dass „... gegen hochgefährliche Straftäter die<br />
Un terbringung in der Sicherungsverwahrung nach -<br />
träg lich, d. h. in der Zeit zwischen der Rechtskraft des<br />
Urteils und der vollständigen Verbüßung der verhängten<br />
Freiheitsstrafe durch Beschluss der Strafvoll -<br />
streckungskammer“ angeordnet werden kann. Dieser<br />
Entwurf ist wegen verfassungsrechtlicher Bedenken<br />
im Bundesrat gescheitert, in Baden-Württemberg<br />
kann jedoch seit März 2001 solche nachträgliche<br />
Sicherungsverwahrung durch das dem Landesrecht<br />
unterliegende Polizeirecht (Straftäter-Unterbringungs -<br />
gesetz, StrUBG) angeordnet werden, und zwar unter<br />
dem ordnungsrechtlichen Gesichtspunkt der Gefah -<br />
renabwehr („Gefahr für die öffentliche Sicherheit“).<br />
Auch Hessen plant ein solches Gesetz, und in Schles -<br />
wig-Holstein wird eine entsprechende landesrechtliche<br />
Regelung von der CDU-Landtagsfraktion gefordert<br />
(Kieler Nachrichten vom 27.02.2002). Bundes -<br />
kanzler Gerhard Schröder unterstützt das landesrechtliche<br />
Vorgehen nachdrücklich (Pressemitteilung der<br />
Bun desregierung vom 12.7.2001) und Bundesjustiz -<br />
ministerin Däubler-Gmelin hat die Länder zur Ein -<br />
führung entsprechender Gesetze aufgefordert (Presse -<br />
in formation vom 24.1.2002) 2 . Bayern hatte bereits<br />
1997 und 1998 einen entsprechenden Antrag über den<br />
Bundesrat eingebracht, der dort scheiterte. Seit dem<br />
1.1.2002 gilt auch in Bayern eine polizeirechtliche<br />
Regelung. Sie ersetzt die zuvor angewandte und so -<br />
wohl fachlich als auch rechtlich umstrittene Praxis,<br />
ge fährliche Straftäter nach ihrer Entlassung aus dem<br />
Strafvollzug über das Unterbringungsgesetz in psychiatrische<br />
Krankenhäuser einzuweisen.<br />
Die von verschiedener Seite vorgebrachten verfassungsrechtlichen<br />
Bedenken gegen eine post festum<br />
Verhängung der Sicherungsverwahrung werden unter<br />
an derem damit begründet, dass es hier zu einer nach -<br />
träglichen Strafverschärfung außerhalb des öffentlichen<br />
Gerichtsverfahrens und ohne Beiziehung von<br />
Schöf fen kommt. Des weiteren wird geltend gemacht,<br />
2 „Wenn sich die Gefahr erst aus dem Verhalten im Vollzug ergibt, müssen die<br />
Bundesländer diese Möglichkeit schaffen. Vorbeugung ist Länderkompetenz.“
46 H.A.G. Bosinski; J. Ponseti, F. Sakewitz<br />
dass damit indirekt in die bundeshoheitliche Ge setz -<br />
gebung (durch länderspezifische Praxis der Anwen -<br />
dung des § 66 StGB) eingegriffen wird. Schließlich<br />
wird angeführt, dass von den zwei in den baden-württembergischen<br />
und bayerischen Landesgesetzen ge -<br />
forderten Gutachtern tatsächlich nur einer unabhängig<br />
sei – der zweite kommt jeweils aus der JVA (die den<br />
Antrag auf Unterbringung stellt). Vielleicht ist dies<br />
auch der Hintergrund dafür, dass in Baden-Württem -<br />
berg in den ersten neun Monaten nach Inkrafttreten<br />
des StrUBG der Landesjustizminister Goll (FDP) –<br />
der sich eine Vorab-Prüfung vorbehalten hat – neun<br />
von zehn durch die jeweiligen Anstaltsleitungen<br />
gestellten Anträgen auf nachträgliche Anordnung der<br />
Sicherungsverwahrung ablehnte (Presseinformation<br />
der SPD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg vom<br />
7.12.2001) 3 .<br />
Die verfassungsrechtlichen Bedenken können in<br />
der Tat einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen,<br />
zumal wenn man bedenkt, dass die Siche -<br />
rungsverwahrung noch immer als „die fragwürdigste<br />
Maßregel des Strafrechts“ betrachtet wird (i. Überbl.<br />
Kinzig, 1997). Auch wenn die Sicherungsverwahrung<br />
zum Katalog der „Maßregeln der Besserung und<br />
Sicherung“ (§ 61 ff StGB) gehört, so steht hier doch<br />
der Sicherungsaspekt der Allgemeinheit ganz im<br />
Vordergrund. Die Sicherungsverwahrung ist bei der<br />
ersten Anordnung zehn Jahre, bei der zweiten unbefristet<br />
(mit festgeschriebenen Prüfungsfristen) im Re -<br />
gelvollzug zu verbringen. Schon deshalb wurde sie<br />
zumindest bislang, wenn auch in den letzten 10 Jahren<br />
zunehmend, so doch aber insgesamt außerordentlich<br />
zurückhaltend und davon nur in ca. einem Viertel bei<br />
einem Sexualstraftäter verhängt (s. Tab. 3).<br />
Tab. 3: Zahl der Verurteilten mit angeordneter Sicherungsverwahrung<br />
(SV) gem. § 66 StGB *<br />
Jahr Sicherungsverwahrung davon wegen<br />
insgesamt<br />
Sexualstraftat<br />
1990 31<br />
1991 38<br />
1992 34<br />
1993 27<br />
1994 40<br />
1995 45<br />
1996 46<br />
1997 46<br />
1998 61<br />
1999 55<br />
2000 60<br />
7<br />
14<br />
16<br />
8<br />
18<br />
13<br />
7<br />
18<br />
14<br />
24<br />
17<br />
* Quelle: Quelle: Strafverfolgungsstatistik, Statistisches Bundesamt Wiesbaden; Angaben für<br />
die alten Bundesländer und Berlin<br />
3 Allerdings erstaunt uns die in dieser Presseinformation auch genannte Zahl von<br />
„114 Strafgefangenen in Baden-Württemberg (bei denen) die formalen Voraussetzungen<br />
für eine Sicherungsverwahrung vorliegen“.<br />
Das Bundeskabinett hat nun jüngst (Presseinformation<br />
vom 13.3.2002) einen Gesetzesentwurf zur „Anord -<br />
nung der Sicherungsverwahrung unter Vorbehalt“ be -<br />
schlossen. Eine solche Regelung würde bedeuten, dass<br />
– in Analogie zu § 67 b StGB, der dies jetzt schon bei<br />
den Maßregeln „Unterbringung in einem psychiatrischen<br />
Krankenhaus“ (§ 63 StGB) bzw. „in einer Ent -<br />
ziehungsanstalt“ (§ 64 StGB) vorsieht – neben einer<br />
Freiheitsstrafe eine Sicherungsverwahrung angeordnet,<br />
aber „zur Bewährung“ ausgesetzt würde. Das er -<br />
kennende Gericht kann dann zunächst den Verlauf<br />
einer intramuralen Therapie bei Ableistung der Re -<br />
gelstrafe abwarten und im weiteren Verlauf über die<br />
Voll streckung der Maßregel Sicherungsverwahrung<br />
ent scheiden.<br />
Diese Regelung hätte nicht zuletzt den Vorteil,<br />
dass die Anordnung der Sicherungsverwahrung in<br />
einem rechtsstaatlich transparenten, öffentlichen<br />
Verfahren (und nicht durch die Strafvollstrec kungs -<br />
kammer) getroffen werden würde. Voraussetzung für<br />
diese Regelung wäre allerdings zweierlei:<br />
1. Ein rechtlich einwandfreies, sowohl die Sicher -<br />
heitsinteressen der Allgemeinheit im Blick habendes<br />
als auch den therapeutisch notwendigen Schutz rah -<br />
men der Behandlung wahrendes Procedere im Um -<br />
gang mit der Schweigepflicht. Das in der Kieler Sexu -<br />
almedizin in Anlehnung an die sog. Sankel mar ker<br />
The sen entwickelte und oben ausführlich referierte<br />
dies bezügliche Verfahren hat sich in der Praxis be -<br />
währt.<br />
2. Bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung<br />
muss seit 1970 regelhaft ein ärztlicher Sachver stän -<br />
diger gehört werden, der gem. § 246 a StPO sich auch<br />
zu äußern hat „... über die Gesamtheit der Per sön lich -<br />
keitsmerkmale des Angeklagten (...) die für die Be ur -<br />
teilung seines Hanges und der ihm zu stellenden Ge -<br />
fährlichkeitsprognose bedeutsam sind“ (BGH StrafV<br />
1994, S. 234; zit. nach Kinzig a.a.O.) und dazu, ob der<br />
Anordnung der Maßregel „Sicherungsverwah rung“<br />
mit einer medizinischen Behandlungsmaßnahme<br />
(etwa bei einer behandlungsbedürftige psychische Er -<br />
krankung) begegnet werden kann (Kaatsch 1984).<br />
Nun hat jedoch das Gericht (außer den Vorgaben<br />
des § 66, Abs., Satz 1 und 2 StGB) 4 a priori keine<br />
Kennt nis darüber, bei welchem Sexualstraftäter die<br />
An ordnung der Sicherungsverwahrung in Frage<br />
kommt. Das bedeutet, dass es allgemein in erkennenden<br />
Verfahren gegen Sexualstraftäter deutlich häufiger<br />
zur fachärztlichen Begutachtung kommen muss.<br />
Denk bar ist hier eine ministeriale Empfehlung zur vermehrten<br />
Bestellung von Sachverständigen, welche<br />
sicher nicht die richterliche Unabhängigkeit tangieren<br />
4 Da dieser neue Gesetzesentwurf uns bislang nicht vorliegt, gehen wir zunächst<br />
davon aus, dass diese Voraussetzungen weitergelten sollen.
Therapie von Sexualstraftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen, Möglichkeiten und Grenzen 47<br />
würde. Die Sachverständigen hätten dann eben nicht<br />
nur zur Frage der Schuldfähigkeit gem. §§ 20,21 StGB<br />
(die für die Anordnung einer Sicherungsverwahrung<br />
keine gesetzliche Vorgabe ist), sondern auch zur Pro -<br />
gnose Stellung zu nehmen und damit dann ggfs. auch<br />
jenen „Hang zu erheblichen Straftaten“ zu diagnostizieren,<br />
welcher gem. § 66 StGB eine der notwendigen<br />
Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungs -<br />
verwahrung ist.<br />
Eine solche Zunahme der sexualmedizinisch-fo -<br />
ren sischen Begutachtungen in erkennenden Verfahren<br />
gegen Sexualstraftäter allgemein, und nicht erst – wie<br />
heute gem. § 454 StPO, Abs. 2 – „am Ende des Ver -<br />
fahrens“, hätte im übrigen den unabweisbaren Vorteil,<br />
dass sich dann auch die im vorangegangenen Ab -<br />
schnitt thematisierten Probleme der fehlenden Dia -<br />
gnostik und Indikation bei gerichtlich angeordneter<br />
oder in der JVA angebotener Psychotherapie verringern<br />
würden: Auch hierzu würde der Sachverständige<br />
bereits im Vorwege Stellung nehmen müssen.<br />
Diese Begutachtungen könnten dann auch die (u.E.<br />
schon jetzt geringe) Zahl derjenigen Gefangenen mi -<br />
ni mieren, bei denen sich erst während der Haft der<br />
„Hang zu erheblichen Straftaten“ zeigt, und so die verfassungsrechtlich<br />
bedenkliche nachträgliche Anord -<br />
nung der Sicherungsverwahrung überflüssig machen.<br />
Allerdings ist für eine solche Regelung eine deutliche<br />
Erhöhung der quantitativen und auch qualitativen<br />
Kapazität an Sachverständigen erforderlich, welche<br />
idealiter forensisch, sexualmedizinisch und therapeutisch<br />
qualifiziert sein müssten: Nach unserer<br />
Schät zung werden gegenwärtig maximal 15% aller<br />
Se xualstraftäter im erkennenden Verfahren begutachtet.<br />
Einer der Gründe dafür, dass Richter häufig auf die<br />
Einholung von Gutachten verzichten, dürfte darin<br />
bestehen, dass Sachverständige fehlen und die Ver fah -<br />
ren dadurch in die Länge gezogen würden (mit den<br />
bekannten misslichen Auswirkungen, insbesondere in<br />
Haftsachen).<br />
Ein solcher Qualifizierungsbedarf für Sexualmedi -<br />
zin und Forensik besteht im übrigen jetzt schon durch<br />
die gestiegene Nachfrage nach Entlassungsbegutach -<br />
tungen: Nach unserem Eindruck kommt es hier aufgrund<br />
von Gutachtermangel zur Verzögerung und<br />
nicht selten auch zum Ausbleiben der – zu Reso zia li -<br />
sierungszwecken und auch für therapeutisch begleitete<br />
Erprobungen eigentlich unerlässlichen – vorzeitigen<br />
2/3-Entlassung auf Bewährung.<br />
Dringender Qualifikationsbedarf besteht darüber hinaus<br />
für ambulante, intramurale oder in So zial the ra peu -<br />
tischen Einrichtungen tätige Therapeutinnen und<br />
Therapeuten von Sexualstraftätern (Beier et al. 2000).<br />
Es ist deshalb zu hoffen, dass die von verschiedenen<br />
Fachgesellschaften (unter anderem der Akademie für<br />
Sexualmedizin) entfalteten Initiativen zur Einführung<br />
von Curricula und Weiterbildungsnachweisen in<br />
Forensischer Psychiatrie (Nedopil & Sass, 1997; Sass,<br />
2000) und in Sexualmedizin (Vogt et al. 1995; Beier<br />
1999) hier eine Wende zum Besseren bringen.<br />
<strong>Literatur</strong>:<br />
Beier, K.M. (1999): Sexualmedizin: Berufsbegleitende Fort bildung mit<br />
Zertifikat. Dt Ärztebl 96: A-2075-2077.<br />
Beier, K.M.; Hartmann, U.; Bosinski H.A.G. (2000): Be darfs analyse zur<br />
sexualmedizinischen Versorgung. Sexu ologie 7: 95f.<br />
Beier, K.M.; Bosinski, H.A.G.; Hartmann, U.; Loewit, K.: Sexual me -<br />
dizin. Urban und Fischer: München 2001<br />
Beier, K.M.; Hinrichs, G. (1995): Psychotherapie mit Straf fälligen.<br />
Stand or te und Thesen zum Verhältnis von Patient – Therapeut – Jus -<br />
tiz. Stuttgart: Fischer Verlag.<br />
Böllinger, L. (1999): Ein Schlag gegen das Resoziali sie rungs prinzip.<br />
Offenbarungspflicht der Therapeuten im Straf vollzug. Z f Sexual -<br />
forsch 12: 140-158.<br />
Bosinski, H.A.G. (1997): Sexueller Kindesmißbrauch: Opfer, Tä ter und<br />
Sank tionen. Sexuologie 4: 27-88.<br />
Kaatsch, H.-J. (1984): Die Zuziehung des medizinischen Sach ver ständi -<br />
gen bei Anordnung der Sicherungs ver wah rung (§§ 80a, 246a StPO).<br />
Beiträge zur Geschichtl Medizin 42: 5-8.<br />
Kinzig, J. (1997): Die Gutachtenpraxis bei der Anordnung der Si che -<br />
rungs verwahrung. Recht & Psychiatrie 15: 9-19.<br />
Nedopil, N. (1999): Begutachtung zwischen öffentlichem Druck und<br />
wissenschaftlicher Erkenntnis. Recht & Psy chiatrie 17: 120-126.<br />
Nedopil, N.; Sass, H. (1997): Schwerpunkt „Forensische Psy chia trie“?<br />
Nervenarzt 68: 529-530<br />
Ponseti, J.; Vaih-Koch, S.R.; Bosinski, H.A.G. (2001): Zur Ätiologie von<br />
Sexualstraftaten: Neuropsychologische Parameter und Ko mor bidität.<br />
Sexuologie 8: 65-77.<br />
Rotthaus, K.P. (1998): Neue Aufgaben für den Strafvollzug bei der<br />
Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen ge fährlichen Straf ta ten.<br />
NStZ, H. 12: 597-600.<br />
Sass, H. (2000): Zur Musterweiterbildungsordnung: Schwer punkt „Fo -<br />
rensische Psychiatrie“, Weiterbildungs cur riculum und Übergangsbestimmungen.<br />
Nervenarzt 71: 763-765<br />
Schöch, H. (1998): Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexu aldelikten und<br />
anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1. 1998. NJW 18: 1257-1262.<br />
Schöch, H. (1999): Zur Offenbarungspflicht der Therapeuten im Justiz -<br />
vollzug gem. § 182 II StVollzG. Z Str Vo 5/ 99: 259-266.<br />
Vogt, H.-J.; Loewit, K.; Wille, R.; Beier, K.M.; Bosinski, H.A.G. (1995):<br />
Zusatzbezeichnung „Sexualmedizin“ – Be darfsanalyse und Vorschlä -<br />
ge für einen Gegenstandskatalog. Sexuologie 2: 65-89.<br />
Anschriften der Autoren<br />
Priv.-Doz. Dr.med. Hartmut A.G. Bosinski, Dipl.-Psych. Jorge Ponseti, Dipl.-Psych. Falk Sakewitz; Sexu al me -<br />
dizinische Forschungs- und Beratungsstelle, Universitätsklinikum der CAU; Arnold-Heller-Str. 12; 24105 Kiel; e-<br />
mail: hagbosi@sexmed.uni-kiel.de
Aktuelles<br />
International Academy of Sex Research (IASR) Twenty-Eighth Annual Meeting<br />
Hamburg, 19. – 22. Juni<br />
Die 28. Jahrestagung der IASR findet vom 19. bis 22. Juni 2002 im Hotel Hafen Hamburg in Ham burg<br />
statt. Das Programm umfasst Invited Lectures“ und Symposia zu aktuellen Themen sowie Pos ter -<br />
sitzungen und eine „Sexological Debate“.<br />
Vorläufiges Programm<br />
Invited Lectures<br />
Roy Baumeister, „Erotic plasticity and female sexuality“<br />
Hennig Bech, „Gendertopia: Development of gender relations in late modernity“<br />
Jill Becker, „Females in charge: Estrogens, dopamine, and sexual reward“<br />
Stephen Levine, „The nature of sexual desire: A clinical perspective“<br />
Symposia<br />
Sex research in Germany (Organisation Hertha Richter-Appelt)<br />
Sexual pharmacology: Mechanisms, molecules and mating (Ray Rosen)<br />
Sexual strategies: Lessons from Pisces (KimWallen)<br />
The impact of human rights, disease and changing gender scripts on women's sexuality (Anke A.<br />
Ehrhardt)<br />
Sociology of the family revisited. New lifestyles and their consequences for the upbringing of children in<br />
Western societies (JanTrost)<br />
Developmental sexuality (Lucia O’Sullivan)<br />
Post communist sexualities (LeonoreTiefer)<br />
Love, lust, and female sexual orientation (Michael Bailey)<br />
Debate in Sexology<br />
Parental rights and selection for sexual orientation (Aaron Greenberg, Martin Dannecker)<br />
Nähere Informationen/ Anmeldeformulare<br />
Prof. Dr. Gunter Schmidt, Prof. Dr. Hertha Richter-Appelt<br />
Abteilung für Sexualforschung, Klinikum der Universität Hamburg<br />
Martinistraße 52, 20246 Hamburg<br />
Tel.: 040 – 42803 2225/ 3224/ 3242, Fax: 040 - 42803 6406<br />
e-mail: schmidt@uke.uni-hamburg.de<br />
Call for Papers: SEXUALITY IN MODERN GERMAN HISTORY<br />
Conference at the German Historical Institute, Washington DC, October 24-27, 2002<br />
Conveners: Edward R. Dickinson (Univ. of Cincinnati) and Richard F. Wetzell (GHI)<br />
The German Historical Institute in Washington DC is calling for the submission of abstracts for proposed<br />
papers for a conference on the history of sexuality in nineteenth and twentieth-century German-speaking<br />
Europe. The past decade has seen a tremendous growth of research and publications on sexuality<br />
in modern German history. This conference is designed to bring together historians working on different<br />
aspects of the history of sexuality in order to exchange ideas, share ongoing research, evaluate different<br />
theoretical frameworks and methodologies, assess the state of the field, debate emerging interpretive<br />
paradigms, and sketch out agendas for future research.<br />
- sexual practices<br />
- sexual minorities and sub-cultures<br />
- sexual identities<br />
- sex reform<br />
- sex research and sexual science<br />
- sex and commerce (prostitution, pornography, sex<br />
industry)<br />
- sexuality and medicine, including the medical regulation<br />
of sexualities<br />
Possible topics include:<br />
- sexuality and the law, including the policing of<br />
sexualities and censorship<br />
- sexuality and politics, including the legislative<br />
regulation of sexualities<br />
- sexuality and political ideologies<br />
- sexuality and race<br />
- sexuality and religion<br />
- sexuality and the arts (including literature, theater,<br />
cinema, fine arts, music)<br />
- sexuality and feminism<br />
We are hoping to bring together about fifteen historians from North America and Europe. Preference will<br />
be given to papers that present ongoing research. All papers must be submitted in advance (by Sep tem -<br />
ber 1) and will be circulated to participants six weeks before theconference. The conference panels will<br />
be in workshop format, focusing on comments and discussion. All papers must be in English. Funds fortravel<br />
and hotel accommodation are available.<br />
Please send your (1) paper title and abstract (max. 500 words, in English) and (2) curriculum vitae – by<br />
regular mail, fax or email – to the following address by APRIL 1, 2002:<br />
History of Sexuality Conference, Attn: Dr. Richard F. Wetzell, German Historical Institute, 1607 New<br />
Hampshire Ave, NW, Washington DC 20009-2562, USA<br />
e-mail: r.wetzell@ghi-dc.org, Fax: 1-202-483-3430<br />
For general information about the German Historical Institute in<br />
Washington DC please consult our website at http://www.ghi-dc.org<br />
Sexuologie<br />
Hinweise für Autorinnen und Autoren<br />
Sexuologie ist eine interdisziplinäre Fachzeitschrift für angewandte Sexual wis senschaft<br />
und veröffentlicht deutschsprachige Beiträge zur empirischen Sexual forschung. Beiträge<br />
gliedern sich in Originalarbeiten (ca. 10 Seiten), Histo ria (ca. 5 Seiten), Kasuistiken und<br />
Fallberichte (ca. 3 Seiten) sowie Buchrezensionen. Eingerichtete Manuskripte werden<br />
anonymisiert von zwei Gutachtern bzw. Gutachterinnen beurteilt. Die Redaktion bittet,<br />
folgende Hinweise zu beachten:<br />
Manuskripte<br />
Veröffentlicht werden nur Texte, die weder vollständig noch in Teilen an der weitig publiziert<br />
oder zur Publikation eingereicht wurden. Manuskripte ein schließlich <strong>Literatur</strong> ver -<br />
zeichnis, Abbildungen, Abbildungslegenden und Tabellen sind in einfacher Ausfertigung<br />
einzureichen. Sie sind einseitig, zweizeilig (mit breitem Rand links) zu schreiben und<br />
durchzunummerieren. Ein gesondertes Blatt soll enthalten: 1. kurzer, klarer Titel der Ar -<br />
beit; 2. Namen, Vornamen aller Autoren; 3. voll ständige Anschrift mit Bezeichnung der<br />
Abteilung, Klinik bzw. Institut; 4. Korrektur- und Korrespondenzadresse mit Telefon -<br />
nummer und ggf. Faxnummer und e-mail Adresse.<br />
Die Beiträge sollten nach Annahme in einem gängigen Text ver arbeitungspro-gramm auf<br />
Disket te oder Zip-Diskette eingereicht werden, nach Rücksprache ist auch elektronische<br />
Übermittlung möglich. Der Text ist unformatiert in der oben angegebenen Reihenfolge<br />
zu verfassen. Graphik dateien können übernommen werden. Die Diskette ist mit einem<br />
Etikette zu versehen, auf dem Dateiname und verwendetes Programm vermerkt sind.<br />
Aufbau und Gestaltung des Beitrags<br />
Vor dem Text stehen: 1. der Titel in Englisch, 2. die Au to rennamen, 3. eine deutsche und<br />
eine englische Zusam menfassung (jeweils ca. 250 Worte), die Hinter grund, Methodik<br />
und Ergebnisse der Arbeit darstellen. Unter den Zusam men fassungen stehen jeweils drei<br />
bis fünf „key words" bzw. Schlüs selwörter, entsprechend dem Medical Subject Heading<br />
des Index Medicus. Der Beitrag ist zu gliedern, bei Originalarbeiten z.B. durch kurze, klare<br />
Zwischenüber schriften wie Metho dik, Ergebnisse, Diskussion. Her vorhebungen sind kursiv<br />
möglich; die Wörter im Manuskript kursiv schreiben oder unterstreichen; Texte in<br />
Klein druck (petit) durch einen senkrechten Strich am linken Manuskriptrand markieren.<br />
<strong>Literatur</strong>angaben<br />
<strong>Literatur</strong>verweise im Text erfolgen bei ein oder zwei Autoren unter Nennung des<br />
Nachnamens und der Jahreszahl (Bsp.: Müller 1988 bzw. Müller & Meier 1990). Bei<br />
mehr als zwei Autoren wird der Nachnamens des Erstautors genannt und der Zusatz im<br />
Satz „und Mitarbeiter", in Klammer „et al." (Bsp.: im Text: Müller und Mitarbeiter 1967,<br />
in der Klammer: Müller et al. 1967). Bei mehr als einer Arbeit desselben Autors aus demselben<br />
Jahr sind die Arbeiten mit a, b, c, usw. nach der Jahreszahl zu versehen. Mehrere<br />
in einer Klammer aufgeführte <strong>Literatur</strong>verweise sind nach Erscheinungsjahr geordnet und<br />
durch Semikola getrennt aufzuführen (Bsp.: Müller 1980; Abraham 1985). Wörtliche<br />
Zitate sind im Text durch Anführungsstriche zu kennzeichnen und mit Seitenangaben<br />
aufzuführen (Bsp.: „....." Müller 1989: 325).<br />
Die Bibliographie ist alphabetisch nach den Nachnamen der Erstautoren zu ordnen. Die<br />
Arbeiten sind mit allen Autoren (Nachname, Vornamensinitialen), ggf. getrennt durch<br />
Semikola, aufzuführen. Nach dem Autorennamen folgt die Jahreszahl der Publikation in<br />
Klammern, gefolgt durch einen Doppelpunkt. Periodika werden entsprechend dem Index<br />
Medicus ohne Punkt abgekürzt. Der Jahrgangs-/Bandangabe folgt nach einem Dop -<br />
pelpunkt die Seitenangabe. Bei Monographien wird Verlagsort, Verlag und ggf. Seiten -<br />
angabe aufgeführt.<br />
Bsp. Zeitschriftenartikel<br />
Abbott, D.H.; Holman, S.D.; Berman, M.; Neff, D.A.; Goy, R.W. (1984): Effects of opiate<br />
antagonists on hormones and behavoir of male and female rhesus monkeys. Arch Sex<br />
Behav 13: 1-25.<br />
Bsp. Monographien<br />
Monkey, J. (1986): Venuses penuses: Sexology, sexosophy, and exigency therory. Buffalo:<br />
Promethes books.<br />
Bsp. Buchbeiträge<br />
Meyer-Bahlburg, H.F.L. (1992): Möglichkeiten und Grenzen psychoendokrinologischer für<br />
die menschliche Geschlechtertypik. In: Wessel, K.F.; Bosinski, H.A.G. (Hrsg.). Interdis -<br />
ziplinäre Aspekte der Geschlechterverhältnisse in einer sich wandelnden Zeit. Bielefeld:<br />
Kleine Verlag, 103-120.<br />
Nach der Bibliographie ist die Anschrift des Autors/ aller Autoren mit dem akademischen<br />
Titel, Vor- und Nachname und Korrespondenzadresse anzuführen.<br />
Tabellen, Abbildungen und Legenden<br />
Tabellen, Abbildungen sind zu numerieren und mit einer Überschrift zu versehen. Die Ein -<br />
schalt stelle ist am Manuskriptrand zu kennzeichnen. Abbildungen – falls sie nicht als<br />
Grafikdatei vorhanden sind – sind als reproduktionsfertige Vorlagen zu liefern: etwa als<br />
Strichzeichnungen, Graphiken, Computer aus druk ke oder als schwarz/weiß Fotos. Bei<br />
Farbabbildung muss ein erheblicher Druck kos tenbeitrag in Rechnung gestellt werden.<br />
Abbildungen müssen durchnumeriert und auf der Rückseite mit einem Pfeil („oben") und<br />
dem Autorennamen versehen sein. Sie dürfen nicht aufgeklebt sein. Falls Abbildungen<br />
von Patienten verwendet werden, dürfen diese nicht erkennbar und identifizierbar sein.<br />
Abkürzungen<br />
Für Maßeinheiten wird das SI-System verwendet. Gebräuchliche ältere Maß angaben<br />
können in Klammern ergänzt werden. Weitere Abkürzungen sollten nach Möglichkeit<br />
vermieden werden. In jedem Fall sollte der ersten Verwendung der Abkürzung die ausgeschriebene<br />
Vollform vorangestellt werden. Bei Medikamenten werden die Generika<br />
angegeben. Präparatennamen (Handelsnamen) können in Klammern ergänzt werden.<br />
Bei Geräten oder Ins trumenten sollte generell die allgemeinen Bezeichnungen verwendet<br />
werden. Herstellerbezeichnungen können in Klammern ergänzt werden.<br />
Verwendung von bereits publizierten Materialien<br />
Eine Verwendung von Materialien aus den anderen Quellen (z.B. Abbildungen, Tabellen)<br />
ist nur bei genauer Quellenangabe und mit Erlaubnis des Urhebers möglich.<br />
Korrekturen<br />
Der Korrespondenzautor erhält einen Korrekturabzug (Fahnen).<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 48 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Sexuologie<br />
Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />
für Praktische Sexualmedizin<br />
Inhalt<br />
Orginalarbeiten<br />
50 Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation. Ergebnisse der „Globalen Studie zu sexuellen Einstellungen u. Verhaltensweisen“<br />
4 Uwe Hartmann, Alfredo Niccolosi, Dale B. Glasser, Clive Gingell, Jacques Buvat, Edson Moreira, Edward Lauman<br />
61 Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf<br />
4 Martina Rauchfuß, Claudia Altrogge<br />
Fortbildung<br />
75 Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“<br />
4 Günther Fröhlich<br />
Historia<br />
83 Das Institut für Sexualwissenschaft und die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933)<br />
4 Klaus M. Beier, Rainer Alisch<br />
Aktuelles<br />
87 Entmannte Männer: Männerforschung (<strong>Literatur</strong>bericht II. Teil), Buchbesprechungen, Webtip, AIDS/HIV in der Bundesrepublik<br />
Anschrift der Redaktion<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />
D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />
Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />
D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />
E-mail: journals@urbanfischer.de<br />
Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />
Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />
64 45, Fax (03641) 62 64 21, Zur Zeit gilt die Anzeigenliste vom 01.01.2002<br />
Abonnementsverwaltung und Vertrieb: Urban & Fischer GmbH & Co. KG, Nieder -<br />
lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />
Telefon (03641) 62 64 44, Fax (03641) 62 64 43<br />
Bezugshinweise: Das Abonnement gilt bis auf Widerruf oder wird auf Wunsch befristet.<br />
Die Lieferung der Zeitschrift läuft weiter, wenn sie nicht bis zum 31.10 abbestellt wird.<br />
Erscheinungsweise: Zwanglos, 1 Band mit 4 Heften.<br />
Abo-Preis 2002: 129,- €*; Einzelheftpreis 39,- €*, Alle Prei se zzgl. Versandkosten.<br />
Vorzugspreis für persönliche Abon nenten 60,30 €*.<br />
*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />
wer den zur Zah lung akzeptiert: Visa/Eurocard/Mastercard/American Ex press (bitte Kar -<br />
ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />
Bankverbindung: Deutsche Bank Jena, Konto-Nr. 390 76 56, BLZ 820 700 00 und<br />
Postbank Leipzig, Konto-Nr. 149 249 903, BLZ 860 100 90<br />
Copyright: Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen<br />
ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />
(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />
Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />
Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />
D-99423 Weimar.<br />
Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />
alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />
© 2002 Urban & Fischer Verlag<br />
Coverfoto: © gettyimages<br />
Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />
Forschung<br />
Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />
Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />
somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />
alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />
Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />
Sexuologie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />
dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />
Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />
chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />
schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />
mit Sexual straftätern.<br />
Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />
almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />
störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />
chun gen (Paraphilien, Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />
von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />
Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />
Wissenschaftlicher Beirat<br />
Dorothee Alfermann, Leipzig<br />
Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />
Walter Dmoch, Düsseldorf<br />
Günter Dörner, Berlin<br />
Wolf Eicher, Mannheim<br />
Erwin Günther, Jena<br />
Heidi Keller, Osnabrück<br />
Heribert Kentenich, Berlin<br />
Rainer Knussmann, Hamburg<br />
Götz Kockott, München<br />
Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />
John Money, Baltimore<br />
Elisabeth Müller-Luckmann,<br />
Braunschweig<br />
Piet Nijs, Leuven<br />
Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />
Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />
Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />
Wolfgang Sippell, Kiel<br />
Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />
Hans Martin Trautner, Wuppertal<br />
Henner Völkel, Kiel<br />
Hermann-J. Vogt, München<br />
Reinhard Wille, Kiel<br />
Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) PSYNDEX · PsycINFO<br />
Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />
nis können Sie jetzt auch kostenlos per e-mail (ToC Alert Service) erhalten. Melden Sie sich an: http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation<br />
Ergebnisse der „Globalen Studie zu sexuellen<br />
Einstellungen und Verhaltensweisen“ 1<br />
Uwe Hartmann, Alfredo Niccolosi, Dale B. Glasser, Clive Gingell, Jacques Buvat,<br />
Edson Moreira, Edward Lauman 2<br />
Sexuality in patient-physiciancommunication.<br />
Results of „The<br />
Global Study of Sexual Attitudes<br />
and Behaviors“<br />
Abstract<br />
The „Global Study of Sexual Attitudes and Behaviors<br />
(GSSAB)“ was developed to better understand the sexual<br />
attitudes and beliefs of men and women age 40 and<br />
older regarding sex, relationships, and treatment-seeking<br />
behavior for sexual dysfunction. A multidisciplinary board<br />
of international experts developed the 61-item questionnaire<br />
that was administered by telephone interview,<br />
in-person interview of self-completion (varying by country).<br />
The survey involved approximately 26.000 men and<br />
women in 28 countries representing all world regions. In<br />
this initial report we describe data evaluating patient-physician<br />
communication with a special focus on the results<br />
from Germany. Overall, more than 80% of men and 60%<br />
of women said that sex was moderately, very or extremely<br />
important in their life. Worldwide, a high percentage<br />
of women (44%) and men (39%) reported sexual problems<br />
in the past 12 months but only 9% had been asked<br />
by a physician about sexual difficulties. In Germany, 11%<br />
said that a physician had asked them about sexual problems<br />
without bringing it up first. When asked if a doctor<br />
should routinely inquire about sexual function, approximately<br />
50% replied yes. Looking at the main barriers to<br />
medical care, the data from Germany show that misconceptions<br />
(no medical problem, normal part of getting<br />
older), prejudices, a low degree of discomfort and a tendency<br />
to hope that the problem would go away most<br />
often obstruct mentioning sexual problems to health care<br />
providers. These preliminary results suggest that sexual<br />
health remains important to men and women over age<br />
1 Die GSSAB wurde gesponsert von Pfizer.<br />
2 für die GSSAB Experten Gruppe<br />
40. As sexual problems can negatively impact overall quality<br />
of life and are in most cases treatable, these data<br />
underscore the need for increased patient-physician communication.<br />
The results from this survey should aid physicians<br />
to better understand and initiate discussions regarding<br />
the sexual health needs of their patients.<br />
Zusammenfassung<br />
Die „Globale Studie zu sexuellen Einstellungen und<br />
Verhaltensweisen (GSSAB)“ wurde geplant, um die sexuellen<br />
Einstellungen und Überzeugungen von Männern<br />
und Frauen zwischen 40 und 80 Lebensjahren zu sexueller<br />
Gesundheit, Partnerschaft und dem Hilfesuchverhalten<br />
bei sexuellen Problemen zu erfassen. Eine multidisziplinäre<br />
Gruppe internationaler Experten entwickelte den 61<br />
Items umfassenden Fragebogen, der die Grundlage der<br />
Befragung bildete, die je nach technischen Vorausset zun -<br />
gen und landesüblichen Gegebenheiten per Telefon oder<br />
als persönliches Interview durchgeführt wurde. In die Stu -<br />
die konnten bislang ca. 26.000 Männer und Frauen aus<br />
28 Ländern einbezogen werden, die alle Regionen der<br />
Welt repräsentieren. In diesem ersten Report werden die<br />
Daten zur Bewertung der Arzt-Patient-Kommu ni kation<br />
be schrieben mit einem besonderen Focus auf den Ergeb -<br />
nissen aus Deutschland. Insgesamt berichteten mehr als<br />
80% der Männer und 60% der Frauen, dass Sexualität in<br />
ihrem Leben mittelmäßig, sehr oder extrem wichtig ist.<br />
Weltweit gab ein hoher Prozentsatz der Frauen (44%) und<br />
Männer (39%) an, in den vergangenen 12 Monaten sexuelle<br />
Probleme gehabt zu haben, aber nur 9% sind von<br />
einem Arzt in den letzten 3 Jahren nach sexuellen Proble -<br />
men gefragt worden. In Deutschland sind 11% der Be -<br />
frag ten von ihrem Arzt aktiv nach sexuellen Schwierig -<br />
keiten gefragt worden, aber ca. 50% stimmten der Aus -<br />
sage zu, dass ein Arzt seine Patienten routi ne mäßig nach<br />
ihrer sexuellen Funktion fragen sollte. Be trachtet man die<br />
Haupthindernisse, Hilfe für sexuelle Pro ble me zu suchen,<br />
dann zeigen die Daten aus Deutsch land, dass Fehlüber -<br />
zeugungen (kein medizinisches Problem, normaler Teil<br />
Sexuologie 9 (2) 2002 50 – 60 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 51<br />
des Alterns), Vorurteile, ein geringer Leidensdruck und die<br />
Hoffnung, dass sich das Pro blem von allein wieder gibt,<br />
am häufigsten das An sprechen durch den Patienten verhindert.<br />
Insgesamt zeigen diese vorläufigen Ergebnisse,<br />
dass sexuelle Gesund heit bei beiden Geschlechtern auch<br />
im höheren Lebens alter wichtig bleibt. Da sexuelle Pro -<br />
bleme die allgemeine Lebensqualität negativ beeinflussen<br />
und in den meisten Fällen behandelbar sind, unterstreichen<br />
die Daten der GSSAB die Notwendigkeit einer verbesserten<br />
Arzt-Patient-Kommunikation. Die Resultate dieser<br />
Studie sollen Ärzten und Sexualtherapeuten helfen,<br />
die sexuellen Pro bleme ihrer Patienten besser zu verstehen<br />
und Gespräche über die sexuelle Gesundheit zu initiieren.<br />
Einleitung<br />
Die hohe Prävalenz und Inzidenz sexueller Funk -<br />
tionsstörungen konnte in den vergangenen 10 Jahren<br />
in einer Reihe empirischer Studien an repräsentativen<br />
Stichproben eindrucksvoll bestätigt werden. So wurde<br />
sowohl in der Massachussetts Male Aging Study<br />
(MMAS; Feldman et al. 1994) als auch in der Kölner<br />
Männer Studie (Braun et al. 2000) die hohe Verbrei -<br />
tung erektiler Dysfunktionen sowie deren Zusammen -<br />
hang zu Lebensalter und psychischem und physischem<br />
Gesundheitszustand belegt. In der National<br />
Health and Social Life Survey (NHSLS) in den USA<br />
(Lauman et al. 1994, 1999) sowie in einer Studie in<br />
England (Dunn et al. 1998) zeigte sich, dass sogar<br />
noch mehr Frauen als Männer das Vorhandensein se -<br />
xu eller Probleme angaben (43% gegenüber 31% in der<br />
NHSLS, 41% gegenüber 34% in der englischen Un -<br />
ter suchung).<br />
Diese hohen Prävalenzzahlen sowie die seit Ende<br />
der 90er-Jahre (bislang nur für die männlichen<br />
Dysfunktionen) verfügbaren oralen Medikamente zur<br />
Behandlung sexueller Dysfunktionen lenkten das<br />
Interesse der Fachwelt, aber auch der interessierten<br />
Öffentlichkeit verstärkt auf das Inanspruchnahme ver -<br />
halten professioneller Hilfe sowie auf die Versor -<br />
gungssituation der von sexuellen Problemen betroffenen<br />
Personen. Dabei kristallisierten sich in verschiedenen<br />
Untersuchungen vor allem zwei Phänomene als<br />
bedeutsam heraus:<br />
(1) Die geringe Motivation oder Bereitschaft vieler<br />
Betroffener, Hilfe für ihre sexuellen Probleme zu<br />
suchen und<br />
(2) die schwierige Stellung des Themas Sexualität in<br />
der Arzt-Patient-Beziehung. Es liegt auf der Hand,<br />
dass beide Punkte nicht unabhängig voneinander sind.<br />
In mehreren Studien wurde der Versuch gemacht, hierzu<br />
vertiefte Erkenntnisse zu gewinnen und die Gründe<br />
aufzuhellen.<br />
In der EDEN-Studie (Erectile Dysfunction in<br />
European Nations Survey; Gingell 1998) wurden in<br />
fünf europäischen Ländern sowohl Patienten mit<br />
Erek tionsstörungen als auch Frauen und Männer aus<br />
der allgemeinen Bevölkerung in semi-strukturierten<br />
Interviews nach Einstellungen und Kenntnissen zu<br />
Erektionsstörungen befragt. Mehr als zwei Dritteln<br />
der aus der allgemeinen Bevölkerung Befragten war<br />
der Begriff erektile Dysfunktion unbekannt, es zeigten<br />
sich zahlreiche Fehlannahmen und verzerrte Vor -<br />
stellungen und nur 20% der Männer konnten sich vorstellen,<br />
für ein Erektionsproblem unmittelbar Hilfe zu<br />
suchen und 5% gaben an, das niemals tun zu wollen.<br />
Dagegen sagten die meisten der bereits von Erek tions -<br />
störungen betroffenen Patienten, dass sie sich eine<br />
offenere Diskussion und bessere Information über<br />
erek tile Dysfunktionen wünschen würden.<br />
Mak et al. (2001) befragten in Belgien Männer<br />
nach ihren sexuellen Symptomen und nach ihrer Be -<br />
reit schaft, den Arzt darauf anzusprechen. Es zeigte<br />
sich, dass gerade die Männer mit den signifikantesten<br />
Stö rungen der sexuellen Funktion sowie die älteren<br />
Männer die geringste Bereitschaft aufwiesen, ihren<br />
Arzt anzusprechen. Gerade die Betroffenen also, die<br />
den größten Gesprächs- und Therapiebedarf haben,<br />
erhalten diese Unterstützung letztlich am wenigsten.<br />
Die Autoren betonten daher, dass der Arzt über spezielle<br />
Kommunikationsmittel verfügen sollte und das<br />
Gespräch initiieren muss.<br />
In der schon erwähnten englischen Studie von<br />
Dunn et al. (1998) zeigte sich mit 49% der befragten<br />
Männer und 39% der Frauen ein vergleichsweise<br />
hoher Prozentsatz an professioneller Hilfe für sexuelle<br />
Probleme interessiert. Bei den von sexuellen Pro -<br />
blemen betroffenen Personen beliefen sich die Pro -<br />
zent sätze sogar auf 64% resp. 44%. Von den Be -<br />
fragten, die angaben, Hilfe haben zu wollen, hatten<br />
jedoch nur 12% der Männer und 8% der Frauen auch<br />
tatsächlich Hilfe erhalten.<br />
Besonders deutlich zeigten sich die beiden oben<br />
aufgeführten Problemkreise in der MORI-Studie<br />
(Corrado 1999), einer im Auftrag der International<br />
Society for Impotence Research (ISIR) durchgeführten<br />
und von der Firma Pfizer gesponserten Unter -<br />
suchung in 10 verschiedenen Ländern zu Einstel -<br />
lungen von über 40jährigen Männern gegenüber erektilen<br />
Dysfunktionen. Neben Kenntnisdefiziten der<br />
Män ner zum Thema Erektionsstörungen stellte sich in<br />
dieser Untersuchung besonders die Arzt-Patient-<br />
Kommunikation als sehr problematisch heraus. Ins -<br />
gesamt 83% der Männer gaben an, noch niemals von
52 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />
ihrem Arzt auf ihre sexuelle Funktionsfähigkeit angesprochen<br />
worden zu sein und 84% hatten auch noch<br />
niemals von sich aus dieses Thema beim Arzt angesprochen.<br />
40 % der Männer bewerteten Erektions stö -<br />
rungen als das Gesundheitsproblem, für das sie am<br />
wenigsten professionelle Hilfe suchen würden.<br />
Andererseits waren zwei Drittel der Männer der An -<br />
sicht, dass ein offeneres Sprechen das Stigma ab bauen<br />
und mehr Männer einer Hilfe zuführen würde. In den<br />
beiden letztgenannten Punkten waren die Er gebnisse<br />
für Deutschland im übrigen deutlich schlechter als der<br />
Länderdurchschnitt. Während bei einer durchschnittlichen<br />
Zustimmung von 66% z.B. in Mexiko 83% der<br />
Männer glaubten, dass offenere Gespräche hilfreich<br />
wären, stimmten dem nur 48% der deutschen Männer<br />
zu. Zudem waren Erektionsstörungen für 66% der<br />
deut schen Männer (Durchschnitt 40%) das Gesund -<br />
heitsproblem, für das sie mit der geringsten Wahr -<br />
schein lichkeit Hilfe suchen würden.<br />
Vor dem Hintergrund dieser Resultate bestand das<br />
Ziel der „Globalen Studie zu sexuellen Einstellungen<br />
und Verhaltensweisen“ (im folgenden GSSAB) vor<br />
allem darin, die Einstellungen und Überzeugungen<br />
von Männern und Frauen im Alter über 40 Jahren zu<br />
erfassen mit dem Focus auf Sexualität, Partnerbe -<br />
ziehung, allgemeiner und sexueller Gesundheit sowie<br />
dem Inanspruchnahmeverhalten bezüglich der Be -<br />
hand lung sexueller Probleme. Die vorliegende Arbeit<br />
beschränkt sich auf die Aspekte der Untersuchung, die<br />
sich mit der Arzt-Patient-Kommunikation und dem<br />
Hilfesuchverhalten der Befragten beschäftigen. In<br />
weiteren Beiträgen sollen andere Schwerpunkte dieser<br />
umfangreichen Studie beleuchtet werden.<br />
Zielsetzung, Methodik und<br />
Durch führung der Studie<br />
Von einer 12köpfigen, multidisziplinären, internationalen<br />
Expertengruppe wurde ein umfangreicher, 61<br />
Items umfassender Fragebogen entwickelt, der neben<br />
soziodemographischen Angaben die Bereiche (a) Ge -<br />
sundheit, Beziehung und Zufriedenheit; (b) sexuelle<br />
Gewohnheiten/Einstellungen sowie (c) Aussagen zur<br />
Sexualität/zukünftige Richtlinien um fasste. Die finanzielle<br />
Unterstützung durch die Firma Pfizer ermöglichte<br />
es, diese Studie im weltweiten Maßstab, in bislang<br />
28 Ländern aus allen 5 Kontinenten, an über<br />
26.000 Frauen und Männer durchzuführen. Dazu<br />
wurde der Fragebogen in die jeweiligen Landes spra -<br />
chen übersetzt und lokale Marktforschungs- bzw.<br />
Mei nungsforschungsfirmen beauftragt, nach entsprechender<br />
Instruktion die Befragungen durchzuführen.<br />
Die folgenden Zielsetzungen standen im Mittelpunkt<br />
der Untersuchung:<br />
! Einschätzung der Rolle und Bedeutung von Se -<br />
xualität und Intimität für den Einzelnen und die<br />
Paarbeziehung.<br />
! Einschätzung der Einstellung und Überzeugungen<br />
von Männern und Frauen zwischen 40 und 80<br />
Jahren bezüglich sexueller Gesundheit.<br />
! Darstellung der Verhaltensweisen von Männern<br />
und Frauen, die eine Behandlung für ihre sexuellen<br />
Probleme suchen.<br />
! Bereitstellung einer internationalen Baseline von<br />
Daten zur Sexualität, die für die Zukunft genutzt<br />
werden kann, um Veränderungen abzubilden.<br />
Ein weiteres Hauptziel besteht darin, die Daten und<br />
Erkenntnisse aus der GSSAB einzusetzen, um daraus<br />
Lehr- und Fortbildungsmaterialien für Fachkreise und<br />
Laienpublikum zu entwickeln und so einen offeneren<br />
Dialog über sexuelle Gesundheit zu ermöglichen.<br />
Die in die Studie bislang einbezogenen Länder<br />
und die für sie verwendeten Abkürzungen kann Tabel -<br />
le 1 entnommen werden.<br />
Tab. 1: Aufstellung der beteiligten Länder und der verwendeten Abkür -<br />
zungen<br />
Afrika/Mittlerer Osten<br />
Algerien = ALG<br />
Ägypten = EGY<br />
Israel = ISR<br />
Marokko = MOR<br />
Türkei = TUR<br />
Asien<br />
China = CHN<br />
Hong Kong = HKG<br />
Indonesien = IDN<br />
Japan = JPN<br />
Korea = KOR<br />
Malaysia = MYS<br />
Philippinem = PHL<br />
Singapore = SGP<br />
Taiwan = TWN<br />
Thailand = THA<br />
Australasien<br />
Australien = AUS<br />
Neu Seeland = NZL<br />
Europa<br />
Belgien = BEL<br />
Frankreich = FR<br />
Deutschland = GER<br />
Italien = ITA<br />
Spanien = SPN<br />
Schweden = SWE<br />
Großbrittanien = UK<br />
Latein Amerika<br />
Brasilien = BRA<br />
Mexiko = MEX<br />
Nord Amerika<br />
Canada = CAN<br />
Vereinigte Staten = USA
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 53<br />
Nach verschiedenen Mastervariablen (Geschlecht, Al -<br />
ter, Stadt-Land-Bevölkerung, Bildung etc.) wurden<br />
die für eine Repräsentativstichprobe erforderlichen<br />
Quo ten bestimmt. Die Stichprobengröße betrug zwischen<br />
500 (in den meisten asiatischen und afrikanischen<br />
Ländern) und 1500 (in Europa, Amerika und<br />
Australien/Neuseeland) Personen. Je nach technischen<br />
Voraussetzungen und landesüblichen Gegebenheiten<br />
wurde die Befragung per Telefon (in 14 Ländern; nach<br />
dem random digit dialing Verfahren) oder als persönliches<br />
Interview (in 13 Ländern) durchgeführt und in<br />
einem Land (Japan) wurde der Fragebogen von den<br />
Teilnehmern selbst beantwortet und zurück gesendet.<br />
In allen Europäischen Ländern wurde die Befragung<br />
als Telefoninterview durchgeführt.<br />
punkt allerdings noch keine differenzierten Länder -<br />
vergleiche vorliegen, wird sich die Ergebnisdar stel -<br />
lung dann vorwiegend auf die Daten aus Deutsch land<br />
konzentrieren.<br />
Abb. 1: Wie wichtig ist Sexualität insgesamt für Ihr Leben?<br />
% der Antworten<br />
83 %<br />
Äußerst/sehr/eher (3-5) wichtig<br />
63 %<br />
Ergebnisse<br />
1. Ergebnisse aus dem Ländervergleich<br />
Es sollen zunächst einige Ergebnisse im Länder über -<br />
blick präsentiert werden. Da zum gegenwärtigen Zeit-<br />
Basiert auf 5-stufiger Skala, auf der „5“ äußerst wichtig<br />
und „1“ überhaupt nicht wichtig repräsentiert.<br />
Abb. 2: Wie wichtig ist Sexualität insgesamt für Ihr Leben?<br />
% der Antworten<br />
Äußerst/sehr/eher (3-5) wichtig<br />
Afrika & Mittlerer Osten Asien Australien Europa Latein Amerika Nord Amerika<br />
Basiert auf 5-stufiger Skala, auf der „5“ äußerst wichtig und „1“ überhaupt nicht wichtig repräsentiert.
54 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />
Die Abbildungen 1 und 2 zeigen für alle Länder ge -<br />
mittelt sowie für die einzelnen Länder im Vergleich<br />
die Bedeutung, die die befragten Personen der Se xu -<br />
alität für ihr Leben insgesamt geben. Dabei zeigt sich,<br />
dass für die meisten Menschen Sexualität einen wichtigen<br />
Stellenwert einnimmt. Allerdings messen ihr<br />
mehr Männer als Frauen eine hohe Bedeutung zu und<br />
auch im Ländervergleich sind erhebliche Unterschiede<br />
erkennbar. In Europa sind es mit Ausnahme von Groß -<br />
britannien jeweils 75% und mehr, für die Sexualität<br />
eine wichtige Rolle im Leben einnimmt.<br />
Abb. 3: Haben Sie während der letzten 12 Monate für eine Dauer von mindestens<br />
2 Monaten in Folge irgendwelche sexuellen Probleme erlebt?<br />
% der Antworten<br />
Beinhaltet:<br />
• Mangelndes Interesse an Sexualität<br />
• Sexualität nicht als angenehm erlebt<br />
• Zu früher Orgasmus<br />
• Schmerzen<br />
• (Männer) Erektionsprobleme<br />
• (Frauen) Lubrikationsprobleme<br />
39 % 44 %<br />
Bei der Frage nach sexuellen Problemen wurde der<br />
gleiche Fragetext und die gleichen Kategorien wie in<br />
der oben erwähnten NHSLS-Studie verwendet, um so<br />
eine bessere Vergleichbarkeit zu gewährleisten und<br />
einen Eindruck von der Validität der Daten zu bekommen.<br />
Wie Abbildung 3 zeigt, stimmen die über alle<br />
Länder aggregierten Daten für die sexuellen Probleme<br />
der Frauen (44%) fast exakt mit den US-amerikanischen<br />
Daten der NHSLS (43%) überein, während die<br />
Prävalenz bei den Männer höher ist (39% vs. 31%),<br />
was sehr wahrscheinlich auf die andere Alterszu -<br />
sammen setzung dieser Stichprobe (40 – 80jährige vs.<br />
18 – 59jährige in der NHSLS) zurückzuführen ist.<br />
Insgesamt sprechen diese Ergebnisse für eine weltweit<br />
hohe Prävalenz von subjektiv empfundenen Proble -<br />
men mit der Sexualität.<br />
Die Antworten auf die Frage, ob die Befragten in<br />
den letzten 3 Jahren von einem Arzt auf das Thema<br />
Sexualität angesprochen worden sind (Abb. 4), werfen<br />
ein eindrucksvolles Schlaglicht auf die Stellung der<br />
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation. Welt -<br />
weit haben nur 9% der befragten Personen diese Frage<br />
bejaht, wobei sich auch hier interessante und durchaus<br />
überraschende Länderunterschiede zeigen.<br />
Abb. 5 zeigt, dass die Bereitschaft der Stu dien -<br />
teilnehmer, von sich aus den Arzt auf sexuelle Pro ble -<br />
me anzusprechen, vergleichsweise höher ist. Dies mag<br />
ein Hinweis darauf sein, dass der Mut der Be troffenen,<br />
den Arzt anzusprechen und ihm kompetente Hilfe ab -<br />
zuverlangen, gestiegen ist und die Schwie rigkeiten in -<br />
zwischen stärker auf Seiten der Ärzte liegen. Es verweist<br />
auch auf den dringenden Aus- und Wei terbil -<br />
dungsbedarf im Bereich der Sexualmedizin.<br />
Abb. 4: Hat Ihr Arzt Sie während der letzten 3 Jahre nach sexuellen Problemen gefragt?<br />
Afrika & Mittlerer Osten Asien Australien Europa Latein Amerika Nord Amerika
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 55<br />
Abb. 5: Haben Sie während der letzten 12 Monate Ihren Arzt für Ihre sexuelle Probleme um Hilfe gefragt?<br />
% der Antworten<br />
Afrika & Mittlerer Osten Asien Australien Europa Latein Amerika Nord Amerika<br />
2. Die Ergebnisse aus Deutschland<br />
Die deutsche Stichprobe umfasste 751 Männer und<br />
750 Frauen. 252 Männer und 223 Frauen fielen in die<br />
Altergruppe 40 – 49, 206 Männer und 187 Frauen in<br />
die Altersgruppe 50 – 59, 192 Männer und 190 Frauen<br />
in die Altersgruppe 60 – 69 und 101 Männer sowie<br />
150 Frauen in die Gruppe 70 – 80 Jahre. 65% waren<br />
verheiratet, 3% zusammenlebend, 8% ledig, 13% verwitwet,<br />
3% getrennt und 8% geschieden. Der maximal<br />
erreichte Bildungsstand war für 43% Hauptschule, für<br />
32% Realschule und für 24% Gymnasium/Universität<br />
(1% machten keine Angaben). 50% waren voll- oder<br />
teilzeit berufstätig, 6% Hausfrau/-mann, 39% Rentner,<br />
3% arbeitslos und 2% arbeitsunfähig. 45% lebten in<br />
der Stadt, 20% in Vorstädten und 35% im ländlichen<br />
Bereich.<br />
Abb. 6: Wie wichtig ist Sexualität für Sie?<br />
Frauen
56 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />
Abb. 7: Wie wichtig ist Sexualität für Sie?<br />
Männer<br />
Die Abbildungen 6 und 7 zeigen die Bedeutung, die<br />
Sexualität in den verschiedenen Altersgruppen bei<br />
Män nern und Frauen hat. Es ist erkennbar, dass die<br />
Angaben bei beiden Geschlechtern in der Alters -<br />
gruppe 40 – 49 praktisch identisch sind, ab dem 50.<br />
Lebensjahr diese Bedeutung bei den Frauen aber ab -<br />
nimmt, bei den Männer dagegen auf einem recht ho -<br />
hen Niveau erhalten bleibt. Generell ist den Daten im<br />
übrigen zu entnehmen, dass in verschiedenen Para me-<br />
Abb. 8: Hatten Sie während der letzten zwölf Monate für mindestens zwei Monate<br />
Probleme mit... ?<br />
tern bei den Frauen bedeutsame Veränderungen in der<br />
Altersgruppe 50 – 59 zu erkennen sind (geringere<br />
Bedeutung, mehr Probleme), während diese Ten -<br />
denzen – wenngleich geringer ausgeprägt – bei den<br />
Män ner erst in der Altersgruppe ab 60 deutlich werden.<br />
Abbildung 8 zeigt die Verteilung der sexuellen<br />
Pro bleme bei beiden Geschlechtern. Während der re -<br />
lative Anteil der Probleme und ihre „Rangfolge“ den<br />
Daten anderer Studien wie der NHSLS entsprechen,<br />
sind die absoluten Zahlen in der deutschen Stichprobe<br />
sowohl im Ländervergleich als auch im Vergleich mit<br />
anderen Erhebungen auffallend niedrig. So weisen die<br />
deutschen Befragten im Verhältnis zu den anderen eu -<br />
ro päischen Ländern in allen Problemkategorien die<br />
nie drigsten Zahlen auf und während in der Kölner<br />
Män nerstudie insgesamt 19% das Vorhandensein von<br />
Erek tionsproblemen angaben, sind es hier nur 7% und<br />
auch der Prozentsatz der Frauen, die ein mangelndes<br />
Interesse an der Sexualität beklagen, ist mit 17% sehr<br />
viel niedriger als etwa in der NHSLS (knapp 30%).<br />
Der augenblickliche Stand der Datenanalysen lässt<br />
eine sinnvolle Interpretation dieser Diskrepanzen<br />
noch nicht zu. Denkbar sind generelle Verleug nungs -<br />
tendenzen gegenüber sexuellen Problemen, Ver ze -<br />
rrungen durch die Art der Befragung oder eine Zu -<br />
fallsauswahl sexuell besonders „gesunder“ Per sonen.<br />
Die weiteren Auswertungen, auch im Län derver -<br />
gleich, werden hierzu sehr wahrscheinlich mehr Auf -<br />
schluss geben.<br />
Betrachten wir nun die Fragen zur Arzt-Patient-<br />
Kom munikation genauer, so lässt sich Abbildung 9<br />
entnehmen, dass während der vergangenen 3 Jahre
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 57<br />
Abb. 9: Mein Arzt hat mich während der letzten drei Jahre nach sexuellen Pro -<br />
blemen gefragt<br />
mehr Frau en als Männer von ihrem Arzt nach sexuellen<br />
Pro blemen gefragt worden sind. Dieser Unter -<br />
schied ist wahrscheinlich der stärkeren sexualmedizinischen<br />
bzw. psychosomatischen Tradition in der<br />
Gynä kologie zuzuschreiben. Während bei den Män -<br />
nern der (geringe) Prozentsatz der von ihrem Arzt be -<br />
fragten Personen über die Altersgruppen recht konstant<br />
bleibt, werden die über 60jährigen Frauen schon<br />
deutlich weniger und die über 70jährigen praktisch gar<br />
nicht mehr auf das Thema Sexualität angesprochen.<br />
Die Abbildungen 10 und 11 zeigen getrennt für<br />
Frauen und Männer die Antwort auf die Frage, mit<br />
wem über sexuelle Probleme gesprochen wurde bzw.<br />
wo für sie Hilfe gesucht wurde. Für beide Geschlech -<br />
ter (noch etwas ausgeprägter für die Männer) ist es mit<br />
Abstand der Partner, der hier der Hauptgesprächs -<br />
partner ist. Betrachtet man die Angaben aber genauer,<br />
dann kann man auch festhalten, dass vor allem bei den<br />
Frauen für die Hälfte der Befragten und in manchen<br />
Altersgruppen sogar für einen noch höheren Anteil der<br />
Partner eben nicht der Ansprechpartner für sexuelle<br />
Probleme ist. Nicht einmal mit dem Partner kann offen<br />
gesprochen werden, nicht einmal dem Partner kann<br />
man sich anvertrauen, so kann eine Interpreta tions -<br />
linie lauten. Dass diese Ergebnisse bei den Frauen<br />
allerdings auf eine generell geringe Offenheit zurückzuführen<br />
ist, darf bezweifelt werden. Zum einen ist<br />
auffällig, dass ein sehr viel höherer Prozentsatz als bei<br />
den Männern mit Freunden oder Familienangehörigen<br />
über sexuelle Probleme spricht. Darüber hinaus ist<br />
anzunehmen, dass mehr Frauen als Männer gerade in<br />
der Paarbeziehung die Ursache der sexuellen Pro ble -<br />
me sehen und deshalb das offene Gespräch eher vermeiden.<br />
Außer dem Partner, dem Arzt, Familie und<br />
Freunden spielt im Hilfesuchverhalten nur noch die<br />
Kategorie Bücher/Magazine eine nennenswerte Rolle,<br />
während das Internet in diesen Alterskohorten noch<br />
ohne Bedeutung ist.<br />
Abb. 10: Mit wem haben Sie über Ihre Probleme gesprochen / wo haben Sie Hilfe gesucht?<br />
Frauen
58 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />
Abb. 11: Mit wem haben Sie über Ihre Probleme gesprochen / wo haben Sie Hilfe gesucht?<br />
Männer<br />
Abb. 12: Warum haben Sie mit Ihrem Arzt nicht über Ihre sexuellen Probleme<br />
gesprochen?<br />
Die in Abbildung 12 zusammengefassten Antwor ten<br />
auf die Frage nach den Gründen, warum der Arzt nicht<br />
auf vorhandene sexuelle Probleme angesprochen<br />
wurde, sind geeignet, Hinweise auf Schwierigkeiten<br />
und Barrieren in der Arzt-Patient-Kommunikation zu<br />
geben. Am häufigsten werden von beiden Geschlech -<br />
tern Gründe genannt, die mit mangelnder Ernstnahme,<br />
geringem Leidensdruck sowie einer gewissen<br />
„Schick salsergebenheit“ und einem resignativen Sich-<br />
Abfinden gegenüber sexuellen Problemen umschrieben<br />
werden können. Für fast die Hälfte der Befragten<br />
sind sexuelle Schwierigkeiten kein medizinisches Pro -<br />
blem, während der Eindruck, dass der Arzt in diesem<br />
Bereich nichts tun kann, nur bei ca. einem Viertel<br />
einen Grund für das Nicht-Ansprechen dieser Pro ble -<br />
me darstellt. Der Komplex „Peinlichkeit“ wird von<br />
auffallend wenigen Personen angeführt und auch hier<br />
ergeben sich Diskrepanzen im Ländervergleich und zu<br />
anderen Studien. Auch nach unseren klinischen Erfah -<br />
rungen steht zu vermuten, dass Scham und Pein lich -<br />
keit doch immer noch größere Hürden sind als es diese<br />
Daten ausdrücken, wobei es ja diesen Gefühlen geradezu<br />
inhärent ist, dass man sie ungern eingesteht.<br />
In Anbetracht der Tatsache, dass in den letzten 3<br />
Jahren insgesamt nur 11% der in Deutschland befrag-
Sexualität in der Arzt-Patient-Kommunikation 59<br />
ten Personen von ihrem Arzt auf sexuelle Probleme<br />
angesprochen worden sind, ist es von großen Inter -<br />
esse, ob die Befragten die Einstellung vertreten, dass<br />
ein Arzt seine Patienten routinemäßig daraufhin an -<br />
sprechen sollte. Abbildung 13 zeigt, dass ca. die Hälf -<br />
te der deutschen Stichprobe dies bejaht. In den beiden<br />
Altersgruppen zwischen 40 und 59 gibt es dabei keine<br />
nennenswerten Geschlechtsunterschiede, während es<br />
in den beiden höheren Altersgruppen doch deutlich<br />
mehr Männer sind, die sich ein regelhaftes An spre -<br />
chen des Themas wünschen würden.<br />
Abb. 13: Ein Arzt sollte seine Patienten regelmäßig nach sexuellen Problemen<br />
fragen<br />
Kommentar<br />
Die „Globale Studie zu sexuellen Einstellungen und<br />
Verhaltensweisen (GSSAB)“ ist die erste Studie, die<br />
in einem globalen internationalen Vergleich Einstel -<br />
lun gen und Verhaltensweisen von über 40jährigen<br />
Män nern und Frauen zum Bereich sexuelle Gesund -<br />
heit erfasst. Neben allgemeinen Einstellungen sollte<br />
vor allem die Bedeutung sexueller Gesundheit, das<br />
Vor handensein sexueller Probleme und das Hilfe -<br />
suchverhalten der befragten Personen fokussiert werden.<br />
Der differenzierte, 61 Items umfassende Frage -<br />
bogen wurde von einem multidisziplinären internationalen<br />
Expertenteam entwickelt und in die jeweiligen<br />
Landessprachen übersetzt. Die Befragung selbst wur -<br />
de teils als Telefonbefragung, teils in Form persönlicher<br />
Interviews von lokalen Meinungsfor schungs -<br />
firmen durchgeführt. Bislang liegen Daten aus 28<br />
Län dern, von ca. 26.000 Männern und Frauen vor.<br />
Der vorliegende Beitrag beschränkt sich auf eine<br />
erste Analyse der Ergebnisse zur Bedeutung von sexueller<br />
Gesundheit in der Arzt-Patient-Kommunikation.<br />
Da die Resultate und Graphiken weitgehend für sich<br />
sprechen, kann der Kommentar sich auf einige wenige<br />
Anmerkungen beschränken. Die internationalen<br />
Ergebnisse belegen, dass in den meisten Ländern Se -<br />
xualität im Leben der Menschen einen wichtigen Stel -<br />
lenwert einnimmt und diese Bedeutung auch im höheren<br />
Lebensalter nicht signifikant abnimmt. Grundsätz -<br />
lich schätzen Männer die Bedeutung der Sexualität<br />
höher ein als Frauen. Darüber hinaus lässt die Be -<br />
deutung der Sexualität und das Interesse an ihr bei<br />
Männern erst in der Altersgruppe 60 - 69 etwas nach,<br />
während das bei den Frauen bereits in der Alters -<br />
gruppe 50 – 59 geschieht.<br />
Auf die Frage, ob in den vergangenen 12 Monaten<br />
mindestens eins von verschiedenen vorgegebenen<br />
sexuellen Problemen für mindestens zwei konsekutive<br />
Monate vorhanden war, ergaben sich in der<br />
Gesamtstichprobe aller Länder die hohen Zahlen von<br />
44% bei den Frauen und 39% bei den Männern. Es ist<br />
allerdings darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um<br />
die subjektiven Einschätzungen der Befragten handelt<br />
und nicht um eine diagnostische Einstufung anhand<br />
der gängigen Diagnosekriterien. Festzuhalten ist hier<br />
also zunächst nur, dass weltweit ein erheblicher Pro -<br />
zentsatz von Frauen und Männern ihre Sexualität problembelastet<br />
und ihre sexuelle Gesundheit als eingeschränkt<br />
erlebt.<br />
Betrachtet man die Items, die die Arzt-Patient-<br />
Kommunikation erfassen, im vorliegenden, noch recht<br />
groben, Ländervergleich, dann wird die äußerst unbefriedigende<br />
Situation und der erhebliche Handlungs -<br />
bedarf in diesem Bereich überdeutlich. Weltweit sind<br />
nur 9% der befragten Personen in den zurückliegenden<br />
3 Jahren von einem Arzt auf sexuelle Probleme<br />
an gesprochen worden. 4 Jahre nach der Markeinfüh -<br />
rung von Viagra mit der ganzen diesen Vorgang be -<br />
glei tenden Aufmerksamkeit und Thematisierung sexueller<br />
Gesundheit, ist dieses Resultat eher ernüchternd.<br />
Es demonstriert auch, dass, obwohl davon auszugehen<br />
ist, dass die meisten Ärzte wissen, dass viele chronische<br />
Krankheiten sowie medizinische Therapie und<br />
zahlreiche Medikamente die sexuelle Funktionen<br />
beeinträchtigen, Sexualität immer noch kein „normales<br />
Thema“ zwischen Arzt und Patient ist. Aus anderen<br />
Untersuchungen wissen wir, dass zum einen viele<br />
Ärzte die sexuelle Gesundheit ihrer Patienten immer<br />
noch nicht ernst nehmen oder als „Lifestyle-Thema“<br />
abwerten. Bei vielen Ärzten ist dieses Bewusstsein da -<br />
gegen heute vorhanden, doch die Barrieren im Bereich<br />
der sexualmedizinischen Kompetenz und in der<br />
Gesprächsführung sind immer noch so ausgeprägt,<br />
dass es zu keiner wirksamen Veränderung kommt.<br />
Dabei zeigen die Resultate der GSSAB allerdings
60 U. Hartmann, A. Niccolosi, D.B. Glasser, C. Gingell, J. Buvat, E. Moreira, E. Lauman<br />
auch, dass die von sexuellen Problemen Betroffenen<br />
heute eher geneigt sind und den Mut haben, den Arzt<br />
von sich aus anzusprechen und ihm kompetente Hilfe<br />
abzuerwarten. Hier entsteht also ein zunehmender<br />
Druck auf die Ärzteschaft und die Medizin, das The -<br />
ma ernst zu nehmen und die sexualmedizinische<br />
Kompetenz wirksam zu verbessern.<br />
Die bislang vorliegenden Daten aus Deutschland<br />
fügen sich zumeist in den allgemeinen Trend der Er -<br />
gebnisse, zumindest im Kanon der europäischen<br />
Länder, ein, weisen in einigen Bereichen aber auch<br />
Auffälligkeiten auf. Dies betrifft vor allem die Prä -<br />
valenz sexueller Probleme, die bei Männern wie Frau -<br />
en niedriger ist als in anderen Ländern und vergleichbaren<br />
anderen Studien. Über die Gründe dafür und die<br />
Gültigkeit der Daten kann hier vorerst nur spekuliert<br />
werden. Bei den Fragen zur Arzt-Patient-Kommuni -<br />
kation bestätigt sich dagegen auch in Deutschland der<br />
internationale Trend. Nur 11% der Befragten sind in<br />
den letzten 3 Jahren vom Arzt nach sexuellen Pro -<br />
blemen gefragt worden, und zwar im Schnitt mehr<br />
Frau en als Männer. Wenn sexuelle Probleme vorliegen,<br />
sprechen Männer und Frauen hauptsächlich mit<br />
dem Partner, mit deutlichem Abstand folgen Freun -<br />
de/Familienangehörige und der Arzt. Andererseits<br />
sind es aber nicht viel mehr als 50% (bei den Frauen<br />
sogar zum Teil deutlich weniger), die mit dem Partner<br />
über die sexuellen Probleme sprechen. Dies dürfte<br />
zum einen daran liegen, dass ein Teil der Probleme<br />
gerade im Partner bzw. in der Paarbeziehung begründet<br />
sind, ist darüber hinaus aber auch Ausdruck der<br />
„sexuellen Sprachlosigkeit“ vieler Paare, die sich ja<br />
meist dann noch verstärkt, wenn die Sexualität problembelastet<br />
ist.<br />
Die Antworten auf die Frage, warum beim Arzt für<br />
die sexuellen Probleme keine Hilfe gesucht wurde,<br />
ver weist primär auf eine Mischung aus mangelnder<br />
bzw. verzerrter Information (kein Thema der Medizin,<br />
normaler Altersvorgang) und geringer Bedeutungs -<br />
zumessung resp. geringem Leidensdruck, verbunden<br />
mit einer Haltung von Resignation und Schicksalser -<br />
gebenheit. Spezielle Probleme in der Arzt-Patient-<br />
Kommunikation (Peinlichkeit, mangelnde Kompe -<br />
tenz) haben demgegenüber nach den Aussagen der<br />
Teilnehmer eine geringere Bedeutung, was anderen<br />
Studien und der klinischen Erfahrung allerdings teilweise<br />
entgegenläuft. Im Unterschied zu dieser insgesamt<br />
eher gedämpften Motivation, sexuelle Probleme<br />
ernst zu nehmen und behandeln zu lassen, wünschen<br />
sich mehr als die Hälfte der Befragten, dass der Arzt<br />
routinemäßig nach sexuellen Problemen fragt. Hier ist<br />
zunächst eine doppelte Botschaft zu erkennen: Einer -<br />
seits will nur die Hälfte der Befragten regelmäßig auf<br />
das Thema Sexualität angesprochen werden, andererseits<br />
entspricht das dem fünffachen Prozentsatz derjenigen,<br />
die tatsächlich angesprochen worden sind. Es<br />
wird von großem Interesse sein, in welchen Merk -<br />
malen sich beide Gruppen voneinander unterscheiden<br />
(Bildungsstand, Einstellungen, Bedeutung von Sexua -<br />
lität etc.). Schon jetzt ist daraus aber ein Auftrag an die<br />
Medizin abzuleiten, nicht nur die sexualmedizinische<br />
Kompetenz entscheidend zu verbessern, sondern auch<br />
für die interpersonalen Fertigkeiten Sorge zu tragen,<br />
die in diesem sensiblen Bereich der Arzt-Patient-<br />
Kom munikation unabdingbar sind. Nur dann kann die<br />
sexuelle Gesundheit der Patienten in einer angemessenen<br />
Weise verbessert werden.<br />
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medical care in the ADAM-Study. International Journal of<br />
Impotence Research 13; Suppl.1: 54.<br />
Anschrift der Autoren<br />
Prof. Dr. Uwe Hartmann, Dipl.-Psych., Arbeitsbereich Klinische Psychologie, Abt. Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule<br />
Hannover, 30623 Hannover, hartmann.uwe@mh-hannover.de;<br />
Alfredo Niccolosi, National Research Council, Milan Italy; Dale B. Glasser, Pfizer Inc. New York, USA; Clive Gingell, South mead Hospital, Bristol, UK;<br />
Jacques Buvat, Association pour L’Etude de la Pathologie de L’Appareil Reproducteur, Lille, France; Edson Moreira, Oswaldo Cruz Foundation,<br />
Bahia, Brazil; Edward Lauman, University of Chicago, Chicago, USA
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf<br />
Martina Rauchfuß, Claudia Altrogge<br />
Partnership and Pregnancy<br />
Abstract<br />
Preterm birth rates remain a central theme in obstetrics of<br />
our time in spite of widespread use of extensive medical<br />
measures. Our well established system of somatically oriented<br />
preventive care for pregnant women is limited. A<br />
significant effect of the quality of the partnership relation<br />
on the course and outcome of pregnancy was found in a<br />
prospective study of 589 pregnant women. Women, who<br />
had been living in an ideal partnership relation, gave birth<br />
to a child before the 37 th week of pregnancy in 1.8% of<br />
the cases, compared to 7% of the other women in the<br />
sample. Quality of partnership relation was assessed from<br />
week 16 to 22 of pregnancy, i.e. well before any symp -<br />
toms of an eventual preterm birth. Subjective and objective<br />
variables of partnership relation, in addition to sociodemographic<br />
and medical risk factors that turned out to<br />
be crucial an explorative univariate data analysis were<br />
entered into a stepwise logistic regression. Results from<br />
the multivariate data analysis for the whole sample indicated<br />
that quality of partnership relation was the main<br />
predicting variable for preterm birth, whereas no relation<br />
was found among commonly used sociodemographic<br />
risk factors such as socio-economic or marital status, education<br />
and preterm birth. In the study, 29 matched pairs<br />
(preterm vs. fullterm, matched on known/well established<br />
sociodemographic and medical risk factors) were entered<br />
into a model of multivariate logistical regression. 85.2% of<br />
fullterm births and 80.8% of preterm births were correctly<br />
identified. Again, quality of partnership relation was a<br />
significant predicting variable. As a consequence, in the<br />
discussion on lack of progress in the reduction of preterm<br />
birth rates, it might be useful to focus on partnership relation<br />
as an important variable to take into account in<br />
obstetrical preventive care<br />
Zusammenfassung<br />
Trotz des massiven Einsatzes medizinischer Maßnahmen<br />
ist die Frühgeburtlichkeit ein zentrales Thema der modernen<br />
Geburtsmedizin. Das etablierte System der somatisch<br />
orientierten Schwangerenvorsorge stößt an seine Gren -<br />
zen. In einer prospektiven Studie an 589 Schwangeren<br />
konnte der signifikante Einfluss der Qualität der Paar be -<br />
ziehung auf Verlauf und Ausgang der Schwangerschaft<br />
nachgewiesen werden. Frauen, die in einer idealen Part -<br />
ner schaft lebten gebaren mit 1,8% signifikant seltener ein<br />
Kind vor der 37. Schwangerschaftswoche als die übrigen<br />
Schwangeren des Untersuchungskollektivs mit 7,0%. Die<br />
Befragung zur Qualität der Paarbeziehung erfolgte zwischen<br />
der 16. und 22. Schwangerschaftswoche, also deutlich<br />
vor dem Beginn der Symptomatik einer drohenden<br />
Frühgeburt und deren Eintritt. Für ein Modell logistischer<br />
Regression wurden neben subjektiven und objektiven<br />
Part nerschaftsparametern bekannte soziodemographische<br />
und medizinische Risikofaktoren gewählt, die sich in<br />
einer explorativen univariaten Auswertung als relevant<br />
her ausgestellt hatten. Im für die Gesamtpopulation be -<br />
rechneten multivariaten logistischen Modell setzte sich die<br />
Partnerschaftsqualität als ein signifikanter Prädiktor für die<br />
Vorhersage einer Frühgeburt durch, während „klassische"<br />
soziodemographische Risikofaktoren wie Familien- und<br />
Bildungsstand sowie der sozioökonomischer Status keinen<br />
relevanten Einfluss hatten. Nach Bildung von 29 matched<br />
pairs (FG vs. Reifgeburt, gematcht nach bekannten<br />
soziodemographischen und medizinischen Risikofak -<br />
toren) konnten im Modell der multivariaten logistischen<br />
Regression 85,2% der Reifgeburten und 80,8% der Früh -<br />
geburten korrekt zugeordnet werden. Auch hier war die<br />
Qualität der Paarbeziehung ein signifikanter Einflussfaktor.<br />
Wenn aus geburtsmedizinischer Sicht immer wieder be -<br />
tont wird, dass bisherige Konzepte der Schwange ren be -<br />
treuung wenig zur Reduzierung z.B. der Fehl- und Früh -<br />
geburtlichkeit geleistet haben, so könnte eine Einbe zie -<br />
hung der Paarbeziehung in präventive Konzepte neue<br />
We ge eröffnen.<br />
Sexuologie 9 (2) 2002 61 – 74 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
62 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />
Einleitung<br />
Die Geburtshilfe hat in den letzten Jahrzehnten eine<br />
rasante Entwicklung genommen. Während noch vor<br />
40 Jahren das Holzstethoskop den Zugang zur Re gis -<br />
trierung kindlicher Herztöne und damit zur Beur tei -<br />
lung des aktuellen fetalen Zustandes darstellte und die<br />
Erhebung des Fundusstandes der Gebärmutter zur Ein -<br />
schätzung des intrauterinen Wachstums des Kindes<br />
diente, ermöglichten in den folgenden Jahren Amnio -<br />
zentese, Fetalblutanalyse, Amnioskopie, Kardiotoko -<br />
gra phie, traditionelle Ultraschalldiagnostik und Dopp -<br />
ler sonographie eine immer genauere Zustandsdia -<br />
gnos tik des Feten, der zeitweilig auch intrauteriner<br />
Patient genannt wurde. Seit den 50iger Jahren wurde<br />
in beiden Teilen Deutschlands und seit 1990 in der<br />
wiedervereinigten Bundesrepublik ein qualitativ hochwertiges<br />
und zunehmend durch den wissenschaftlich<br />
technischen Fortschritt geprägtes System der Schwan -<br />
ge renvorsorge etabliert.<br />
Die Entwicklung der neonatologischen Intensiv -<br />
me di zin hat seit ihrer Etablierung vor rund 40 Jahren<br />
zu einer starken und kontinuierlichen Zunahme der<br />
Überlebenschancen von Term- und besonders Pre -<br />
termgeborenen geführt. In Deutschland konnte die<br />
PNM von 50‰ 1950 über 26,4‰ im Jahre 1970 auf<br />
6,0% im Jahre 1990 gesenkt werden. Im Gegensatz zu<br />
dieser Entwicklung ist es trotz des massiven Einsatzes<br />
medizinischer Maßnahmen nicht gelungen Schwan -<br />
ger schaftskomplikationen wie intrauterine fetale Re -<br />
tardierung und Frühgeburtlichkeit zu reduzieren, vielmehr<br />
gab und gibt es einen moderaten Anstieg der<br />
Früh geburten- und Untergewichtigenrate. In Deutsch -<br />
land enden nach wie vor jährlich 6 bis 8% aller<br />
Schwan gerschaften mit einer Frühgeburt. „Die Früh -<br />
geburt ist nach wie vor das zentrale Thema, die eigentliche<br />
Herausforderung für die moderne Geburtshilfe<br />
und Perinatologie. (...) Am Problem Frühgeburt zeigen<br />
sich auch die Grenzen unseres ärztlichen Handelns be -<br />
sonders deutlich.“ (Wulf 1997) Prävention der Frühge -<br />
burt und anderer assoziierter Schwanger schaftskom -<br />
plikationen ist trotz verbesserter neonataler Versor -<br />
gung eine prioritäre Aufgabe der Geburtshilfe geblieben.<br />
Bei der Bewältigung dieser Aufgabe scheint das<br />
bisher vorwiegend somatisch ausgerichtete Konzept<br />
der Geburtsmedizin an seine Grenzen zu stoßen.<br />
Schwangerschaft und Beziehung sind Begriffe, die<br />
für uns einleuchtend zusammenhängen. Die schwangere<br />
Frau baut im Verlauf der Gravidität eine Be -<br />
ziehung zu ihrem werdenden Kind auf. Das Kind<br />
wächst im Mutterleib geschützt heran, bis die Zeit für<br />
die Geburt reif ist. Es hat über Nabelschnur und Pla -<br />
zenta eine kontinuierliche körperliche Beziehung zu<br />
seiner Mutter. Störungen in diesem Beziehungsgefüge<br />
bedeuten eine Gefahr. Sie können z.B. zu einer intrauterinen<br />
Mangelernährung des Kindes oder zu einer<br />
Frühgeburt führen. Um ihrem Kind Sicherheit und Ge -<br />
borgenheit geben zu können benötigt die werdende<br />
Mutter selbst ein ausreichendes Maß an innerer und<br />
äußerer Stabilität das sie aus sich selbst aber wesentlich<br />
auch aus ihrem Beziehungsgefüge schöpft.<br />
In jüngeren Veröffentlichungen zur Genese der<br />
Früh geburt findet Stress als psychophysiologisches<br />
Erklärungsmodell starke Aufmerksamkeit. Mc Lean et<br />
al. (1993) sahen bei schwarzen Frauen eine Beziehung<br />
zwischen Life-Stressoren und Frühgeburt. Moderie -<br />
rende Faktoren waren die individuelle Disposition, der<br />
psychische Zustand und das soziale Netzwerk. Das<br />
Syndrom der drohenden Frühgeburt kann auf ver -<br />
schie denen pathophysiologischen Wegen z.B. über<br />
eine intrauterine Infektion, eine uterine Ischämie oder<br />
hormonelle Störungen induziert werden. Der entzündlichen<br />
Genese wird z.Z. besondere Aufmerksamkeit<br />
ge widmet. Im Entzündungsprozess spielen Zytokine<br />
eine entscheidende Rolle. Erhöhte Konzentrationen<br />
verschiedener Zytokine im Fruchtwasser konnten von<br />
einigen Autoren bei mit einer Infektion einhergehenden<br />
vorzeitigen Wehen nachgewiesen werden (Arnt -<br />
zen et al. 1998). Verschiedene Studien haben gezeigt,<br />
dass das Corticotropin-Releasing-Hormon (CRH) die<br />
Zytokinproduktion reguliert und vice versa. Das CRH<br />
stimuliert dann die Produktion von Cortisol in der<br />
Nebenniere. Die Hypothalamus-Hypophysen-Neben -<br />
nie ren-Achse ist eine Schlüsselsystem der Immunre -<br />
gu lation. In diesem Kontext wird Stress als Zustand<br />
von Disharmonie oder bedrohter Homöostase angesehen.<br />
Chronische Aktivierung der Hypothala mus-Hy -<br />
po physen-Nebennieren-Achse über das normale Maß<br />
hinaus kann zu einer Erschöpfung der individuellen<br />
Reaktionsmöglichkeiten auf infektiöse Sti muli führen<br />
und die normalen homöostatischen Schutz mechanis -<br />
men unterbrechen (Dudley 1999). Verschiedene tierexperimentelle<br />
Studien lassen vermuten, dass die<br />
chro nische Hypersekretion von CRH einen entscheidenden<br />
Faktor in der Genese von stressassoziierten<br />
Störungen darstellt (Linthorst et al. 1991). Vorzeitige<br />
Wehentätigkeit und Frühgeburt sind assoziiert mit<br />
mütterlichem Stress (Copper et al. 1996) und mit er -<br />
höh ten Serumkonzentrationen von CRH (Kur ki et al.<br />
1991).<br />
Als Stressoren werden eine Vielzahl von Umwelt -<br />
ein flüssen wie Aufregungen, seelische und körperliche<br />
Überlastung, Lärm u.a. bezeichnet. In theoretischen<br />
Rah menkonzepten werden psychosoziale Stressoren<br />
in sogenannte kritische Lebensereignisse, z.B. Tod<br />
eines nahen Angehörigen oder Verlust des Arbeits -<br />
platzes und Alltagsstressoren (daily hazzels) z.B. be -
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 63<br />
ruf liche oder Partnerschaftsprobleme unterteilt. Der<br />
großen Bandbreite von auslösenden Ereignissen steht<br />
eine ebenso große Variabilität individueller Reak -<br />
tionen gegenüber. So entbinden keinesfalls alle Frauen<br />
die stressauslösenden Situationen in der Schwan ger -<br />
schaft ausgesetzt sind preterm. Bereits 1972 beschrieben<br />
Nuckolls et al. (1972), dass mütterlicher Stress<br />
während der Schwangerschaft mit einem schlechteren<br />
perinatal outcome verbunden war. Dies traf allerdings<br />
nur für Frauen zu, die eine geringere soziale Unter -<br />
stützung hatten. In einer Neuberechnung der Daten<br />
dieser Untersuchung kam Antonovsky (1979) zu dem<br />
Schluss, dass ein hohes Maß an Stressoren bei gleichzeitigem<br />
hohen Maß an sozialer Unterstützung<br />
gesundheitsfördernd sei, also Schwangerschaftskom -<br />
pli kationen verhindere.<br />
Es ist allgemein bekannt und akzeptiert, dass so -<br />
zia le Beziehungen einen deutlichen Einfluss auf die<br />
Gesundheit haben. Soziale Unterstützung hat die<br />
Funk tion eine Person bei ihren Bewältigungsbe mü -<br />
hungen in Hinblick auf ein belastendes Lebensereignis<br />
zu unterstützen. Suche nach Unterstützung scheint die<br />
häufigste Bewältigungsform in belastenden Lebens -<br />
situationen darzustellen. Die psychophysiologischen<br />
Wirkmechanismen der sozialen Unterstützung werden<br />
über psychologische Mechanismen (z.B. Selbst wirk -<br />
samkeit, Selbstwert, Depressivität), physiologische<br />
We ge (z.B. HPA-Achse, Immunsystem, kardiovaskuläre<br />
Reaktivität) oder Gesundheitsverhalten (z.B.<br />
Rauchen, Ernährung, Compliance in der medizinischen<br />
Betreuung) beschrieben. (Berkman et al. 2000)<br />
Neuere psychosomatische Konzepte beschäftigen sich<br />
mit der Bedeutung von Bindung und Bindungs -<br />
verhalten für die Entsehung von Erkrankungen. Es<br />
gibt Hinweise für Zusammenhänge zwischen Bin -<br />
dungsunsicherheit und der Entstehung von Erkran -<br />
kungen. Tierstudien und Untersuchungen am Men -<br />
schen weisen darauf hin, dass Bindung bzw. Be -<br />
ziehung zu den individuellen Unterschieden in der<br />
physiologischen Reaktion auf Stressoren beiträgt. Die<br />
Bindungstheorien werden durch Studien unterstützt,<br />
die einen positiveren Effekt sozialer Unterstützung<br />
aus „Attachment-relationships“ denn aus „Nonattach -<br />
ment-relationships“ nachweisen konnten. (Maunder<br />
2001) In den letzten Jahren mehren sich daher auch<br />
Untersuchungen zum Einfluss der Paarbeziehung auf<br />
Gesundheit und Krankheit (Übersicht bei Kiecolt-<br />
Glaser et al. 2001). Am fundiertesten ließen sich bislang<br />
Zusammenhänge zwischen Beziehungsfunktion<br />
und gesundheitlichen Zustand bei Krankheiten mit<br />
immunologischen oder kardiovaskulären Anteilen<br />
nachweisen. So untersuchten Zautra et al. (1998) z.B.<br />
in einem prospektiven Design Patienten mit rheumatoider<br />
Arthritis. Frauen in besseren partnerschaftlichen<br />
Beziehungen hatten weniger und mildere Krankheits -<br />
schübe. In einer anderen Studie war die Erinnerung an<br />
partnerschaftliche Konflikte sogar in Abwesenheit des<br />
Partners bei Frauen mit niedriger Beziehungsqualität<br />
mit einem Anstieg des Blutdrucks verbunden (Carels<br />
et al. 1998).<br />
In Hinblick auf die Schwangerschaft wurde in<br />
einer Reihe von Studien die Bedeutung der sozialen<br />
Unterstützung u.a. für den Verlauf und Ausgang der<br />
Schwangerschaft untersucht. Erhaltene und wahrgenommene<br />
soziale Unterstützung war ein signifikanter<br />
unabhängiger Prädiktor für gesundheitsrelevantes Ver -<br />
halten (Alkohol-, Nikotin- und Coffeinabusus) (Aa -<br />
ron son 1989). Schwangere die im 2. Trimester mit der<br />
sozialen Unterstützung unzufriedener waren gebaren<br />
später häufiger Kinder mit einem niedrigen Geburts -<br />
gewicht (Da Costa 2000). Fehlende soziale Unterstüt -<br />
zung ist mit einer ausgeprägteren Depressivität verbunden.<br />
Dieser Zusammenhang war bei Schwangeren<br />
mit einem niedrigen sozioökonomischen Status be -<br />
son ders deutlich. (Seguin et al. 1995)<br />
Obwohl Zeugung, Schwangerschaft und Geburt<br />
nur im Kontext der Geschlechtlichkeit von Mann und<br />
Frau und ihrer Beziehung zueinander zu verstehen<br />
sind findet die Paarbeziehung als Einflussfaktor auf<br />
den Reproduktionsprozess bislang wissenschaftlich<br />
nur randständige Aufmerksamkeit. Wenn die Partner -<br />
schaft als Einflussfaktor auf das Schwanger schafts -<br />
geschehen untersucht wird, dann meist unter soziodemographischem<br />
Blickwinkel. Untersuchungen zur Be -<br />
deutung der Qualität der Paarbeziehung für den<br />
Schwan gerschaftsverlauf sind rar.<br />
Hier setzt das interdisziplinäre Projekt „Soziopsy<br />
cho-somatisch orientierte Begleitung in der<br />
Schwan gerschaft“, in dem Fachvertreter von Medizin,<br />
Psychologie, Soziologie und Statistik zusammenarbeiteten,<br />
an. Das Projekt wurde im Rahmen des Berliner<br />
Forschungsverbundes Public Health durchgeführt und<br />
war an der Charité Berlin angesiedelt. An dieser Stelle<br />
sei allen an der Projektarbeit beteiligten Kolleginnen<br />
gedankt. Gefördert wurde das Forschungsvorhaben<br />
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.<br />
Methoden<br />
Es handelt sich um prospektive Untersuchungen mit<br />
Zweipunkterhebung.<br />
Zwischen 1994 und 1995 wurden 582 Frauen in<br />
der 16. – 22. Schwangerschaftswoche im Ostteil Ber -<br />
lins befragt. Die Befragung fand zum größten Teil bei<br />
niedergelassenen Fachärzten sowie zu einem kleineren<br />
Teil in der Poliklinik der Charité statt. Daten zum<br />
Schwangerschafts- und Geburtsverlauf wurden post-
64 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />
partal in den Entbindungskliniken bzw. bei den niedergelassenen<br />
Fachärzten erhoben. Erfasst wurde u.a.<br />
der Entbindungszeitpunkt (SSW), Größe und Gewicht<br />
des Kindes, Beurteilung des Neugeborenen (APGAR,<br />
Nabelschnur-pH).<br />
Insgesamt wurden 714 Frauen mit der Bitte um<br />
Teil nahme an der Studie angesprochen. Es handelte<br />
sich um eine anfallende Stichprobe. 582 Schwangere<br />
füllten den Fragebogen aus (response rate 82,5%).<br />
Postpartal konnten von 519 Frauen (88,1% der 589<br />
Befragten) Unterlagen zum Schwangerschafts- und<br />
Geburtsverlauf erhoben werden.<br />
Im Studienzeitraum wurden in den ausgewählten<br />
Praxen alle Schwangeren die die Eingangskriterien<br />
erfüllten angesprochen und um Mitarbeit gebeten. Bei<br />
vor liegender Bereitschaft zum Ausfüllen des Frage -<br />
bogens erhielten die Frauen eine Erklärung zum Da -<br />
ten schutz, in der konkrete Maßnahmen der Einhaltung<br />
datenschutzrechtlicher Bestimmungen erläutert wurden.<br />
Vor der Teilnahme an der Studie unterzeichneten<br />
die zu Befragenden eine Einverständniserklärung, mit<br />
der sie auch die Genehmigung zur Einsichtnahme in<br />
ihre medizinischen Unterlagen erteilten.<br />
Die Datenerhebung erfolgt mit einem Frage- und<br />
einem Erhebungsbogen dar, der im Rahmen des Pro -<br />
jektes konstruiert wurde.<br />
Konstruktion und Aufbau des Fragebogens<br />
Es war die Aufgabe des Projekts, zur Identifizierung<br />
der jenigen psychischen, sozialen und medizinischen<br />
Bedingungen, die den Verlauf und das Ergebnis der<br />
Schwangerschaft saluto- oder pathogenetisch beeinflussen<br />
können, beizutragen.<br />
Für die schriftliche Befragung bedurfte es dazu<br />
einer Auswahl der zu integrierenden psychosozialen<br />
Risiko-/respektive Ressourcenkonfigurationen. Sie<br />
wur de aus zwei unterschiedlichen Perspektiven ge -<br />
troffen. Zum einen wurden <strong>Literatur</strong>recherchen in So -<br />
zio logie, Psychologie und Gynäkologie und Geburts -<br />
hilfe durchgeführt und die Ergebnisse mit den eigenen<br />
Voruntersuchungen zusammengeführt. Zum zweiten<br />
wurden aus Standardisierungs- und Auswer tungs -<br />
gründen (Gewichtung und Hochrechnung) zugängliche<br />
Erhebungsinstrumente geprüft und, wenn möglich,<br />
die Kategorien bis hin zu den einzelnen Formu -<br />
lierungen und Ausprägungen übernommen.<br />
Im Folgenden werden die für die in der vorliegenden<br />
Arbeit betrachteten Bereiche relevanten Frage -<br />
bogenteile näher erläutert, die anderen nur erwähnt.<br />
Soziodemographischer Status<br />
Alter, Partnerschaftsstatus, Schulbildung, berufliche<br />
Qualifikation, Erwerbsstatus einschl. evtl. Verän -<br />
derungen im Jahr vor der Befragung, Haushalts ein -<br />
kommen, Nationalität, Wohnbezirk<br />
Medizinische Parameter<br />
Medizinische Ausgangssituation, Schwangerschafts -<br />
anam nese, Medikamenteneinnahme<br />
Schwangerschaftsspezifische Parameter<br />
Planung/Erwünschtheit der Schwangerschaft, Ein -<br />
stellung zur Schwangerschaft, Schwangerschafts- und<br />
Geburtsängste, Schwangerschaftserleben<br />
Lebensbedingungen<br />
1. Familie/Partnerschaft (Kinderanzahl, Kinderher -<br />
kunft, Partnerschaftssicherheit, Partnerschaftsdauer,<br />
Partnerschaftsharmonie, Partner schafts probleme)<br />
Erhoben wurde das subjektive Erleben der Frau in<br />
bezug auf ihre Zufriedenheit mit verschiedenen Be -<br />
reichen der Partnerschaft (11 Items zu Aufgaben ver -<br />
teilung, Freizeitgestaltung, Sexualität, Umgangs for -<br />
men, Stabilität der Beziehung) und der Grad der<br />
Glück lichkeit. Weiterhin wurde gefragt, ob es ernsthafte<br />
Probleme in der Partnerschaft gab, die Schwan -<br />
gere sich durch bestimmte Verhaltensweisen ihres<br />
Part ners belastet fühlte, ob sie jemals an Trennung ge -<br />
dacht hatte und ob sie in einem gemeinsamen Haus -<br />
halt mit dem Vater ihres zukünftigen Kindes lebte.<br />
Ergänzt wurden diese Erhebungsinstrumente durch<br />
den standardisierten Partnerschaftsfragebogen von K.<br />
Hahlweg mit den Skalen „Streitverhalten“, „Zärtlich -<br />
keit“ und „Gemeinsamkeit/Kommunikation“.<br />
Unter Verwendung der Items zur subjektiven Zu -<br />
frie denheit mit der Partnerschaft sowie der Glück -<br />
lichkeit in der Beziehung und Trennungsgedanken<br />
wur den Gruppen gebildet. Die „ideale Partnerschaft“<br />
um fasste 115 Frauen, die im Laufe der Beziehung<br />
noch nie an Trennung gedacht hatten, mit dem Kin -<br />
des vater in einem gemeinsamen Haushalt lebten,<br />
glücklich oder sehr glücklich in ihrer Partnerschaft<br />
waren und in denen es keine die Schwangere belastenden<br />
Verhaltensweisen des Mannes gab.<br />
Die 27 Frauen deren Beziehung wir als sehr un -<br />
glücklich einstuften, hatten in zwei Items angegeben<br />
unglücklich oder sehr unglücklich in ihrer Partner -<br />
schaft zu sein.<br />
Die dritte Gruppe umfasste 51 Frauen, die in ihrer<br />
Beziehung schon einmal ernsthaft an Trennung<br />
gedacht hatten.<br />
2. Arbeit und Arbeitsbelastungen, Wohnsituation<br />
Ähnlich wie zur Partnerschaft wurde auch die Zu -<br />
friedenheit mit anderen Lebensbereichen (Wohnen,<br />
Ar bei ten, Gesundheit, Verhältnis zu Kollegen, Bezie -<br />
hung zu Eltern und Schwiegereltern, finanzielle Si -<br />
tuation, Freundeskreis) sowie dem Leben insgesamt<br />
erhoben und skaliert.<br />
Lebensgeschichtliche Parameter<br />
Herkunftsfamilie, Kindheit und Jugend; neben der Er -
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 65<br />
fas sung struktureller Aspekte der Herkunftsfamilie<br />
wur den Fragen zu den wichtigsten Bezugs- und be -<br />
sonders nahestehenden Personen sowie zur Ablösung<br />
vom Elternhaus gestellt, das familiale Klima sowie die<br />
Funktionalität der Herkunftsfamilie global charakterisiert<br />
Soziale Netze / soziale Unterstützung<br />
allgemeine Verfügbarkeit unterstützender Beziehun -<br />
gen<br />
Verfügbarkeit schwangerschaftsspezifischer Hil -<br />
fen (emotionale, informelle, instrumentelle Unterstüt -<br />
zung durch Familie, Verwandte, Freunde und andere)<br />
Gesundheitsverhalten<br />
47 Items zum Gesundheitsverhalten der Schwangeren;<br />
die 28 Items zu den Gesundheitsrisiken sind aus -<br />
schließlich als geschlossene Fragen formuliert, um<br />
möglichst wenig Antwortverfälschungen im Sinne der<br />
sozialen Erwünschtheit zu induzieren.<br />
Persönlichkeitsvariable<br />
Da zu erwarten war, dass die Qualität der Paarbe -<br />
ziehung in nicht unerheblichem Umfang mit bestimmten<br />
Persönlichkeitsparametern korreliert, wurde ein<br />
Er he bungsinstrument zur Persönlichkeitsdiagnostik<br />
eingesetzt. Unter anderem wurden die Bereiche<br />
„Psychosomatische Reagibilität“, „Erschöpfung“,<br />
„Ängst lichkeit“ und „Selbstvertrauen“, erfasst. Bei<br />
der statistischen Auswertung bestätigten sich dann<br />
auch hochsignifikante Zusammenhänge zwischen na -<br />
he zu allen Skalen des Persönlichkeitsfragebogens und<br />
verschiedenen Partnerschaftsvariablen. Auf die diesbezüglichen<br />
Ergebnisse kann an dieser Stelle aber<br />
nicht eingegangen werden.<br />
Konstruktion und Aufbau des Erhebungs -<br />
bogens zu Schwangerschafts- und<br />
Geburtsverlauf<br />
Zur Erfassung des Schwangerschafts- und Geburts -<br />
verlaufs sowie des Geburtsergebnisses zur Validierung<br />
unserer Ergebnisse wurde ein Bogen zur Erhebung<br />
medizinischer Parameter konstruiert, bei dem wir uns<br />
stark an die Erhebungsbögen aus vorangegangenen<br />
eigenen Studien anlehnten. Es wurden vor allem<br />
Daten zu Risiken und Komplikationen im Schwanger -<br />
schafts- und Geburtsverlauf sowie zum Geburtser ge b -<br />
nis erfasst.<br />
Im einzelnen wurden folgende Dimensionen be -<br />
rücksichtigt:<br />
Anamnestische Daten<br />
Größe, Gewicht, Besonderheiten (z. B. Sterilitäts -<br />
behandlung) sowie Nikotin-, Alkohol-, Drogen kon -<br />
sum und Medikamente während der Schwangerschaft<br />
Schwangerschaftsverlauf<br />
spezifische/unspezifische Erkrankungen, Au-Schrei -<br />
bung, ambulante/stationäre Behandlung/Kranken -<br />
haus tage, Anzahl der Arztbesuche zur Schwan ge ren -<br />
beratung, Teilnahme an Geburtsvorbereitungs kursen<br />
Geburt<br />
Entbindungsklinik, Anwesenheit nahestehender<br />
Per sonen bei der Entbindung, Schwanger schafts -<br />
woche, Größe, Gewicht, Geschlecht des Kindes, Ein -<br />
ling, Mehr linge, Beurteilung des Neugeborenen<br />
(Über tragungs- oder Unreifezeichen, Percentile, Ap -<br />
gar, Nabel schnur-pH, Verlegung in die Kinderklinik),<br />
Be sonderheiten unter der Geburt (z.B. pathologisches<br />
CTG), Besonderheiten beim Kind (z.B. Atemstörung),<br />
Geburtsmodus, Geburtsdauer, Medikamente unter der<br />
Geburt, Blutverlust, Nachgeburtsperiode, Komplika -<br />
tionen im Wochenbett<br />
Als Outcome Variablen für die hier vorgestellten<br />
As pekte der Auswertung wurden der Zeitpunkt der<br />
Geburt und das Geburtsgewicht gewählt. Die entsprechenden<br />
Informationen konnten für 519 Frauen (89%<br />
der Befragten) erhoben werden.<br />
Statistische Auswertung<br />
Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mittels<br />
SPSS und SAS. Verwendet wurden folgende statistische<br />
Verfahren: Bivariate Analysen mit Chi-Quadrat-<br />
Test, t-Test, multivariate Auswertung mittels logistischer<br />
Regression (übliches Signifikanzniveau). Dabei<br />
wurde zunächst explorativ eine univariate logistische<br />
Regression gerechnet. In die multivariate logistische<br />
Regression wurden dann entsprechend der Empfeh -<br />
lung von Hosmer und Lemeshow (2000) die im univariaten<br />
Verfahren mit einem p-Wert < 0,25 ermittelten<br />
und klinisch relevant erscheinenden Variablen eingegeben.<br />
Methodenkritik<br />
Eigene Studien beschäftigten sich seit Mitte der 80iger<br />
Jahre mit der Frage des Einflusses psychosozialer<br />
Faktoren auf Schwangerschaft und Geburt beschäftigt.<br />
In den ersten Untersuchungen wurden Frauen befragt,<br />
die bereits an einer Komplikation der Gravidität litten.<br />
Bei einem solchen Untersuchungsdesign stellt sich<br />
natürlich die Frage, inwieweit die gefundenen Störun -<br />
gen, insbesondere im psychosozialen Bereich, Ursa -<br />
che oder Auswirkung der beobachteten Schwanger -<br />
schafts komplikationen sind. Daher wurde für die folgenden<br />
Studien ein prospektiver Untersuchungsansatz<br />
gewählt, d.h. es wurden Schwangere in der 16. bis 22.<br />
Schwangerschaftswoche und damit vor dem ersten
66 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />
Auf treten der zu untersuchenden Komplikationen wie<br />
drohende Frühgeburt und hypertensive Erkrankung in<br />
der Schwangerschaft untersucht. Dies bringt dann<br />
natürlich bezüglich der Stichprobengrößen in den<br />
Untergruppen der Frauen mit Schwangerschafts kom -<br />
plikationen Probleme mit sich.<br />
So ist bei einem Probandenkollektiv von rund 500<br />
Frauen und einer Frühgeburtenfrequenz von 6 – 7%<br />
mit 30 bis 40 Frühgeburten zu rechnen. In der hier<br />
vor gestellten Schwangerengruppe fanden sich er -<br />
wartungsgemäß 35 Geburten vor der vollendeten 37.<br />
Schwangerschaftswoche. Wurde die Frühgeburt nach<br />
den (alten) WHO Kriterien als eine Geburt vor der<br />
voll endeten 37. Schwangerschaftswoche und/oder<br />
eine Geburt mit einem kindlichen Geburtsgewicht un -<br />
ter 2500g definiert so erhöhte sich die Zahl der Früh -<br />
geburten auf 47. Die Vorhersagegüte eines Modells<br />
wird bei unbalancierten Stichprobengrößen, wie es<br />
auch auf die vorliegende infolge des prospektiven<br />
Untersuchungsansatzes zutrifft, ungünstig beeinflusst.<br />
Um die Probleme der stark unterschiedlichen Stich -<br />
probengrößen von Früh- und Reifgeborenemkollektiv,<br />
aus zugleichen bildeten wir matched pairs. Dadurch<br />
wur den gleichzeitig bekannte Risikofaktoren in ihrem<br />
Einfluss ausgeschaltet. Unter Einbeziehung der Va -<br />
riab len Alter, Schulabschluss, Einkommen, Familien -<br />
stand, Parität und medizinischer und schwanger -<br />
schafts anamnestischer Risikofaktoren wurde je eine<br />
Gruppe von 29 Frauen mit einer Frühgeburt und 29<br />
Frauen mit einer Reifgeburt gebildet. Für diese Teil -<br />
stichprobe wurde ebenfalls eine multivariate logistische<br />
Regression mit den bekannten (nicht durch matchen<br />
ausgeschalteten) Einflussvariablen gerechnet.<br />
In einer vorgehenden Pilot-Untersuchung in den<br />
Jah ren 1989 und 1990 hatten wir Schwangere und<br />
ihre Partner befragt. Dabei stellte die Einschätzung<br />
der Qualität der Paarbeziehung durch den prospektiven<br />
Kindesvater gegenüber der durch die Schwangere<br />
einen noch klareren Prädiktor für die Frühge burt -<br />
lichkeit dar. Auch für die vorliegende Studie wäre eine<br />
Einbeziehung des Partner in die Befragung sinnvoll<br />
gewesen. Die gesellschaftliche Situation zum Zeit -<br />
punkt der Datenerhebung war jedoch durch einen gravierenden<br />
Geburtenrückgang und durch starke sozioökonomische<br />
Veränderungen gerade im Ostteil Berlin,<br />
in dem die Befragung erfolgte, gekennzeichnet. Die<br />
Datenerhebung stellte sich damit als wesentlich<br />
schwie riger und langwieriger dar und es musste auf<br />
die Befragung der Partner verzichtet werden.<br />
Aus sexualmedizinischer Sicht ist methodenkritisch<br />
zu diskutieren, dass bei der Betrachtung der<br />
Paar beziehung der Aspekt von Intimität und Sexualität<br />
nur randständig Beachtung fand. Mit Im Partner -<br />
schafts fragebogen von Hahlweg (1996) wurden mit<br />
der Skala Zärtlichkeit Verhaltensweisen in Hinblick<br />
auf körperliche Intimität und Sexualität erfragt. Unter<br />
den 10 Items dieser Skala finden sich Aussagen wie:<br />
Er streichelt mich während des Vorspiels, so dass ich<br />
sexuell erregt werde oder er berührt mich zärtlich und<br />
ich empfinde es als angenehm. Es fand sich kein signifikanter<br />
Zusammenhang zwischen der Qualität der<br />
Paarbeziehung erfasst mit der Skala Zärtlichkeit und<br />
der Frühgeburtlichkeit. Interessant ist jedoch der<br />
Trend, dass Schwangere die in der Skala Zärtlichkeit<br />
als glücklich einzustufen waren häufiger ein Kind vor<br />
der vollendeten 37. SSW gebaren als diejenigen die<br />
als fraglich glücklich oder unglücklich einzustufen<br />
wa ren.<br />
Ergebnisse<br />
Ein wesentlicher Schwerpunkt der Schwan geren be -<br />
fragung lag auf der Frage, ob und wenn ja in welcher<br />
Weise die Paarbeziehung und insbesondere deren<br />
Qua lität einen Einfluss auf das perinatal outcome, hier<br />
die Frühgeburt vor der vollendeten 37. SSW, hat.<br />
Eindimensionale Auswertung<br />
Die Frühgeburtenrate im Gesamtkollektiv lag, wenn<br />
man als Definition die Geburt vor der 37. Schwan -<br />
gerschaftswoche zugrunde legte, mit 35 Kindern bei<br />
6,7%. Nach der (alten) WHO-Definition (Frühgeburt<br />
= Geburt eines Kindes vor der vollendeten 37. SSW<br />
und/oder mit einem Geburtsgewicht unter 2500g) lag<br />
eine Frühgeburtenrate von 9,1% vor. Da Mehrlings -<br />
schwangerschaften per se mit einem höheren Früh -<br />
geburtenrisiko verbunden sind wurden in die weitere<br />
Aus wertung nur die Geburten nach den 508 Ein -<br />
lingsschwangerschaften einbezogen. In dieser Gruppe<br />
wurden 29 Kinder (5,8%) vor der vollendeten 37.<br />
SSW geboren, 41 (8,2%) waren entsprechend der<br />
(alten) WHO-Definition als Frühgeborene einzustufen.<br />
Nahezu alle befragten Schwangeren (98,5%) ga -<br />
ben an einen festen Partner zu haben. 91,1% der<br />
Frauen mit festem Partner lebten mit diesem auch in<br />
einem gemeinsamen Haushalt. Die Dauer der Partner -<br />
schaft variierte von weniger als 6 Monaten bis zu<br />
mehr als 10 Jahren. Bei 2% der Frauen lag die Be -<br />
ziehungsdauer unter einem halben Jahr, bei 8,1% zwischen<br />
6 Monaten und einem Jahr. In diesen Be -<br />
ziehungen war die Schwangerschaft also sehr frühzeitig<br />
eingetreten. Die Mehrheit der Schwangeren<br />
(40,5%) gab eine Beziehungsdauer von 2 bis 5 Jahren<br />
an. Jeweils etwa 14% lebten 1 Jahr bzw. 4 bis 7 Jahre<br />
in der bestehenden Beziehung, 5% taten dies mehr als<br />
10 Jahre.
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 67<br />
Das Alter der Schwangeren der untersuchten Stich -<br />
probe reichte von 17 bis zu 44 Jahren, das mittlere<br />
Alter lag bei 26,4 Jahren.<br />
Hinsichtlich des Familienstandes gaben 50,4% der<br />
Schwangeren an verheiratet bzw. wiederverheiratet zu<br />
sein, 43,6% waren ledig, 5,8% geschieden und 0,2%<br />
verwitwet. In einer Totalerfassung Ostberliner<br />
Schwan geren von 1992 (n = 7.739) waren 48,1% der<br />
Schwangeren verheiratet. (Statistisches Landesamt<br />
Berlin 1993).<br />
207 schwangere Frauen lebten bereits mit einem<br />
oder mehreren Kinder im Haushalt. In zwei Drittel der<br />
Fälle handelte es sich um gemeinsame Kinder mit dem<br />
jetzigen Partner. In 6% der Fälle lebten 1 oder mehrere<br />
Kinder des Partners im Haushalt, in 25% der Fälle<br />
waren es Kinder der Frau und in jeweils 1 Fall handelte<br />
es sich um ein Adoptiv- und ein Pflegekind.<br />
60,4% der aktuellen Schwangerschaften waren zu<br />
diesem Zeitpunkt geplant, 20,4% zu einem späteren<br />
Zeitpunkt und 19,2% waren nicht geplant. Dennoch<br />
war mit 76,6% die überwiegende Mehrheit der<br />
Schwangerschaften erwünscht bis sehr erwünscht.<br />
16% der Schwangeren meinten ihre aktuelle Gravi -<br />
dität wäre unerwünscht bis sehr unerwünscht.<br />
Beziehung zwischen Partnerschafts variab -<br />
len und Geplantheit und Erwünschtheit der<br />
Schwangerschaft<br />
Erwartungsgemäß korrelierten Geplantheit und<br />
Erwünschtheit der Schwangerschaft signifikant mit<br />
dem Familienstand, der Dauer der Partnerschaft, dem<br />
gemeinsamen Haushalt. So hatten 68,0% der verheirateten<br />
Frauen und nur 53,0% der ledigen Frauen ihre<br />
Schwangerschaft zum aktuellen Zeitpunkt geplant.<br />
Auf die Erwünschtheit der Schwangerschaft hatte der<br />
Familienstand einen deutlichen aber nicht signifikanten<br />
Einfluss. 73,4% der ledigen und 80,7% der verheirateten<br />
Frauen gaben an, dass ihre Gravidität er -<br />
wünscht bis sehr erwünscht wäre. Frauen deren Part -<br />
nerschaft bis zu einem halben Jahr bestand gaben nur<br />
in 10% an, ihre Schwangerschaft zum aktuellen<br />
Zeitpunkt geplant zu haben, bei Frauen deren Be -<br />
ziehung zwischen 6 Monaten und 1 Jahr bestand traf<br />
dies auf 31,7% zu. Dieser Anteil erhöhte sich bei<br />
Frauen mit einer Beziehungsdauer von 5 bis 7 Jahren<br />
auf 77,5%. Lebte die Schwangere mit ihrem Partner<br />
nicht zusammen war die aktuelle Gravidität nur in<br />
24,4% zu diesem Zeitpunkt geplant während dies bei<br />
gemeinsamem Haushalt auf 64,5% der Schwan ger -<br />
schaften zutraf. Partnerschaftsdauer und gemeinsamer<br />
Haushalt hatten auch einen signifikanten Einfluss auf<br />
die Erwünschtheit der Schwangerschaft. So war die<br />
Schwangerschaft bei Frauen mit einer Bezie hungs -<br />
dauer bis zu 6 Monaten nur in 40% der Fälle er -<br />
wünscht, bei einer Beziehungsdauer von 5 bis 7 Jah -<br />
ren hingegen in 80,2%. Bei gemeinsamem Haushalt<br />
waren 78,7% der Graviditäten erwünscht bis sehr er -<br />
wünscht, hatte das Paar keine gemeinsame Wohnung<br />
war dies nur bei 64,4% der Fall. Ob Kinder im Haus -<br />
halt lebten und ob dies gemeinsame oder Kinder eines<br />
der beiden Partner waren hatte keinen Einfluss auf die<br />
Ge plantheit der Schwangerschaft und hinsichtlich der<br />
Erwünschtheit bestand ein signifikanter Zusammen -<br />
hang nur zu im Haushalt lebenden Kindern. Die<br />
Schwan gerschaft war signifikant häufiger erwünscht,<br />
wenn keine Kinder im Haushalt lebten (p= 0,013)<br />
(vgl. Tabelle 1).<br />
Tab. 1: Partnerschaftliche und familiale Variable und Geplantheit und<br />
Erwünscht heit der Schwangerschaft<br />
Familienstand<br />
gemeinsamer<br />
Haushalt<br />
Partnerschaftsdauer<br />
Kinder im Haushalt<br />
gemeinsame Kinder<br />
der Partner<br />
Familienstand<br />
gemeinsamer<br />
Haushalt<br />
Partnerschaftsdauer<br />
Kinder im Haushalt<br />
gemeinsame Kinder<br />
der Partner<br />
Ausprägung<br />
verheiratet<br />
nicht verheiratet<br />
ja<br />
nein<br />
0-1/2 Jahr<br />
> 1/2-1 Jahr<br />
> 1-2 Jahre<br />
< 2-3 Jahre<br />
> 3-5 Jahre<br />
> 5-7 Jahre<br />
> 7-10 Jahre<br />
< 10 Jahre<br />
ja<br />
nein<br />
ja<br />
nein<br />
Ausprägung<br />
verheiratet<br />
nicht verheiratet<br />
ja<br />
nein<br />
0-1/2 Jahr<br />
> 1/2-1 Jahr<br />
> 1-2 Jahre<br />
< 2-3 Jahre<br />
> 3-5 Jahre<br />
> 5-7 Jahre<br />
> 7-10 Jahre<br />
< 10 Jahre<br />
ja<br />
nein<br />
ja<br />
nein<br />
SS geplant<br />
(%)<br />
68,0<br />
53,0<br />
64,5<br />
24,4<br />
10,0<br />
31,7<br />
51,6<br />
62,1<br />
67,9<br />
77,5<br />
65,3<br />
48,0<br />
58,6<br />
61,8<br />
55,0<br />
61,8<br />
SS erwünscht<br />
(%)<br />
80,7<br />
73,4<br />
78,7<br />
64,4<br />
40,0<br />
68,3<br />
74,6<br />
80,3<br />
86,6<br />
80,2<br />
72,2<br />
72,0<br />
71,4<br />
80,9<br />
65,6<br />
74,1<br />
p<br />
0,001<br />
< 0,001<br />
< 0,001<br />
0,475<br />
0,374<br />
p<br />
0,051<br />
0,029<br />
0,014<br />
0,013<br />
0,223
68 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />
Beziehung zwischen soziodemographischen<br />
Faktoren und Partnerschaftsvariablen und<br />
dem perinatal outcome<br />
Hinsichtlich des perinatal outcome ist zunächst festzustellen,<br />
dass die bekannten soziodemographischen Ri -<br />
si ko faktoren, darunter auch der Familienstand, keinen<br />
signifikanten Einfluss auf die Frühgeburtenrate hatten.<br />
So gebaren 5,9% der verheirateten Frauen ihr Kind<br />
vor der 37. Schwangerschaftswoche. Bei den ledigen,<br />
ge schiedenen bzw. verwitweten Frauen waren es 5,7%<br />
(p = 0,91). Bei Auswertung hinsichtlich des Schulab -<br />
schlusses wiesen die Frauen mit Realschulabschluss<br />
und Abitur sogar eine höhere Frühgeburtenrate auf als<br />
jene mit Hauptschulabschluss. Ähnlich lagen die Ver -<br />
hält nisse bei der beruflichen Qualifikation. Beim Ein -<br />
kommen hatten Frauen mit einem monatlichen Haus -<br />
haltseinkommen über 4000 DM die niedrigste Früh -<br />
geburtenrate. Die Unterschiede zu den niedrigeren<br />
Ein kommensgruppen waren statistisch jedoch nicht<br />
sig nifikant. Die Belastung mit mehr als einem medizinischen<br />
Risikofaktor (p=0,086) und eine belastete<br />
Schwan gerschaftsanamnese (p=0,051) hatte eine deutliche<br />
jedoch nicht signifikante Erhöhung der Frühge -<br />
bur tenrate zur Folge. Hinsichtlich der Parität wiesen<br />
Zweitparae mit 2,7% eine erheblich niedrigere Früh -<br />
geburtenrate auf als Erst- (7,4%) und Multiparae<br />
(6,1%) (p =0,014) (vgl. Tabelle 2).<br />
Tab. 2: Soziodemographische und medizinische Faktoren und Frühgeburt<br />
< 37.SSW<br />
Variable<br />
Altersrisiko<br />
Parität<br />
Schulabschluss<br />
Berufsabschluss<br />
Familienstand<br />
Einkommen<br />
Medizinische<br />
Risiken<br />
belastete SS-<br />
Anamnese<br />
Ausprägung<br />
35 Jahre<br />
I.Para<br />
II.Para<br />
> II.Para<br />
niedrig<br />
mittel<br />
hoch<br />
niedrig<br />
mittel<br />
hoch<br />
in Ausbildung<br />
verheiratet<br />
nicht verheiratet<br />
< 1500 DM<br />
1500-4000 DM<br />
< 4000 DM<br />
kein Risiko<br />
1 Risiko<br />
< 1 Risiko<br />
nein<br />
ja<br />
FG
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 69<br />
Am Ende der schrittweisen logistischen Regression<br />
stellte sich eine Konfiguration von 8 Faktoren als prädiktiv<br />
bedeutungsvoll für das Auftreten einer Früh ge -<br />
burt dar. Das Ereignis Frühgeburt vor der vollendeten<br />
37. SSW war signifikant assoziiert mit der Tatsache ob<br />
im Haushalt der Schwangeren Kinder lebten, ob sie in<br />
der Vorgeschichte an einer Kolpitis gelitten hatte, ob<br />
sie sich durch eine oder mehrere Freundinnen akzeptiert<br />
fühlte, ob der Partner ihr emotionales Verständnis<br />
für die Schwangerschaft entgegen brachte, sie in einer<br />
„idealen Partnerschaft“ lebte (eine Beziehung in der<br />
die Frau mit dem Kindesvater in einem gemeinsamen<br />
Haushalt lebte und noch nie an eine Trennung gedacht<br />
hatte, glücklich oder sehr glücklich in der Partner -<br />
schaft war, in der es keine die Frau belastenden Ver -<br />
haltensweisen des Mannes und keine die Partnerschaft<br />
belastenden Probleme gab und die Frau in allen Be -<br />
reichen der Partnerschaft zufrieden war), welche An -<br />
gaben zum Nikotinkonsum den Krankenakten zu entnehmen<br />
waren sowie der allgemeinen Ängstlichkeit<br />
und den schwangerschaftsbezogenen Ängsten. Die<br />
bei den Variablen zur Angst waren als Rohwerte in das<br />
Modell eingeflossen. Je höher die allgemeine Ängstlichkeit<br />
war, desto niedriger war die Frühge burt lich -<br />
keit (OR 0,53; 95%CI 0,31-0,90; B-0,64) während für<br />
die schwangerschaftsbezogene Angst eine gegen sätz -<br />
liche Beziehung bestand, d.h. hohe Ängste mit einer<br />
hohen Frühgeburtenhäufigkeit assoziiert waren (OR<br />
1,44; 95%CI 1,02-,05;B 0,37). Die Tatsache, kei ne im<br />
Haushalt lebenden Kinder zu haben, war ebenso mit<br />
einem erhöhten Frühgeburtenrisiko verbunden (OR<br />
Abb. 1: Frühgeburtlichkeit bei Frauen mit Trennungsgedanken<br />
Abb. 2: Frühgeburtlichkeit bei Frauen mit „idealer Partnerschaft"<br />
Abb. 3: Multivariate logistische Regression bio-psycho-soziale Variable<br />
und FG < 37. SSW
70 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />
4,74; 95CI 1,39-16,20) wie eine durch Kolpitiden aus -<br />
ser halb der Schwangerschaft belastete Anamnese<br />
(Kol pitis 1-3x OR 3,23; 95%CI 1,17-8,95; Kolpitis<br />
>3x -chronisch OR 4,28; 95%CI 1,01-18,96). Aus<br />
dem Bereich des sozialen Netzwerkes waren das Feh -<br />
len des emotionalen Verstehens für die Schwan ger -<br />
schaft durch den Partner (OR 2,85; 95%CI 1,07-7,56),<br />
das Gefühl, nicht von Freundinnen akzeptiert zu werden<br />
(OR 3,22; 95%CI 1,23-8,40), besonders stark aber<br />
das Bestehen einer nichtidealen Partnerschaft (OR<br />
8,37; 95% CI 1,40-50,27) mit erhöhter Früh ge burt -<br />
lichkeit verbunden. Bei den aus den Unter la gen zum<br />
Nikotinkonsum entnommenen An gaben war be son -<br />
ders das Fehlen solcher Infor matio nen mit einer höheren<br />
Rate von Frühgeburten (OR 5,12; 95% CI 1,88-<br />
13,96) verbunden. Für den Nikotin abu sus war we gen<br />
der geringen Fallzahl keine Berechnung möglich.<br />
Durch den prospektiven Untersuchungsansatz lag<br />
erwartungsgemäß die Anzahl der Ereignisse Frühge -<br />
burt vor der vollendeten 37. SSW niedrig und die Vor -<br />
hersagegüte des Modells wurde damit ungünstig be -<br />
ein flusst. Unter Einbeziehung der Variablen Alter,<br />
Schul abschluss, Einkommen, Familienstand, Parität<br />
und medizinischer und schwangerschaftsanamnestischer<br />
Risikofaktoren wurde daher je eine Gruppe von<br />
29 Frauen mit einer Frühgeburt und 29 Frauen mit<br />
einer Reifgeburt gebildet. Wegen der geringen Fall -<br />
zahl wurde die Zahl der in die Berechnung ein flies -<br />
senden Variablen begrenzt. Für die Berechnung ausgewählt<br />
wurden Variable, die sich auch in der Gesamt po -<br />
pulation als Prädiktoren für eine Frühgeburt vor der<br />
37. SSW erwiesen hatten. Statt der anamnestischen<br />
Belastung Regelstörungen erwies sich in der Matched-<br />
Pair-Population das anamnestische Auftreten von<br />
Dys menorrhoe als Prädiktor. Weitere signifikante Prä -<br />
diktoren waren aus der Vorgeschichte bekannte Kol -<br />
pitiden, allgemeine Ängstlichkeit, schwangerschaftsbezogene<br />
Ängste, emotionales Verstehen für die<br />
Schwan gerschaft durch den Partner und eine ideale<br />
Partnerschaft. Während anamnestisch bekannte Schei -<br />
den entzündungen mit einer erhöhten Frühgeburtenrate<br />
verbunden waren bestand für die Dysmenorrhoe ein<br />
umgekehrtes Verhältnis. Wie in der Gesamtpopulation<br />
waren auch bei den Matched pairs geringe allgemeine<br />
Ängstlichkeit und erhöhte schwangerschaftsbezogene<br />
Ängste sowie das Fehlen des emotionalen Verstehens<br />
für die Schwangerschaft durch den Partner und das<br />
Bestehen einer nichtidealen Partnerschaft mit vermehrter<br />
Frühgeburtlichkeit verbunden. Mit diesem<br />
Mo dell konnten 85,2% der Reifgeburten und 80,8%<br />
der Frühgeburten richtig zugeordnet werden. Bei den<br />
in dieses Modell einfließenden Daten handelt es sich<br />
um Angaben die von den Schwangeren in der ersten<br />
Hälfte der Gravidität gemacht worden waren.<br />
Die Qualität der Partnerschaft scheint nach unseren<br />
Ergebnissen also ein deutlicher Einflussfaktor – protektiv<br />
oder auch pathogen – im Kontext der Ent wic k -<br />
lung einer Frühgeburt zu sein (vgl. Tabelle 3).<br />
Diskussion<br />
Als klassische Risikofaktoren der Frühgeburtlichkeit<br />
gelten Zugehörigkeit zur unteren sozialen Schicht,<br />
nie driges Haushaltseinkommen, im geburtshilflichen<br />
Sinne jugendliches (
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 71<br />
Kind vor der 37. Schwangerschaftswoche als die übrigen<br />
Schwan geren des Untersuchungskollektivs, andererseits<br />
hatten Frauen mit ernsthaften Tren nungsge -<br />
danken eine deutlich erhöhte Frühgeburten rate.<br />
Die Befragung zur Qualität der Paarbeziehung<br />
erfolgte zwischen der 16. und 22. Schwangerschafts -<br />
woche, also deutlich vor dem Beginn der Sympto ma -<br />
tik einer drohenden Frühgeburt und deren Eintritt. So -<br />
mit kann ausgeschlossen werden, dass die Zufrieden -<br />
heit in der Paarbeziehung durch die Symptomatik<br />
einer drohenden Frühgeburt beeinflusst wurden sondern<br />
vielmehr scheint die Qualität der Paarbeziehung<br />
einen Einfluss auf den Schwangerschaftsverlauf, hier<br />
die Frühgeburtlichkeit, zu haben.<br />
Bei der Paarbeziehung ist wohl wie auch bei anderen<br />
psychosozialen Einflüssen eher die Qualität als die<br />
Quantität der Variablen von Bedeutung für den<br />
Schwan gerschaftsverlauf. Es scheint also nicht nur<br />
wichtig zu sein welche Stresssituation besteht, sondern<br />
bedeutungsvoll ist besonders, wie die Schwan -<br />
gere die belastende Situation erlebt und ob sich die<br />
Erregung ins Körperliche umsetzt. Ob eine Situation<br />
als stressvoll erlebt wird und ob die einsetzende Erre -<br />
gung sich körperlich negativ umsetzt hängt von vielfältigen<br />
modulierenden Einflussfaktoren ab. Das verfügbare<br />
Repertoire von Coping-Strategien spielt hier<br />
ebenso eine Rolle wie die Verfügbarkeit von sozialen<br />
Netzen oder bestimmte individuelle Persönlichkeitsei -<br />
gen schaften. Auch das von Antonovsky (1987) im<br />
Rah men seines salutogenetischen Konzeptes erläuterte<br />
Kohärenzgefühl kann zum ganzheitlichen Verständ -<br />
nis von Schwangerschaftskomplikationen beitragen.<br />
Antonovsky (1987) geht bei der Betrachtung von<br />
Stressoren von der interessanten Frage aus, warum<br />
einige Individuen unter Stress mit pathologischen<br />
Symp tomen reagieren, andere hingegen nicht. Er vertritt<br />
die Ansicht, dass es gerade auch für die Medizin,<br />
(wir sagen auch für die Geburtsmedizin) interessant<br />
ist, die Faktoren zu ermitteln, die Stress nicht zum<br />
krankmachenden Ereignis werden lassen. Antonovsky<br />
sieht hierfür das Kohärenzgefühl, eine globale Orien -<br />
tierung, die das Maß ausdrückt, indem man ein durchdringendes,<br />
andauerndes aber dynamisches Gefühl<br />
des Vertauens hat, dass die eigene interne Umwelt vor -<br />
her sagbar ist, und dass es eine hohe Wahrschein lich -<br />
keit gibt, dass sich die Dinge so entwickeln werden,<br />
wie vernünftigerweise erwartet werden kann, als<br />
bedeutsam an. Wichtige Komponenten zur Erklärung<br />
des Kohärenzgefühls sind Verstehbarkeit, Handhab -<br />
barkeit und Bedeutsamkeit von Lebensereignissen.<br />
Neben dem als intrapsychisches Konstrukt zu betrachtenden<br />
Kohärenzgefühl untersuchte Antonovsky auch<br />
den Einfluss von sozialer Unterstützung auf die<br />
Stress verarbeitung. So fand er bei der Neuberechnung<br />
von Daten einer Studie über Schwangerschafts kom -<br />
plikationen (Nuckolls et al. 1972) einen erstaunlichen,<br />
von den Primärautoren nicht beachteten Zusammen -<br />
hang. Ein hohes Ausmaß an Stressoren war bei gleich -<br />
zei tig hohem Ausmaß an sozialer Unterstützung<br />
gesundheitsfördernd wirksam. In der vorliegenden<br />
Stu die stellte sich die Paarbeziehung als eine hochprotektiv<br />
wirksame Ressource heraus.<br />
Die aktuelle Partnerbeziehung stellt auch nach<br />
Lukesch (1983) den wesentlichen Einflussfaktor auf<br />
das Schwangerschaftserleben einer Frau dar. Er meint,<br />
dass bei einer gestörten Partnerschaft die negativen<br />
As pekte des Schwangerschaftserlebens überwiegen<br />
und es somit verstärkt zum Auftreten von physischen<br />
und psychischen Beschwerden kommen kann. Auch<br />
andere Autoren (Buddeberg 1987; Herms und Kubli<br />
1976; Kloss & Wellnitz 1991; Wimmer-Puchinger<br />
1992) vertreten die Ansicht, dass Wechselbeziehungen
72 M. Rauchfuß, C. Altrogge<br />
zwischen einer gestörten Partnerbeziehung und dem<br />
Auftreten von Schwangerschaftskomplikationen be -<br />
stehen können. Molinski unterstreicht immer wieder,<br />
eine Frau benötige für den guten Verlauf ihrer<br />
Schwan gerschaft ein Gefühl der Sicherheit. Ein solches<br />
Gefühl der Sicherheit ist seiner Ansicht nach<br />
weitgehend gleichzusetzen mit der Freiheit von Angst.<br />
Er betrachtet Angst und Angstphysiologie im Rahmen<br />
des Abortgeschehens, seine diesbezüglichen Überlegungen<br />
sind aber auch auf die vorzeitige Wehen -<br />
tätigkeit zu übertragen. (Molinski 1988) Sicherheit<br />
kann die Schwangere aus sich selbst aber auch aus<br />
ihrem sozialen Umfeld und hier speziell aus der Paar -<br />
beziehung schöpfen. Psychosoziale Grundbedürfnisse<br />
nach Angenommen-Sein, Nähe, Schutz, Geborgenheit<br />
und Sicherheit lassen sich am intensivsten in intimen<br />
Beziehungen erfüllen (Beier et al. 2001).<br />
Tierversuche haben in jüngster Zeit erste Ergeb -<br />
nis se zur Erklärung psychophysiologischer Wirkwei -<br />
sen von Stress in der Schwangerschaft erbracht. Taka -<br />
hashi et al. (1998) konnten demonstrieren, dass wiederholter<br />
unkontrollierbarer Stress bei schwangeren<br />
Ratten zu einer Erhöhung der Plasma glukokorti koid -<br />
konzentration führt und beim Feten eine gleichgerichtete<br />
Reaktion zu beobachten ist. Bereits 1988 wiesen<br />
Herrera und Mitarbeiter nach, dass bei einer höheren<br />
Stressbelastung das relative Risiko für Schwanger -<br />
schafts komplikationen auf 5,1 steigt. War bei erhöhtem<br />
Stressniveau gleichzeitig die soziale Unterstüt -<br />
zung inadäquat betrug das Risiko sogar 10,2. 72,7%<br />
der Schwangeren mit hohem Stressniveau und unge -<br />
nügender sozialer Unterstützung zeigten eine Depres -<br />
sion der Lymphozytenaktivität. Ponirakis et al. (1998)<br />
fanden bei 27 sehr jungen Schwangeren (14 – 17 Jah -<br />
re) eine signifikante Beziehung zwischen der emotionalen<br />
Situation der Schwangeren und dem „fetal outcome“.<br />
Weiterhin waren höhere Konzentrationen mütterlichen<br />
Kortisols assoziiert mit niedrigeren Apgar-<br />
Werten und mehr neonatologischen Reanimations -<br />
maß nahmen. Soziale Unterstützung beeinflusste den<br />
Effekt negativer mütterlicher Emotionen auf den Zu -<br />
stand des Kindes. Brandt-Niebelschütz et al. (1995)<br />
fanden bei Frauen mit unauffälligem Schwanger -<br />
schafts verlauf gegenüber Nichtschwangeren im Sinne<br />
einer Immunstatusverbesserung signifikant höhere<br />
Wer te für die peripheren T-Lymphozyten sowie für die<br />
T-Helfer-Zellen. Bei Schwangeren mit Zeichen einer<br />
drohenden Frühgeburt wurden dazu im Vergleich signifikant<br />
niedrigere Werte gemessen, in den Fällen mit<br />
später tatsächlich eingetretener Frühgeburt waren die<br />
Wer te besonders niedrig. Eine kausale Beziehung zwischen<br />
psychischer und physischer Belastung, Be ein -<br />
trächtigung des Immunsystems und vorzeitiger We -<br />
hen tätigkeit, z.B. infolge einer aszendierenden Infek -<br />
tion vermuten die Autoren, da 65% der Frauen mit<br />
vorzeitiger Wehentätigkeit über subjektiv belastende<br />
Lebenssituationen berichten, während es in der Kon -<br />
trollgruppe nur 26% sind.<br />
Im für die Gesamtpopulation berechneten multivariaten<br />
logistischen Modell setzte sich in der vorliegenden<br />
Untersuchung die Partnerschaftsqualität als ein<br />
sig nifikanter Prädiktor für die Vorhersage einer Früh -<br />
geburt durch, während „klassische“ soziodemographische<br />
Risikofaktoren wie Familien- und Bil dungs stand<br />
sowie der sozioökonomische Status keinen relevanten<br />
Einfluss hatten. Auf die Bedeutung der anderen signifikanten<br />
Faktoren unseres bio-psycho-sozialen Prädi -<br />
ktorenmodells kann hier nicht eingegangen werden.<br />
Auch bei der Berechnung mit den Matched pairs wur -<br />
de die Qualität der Paar beziehung als signifikanter<br />
Einflussfaktor auf den Schwangerschaftsverlauf er -<br />
mit telt. Schwangere deren Partner ihr emotionales<br />
Ver ständnis für die Schwan gerschaft entgegen brachte<br />
und die in einer „idealen Partnerschaft“ lebten hatten<br />
ein signifikant niedrigeres Frühgeburtenrisiko.<br />
In einer Reihe von Studien wurde der Einfluss professioneller<br />
sozialer Unterstützung auf den Schwan -<br />
ger schaftsverlauf geprüft. Nur wenige Studien konnten<br />
einen positiven Effekt auf medizinische Parameter<br />
des Schwangerschaftsverlaufs und- ausgangs nachweisen<br />
(Mamelle 1997, Oakley 1990). Eine randomisierte<br />
Studie in 4 lateinamerikanischen Staaten in der<br />
die Frauen der Interventionsgruppe, ab der 15 – 22.<br />
SSW mindestens 4 Besuche einer Sozialarbeiterin<br />
erhielten erbrachte keine Unterschiede in der Unter -<br />
gewichtigenrate zwischen beiden Gruppen (Villar<br />
1992). Auch Hodnett (2000) kommt in einer Meta ana -<br />
lyse von 14 Interventionsstudie zu dem Schluss dass<br />
zusätzliche Unterstützung in der Schwangerschaft<br />
nicht zu einer Reduzierung von Frühgeburtlichkeit<br />
und Untergewichtigenrate führt. Die Autorin diskutiert<br />
als Hintergrund für diese wenig ermutigende Er -<br />
fahrungen einerseits die ausgeprägte soziale Benach -<br />
tei lung der meisten in die Studien einbezogenen<br />
Frauen, die einen positiven Einfluss der Interven tio -<br />
nen auf das Geburtergebnis schon primär unwahrscheinlich<br />
machen. Andererseits betont sie, dass als<br />
Ausdruck des unzureichenden Wissens um die ätiopathogenetischen<br />
Hintergründe von Frühgeburtlichkeit<br />
und niedrigem Geburtsgewicht möglicherweise Frau -<br />
en in die Studien eingeschlossen wurden die gar nicht<br />
mit einem erhöhten Risiko behaftet waren. (Hodnett<br />
2000) Da neuere Studien einen positiveren Effekt<br />
sozialer Unterstützung aus „Attachment-relationships“<br />
denn aus „Nonattachment-relationships“ nachweisen<br />
konnten (Maunder 2001), muss die Beziehung<br />
zum Kindesvater als eine bislang ungenutzte Ressour -<br />
ce in der Prävention der Frühgeburtlichkeit betrachtet
Paarbeziehung und Schwangerschaftsverlauf 73<br />
werden. Paartherapeutische Interventionsstudien bei<br />
somatischen oder psychosomatischen Erkrankungen<br />
sind bisher sehr selten gemacht worden. In einer randomisierten<br />
kontrollierten Studie ließ sich der Erfolg<br />
einer ambulanten Rehabilitation von Patienten mit ko -<br />
ro naren Herzkrankheiten entsprechend der WHO-<br />
Phase II durch eine kurze paartherapeutische Inter ven -<br />
tion verbessern (Priebe 2001). Untersuchungen zum<br />
Effekt paartherapeutischer Interventionen in der<br />
Schwangerschaft gibt es erstaunlicherweise nicht.<br />
Es sei noch einmal hervorgehoben, dass die Be -<br />
fragung in der 16 – 22. Schwangerschaftswoche, also<br />
deutlich vor dem Ereignis Frühgeburt und in der Regel<br />
auch dem Auftreten erster diesbezüglicher Symptome<br />
er folgte. Damit kann der hier vorgestellte Unter -<br />
suchungs ansatz Ausgangspunkt für präventive Stra -<br />
tegien hinsichtlich der Frühgeburtlichkeit sein. Da die<br />
Frühgeburtlichkeit unabhängig von biomedizinischen<br />
Risikofaktoren signifikant mit der Qualität der Part -<br />
ner schaft korreliert sollten präventive Strategien psychosoziale<br />
Faktoren und insbesondere die Partner -<br />
schaft einschließen. Dies bedeutet für die Betreuung<br />
Schwangerer eine möglichst frühzeitige Einbeziehung<br />
des Partners, d.h. nicht erst zur Geburtsvorbereitung<br />
sondern von Beginn der Schwangerschaft an. Dies<br />
bietet zunächst besser diagnostische Möglichkeiten<br />
hinsichtlich der Paarbeziehung. Aus anderen Unter -<br />
suchungen wissen wir, dass Aussagen des Partners ge -<br />
rade in der Schwangerschaft die Qualität der Bezie -<br />
hung noch klarer beschreiben als Aussagen der Frau.<br />
Andererseits kann Paaren mit Problemen in der Be -<br />
ziehung so frühzeitig die Möglichkeit von Kommu -<br />
nika tions- und Interaktionstraining angeboten werden.<br />
Darüber hinaus kann die Schwangere durch das Erler -<br />
nen von Entspannungsverfahren die Möglichkeit er -<br />
hal ten ein Überspringen der Erregung ins Körperliche<br />
zu verhindern. Die Vermittlung von Entspannungs ver -<br />
fahren kann genauso wie die von Coping-Strategien<br />
gut in Gruppen erfolgen. So wird ein zusätzliches so -<br />
ziales Netzwerk aufgebaut. Selbstverständlich ist es<br />
auch wichtig vorhandene soziale Beziehungen für die<br />
Unterstützung der Schwangeren zu aktivieren.<br />
Wie eine Paarbeziehung in der Schwangerschaft als<br />
wichtige stützende und Sicherheit gebende Funk tion<br />
wirken und in diesem Sinne in Hinblick auf Schwan -<br />
gerschaftskomplikationen prophylaktisch oder therapeutisch<br />
bedeutsam sein kann,. mag ein kurzes<br />
Fallbei spiel verdeutlichen.<br />
Die 37jährige Patientin stellte sich nach 3 Aborten<br />
in der 6 bis 8. SSW in unserer Ambulanz vor. Sie hatte<br />
seit 10 Jahren eine feste Paarbeziehung aber bisher<br />
noch nicht mit dem Partner zusammengelebt. Aktuell<br />
musste der Partner seinen Arbeitsort in eine rund 80<br />
km entfernte Stadt verlegen. Das Paar sah sich am<br />
Wochen ende und an einem Abend der Woche, wobei<br />
meist sie es war, die zu ihm fuhr. Die medizinischen<br />
Untersuchungen erbrachten keine klaren Hinweise auf<br />
eine somatische Ursache der Aborte. Die Patientin<br />
dräng te intensiv auf weitere körperliche Diagnostik.<br />
Der Partner hatte zwar einige Basisuntersuchungen<br />
durch führen lassen, wollte sich auf weitere diagnostische<br />
und therapeutische Maßnahmen jedoch nicht einlassen.<br />
In einem Paargespräch wurde deutlich, dass<br />
der Kinderwunsch bisher im wesentlichen von ihr ausging.<br />
Er hatte schon irgendwie mitgemacht aber so -<br />
wohl das Bestreben nach einem gemeinsamen Kind<br />
wie auch die gemeinsame Zukunft weniger verbindlich<br />
gesehen. Sie betonte an einer Stelle des Ge -<br />
spräches, dass sie das Empfinden hätte, ihre Schwan -<br />
gerschaften ins Leere hinein zu konzipieren. Im Paar -<br />
ge spräch zeigte sich der dahinter liegende Konflikt<br />
deut lich. Die Patientin wurde relativ bald wieder<br />
schwan ger und erlitt erneut eine Fehlgeburt. Einige<br />
Zeit später, inzwischen war sie 40 Jahre alt, stellte sie<br />
sich erneut bei uns vor. Am Konsultationstermin war<br />
eine Frühschwangerschaft zu diagnostizieren. Frau W.<br />
berichtete, dass sie seit einiger Zeit jeden Arzttermin<br />
bei der Gynäkologin nur gemeinsam mit ihrem Freund<br />
wahrnehmen würde. „Da gehe ich nicht mehr allein<br />
hin und er kommt wie selbstverständlich mit, auch<br />
wenn er sich manchmal etwas unbeholfen fühlt.“ Sie<br />
hatte ihre Stelle inzwischen reduzieren können und so<br />
sahen sie sich jetzt öfter, mal bei ihr und mal bei ihm.<br />
Sie redeten über ihre gemeinsame Zukunft mit und<br />
ohne Kind. Obwohl auch diese Schwangerschaft mit<br />
vielen Ängsten erfüllt war verlief sie ohne wesentliche<br />
medizinische Komplikationen. In der 20. SSW hat die<br />
Patientin sich selbst aus unserer Betreuung in eine<br />
nor male Schwangerschaft entlassen und inzwischen<br />
ein gesundes Kind geboren.<br />
Wenn aus geburtsmedizinischer Sicht immer wieder<br />
betont wird, dass bisherige Konzepte der Schwan -<br />
ge reinbetreuung wenig zur Reduzierung z.B. der Fehlund<br />
Frühgeburtlichkeit geleistet haben und intensiv<br />
darüber nachgedacht wird, welche präventiven Strate -<br />
gien zur Reduzierung von Schwangerschafts kompli -<br />
kationen und zu einer Senkung der Frühgeborenenrate<br />
beitragen könnten, so könnte eine Integration der Paa -<br />
beziehung in solche Konzepte neue Wege eröffnen.<br />
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Anschriften der Autorinnen<br />
Dr. med. Martina Rauchfuß, Universitätsklinikum Charite, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin, AG Psychosoziale Frauenheilkunde,<br />
Luisenstr. 57, 10117 Berlin, martina.rauchfuss@charite.de<br />
Dr. med. Claudia Altrogge, KMK Klinikum Kyritz, Perleberger Str.31, 16866 Kyritz
Fortbildung<br />
Sexuologie<br />
Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei<br />
gesunden Männern“<br />
New misleading ways: „Penisenlargement for<br />
healthy men<br />
Günther Fröhlich<br />
In allen Kulturen ist ein großer Penis Symbol für<br />
Potenz und männliche Macht. Es erstaunt daher nicht,<br />
daß Männer„ihn“ seit je her etwas länger, etwas dicker<br />
und möglichst auf Knopfdruck funktionierend wünschen.<br />
Antike Darstellungen (vgl. Abb. 1) wie beispielsweise<br />
Wandmalereien aus der Villa vetii in Pompeji<br />
lassen der Phantasie dabei jeden Spielraum und auch<br />
die moderne Sexindustrie macht Angebote (vgl. Abb.<br />
2), die dem Betrachter beim Vergleich mit den eigenen<br />
„real existierenden Gegebenheiten“ durchaus Minder -<br />
wer tig keitsgefühle bereiten können. Im Zeitalter me -<br />
dialer Überflutung mit sexueller Information und Des -<br />
infor mation, die sich am sexuellen Phantasie modell<br />
orientiert, ist es verständlich, daß Männer mit ihrer<br />
Biolo gie hadern und oft anonym nach Mög lichkeiten<br />
einer Ver größerung dieses für sie so wichtigen Organs<br />
suchen. So wird beispielsweise die Inter netseite www.<br />
willy-online.de täglich von etwa 2000 Surfern be -<br />
sucht.<br />
In die urologische Praxis schlägt dieses Interesse<br />
allerdings nicht durch. Nach einer Umfrage, die der<br />
Autor im Januar 2002 bei 27 niedergelassenen und<br />
Krankenhausurologen der Bezirksärztekammer Ol -<br />
den burg durchführte, informieren sich jährlich durchschnittlich<br />
nur 1,2 Patienten nach Penisver größe -<br />
rungs möglichkeiten. Nur einer der 27 Urologen hat<br />
bis her eine Penisvergrößerungsoperation veranlaßt<br />
und keiner hat je eine solche Operation durchgeführt.<br />
6 Urologen betreuen je einen in auswärtigen privaten<br />
kosmetisch-chirurgischen Instituten operierten Patien -<br />
ten. Alle diese Männer sind mit ihrem Operations -<br />
resultat höchst unzufrieden und mußten zum Teil<br />
nach operiert werden (beispielsweise die Ausräumung<br />
eines Paraffinoms).<br />
Gleichwohl setzen sich viele Männer besorgt mit<br />
der Länge und Dicke ihres Penis auseinander. Insbe -<br />
sondere ältere Männer beklagen in der Sprechstunde<br />
gar nicht so selten, daß „er“ in letzter Zeit immer kleiner<br />
werde. Hierbei handelt es sich aber meist entweder<br />
um einen versteckten Hinweis auf eine allgemeine<br />
Un zufriedenheit mit ihrem Sexualleben oder aber es<br />
liegt eine durch einen zunehmenden Wohlstandsbauch<br />
bedingte optische Täuschung vor.<br />
Abb. 1: Frau und Olisbos (Pompeji Haus Vettii)<br />
Abb. 2: Dildo-Sortiment aus dem Magazin der Frankfurter Rundschau (29.12.2001)<br />
Sexuologie 9 (2) 2002 75 – 82 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
76 G.Fröhlich<br />
Auffällig ist in der Praxis auch immer wieder, daß<br />
Männer zwar davon überzeugt sind, ihr Penis wäre zu<br />
klein, daß sie aber über die normale Größe eines Pe -<br />
nis, über seinen Aufbau und seine Funktion wenig<br />
oder gar nichts wissen. Außerdem hat kaum ein he -<br />
tero sexueller Mann je den erigierten Penis eines anderen<br />
Mannes gesehen, wenn er nicht zu Besuchern von<br />
sogenannten Swinger Clubs zählt. Der pornographische<br />
Film hilft da auch nicht weiter, weil dort nur ausgesuchte<br />
Prachtexemplare gezeigt werden.<br />
Oft schafft bei solchen an ihrer genitalen Aus stat -<br />
tung zweifelnden Männern bereits eine sexualmedizinische<br />
Aufklärung über den Aufbau und die Funktion<br />
dieses für sie so wichtigen Organs Erleichterung oder<br />
kann sogar letzte Zweifel ausräumen. Trotzdem bleibt<br />
eine Anzahl von Männern überzeugt, „einfach zu<br />
klein“ ausgestattet zu sein und meint dann beispielsweise:<br />
„man sollte eigentlich annehmen, daß ich es<br />
besser wüßte. Ich bin nicht ungebildet und habe viele<br />
Bücher über Sex gelesen aber ich glaube immer noch,<br />
daß ich attraktiver für Frauen wäre, wenn mein Penis<br />
ein bißchen länger und ein bißchen dicker wä re.“<br />
(zit.n. Zilbergeld 1996)<br />
Seit Masters und Johnson darf angenommen werden,<br />
daß die Penisgröße für die physiologische sexuelle<br />
Erlebnisfähigkeit der Frau bedeutungslos sei, da<br />
sich die Scheide als muskuläres Hohlorgan der Penis -<br />
größe anpaßt.<br />
Zilbergeld (1996) meint, daß „Frauen viel we ni ger<br />
über Penisgrößen nachdenken als Männer“. Die große<br />
Mehrzahl seiner Gesprächspartnerinnen konnte sich<br />
„an keine Unterhaltung mit Freundinnen erinnern, in<br />
denen sie die Größe von Penisen auch nur er wähnt<br />
hätten“. Vom Autor befragte Gynäkologinnen und<br />
Gynäkologen meinten auch, die Penisgröße werde in<br />
ihrer Praxis nicht thematisiert. Auch namhafte Au to -<br />
rinnen zum Thema weibliche Sexualität wie Neises<br />
(2002) und von Sydow (2002) teilten auf Anfrage mit,<br />
keine eigenen Untersuchungen zur Bedeutung der Pe -<br />
nis größe für das sexuelle Erleben der Frau gemacht zu<br />
haben und konnten ad hoc auch keine <strong>Literatur</strong>an ga -<br />
ben machen.<br />
Der Freud‘sche Penisneid etwa<br />
nur ein Problem der Männer?<br />
Der doch sehr taxierende, auf die Körpermitte eines<br />
FKK-Anhängers gerichtete Blick einer Strandnixe aus<br />
dem Spiegel vom Anfang diesen Jahres (Heft 7: 194)<br />
veranlaßte den Autor von Mitte Februar bis Mitte<br />
März 2002 in 4 gynäkologischen und 3 urologischen<br />
Praxen des Landkreises Vechta zu einer Umfrage bei<br />
226 Frauen im Alter von 18-62 Jahren und 119 Män -<br />
nern im Alter von 17-73 Jahren (vgl. Tab. 1). Ge fragt<br />
wurde nach der Bedeutung der Penisgröße für das<br />
Selbstbewußtsein des Mannes, für die eigene sexuelle<br />
Erlebnisfähigkeit und die sexuelle Erlebnisfähigkeit<br />
der Partnerin sowie nach dem Wunsch des Mannes<br />
nach einer Penisvergrößerungs operation und der Zu -<br />
stimmung seiner Partnerin zu einem solchen Eingriff.<br />
Auffällig war die weitgehend übereinstimmende Be -<br />
wertung bei Männern und Frauen.<br />
Ganz unwichtig scheint die Penisgröße nur für<br />
etwa 20 % aller Befragten zu sein. Für 60% ist die<br />
Penisgröße nicht ganz unwichtig. Fast 20 % der Män -<br />
ner und Frauen schätzen die Penisgröße als sehr wichtig<br />
für das männliche Selbstbewusstsein ein und etwa<br />
13% der Männer und 16% Frauen glauben, dass die<br />
Penisgröße sehr wichtig für die männliche sexuelle<br />
Er lebnisfähigkeit des Mannes sei. Nur etwa 9% der<br />
Männer halten ihre Penisgröße für die sexuelle Er -<br />
lebnisfähigkeit ihrer Partnerin für sehr wichtig wäh -<br />
rend fast 12% der Frauen dieser Meinung sind.<br />
Vergrößerungsoperationen lehnen 84% der Män -<br />
ner und 81% der Frauen ab. Immerhin würden aber<br />
5,2% der Männer und sogar 12% der Frauen einer sol-<br />
Tab. 1: Umfrage in 4 gynäkologischen und 3 urologischen Praxen im Kreis Vechta (Februar bis März 2002)
Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“ 77<br />
chen Operation zustimmen. 10,4% der Männer sind<br />
nicht sicher, ob sie sich einer solchen Operation unterziehen<br />
würden und 9% der Frauen wäre ein solcher<br />
Entschluß des Partners gleichgültig.<br />
Ganz bedeutungslos scheint demnach die Penis -<br />
größe für Männer und Frauen für ihre sexuelle Erleb -<br />
nisfähigkeit also wohl doch nicht zu sein und es wird<br />
daher immer wieder Männer geben, die auf der Suche<br />
nach Penisvergrößerungsangeboten sind.<br />
Sie werden fündig in Talkshows, Livestyle-Magazi -<br />
nen und im Internet (vgl. http:www.willy-online de).<br />
An bieter sind fast aus schließlich kosmetische Chirur -<br />
gen in kommerziell aus gerichteten privaten Instituten<br />
oder selbst ernannte nicht ärztliche „Spezialisten“. Die<br />
Angebote erscheinen verlockend, versprechen sie<br />
doch immerhin Pe nis verlängerungen von 2-4cm und<br />
Verdickungen bis zu 2,5 cm.<br />
Solche Operationsverfahren sind nicht neu und<br />
wurden schon ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />
beschrieben (Maizels et al. 1968, Kelly & Eraklis,<br />
1971, Johnsten 1974). Sie wurden damals aber nur bei<br />
angeborenem Mikropenis, einer großen Seltenheit,<br />
oder bei Pe nismissbildungen wie z.B. bei der Bla sen -<br />
extrophie angewandt. Seit 5-7 Jahren erleben sie nun<br />
aber auch bei körperlich gesunden Männern besonders<br />
in den USA und seltener auch in Europa einen Boom.<br />
Man che Institute geben an, 700 bis 5000 solcher Ope -<br />
rationen erfolgreich durchgeführt zu haben (vgl. Abb.<br />
3). Wissenschaftliche Veröffent li chun gen dieser Insti -<br />
tute sucht man allerdings in der <strong>Literatur</strong> vergeblich.<br />
Inzwischen laufen in den USA hunderte von Haft -<br />
pflichtprozeßen (Porst 2000), einige auch in Deutsch -<br />
land, weil das postoperative Ergebnis der erhofften<br />
Idealvorstellung kraß widerspricht.<br />
Grundsätzlich ist die Penisgröße durch die individuelle<br />
Größe des Corpus cavernosum und des Corpus<br />
spongiosum mit der Glans penis vorgegeben und folgt<br />
dem biologischen Gesetz einer Gauß‘schen Vertei -<br />
lungskurve (vgl. Abb. 4). Sie hat keine Beziehung zur<br />
Kör pergröße und auch keine signifikante Beziehung<br />
zum Alter des Patienten.<br />
Bei 262 Männern in der Praxis des Autors betrug<br />
die durchschnittliche am flacciden gestreckten Penis<br />
gemessene Länge 13,17 cm (vgl. Abb. 5), was etwa<br />
den <strong>Literatur</strong>angaben entspricht (vgl. Tab. 2 ).<br />
Operativ gibt es am Corpus cavernosum Penis<br />
nichts zu vergrößern. Etwa 25% des Corpus cavernosum<br />
sind am Beckenskelett bindegewebig fixiert und<br />
äußerlich nicht sichtbar. Die meisten Männer verstehen<br />
unter Penisvergrößerung eine Penisverlängerung.<br />
Nach Porst (2000), der in seinem Hamburger Spezia -<br />
institut 4-5 Patienten mit dem Wunsch nach einer Pe -<br />
nis vergrößerung pro Monat berät, sind die Zielgruppe<br />
immer Männer zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr,<br />
Abb. 3: Website-Adressen zum Thema Penisverlängerung<br />
www.25cm.de<br />
Abb. 4: Penisgröße gestreckter flaccider Penis, n = 262 (Juni 2001 bis Februar<br />
2002)<br />
Abb. 5: Penisgröße gestreckter flaccider Penis, n = 262 (Juni 2001 bis Februar<br />
2002)<br />
Tab. 2: Penisgröße nach <strong>Literatur</strong>angaben<br />
www.impodoc.de<br />
www.penisverlängerung.dewww.männerproblem.de<br />
www.willy-online.de<br />
www.stretcher-online.de<br />
www.dildo.de<br />
www.selbsthilfeforum.de<br />
www.beratung@andrologie.de<br />
gestreckte Länge<br />
Länge durchschnittlich<br />
13,17 cm<br />
< 60 Jahre, n = 92<br />
13,39 cm<br />
> 60 Jahre, n = 134<br />
13,06 cm<br />
Erektionslänge<br />
Wessels 1996 n = 80 12,45 12,89<br />
da Rosa 1996 n = 150 14,50<br />
Torres 1999 n = 329 14,20<br />
pro Familia n = 3000 14,80
78 G.Fröhlich<br />
welche zu 98% im erigierten Zustand normale Penis -<br />
größen zwischen 13 und 19 cm aufweisen. Im mer<br />
han delt es sich um Männer mit starken Minder -<br />
wertigkeitsgefühlen, die sich „überall und ständig verächtlichen<br />
und spöttischen Blicken, sogar durch die<br />
Kleidung hindurch“ (Zitat eines Patienten) ausgesetzt<br />
sehen. Solche Männer geraten oft schon bald nach der<br />
Pubertät in soziale Isolation, sie meiden die Teilnahme<br />
an Sportveranstaltungen, gemeinsames Duschen, Be -<br />
such von Schwimmbädern und haben keine sexuellen<br />
Kontakte, da sie sich mit ihrer vermeintlich unzulänglichen<br />
genitalen Ausstattung nicht bloß stellen wollen.<br />
Negative Partnererfahrungen haben diese Männer<br />
meist noch nicht gemacht, da sie noch nie eine sexuelle<br />
Beziehung gewagt haben.<br />
Eine andere Gruppe hat ein normales Sexualleben,<br />
ist zum Teil verheiratet und hat mit der Partnerin auch<br />
gemeinsame Kinder. Diese Männer haben keine Koi -<br />
tusprobleme, trotzdem hegen sie, orientiert an phallischen<br />
Mythen und pornographischer Irreführung tiefste<br />
Selbstzweifel bezüglich ihrer genitalen Ausstat -<br />
tung. Sie fühlen sich „in jeder Hinsicht zu klein“.<br />
Auch die Konfrontation mit ihrem fast immer normal<br />
großen Penis durch eine pharmakoindozierte<br />
Erek tion, die von Urologen gar nicht so selten versucht<br />
wird, kann solche Männer natürlich nicht von<br />
ihrer ichstrukturellen Insuffizienzproblematik befreien.<br />
Ichstärkende Sexualtherapie wäre hier angezeigt,<br />
welche Ressourcen und andere Perspektiven unter<br />
Einbe ziehung des Partners, sofern vorhanden, zu er -<br />
öffnen versucht.<br />
Leider suchen solche Männer aber oft anonyme<br />
Beratung über das Internet und werden hier auch vielfältig<br />
fündig. Die Angebotspalette ist breit. Spezielle<br />
Partnerschaftsvermittlungsinstitute versuchen beispielsweise<br />
mit Angeboten wie „500 reizende junge<br />
Frauen suchen Männer mit kleinem Pe nis“ Kapital zu<br />
schlagen, oder solche Männer geraten irgendwann auf<br />
die Website eines „Experten“ der mit tausenden erfolgreich<br />
durchgeführter Penisvergröße rungsoperationen<br />
oder mit konservativen Vergröße rungs maßnahmen<br />
lockt.<br />
Welche Operationen zur<br />
Penisvergrößerung werden angeboten?<br />
1. Ligamentolyse<br />
Dies bedeutet die Durchtrennung des Ligamentum<br />
suspensorium Penis, welches das Corpus cavernosum<br />
am Schambein fixiert (vgl. Abb. 6). Häufig wird diese<br />
mit einer Fettabsaugung im Unterbauch und einem Y-<br />
V Schnitt kombiniert. Sie löst die Veranke rung des<br />
Corpus cavernosum vom Schambein. Das Glied hängt<br />
dabei im Stehen im flacciden Zustand ei ni ge cm länger<br />
herunter, was subjektiv eine Penis ver größerung<br />
vortäuscht. Bei der Erektion ist das Glied nach schräg<br />
unten gerichtet, es hat seine feste Veran ke rung am<br />
Schambein verloren und „schwankt wie ein betrunkener<br />
Seemann im Sturm“, was natürlich Per for man ce -<br />
probleme nach sich zieht.<br />
Die wichtigste Komplikation dieser Maßnahme ist<br />
praktisch immer eine Diskrepanz zwischen dem vom<br />
Patienten erwarteten und dem erzielten Endergebnis,<br />
dabei sind vor allem narbige Verziehungen mit Penis -<br />
verkürzung, Entzündungen, Erektionsschmerzen und<br />
Abb. 6: Penisverlängerungsoperationen<br />
Ligamentolyse<br />
• Durchtrennung des Ligamentum<br />
suspensorium penis<br />
• Absaugung oder Resektion des<br />
subkutanen Fettgewebes am<br />
mons pubis<br />
• V – Y – Schnitt
Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“ 79<br />
Libidostörungen infolge einer Verletzung der Buck’ -<br />
schen Fascie und des Gefäßnervenbündels bis hin zur<br />
völligen erektilen Impotenz die Folge, welche in Ein -<br />
zelfällen mit Implantaten korrigiert wurden (Porst<br />
2000).<br />
Auf dem 13. Kongreß der deutschen Gesellschaft<br />
für Urologie im September 2001 in Düsseldorf hat<br />
sich eine jugoslawisch-deutsche Arbeitsgruppe mit<br />
der Frage „wird der Penis durch Ligamentolyse länger“<br />
auseinandergesetzt (Djakovic et al. 2001) und<br />
kommt zu der Schluß folgerung „die alleinige Liga -<br />
men tolyse ist nicht effizient im Sinne einer wahren<br />
Penisver längerung. Z-Plastiken können zudem zu<br />
Vernarbun gen und Hautreaktionen führen, die im späteren<br />
Ver lauf zu schlechten Resultaten führen. Die<br />
Ligamen tolyse kann eine kosmetische Indikation<br />
haben. Dem Patienten muß aber die Illusion einer<br />
wahren Penisverlängerung ge nommen werden.“<br />
Diese Schlußfolgerung kann eigentlich nur als<br />
Wider legung der Indikation zu diesem Eingriff verstanden<br />
werden.<br />
2. Penisdisassambling<br />
Dies bedeutet die operative Zerlegung des Penis in<br />
seine Einzelteile, nämlich die Trennung des Corpus<br />
spongiosum mit Glans penis, Harnröhre und dem dorsalem<br />
Gefäß-Nervenbündel vom Corpus cavernosum<br />
mit Interposition von Rippenknorpel (vgl. Abb. 7).<br />
Jugoslawische Autoren (Perovic & Djordjevic 2000)<br />
operierten von 1995-1999 19 Patienten zwischen 18<br />
(!!!) bis 52 Jahre nach dieser Methode und beobachteten<br />
diese durchschnittlich 3 1/3 Jahre danach. Sie er -<br />
zielten einen Län gen gewinn von 2,4 cm und sahen<br />
angeblich keine Läsion des Gefäßnervenbündels. 15<br />
der so operierten Patienten gaben schmerzlose Ge -<br />
schlechtsverkehrs fä hig keit an. Über 4 Patienten konnten<br />
die Autoren al ler dings keine postoperativen An -<br />
gaben machen Da solche Patienten bei operativem<br />
Misserfolg oft den Arzt wechseln, liegt immerhin die<br />
Vermutung nahe, daß 25% der Operierten mit dem<br />
Ergebnis wohl nicht zufrieden waren und einen anderen<br />
Therapeuten ge sucht haben. Trotzdem kommen<br />
die Autoren zu dem Er gebnis, daß es sich hierbei um<br />
eine „Vergrößerung der genuinen Penisgröße mit<br />
befriedigendem Ergeb nis“ handelt. Diese optimistische<br />
Bewertung ist heftig zu bezweifeln, da andere<br />
Autoren hohe Kompli ka tionsraten bei Nachunter su -<br />
chun gen solcher Patienten fanden. Wessel und Mit -<br />
arbeiter (1996) stellten bei 12 Patienten nach Pe nis -<br />
verlängerung und Fettinjektion „ schlechte kosmetische<br />
Ergebnisse durch subcutane Knoten- und Wulst -<br />
bildungen bis ins Scrotum hinein fest“. 6 der 12 Pa -<br />
tien ten mußten nachoperiert werden, 6 hatten Wund -<br />
heilungsstörungen und 4 Erektionsprobleme. Nur ein<br />
Patient stellte eine Penisverlängerung fest. Eine<br />
Operation mit einer so hohen Komplikationsrate muß<br />
als Kunstfehler bewertet werden. Besonders kritikwürdig<br />
sind die über das Internet von Privat -<br />
instituten empfohlenen Penisimplantate zur Penisver -<br />
größe rung bei gesunden Männern. Implantate (hy -<br />
draulische nach Scott oder starre nach Jonas) bewirken<br />
eine intermittierende oder Dauererektion. Da sie,<br />
um Komplikationen wie Implantatperforation, zu vermeiden<br />
immer der jeweiligen Größe des Corpus ca -<br />
ver nosum angepasst werden müssen, bewirken sie im -<br />
mer nur die Erektion aber niemals eine Penis ver -<br />
größerung. Implantate sind nur noch bei weni gen,<br />
streng selektierten Männern mit erektiler Dysfunktion<br />
indiziert, bei denen die anderen heute verfügbaren<br />
somatischen Therapieoptionen (perorale oder intrurethrale<br />
Medikation, intracavernöse Injektion, Vakuum -<br />
erek tionshilfesysteme) unwirksam bleiben (vgl. Abb.<br />
8).<br />
Männer beklagen aber nicht nur die Länge, sondern<br />
auch die Dicke ihres Penis. Der Volksmund drückt das<br />
in folgendem Reim aus – „lang und schmal – der<br />
Frauen Qual, kurz und dick – der Frauen Glück“. Eine<br />
Arbeit von R. Eisenman (2001) aus dem psychologischen<br />
Institut der Universität Texas läßt vermuten,<br />
dass da wohl etwas dran sein könnte. Immerhin gaben<br />
45 von 50 befragten 18-25jährigen Studentinnen an,<br />
daß sie der Penisdicke mehr Bedeutung für ihre sexuelle<br />
Befriedigung beimessen als der Länge.<br />
Abb. 7: Penisverlängerungsoperationen<br />
Penisdisassambling<br />
• Trennung des Harnröhrenschwellkörpers mit Glans penis und dem dorsalen<br />
Penisnervenbündel vom copus cavernosum.<br />
• Interposition von Rippenknorpel zwischen Glans penis und corpus cavernosum
80 G.Fröhlich<br />
Erwartungsgemäß fehlt es daher auch nicht an<br />
Angeboten zur Penisumfangsaugmentation durch:<br />
1. Injektion von homologen Fettgewebe oder Paraf fin<br />
zwischen die Penishaut und das Corpus cavernosum.<br />
2. Interpostition von Fettgewebslappen zwischen Pe -<br />
nis haut und Corpus carvernosum.<br />
3. Implantation von Elfenbein-, Silikon- und Metall -<br />
ku geln in das Präputium.<br />
4. beiderseitige dorsale Längsinzision des Corpus ca -<br />
ver nosum mit Interposition eines Venae saphenamagna-Lappens<br />
(Austoni et al. 1999), womit eine<br />
Durchmesserzu nah me um 1,1-2,1 cm erreicht werden<br />
soll.<br />
All diese Augmentationen führen zu Deformierungen<br />
und widersprechen der Evolution, die nun einmal kein<br />
subcutanes Fettgewebe am Penis vorgesehen hat.<br />
Aus Anfragen auf der andrologischen Website<br />
(www.beratung.et.andrologie.de) von H. Schorn (Ar -<br />
beitskreis psychologische Urologie und Sexualme di -<br />
zin der DGU) geht hervor, das Männer gar nicht so<br />
sel ten profesionelle Beratung bezüglich konservativer<br />
Behandlungsmöglichkeiten suchen, bevor sie über<br />
Operationen nachdenken. Hier liegt die besondere<br />
Ver antwortung und Chance sexualmedizinisch verantwortlich<br />
handelnder Ärzte, den Kontakt zu solchen<br />
Männern zur Eröffnung neuer Blickwinkel und Re -<br />
sorcen zu nutzen und auch solche konservativen The -<br />
rapieangebote des grauen Internetmarktes kritisch zu<br />
bewerten.<br />
Angeboten werden als konservative „Penisver -<br />
größe rungs maßnahmen“ (vgl. Abb. 9):<br />
1. Vakuumerektionssysteme<br />
2. Skat-Injektion<br />
3. MUSE (Porst)<br />
4. Bandagen<br />
5. Streckapparate<br />
6. Gewichte<br />
Abb. 9: konservative Penisverlängerung<br />
Vakuumerektionssystem<br />
Skat<br />
Streckapparate (Penistrecher)<br />
www.penisstrecher.com<br />
Abb. 8: Penisverlängerungsoperationen<br />
Implantate<br />
• Implantation von hydraulischen oder dauersteifen Siliconprothesen<br />
Gewichte (Circle divice)<br />
www.penis-enlarger.com
Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden Männern“ 81<br />
Interessanterweise werben die Anbieter solcher Geräte<br />
meist mit dem Hinweis auf die Komplikations -<br />
trächtigkeit der Operationen und das fördert offen -<br />
sicht lich auch den Verkauf ihrer Produkte. So lockt der<br />
Vertreiber eines sogenannten Circle Device (ringförmiges<br />
16 Unzen schweres Metallgewicht) mit „tausenden<br />
von zufriedenen Patienten seit 1996“, wenn<br />
das Gewicht 10 Stunden täglich 6-12 Monate getragen<br />
wird und verspricht einen Längengewinn von 2-3 cm<br />
innerhalb von 6 Monaten. Die User solcher Stret -<br />
chersysteme kommunizieren im Internet und berichten<br />
stolz über ihre Erfolge wie beispielsweise Heiko,<br />
27 Jahre alt, aus Brandenburg (unter www.25.de): „Es<br />
ist echt irre. Ich fand eigentlich, dass ich auch schon<br />
vorher gut bestückt war und eigentlich wollte ich nur<br />
einige Optimierungen erreichen. Nach 2 Monaten<br />
Trai ning habe ich einen Zuwachs von mehr als 5 cm<br />
geschafft. Damit hat mein bestes Stück jetzt eine Ge -<br />
samt länge von 27 cm und (...) ist ein echtes Pracht -<br />
exem plar.“ Arndt, 35 Jahre alt, aus Westerland/Sylt<br />
meint auf der gleichen Internetsite: Seit 20 Jahren<br />
habe ich Minderwertigkeitskomplexe, weil ich mich<br />
wegen meines zu klein geratenen Gliedes geschämt<br />
habe (...). In der Zwischenzeit habe ich geheiratet und<br />
führe eine glückliche Beziehung. Trotzdem hat mich<br />
meine Makel immer gestört. Durch 25cm.de ist mein<br />
Penis sage und schreibe 23 cm groß geworden. Selbst<br />
meiner Frau ist aufgefallen, dass ich seitdem ich den<br />
Zuwachs bemerkt habe, wesentlich selbstbewusster<br />
geworden bin.“<br />
Wenn man bedenkt, dass beide Männer tatsächlich<br />
Prachtexemplare am obersten Ende der Gauß’schen<br />
Verteilungskurve haben (vgl. Abb. 4), bestätigt das die<br />
Beobachtung auch anderer Autoren (Porst 2000), dass<br />
es sich bei den Usern solcher Penisstreckapparate um<br />
Männer mit ausgepägten Minderwertigkeitskom -<br />
plexen handelt, welche phallischen Mythen verhaftet<br />
sind und ihre sexuelle Atraktivität als Mann auf einen<br />
Riesenphallus fokussieren. Wenn man weiterhin be -<br />
denkt, dass die sexuelle Lust der Frau im Vulvabereich<br />
und im vorderen Scheidendrittel empfunden wird und<br />
zumindest in der Langzeitbeziehung Frauen der Be -<br />
frie digung psychosozialer Grundbedürfnisse wie vertrauen<br />
zum Partner, Gesprächsbereitschaft, Zärt -<br />
lichkeit, Sich-geliebt-fühlen meist einen höheren Stel -<br />
lenwert beimessen, als einem „Riesenphallus“, dann<br />
erhebt sich wirklich die Frage, ob denn nun ein 2-3 cm<br />
längerer Penis in die sexuelle Glückseligkeit führen<br />
kann.<br />
Zusammen fas send ist somit festzustellen:<br />
1. Penisvergrößerungsmaßnahmen werden fast aus -<br />
schließlich von kommerziell ausgerichteten kosmetisch<br />
chirurgischen Privatinstituten oder Händlern im<br />
Abb. 10: David von Michelangelo 1504 (aus: Scalini & Marton 1993: 127)<br />
Internet sowie der Sexindustrie angeboten. Meist er -<br />
füllt das Behandlungsergebnis nicht die Erwartungen<br />
des Patienten. Da sich Patienten schämen oder den be -<br />
handelnden Arzt wechseln, werden Komplikationen<br />
nach solchen Eingriffen oft nicht bekannt.<br />
2. Wissenschaftlich kontrollierte Untersuchungen über<br />
die Operationsergebnisse und Komplikationen solcher<br />
Eingriffe liegen bisher nicht vor. (Porst 2000)<br />
3. Penisvergrößerungsmaßnahmen bei gesunden Män -<br />
nern gehören nicht in das Therapieangebot seriöser<br />
Urologie (Hertle 2002, Porst 2000, Weidner 2002).<br />
Nach einer urologischen Thera pie richtlinie von Wes -<br />
sel und Mitarbeitern sollte „nur bei Männern mit einer<br />
flacciden Penislänge von 4 cm oder einer gestreckten<br />
oder Erektionslänge von weniger als 7,5 cm eine<br />
Penisverlängerungsoperation erwogen werden“.<br />
Nach einem internationalen urologisch-andrologischen<br />
Konsensusstatement vom Juli 1999 (Jardin et. al
82 G.Fröhlich<br />
1999) ist jeder Patient vor einer solchen Operation da -<br />
rauf hinzuweisen, dass es sich um experimentelle Chi -<br />
rurgie handelt.<br />
4. Unkritische kommerzielle Angebote für körperlich<br />
gesunde Männer auf dem grauen Markt des Internets<br />
und anderer Medien zum Preis zwischen 5000 – 15<br />
000 Euro sind „unseriöse Psychotherapieversuche mit<br />
dem Skalpell“ und somit abzulehnen.<br />
5. Penile Insuffizienzgefühle bei organisch gesunden<br />
Männern sind Präsentiersymptom Ich-struktureller<br />
Per sönlichkeitsdefizite und fallen nicht in die Zu -<br />
ständigkeit des Urologen oder kosmetischen Chirur -<br />
gen, sondern sie sind eine Domäne der Sexualtherapie.<br />
Im Sinne eines salutogenetischen Therapieansat zes,<br />
wie ihn Antonowski vertritt, könnte dann beispielsweise<br />
die gemeinsame Betrachtung des David von<br />
Michelangelo (vgl. Abb.10) als „Sinnbild eines schönen<br />
Mannes“ der Einstieg zur Erarbeitung neuer Pers -<br />
pektiven in Form von „ Schatzsuche statt Fehl erfahn -<br />
dung“ (Schiffer 2001) und entstellenden operativen<br />
Korrektur an ge boten eines vermeintlichen körperlichen<br />
Mangels sein. Ganz nach dem Motto von Zilber -<br />
geld, das da lautet: „freundet euch an mit eurem Penis,<br />
er ist der einzige, den ihr je haben werdet“.<br />
<strong>Literatur</strong><br />
Austoni, E.; Guanari, A., Gatti, G. (1999): Penile elangation<br />
and Thickening- a myth? Is there cosmetic or medical indication?<br />
Andrologia 31 Suppl. 1: 45-51.<br />
Zilbergeld, B. (1996): Die neue Sexualität der Männer, dgvt-<br />
Verlag: Tübingen, 2. korrigierte Auflage: 87-116.<br />
Blech, J. (2002): „Die zweite sexuelle Revolution“, Der Spie -<br />
gel, Nr. 7.<br />
Brenot, Ph. H. (1995): Männliche Impotenz, eine historische<br />
Retro spek tive, L‘ Esprit du Temps.<br />
Djakovic, N.; Perovic, S.; Djurdjevic, M.; Basting, R.:<br />
(2001): Wird der Penis durch Ligamentolyse länger?. Der<br />
Urologe A, 40. Jahrgang, Suppl. 1, Juli: 54ff.<br />
Eisenmann, R. (2001): Penis Size. Survey of female perception<br />
of sexual satisfaction licensee Bio Med Central Ltd.<br />
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Hertle, L.(2002): Prof. Dr. med., Direktor der urologischen<br />
Universitätsklinik Münster, Generalsekretär der DGU, persönliche<br />
Mitteilung.<br />
Jardin, A. et al. (1999): Erectile Dysfunktion. First consultation<br />
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Johnsten, H. (1974): Lenthening of the congenital or aquired<br />
short penis, Brit J Urol 46: 685.<br />
Kelly, J.H.; Eraklis, A.J. (1971): Aprocedure for legthening<br />
the Phallus in boye with extrophy of the bladder, J Pediatr<br />
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Kirby, R.S. (1999): An Atlas of Erectile Dysfunction, Parthe -<br />
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Maizels, M. et al (1968): Surgical correction of the curied<br />
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Neises, M. (2002): Persönliche Mitteilung.<br />
Obert, M.; Parr, M. (2001): „lang soll er leben“. Magazin der<br />
Frankfurter Rund schau vom 29.12.01.<br />
Perovic, S.V.; Djordjevic, M.L, (2000): Penile Lengthening,<br />
BJU Int. Dec. 86 (9): 1028-1033.<br />
Porst, H. (2000): Manual der Impotenz, Uni-Med: 363-369.<br />
Scalini, M.; Marton, P. (1993): „Florenz“ Hirmer Verlag<br />
Mün chen.<br />
Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese:<br />
Schatz suche statt Fehlerfahndung. Beltz-Taschenbuch.<br />
Sydow, K. von (2002): Persönliche Mitteilung.<br />
Weidner, W. (2002): Prof. Dr. med., Direktor der urologischen<br />
Universitätsklinik Gießen, Vorsitzender der Leitli -<br />
nien kommission der DGU, Persönliche Mitteilung.<br />
Wessel, H.; Lue T.F.; Mc Aninch, J.W. (1996): Complication<br />
of penis lengthening and augmentation, J Urol, 156, 5:<br />
1617-1620.<br />
Für die Beteiligung an der Praxisumfrage bedanke ich mich bei folgenden gynäkologischen und urologischen Praxen des Landkreises Vechta:<br />
Dr. Christlieb, Facharzt für Urologie, Quakenbrück<br />
Dr. Gerwing, Facharzt für Urologie, Damme.<br />
Dr. Hanekamp-Middendorf und Dr. Hübner, Fachärztinnen für Gynäkologie, Vechta.<br />
Dr. Rehker, Facharzt für Gynäkologie, Lohne.<br />
Dr. van Wasen und Dr. Baron, Facharzt und Fachärtzin für Gynäkologie, Lohne.<br />
Dr. Wichmann, H. Meinerling, Fachärzte für Urologie, Vechta.<br />
.Dr. Schlömer und Dr. Laudenbach,Fachärztinnen für Gynäkologie, Vechta-Langförden<br />
Anschrift des Autors<br />
Dr. med. Günther Fröhlich, Urologische Privatpraxis, Institut für Sexualmedizin und Psychosomatik, Nieberdingstraße 15, 49393 Lohne<br />
guenther.froehlich@ewetel.net
Historia<br />
Sexuologie<br />
Das Institut für Sexualwissenschaft und die Dr.<br />
Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933)<br />
Ein (un)abgeschlossenes Kapitel deutscher<br />
Vergangenheit?<br />
The Institute for Sexology and the Dr. Magnus Hirschfeld-Foundation<br />
(1919-1933). An (un)finished chapter of German history?<br />
Klaus M. Beier, Rainer Alisch<br />
Unmittelbar neben dem Haus der Kulturen – im<br />
Volks mund auch „Schwangere Auster“ genannt – und<br />
in Sicht weite des neuen Bundeskanzler amtes markiert<br />
seit 1994 eine eiserne Stele den Standort des alten Ins -<br />
ti tuts für Sexualwissenschaft (vgl. Abb. 1). Die einge -<br />
las sene Plat te aus rostfreiem Stahl hält die Lebens da -<br />
ten des Grün ders Magnus Hirschfeld fest und erinnert<br />
ferner daran, dass es sich bei dem Institut um die weltweit<br />
erste Ein richtung dieser Art gehandelt hat. Heute<br />
verweist in mit ten der Grün an lagen nichts mehr darauf,<br />
dass hier – „In den Zelten“ wie die alte Adresse<br />
lautete – einmal Häu serzeilen die Spree ge säumt haben.<br />
Das Institut wurde im Sommer 1919, am 6. Juli,<br />
eröffnet. Bereits 1918 hatte Hirschfeld die Villa In den<br />
Zelten Nr. 10 erworben, drei Jahre später kam noch<br />
das benachbartes Mietshaus (In den Zelten 9a)<br />
hinzu. Die Institutseröffnung war unmittelbar mit<br />
einem anderen Projekt Hirschfelds, der Stiftung für<br />
wissen schaft liche Sexualforschung, verknüpft. Ihre<br />
Grün dung gab Hirschfeld auf der Sit zung der Ärztlichen<br />
Gesell schaft für Sexualwissen schaft und<br />
Eugenetik in Berlin vom 17. Mai 1918 bekannt.<br />
Knapp ein Jahr spä ter, am 21. Februar 1919, erfolgte<br />
die An erken nung der Stiftung, die nunmehr unter dem<br />
Namen Dr. Mag nus-Hirsch feld-Stiftung firmierte, seitens<br />
der preußi schen Re gie rung. Als Stiftungsziel<br />
wurde im § 2 der Stiftungs-Verfassung angegeben, das<br />
gesamte Sexual le ben wissenschaftlich zu erforschen<br />
und „über sichergestellte wissenschaftliche<br />
Forschungs ergeb nis se auf diesem Gebiet in geeigneter<br />
Weise Aufklärung zu verbreiten“ (vgl. An hang).<br />
Einschließ lich des Stiftungs ka pitals von 30 000 Mark<br />
hatte Hirschfeld für den Erwerb, Umbau und<br />
Einrichtung des Instituts – wohl überwiegend durch<br />
Spenden – weit über eine Mil li on Mark aufgebracht.<br />
Sexuologie 9 (2) 2002 83 – 86 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie<br />
Abb. 1: Kartenausschnitt mit Abbildungen vom alten Institut, der Gedenkstele und<br />
dem Bundeskanzleramt – in der Abb. hierzu oben rechts auch das Haus der Kulturen
84 K. M. Beier, R. Alisch<br />
Abb. 2: NS-Studenten beim Plündern des Instituts 1933<br />
Hirschfeld hatte mit seiner Stiftung intendiert, die Se -<br />
xual wissenschaft in ihrer ganzen Breite zu entfalten<br />
und sie letztlich auch an der Berliner Universität zu<br />
etablieren. Ein Bericht, der ein Jahr nach der Eröff -<br />
nung des Instituts erschien, gibt ein beeindruckendes<br />
Bild der ersten erfolgreichen Aktivitäten des Instituts.<br />
Die Arbeit war in vier Bereiche ge gliedert: Sexualbio -<br />
logie, Sexual me di zin, Sexualso zio logie und Sexual -<br />
eth no logie. Hinzu kamen öffentlich wirksame Aufga -<br />
bengebiete: Eine Bera tungs stelle für Ehe schlie ßende,<br />
öf fent liche Vor träge und Diskussionen und ein ge -<br />
richtsmedizinischer Dienst, der Gut achten vor allem<br />
im Rahmen von Strafprozessen er stellte (ca. 100 Gut -<br />
achten im Jahr).<br />
Für das erste Jahr nennt der Bericht 18 000 Be -<br />
ratungen jährlich (am Tage also durchschnittlich 50 –<br />
60) bei sämtlichen sexuellen Störungsbil dern, weiterhin<br />
klinische Demonstrationsabende für Ärzte und<br />
Me dizinstudenten (sie wurden von etwa 70 Me di -<br />
zinern regelmäßig besucht), Vorlesungstätig keit über<br />
(Sexual-) Physiologie, Psychologie, forensische Sexu -<br />
ologie, des weiteren sexualwissenschaftliche Auf klä -<br />
rungsvorträge (während des Berichtsjahres vor mehr<br />
als 6000 Hörern und Hörerinnen).<br />
Die Institutsbibliothek umfasste mehr als 20 000<br />
Bände, 35 000 Fotografien, eine große Anzahl von<br />
Gegen stän den und Kunstwerken. Zusätzlich waren<br />
etwa 40 000 Lebensberichte und biografische Briefe<br />
archiviert. Zuletzt arbeiteten am Institut insgesamt<br />
etwa 40 Personen und auch das Wissenschaftlich-hu -<br />
ma ni tä re Komitee – die erste Homosexuellen-Organi -<br />
sation – sowie die Weltliga für Sexualreform hatten<br />
dort ihren Sitz.<br />
Am 6. Mai 1933 wurde das Institut – als jüdisch,<br />
sozialdemokratisch und sittenwidrig de nun ziert –,<br />
geplündert und geschlossen, Teile der Bibliothek wurden<br />
am 10. Mai auf dem Berliner Opernplatz symbolisch<br />
verbrannt. So weit die Mitarbeiter nicht bereit<br />
waren, sich der na tionalsozialistischen Ideologie an -<br />
zupassen, wurden sie ins Exil getrieben. Hirschfeld<br />
musste sich in einer Pariser Wochenschau die Ver bren -<br />
nung seiner Bücher anschauen. Nach einem er folg lo -<br />
sen Ver such, das Institut in Paris neu zu gründen, starb<br />
er an seinem 67. Geburtstag, am 14. Mai 1935, in Niz -<br />
za.<br />
Das ge samte Vermögen der Magnus-Hirschfeld-<br />
Stiftung war durch eine Verfügung des Geheimen<br />
Staats poli zeiamtes vom 18.11.1933 zu Gunsten des<br />
preußischen Staa tes eingezogen worden. Über die beiden<br />
Gebäude wurde Anfang 1934 nochmals ge sondert<br />
verfügt, mit der Folge, dass sie von mehreren NS-Or -<br />
ga nisationen genutzt wurden. 1943 fielen die Insti tuts -<br />
gebäude einem Bombenangriff zum Opfer.<br />
Anfang der 50er Jahre fand ein Rück er stat tungs -<br />
verfahren statt, das sich mit dem Verbleib des Insti -<br />
tutsvermögens befasste. Nach der in der Stif tungs -<br />
satzung von 1919 mit § 10 verfügten Regelung sollte<br />
das gesamte Vermögen der Berliner Universität zufallen,<br />
doch diese befand sich inzwischen im Ostteil der<br />
Stadt (i.e. die jetzige Humboldt-Universität). In dem<br />
Wie dergutma chungsprozeß wurde dies nicht be rück -<br />
sichtigt, und man darf spekulieren wa rum. Statt dessen<br />
gingen die Institutsgrundstücke auf das Land Berlin<br />
über, nachdem die Allgemeine Treuhand organisation<br />
(ATO), die im Prozess als Nach fol georganisation für<br />
erbenloses Vermögen agierte, auf eine Rück er stattung<br />
des Grund besitzes verzichtet hatte und Berlin einen<br />
Aus gleich von ca. 70 000DM zahlte.<br />
Das Schicksal des Instituts für Sexualwissenschaft<br />
kann als beispielhaft für die nicht erfolgte Wiedergut -<br />
machung für erlittenes Unrecht und Vermö gens schä -<br />
den von Lesben und Schwulen während der NS-Zeit<br />
gelten. Es ist im besonderen Fall ein Beispiel aus -<br />
gebliebener Restitution für die zerschlagene schwullesbische<br />
Infrastruktur. Nachdem am 7. Dezember<br />
2000 der Deut sche Bundestag die Bundesregierung<br />
einstimmig er sucht hatte, über eine kollektive Ent -<br />
schä digung für die homosexuellen Opfer des NS-Re -<br />
gimes nachzudenken, ist von einem bundesweiten Ak -<br />
tionsbündnis Magnus-Hirsch feld-Stiftung die Ein -<br />
richtung einer gleichnamigen Stiftung gefordert worden.<br />
Mit ihr „soll die historische Aufarbeitung der<br />
nationalsozialistischen Ho mo sexuellenverfolgung und<br />
des späteren Umgangs mit ihren Opfern“ verbessert<br />
und die „Erforschung und Pflege des kulturelle Erbes<br />
von Lesben und Schwu len“ (zit.n.: http://magnushirschfeld.de/stiftung/)<br />
unterstützt werden.<br />
Mit dem Bundestagsbeschluss vom 27.6. 2002 zur<br />
Ein rich tung einer Magnus-Hirsch feld-Stiftung ist die<br />
Bun des regierung der Forderung des Aktionsbündnis -
Das Institut für Sexualwissenschaft und die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933) 85<br />
ses weitgehend nachgekommen. Eine Bezugnahme<br />
auf die von Hirschfeld selbst begründete Stiftung ist in<br />
dem Gesetzentwurf allerdings nicht gegeben, sei es<br />
aus Nichtwissen, was ihre historische Vor läuferin anbelangt,<br />
sei es aus Überforderung in Anbetracht der<br />
Breite des historischen Erbes, dem man sich hätte stellen<br />
müssen, was nur möglich ist, wenn Theorie und<br />
Praxis der Sexualwissenschaft kompetent überschaut<br />
werden. Damit dürfte die ge plante inhaltliche Aus rich -<br />
tung einer neuerlichen Magnus-Hirschfeld-Stif tung –<br />
so nachvollziehbar eine vertiefte Aus ein an dersetzung<br />
mit dem „homosexuellen Leben im Gebiet der Bun -<br />
desrepublik Deutsch land“ auch sein mag – dem<br />
gleich falls intendierten Stif tungszweck, nämlich „Ge -<br />
denken an Leben und Werk Magnus Hirschfelds zu<br />
pflegen“, nicht genügen, ja in dieser Reduktion sogar<br />
letztlich konterkarieren. Umso bedauerlicher ist es,<br />
dass durch die fehlende Einbeziehung eines Fach ver -<br />
treters für Sexualwissen schaft nicht frühzeitiger auf<br />
diesen Gesichtspunkt hingewiesen werden konnte –<br />
ein Sachverhalt der auch in der Wochenzeitung Frei -<br />
tag (21.06.02) von Dirk Ruder vermerkt wurde.<br />
Es bleibt daher festzuhalten: Das Werk von Mag -<br />
nus Hirschfeld umfasst weit mehr als die wissenschaftliche<br />
Auseinandersetzung mit der Homosexua -<br />
lität, und von einer Stiftung, die diesen Namen trägt,<br />
ist daher zu fordern, den damit gegebenen breit ge -<br />
fächerten Anspruch auch einzulösen. Hinzu kommt<br />
das besondere Vermächtnis, das Hirschfeld der Ber -<br />
liner Universität hinterlassen hat: Das (beträchtliche)<br />
Vermögen der von ihm 1919 gegründeten und 1933<br />
enteigneten Dr.-Magnus-Hirschfeld-Stiftung war zum<br />
Aufbau der Sexualwissenschaft an der heutigen Hum -<br />
boldt-Universität bestimmt. Jede Wiedergut ma -<br />
chungs absicht, muss sich folglich – wenn sie ihren<br />
Na men verdienen soll – an diesem Vermächtnis<br />
Hirsch felds messen lassen und somit die von ihm klar<br />
definierte Vermögensverwendung nachholen.<br />
<strong>Literatur</strong><br />
Berlin Museum (Hrsg) (1984): Eldorado: Homosexu elle<br />
Frau en und Männer in Berlin 1850 – 1950. Geschichte,<br />
Alltag u. Kultur. Ausstellung im Berlin Museum, 26. Mai –<br />
8. Juli 1984, Berlin: Fröhlich & Kaufmann.<br />
Herzer, M. (1992): Magnus Hirschfeld: Leben und Werk<br />
eines Jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen.<br />
Frank furt/M., New York: C ampus Verlag.<br />
Entschädigungsforderung: MAGNUS-HIRSCHFELD-STIF-<br />
TUNG zur Pflege des kulturellen Erbes von Lesben und<br />
Schwulen: http://magnus-hirschfeld.de/stiftung/<br />
Ruder, Dirk (2002): Pink Money. In: Freitag, 21.06.<br />
(http://www.freitag.de/2002/26/02261102.php).<br />
Anhang<br />
Auszug aus der Verfassung der Dr. Magnus Hirschfeld<br />
Stif tung<br />
(vom 21. Februar 1919)<br />
§ 2<br />
Die Stiftung bezweckt,<br />
a) die wissenschaftliche Durchforschung des gesamten Sexuallebens,<br />
insbesondere auch seiner Varianten, Stö rungen und<br />
Anomalien, zu fördern<br />
b) über sichergestellte wissenschaftliche Forschungs ergeb nis se<br />
auf diesem Gebiet in geeigneter Weise Aufklärung zu verbreiten.<br />
§ 10<br />
Für den Fall, daß die Stiftung gemäß § 87 BGB durch die zuständige aufgehoben<br />
werden (...) sollte, soll das Stif tungsvermögen an die Uni versität<br />
Berlin oder, falls diese die Annahme ablehnt, an eine andere Hochschule<br />
fallen, die von dem preußischen Kultusministerium oder der etwa dessen<br />
Stelle tretenden Zentralbehörde für Universitäts angelegenheiten zu<br />
bestimmen ist, und zwar mit der Auflage, es als Grundstock zur Er -<br />
richtung einer ordentlichen Professur für Sexualwis senschaft zu verwenden.<br />
Wenn hiernach das Kultusministerium die Hochschule zu bestimmen hat,<br />
sollen in erster Linie diejenigen berücksichtigt werden, bei denen eine<br />
solche Professur noch nicht besteht.<br />
§ 11<br />
Für den Fall, daß gem. §§ 7 und 8 BGB, der Stiftung eine andere<br />
Zweckbestimmung gegeben werden sollte, wünsche ich, daß sie in den<br />
Dienst der sexuellen Hygiene gestellt wird.
86 K. M. Beier, R. Alisch<br />
Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer „Magnus-<br />
Hirschfeld-Stiftung“ (Auszug)<br />
(vom Bundestag am 27.6. 02 angenommen)<br />
§ 1<br />
Errichtung und Sitz<br />
(1) Unter dem Namen „Magnus-Hirschfeld-Stiftung" wird eine<br />
rechtsfähige Stiftung des öffentlichen Rechts errichtet. Die Stiftung entsteht<br />
mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes.<br />
(2) Der Sitz der Stiftung ist Berlin.<br />
§ 2<br />
Stiftungszweck<br />
Zweck der Stiftung ist es, homosexuelles Leben im Gebiet der<br />
Bundesrepublik Deutschland wissenschaftlich zu erforschen und darzustellen,<br />
die nationalsozialistische Verfolgung Homosexueller in Erin ne -<br />
rung zu halten, durch Öffentlichkeitsarbeit einer gesellschaftlichen Dis -<br />
kriminierung homosexueller Männer und Frauen in Deutschland entgegenzuwirken,<br />
Bürgerrechtsarbeit zu fördern, Menschenrechts ar beit im<br />
Ausland zu unterstützen sowie das Gedenken an Leben und Werk<br />
Magnus Hirschfelds zu pflegen.<br />
§ 5<br />
Kuratorium<br />
(1) In das Kuratorium entsenden:<br />
1. die im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen pro<br />
angefangene 150 Mitglieder je ein Mitglied,<br />
2. das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zwei<br />
Mitglieder,<br />
3. der Fachverband Homosexualität und Geschichte e. V. ein Mitglied,<br />
4. die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft e. V. ein Mitglied,<br />
5. der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland e. V. zwei<br />
Mitglieder,<br />
6. die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e. V. ein<br />
Mitglied,<br />
7. der Lesbenring e. V. ein Mitglied,<br />
8. der Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Ho -<br />
mosexuellen e. V. ein Mitglied,<br />
9. die International Gay and Lesbian Association (ILGA) Europe zwei<br />
Mitglieder.<br />
Zu A. Allgemeines<br />
Zur nationalsozialistischen Homosexuellen-Verfolgung zählte auch die<br />
Zerschlagung der schwulen und lesbischen Infrastruktur. Durch die<br />
Gründung der „Magnus-Hirschfeld-Stiftung" soll nunmehr im Sinne<br />
eines kollektiven Ausgleichs das von den Nationalsozialisten an den<br />
Homosexuellen verübte Unrecht anerkannt und die homosexuelle Bür -<br />
ger-und Menschenrechtsarbeit gefördert werden.<br />
Die Stiftung ist nach dem Berliner Arzt und Sexualwissenschaftler Dr.<br />
Magnus Hirschfeld (1868 bis 1935) benannt. Er war einer der ersten, der<br />
das homosexuelle Leben erforscht und dokumentiert hat. Als Begründer<br />
und langjähriger Vorsitzender der weltweit ersten Ver eini gung für die<br />
Rechte der Homosexuellen hat er sich in Wort und Tat ge gen Vorurteile<br />
sowie gegen Diskriminierung und Verfolgung eingesetzt. Hirschfelds<br />
Einfluss reichte weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Sein Leben und<br />
seine Arbeit sollen historisch untersucht und im Be wusstsein der Öffentlichkeit<br />
wachgehalten werden.<br />
Organisationen wie die Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft oder der Les -<br />
ben- und Schwulenverband engagieren sich seit langem für die Errich -<br />
tung einer Stiftung, die Hirschfelds Namen trägt. (…)<br />
Der Stiftungszweck wird zu einem Teil, soweit es um die Aufarbeitung<br />
der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung geht, historisch orientiert,<br />
zu seinem überwiegenden Teil (Gleichstellung homosexueller<br />
Männer und Frauen, Menschenrechtsarbeit) aber zukunftsgerichtet sein.<br />
Zu § 2<br />
Der Zweck der Stiftung ist ein dreifacher: Ein Schwerpunkt soll die weitere<br />
Aufarbeitung der nationalsozialistischen Homosexuellenver fol gung<br />
und des späteren Umgangs mit den Opfern sein. Das Ausmaß der<br />
Verbrechen der Nationalsozialisten in diesem Bereich soll mehr als bisher<br />
öffentlich dokumentiert und wahrgenommen werden. Hierzu kann die<br />
Stiftung z. B. Archive und wissenschaftliche Forschungs pro jekte fördern,<br />
an das Lebenswerk von Magnus Hirschfeld anknüpfen und die Erin -<br />
nerung hieran wachhalten.<br />
Daneben soll sich die Stiftung für die weitere Gleichstellung Homo se -<br />
xueller in der heutigen Gesellschaft einsetzen und gesellschaftlicher Dis -<br />
kriminierung entgegenwirken. Hierzu kann sie insbesondere durch Öf -<br />
fentlichkeitsarbeit, eigene wissenschaftliche Forschungsprojekte und die<br />
Unterstützung entsprechender Projekte anderer Hilfe bei der Überwindung<br />
von bestehenden Vorurteilen leisten und die Bürger rechtsarbeit<br />
fördern.<br />
Zusätzlich soll die Stiftung Menschenrechtsarbeit im Ausland fördern. In<br />
vielen Staaten der Welt ist Homosexualität strafbar, werden Homo -<br />
sexuelle von staatlicher Seite offen angefeindet und verfolgt. Die Stif tung<br />
kann Hilfsprojekte, Personen oder Gruppen in diesen Staaten unterstützten.<br />
Anschrift der Autoren<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, R. Alisch, Institut für Sexual wissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität<br />
zu Berlin, Luisenstr. 57, 10117 Berlin, e-mail: klaus.beier@charite.de
Aktuelles<br />
Sexuologie<br />
Buchbesprechungen<br />
Entmannte Männer: Männerforschung<br />
(<strong>Literatur</strong>bericht II. Teil)<br />
Gerhard Hafner<br />
Der Penis erfuhr im 20. Jahrhundert einen ungeahnten<br />
symbolischen Aufstieg: Um ihn kreisen die Phantasien<br />
von Potenz und Machtverlust, er markiert das Gender-<br />
Kraftfeld in der Dichotomie von „ihn haben“ und „er<br />
sein“. Spätestens jedoch mit Elisabeth Bronfens Re -<br />
habilitation des Nabels (Omphalus) als Zeichen symbolischer<br />
Kastration ist der Phallus – zumindest in der<br />
Gender-Forschung – auf seinen historisch angemessenen<br />
Platz gerückt. Denn der Penis, das beweist auch<br />
Ga ry Taylor in seiner Studie Castration: An Abbrevia -<br />
ted History of Western Manhood, verdankt seine zentrale<br />
Bedeutung dem Aufstieg der Psychoanalyse.<br />
Dagegen spielten die Hoden in der langen Ge -<br />
schich te der Männlichkeiten (Connell) eine weitaus<br />
tragendere Rolle als signifikantes Körperteil. In dieser<br />
ironisch betitelten „abgekürzten Geschichte der westlichen<br />
Männlichkeit“ geht der ausgewiesene Shake -<br />
s pea re-Experte anhand der Jahrtausende währenden<br />
Ge schichte der „Verschnittenen“ bzw. „Entmannten“<br />
der Männlichkeit auf den Grund. Wenn man die Ge -<br />
schichte der körperlichen „Entmannung“ untersuche,<br />
so Taylor, könne man die Geschichte der Männlich -<br />
keiten besser verstehen. Was heißt es, ein Mann zu<br />
sein, wenn er keine Hoden besitzt? Wie sind männliche<br />
Genitalien und Männlichkeit verknüpft?<br />
Die Kastration<br />
Männliche Genitalien sind sichtbar und leicht verwundbar;<br />
auch Bauern konnten die Hoden von allerlei<br />
Vieh verhältnismäßig einfach entfernen. Die Eierstök -<br />
ke wurden erst Jahrtausende später entdeckt; Ovarek -<br />
to mie, also die Entfernung der Ovarien, setzt einen ho -<br />
hen medizinischen Kenntnisstand voraus. Der Begriff<br />
„Kastration“ ist bei der Frau unüblich; die Entfernung<br />
der Eierstöcke – etwa im Rahmen einer Krebsprophy -<br />
la xe – könnte am ehesten so bezeichnet werden.<br />
Durch die Kastration werden Tiere und Menschen<br />
nicht nur fortpflanzungsunfähig, sondern sie verlieren<br />
damit auch die Sekretion der Keimdrüsen. Bei einer<br />
Kastration des Mannes werden operativ beide Hoden<br />
entfernt oder heutzutage mittels einer Blockade des<br />
männlichen Hormons Testosteron die Spermiener zeu -<br />
gung verhindert. Auch ionisierende Strahlung hat eine<br />
Kastration zur Folge. Dieser schwere Eingriff in den<br />
Hormonhaushalt ist verbunden mit einer Reihe physischer<br />
und psychischer Veränderungen. Oft ist es ein<br />
Trauma, sich als Mann „verkürzt“ zu wissen. Nach<br />
dem Zeitpunkt der Kastration wird zwischen einer<br />
prä puberalen und postpuberalen Kastration unter -<br />
schie den. Die präpuberale Kastration ist gekennzeichnet<br />
von Hochwuchs, die postpuberale von der Nei -<br />
gung zu Fettleibigkeit. Kastrierte Männer können<br />
durch aus zum Koitus fähig sein, wenn die Operation<br />
nach der Pubertät stattfand. Bei römischen Damen sollen<br />
Kastraten sehr beliebt gewesen sein, nicht nur<br />
wegen der Zeugungsunfähigkeit, sondern auch wegen<br />
der längeren Dauer der Erektion. Da also Keimdrüsen<br />
und Libido relativ unabhängig von einander funktionieren<br />
können und der Psyche ein großer Stellenwert<br />
beizumessen ist, ist Kastration zum Zwecke der Trieb -<br />
verminderung und psychischen Beruhigung etwa für<br />
Straftäter als einzige Maßnahme ungeeignet.<br />
Kastrierte Männer gelten als mit geistigen und<br />
kör perlichen Defiziten behaftet, die über die Sexu ali -<br />
tät und Zeugung weit hinausgehen. Soziales Verhalten<br />
und psychische Eigenschaften werden mit den Hoden<br />
in Verbindung gebracht. Dies ist das Ergebnis einer<br />
Untersuchung von Thomas Schlich über die Erfindung<br />
der Organtransplantation, worin er u.a. Berichte über<br />
Hodentransplantationen zwischen 1880 und 1930 analysierte.<br />
Im Gegensatz zu den Ovartransplantata tio -<br />
nen, also den Übertragungen der Eierstöcke, stand bei<br />
den Hodentransplantationen die Sexualität von An -<br />
fang an im Vordergrund. Buchstäblich alle Berichte<br />
über Hodentransplantationen, die Schlich analysierte,<br />
enthalten Angaben über die Erektionsfähigkeit der<br />
Em pfänger, häufig ist zusätzlich vom „Wiederein set -<br />
zen des Interesses am weiblichen Ge schlecht und vom<br />
Geschlechtsverkehr“ die Rede. (Schlich: 158)<br />
Während bei Eierstocktransplantationen die Fort -<br />
pflan zung im Mittelpunkt steht, spielte bei Hoden -<br />
Sexuologie 9 (2) 2002 87 – 96 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
88 Buchbesprechungen<br />
trans plantationen die Verjüngung die zentrale Rolle.<br />
Da den männlichen Keimdrüsen eine enorme Bedeu -<br />
tung für die Körperökonomie zugemessen wird, er -<br />
hoff te man sich durch die Transplantation der Hoden<br />
eine unspezifische Vitalisierung. Männern ohne Testi -<br />
kel wird mangelnde maskuline Festigkeit attestiert.<br />
Vitalität, Dynamik und Aggressivität soll die durch<br />
Ho den implantation erworbene Potenz ergänzen. Phy -<br />
sische und psychische Energie, die Fähigkeit zu zielbewusstem<br />
Arbeiten, körperliche und geistige Aus -<br />
dauer, geistige Gewandheit – all das, so die Annahme,<br />
steckt in den männlichen Sexualdrüsen. Männliche<br />
Sicherheit und regelmäßiger Koitus waren stolz vorgeführte<br />
Erfolgsresultate für die von Schlich untersuchten<br />
Transplantationen. Als krönender Abschluss<br />
der körperlichen und geistigen Ermannung mit Hilfe<br />
der Hodentransplantation galt nicht selten die Heirat<br />
des Transplanatempfängers.<br />
Die „Erfindung“ der Kastration<br />
Taylor blickt weit zurück in die Anfänge unserer Kul -<br />
tur. Als unsere Vorfahren vor Jahrtausenden die ersten<br />
Nutztiere züchteten, erfanden sie auch die Kastration<br />
der männlichen Tiere. Die Entfernung der Stierhoden<br />
diente der Mast und der Zucht von Ochsen, die nützlicher<br />
waren als Stiere, von denen sie nur wenige be -<br />
nötigten. Die recht simple Prozedur der Orchiektomie<br />
(Entfernung der Hoden) war in agrarischen Gesell -<br />
schaften über Jahrtausende hinweg reine Routine. Den<br />
Penis der Zuchttiere zu amputieren wäre sinnlos ge -<br />
wesen und hätte wegen des hohen Blutverlustes oft<br />
töd lich geendet.<br />
Zwischen 6200 und 4500 v. Chr. muss man wohl<br />
als die Zeit der ersten Kastrationen von Tieren mit<br />
Werk zeugen aus Feuerstein ansetzen, also noch vor<br />
der Erfindung der Bronze um 3500 v. Chr. Die Kastra -<br />
tion begann mit dem technischen und ökonomischen<br />
Fortschritt. „Der Eunuch wurde an der Wiege der Zivi -<br />
lisation geboren“, so Taylor (169). Nicht Barbaren,<br />
sondern die ersten Hochkulturen haben ihn produziert.<br />
Ohne Kenntnisse der Fortpflanzung, die im Zusam -<br />
men hang mit der Domestizierung des Viehs entstanden,<br />
hätte es keine Eunuchen gegeben.Wahrscheinlich<br />
wurden im fruchtbaren Südwestasien die ersten Män -<br />
ner kastriert, indem besiegte Feinde gleichsam wie do -<br />
mestizierte Tiere behandelt wurden. Die „Erfindung“<br />
des Eunuchen fällt in die Zeit der Entstehung der zentralisierten<br />
Staatsmacht, der Schrift und der Städte.<br />
(Uruk, die größte Stadt der Sumerer, existierte von<br />
4500 bis 3750 v. Chr.) Ohne Agrarrevolution, Sess -<br />
haftigkeit, Eigentum, Kauf und Tausch – mithin die<br />
Basis unserer Kultur – wären Eunuchen nicht denkbar.<br />
Gefangene und Sklaven wurden kastriert, aber auch<br />
schwere Körperstrafen für sexuelle Vergehen setzten<br />
an den Hoden an. Bis in die Neuzeit wurde Ehebruch<br />
oder Vergewaltigung mit einer freien Frau mit Kastra -<br />
tion bestraft, wie der Kulturwissenschaftler Piotr O.<br />
Scholz in seiner Kulturgeschichte der Eunuchen und<br />
Kastraten Der entmannte Eros berichtet. Vergewal ti -<br />
ger, Ehebrecher sowie diejenigen, die sich eines Frau -<br />
enraubes oder der Notzucht oder Unzucht mit Kindern<br />
und Tieren schuldig gemacht hatten, wurden an den<br />
Hoden verstümmelt. In England wurden aber auch<br />
Falschmünzer und Wilddiebe kastriert. (Tuchel 1998)<br />
Auffällig oft ist in der Bibel von Eunuchen die Re -<br />
de, und es ist zu vermuten, dass sie in der Antike alltäglich<br />
präsent waren. Die Bibel bemüht sich um Tole -<br />
ranz: „Und der Fremde, der zum Herrn sich getan hat,<br />
soll nicht sagen: Der Herr soll mich scheiden von seinem<br />
Volk; und der Verschnittene soll nicht sagen: Sie -<br />
he, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der Herr<br />
von den Verschnittenen, welche meine Sabbate halten<br />
und erwählen, was mir wohl gefällt, und meinen Bund<br />
fest fassen.“ (Jesaja 56; 3–4) Diese Toleranz gegen -<br />
über Eunuchen, die wie Bäume ohne Früchte betrachtet<br />
wurden, offenbart die diskriminierenden sozialen<br />
Ver hältnisse.<br />
Hoc genus inventum est. Dieses Geschlecht ist<br />
erfunden worden. Modern ausgedrückt: Der Körper<br />
des Eunuchen ist sozial konstruiert. Eunuchen sind<br />
künst lich erzeugt, mehr noch: Hoc genus inventum est<br />
ut serviat. Das Geschlecht des Eunuchen ist für die<br />
Sklaverei gemacht. Statt ihre Feinde und Gefangene<br />
zu töten, erklärten die antiken Gesellschaften sie zu<br />
Sklaven und machten sie zu Eunuchen, um sie nutzbringend<br />
in die Wirtschaft zu integrieren. Allerdings<br />
sollten sich die kastrierten Männer nicht fortpflanzen,<br />
schon gar nicht mit freien Frauen. Solche strikten<br />
Verbote existierten nicht analog bei Sklavinnen.<br />
In traditionellen Gesellschaften hat die Unfähig -<br />
keit, Kinder zu zeugen und damit kein Verwandt -<br />
schafts system zu bilden, gravierende Konsequenzen:<br />
Ohne Nachkommen liegt die persönliche Zukunft in<br />
den Händen anderer. Schon deshalb galt die Verstüm -<br />
melung der Hoden als eine der schwersten Strafen.<br />
Oh ne eigene Kinder war der Eunuch abhängig von an -<br />
deren und konnte von Machthabern für seine Zwecke<br />
eingesetzt werden. Vielseitig verwendbar kommt der<br />
kastrierte Mann – quasi als Kunstprodukt – in den un -<br />
ter schiedlichsten sozialen Funktionen in vielen Teilen<br />
der Erde vor. Nicht als oberster Herrscher, aber durchaus<br />
nicht immer als deklassierter Mann: Er tritt auf als<br />
Priester der Göttin Kybele, als chinesischer Palasteu -<br />
nuche, als indischer Hijra im Dienste einer Göttin<br />
(Nan da 1990), als byzantinischer Offizier (Ringrose
Buchbesprechungen 89<br />
1994), als Opernkastrat (Ortkämper 1993). Als Wäch -<br />
ter im Harem bzw. „Schützer des ehelichen Bettes“ hat<br />
der Eunuch seinen Namen gefunden. (euné = griech.,<br />
Bett und echô = bewachen).<br />
Den Abscheu der Gesellschaft als Außenseiter<br />
bekamen die verstümmelten Männer zu spüren, da sie<br />
weder als richtig männlich noch als richtig weiblich<br />
galten, insbesondere jene, die vor der Pubertät kas -<br />
triert wurden. Doch dieser Status außerhalb der Ge -<br />
schlechterordnung konnte auch als etwas Übermenschliches<br />
gedeutet werden. Es ist nicht sicher, ob<br />
der erste Kastrationskult im Zusammenhang mit der<br />
Verehrung der Göttin Inanna/Ischtar entstand. In ih -<br />
rem Tempel gab es Sklaven; man kann nur vermuten,<br />
dass sie Eunuchen waren. Inanna wurde die Macht zu<br />
geschlechtlicher Transformation zugeschrieben: „Sie<br />
verwandelt einen Mann in eine Frau, Sie verwandelt<br />
eine Frau in einen Mann.“ Nur Gott – kann es auch<br />
eine Göttin sein? – darf ein neues Geschlecht schaffen.<br />
Noch zur Zeit der Kirchenväter praktizierte der westasiatische<br />
Kybelekult die Selbstkastration. Deren<br />
Pries ter, die Galloi (vgl. Abb. 1), entmannten sich, um<br />
der Göttin rein dienen zu können und in religiöser<br />
Ekstase zu leben. Lukian (ca. 120–180) beschreibt solche<br />
Mys terien und Orgien, bei denen sich männliche<br />
Zu schau er vom ekstatischen Taumel erfassen ließen<br />
und sich kastrierten.<br />
Eunuchen hatten in vielen Kulturen einen festen<br />
Platz in der Gesellschaft. Doch da die Kastration etwa<br />
innerhalb des Imperium Romanum verboten war, wur -<br />
de der Bedarf an Eunuchen von außerhalb der Zivili -<br />
sa tion, von „wilden“ Gesellschaften gedeckt. In den<br />
assyrischen, persischen, byzantinischen and ottomanischen<br />
Reichen besetzten Eunuchen hohe Ränge direkt<br />
unterhalb des Herrschers; selbst zu herrschen war ih -<br />
nen immer verwehrt. Oft ist für Historiker nicht eindeutig,<br />
ob bestimmte hohe Beamte des Hofs tatsächlich<br />
kastriert waren, weil der Eunuch am Hofe nicht<br />
einen körperlichen Zustand, sondern die soziale Stel -<br />
lung benannte. Die spätantike Überlieferung zeichnet<br />
häufig ein polemisch verzerrtes Bild des obersten<br />
Kam mer herrn des Kaisers, das geprägt ist von der Ab -<br />
lehnung eines gesellschaftlichen Außenseiters, des<br />
prae positus sacri cubiculi, dessen politische Bedeu -<br />
tung Helga Scholten in ihrer Analyse des Eunuchen in<br />
Kaisernähe im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. beschrieb.<br />
Den Zusammenhang zwischen Veränderungen der<br />
Männlichkeitsideale und dem Status der Eunuchen<br />
betrachtet Mathew Kuefler in seiner äußerst fundierten<br />
historischen Arbeit The Manly Eunuch. Mascu -<br />
linity, Gender Ambiguity, and Christian Ideology in<br />
Late Antiquity. Im Imperium Romanum zwischen dem<br />
3. und 5. Jahrhundert führte der Zusammenbruch der<br />
römischen Armee, autokratische Regierungen und zu -<br />
nehmende Beschneidungen von traditionellen Män -<br />
ner privilegien in der Ehe zu einer Krise der Männ -<br />
lichkeit. Die Männer, die sich in klassischer Zeit als<br />
Soldaten und Haushaltsvorstände verstanden hätten,<br />
empfanden sich zunehmend als unmännlich. Der Ab -<br />
bau der patria potestas, neue Ehegesetze und Frauen -<br />
rechte demontierten die klassischen männlichen Idea -<br />
le. Der kulturelle und demografische Erfolg des Chris -<br />
tentums in der Spätantike ist vor diesem Hintergrund<br />
zu sehen.<br />
Kueflers Analyse schlägt den Bogen vom klassischen,<br />
römischen Ideal soldatischer Männlichkeit hin<br />
zum Verzicht auf militärisch konnotierte Männlichkeit<br />
in der Spätantike. Eunuchen fungierten hierbei als kulturelle<br />
Katalysatoren einer Revolution maskuliner Sit -<br />
ten. Die klassischen Vorstellungen einer militärisch<br />
ge prägten Männlichkeit gründeten in einem ausgeprägten<br />
Sexualstolz; dagegen näherte sich die männliche<br />
Sexualität in der Spätantike der weiblichen Sexua -<br />
lität an, so dass der Dualismus zwischen Männlichkeit<br />
und Weiblichkeit durchlässiger wurde. Im Gegensatz<br />
zur klassischen Ära wurde sexuelle Abstinenz ein Be -<br />
standteil von Männlichkeit, verbunden mit der Angst<br />
vor Sexualität, die teilweise mit der Angst vor Krank -<br />
Abb. 1: Gallos, Oberpriester (Relief, Kapitolinisches Museum Rom). Die Darstellung<br />
hebt sein verweiblichtes Aussehen hervor und ist von den Insignien des Kybele-Kults<br />
umrahmt. Aus: Scholz (1997:102).
90 Buchbesprechungen<br />
heiten begründet wurde. Das Verhältnis des Mannes<br />
zu seinem Körper wandelte sich. Das Selbstbild unter<br />
dem Einfluss des Christentums basierte nicht mehr auf<br />
dem Erfolg der imperialen Armeen, sondern auf den<br />
Siegen in inneren Kämpfen. In Bezug auf Gott als ultimativer<br />
Quelle der Authorität sprach der christliche<br />
Mann über sich als Braut Christi, implizit als eine sich<br />
unterwerfende Frau. Sexualität wurde sündig. Das Er -<br />
geb nis war die Konstruktion eines männlichen Eunu -<br />
chen und eines Lifestyles männlicher Perfektion im<br />
Ideal der Brüderschaft des Mönchtums.<br />
Eunuchen für das Himmelreich<br />
Im frühen Christentum ließen sich Männer kastrieren,<br />
um sich von sexuellen Anfechtungen zu befreien. So<br />
ließ sich Origines kastrieren, damit er nicht von<br />
Fleischeslust geplagt werde. Doch gegen diese Praxis<br />
wandte sich schon der Kirchenvater Hieronymus, und<br />
durch Kirchengesetz wurden auf dem 1. Konzil von<br />
Nicäa 325 und auf der Synode von Arles 452 jene, die<br />
an der Kastration selbst Schuld trugen, aus dem Kle -<br />
rus ausgeschlossen. Der Mensch habe nicht das Recht,<br />
einem sittlichen Kampf, den er mit Gottes Hilfe bestehen<br />
und durch den er reifen könne, mit dem Eingriff in<br />
seine körperliche Unversehrtheit auszuweichen.<br />
„Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mut -<br />
ter leibe also geboren; und sind etliche verschnitten,<br />
die von Menschen verschnitten sind; und sind etliche<br />
verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des<br />
Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse<br />
es!“ Augustinus interpretierte diese Bibelstelle (Matt -<br />
häus 19, 12) als Allegorie für das Zölibat des Priesters.<br />
Taylor unterstellt Jesus eine „radikale Feindseligkeit<br />
gegen die heterosexuelle Ehe und gegen die Repro -<br />
Abb. 2: Entmannung Abaelards in einer mittelalterlichen Darstelllung. Hier eine<br />
Miniatur aus Guillaume des Lorris und Jean de Meun, Roman de la rose, Valencia.<br />
Aus: Scholz: (1997: 225)<br />
duktion“. Leistete Jesus, als er ewiges Leben denjenigen<br />
versprach, die seinetwegen ihre Familien verlassen,<br />
indirekt der Selbstkastration Vorschub? Innerhalb<br />
des Christentums kastrierten sich in den folgenden<br />
Jahrhunderten immer wieder religiöse Eiferer, um den<br />
Anfechtungen des Fleisches zu entgehen. Die russische<br />
Sekte der Skopzen (Verschnittene), die wegen<br />
ihrer weißen Gewänder „Weiße Tauben“ genannt wurden,<br />
sahen sich durch die Kastration zu Engeln ge -<br />
macht. Mitglieder der Sekte Heaven Gate ließen sich<br />
noch am Ende des 20. Jahrhunderts zum Eunuchen<br />
ver schneiden, bevor sie durch gemeinsam zelebrierten<br />
Suizid ins erhoffte Himmelreich gingen.<br />
Genitalien haben eine dreifache Bedeutung. Sie<br />
symbolisieren:<br />
! die geschlechtliche Differenz (in sozialer und bio -<br />
lo gischer Hinsicht) und den Dualismus der Ge -<br />
schlech ter,<br />
! die Fortpflanzung,<br />
! die Sexualität, die in körperfeindlichen Religionen<br />
wie dem Christentum ausgegrenzt oder sogar verteufelt<br />
und mit der Erbsünde belegt ist.<br />
Der sexualfeindliche Aspekt spielte im Christentum<br />
eine große Rolle, und unter dem Zeichen der Feind -<br />
schaft gegen den Leib konnte der Mann, der von seinen<br />
Genitalien befreit war, aus der Kastration Gewinn<br />
ziehen. Die Schöpfungsgeschichte wurde interpretiert,<br />
dass Adam und Eva durch die Entdeckung der Ge -<br />
schlechtlichkeit das Paradies verloren haben und aus<br />
diesem Grund ihre Scham verhüllen mussten. Durch<br />
die Überwindung der Geschlechtlichkeit und durch se -<br />
xu elle Enthaltsamkeit könne man das Seelenheil er -<br />
langen.<br />
Der wohl berühmteste Eunuch ist Peter Abaelard<br />
(Petrus Abelardus, 1079–1142), der scholastische<br />
The olo ge, der in tragischer Liebe zu Heloise entbrann -<br />
te. Abaelard entführte seine Geliebte in die Bretagne,<br />
wo sie einen Sohn gebar. Nachdem er heimlich Heloi -<br />
se geheiratet hatte, ließ ihr Onkel, der Kanonikus Ful -<br />
bert, Abaelard 1118 überfallen und kastrieren. Abae -<br />
lard zog sich als Mönch nach St. Denis zurück und<br />
bewog Heloise, in Argenteuil als Nonne zu leben.<br />
Nach Abaelards gewaltsamer Kastration (vgl.<br />
Abb.2) sprach ein persönlicher Gegner ihm das Recht<br />
ab, den Vorna men Petrus zu tragen, da dieser ein<br />
männlicher Name sei, er aber als ein imperfectus<br />
Petrus, d.h. als früherer bzw. nicht vollständiger Pe -<br />
trus, kein richtiger Mann mehr sei, so Martin Irvine in<br />
seinem Aufsatz Abelard and (Re)Writing the Male<br />
Body: Castration, Identity, and Remasculinization im<br />
Band Becoming Male in the Middle Ages. Abaelard<br />
fehle virtus, also Tugend, die etymologisch von vir<br />
(Mann) abgeleitet wird, so der Zeitgenosse. Auf sol-
Buchbesprechungen 91<br />
che Feindseligkeiten reagiert Abae lard, indem er sich<br />
remaskulisiert und intellektuell mit seinen theologischen<br />
Hauptwerken brilliert. Abae lard ersetzt das körperliche<br />
Organ durch den männlich konnotierten<br />
Geist, so analysiert Yves Fer roul in seinem Aufsatz<br />
Abe lard’s Blissful Castra tion im selben Band. Den<br />
Mangel an geschlechtlichem Ver langen präsentierte<br />
Abaelard als Beweis seiner Tu gendhaftigkeit, doch<br />
diese Argumentation wurde an ge griffen, da nicht der<br />
Mangel an Bedürfnissen, sondern der heroische<br />
Kampf gegen die Sünde in der As kese als Tugend -<br />
beweis gewertet wurde. Auch Bonnie Wheeler geht in<br />
ihrem Beitrag Originary Fantasies: Abelard’s Castra -<br />
tion and Confession im selben Buch auf diesen prominenten<br />
Eunuchen ein. Sein Fall erweise, dass das so -<br />
ziale Geschlecht (Gender) wichtiger als das biologische<br />
Geschlecht (sex) sei. Der intellektuelle Kampf im<br />
theologischen Disput triumphiere über die physische<br />
Seite der Männlichkeit in der Sexualität. Die Zunge<br />
werde zum Träger der Männ lichkeit und er setze – wie<br />
Wheeler meint – den Penis.<br />
Folgt man jedoch Taylors Interpretation, so steckt<br />
die mittelalterliche Männlichkeit in den Hoden, nicht<br />
im Penis. Die Hoden, die Abaelard verloren hat, sind<br />
Trä ger des Namens Petrus. Da Frauen mit dem Man -<br />
gel identifiziert werden, dem Mangel an männlichen<br />
Genitalien und männlicher Macht, effeminisiert sich<br />
der Mann ohne Genitalien symbolisch und sozial,<br />
wird mithin zur Frau. „Alle Tiere gehen in den weiblichen<br />
Zustand über, wenn sie kastriert worden sind“,<br />
so zitiert Taylor Aristoteles. Der Mangel an Genitalien<br />
kann sich – je nach Epoche – auf die Hoden oder den<br />
Penis beziehen, die Konsequenzen sind die gleichen.<br />
Eine Frau, der Ovarien oder Klitoris entfernt wurden,<br />
wird hingegen nicht diesem Ausmaß maskulinisiert,<br />
da ihr die signifikanten Körperteile fehlen.<br />
Psychoanalyse<br />
Abhandlungen über Eunuchen, nicht zuletzt historischer<br />
Provenienz, haben unter dem Einfluss der Gen -<br />
derstudien Konjunktur. Taylors provokante zentrale<br />
These geht darüber hinaus. In seiner höchst originellen<br />
Analyse der Psychoanalyse demontiert er die vorgebliche<br />
Universalität des Penisneids. Der Kas tra -<br />
tions komplex als Grundpfeiler der Psychoanalyse<br />
sieht im Besitz oder im Fehlen des Penis den essenziellen<br />
Unterschied der Geschlechter. Der Knabe fantasiert,<br />
dass alle Menschen, auch Frauen, einen Penis<br />
ha ben, so „wie ihn der Knabe vom eigenen Körper<br />
kennt.“ So jedenfalls sehen es Freuds infantile Sexu -<br />
altheorien. (Freud 1908:176) Wenn der Knabe ein<br />
nack tes Mädchen sieht, bekommt er Angst, dass sein<br />
Vater ihm den Penis abschneiden könnte. Das Mäd -<br />
chen hingegen empfindet Penislosigkeit als Nachteil,<br />
den es zu verleugnen, zu kompensieren oder zu reparieren<br />
sucht, so Freud. Der Dreh- und Angelpunkt der<br />
Kas trationsangst und damit der Entwicklung des<br />
Über-Ichs im Ödipuskomplex ist also der Penis. Ob<br />
das Kind einen Penis besitzt oder penislos und damit<br />
„kastriert“ ist, macht den Primat des Penis für die psychoanalytische<br />
Theorie kenntlich.<br />
Indem Taylor die Geschichte der Männlichkeit als<br />
eine Jahrtausende alte Geschichte des Primats der Te -<br />
stikel erzählt, die erst vor wenigen Jahrhunderten vom<br />
Primat des Penis abgelöst wurde, erhält die Ge -<br />
schlechtergeschichte ein anderes Fundament als in der<br />
Psychoanalyse. „Freuds Theorien über die Kastrati -<br />
ons angst und den Penisneid kastrierter Frauen können<br />
kaum eine zutreffende Beschreibung des ‘Patriar -<br />
chats’ sein, weil sie fast die gesamte Geschichte der<br />
Kas tration und fast die gesamte Geschichte des Patri -<br />
archats falsch wieder gibt“, so kanzelt Taylor Freuds<br />
Kastrationstheorie ab. (Taylor: 60)<br />
Die Psychoanalyse spiegelt den Aufstieg des Penis<br />
(the rise of the penis) in der westlichen Kultur wider,<br />
verbunden mit dem Niedergang der Hoden (fall of the<br />
scrotum). Die Herrschaft des Penis verdrängt die family<br />
jewels, wie die Hoden als wichtigster Besitz des<br />
Mannes in England bezeichnet wurden. In der Kunst -<br />
geschichte belegt Taylor dies an Michelangelos David,<br />
dessen Penis in Vergleich zu seinen Hoden für moderne<br />
Betrachter zu klein wirke. Das Phallische wird in<br />
der Neuzeit primär – oder wie es Foucault formulierte:<br />
Es beginnt der Aufstieg des nicht-reproduktiven<br />
Se xualregimes.<br />
Wann und weshalb setzte sich dieser Paradigmen -<br />
wechsel von den Hoden (und damit der Fruchtbarkeit<br />
Abb. 3: Darstellung einer Kastration in Practica copiosa von Caspar Stromayr<br />
(1559). Aus: Scholz (1997: 258)
92 Buchbesprechungen<br />
und der Zeugungskraft) hin zum Penis (also dem<br />
männ lichen Lustprinzip) durch? Der Shakespeare-Ex -<br />
perte Taylor datiert den Beginn des Umschwungs in<br />
das späte 16. Jahrhundert. In den Städten wuchs seitdem<br />
ein Bewusstsein, dass nicht mangelnde Frucht -<br />
bar keit, sondern übermäßige Fertilität und Überbevölkerung<br />
problematisch ist. Die Produktion von Überfluss<br />
verdrängt die Ökonomie der knappen Ressour -<br />
cen. Die Überproduktion in vielen Bereichen rückt<br />
erstmals in den Blick. „Zu viel Reproduktion – von<br />
Texten, Geld, Waren, Leute – können katastrophal<br />
sein. Und was ist das anatomische Zeichen der Repro -<br />
duk tion beim Mann? Die Hoden.“ (Taylor: 105)<br />
Im Alten Reich des reproduktiven Primats bedrohten<br />
Männer das Skrotum feindlicher Männer; die Ent -<br />
fernung der Testikel war ein Akt von Männern gegen<br />
Männer (vgl. Abb. 3). In den Mythen gelangte der<br />
Mann in den Be sitz der Frau durch die blutige Ent -<br />
man nung des bisherigen Machthabers. Die Zeugungs -<br />
kraft des Mannes stand im Zentrum männlicher Rang -<br />
kämpfe: Kronos ent mannt seinen Vater Uranos, auch<br />
der Göttersohn Zeus entmannt seinen Vater Kronos.<br />
Die Machtüber nahme im Generationenwechsel in der<br />
Form der ge walt tätigen Entmannung ging einher mit<br />
der Besitz ergreifung der Frau.<br />
Die Angst, seinen Penis zu verlieren, und auch der<br />
Penisneid von Frauen konnte als kulturelles Phäno -<br />
men erst in der Neuzeit entstehen, so Taylor. Erst die<br />
Moderne deutet die emanzipierte Frau als entmannend<br />
in Hinblick auf den Penis und die Frauenbewegung als<br />
antagonistisch zur Phallokratie.<br />
„Was will das Weib?“ fragte Freud. Frauen haben<br />
ein großes Interesse daran, nicht ungewollt geschwängert<br />
zu werden – dies hat der Mann Taylor auf dem<br />
Schwarzen Kontinent der Weiblichkeit erkundet. Die<br />
emanzipierte Form der Kastration in Form der Vasek -<br />
to mie entspreche den Bedürfnissen von Frauen, die<br />
kei nen Kinderwunsch haben bzw. bereits die ge -<br />
wünschte Anzahl von Kindern geboren haben. Die<br />
Vasektomie sei der Update der Kastration für das<br />
überbevölkerte 21. Jahrhundert. Der <strong>Literatur</strong>wissen -<br />
schaft ler outet sich als vasektomiert und damit up to<br />
date.<br />
<strong>Literatur</strong><br />
Barbier, P. (1998) Über die Männlichkeit der Kastraten. In: M.<br />
Dinges (Hg): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Kons -<br />
truktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und früher<br />
Neuzeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht: 123-152.<br />
Breidenstein, G. (1996): Geschlechtsunterschied und Sexual -<br />
trieb im Diskurs der Kastration Anfang des 20. Jahr hun -<br />
derts. In: Ch., Eifert; A. Epple; M. Kessel; M., Michaelis;<br />
C., Nowak; K., Schicke; D., Weltecke (Hg): Was sind Frau -<br />
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to rischen Wandel. Frankfurt am Main: Suhrkamp: 216-239.<br />
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Re ligion: Drei Abhandlungen. Zit.n.: Studienausgabe, Bd.<br />
IX. Frankfurt am Main: S. Fischer 1972.<br />
Freud, S. (1908): Über infantile Sexualtheorien Zit.n.: Stu -<br />
dien ausgabe, Bd. V, Sexualleben. Frankfurt am Main: S.<br />
Fischer 1972.<br />
Guyot, P. (1980): Eunuchen als Sklaven und Freigelassene in<br />
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Castration, Identity, and Remasculinization. In: J.J. Cohen<br />
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Kuefler, M. (2001): The Manly Eunuch. Masculinity, Gender<br />
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go, London: University of Chicago Press.<br />
Nanda, S. (199): Neither Man nor Woman. The Hijras of In -<br />
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Nock, A.D. (1988): Eunuchs in ancient religion. In: A.K.<br />
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Wissenschaftliche Buchgesellschaft: 58-69 (Original:<br />
Archiv für Religionswissenschaft, hg. v. O. Weinreich und<br />
M.P. Nilsson, 23. Bd., Leipzig/Berlin: B.G. Teubner 1925:<br />
25-33).<br />
Ortkämper, H. (1993): Engel wider Willen. Die Welt der Kas -<br />
traten. Berlin: Henschel.<br />
Pfeiffer, K.L. (2002): Schnitt-Stellen und Schnittstellen: Se -<br />
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Ästhetik (Farinelli). In: A. Barkhaus und A. Fleig (Hg):<br />
Grenzverläufe. Der Körper als Schnitt-Stelle. München:<br />
Wil helm Fink: 103-116.<br />
Ringrose, K.M. (1994): Living in the Shadows: Eunuchs and<br />
Gender in Byzanthium. In: G. Herdt (Hg): Third Sex, Third<br />
Gender. Beyond Sexual Dimorphism in Culture and<br />
History. New York: Zone Books: 85-109.<br />
Schlich, Th. (1998): Die Erfindung der Organtransplantation.<br />
Erfolg und Scheitern des chirurgischen Organersatzes<br />
(1880-1930). Frankfurt am Main, New York: Campus: 153-<br />
177.<br />
Scholten, H. (1995): Der Eunuch in Kaisernähe. Zur politischen<br />
und sozialen Bedeutung des praepositus sacri cubiculi<br />
im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Frankfurt am Main,<br />
Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Peter Lang.<br />
Scholz, P.O. (197): Der entmannte Eros. Eine Kulturge -<br />
schichte der Eunuchen und Kastraten. Düsseldorf, Zürich:<br />
Artemis & Winkler.<br />
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Droste.<br />
Wheeler, B. (2000): Originary Fantasies: Abelard’s Cas tration<br />
and Confession. In: J.J. Cohen und B. Wheeler (Hg):<br />
Becoming Male in the Middle Ages. New York, London:<br />
Garland: 107-128.
Buchbesprechungen 93<br />
Hans Jellouschek: Beziehung & Bezauberung. Wie Paare<br />
sich verlieren und wieder finden, gespiegelt in Mär -<br />
chen und Mythen. Stuttgart: Kreuz Verlag 2000,<br />
186 Seiten; Preis: 19,90 €<br />
Was haben „Hänsel und Gretel“ mit dem „Fischer und<br />
seiner Frau“ zu tun, was „König Drosselbart“ mit<br />
„Orpheus und Eurydike“? Wie sind „Philemon und<br />
Baucis“ mit „Merlin und Viviane“ verbunden? Wo<br />
liegt die Gemeinsamkeit zwischen „Othello und Des -<br />
demona“ und der „Schönen und dem Tier"? In welchem<br />
Zusammenhang steht mit den Vorgenannten die<br />
„Nixe im Teich"?<br />
Wenn man den Autor kennt und zumal den Un ter -<br />
titel des Buches gelesen hat, liegt die Vermutung nicht<br />
fern, daß das Verbindende der neun erwähnten Mär -<br />
chen und Mythen die in ihnen verborgene Paarpro -<br />
blematik ist, die Jellouschek routiniert herausarbeitet,<br />
analysiert und dem Leser anschaulich zu vermitteln<br />
weiß.<br />
So begegnen wir in Hänsel und Gretel dem (meist)<br />
jungen Paar, das sich im Leid gefunden hat, das aus<br />
einer häuslichen Situation des Mangels herkommt und<br />
sich früh gebunden hat. Beseelt von der Hoffnung,<br />
sich am Pfefferkuchenhäuschen satt essen zu können,<br />
müssen sie bald feststellen, daß sie erneut mit Ab -<br />
hängigkeit, mit Unfreiheit konfrontiert sind: Gretel<br />
muss von früh bis spät für die Hexe schuften, Hänsel<br />
sitzt im Käfig und sieht sich einer existentiellen Be -<br />
drohung ausgesetzt. Daß die Befreiung aus dieser Si -<br />
tu ation erst möglich wird, als jeder für sich die für ihn<br />
anstehenden Aufgaben gelöst hat, zeigt der Autor an<br />
diesem Märchen eindrucksvoll auf.<br />
In Die Schöne und das Tier stellt uns Jellouschek<br />
ein ebenfalls junges Paar vor, das in seliger Ver -<br />
schmelzung, in symbiotischer Liebe des Anfangs verbunden<br />
ist. Dieser Zustand dauert bekanntlich nur eine<br />
begrenzte Zeit: so will auch diese Liebe, die anfänglich<br />
nur im Dunkel gelebt werden kann, bald „sehen“.<br />
Welche Schwierigkeiten das aufwirft und wie diese<br />
müh sam erst dann gemeistert werden können, als Ver -<br />
strickungen innerhalb der Herkunftsfamilien gelöst<br />
wer den, wird anhand des ursprünglichen Mythos von<br />
„Amor und Psyche“ dargestellt.<br />
Im König Drosselbart verbirgt sich hinter einer<br />
kras sen patriarchalen Ordnung, in der die Königs -<br />
tochter „gezähmt“ werden muss, eine unsichere, nicht<br />
abgelöste Vatertochter, die ihre nicht erledigte Abhän -<br />
gigkeit in die eigene Beziehung mitnimmt und an<br />
einen Partner gerät, der genauso strukturiert ist wie der<br />
Vater: autoritär und unterdrückend.<br />
Aber durch die Liebe wird eine Entwicklung ange -<br />
stoßen, die sowohl die schnippische Königs tochter<br />
ver ändert als auch den brutalen König Drosselbart.<br />
Am Ende des Märchens steht der gemeinsame Tanz:<br />
ein Bild für gleichberechtigtes Gegenüber, für erotisches<br />
Werben.<br />
In der Nixe am Teich geht es um männliche Angst<br />
vor weiblicher Nähe. Hier arbeitet der Autor als<br />
Grund problem die nicht vollzogene Ablösung des<br />
Man nes von der Mutter heraus, so daß er die Am -<br />
bivalenz ihr gegenüber in die eigene Partnerschaft<br />
mit nimmt. Als Weg aus dieser Situation zeigt das Mär -<br />
chen auf, daß Konflikte an dem Ort gelöst werden<br />
müs sen, an dem sie ihre Wurzel haben; daß dann,<br />
wenn man sich ihnen wirklich stellt, Heilung möglich<br />
ist.<br />
In Orpheus und Eurydike treffen wir eine Be -<br />
ziehungs dynamik an, die dadurch charakterisiert ist,<br />
dass die Partnerin sich weiterentwickelt hat und da -<br />
durch für ihren Mann, der die Entwicklung nicht mitgemacht<br />
hat, „gestorben“, nicht mehr erreichbar ist.<br />
Sein Versuch, sie wiederzugewinnen, stellt sein Be -<br />
streben dar, den alten „Beziehungsvertrag“ unverändert<br />
zu restaurieren und muss daher scheitern.<br />
Othello und Desdemona konfrontieren mit dem<br />
The ma der Eifersucht innerhalb einer Beziehung. Jel -<br />
lou schek stellt anhand des Dramas konstruktive und<br />
destruktive Varianten dieses Gefühls gegenüber und<br />
beleuchtet jeweils mögliche Ursachen.<br />
In dem Märchen vom Fischer und seiner Frau geht<br />
es um das Thema „unzufriedene, mäkelnde Frau – gutmütiger,<br />
hilfloser Mann“. Im Gegensatz zur üblichen<br />
Lesart erscheint hier „Ilsebill“ aber nicht als habgierige,<br />
größenwahnsinnige Frau, die ihren armen Mann<br />
peinigt und am Ende die gerechte Strafe erhält, sondern<br />
der Autor arbeitet heraus, wie ihre Unmäßigkeit<br />
und der zähe Widerstand des Fischers, der aber wirkliche<br />
Auseinandersetzung mit den eigentlichen Le -<br />
bens themen verweigert, sich gegenseitig bedingen<br />
und hochschaukeln.<br />
Merlin und Viviane behandelt das Problem des<br />
Paa res mit großem Altersunterschied. Jellouschek<br />
zeigt, daß in diesen Beziehungen neben vielfachen<br />
intern und extern bedingten Schwierigkeiten auch<br />
Chancen liegen. Der alte keltische Mythos zeigt Wege<br />
auf, wie dieses spezifische Potential genutzt werden<br />
kann.<br />
Der letzte Mythos behandelt das Paar im Alter.<br />
Phi le mon und Baucis dienen als lebendiges Vorbild<br />
für die Reflektion hierüber. Der Autor stellt heraus,<br />
dass die Phase „altes Paar“ immer bedeutender wird,<br />
da sie immer häufiger und immer länger erlebt werden<br />
kann. Anhand des antiken Vorbildes zeigt er, wie es<br />
diesem Paar gelingt, diese Phase lebendig und erfüllend<br />
bis zuletzt auszugestalten.<br />
Auf dem Hintergrund jahrzehntelanger Arbeit mit<br />
Paaren führt Jellouschek den Leser sehr kompetent,
94 Buchbesprechungen / Webtipp<br />
sehr einfühlsam, sehr gut verständlich, gleichwohl<br />
auch sehr vergnüglich durch ganz verschiedene Fa -<br />
cetten von Paarbeziehung in ganz unterschiedlichen<br />
Stadien und Lebenssituationen. Er zeigt anhand der<br />
Märchen und Mythen Probleme, Gefahren und Fall -<br />
stricke, aber auch mögliche Lösungsschritte auf. Da -<br />
bei bleibt der Ausblick immer optimistisch, immer<br />
lösungs- und ressourcenorientiert. Selbst dann, wenn<br />
das literarische Vorbild kein „Happy-End“ anbieten<br />
kann (wie z. B. in Othello/Desdemona), geht der Blick<br />
dahin, was hätte anders laufen müssen und können,<br />
damit ein besseres Ende zu erwarten gewesen wäre.<br />
Daher macht dieses Buch Mut. Die Botschaft lautet<br />
kurz und knapp: niemand ist in Dingen der Paarbe zie -<br />
hung ein hoffnungsloser Fall, wenn er nur die wirklichen<br />
Probleme ansieht, anpackt und sich nicht auf<br />
Nebenschauplätzen der eigentlichen Konflikte verausgabt.<br />
Dieses Buch ist für Fachleute und interessierte<br />
Laien gleichermaßen zu empfehlen. Es ist ein Buch,<br />
welches dem Anspruch „prodesse et delectare“ voll<br />
und ganz gerecht wird.<br />
A. Dabelstein, Kiel<br />
Der Webtipp<br />
Unter der Webadresse: http://www.univie.ac.at/Wirtschaftsgeschichte/sexbibl/<br />
öffnet sich die nachfolgende Startseite:
Epidemiologie sexuell übertragbarer Krankheiten<br />
AIDS in der Bundesrepublik Deutschland (Auszug)<br />
Quelle: Sonderausgabe A/2002 HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland. Aktuelle epidemiologische Daten. Bericht I/2002<br />
aus dem Robert Koch-Institut. Die aktuelle Ausgabe des Epidemiologischen Bulletins kann über die Fax-Abruffunktion unter 018 88 754 –<br />
22 65 abgerufen werden. Ab 1997 stehen die Ausgaben im Internet zur Verfügung unter: http://www.rki.de/INFEKT/EPIBULL/EPI.HTM.<br />
Tabelle 1: Anzahl der berichteten AIDS-Fälle nach Geschlecht sowie der berichteten Todesfälle nach Bundesländern bzw. ausgewählten<br />
Großräumen und aufgeführten Zeiträumen der Registrierung<br />
Tabelle 2: Berichtete AIDS-Fälle bei männlichen und weiblichen Jugendlichen und Erwachsenen (>12 Jahre) nach Infektionsrisiko und aufgeführten<br />
Zeiträumen der Diagnose<br />
Legende: MSM = Männer,die Sex mit Männern haben, IVDA = i.v.Drogenabhängige, Hämo/Trans = Hämophile/Empfänger von Bluttransfusionen und<br />
Blut pro dukten (außer Hämophilen), Hetero = Heterosexuelle Kontakte (ausgenommen Patienten aus HPL-Ländern), HPL = Personen aus Hochprävalenz -<br />
ländern (HIV-Prävalenz in der allgemeinen Bevölkerung >1 %),in denen HIV endemisch ist und überwiegend heterosexuell übertragen wird (z.B. Karibik,<br />
Subsahara-Afrika), k.A. = Keine Angaben/Sonstige
96 Epidemiologie sexuell übertragbarer Krankheiten<br />
Tabelle 3: Anzahl der berichteten AIDS-Fälle nach Bundesländern, Großstädten über 100.000 Einwohner bzw. ausgewählten Großräumen<br />
sowie nach Infektionsrisiko (Stand 30.06. 2002)
Sexuologie<br />
Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />
für Praktische Sexualmedizin<br />
Inhalt<br />
98<br />
Orginalarbeiten<br />
Per Olov Lundberg: Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane<br />
107<br />
116<br />
125<br />
137<br />
141<br />
145<br />
Milan Zaviacic: Die weibliche Prostata. Orthologie, Pathologie, Sexuologie und forensisch-sexuologische<br />
Implikationen<br />
Rosemary Basson: Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion im<br />
Zusammenhang mit einer Störung der sexuellen Erregbarkeit<br />
Fortbildung<br />
Walter Dmoch: (Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen<br />
Dirk Rösing: „Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden. Die Partnerschaft ist zusammengewachsen.“<br />
4<br />
Diskussion<br />
Reinhard Wille, Reinhard H. Dennin, Michael Lafrenz: Hinter-Fragwürdigkeit der etablierten AIDS-<br />
Bekämpfungskonzeption<br />
Aktuelles: Tagungsankündigung, Urteil zu Viagra<br />
Anschrift der Redaktion<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />
D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />
Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />
D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />
E-mail: journals@urbanfischer.de<br />
Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />
Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />
64 45, Fax (03641) 62 64 21, Zur Zeit gilt die Anzeigenliste vom 01.01.2002<br />
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lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />
Telefon (03641) 62 64 44, Fax (03641) 62 64 43<br />
Bezugshinweise: Das Abonnement gilt bis auf Widerruf oder wird auf Wunsch befristet.<br />
Die Lieferung der Zeitschrift läuft weiter, wenn sie nicht bis zum 31.10 abbestellt wird.<br />
Erscheinungsweise: Zwanglos, 1 Band mit 4 Heften.<br />
Abo-Preis 2002: 129,- €*; Einzelheftpreis 39,- €*, Alle Prei se zzgl. Versandkosten.<br />
Vorzugspreis für persönliche Abon nenten 60,30 €*.<br />
*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />
wer den zur Zah lung akzeptiert: Visa/Eurocard/Mastercard/American Ex press (bitte Kar -<br />
ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />
Bankverbindung: Deutsche Bank Jena, Konto-Nr. 390 76 56, BLZ 820 700 00 und<br />
Postbank Leipzig, Konto-Nr. 149 249 903, BLZ 860 100 90<br />
Copyright: Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen<br />
ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />
(online/offline), bedarf der vorherigen schriftlichen Zustim mung des Verlages.<br />
Hinweis: Die römisch paginierten Seiten laufen außerhalb der Verant wor -<br />
tung der Herausgeber<br />
Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />
Druck, Bindung: Gutenberg Druckerei GmbH Weimar, Ma rien straße 14,<br />
D-99423 Weimar.<br />
Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />
alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />
© 2002 Urban & Fischer Verlag<br />
Coverfoto: © gettyimages<br />
Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />
Forschung<br />
Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />
Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />
somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />
alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />
Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />
Sexuologie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />
dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />
Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />
chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />
schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />
mit Sexual straftätern.<br />
Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />
almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />
störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />
chun gen (Paraphilien, Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />
von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />
Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />
Wissenschaftlicher Beirat<br />
Dorothee Alfermann, Leipzig<br />
Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />
Walter Dmoch, Düsseldorf<br />
Günter Dörner, Berlin<br />
Wolf Eicher, Mannheim<br />
Erwin Günther, Jena<br />
Heidi Keller, Osnabrück<br />
Heribert Kentenich, Berlin<br />
Rainer Knussmann, Hamburg<br />
Götz Kockott, München<br />
Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />
John Money, Baltimore<br />
Elisabeth Müller-Luckmann,<br />
Braunschweig<br />
Piet Nijs, Leuven<br />
Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />
Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />
Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />
Wolfgang Sippell, Kiel<br />
Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />
Hans Martin Trautner, Wuppertal<br />
Henner Völkel, Kiel<br />
Hermann-J. Vogt, München<br />
Reinhard Wille, Kiel<br />
Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) · NISC-National Information Services Corporation · PSYNDEX · PsycINFO<br />
Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />
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Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Die periphere Innervation der weiblichen<br />
Genitalorgane *<br />
Per Olov Lundberg<br />
The peripheral innervation of the<br />
genital organs of women<br />
Abstract<br />
In this review anatomical and physiological data concerning<br />
the peripheral innervation of the female genital<br />
organs are described and clinical implications discussed.<br />
Both the somatic and the autonomic nervous system<br />
are involved in the regulation of female genital functions.<br />
The spinal cord segments S 2-4 are the most important.<br />
Most of the innervation to the internal genitalia goes<br />
through the pelvic plexus. This is localised in the cervicovaginal<br />
region and is a combined sympathetic and parasympathetic<br />
structure also containing many nerve cells.<br />
The main somatic nerve innervating the external genitalia<br />
is the pudendal nerve. This nerve has a protective course<br />
and is mainly localised under or within the pelvic floor and<br />
is ending in the dorsal clitoridal nerve. There are also a<br />
number of somatic sensory nerves of other origin and<br />
somatic motor nerves direct from the spinal cord going<br />
above the pelvic floor.<br />
The clitoris is one of the most sensitive areas of the<br />
human body as regards exteroceptive stimuli. There are a<br />
number of sensory receptors for different qualities both in<br />
the clitoris and in the vulvar area. In the anterior part of the<br />
vaginal wall, corresponding to the G spot area, there are<br />
many more nerve fibers than in other parts of the vaginal<br />
walls. However, at the introitus there is a rich innervation<br />
of intraepitelial free nerve endings working as pain receptors.<br />
The cavernosal nerves to the clitoris are passing<br />
through the pelvic floor just beneath the urethra.<br />
Key words: neurosexology, female, sympathetic nervous<br />
system, parasympathetic nervous system, pelvic plexus,<br />
pudendal nerve, cavernosal nerves, clitoris, vagina, G-spot.<br />
Zusammenfassung<br />
Die anatomischen und physiologischen Zusammenhänge<br />
der peripheren Innervation der weiblichen Genitalorgane<br />
werden mit ihren klinischen Implikationen im Überblick<br />
dargestellt.<br />
An der Regulierung der weiblichen Genitalfunktionen<br />
ist sowohl das somatische wie auch das autonome Ner -<br />
vensystem beteiligt. Am wichtigsten sind die spinalen<br />
Segmente S 2-4.<br />
Die Innervation der inneren Genitalien ver läuft größtenteils<br />
durch das Beckengeflecht, das sich in der zervikovaginalen<br />
Region befindet und eine kombinierte sympathisch-parasympathische<br />
Struktur darstellt, die auch viele<br />
Nervenzellen enthält. Der die äußeren Ge nitalien innervierende<br />
somatische Hauptnerv ist der Ner vus pudendus,<br />
der auf einer geschützten Bahn haupt säch lich unter- oder<br />
innerhalb des Beckenbodens bis zum dorsalen Klitorisnerv<br />
verläuft. Über den Beckenboden laufen noch weitere<br />
somatische sensible Nerven anderer Herkunft, außerdem<br />
somatische motorische Nerven, die direkt aus dem<br />
Rückenmark kommen.<br />
Die Klitoris gehört zu den für exterozeptive Reize em -<br />
pfindlichsten Körperregionen. In der Klitoris und in der<br />
Vul varegion gibt es eine Reihe von sensorischen Rezep -<br />
toren für unterschiedliche Qualitäten. Die vordere Schei -<br />
den wand, die G-Punkt-Zone, enthält weitaus mehr Ner -<br />
ven fasern als andere Partien der Scheidenwände. Am Ein -<br />
gang gibt es aber eine starke Innervation von freien intraepitelialen<br />
Nervenendigungen, die als Schmerzrezeptoren<br />
fungieren. Die zur Klitoris führenden kavernösen Nerven<br />
laufen durch den Beckenboden dicht an der Urethra.<br />
Schlüsselwörter: Neurosexuologie, weiblich, sympathisches<br />
Nervensystem, parasympathisches Nervensystem,<br />
Beckengeflecht, Nervus pudendus, kavernöse Nerven,<br />
Klitoris, Vagina, G-Punkt.<br />
* Scand J Sex 2001, 4: 213-225 (für die Übersetzung vom Autor leicht<br />
überarbeitet). Aus dem Englischen von Dr. Thomas Laugstien.<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 98 – 106 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane 99<br />
An der Regulierung der weiblichen Genitalfunktionen<br />
ist sowohl das somatische wie auch das autonome<br />
Nervensystem beteiligt. Zu unterscheiden sind die ef -<br />
fe renten, motorischen Nerven, die Motorik, Sekretion<br />
und Gefäßsystem kontrollieren, und die afferenten,<br />
sen siblen Nerven, die Empfindungen von den inneren<br />
und äußeren Genitalorganen vermitteln. Zu unter -<br />
schei den sind ferner die Funktionen des somatischen<br />
und des autonomen Nervensystems. Sensorische Im -<br />
pulse können durch beide Systeme übertragen werden.<br />
Über die somatische sensorische Innervation der<br />
Haut in der Genitalregion wissen wir seit langem Be -<br />
scheid. Weniger gut erforscht und teilweise unklar<br />
sind aber die wichtigen sensorischen Im pulse aus den<br />
inneren Genitalorganen ein schließlich der Blutgefäße.<br />
Die somatische Kontrolle bezieht sich vor allem auf<br />
die Innervation der quergestreiften Mus keln in den<br />
verschiedenen Schichten des Becken bodens. Die autonome<br />
motorische Innervation reguliert die Durch -<br />
blutung. Auf diese Weise kommt es zur Erektion der<br />
Klitoris und der übrigen Schwell körper und zur Trans -<br />
udation der Vagina mit der da durch be wirkten Lub -<br />
rikation. Sie reguliert außerdem die sekretorischen<br />
Funk tionen der Lubrikation durch die Bart holin-<br />
Drüsen und durch die paraurethralen Drüsen (die<br />
weib liche Prostata; siehe Zaviacic 2001, bzw. nachfolgenden<br />
Artikel von Zaviacic in diesem Heft).<br />
Das autonome Nervensystem wird aus makroanatomischen<br />
Gründen traditionell in das sympathische<br />
und parasympathische Nervensystem unterteilt. Auch<br />
die Pharmakologie orientiert sich grundsätzlich an<br />
die ser Dichotomie. Im Beckengeflecht mischen sich<br />
aber beide Systeme, und die verschiedensten Trans -<br />
mit ter und Neuropeptide finden sich in den Nerven<br />
ko-lokalisiert, so dass die Unterscheidung schwer aufrechtzuerhalten<br />
ist. Daneben gibt es in der Becken -<br />
geflechtsregion Nervenzellen, und viele Beobach -<br />
tungen sprechen dafür, dass bei der Regulation der<br />
Beckenfunktionen axonale und lokale monosynaptische<br />
Reflexe mitspielen.<br />
Die periphere Innervation der weiblichen Genita -<br />
lien wurde auch andernorts (Lundberg 1994, 1999)<br />
untersucht. Die zentralnervöse Regulation der sexuellen<br />
Funktionen und Fähigkeiten wird an dieser Stelle<br />
nicht behandelt. Eine entsprechende Untersuchung<br />
aufgrund von Befunden aus der klinischen Neurologie<br />
findet sich bei Lundberg u.a. (2001).<br />
Das Beckengeflecht<br />
Das Beckengeflecht (plexus hypogastricus inferior)<br />
wurde zuerst 1867 von Frankenhäuser beschrieben. Es<br />
steht in sympathischer Verbindung mit dem Plexus<br />
hypogastricus superior und befindet sich in der Region<br />
neben Cervix uteri und oberhalb von Vagina und Rek -<br />
tum (Jung 1905, Labhardt 1906, Roith 1907, Fontaine<br />
& Herrmann 1932, Curtis et al. 1942, Donker 1986,<br />
Fritsch 1989).<br />
Die Beckennerven, die zum sakralen parasympathischen<br />
System gehören, treten aus den sakralen Seg -<br />
menten S 2-4, aber nie aus S 1 oder S 5 in das Becken -<br />
geflecht ein (Donker 1986, Arango-Toro & Mateu<br />
1992). Zwischen der sakralen sympathetischen Kette<br />
und dem Beckengeflecht gibt es direkte Verbindun -<br />
gen. Sie umfassen myelinhaltige Nervenfasern von bis<br />
zu 11 µ (Donker 1986). Innerhalb des Beckengeflechts<br />
gibt es, wie erwähnt, zahlreiche Nervenzellen, die als<br />
Ganglion hypogastricum oder Frankenhäuserscher<br />
Gang lion bekannt sind.<br />
Die sensorische Innervation aus den inneren<br />
Genitalien geht größtenteils durchs Beckengeflecht.<br />
Die Exstirpation des Beckengeflechts und des Fran -<br />
kenhäuser-Ganglions führt zum Verschwinden uteriner<br />
Schmerzempfindungen. Durch chirurgische Ein -<br />
griffe an Gebärmutter oder Rektum können diese<br />
Struk turen geschädigt werden (Donker 1986). Das<br />
Bec ken geflecht enthält also afferente wie auch efferente<br />
Nervenfasern und bestimmte Nervenzellen.<br />
Die afferenten (sensiblen) Nerven<br />
Die Innervation der Vulva<br />
Die Klitoris ist neben den Fingern der am dichtesten<br />
innervierte Teil der Körperoberfläche (Winkelmann<br />
1959). Tierstudien haben gezeigt, dass der Nervus dorsalis<br />
clitoridis doppelt so viele Nervenfasern enthält<br />
wie der Nervus dorsalis penis (Campbell 1976). Die<br />
vibratorische Wahrnehmungsschwelle der Klitoris ist<br />
niedriger als die der Glans penis. Die Klitoris gehört<br />
also zu den für äußere Reize empfindlichsten Körper -<br />
zonen. Eine Frau kann eine Schwingungsamplitude<br />
von 0,2 bis 0,4 µ verspüren, was ungefähr der sensorischen<br />
Schwelle der Hände entspricht (Helström &<br />
Lundberg 1992, Hulter u.a. 1998, Lundberg & Hulter,<br />
unveröff.). Bei der Glans penis liegt der entsprechende<br />
Wert erheblich höher. Mit zunehmendem Alter steigen<br />
die Empfindungsschwellen etwas an.<br />
Die sensiblen Nerven in der Klitoris bilden eine<br />
ex tensives Netzwerk um die Tunica des Klitoriskör -<br />
pers mit einer nervenfreien Zone in der 12-Uhr-Posi -<br />
tion (Baskin et al. 1999). Die meisten sensorischen<br />
Impulse aus der Klitoris werden vom bilateralen dorsalen<br />
Klitorisnerv übertragen. Diese Nerven verlaufen<br />
auf einer geschützten Bahn durch das Diaphragma<br />
uro genitale an der unteren Klitoris, unter dem Dia -<br />
phragma urogenitale und danach als Bestandteil des<br />
Nervus pudendus im Alcock-Kanal. Die geschützte
100 P.O. Lundberg<br />
Lage einer anatomischen Struktur deutet normalerweise<br />
darauf hin, dass sie während der Evolution be -<br />
sondere physiologische Bedeutung erlangt hat.<br />
Wenn Nerven dieses äußeren Genitals in einer frü -<br />
hen Lebensphase geschädigt werden, ist die Regene ra -<br />
tionsfähigkeit offenbar gut. Eine Frau, die im frühen<br />
Kindesalter eine pharaonische Beschneidung mit Ex -<br />
s tir pation der Klitoris erlebt hat, kann im Erwach se -<br />
nen alter durchaus eine Empfindungsschwelle für Vi -<br />
bra tio nen im Bereich von 0,4 bis 1,0 µ haben (Lund -<br />
berg & Hulter, unveröff.). Allerdings hat das kavernöse<br />
Ge webe nicht die gleiche Regenerationsfähigkeit.<br />
Zudem können viele sonstige externe Traumata einen<br />
oder mehrere andere sensible Nerven in der Genital -<br />
region schädigen. Die häufigsten Gründe sind Ge -<br />
burts trau mata und Episiotomien. Wird der Nervus pu -<br />
dendus – etwa im Rahmen einer Geburtsanästhesie –<br />
bloc kiert, ist auch die Klitoris anästhetisch. Wegen<br />
sei nes ge schützten Verlaufs wird der dorsale Klitoris -<br />
nerv bei der Geburt im allgemeinen nicht beschädigt.<br />
Trau matisiert werden können jedoch die perinealen<br />
Nerven und die vorderen rektalen Nerven, die beide<br />
Ab zwei gungen des Nervus pudendus sind. Intensives<br />
Rad fahren über lange Strecken oder Spinnen kann<br />
dazu führen, dass der dorsale Klitorisnerv – manchmal<br />
beid seitig – eingeklemmt wird. Ein relativ schmaler<br />
Fahrradsattel bewirkt deshalb eine bestimmten Typ<br />
von Schäden, der Reitsattel einen anderen Typ. So<br />
kann es beispielsweise bei einem Dressurritt zur wie -<br />
der holten Traumatisierung der perinealen Nerven<br />
kom men.<br />
Es gibt eine ganze Reihe von Studien über die sensorischen<br />
Rezeptoren der weiblichen Klitoris (u.a.<br />
Worthmann 1906, Geller 1922, von Frey 1924, Tello<br />
1932, Temesváry 1924, Yamada 1951a&b, Kantner<br />
1954, Krantz 1958, Campbell 1976). Sie sind aber<br />
zumeist älteren Datums und bedienen sich nicht mo -<br />
derner Untersuchungstechnik. Auch bei der Nomen -<br />
klatur der Nervenendigungen gibt es Unklarheiten.<br />
In der Klitorisregion gibt es drei Typen von ex te -<br />
ro zeptiven Nervenendigungen. Sie befinden sich nicht<br />
nur in der eigentlichen Klitoris, sondern auch in den<br />
inneren Labien und im Umkreis des Harn röhren -<br />
ausgangs. Die oberste Hautschicht enthält freie Ner -<br />
ven en digungen. Sie sind vor allem schmerz em -<br />
pfindlich. Die von ihnen aufgenommenen Impulse<br />
wer den durch sehr dünne Nervenfasern über periphere<br />
somatische Nerven und über das Rücken mark mit<br />
der geringen Geschwindigkeit von 1-2 m/Sek. übertragen.<br />
Die sogenannten Genitalnerven körperchen<br />
oder mukokutanen Nervenendigungen (Win kelmann<br />
1959) befinden sich unter der Hautschicht. Sie sehen<br />
wie Wollknäuel aus und haben einen zentralen<br />
„Kern“. Man nimmt an, dass sie durch diese Kon -<br />
struktion auf unterschiedliche Reize so ansprechen<br />
können, dass sich die kortikale Reaktion qualitativ<br />
ver ändert. Diese Nervenendigun gen reagieren auf<br />
Druck und Bewegung. Die von ih nen ausgehenden<br />
Impulse werden durch mitteldicke myelinhaltige<br />
Nervenfasern relativ schnell (mit 40-60 m/Sek.) in die<br />
Gehirnrinde übertragen. An den Nerven in der<br />
Umgebung der Schwellkörper sitzen relativ große,<br />
zwiebelförmig aufgebaute Nervenendigungen mit<br />
dicken Lamellen und einer zentralen Nervenfaser. Sie<br />
reagieren auf starken Druck und heftige Bewe gung.<br />
Die Nervenimpulse werden dann über dicke, myelinhaltige<br />
Nervenfasern mit sehr hoher Geschwin digkeit<br />
(100 m/Sek.) in die Hirnrinde übertragen. Die zwei<br />
letzteren Typen von Nervenendigungen liegen also<br />
innerhalb oder in der Nähe von kavernösem Ge webe.<br />
Der Signalverkehr über das Rückenmark ins Ge -<br />
hirn wird durch das Anschwellen des kavernösen Ge -<br />
we bes beeinflusst. Eine Berührung kann deshalb als<br />
bloße Berührung erlebt werden oder je nach dem Grad<br />
des Anschwellens sexuelle Qualität haben. Einige der<br />
genannten Nervenendigungen können von bestimmten<br />
Faktoren wie beispielsweise vom Hormonspiegel<br />
im Gewebe beeinflusst werden. In der oberen Vulva<br />
gibt es mehr Androgene und nahe der Vagina mehr<br />
Ös tro gene. Mit dem Übergang von der Vagina zur<br />
Vul va nehmen also die Androgenrezeptoren zu, wäh -<br />
rend Östrogen- und Progesteronrezeptoren abnehmen<br />
(Hodgins et al. 1998). Östrogenmangel kann zu einer<br />
veränderten Empfindungsqualität führen, so dass Be -<br />
rüh rung nicht als lustvoll, sondern als unangenehm<br />
erlebt wird.<br />
Schmerz- und druckempfindliche Nervenendigun -<br />
gen befinden sich in großer Zahl nicht nur in der Kli -<br />
toris, sondern auch in den kleinen und großen Scham -<br />
lippen (Krantz 1958). Taktile Nervenendigun gen be -<br />
finden sich besonders in den Labia majora, wo die In -<br />
nervation stärker den übrigen behaarten Haut par tien<br />
äh nelt. Die vibratorische Wahrnehmungs schwel le liegt<br />
hier bei 0,5 bis 1,5 µ (Lundberg & Hulter, unveröff.).<br />
Auch die klitorale Kälte- und Wär me empfindlichkeit<br />
lässt sich sehr exakt bestimmen. Die mittlere Schwelle<br />
liegt für Kälteempfindungen bei 35°C und für Wärme<br />
bei 38°C (Vardi et al. 2000). Die Kälteempfindlichkeit<br />
lässt sich sehr einfach testen, indem man ein paar<br />
Tropfen Olivenöl von Zim mertemperatur (21°C) auf<br />
die Klitoris tropft und die Vulva herablaufen lässt. Im<br />
oberen Teil der Vulva ist die Temperaturem pfindlich -<br />
keit größer als im Perine um.<br />
Die Klitoris kann zwei Reflexe hervorrufen, einen<br />
phasischen und einen tonischen. Der Bulbocave rno -<br />
sus-Reflex ist ein spinaler, somatischer und bilateraler
Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane 101<br />
phasischer Reflex. Der Reflexbogen geht durch den<br />
Nervus pudendus, und das Reflexzentrum befindet<br />
sich in den sakralen Rückenmarksegmenten 2-3. Der<br />
Reflex kann durch Berührung der Glans ausgelöst<br />
werden. Das führt zu einer Kontraktion des Bulboca -<br />
ver no sus und des äußeren Afterschließmuskels<br />
(Brind ley & Gillan 1982, Vodusek et al. 1983). Der<br />
tonische Reflex ist weniger gut erforscht. Die vibratorische<br />
Stimulation der Klitoris führt zur anhaltenden<br />
Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur (Gillan &<br />
Brindley 1979).<br />
Die Innervation der Vagina<br />
Eine Studie über die Innervation der vaginalen Häute<br />
hat festgestellt, dass die distalen Berei che der Schei -<br />
denwände mehr Nervenfasern haben als die proximalen<br />
(Hilliges et al. 1995). In der vorderen Wand fand<br />
sich eine sehr große Zahl von reich innervierten und<br />
nicht innervierten Blutgefäßen. Sie war dich ter innerviert<br />
als die hintere. Das stimmt mit frü he ren Unter -<br />
suchungen des Gebiets zwischen Urethra und Schei -<br />
denwand – der sogenannten Halban-Faszie – überein<br />
(Krantz 1958, Minh et al. 1981). Die Funktion der be -<br />
obachteten Nerven ließ sich nicht feststellen. Sie wurden<br />
aber als eine Mischung von sensiblen und autonomen<br />
Nerven betrachtet. Freie intraepiteliale Ner ven -<br />
en digungen fanden sich nur in der Region des<br />
Scheideneingangs und im Hymen (Krantz 1958). Die -<br />
se Nervenendigungen gelten vor allem als Schmerz -<br />
rezeptoren. Sie sind es wahrscheinlich, die durch Be -<br />
rüh rung nocizeptiven Schmerz (Hyperalgesie) z.B. bei<br />
Vestibulitis hervorrufen. Man hat gezeigt, dass die<br />
Zahl dieser Nervenendigungen, die das Neuropeptid<br />
CGRP (gene-related peptide) enthalten, in diesem be -<br />
sonderen Fall zunimmt (Weström & Willén 1998,<br />
Bohm-Starke et al. 1998, 1999).<br />
Weitere sensorische Rezeptoren hat man an verschiedenen<br />
Stellen der Scheidenwände und in deren<br />
Umgebung gefunden. In den Scheidenwandmuskeln<br />
wurden Muskelspindeln festgestellt. Es handelt sich<br />
um sensorische Organe, die darauf ansprechen, ob und<br />
wie schnell sich die Länge des Muskels verändert<br />
(Mould 1982). Man hat vermutet, dass die Dehnung<br />
des Ligamentum sacrouterinum der wichtigste Me -<br />
cha nismus für den weiblichen Orgasmus ist (Kakusch -<br />
kin 1930).<br />
Die Temperaturempfindlichkeit, insbesondere ge -<br />
gen Kälte, ist in diesem Körperteil von besonderer<br />
Bedeutung. Wir können durch diese sensorische Qua -<br />
lität im Rektum gasförmige, flüssige und feste Darm -<br />
inhalte unterscheiden (Miller et al. 1987). Das Unter -<br />
scheidungsvermögen für Berührungen ist in den inneren<br />
Beckenorganen nicht so entwickelt wie die Tem -<br />
peraturempfindung. Ein in die Vagina eingeführter<br />
Gegenstand lässt sich nach Größe und Form schwer<br />
un terscheiden, was auch von forensischer Bedeutung<br />
ist (Calmann 1898). Wie man weiß, erzeugt die Ein -<br />
führung eines runden Objekts – wie des Penis – in der<br />
Vagina weniger Unbehagen bzw. mehr sexuelle Erre -<br />
gung als ein asymmetrischer Gegenstand.<br />
Die vaginale Empfindlichkeit für elektrische Rei -<br />
ze hat man an Frauen untersucht (Weijmar Schultz et<br />
al. 1989) und dabei festgestellt, dass der Genitalbe -<br />
reich einschließlich der Klitoris für diese Art der Sti -<br />
mulation weniger empfindlich ist als die Hände. Die<br />
Scheidenwände über dem Eingang erwiesen sich als<br />
besonders unempfindlich. Eine besonders empfindsame<br />
Stelle fand man in der 12-Uhr-Position, das heißt<br />
in der vorderen Scheidenwand. Zur Untersuchung der<br />
vaginalen Empfindlichkeit wurden auch neurophysiologische<br />
Methoden entwickelt (Vardi et al. 2000). In<br />
der klinischen Praxis reicht es aber normalerweise<br />
aus, die Patientin zu fragen, ob der Stimulus links oder<br />
rechts in der Vagina auftritt. Wenn man einen Gegen -<br />
stand oder den Finger kurz gegen die vordere Schei -<br />
den wand drückt, was auch die Harnröhre stimuliert,<br />
können die meisten Patientiennen an der Urethra oder<br />
an der Blase eine Empfindung lokalisieren. Dieses<br />
Ge fühl deutet auf normale Sensibilität oder auf<br />
Hyperästhesie. Es wurden auch neurophysiologische<br />
Methoden zur Untersuchung der urethralen Sensibi li -<br />
tät entwickelt (siehe i.Überbl. Flink & Lundberg 1994<br />
u. 2002, Vodusek & Fowler 1999, Lundberg et al.<br />
2000).<br />
Tierversuche haben gezeigt, dass vaginale und zervikale<br />
Stimulation im Körper eine Reihe von physiologischen<br />
Reaktionen verursacht. Einer dieser Effekte<br />
ist die Ausbildung von Analgesie (Gomora et al.<br />
1994). Wenn die vordere Scheidenwand, der sogenannte<br />
G-Punkt-Bereich (Whipple 2000a), mechanisch<br />
intensiv stimuliert wird, steigt die Schmerz em -<br />
pfindlichkeits- und -toleranzschwelle im ganzen Kör -<br />
per erheblich an (Whipple & Komisaruk 1985, Ko -<br />
misa ruk & Whipple 1995, 2000). Mechanische Stimu -<br />
lierung kann auch in diesem Teil der Vagina sexuelle<br />
Erregung verursachen (Whipple 2000b). Diese Art der<br />
Stimulierung führt also zu Hypalgesie und nicht zu<br />
Hypästhesie.<br />
Eine solche Hypalgesie lässt sich weder durch<br />
Stimulierung der hinteren Scheidenwand noch durch<br />
Stimulierung der Klitoris erreichen. Bei Frauen tritt<br />
diese analgetische Funktion normalerweise bei der<br />
Ent bindung auf (Whipple et al. 1990). Die anatomischen<br />
Korrelate dieser physiologischen Kontroll -<br />
mecha nis men sind nicht vollständig bekannt. Die afferenten<br />
Bahnen verlaufen über die Beckennerven (bei<br />
Ratten: Peters et al. 1987), aber vermutlich auch über
102 P.O. Lundberg<br />
somatische Nervenfasern oberhalb des Beckenbodens<br />
nach S 3-4. Untersuchungen mit querschnittsgelähmten<br />
Ratten sprechen dafür, dass sich diese Schmerz -<br />
blockade über den Vagusnerv weiter vermittelt (Ko -<br />
misaruk et al. 1996).<br />
Die efferente Innervation<br />
Die Beckenbodenmuskulatur<br />
Der Beckenboden besteht aus zwei Schichten von<br />
quergestreiften Muskeln. Die äußere Schicht, das so -<br />
ge nannte Diaphragma urogenitale, befindet sich im<br />
vorderen Bereich, wo Urethra und Vagina hindurchgehen.<br />
Zweitens gibt es eine tiefere Schicht, das Dia -<br />
phragma pelvis, durch die auch das Rektum verläuft.<br />
Innerviert wird diese Muskulatur von den Onuf-Ker -<br />
nen in den sakralen Rückenmarksegmenten 2-5<br />
(Schrø der 1981). Daneben gibt es eine Reihe von<br />
Muskeln mit reiner Sphinkterfunktion. Sie haben zwei<br />
Typen von quergestreiften Muskelfasern von nur ge -<br />
rin gem Durchmesser (Schrøder & Reske-Nielsen<br />
1983). Die aeroben Fasern vom Typ 1 können eine<br />
lang anhaltende tonische Kontraktion hervorrufen.<br />
Da mit wird die Kontinenz aufrechterhalten. Die<br />
haupt sächlich glykolytischen Fasern vom Typ 2 können<br />
die Kontraktion rapide, aber kurzzeitig verstärken<br />
und auf diese Weise die Kontinenz in einer Stress-Si -<br />
tuation gewährleisten. Spontane Kontraktionen treten<br />
in der sexuell nicht stimulierten Vagina in Ruhe auf<br />
(Levin 1992).<br />
Die Beckenbodenmuskulatur verfügt über Östrogenrezeptoren<br />
(Smith et al. 1990). Ein Mindestgehalt<br />
an Östrogen im Gewebe ist für die Kontinenz notwendig.<br />
Auch in den Muskeln befinden sich Östrogenrezeptoren.<br />
Androgene sind für die Entwicklung der<br />
Beckenmuskeln von großer Bedeutung. Historisch<br />
war es eines der besten biologischen Testverfahren für<br />
Testosteron, die Zunahme dieser Muskelmasse bei<br />
Ratten zu messen. Die gestreifte Beckenbodenmus ku -<br />
latur wird (beim Diaphragma urogenitale) von unten<br />
durch den Nervus pudendus und (beim Musculus pu -<br />
bococcygeus) von oben (Lawson 1974, 1981) direkt<br />
durch die sakralen Segmente 3-5 des Plexus pudendus<br />
innerviert. Die Geburt kann die Muskeln und Nerven<br />
des Beckenbodens erheblich schädigen (Sultan et al.<br />
1994). Das lässt sich anhand von Messungen der terminalen<br />
motorischen Latenz des Nervus pudendus<br />
(Tetz schner et al. 1997) wie auch durch Elektromyo -<br />
graphie feststellen. In den meisten Fällen kommt es<br />
aber nach einer gewissen Zeit zu einer guten Rege -<br />
neration (Tetzschner et al. 1996). Eine normale und<br />
gesunde Beckenbodenmuskulatur gilt als wichtig<br />
sowohl für die Orgasmusfähigkeit wie auch für das<br />
Lustempfinden bei sexuellen Kontakten (Sultan &<br />
Chambles 1982).<br />
Nocizeptive Schmerzstimulation führt in diesem<br />
Bereich wie auch in vielen anderen Muskelpartien zu<br />
einer reflexogenen Muskelkontraktion. Anhaltende<br />
Kon traktionen der quergestreiften Muskeln verursachen<br />
normalerweise durch schlechte Oxygenierung<br />
und zunehmenden Milchsäuregehalt eine schmerzende<br />
und empfindliche Muskulatur. Diese Abwehr me -<br />
chanismen sind bei Frauen im Beckenboden häufig zu<br />
beobachten. Ein typisches Beispiel ist der nocizeptive<br />
Schmerz bei Vestibulitis und vielen anderen vulvovaginalen<br />
Störungen. Der versuchte Geschlechts -<br />
verkehr oder auch nur die Berührung der Schmerz -<br />
region mit einem Baumwolltupfer kann eine schmerzhafte<br />
Kontraktion der Beckenbodenmuskulatur – be -<br />
sonders des Levator ani oder des Pubococcygeus –<br />
bewirken. Eine wichtige Behandlungsmaßnahme<br />
könn te darin bestehen, dass man diesen Frauen beibringt,<br />
ihre Beckenbodenmuskulatur nicht nur zu kontrahieren,<br />
sondern vor allem zu entspannen (Glazer et<br />
al. 1995). Das geschieht am leichtesten in einer Po -<br />
sition, in der die Muskeln aktiv durch wechselseitige<br />
Inhibition entspannt werden.<br />
Klinisch lässt sich die quergestreifte Becken -<br />
boden muskulatur am besten durch Palpation untersuchen.<br />
Man kann aber auch eine Reihe von neurophysiologischen<br />
Techniken anwenden (Flink & Lundberg<br />
2002, Vodusek & Fowler 1999, Lundberg et al. 2001).<br />
Die Innervation des kavernösen Gewebes<br />
von Klitoris, Bulbi vestibuli, Labien und<br />
Vagina<br />
Die Glans clitoridis ist der Glans penis homolog, und<br />
die Crura clitoridis entsprechen den zwei Corpora ca -<br />
vernosa des Penis (Stilwell 1976). Glans und Crura<br />
ent halten beide kavernöses Gewebe und sind von<br />
einer festen Tunica umgeben. Dem männlichen Cor -<br />
pus spongiosum entsprechen die Bulbi vestibuli (Vor -<br />
hofschwellkörper), die zweigeteilt auf jeder Seite des<br />
urethralen und vaginalen Ausgangs sitzen. Diese<br />
Knollen haben bei Frauen sehr unterschiedliche<br />
Größe. Sie sollen sich mit der Häufigkeit des sexuellen<br />
Verkehrs vergrößern, was wissenschaftlich nicht<br />
nachgewiesen ist. Bei sexueller Stimulierung gibt es<br />
eine mehr oder minder ausgeprägte Klitoriserektion.<br />
Detaillerte Interviews von Frauen ergeben normalerweise,<br />
dass sie tatsächlich eine Erektion bemerkt ha -<br />
ben, allerdings nicht bei jedem Geschlechtsverkehr.<br />
Die Erektion der Klitoris muss mit der vaginalen<br />
Lubrikation zeitlich nicht zusammenfallen. Sie be -
Die periphere Innervation der weiblichen Genitalorgane 103<br />
nötigt normalerweise intensivere sexuelle Stimulation<br />
und steigert die sexuelle Erregung. Bestimmte Me -<br />
dikamente können bei der Klitoris ebenso wie eine<br />
Rei he von Rückenmarksstörungen einen echten Pria -<br />
pismus hervorrufen (Lundberg 1999).<br />
Die perineale Urethra ist in die vordere Scheiden -<br />
wand eingebettet und allseitig von vaskulärem Ge -<br />
webe umgeben, außer nach hinten, wo sie sich mit der<br />
vorderen Scheidenwand verbindet (O’Connell et al.<br />
1998). Dieses vaskuläre Gewebe kann als homolog<br />
mit dem proximalsten Teil des männlichen Schwell -<br />
körpers gelten.<br />
Der jeden der beiden Crura umgebende Musculus<br />
ischiocavernosus ist an der Erektion der Klitoris ebenfalls<br />
beteiligt. Bei sexueller Erregung erhöht sich das<br />
Blutvolumen in der klitoralen Vorhaut. Dieses Phäno -<br />
men bewirkt zusammen mit der tonischen Kontraktion<br />
des Musculus ischiocavernosus eine Hebung der Kli -<br />
toris, die zu verschwinden scheint. Die Neurosti mu -<br />
lation des Nervus pudendus führt bei Hunden zur<br />
Kom pression der Klitoris durch den Musculus ischiocavernosus<br />
(Diederichs et al. 1991). Der Musculus<br />
bulbocavernosus umgibt die Vorhofschwellkörper,<br />
geht dann weiter und schließt an der dorsalen Ober -<br />
fläche der Klitoris an. Die Muskeln umschlingen also<br />
von beiden Seiten die Klitoris. Wenn sie sich zusammenziehen,<br />
steigert sich die klitorale Erektion, indem<br />
die dorsale Klitorisvene zusammengedrückt wird.<br />
Dieser Mechanismus komprimiert auch das kavernöse<br />
Gewebe beiderseits des Scheideneingangs, die Bulbi<br />
vestibuli. Die passive Dilatation der Vagina bewirkt<br />
eine reflektorische Kontraktion von Musculus bulbocavernosus<br />
und ischiocavernosus (Shafik 1993). Die<br />
direkte vaginale Stimulation, z.B. durch Bewegungen<br />
des Penis, kann damit indirekt die Klitoris und die von<br />
ihr ausgehende sensorische Wahrnehmung affizieren.<br />
Die klitorale Elektromyographie indiziert eine<br />
sym pathische Aktivität des Klitoriskörpers. Diese<br />
Technik kann zur Feststellung sexueller Dysfunk -<br />
tionen bei Frauen von Nutzen sein (Yilmaz et al.<br />
2002).<br />
Die Innervation des kavernösen Gewebes entspringt<br />
durch die beidseitig verlaufenden kavernösen<br />
Nerven aus dem Beckengeflecht. Die elektrische Sti -<br />
mu lation der kavernösen Nerven bei Hunden erhöht<br />
die Durchblutung der Arteria pudenda interna und erigiert<br />
die Klitoris (Diederichs et al. 1991). Die kavernösen<br />
Nerven laufen unterhalb der Harnröhre durch<br />
den Beckenboden (O’Connell et al. 1998). Sie können<br />
deshalb durch bestimmte Formen der Inkontinenz-<br />
Chi rurgie beschädigt werden. Bei Ratten erhöht die<br />
Stimulation der Klitoris wie auch des Beckengeflechts<br />
die klitorale Durchblutung. Die vaginale Durch -<br />
blutung erhöht sich nur durch Stimulation des Becken -<br />
geflechts (Vachon et al. 2000). Bei Frauen steigert<br />
auch die elektrische Stimulation der Vorderwurzeln S2<br />
und S3 – nicht jedoch von S4 – die vaginale Durch -<br />
blutung (Levin & Macdonagh 1993).<br />
Neuropeptide und andere Neurotransmitter<br />
In der Klitoris gibt es eine starke peptiderge<br />
Innervation (Hauser-Kronberger et al. 1999). Ko-Lo -<br />
ka lisationsstudien haben deshalb in den Nervenfasern<br />
des kavernösen Gewebes die Koexistenz von VIP,<br />
PHM (peptide histidine methionine) und teilweise<br />
auch von Helospectin und Neuropeptid Y nachgewiesen,<br />
außerdem die Ko-Expression von Substanz P und<br />
CGRP in den Nervenfasern insbesondere unter- und<br />
innerhalb der Glans clitoris.<br />
VIP (vasoaktives intestinales Peptid) findet sich<br />
sowohl im Frankenhäuserschen Ganglion wie auch in<br />
den Nervenfasern der Vaginalhaut (Ottesen 1983). Die<br />
systemische Infusion von VIP erhöht ebenso wie die<br />
lokale Injektion in die Scheidenwand dosisabhängig<br />
die vaginale Durchblutung. Dies führt auch zur vaginalen<br />
Lubrikation (Ottesen et al. 1987). Se xuelle Sti -<br />
mulierung steigert im Blut den VIP-Gehalt (Ottesen<br />
1983). VIP hat physiologische Auswirkungen auf den<br />
Uterus. Es entspannt den Isthmus und bewirkt uterine<br />
Vasodilatation.<br />
VIP-haltige Nervenfasern wurden auch in oder bei<br />
den Gängen der paraurethralen Drüsen bzw. der weiblichen<br />
Prostata lokalisiert (Alm et al. 1980; i.Überbl.<br />
Zaviacic 1999). Diese Nerven können also bedeutsam<br />
für die Lubrikation der Urethra und damit für die<br />
weib liche Ejakulation sein, wobei es für diese Funk -<br />
tion in der Urethra noch weitere Kandidaten gibt – so<br />
die Freisetzung von Noradrenalin und die Stimulation<br />
von glattmuskulären Alpha-Adreno-Rezeptoren (An -<br />
ders son 2001). Drüsen und andere Körperstellen dieses<br />
Typs haben normalerweise Muskarinrezeptoren,<br />
die man auch in den Harnröhrenwänden gefunden hat.<br />
Auswertungen von negativen Reaktionen auf Medika -<br />
mente haben gezeigt, dass vulvo-vaginale Trockenheit<br />
ein typischer Nebeneffekt mindestens eines kompetitiven<br />
Muskarinrezeptor-Antagonisten ist (Lundberg &<br />
Ståhl i.Vorb.).<br />
Zwei weitere Peptide aus der gleichen vasoaktiven<br />
Peptidfamilie wie VIP, Helospectin und PACAP (hy -<br />
po physäres Adenylatzyklase aktivierendes Polypep -<br />
tid), fand man in den Haut der menschlichen Vagina<br />
und in den Wänden kleiner Gefäße (Graf et al. 1995).<br />
Auch die Peptide PHM (peptide histidine methi onine)<br />
und PHV (peptide histidine valine) sind in der<br />
menschlichen Vagina und Zervix vorhanden und biologisch<br />
aktiv (Palle et al. 1990, 1992). Stick oxid
104 P.O. Lundberg<br />
scheint für die klitorale Erektion wichtig zu sein, weil<br />
man die Immunoreaktivität der neuronalen Stick -<br />
oxidsynthase in den Nervenfasern und -bündeln der<br />
menschlichen Glans clitoris und in den klitoralen<br />
Schwellkörpern entdeckt hat (Burnett et al. 1997).<br />
Ganglienzellen wurden in den Adventitia um die Vagi -<br />
na entdeckt (Krantz 1958). Im oberen Drittel der Vagi -<br />
na sind sie häufig zwischen Blase und Scheidenwand<br />
anzutreffen. Die menschliche Vagina ist dicht von<br />
adre nergen Nerven sympathischer Herkunft innerviert<br />
(Owman et al. 1967). Cholinesterase-positive Nerven<br />
finden sich in der Umgebung der Blutgefäße. Para -<br />
zervikale Ganglien enthalten NADPH-Diaphorase-re -<br />
ak tive Nervenfasern, die offenbar durch die Freiset -<br />
zung von Stickoxiden eine wichtige Rolle für die Re -<br />
gulierung des vaskulären Tonus im Uterus spielen<br />
(Yoshida et al. 1995). In der bovinen Vagina fand man<br />
in der Scheidenwand und in den parazervikalen Gang -<br />
lien sowohl Substanz P, VIP und Neuropeptid Y wie<br />
auch NO (Lakomy et al. 1995, Majewski et al. 1995).<br />
Versuche mit Clonidin zur Unterdrückung der sympathischen<br />
Nerventätigkeit ergaben bei weiblichen Tie -<br />
ren wie auch bei Frauen, dass die Aktivierung des<br />
sym pathischen Nervensystems den vaskulären Part<br />
der anfänglichen sexuellen Erregung erleichtern kann,<br />
während dessen Inhibition ihn hemmen kann (Meston<br />
2000). Bei Tierversuchen (Kaninchen) hat man festgestellt,<br />
dass Angiotensin II über Angiotensin-Rezep -<br />
toren an der Regulierung des klitoralen kavernösen<br />
Glattmuskeltonus beteiligt ist (Park et al. 2000). Ni -<br />
trerge Transmission ist teilweise für die Entspannung<br />
verantwortlich (Cellek & Moncada 1998). Bei Ratten<br />
ko-exprimieren die zu vaskulären und nicht-vasku -<br />
lären glatten Muskeln gehenden Neuronen des Be -<br />
cken geflechts VIP und NPY (Houdeau et al. 1997).<br />
Bei Schweinen fand man in den uterus-innervierenden<br />
Neu ronen des parazervikalen Ganglions eine Reihe<br />
von biologisch aktiven Substanzen wie Tyrosin-Hy -<br />
droxylase, Neuropeptid Y, VIP, Galanin, Metenkepha -<br />
lin-Arg-Gly-Leu und CGRP (Wasowicz et al. 2002).<br />
Noradrenerge Neuronen haben offenbar keine große<br />
Bedeutung (Houdeau et al. 1995). Bei Menschen sind<br />
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Anschrift des Autors<br />
Prof. Per Olov Lundberg, Sexology Unit, Neurocenter University Hospital, S-751 85 Uppsala (Schweden), Tel. / Fax: +4618 611 5026<br />
mail: PO.Lundberg@neurologi.uu.se
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Die weibliche Prostata. Orthologie, Pathologie,<br />
Sexuologie und forensisch-sexuologische<br />
Implikationen *<br />
Milan Zaviacic<br />
The Women’s Prostate: Ortholo -<br />
gy, Pathology, Sexology and<br />
Forensic-Sexology Implications<br />
Abstract<br />
The female prostate lies in the wall of the female urethra.The<br />
mean weight of the prostate of the adult female<br />
is 5.2 g. In approximately 70 % of adult women the greatest<br />
amount of prostatic tissue is in the distal half of the<br />
female urethra (meatal type of the female prostate). This<br />
type of the female prostate as a new female erogenous<br />
tone is important for the female (coital) orgasm. The<br />
female prostate possesses histologically the same structure<br />
as the prostate of the male. Through the urethra female<br />
prostate discharge its content. Similarly as in the postpubertal<br />
male, ultrastructure of the prostatic glands in the<br />
adult female display mature secretory (luminal), basal<br />
(reserve) and intermediary cells. The female prostate has<br />
at least two main functions: exocrine, production of female<br />
prostatic fluid and neuroendocrine function. PSA is<br />
immunohistochemically expressed mainly in apically<br />
superficial layer of secretory cells of the female prostate<br />
gland. In clinical practice, PSA is a valuable marker in diagnosis<br />
and monitoring of diseases of the female prostate.<br />
The female prostate presents with the same diseases, but<br />
substantially less frequently than the male prostate. To the<br />
present time, considerable progress has been achieved<br />
especially in the problem of female prostate carcinoma. In<br />
sexology the female prostate with its secretion participate<br />
in the female ejaculation phenomenon, as a substantial<br />
source of female ejaculate. Despite the fact that G-Spot<br />
can be easily identified through the digital examination of<br />
the anterior wall of the vagina, we failed to find a special<br />
* The Human Female Prostate and its Role in Woman’s Life: Sexology<br />
Implications, Scand J Sex 2001, 4: 199-211. Aus dem Englischen von<br />
Dr. Thomas Laugstien. – Teile dieses Beitrags wurden beim 15. Welt -<br />
kongress für Sexologie in Paris (24.-28. Juni 2001) als Invited Lecture<br />
auf dem Plenarsymposium Desire and Pleasure Dysfunctions (Lei -<br />
tung: Beverly Whipple) vorgetragen.<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 107 – 115 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie<br />
morphological structure in the vagina at the place of G-<br />
spot. The biological phenomenon of female ejaculation<br />
was and remains an attractive phenomenon of female<br />
sexuality. At masturbation, petting activities and intercourse<br />
with partners of both genders due to stimulation of the<br />
G-spot under orgasm (and/or during female sexual arousal<br />
too) ejaculation from urethra can be relatively easily<br />
induced. Forensic-sexological implications concem the critique<br />
of the importance of acid phosphatase test in confirmation<br />
of rape, secretory mechanisms of the female<br />
prostate and importance of asphyxia for inducing female<br />
ejaculation. At the present time of forensic DNA analysis<br />
in alleged cases of rape, demonstrated enzymic tests on<br />
acid phosphatase have only historical and not judistical<br />
value.<br />
Keywords: The human female prostate, orthology, exocrine<br />
function, sexology implications, female ejaculation, G-<br />
spot, typology of female ejaculators, forensic sexology<br />
implications.<br />
Zusammenfassung<br />
Die weibliche Prostata befindet sich in der Wand der<br />
weiblichen Urethra. Ihr Durchschnittsgewicht liegt bei der<br />
erwachsenen Frau bei 5,2 g. Das Prostatagewebe befindet<br />
sich bei ungefähr 70% der erwachsenen Frauen in der<br />
distalen Hälfte der Urethra. Dieser „meatale Typ“ der<br />
weiblichen Prostata ist als eine weitere erogene Zone<br />
wichtig für den weiblichen (koitalen) Orgasmus. Histolo -<br />
gisch hat die weibliche Prostata die gleiche Struktur wie<br />
die männliche. Sie entleert sich durch die Harnröhre. Ähnlich<br />
wie beim postpubertären Mann weisen die Prostata -<br />
drü sen bei der erwachsenen Frau reife (luminale) Sekre -<br />
tionszellen, basale (Reserve-)Zellen und intermediäre Zel -<br />
len auf. Die weibliche Prostata hat mindestens zwei<br />
Haupt funktionen: die exokrine Produktion weiblicher Pros -<br />
ta ta flüssigkeit und eine neuroendokrine Funktion. PSA<br />
wird immunhistochemisch vor allem in der apikalen<br />
Oberflächenschicht der Sekretionszellen ausgedrückt. Es<br />
ist in der klinischen Praxis ein wertvoller Marker zur Dia -<br />
gno se und Beobachtung von Erkrankungen. Die weibliche
108 M. Zaviacic<br />
Prostata weist die gleichen Krankheiten wie die männliche<br />
auf, die aber erheblich seltener auftreten. Besonders beim<br />
weiblichen Prostatakarzinom sind derzeit erhebliche Fort -<br />
schritte zu verzeichnen.<br />
In sexuologischer Hinsicht ist die weibliche Prostata<br />
mit ihrer Sekretion als Hauptquelle des weiblichen Eja -<br />
kulats am Phänomen der weiblichen Ejakulation beteiligt.<br />
Obwohl sich der G-Punkt durch digitale Untersuchung der<br />
äußeren Scheidenwände leicht identifizieren lässt, konnten<br />
wir in der Vagina an dieser Stelle keine spezielle Mor -<br />
phologie ausmachen. Das biologische Phänomen der<br />
weib lichen Ejakulation ist und bleibt ein attraktives Phä -<br />
nomen der weiblichen Sexualität. Durch Masturbation,<br />
Pet ting und im Verkehr mit Partnern beiderlei Geschlechts<br />
ist sie durch Stimulation des G-Punkts beim Orgasmus<br />
(und/oder auch während der sexuellen Erregung) relativ<br />
leicht herbeizuführen. Die forensisch-sexuologischen Im -<br />
pli kationen betreffen die Kritik an der Bedeutung des sauren<br />
Phosphatase-Tests beim Vergewaltigungsbefund, die<br />
Ausscheidungsvorgänge der weiblichen Prostata und die<br />
Bedeutung der Asphyxie bei der Herbeiführung der weiblichen<br />
Ejakulation. Beim gegenwärtigen Stand der forensischen<br />
DNA-Analyse hat der Enzymtest bezüglich der sauren<br />
Phosphatase nurmehr historische und keine juristische<br />
Bedeutung.<br />
Schlüsselwörter: Weibliche Prostata, Orthologie, exokrine<br />
Funktion, sexuologische Implikationen, weibliche Ejakula -<br />
tion, G-Punkt, Typologie weiblicher Ejakulatoren, forensisch-sexuologische<br />
Implikationen.<br />
In der Forschung zu Beginn des drittens Jahrtausends<br />
stellt sich die weibliche Prostata * als ein urogenitales<br />
Organ der Frau dar, das in seiner Struktur, in seinen<br />
Funk tionen (der exokrinen Produktion von Prostata -<br />
flüs sigkeit und der neuroendokrinen Funktion), in seiner<br />
Ausstattung mit prostataspezifischem Antigen<br />
(PSA) und in seiner Pathologie der männlichen<br />
Prostata ähnelt (Zaviacic & Whipple 1993, Zaviacic<br />
1997, Zaviacic & Ablin 1998, Zaviacic 1999, Zaviacic<br />
& Ablin 2000, Zaviacic et al. 2000a & b).<br />
Vergleich zur männlichen Prostata darstellt, die die<br />
Urethra umgibt. Histologisch weist sie die gleichen<br />
Strukturen wie die männliche auf, nämlich Drüsen<br />
(Abb. 1), Gänge (Abb. 2) und Glattmuskelzellen<br />
(Mus kelfasergewebe, Abb. 1 und 2). Die Gänge der<br />
weiblichen Prostata sind zahlreicher als ihre Drüsen<br />
und übertreffen auch die Zahl der männlichen Pros -<br />
tatagänge. Sie enthält auch mehr Muskelfasergewebe<br />
als die männliche Prostata. Die (paraurethralen) Gän -<br />
ge münden nicht etwa an den Seiten der weiblichen<br />
Harnröhre in die Vulva (Skene 1880), sondern durchdringen<br />
das Lumen der Urethra in voller Länge (Huff -<br />
man 1948, Zaviacic et al. 1983 u. 2000a, Wernert et al.<br />
1992). Durch die Urethra entleert sich die weibliche<br />
Prostata.<br />
Das Durchschnittsgewicht der weiblichen Prostata<br />
liegt bei der erwachsenen Frau bei 5,2 g und entspricht<br />
einem Fünftel bis einem Viertel des Gewichts der<br />
Prostata beim erwachsenen Mann. Ihre Größe beträgt<br />
3,3 cm (Länge) x 1,9 cm (Breite) x 1 cm (Höhe). Wenn<br />
wir den meatalen Typus (Abb. 3), bei dem sich das<br />
meiste Prostatagewebe in der distalen Hälfte der weiblichen<br />
Urethra befindet (Huffman 1948, Zaviacic et al.<br />
1983, Zaviacic 1999, Zaviacic et al. 2000a), als den<br />
häufigsten Typ ansehen (der sich bei über 66% der<br />
Frauen findet), dann wiegt sie 2,6 bis 5,2 g. Das entspricht<br />
ungefähr einem Zehntel bis einem Viertel des<br />
Durchschnittsgewichts der Prostata beim erwachsenen<br />
Mann.<br />
Abb. 1: Weibliche Prostatadrüsen in vaskularisiertem Muskelfaserge webe.<br />
(52-jährige Frau, HE, x 360)<br />
Gewicht, Größe, Makroanatomie<br />
und Histologie<br />
Die weibliche Prostata befindet sich in der<br />
Harnröhrenwand, die ihren Umfang begrenzt und auch<br />
den wichtigsten makroskopischen Unterschied im<br />
* Das Federative International Committee on Anatomical Terminology<br />
(FICAT) hat 2001 auf seiner Tagung in Orlando (Florida/USA) be -<br />
schlossen, den Begriff „weibliche Prostata“ in die nächste Ausgabe der<br />
Histology Terminology aufzunehmen. Diese Entscheidung verbietet es,<br />
zur Bezeichnung der Prostata bei der Frau weiterhin vom Ductus paraurethralis<br />
oder von Skene-Drüsen und -Gängen zu sprechen.<br />
Prostataspezifisches Antigen und<br />
die weibliche Prostata<br />
PSA ist derzeit der am häufigsten verwendete Marker,<br />
um normales und pathologisch verändertes Prosta ta -<br />
ge webe nicht nur bei Männern, sondern auch bei<br />
Frauen zu unterscheiden. Immunhistochemisch lokalisiert<br />
sich PSA vor allem auf der apikalen Ober flä chen-
Die weibliche Prostata 109<br />
Abb. 2: Kleiner Gang der weiblichen Prostata mit pseudostratifiziertem<br />
kolumnärem Epithel in der Auskleidung des Gangs. Das Prostatasekret ist<br />
im Lumen erkennbar. Der Gang ist von Muskelfasergewebe umgeben. (31-<br />
jährige Frau, HE, x 175)<br />
Abb. 3: „Vorderer (meataler)“ Typ der weiblichen Prostata nach dem<br />
Wachs modell von Huffman (1948).<br />
zo ne der sekretorischen Zellen der weiblichen Prosta -<br />
ta drüse und auf der Oberfläche des Urothels in anderen<br />
Partien des Urogenitaltrakts (Pollen & Dreilinger<br />
1984, Tepper et al. 1984, Sloboda et al. 1998, Zaviacic<br />
& Ablin 2000). Mit ihrer exokrinen Funktion, der<br />
Produktion weiblicher Prostataflüssigkeit, trägt die<br />
weib liche Prostata zur Bildung des weiblichen Eja -<br />
kulats bei. Cabello (1997) hat bei denselben Frauen<br />
vor und nach dem Orgasmus unterschiedliche PSA-<br />
Werte im Urin nachgewiesen. Die höheren PSA-Werte<br />
nach dem Orgasmus (über 30 ng/ml) erklären sich<br />
dadurch, dass der Inhalt der Prostata beim Orgasmus<br />
mit rhythmischen Muskelkontraktionen in der Umge -<br />
bung der Urethra durch die Gänge in die Urethra ge -<br />
presst wird. Die gesunde Frau mit normaler Prostata<br />
weist ein breites Spektrum von PSA-Serum-Werten<br />
von faktisch nicht feststellbaren Mengen bis hin zu<br />
den höchsten berichteten Werten von bis zu 0,9 ng/ml<br />
auf (Borchert et al. 1997). Erhöhte PSA-Serum-Werte<br />
können aus pathologischen Veränderungen herrühren,<br />
z.B. bei Prostatakarzinomen, bei denen Werte von bis<br />
zu 5,9 ng/ml feststellbar sind (Dodson et al. 1994). Die<br />
Zunahme kann sich aber auch durch eine Summierung<br />
der Werte ergeben, die aus der PSA-Produktion der<br />
nor malen oder pathologischen weiblichen Prostata<br />
und aus PSA von möglicherweise nicht-prostatischem<br />
Gewebe stammen, zum Beispiel bei weiblichen Brust -<br />
erkrankungen (Zaviacic 1999 und die dort angeführten<br />
Nachweise).<br />
Die Ultrastruktur der weiblichen<br />
Prostatadrüse<br />
Die Ultrastrukturanalyse der normalen Prostatadrüse<br />
der erwachsenen Frau zeigt unter dem Transmissions-<br />
Elektronenmikroskop, dass die Prostatadrüsen der er -<br />
wachsenen Frau wie beim postpubertären Mann reife<br />
Sekretions- und Basalzellen aufweisen. Der in der<br />
Aus kleidung ihres Lumens vorherrschende Zelltypus<br />
sind hohe zylindrische (luminale) Sekretionszellen<br />
ähn lich wie bei den männlichen Prostatadrüsen. Auf<br />
der Oberfläche der weiblichen Sekretionszellen finden<br />
sich kurze, stummelige Kleinzotten und Protuberan -<br />
zen des apikalen Zytoplasma mit Bläschenbildung.<br />
Zahlreiche sekretorische Vakuolen und Granulome,<br />
rauhes endoplasmatisches Retikulum, entwickelte<br />
Gol gi-Apparate und zahlreiche Mitochondria sind<br />
cha rakteristisch für ihre aktive sekretorische Kon -<br />
figuration mit apokriner (apikale Bläschen) und merokriner<br />
Sekretion (sekretorische Vakuolen und Granu -<br />
lome). Basale (Reserve-)Zellen wurden zwischen den<br />
Sekretionszellen und der Basalmembran festgestellt.<br />
Ihr Zytoplasma enthält rauhes endoplasmatisches Re -<br />
ti kulum und Mitochondria, aber keine sekretorischen<br />
Elemente (sekretorische Vakuolen und Granulome).<br />
Neben den zwei Grundtypen der reifen Prostatazellen<br />
wurden zwischen Basal- und Sekretionszellen oder in<br />
ihrer unmittelbaren Umgebung auch intermediäre Zel -<br />
len lokalisiert. Die Entdeckung von intermediären<br />
Zel len in der Auskleidung der Prostatadrüsen verweist<br />
auf die Funktion der basalen (Reserve-)Zellen für die<br />
Zellerneuerung in den weiblichen Prostatadrüsen. Die<br />
Ergebnisse der elektronenmikroskopischen Untersu -<br />
chung haben die heutige Auffassung von der weiblichen<br />
Prostata als einem funktionalen urogenitalen Or -<br />
gan nachdrücklich bestätigt (Zaviacic et al. 2000b).<br />
Die Krankheiten der weiblichen<br />
Prostata<br />
Durch das chronische Desinteresse der Urologen, Gy -<br />
nä kologen und gynäkologischen Urologen wie auch<br />
der Pathologen an diesem Organ wurde die Pathologie<br />
der weiblichen Prostata lange vernachlässigt. Sie<br />
weist dieselben Krankheiten wie die männliche auf,
110 M. Zaviacic<br />
die aber erheblich seltener auftreten. Dazu gehört die<br />
benigne weibliche Prostata-Hyperplasie (Folsom &<br />
O’Brien 1943, Sesterhenn et al. 1998), die Prostatitis<br />
bzw. das weibliche urethrale Syndrom (Gittes & Na -<br />
ka mura 1996) und das Prostatakarzinom (Zaviacic et<br />
al. 1993a, Sloboda et al. 1998 und die dort angegebenen<br />
Nachweise).<br />
Gegenüber den vor fünfzig Jahren veröffentlichten<br />
klinischen Untersuchungen von Huffman (1951) können<br />
wir erhebliche Fortschritte nur beim weiblichen<br />
Prostatakarzinom verzeichnen. Die morphologische<br />
Ähn lichkeit zwischen dem Adenokarzinom der weiblichen<br />
Urethra und dem männlichen Prostatakarzinom<br />
ist seit Jahrzehnten bekannt (Huffman 1951). Man hat<br />
im allgemeinen angenommen, dass der urethrale Drü -<br />
sen krebs bei Frauen aus den Skene-Gängen und -Drü -<br />
sen der weiblichen Prostata herrührt (ebd., Zaviacic et<br />
al. 1993a). Die Resultate von Svanholm et al. (1987),<br />
Spencer et al. (1990), Zaviacic et al. (1993a), Dodson<br />
et al. (1994), Ebisuno et al. (1995), Miyai & Ebisuno<br />
(1995), Oliva & Young (1996), Sloboda et al. (1998)<br />
und Sesterhenn et al. (1998) bezüglich der PSA- und<br />
PSAP-Positivität bei kanzerösen weiblichen Prostata -<br />
zellen haben zur Diagnose dieses Karzinomtyps entscheidend<br />
beigetragen.<br />
Der immunhistochemische Ausdruck des Prostata -<br />
mar kers PSAP im kanzerösen weiblichen Prostatage -<br />
webe ist nicht mit dem diagnostischen Wert von PSA<br />
zu verwechseln. Anders als das hochspezifische PSA<br />
reagiert PSAP mit vielen anderen Geweben (siehe Za -<br />
viacic et al. 1993a). Für die Pathologen ist eine positive<br />
immunhistochemische PSA-Färbung in kanzerösen<br />
weiblichen Prostatazellen ein wichtiger Indikator, um<br />
„wirkliche“ Prostata-Adenokarzinome von anderen<br />
Ade nokarzinomen der weiblichen Urethra zu unterscheiden<br />
(Sloboda et al. 1998 und die dort angegebenen<br />
Nachweise). Die Letzteren sind PSA-negativ und<br />
treten häufig am urethralen Divertikel auf (Oliva &<br />
Young 1996, Amin & Young 1997). Sie gelten nicht<br />
als prostatisch bedingt (entstammen also nicht der<br />
weiblichen Prostata), sondern sollen mesonephrisch<br />
bedingt sein (Sloboda et al. 1998). Bis heute hat man<br />
aufgrund von PSA-positiven Krebszellen über 25 Fäl -<br />
le von weiblichen Prostatakarzinomen berichtet, ob -<br />
wohl die tatsächliche Zahl zweifellos höher liegt. Erst<br />
seit Anfang der neunziger Jahre werden Tumore der<br />
weiblichen Urethra (bzw. der weiblichen Prostata)<br />
routinemäßig auf PSA untersucht. Wahrscheinlich<br />
wurden deshalb viele Fälle von weiblichem Prosta -<br />
takrebs ohne PSA-Test als Adenokarzinomfälle der<br />
weiblichen Urethra publiziert.<br />
Bei anderen Erkrankungen der weiblichen Pros -<br />
tata wie der benignen Prostata-Hyperplasie und der<br />
Prostatitis (dem weiblichen urethralen Syndrom) be -<br />
ruhen unsere Erkenntnisse hauptsächlich auf Fallstu -<br />
dien, während eine systematische Beschreibung dieser<br />
Krankheiten noch aussteht.<br />
Die Evaluierung der Inzidenz von Prostataerkran -<br />
kungen bei Frauen und die moderne Auffassung der<br />
weiblichen Prostata, die in ihr kein rudimentäres, sondern<br />
ein funktionales urogenitales Organ sieht, eröffnet<br />
für die klinische Untersuchung und Therapie der<br />
Er krankungen dieses weiblichen Organs neue Mög -<br />
lichkeiten.<br />
Die exokrine Funktion der weiblichen<br />
Prostata<br />
Die exokrine Funktion der weiblichen Prostata – die<br />
Produktion von Prostataflüssigkeit als Bestandteil des<br />
weiblichen Ejakulats (urethral ausgestoßener Flüssig -<br />
keit und Flüssigkeit, die durch kontinuierliche oder<br />
stimulierte Sekretion der weiblichen Prostata austritt)<br />
– hat Konsequenzen für die gynäkologische Urologie,<br />
für die Chronobiologie, für die forensische Medizin,<br />
für die Sexuologie, für die forenische Sexuologie und<br />
möglicherweise auch für die Reproduktionsmedizin.<br />
Sie betreffen die weibliche Inkontinenz (Zaviacic et<br />
al. 1987a), die Ausscheidungsmechanismen der weiblichen<br />
Prostata (Zaviacic et al. 1988c), den forensischen<br />
Vergewaltigungsnachweis (Tepper et al. 1984,<br />
Zaviacic et al. 1987a), die exfoliative hormonale Urin -<br />
zytologie (Zaviacic et al. 1984a&b) und andere Pro -<br />
bleme. Wer sich für diese Konsequenzen interessiert,<br />
sei auf das Buch und die CD von Zaviacic (1999) verwiesen.<br />
Sexuologische Implikationen<br />
Das biologische Phänomen der weiblichen Ejakula -<br />
tion war immer ein reizvoller Bestandteil der traditionellen<br />
Sexualkulturen im alten Indien (siehe das<br />
Anan ga-Rang aus dem 16. Jahrhundert), in Japan wie<br />
auch in anderen Regionen von Asien, Afrika (Stifter<br />
1988) und China (Pfister 2001). Das Ananga-Rang<br />
enthält eine detaillierte Anatomie der weiblichen Ge -<br />
ni talien mit Darstellungen der erotisch besonders sensiblen<br />
Region (saspanda nadi), deren (penokoitale)<br />
Stimulation bei der Frau besonders viel „Liebes saft“<br />
produziert (Samak 1997). Topologisch entspricht das<br />
Saspanda nadi der von Gräfenberg (1950) be schrie -<br />
benen erogenen Vaginalzone, die von Perry und<br />
Whipp le (1981) als „G-Punkt“ in die Sexualwissen -<br />
schaft eingeführt wurde.<br />
Die Rolle und die Bedeutung des G-Punkts im<br />
heutigen Sexualleben der Frau wurde von Whipple<br />
(1994) untersucht. Die penokoitale, digitale oder
Die weibliche Prostata 111<br />
durch einen Dildo (ein künstliches Glied) herbeigeführte<br />
Stimulation des G-Punkts, die durch die vordere<br />
Scheidenwand verspürt wird, führt zu einem Or -<br />
gasmus, bei dem eine milchig-opaleszierende Flüssig -<br />
keit aus der Urethra austritt. Diese Art des Austretens<br />
hat ebenso wie die Ähnlichkeit der urethralen Flüs -<br />
sigkeit mit dem männlichen Ejakulat dazu geführt,<br />
dass dieses Phänomen als weibliche Ejakulation (urethral<br />
expulsions) bezeichnet wurde. Die langdauernde<br />
Kontroverse, ob zwischen der weiblichen Prostata und<br />
diesem Ejakulationsphänomen ein Zusammenhang<br />
besteht, dürfte endgültig beigelegt sein. Durch den<br />
Nachweis von prostatischen Komponenten (insbesondere<br />
PSA) in der weiblichen Ejakulationsflüssigkeit<br />
steht fest, dass die weibliche Prostata eine Haupt -<br />
quelle für den urethralen Flüssigkeitsausstoß ist (Se -<br />
vely & Bennett 1978, Zaviacic 1999).<br />
Cabello (1997) hat unterschiedliche prä- und<br />
nach or gasmische PSA-Werte im Urin nachgewiesen,<br />
die darauf zurückzuführen sind, dass beim Orgasmus<br />
durch rhythmische Kontraktion der in der Harnröh -<br />
renumgebung befindlichen Muskeln PSA-haltige Prostatainhalte<br />
ausgestoßen werden. Offenbar können sich<br />
dabei unterschiedliche (vaginale und klitorale) Sti mu -<br />
lationsformen auf die PSA-Werte im weiblichen Eja -<br />
kulat auswirken. Bei der Selbstmassage der Ure thra<br />
über die vordere Scheidenwand durch freiwillige Ver -<br />
suchspersonen – eine Manipulation ähnlich der trans -<br />
rektalen Friktion der männlichen Prostata zur Ge win -<br />
nung männlicher Prostataflüsigkeit – kann das weib -<br />
liche Ejakulat außerordentliche hohe PSA-Werte von<br />
7,0 bis 33,0 ng/ml erreichen (Zaviacic T. jun., unveröff.).<br />
Cabello (2001) nimmt sogar an, dass auch die für<br />
die sexuelle Erregung der Frau (nach dem EPOR-<br />
Modell) charakteristische Lubrikation durch die Aus -<br />
schüttung weiblichen Prostatasekrets veranlasst wird.<br />
Obwohl sich der G-Punkt bei der gynäkologischsexuologischen<br />
Untersuchung durch digitales Ab -<br />
tasten der Vagina leicht identifizieren lässt (Zaviacic<br />
et al. 1988b), konnten wir an dieser Stelle entgegen<br />
unseren Erwartungen keine spezielle Morphologie<br />
ent decken, die in anderen Partien der vorderen Schei -<br />
denwand fehlt (Zaviacic et al. 1999). Anfang der achtziger<br />
Jahre hat man vermutet, der G-Punkt könne ein<br />
Bestandteil der Halban-Faszie sein (Minh 1981).<br />
Dann meinten Lenck & Vanneuville (1992), er sei mit<br />
dem urethralen Sphinkter identisch. Birnholz (2001)<br />
hat durch ultrasonographische Untersuchung nachgewiesen,<br />
dass die distalen Crura der Klitoris in der ge -<br />
genüber der vorderen Scheidenwand proximalen Em -<br />
pfindungszone an der als G-Punkt bekannten Stelle<br />
enden. Das könnte darauf hindeuten, dass das klitorale<br />
Schwellkörpergewebe an der Struktur des G-Punkts<br />
teilhat, und es könnte auch das lokale Anschwellen bei<br />
der Stimulation und das Abschwellen nach dem Or -<br />
gasmus erklären.<br />
Obwohl über die antomische Grundlage des G-<br />
Punkts weiterhin Unklarheit herrscht, gibt es keinen<br />
Zweifel, dass er als eine durch die vordere Scheiden -<br />
wand verspürte hochwirksame erogene Zone existiert.<br />
Es ist erstaunlich, dass dies noch immer bestritten<br />
wird. Das letzte Beispiel dürfte Hines (2001) sein, der<br />
in seinen Ausführungen bewusst alle bisher veröffentlichten<br />
Beiträge beiseite lässt, die sich zu seiner Exis -<br />
tenz positiv äußern.<br />
Das Ejakulationsphänomen lässt sich am einfachsten<br />
und normalerweise auch ohne Probleme durch<br />
Stimulation des G-Punkts herbeiführen. Die urethral<br />
aus gestoßene Flüssigkeit enthält Bestandteile der<br />
weib lichen Prostata, insbesondere prostataspezifisches<br />
Antigen, das auf die Beteiligung der Prostata an<br />
der Bildung des weiblichen Ejakulats hinweist. Wir<br />
ver muten, dass es sich dabei nicht um das Resultat<br />
einer direkten Stimulation der weiblichen Prostata<br />
han delt, sondern eher um einen indirekten Mecha -<br />
nismus, der den Inhalt der Prostata durch den Druck<br />
der Schwellkörpergewebe hinauspresst, die während<br />
der sexuellen Erregung und in den weiteren Phasen<br />
der weiblichen Sexualreaktion besonders durch die<br />
rhyth mischen orgasmischen Kontraktionen der die<br />
Ure thra umgebenden Muskeln anschwellen.<br />
Der Hauptteil des weiblichen Prostatagewebes<br />
(der sog. vordere, meatale Typ der weiblichen Pros ta -<br />
ta, der sich bei 66 % aller Frauen findet; Zaviacic et al.<br />
2000a, Zaviacic & Ablin 2002) liegt im distalen Teil<br />
der Urethra hinter ihrem Meatus und entspricht nicht<br />
der topologischen Situierung des G-Punkts mit seiner<br />
Ausrichtung auf die hintere Harn röhrengegend und<br />
den Harnblasenhals. Nur bei 10 % der Frauen befindet<br />
sich der Haupt teil des Pros tatage webes in dieser<br />
Region (hinterer Typ der weiblichen Prostata; vgl.<br />
ebd.). Bei dieser relativ kleinen Perso nen zahl gab es<br />
einen Zu sammenhang zwischen dem Hauptteil des<br />
weiblichen Prostatagewebes und der La ge des G-<br />
Punkts (Zaviacic et al. 2000a). Eichel (1997) und<br />
Eichel et al. (1988, 2001) haben darauf aufmerksam<br />
gemacht, dass der mea tale Typ der weiblichen Prostata<br />
wichtig ist für den koitalen Or gasmus, bei dem der<br />
vordere Teil der weiblichen Ure thra, wo sich der<br />
Hauptteil des Pros tatagewebes befindet, durch Druckund<br />
Gegendruck der Genitalregionen von Mann und<br />
Frau direkt stimuliert wird. Eichel lenkt unsere Auf -<br />
merksamkeit also vom G-Punkt im klassischen Ver -<br />
ständnis auf den Scheideneingang, auf den der urethrale<br />
Meatus und der Beginn der vorderen Urethra<br />
zulaufen.<br />
Das biologische Phänomen der urethralen Expul -<br />
sio nen ist bei der Frau nicht unmittelbar mit der Re -
112 M. Zaviacic<br />
pro duktion verbunden. Es ist und bleibt aber ein at -<br />
traktives Phänomen weiblicher Sexualität, bei dem<br />
sich die weibliche Prostata ejakulatorisch entleert.<br />
Durch Mas turbation oder partnerbezogenes Petting<br />
lässt sich der Orgasmus und die damit verbundene<br />
Ejakulation digital oder mittels speziell geformter Vi -<br />
bra toren zur Sti mulierung des G-Punkts relativ leicht<br />
herbeiführen.<br />
Aufgrund unserer Resultate bei der digitalen Sti -<br />
mulation des G-Punkts unter Laborbedingungen ha -<br />
ben wir drei Reaktionstypen auf diese Art der Sti -<br />
mulation beschrieben. Sie unterschieden sich nach der<br />
Dauer der Stimulation, nach der Reaktion auf die digitale<br />
G-Punkt-Massage und in Bezug auf den Höhe -<br />
punkt mit dem urethralen Flüssigkeitsausstoß. Die<br />
Grup pe mit „relativ schwer herbeizuführender Ex -<br />
pulsion“ erreichte die Ejakulation nach längerer G-<br />
Punkt-Massage auf dem Höhepunkt des Orgasmus.<br />
Die Gruppe mit „leicht herbeizuführender Expulsion“<br />
war mit der eigentlichen Stimulationstechnik am we -<br />
nigsten beschäftigt. Obwohl die Versuchspersonen<br />
die ser Gruppe ihre Empfindungen bei der Ejakulation<br />
als ein angenehmes Gefühl sexueller Erregung schilderten,<br />
unterschieden sie dieses Gefühl strikt von den<br />
Empfindungen bei dem durch Stimulierung der Kli -<br />
toris erreichten Orgasmus. Zwischen diesen beiden<br />
Ex tremen gab es eine „mittlere Gruppe“ (im Einzel -<br />
nen siehe Zaviacic et al. 1988b).<br />
Wenn der klitoral-labiale Komplex stimuliert<br />
wird, tritt die Ejakulation nach längerer sexueller Ab -<br />
stinenz oder bei oral-genitalem Kontakt (beim Cunni -<br />
lingus oder Lecken der Vulva) nach einer übermäßig<br />
ausgedehnten Plateauphase mit wiederholten Orgas -<br />
musschwierigkeiten auf. Manche Frauen induzieren<br />
die Expulsionen durch suprapubische Massage des<br />
Harn blasenhalses mittels Druck oder Reiben mit den<br />
Fingern im Spatium praevesicale Retzii. Eine solche<br />
Patientin erklärte sich bereit, an der klinischen Studie<br />
zum Fruktosenachweis in der weiblichen Ejakulation<br />
mitzuwirken (Zaviacic et al. 1988a).<br />
Forensisch-sexuologische<br />
Implikationen<br />
Die forensisch-sexuologischen und forensisch-medizinischen<br />
Aspekte des weiblichen Ejakulats (mit dem<br />
weiblichen Prostatasekret) und des weiblichen Eja -<br />
kulationsphänomens betreffen mindestens drei Ge -<br />
biete:<br />
! die Kritik an der Bedeutung der sauren Phospha -<br />
tase als Enzymtest beim Vergewaltigungsbefund;<br />
! die Untersuchung der Sekretionsmechanismen<br />
der weiblichen Prostata;<br />
! die Bedeutung der Asphyxie bei der Herbei füh -<br />
rung der weiblichen Ejakulation.<br />
Beim forensischen Vergewaltigungsnachweis hat sich<br />
her ausgestellt, dass der Enzymtest auf saure Phos -<br />
phatase (Rüsfeld 1946, Kaye 1947), der mit seinen<br />
quan titativen Modifikationen aus den siebziger Jahren<br />
(Schumann et al. 1976, Findley 1977) zur Feststellung<br />
von Spermaspuren bei fehlenden Spermatozoen (im<br />
Falle von Männern mit Azoospermie oder nach einer<br />
Va sotomie) Verwendung findet, für sich allein forensisch<br />
nicht relevant ist. Die Lage hat sich auch nicht<br />
da durch verbessert, dass als zusätzliche Parameter der<br />
Nachweis von Spermin und Fruktose verlangt wurde<br />
(Zaviacic et al. 1987a). Bezüglich der sauren Phospha -<br />
tase wurden die gleichen positiven Werte in weiblichen<br />
Ejakulatspuren (Zaviacic et al. 1987b) und in ge -<br />
tragener weiblicher Unterwäsche festgestellt (Zavia -<br />
cic et al. 1988c). Diese Spuren mit positiven sauren<br />
Phos phatase-Werten finden sich schon nach 24 Stun -<br />
den am Ausgang der Harnröhre. Wird die Wäsche länger<br />
getragen, wandern sie distal bei zunehmend positivem<br />
Enzymtest in den Scheideneingang. Es hat sich<br />
bestätigt, dass diese Spuren in getragener Unter -<br />
wäsche aus kontinuierlicher weiblicher Prostatase kre -<br />
tion herrühren. Sie sind ausschließlich weiblichen Ur -<br />
sprungs, ohne dass ein Mann irgendwie daran beteiligt<br />
ist (siehe im Einzelnen Zaviacic et al. 1987b, 1988c).<br />
Unsere Befunde waren Ende der achtziger Jahre<br />
hochaktuell und trugen zu einer kritischen Ein -<br />
schätzung der Bedeutung der sauren Phosphatase für<br />
die forensische Medizin bei. Heute, in der Zeit forensischer<br />
DNA-Analysen zur Feststellung biologischer<br />
Spuren nach Vergewaltigungen und ähnlichen Ver bre -<br />
chen, haben die makroenzymatischen Befunde nurmehr<br />
historischen und keinen juristischen Wert.<br />
Der Nachweis der kontinuierlichen Sekretion der<br />
weiblichen Prostata analog zur kontinuierlichen Se -<br />
kre tion der männlichen (Mann 1974) ergibt sich aus<br />
unseren forensischen Enzymanalysen der in vivo entstandenen<br />
Spuren an getragener weiblicher Unter wä -<br />
sche (Zaviacic et al. 1988c). Wir nehmen an (Zaviacic<br />
et al. 1999), dass diese kontinuierliche Sekretion mit<br />
dem Auftreten von Fruktose in der weiblichen Pros -<br />
tataflüssigkeit eine Rolle für die Reproduktion spielen<br />
könnte. Offenbar kann der Fruktosegehalt in der Um -<br />
gebung der Vagina sowohl vom Mann wie auch von<br />
der Frau beeinflusst werden. Der basale Fruktosege -<br />
halt in der Vagina entspricht der aus prostatischer<br />
Sekretion herrührenden Menge, die bei kontinuierlicher<br />
Ausscheidung (Zaviacic et al. 1988c) durch Gra -<br />
vitation aus der Urethra in die Vagina fließt. Nach der<br />
koitalen männlichen Ejakulation in der Vagina steigt<br />
der Saccharidgehalt durch die Fruktose aus den männlichen<br />
Samenbläschen erheblich an. Die Frau kann
Die weibliche Prostata 113<br />
also auf diesem Wege – wenn auch nicht im selben<br />
Maße wie der Mann – mit ihrer eigenen Fruktose die<br />
Motilität der Spermatozoen beeinflussen. Da eine gute<br />
Motilität zu den entscheidenden Faktoren für die Be -<br />
fruchtung des Eis mit den biologisch besten Sperma -<br />
to zoen gehört, könnte es sein, dass dieser Vorgang aufgrund<br />
der Bedeutung, die er für die Reproduktion hat,<br />
von beiden Geschlechtern sichergestellt wird (Zavia -<br />
cic 1999).<br />
Die Rolle der Asphyxie beim<br />
Phänomen der weiblichen<br />
Ejakulation<br />
Weil Asphyxie (die mechanische Asphyxie, beispielsweise<br />
bei suizidaler Abdrosselung) bekanntermaßen<br />
mit Erektion und insbesondere Ejakulation verbunden<br />
ist (Kokavec et al. 1987, Mego 2001), haben wir uns<br />
d amit beschäftigt, das entsprechende Phänomen bei<br />
Frauen zu untersuchen. Es wurde festgestellt, dass As -<br />
phy xie auch bei Frauen bedeutsam für die Einleitung<br />
der weiblichen Ejakulation sein kann. Sie kann agonale<br />
urethrale Expulsionen (Ejakulation) z.B. beim<br />
Stran gulieren, Ersticken und Hängen hervorrufen –<br />
alles typische Phänomene, mit denen die Gerichts -<br />
mediziner bei der Autopsie zu tun haben (Zaviacic et<br />
al. 1987a, Zaviacic 1988c). Die durch Asphyxie her -<br />
vor gerufene agonale Ejakulation war mittels saurer<br />
Phosphatase an der Unterwäsche leicht nachweisbar,<br />
wenn sie frisch war und das Opfer sie vor seinem Tod<br />
nicht getragen hatte. Handelte es sich um getragene<br />
Unterwäsche, musste man davon ausgehen, dass positive<br />
Spuren von asphyxiebedingter agonaler Ejaku la -<br />
tion mit positiven Spuren von kontinuierlicher Sekre -<br />
tion der weiblichen Prostata koinzidierten.<br />
Frauen bevorzugen im allgemeinen einen Orgas -<br />
mus mit Flüssigkeitsausstoß und versuchen ihn auch<br />
zu erreichen, weil er subjektiv größere Befriedigung<br />
als der Orgasmus ohne Ejakulation gewährt (Whipple<br />
1994, Zaviacic & Whipple 1993, Schubach 1997, Za -<br />
viacic & Whipple 2001). Das weibliche Ejakulations -<br />
phänomen kann deshalb auch für die Motive von<br />
lebensbedrohlichem paraphilen Verhalten, nämlich im<br />
Falle der Asphyxiophilie (des Koczwarismus), von<br />
Be deutung sein. Sexuelle Asphyxie wird von Frauen<br />
wie auch von Männern praktiziert, um die Erregung<br />
zu steigern und einen Orgasmus zu erreichen, der sich<br />
mit einem Flüssigkeitsausstoß aus der Urethra (einer<br />
Eja kulation) verbindet. Die Kenntnis dieses Phäno -<br />
mens könnte zu einer besseren Diagnose dieser „tödlichen<br />
Lust“ beitragen, deren letale Fälle oft mit Selbst -<br />
morden verwechselt werden, obwohl es sich um tödliche<br />
Unfälle handelt (Zaviacic 1994).<br />
Sieht man von den forensisch-sexuologischen As -<br />
pekten der intendierten Asphyxie bei sexueller As phy -<br />
xiophilie oder von anderen mit urethralen Expulsionen<br />
verbundenen Formen der Asphyxie ab, dann bleibt die<br />
weibliche Ejakulation ein attraktiver Bestandteil im<br />
Se xualleben der Frau. Man muss aber sowohl der Frau<br />
wie auch ihrem Partner klar machen, dass sie ein normaler<br />
Ausdruck weiblicher Sexualität ist (Zaviacic &<br />
Whipple 1993, Zaviacic et al. 1993b, Whipple 1994).<br />
Ihre Mitwirkung an der ejakulatorischen Evakuation,<br />
die für die meisten Frauen zu den lustvollsten Em -<br />
pfindungen beim Orgasmus gehört – und ihre im Ver -<br />
gleich zur männlichen Prostata relativ seltene Er -<br />
krankung – macht die weibliche Prostata zu einem<br />
Organ weiblicher Lust. Mein Vortrag auf dem 15.<br />
Welt kongress für Sexuologie in Paris (2001) trug deshalb<br />
den Titel „Die weibliche Prostata und die weibliche<br />
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Anschrift des Autors<br />
Prof. Dr. Milan Zaviacic, Dept of Pathology, Comenius University School of Medicine, Sasinkova 4, 81108 Bratislava, Slovakia. Fax: 421 2 59357592<br />
mail: zaviacic@fmed.uniba..sk
Orginalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von<br />
Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion<br />
im Zusammenhang mit einer Störung der<br />
sexuellen Erregbarkeit *<br />
Rosemary Basson, Rosemary McInnes, Mike D. Smith, Gemma Hodgson und<br />
Nandan Koppiker<br />
Efficacy and Safety of Sildenafil<br />
Citrate im Women With Sexual<br />
Dysfunction Associated With<br />
Female Sexual Arousal Disorder<br />
Conclusions: Any genital physiological effect of sildenafil<br />
was not perceived as improving the sexual response in<br />
estrogenized or estrogen-deficient women with a broad<br />
spectrum of sexual dysfunction that included FSAD.<br />
Whether more specific subgroups of women with FSAD<br />
could potentially benefit from treatment with sildenafil is<br />
an area for future research.<br />
Abstract<br />
Objective: Sildenafil citrate (Viagra ® ) is indicated for the<br />
treatment of erectile dysfunction in men. The nitric oxidecyclic<br />
guanosine monophosphate pathway (NOcGMP) in -<br />
volved in penile erection and enhanced by sildenafil may<br />
also play a role in some components of the female sexual<br />
arousal response. The efficacy and safety of sildenafil we -<br />
re evaluated in estrogenized and estrogen-deficient wo -<br />
men with sexual dysfunction that included female sexual<br />
arousal disorder (FSAD).<br />
Methods: Patients were randomized to receive 10–100<br />
mg sildenafil or matching placebo. To assess efficacy, patients<br />
completed two global efficacy questions (GEQ), the<br />
Life Satisfaction Checklist (LSC), an event log of sexual<br />
activity, and a 31-item sexual function questionnaire (SFQ).<br />
To assess safety, adverse event (AE) data were recorded.<br />
Results: A total of 577 estrogenized and 204 estrogendeficient<br />
women were randomized to treatment. All were<br />
diagnosed with FSAD, but it was the primary presenting<br />
symptom in only 46% and 50% of women, respectively.<br />
Differences in efficacy between sildenafil and placebo<br />
were not significant for any patient or partner end points<br />
(e.g., the two GEQ, the sexual event logs, the LSC, and the<br />
SFQ). The main AE were headache, flushing, rhinitis, nausea,<br />
visual disturbances, and dyspepsia, which were generally<br />
mild to moderate in nature.<br />
* Efficacy and Safety of Sildenafil Citrate im Women With Sexual Dys -<br />
function Associated With Female Sexual Arousal Disorder, Journal of<br />
Women’s Health & Gender-Based Medicine, Bd. 11, Nr. 4, 2002 (©<br />
Mary Ann Liebert, Inc.). Aus dem Engl. von Dr. Thomas Laugs tien. –<br />
Die Studie wurde mit Unterstützung von Pfizer Inc. durchgeführt.<br />
Zusammenfassung<br />
Ziel: Sildenafilcitrat (Viagra ® ) ist für die Behandlung von<br />
Erek tionsstörungen bei Männern indiziert. Der an der pe -<br />
ni len Erektion beteiligte und durch Sildenafil verstärkte<br />
Stick stoffmonoxid-zyklisches Guanosinmonophos phat -<br />
(NOcGMP)- Pathway könnte auch bei bestimmten Kom -<br />
po nenten der weiblichen Sexualerregungs-Reaktion eine<br />
Rol le spielen. Die Wirkung und Unbedenklichkeit von Sil -<br />
de nafil wurde an Frauen mit Östrogenbehandlung und an<br />
Frauen mit Östrogenmangel untersucht, die eine sexuelle<br />
Dysfunktion in Verbindung mit einer sexuellen Erregungs -<br />
störung (FSAD) aufwiesen.<br />
Methoden: Die Patientinnen wurden für die Einahme von<br />
10-100 mg Sildenafil oder eines entsprechenden Placebo<br />
ran domisiert. Zur Feststellung der Wirkung beantworteten<br />
sie zwei Fragen zur Allgemeinwirkung (GEQ), protokollierten<br />
ihre sexuellen Aktivitäten und füllten eine Check -<br />
liste zur Lebenszufriedenheit (LSC) und einen 31-Punkte-<br />
Fragebogen zur Sexualfunktion (SFQ) aus. Zur Einschät -<br />
zung der Unbedenklichkeit wurden Nebenwirkungen<br />
(AE) festgehalten.<br />
Ergebnisse: Insgesamt wurden 577 Frauen mit Östrogenbehandlung<br />
und 204 Frauen mit Östrogenmangel für die<br />
Behandlung randomisiert. FSAD wurde bei allen diagnostiziert,<br />
war aber nur bei 46% bzw. 50% das Primär -<br />
symptom. Die Unterschiede in der Wirkung von Sildenafil<br />
und von Placebo waren im Endeffekt (z.B. in den zwei<br />
GEQ, den Aktivitätsprotokollen, dem LSC und SFQ) für die<br />
Patientinnen oder ihre Partner ohne Bedeutung. Die wichtigsten<br />
AE waren Kopfschmerzen, Hitzewallungen, Rhi -<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 116 – 124 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 117<br />
nitis, Übelkeit, Sehstörungen und Dyspepsie, die im allgemeinen<br />
leichter bis mäßiger Natur waren.<br />
Konsequenzen: Es konnte nicht festgestellt werden, dass<br />
eine physiologisch-genitale Wirkung von Sildenafil bei<br />
Frau en mit Östrogenbehandlung oder mit Östrogenmangel<br />
und einem breiten Spektrum sexueller Dysfunktionen<br />
unter Einschluss von FSAD die sexuelle Reaktion verbessert.<br />
Ob besondere Untergruppen von Frauen mit FSAD<br />
von einer Sildenafil-Behandlung profitieren könnten, bleibt<br />
zu erforschen.<br />
Einleitung<br />
Sexuelle Dysfunktionen bei Frauen sind ein stark verbreiteter<br />
Zustand, der weiterhin zunimmt und die Le -<br />
bensqualität vieler Frauen beeinträchtigt. Nach vorliegenden<br />
Schätzungen sollen 30-50 Prozent aller Frauen<br />
sexuelle Probleme haben, wobei der Anteil vom Le -<br />
bensalter abhängt (Laumann et al. 1999). Mit zunehmendem<br />
Alter und mit dem Eintritt der Menopause<br />
wächst die Häufigkeit unzureichender vaginaler Lu -<br />
brikation (Dennerlein et al. 1999, Avis et al. 2000).<br />
Die Symptome bezüglich einer Veränderung der genitalen<br />
Empfindungen und der Durchblutung lassen sich<br />
teilweise auf niedrige Östrogenwerte (< 50 pg/ml) zu -<br />
rückführen. Da Östrogen die genitale Stickstoffmon -<br />
oxid(NO-)Synthase und die NO-Aktivität reguliert,<br />
kön nen niedrige Östrogenwerte auch die vaginale und<br />
vulväre NO-Aktivität herabsetzen. Die lokale oder<br />
sys temische Östrogenbehandlung lindert viele genitale<br />
Sexualprobleme. Mit ihrer vasoprotektiven und va -<br />
sodilatorischen Wirkung (Levin 1999) verbessert eine<br />
adäquate Östrogenbehandlung normalerweise die va -<br />
ginale Lubrikation und die vulväre Kongestion des<br />
bul bären und klitoralen Schwellkörpergewebes in<br />
ihrer Reaktion auf die sexuelle Stimulation.<br />
Die subjektive Sexualerregung der Frau ist ein<br />
kom plexes Phänomen, das mentale Erregung, gesteigerte<br />
Sensitivität der genitalen und nicht-genitalen Zo -<br />
nen, ein mehr oder minder deutlich wahrgenommenes<br />
Schwellen und Pulsieren im Genitalbereich, vaginale<br />
Lubrikation, die Entspannung der glatten Vagi -<br />
nalmuskeln und andere körperliche Veränderungen<br />
ein schließt (Basson 2000, 2001). Das 3-Phasen-Mo -<br />
dell der weiblichen Sexualfunktion – Verlangen, Erre -<br />
gung und Orgasmus – wurde zuerst von Kaplan<br />
(1979) vorgelegt. Obwohl es Fragen aufwirft (Basson<br />
2000, 2001, Tiefer 1991, Basson et al. 2000), beruht<br />
auf diesem Modell auch die derzeitige Klassifikation<br />
der weiblichen sexuellen Dysfunktion (female sexual<br />
dysfunction – FSD) in der vierten Ausgabe des Di -<br />
agnostic and Statistical Manual of Mental Disorders<br />
(DSM-IV). FSD wird dabei in verschiedene Störun -<br />
gen unterteilt, zu denen vermindertes Sexualverlangen<br />
(hypoactive sexual desire disorder – HSDD), die<br />
weib liche Orgasmusstörung (female orgasmic disorder<br />
– FOD), Dyspareunie und die sexuelle Erregungs -<br />
störung (female sexual arousal disorder – FSAD) ge -<br />
hören (APA 1994). Erst neuerdings hat man FSD von<br />
der männlichen sexuellen Dysfunktion unterschieden<br />
(Basson et al. 2000). Im Einzelfall gibt es häufig multiple<br />
Dysfunktionen, besonders von HSDD und FSAD<br />
oder von FOD und FSAD. FSAD wurde kürzlich neu<br />
de finiert als die ständige oder wiederholte und persönliches<br />
Leiden verursachende Unfähigkeit, eine hinreichende<br />
Erregung zu erreichen oder aufrechtzuerhalten.<br />
Dies kann sich in mangelnder subjektiver Erre -<br />
gung oder mangelnder genitaler Lubrikation/Schwel -<br />
lung oder in anderen körperlichen Reaktionen aus -<br />
drüc ken (ebd.). Genitale Erregungsstörungen sind un -<br />
ter anderem eine verringerte vaginale Vasokongestion<br />
(und mithin Lubrikation), ein verringerter klitoraler,<br />
labialer und bulbärer Blutandrang, oft in Verbindung<br />
mit verringertem Sexualempfinden, und eine unzureichende<br />
Entspannung der glatten Vaginalmuskeln, die<br />
je des weitere Vordringen von der Vagina ins Becken<br />
limitieren (Basson 2000, 2001, Goldstein & Berman<br />
1998).<br />
Man nimmt an, dass die zunehmende Durchblu -<br />
tung von Vulva und Vagina im Zuge der sexuellen Er -<br />
re gung vor allem durch NO (Burnett et al. 1997) oder<br />
durch vasoaktives intestinales Peptid (VIP) vermittelt<br />
wird (Levin 1999). Die Bedeutung von NO für die Va -<br />
sokongestion des vulvären, bulbären und klitoralen<br />
Schwellkörpergewebes wird unter anderem durch die<br />
Entdeckung der NO-Synthase im menschlichen<br />
Schwell körpergewebe bestätigt (Burnett et al. 1997).<br />
Neuerdings ist es gelungen, Phosphodiesterase Typ 5<br />
(PDE5), die den NOcGMP-Pathway inhibiert (Boolell<br />
et al. 1996), aus dem kavernösen glatten Muskel der<br />
menschlichen Klitoris zu isolieren und nachzuweisen,<br />
dass Sildenafilcitrat (Viagra ® ) ein potenter und selektiver<br />
PDE5-Inhibitor ist (Park et al. 1998). Ob der<br />
VIP/zyklisches-Adenosinmonophoasphat(cAMP)-<br />
Pathway zur vasodilatorischen Wirkung von Sildena -<br />
fil mit beiträgt, ist unklar (Jeremy et al. 1997). Mit ei -<br />
nem doppelblinden Placebo-Versuch hat man gezeigt,<br />
dass Sildenafil im Falle von 24 Frauen mit einer Hys -<br />
te rektomie-Vorgeschichte bei fehlendem genitalem<br />
Se xualempfinden und Orgasmusunfähigkeit eine Bes -<br />
serung herbeiführen konnte (Berman et al. 2000).<br />
In den zwei hier dargestellten placebokontrollierten<br />
Studien mit fester und flexibler Dosis wurde Silde -<br />
nafil bei 577 östrogenbehandelten Frauen (10, 50 oder<br />
100 mg) und bei 204 Frauen mit Östrogenmangel<br />
(Anfangsdosis 50 mg) getestet, bei denen eine sexuelle<br />
Dysfunktion unter Einschluss von FSAD diagnosti-
118 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />
ziert worden war. Neben der Feststellung jeder dosisabhängigen<br />
Reaktion auf die Wirkung von Sildenafil<br />
anhand von validierten Fragebögen und sexuellen Ak -<br />
tivitätsprotokollen haben diese Studien auch die Wir -<br />
kung, Unbedenklichkeit und Verträglichkeit bei Frau -<br />
en nach der Menopause mit und ohne Östrogenersatztherapie<br />
(ERT) und bei Frauen vor der Menopause<br />
untersucht.<br />
Grundlagen und Methoden<br />
Die Patientinnen. – Von 684 untersuchten Frauen mit<br />
Östrogenbehandlung wurden 583 für die Behandlung<br />
randomisiert. Von diesen wurden wiederum 6 (3 Pla -<br />
cebo, 3 Sildenafil) aus der weiteren Untersuchung<br />
aus ge schlossen, weil es in 5 Fällen keine Anzeichen<br />
gab, dass die untersuchten Medikamente genommen<br />
wurden, und weil 1 Frau den Versuch aufgrund von<br />
Nebenwirkungen abbrach. 101 Frauen wurden nicht<br />
ins Sample aufgenommen, weil sie nicht den Auf nah -<br />
mekriterien entsprachen (53) oder ihre Einwilligung<br />
zu rückzogen (20), weil sie aufgrund von Nebenwir -<br />
kungen (4), Laboranomalitäten (4), Resultaten der Un -<br />
bedenklichkeitsprüfung (1) oder aus anderen Gründen<br />
(14) den Versuch abbrachen, die Anschlussunter -<br />
suchung versäumten (3) oder gegen das Versuchs pro -<br />
tokoll verstießen (2). Behandelt wurden also 577<br />
Frau en mit Östrogenbehandlung (151 mit Placebo,<br />
426 mit Sildenafil).<br />
Von 305 untersuchten Frauen mit Östrogenmangel<br />
wurden 211 für die Behandlung randomisiert. Von diesen<br />
wurden wiederum 7 (4 Placebo, 3 Sildenafil) aus<br />
der weiteren Untersuchung ausgeschlossen, weil es<br />
kei ne Anzeichen gab, dass sie die untersuchten<br />
Medikamente nahmen. 94 Frauen wurden nicht ins<br />
Samp le aufgenommen, weil sie nicht den Aufnah me -<br />
kriterien entsprachen (71), ihre Einwilligung zurückzogen<br />
(11), weil sie aufgrund von Nebenwirkungen<br />
(6) oder aus anderen Gründen (11) den Versuch abbrachen<br />
oder weil sie gegen das Versuchsprotokoll ver -<br />
stießen (2). Behandelt wurden also 204 Frauen mit<br />
Ös tro genmangel (101 mit Placebo, 103 mit Silde -<br />
nafil).<br />
Beide Studien waren multizentrisch angelegt und<br />
wurden in 65 Forschungszentren in 11 Ländern (bei<br />
Frauen mit Östrogenbehandlung) bzw. in 32 For -<br />
schungs zentren in 8 Ländern (bei Frauen mit Östrogenmangel)<br />
durchgeführt. Alle Patientinnen mussten<br />
eine feste Be ziehung zu einem männlichen Partner<br />
haben und mindestens in den letzten 6 Monaten vor<br />
der Unter suchung eines der folgenden Symptome aufgewiesen<br />
haben: oberflächliche oder introitale<br />
Dyspareunie aus schließlich aufgrund von mangelnder<br />
Lubrikation, FSAD und HSDD in Verbindung mit<br />
einer Erregungs störung oder FOD in Verbindung mit<br />
einer Erregungs störung. Die Patientinnen wurden ausgeschlossen,<br />
wenn sie eines der folgenden Kriterien<br />
erfüllten: eine als situationsbedingt angesehene sexuelle<br />
Dysfunk tion; andere sexuelle oder psychische<br />
Störungen, die als Primärdiagnose angesehen wurden;<br />
eine anderweitige Behandlung ihrer sexuellen<br />
Dysfunktion; und schließlich ein Ergebnis von ! 5<br />
hinsichtlich der Sexualfunktion auf der Life<br />
Satisfaction Checklist (LSC) (Fugl-Meyer et al. 1997)<br />
– d.h. wenn sie ein be frie digendes Sexualleben hatten.<br />
Frauen mit Östrogenbehandlung. – Die in diese Un -<br />
tersuchung aufgenommenen Frauen waren 18–55<br />
Jahre alt, befanden sich vor oder nach der Menopause<br />
und erhielten eine Östrogenersatztherapie (ERT). Pa -<br />
tien tinnen nach der Menopause, die keine systemische<br />
ERT erhielten oder deren ERT noch keine 6 Monate<br />
gedauert hatte, und Patientinnen mit chronischer Ös -<br />
tro gendefizienz oder klinischen Anzeichen für eine<br />
Östrogendefizienz wurden aus der Studie ausge -<br />
schlos sen. Patientinnen, die länger als 5 Jahre eine<br />
Ame norrhoe gehabt hatten, wurden ebenfalls ausgeschlossen.<br />
Frauen mit Östrogenmangel. – Die in diese Unter -<br />
suchung aufgenommenen Frauen waren 45–70 Jahre<br />
alt, befanden sich mindestens 2 Jahre nach der Meno -<br />
pause und erhielten keine ERT. Patientinnen, deren<br />
Me no pause noch keine 2 Jahre zurücklag oder die in<br />
den 6 Monaten vor der Untersuchung eine ERT erhalten<br />
hatten, wurden ausgeschlossen.<br />
Die Kontrollgruppe. – Diese Gruppe bestand aus un -<br />
be handelten, gesunden freiwilligen Versuchspersonen,<br />
die keine FSD-Diagnose aufwiesen, ähnliche demographische<br />
Eigenschaften hatten und in ihrem Alter (±<br />
5 Jahre) den östrogenbehandelten und östrogendefizienten<br />
Frauen in den oben genannten Studien entsprachen.<br />
Die Kontrollpersonen für die Untersuchung bei<br />
östrogenbehandelten Frauen mussten mindestens 18<br />
Jahre alt sein, die Menopause vor oder hinter sich<br />
haben und eine ERT bekommen. Die Kontrollper so -<br />
nen für die Untersuchung bei östrogendefizienten<br />
Frau en mussten 50 bis 60 Jahre alt sein und die Meno -<br />
pause länger als 2 Jahre seit der letzten Men stru a -<br />
tionsperiode hinter sich haben.<br />
Die Freiwilligen absolvierten insgesamt 2 Termi -<br />
ne, zu Beginn der Untersuchung und 4 Wochen später,<br />
bei denen sie die Checkliste zur Lebensqualität (Life<br />
Sa tisfaction Checklist – LSC) und den 31-Punkte-Fra -<br />
gebogen zur sexuellen Funktion (Sexual Function<br />
Ques tionnaire – SFQ) ausfüllten. Darüber hinaus protokollierten<br />
sie in den 4 Wochen ihre sexuellen
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 119<br />
Aktivitäten. Gesunde Freiwillige wurden auch zur<br />
wei teren Validierung des SFQ hinzugezogen, dessen<br />
Entwicklung von Quirk (2002) beschrieben wird.<br />
Ablauf. – Beide FSD-Studien bestanden aus einer 4-<br />
wöchigen Anlaufphase ohne Behandlung mit einer an -<br />
schließenden 12-wöchigen doppelblinden Ver suchs -<br />
phase in Parallelgruppen. Nach den 4 Wochen wurden<br />
die Patientinnen mit einem computergenerierten Pseu -<br />
do-Zufallscode nach der Methode zufällig permutierter<br />
Blöcke in 1 von 4 Behandlungsgruppen eingeteilt.<br />
Da die unterschiedlich starken Sildenafil-Tabletten<br />
nicht das gleiche Aussehen hatten, gab es für jede der<br />
drei Stärken entsprechende Placebo-Tabletten zur Ge -<br />
währleistung des Blindheitsprinzips. Die Testme -<br />
dikamente wurden doppelblind und doppelt fiktiv verpackt.<br />
Die Forscher erhielten versiegelte Umschläge<br />
mit den Randomisierungscodes, so dass sich das<br />
Blind heitsprinzip in einzelnen Fällen notfalls aufheben<br />
ließ. Nach Aufhebung des Blindheitsprinzips zu -<br />
standegekommene Wirkungsdaten wurden aus der<br />
Ana lyse ausgeschlossen.<br />
In der Studie mit östrogenbehandelten Frauen<br />
wur den die Patientinnen zu Einnahme von 10, 50 oder<br />
100 mg Sildenafil oder eines entsprechenden Placebo<br />
nach Vorschrift, aber nicht öfter als einmal täglich<br />
ungefähr 1 Stunde vor der sexuellen Aktivität randomisiert.<br />
In der Studie mit östrogendefizienten Frauen<br />
wurden die Patientinnen zur Einnahme von 50 mg Sil -<br />
denafil oder eines entsprechenden Placebo randomisiert,<br />
wobei die Dosis je nach Wirkung und Ver -<br />
träglichkeit auf 25 oder 100 mg korrigiert werden<br />
konn te. Die Patientinnen absolvierten insgesamt 5<br />
Termine: einen zur Voruntersuchung, einen zu Unter -<br />
suchungsbeginn (0. Woche) und weitere Termine 4, 8<br />
und 12 Wochen später. Zusätzlich wurde für alle Pa -<br />
tien tinnen, die die Behandlung aufgrund von Neben -<br />
wirkungen oder behandlungsbedingten Laboranoma -<br />
litä ten abbrachen, ein Folgetermin in der 14. Woche<br />
ver einbart.<br />
Einschätzung der Wirkung. – In der 12. oder letzten<br />
Behandlungswoche wurde die Wirkung durch Analyse<br />
der Antworten auf eine Reihe von Fragen eingeschätzt.<br />
Zwei Fragen zur allgemeinen Wirksamkeit<br />
(global efficacy questions – GEQs) wurden gestellt:<br />
„Haben sich die körperlichen Reaktionen bei der sexuellen<br />
Aktivität durch die Behandlung verbessert?“<br />
(GEQ1) und: „Hat sich die Fähigkeit zum Ge -<br />
schlechts verkehr durch die Behandlung verbessert?“<br />
(GEQ2) Die Life Satisfaction Checklist (LSC), bestehend<br />
aus 4 Fragen an die Patientinnen und ihre Part -<br />
ner, wurde bei der Voruntersuchung, zu Behand lungs -<br />
beginn und in der 12. Woche ausgewertet. Zusätzlich<br />
führten die Patientinnen ab der 4-wöchigen Anlauf -<br />
phase während der gesamten 12-wöchigen Studie Pro -<br />
tokoll über ihre sexuellen Aktivitäten.<br />
Statistische Analyse. – Der Umfang der für die Studie<br />
zugrundegelegten Stichprobe von östrogenbehandelten<br />
Frauen wurde danach berechnet, dass die Ant wort -<br />
quoten der Placebo-Gruppe und der aktiv behandelten<br />
Gruppe bei der ersten GEQ um 20% differierten, so dass<br />
man von einer Aussagekraft von 80% und von einer 5-<br />
prozentigen Fehlerquote erster Art ausgehen kann.<br />
Das Sample wurde auf 107 Patientinnen pro Gruppe,<br />
d.h. auf insgesamt 428 Patientinnen kalkuliert. Bei<br />
einer angenommenen Ausfallquote von 20% waren für<br />
die Stichprobe 535 Patientinnen erforderlich.<br />
Die Umfangsberechnung der Stichprobe von ös -<br />
tro gendefizienten Frauen basiert auf einer antizipierten<br />
Antwortquote auf die erste GEQ von 55% in der<br />
Sildenafil-Gruppe und von 30% in der Placebo-Grup -<br />
pe (d.h. auf einer Differenz von 25%), so dass man<br />
von einer Aussagekraft von 80% und von einer 5-prozentigen<br />
Fehlerquote erster Art ausgehen kann. Das<br />
Sample wurde auf 69 Patientinnen pro Gruppe, d.h.<br />
auf insgesamt 138 Patientinnen berechnet. Bei einer<br />
an genommenen Ausfallquote von 20% waren für die<br />
Stichprobe 174 Patientinnen erforderlich.<br />
Die statistischen Analysen sämtlicher Wirkungen<br />
und Nebenwirkungen wurden anhand der Intent-totreat-Population<br />
durchgeführt. Alle statistischen Tests<br />
erfolgten auf einem 5%-igen Signifikanzniveau und<br />
wa ren zweiseitig. Die binären Daten wurden mit logistischer<br />
Regression analysiert. Andere Daten wurden<br />
mit einer Kovarianzanalyse (ANCOVA) ausgewertet;<br />
nur die Aktivitätsprotokoll-Fragen zur Lubrikation und<br />
zur sexuellen Gefühlswahrnehmung wurden nach dem<br />
Cochran-Mantel-Haensel-Test ausgewertet, der in diesem<br />
Falle geeigneter schien. Alle statistischen Mo del -<br />
le enthielten Angaben zur Behandlungsgruppe, zur Ba -<br />
seline, zum Institut, zur Hospital Anxiety and De pres -<br />
sion Scale, zum Körpergewichtsindex (BMI), zur Dau -<br />
er der Symptome, zum Raucherstatus, zur Pri mär stö -<br />
rung und zu Kovarianten der Alkoholauf nah me. Bei<br />
Mehrfachvergleichen zwischen einzelnen Do sie rungs -<br />
gruppen im Rahmen des ANCOVA-Modells wurde<br />
zur Generierung von 95%-Konfidenz-Inter val len der<br />
Tukey’sche Mehrfachvergleichstest herangezogen.<br />
Ergebnisse<br />
Demographie. – In zwei getrennten Studien wurden<br />
577 östrogenbehandelte und 204 östrogendefiziente<br />
Frauen für die Behandlung randomisiert. Die demographischen<br />
Baseline-Daten beider Gruppen sieht<br />
man in Tab. 1. Die Patientinnen waren in beiden Stu -
120 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />
dien zu 98% weiß; die restlichen 1% waren schwarz,<br />
asiatischer oder sonstiger Herkunft. Obwohl bei allen<br />
Frauen FSAD diagnostiziert wurde, war dies nur bei<br />
48% (43–52%) das primäre Problem. HSDD, FOD<br />
und Dyspareunie waren demgegenüber bei 28% (25–<br />
31%), 14% (5–21%) und 11% (6%–16%) die<br />
Primärdiagnose (Tab. 1).<br />
Einschätzung der Sexualfunktion. – Am Ende der<br />
Stu die (in der 12. Woche) beantworteten die Patien -<br />
tinnen, die für die Einnahme von 10, 50 oder 100 mg<br />
(östrogenbehandelte Frauen) oder 50 mg Sildenafil<br />
(östrogendefiziente Frauen) oder eines entsprechenden<br />
Pla cebo randomisiert worden waren, die Fragen<br />
GEQ1: „Haben sich die körperlichen Reaktionen bei<br />
der sexuellen Aktivität durch die Behandlung verbessert?“<br />
und GEQ2: „Hat sich die Fähigkeit zum Ge -<br />
schlechts verkehr durch die Behandlung verbessert?“<br />
(Tab. 2) Der Prozentsatz der Frauen, die beide Fragen<br />
mit Ja be antwortet haben, lag bei östrogenbehandelten<br />
und östrogendefizienten Frauen mit Sildenafil- oder<br />
Pla cebobehandlung im gleichen Spektrum von 33-<br />
49%. Die Wirkungen differierten zwischen beiden<br />
Gruppen nur wenig, und die Unterschiede waren statistisch<br />
nicht signifikant.<br />
Weitere vorliegende Daten betrafen die Antworten<br />
zu den Aktivitätsprotokollen (Abb. 1, 2), die LSC<br />
(Abb. 3) und den SFQ. Die Antworten auf 3 Fragen zu<br />
den sexuellen Aktivitätsaufzeichnungen, zu dem<br />
Punkt, der sich in der LSC auf die Zufriedenheit mit<br />
dem Sexualleben bezieht, und zum SFQ ließen keine<br />
statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Silde -<br />
nafil- und Placebo-Gruppe erkennen.<br />
Nebenwirkungen. – Die mittlere Anzahl der eingenommenen<br />
Dosen war in allen Gruppen vergleichbar<br />
und lag zwischen 15 und 21. Die wichtigsten Neben -<br />
wirkungen (AE) waren Kopfschmerzen und Hitze -<br />
wallungen, seltener Rhinitis, Übelkeit, Sehstörungen<br />
und Dyspepsie. Die Häufigkeiten sieht man in Tab. 3.<br />
Die AE waren im allgemeinen leicht bis mäßig. In der<br />
Gruppe der östrogenbehandelten Frauen gab es eine<br />
ernste AE (Menorrhagie), die der Untersuchungsleiter<br />
auf die Behandlung zurückführte. Die Zahl der Patien -<br />
tinnen, die den Versuch aufgrund von AE abbrachen,<br />
ist aus Tab. 3 zu entnehmen.<br />
Tab. 1: Demographische Basisdaten
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 121<br />
Bewertung<br />
Sildenafil wurde in diesen beiden 12-wöchigen Stu -<br />
dien zur Einschätzung der Wirksamkeit und Unbe -<br />
denk lichkeit (10-100 mg) bei Frauen vor und nach der<br />
Menopause gut vertragen, es war aber nicht festzustel -<br />
len, dass das Medikament die sexuelle Reaktion bei<br />
ös trogenbehandelten oder östrogendefizienten Frauen<br />
mit einer Vielzahl von sexuellen Dysfunktionen verbessert.<br />
Auch in einer früheren Studie, in der Silde -<br />
nafil ohne Plazobo-Kontrolle getestet wurde, hat die<br />
Be handlung bei Frauen mit nicht genau definierter<br />
FSD die vaginale Lubrikation und die klitorale Sen -<br />
sitivät nicht verbessert (Kaplan et al. 1999). Mögliche<br />
Erklärungen für diese offensichtliche Unwirksamkeit<br />
könnten eine unvollständige Titration der Dosierung,<br />
eine unzureichende Behandlungsdauer und die Be -<br />
rücksichtigung eines zu breiten FSD-Spektrums sein.<br />
Man sollte festhalten, dass die Patientinnen in den<br />
zwei hier beschriebenen Studien eine heterogene Po -<br />
pu lation repräsentierten, indem nur 40-50% eine<br />
FSAD-Primärdiagnose hatten, während bei den übrigen<br />
Frauen primär HSSD und FOD diagnostiziert<br />
wur de. Auch dürfte eine weitere Subtypisierung von<br />
FSAD notwendig sein (Basson 2000, 2001), um ge -<br />
eignete Patientinnengruppen auszuwählen, die von<br />
einer Vasodilatationsbehandlung profitieren könnten –<br />
d.h. Frauen mit fehlender oder zu geringer genitaler<br />
Erregung (zu geringem Blutandrang) im Gegensatz zu<br />
fehlender subjektiver Erregung. Genitale Erre gungs -<br />
störungen beinhalten die mangelnde Lubrikation und/<br />
oder unzureichende Entspannung der glatten Vaginal -<br />
mus keln (female genital arousal disorder – vaginal)<br />
und die fehlende vulväre Kongestion, die unmittelbar<br />
als genitales Kribbeln/Pulsieren oder indirekt durch<br />
zu nehmende sexuelle Lustempfindungen aufgrund<br />
von genitaler Stimulation wahrgenommen wird (female<br />
genital arousal disorder – vulval). Zu den Frauen,<br />
die von der Behandlung mit vasoaktiven Wirkstoffen<br />
am meisten profitieren könnten, gehören diejenigen,<br />
die sexuell motiviert sind, auf mentaler Ebene sexuell<br />
erregt sind und das sexuelle Interesse behalten, die<br />
aber trotz der benötigten emotionalen Intimität und se -<br />
xuellen Stimulation nicht mit demselben vulvären und<br />
vaginalen Blutandrang reagieren, den sie früher direkt<br />
oder indirekt genossen haben. Das gilt nicht für die<br />
Mehrheit der Frauen mit FSAD-Diagnose, die über<br />
fehlende subjektive Erregung klagen und keine geni-<br />
Tab. 2: Prozentsatz der Ja-Antworten auf zwei Fragen zur Allgemeinwirkung (GEQ)<br />
Tab. 3: Behandlungsbedingte Nebenwirkungen (AE)
122 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />
Abb. 1A: Protokoll der sexuellen Aktivitäten: Lubrikation. Während der 12-wöchigen<br />
Untersuchung protokollierten die Frauen ihre sexuellen Aktivitäten und beantworteten<br />
drei allgemeine Fragen. Die Schaubilder zeigen anhand der Antworten auf<br />
Frage 1: „Gab es Probleme mit der Lubrikation?“ die Anzahl der Patientinnen, nach<br />
deren Angaben nie, zu 0–25%, zu 25–50%, zu 50–75%, zu 75–100% oder immer<br />
Lubrikationsprobleme auftraten. Die Antworten stellen die Mittelwerte für die letzten<br />
4 Wochen der Studie dar. (Sild = Sildenafil)<br />
Frauen mit Östrogenmangel<br />
Frauen mit Östrogenbehandlung<br />
Abb. 1B: (Fortsetzung) Genitale Gefühlswahrnehmung. Die Schaubilder zeigen<br />
anhand der Antworten auf Frage 2: „Haben sie ein Kribbeln/Pulsieren im<br />
Genitalbereich verspürt?“ die Zahl der Patientinnen, nach deren Angaben sich nie,<br />
zu 0–25%, zu 25–50%, zu 50–75%, zu 75–100% oder immer genitale Gefühle<br />
eingestellt haben. Die Antworten stellen die Mittelwerte für die letzten 4 Wochen<br />
der Studie dar. (Sild = Sildenafil)<br />
Number of Patients<br />
Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit Lubrikationsproblemen<br />
Frauen mit Östrogenmangel<br />
Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit Lubrikationsproblemen<br />
Frauen mit Östrogenbehandlung<br />
Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit genitaler Gefühlswahrnehmung<br />
Prozentsatz sexueller Aktivitäten mit genitaler Gefühlswahrnehmung<br />
tale Reaktion wahrnehmen. Psychophysiologische<br />
Stu dien haben wiederholt gezeigt, dass der objektiv<br />
festgestellte genitale Blutandrang in der Reaktion auf<br />
visuelle erotische Reize bei Frauen mit FSAD-Dia -<br />
gnose ähnlich ist wie bei Frauen ohne FSAD, dass<br />
aber nur letztere die visuellen Reize als subjektiv erregend<br />
schildern (Laan et al. 1995, Laan & Everaerd<br />
1998, Morokoff & Heiman 1980, Palace & Gorzalka<br />
1990).<br />
Das Phänomen der Frauen, denen ihre genitale Re -<br />
ak tion egal ist – was durchaus vorkommt – oder für<br />
die diese Reaktion zwar vorhanden, aber nicht mit<br />
Lust verbunden ist, dürfte komplexer Natur sein und<br />
ist uns gegenwärtig nicht besonders klar. Man sollte<br />
festhalten, dass die zwei vorliegenden Studien nicht<br />
nur lediglich 40-50% Frauen mit FSAD-Primär -<br />
diagnose umfassten, sondern dass die Untersuchungs -<br />
leiter auch angewiesen waren, keine Frauen mit aus -<br />
schließlich genitaler (statt mentaler) Erregungsstörung<br />
aufzunehmen. Eine kleinere Studie (Caruso et al.<br />
2001) hat neuerdings die Wirksamkeit von Sildenafil<br />
bei Frauen vor der Menopause mit genitaler FSAD-<br />
Diagnose nachgewiesen.<br />
Die Nebenwirkungen erwiesen sich als vergleichbar<br />
mit den bei Männern festgestellten AE (Morales et<br />
al. 1998, Steers 1999); allerdings traten bei der 100<br />
mg-Dosis mehr Hitzewallungen, Kopfschmerzen und<br />
Sehstörungen (bei östrogenbehandelten Frauen) auf.<br />
Die AE waren jedoch zumeist vorübergehender und<br />
leichter bis mäßiger Natur.<br />
Zum besseren Verständnis der FSD zugrundeliegenden<br />
Vorgänge, ihrer Klassifikation und entsprechender<br />
Untergruppen von FSAD bedarf es weiterer<br />
Forschung. FSAD tritt bei Frauen normalerweise nicht<br />
allein auf, weil sich „Erregung“ und Verlangen in der<br />
Regel gleichzeitig einstellen oder beide zusammen<br />
fehlen (Laumann et al. 1999, Basson 2000, Basson et<br />
al. 2000, Leiblum 1998, Segraves & Segraves 1991,<br />
Ro sen et al. 1993). Bestimmte Untergruppen von<br />
Frau en können aus dem Geschlechtsverkehr zwar Ver -
Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil bei Frauen mit sexueller Dysfunktion 123<br />
langen und mentale Erregung beziehen, aber trotzdem<br />
eine bekannte neurologische Störung der genitalen Er -<br />
regungsreaktion aufweisen. Solche Frauen würden<br />
wahr scheinlich von einer Medikation wie Sildenafil<br />
profitieren, was durch neuere Forschungen an Frauen<br />
mit Wirbelsäulenschäden bestätigt wird (Sipski et al.<br />
2000).<br />
Konsequenzen<br />
Die Anwendung von Sildenafil bei Frauen mit breitem<br />
FSD-Spektrum wurde im allgemeinen gut vertragen,<br />
hatte aber im Vergleich zu Placebo keine besseren<br />
Wir kungsparameter. In Zukunft sollten spezifischere<br />
Un tergruppen von Frauen – besonders solche mit er -<br />
worbenem Verlust an physiologisch-genitaler Erre -<br />
gung, aber potenziell noch vorhandener Erregbarkeit<br />
durch sexuelle Reize – auf einen möglichen therapeutischen<br />
Nutzen von Sildenafil untersucht werden. Ein<br />
besseres Verständnis der verbreiteten Disharmonie<br />
von mentaler und genitaler Reaktion bei einer großen<br />
Zahl von erregungsgestörten Frauen ist dringend von -<br />
nöten.<br />
Danksagungen<br />
Principal Investigators: 148-374. Australien: R. Gil -<br />
bert, B. Stuckey, D. Cherry, R. McInnes. Kanada: R.<br />
Bas son. Dänemark: G. Wagner. Finnland: A. Pihlas -<br />
vaara, K. Juntunen, O. Hovatta, M. Räsänen, A.-M.<br />
Suik kari. Frankreich: J. Buvat, R. Virag, F. Hedon, C.<br />
Ho norat, M. Buvat-Herbaut. Deutschland: G. Prager,<br />
C. Rüffer-Hesse, G. Kockott, H. Sasse, D. Roeder, J.<br />
Stix, W. Müller-Holve, M. Linhardt, J. Herold, A.<br />
Brze zinka, M. Baumgärtner, W. Albrich, W. Alberti,<br />
H. Csef, J.E. Altwein, W. Weig, K.M. Beier, W. Ber -<br />
ner, H. Porst, H. Pittermann, T. Moesler, M. Schwarz,<br />
T. Kränzlin. Italien: A. Genazzani, P. Bolis, P. Crosig -<br />
nani, S. Venturoli, C. Benedetto. Niederlande: W.<br />
Wei jmar-Schultz, P. Weijenborg, R. Van Lunsen, W.<br />
Fon teijn. Norwegen: M. Andersen, K. Purvis, T. Enge -<br />
bretsen. Schweden: A. Fugl-Meyer, T. Höjerback, B.<br />
Gus tavii Koskinen, I. Sjöberg, A. Fianu-Jonasson, B.<br />
Wijma, B. Sjögren. Großbritannien: J. Dewsbury, W.<br />
Guir guis, A.J. Riley, A.J. Smithers, A. Jones, C. Mar -<br />
gon, J.R. Sutherst, M.C. Slack, S. Taylor, R. Thomp -<br />
son. 148-375. Australien: B. Stuckey. Canada: M.<br />
Stei ner, S. Holzapfel, R. Casey.<br />
Principal Investigators: 148-376. Australien: B.<br />
Stuckey, R. McInnes, D. Cherry. Österreich: M. Sator.<br />
Kanada: S. Holzapfel, M. Steiner, R. Casey. Finn -<br />
land: A. Pihlasvaara, K. Juntunen, M. Räsänen, A.-M.<br />
Suikkari, D. Apter. Deutschland: C. Rüffer-Hesse, G.<br />
Kockott, J. Herold, H. Csef, H. Porst, H. Pittermann,<br />
Abb. 2: Protokoll der sexuellen Aktivitäten: Lust. Dieses Schaubild zeigt die<br />
Antworten auf Frage 3: „Wieviel Lust haben Sie bei dieser sexuellen Aktivität verspürt?“<br />
Die Antworten orientierten sich an einer Skala von 1 bis 5, wobei 5 das<br />
größte Lustempfinden bedeutet. Es handelt sich um Mittelwerte für die letzten 4<br />
Wochen der Studie. (Sild = Sildenafil)<br />
Abb. 3: Checkliste zur Lebenszufriedenheit (LSC). Dargestellt wird die Zufriedenheit<br />
mit dem Sexualleben für Frauen mit Östrogenbehandlung und mit Östrogenmangel,<br />
die für eine Behandlung mit Sildenafil oder mit einem entsprechenden Placebo randomisiert<br />
wurden (oben) und für ihre Partner (unten). Die Antworten rangieren auf<br />
einer qualitativen Skala von 1 (sehr unbefriedigend) bis 6 (sehr zufriedenstellend).<br />
Die nach 12 Wochen erzielten Ergebnisse werden als prozentuale Veränderungen<br />
ausgedrückt.
124 R. Basson, R. McInnes, M.D. Smith, G. Hodgson, N. Koppiker<br />
T. Moesler, T. Kränzlin, L. Maier. Norwegen: M. An -<br />
dersen, K. Purvis, T. Engebretsen. Südafrika: B.<br />
Levin son, M. Moss. Großbritannien: P.D. Kell, A.J.<br />
Smithers, J.R. Sutherst, S. Taylor, K. Young, S. Bar -<br />
nard, J.E. Miller, J. Robinson. 148-377. Australien: B.<br />
Stuckey. Kanada: S. Holzapfel, M. Steiner, R. Casey.<br />
Südafrika: A. Jacovides.<br />
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Korrespondenz-Adresse der Autoren<br />
Rosemary Basson, M.D., M.R.C.P., Vancouver Hospital and Health Sciences Center, Sexual Medical Unit, 855 West 12th Avenue, Vancouver,<br />
British Columbia V5Z 1M9, Canada, Tel. 604-875-8254, Fax: 604-875-8249, mail: Sexmed@interchange.ubc.ca
Fortbildung<br />
Sexuologie<br />
(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe<br />
in therapeutischen Situationen<br />
Walter Dmoch<br />
Countertransference and Sexual<br />
Medicine. Crossover in Therapy<br />
Situations<br />
Im Sommer 1994 erschien folgender Artikel in der<br />
Rhei nischen Post:<br />
Die Frauenberatungsstelle Neuss sucht nach<br />
Betroffenen<br />
Sexuelle Übergriffe in der Psychotherapie<br />
Im August 1994 wandten sich zwei Frauen an die<br />
Frau enberatungsstelle Neuss und berichteten, von<br />
einem seit langem in Neuss ansässigen Psychologen-<br />
Psychothera peuten während der Psychotherapie se xu -<br />
ellen Übergriffen ausgesetzt gewesen zu sein. Nach<br />
einer Anfrage bei der „Frauenberatungsgruppe gegen<br />
Sexuellen Missbrauch Neuss und Kaarst“ stellte sich<br />
heraus, daß der Name des Therapeuten dort in Zu sam -<br />
menhang mit ähnlichen Vorwürfen schon mehr fach<br />
be kannt war.<br />
Was war vorgefallen?<br />
Unter dem Vorwand, Entspannungs- und Verhal -<br />
tens therapie zu betreiben, verlangte der Psychologe<br />
teils von Beginn der Therapie an, daß die Klientinnen<br />
sich ausziehen müßten, faßte ihnen auch an die Brust<br />
und an die Genitalien. Das ging sogar soweit, daß er<br />
seinen Finger in die Scheide einer Klientin einführte.<br />
Bei Nachfrage und Widerstand der Klientinnen gab er<br />
an, dass dies alles nötig wäre, da es sonst keine Hei -<br />
lung für sie gäbe. Darüber hinaus setzte er langsam<br />
und kontinuierlich die Klientinnen immer mehr unter<br />
Druck und versuchte so, ihre Gegenwehr zu verhindern.<br />
Diese Frauen werden jetzt Anzeige erstatten und<br />
sich damit wehren. Und sie wollen alle Frauen, die<br />
unsicher sind und vielleicht ähnliches erlebt haben,<br />
ermutigen, sich in der Frauenberatungsstelle zu melden,<br />
damit sie Entlastung und Unterstützung finden.<br />
Es folgte die Adresse und Telefonnummer der Frauenberatungsstelle.<br />
Obwohl sich eine größere Anzahl Betroffener zusammenfand<br />
und hier eine Vielfalt von Übergriffen ge -<br />
schildert wurde, kam es aufgrund der schwachen Be -<br />
weis lage zu Ermittlungen, nicht aber zu einer Ankla -<br />
ge; der Beschuldigte wurde aber von einer Männer -<br />
gruppe zu einem Gespräch eingeladen, zu dem er auch<br />
erschien, und es wurde ihm freundlich „unter Män -<br />
nern“ zu einer korrigierenden Therapie geraten; er<br />
stritt alles ab und sprach von einer Rachekampagne<br />
von Feministinnen.<br />
Wie Peters in einer Untersuchung über Fehlver hal -<br />
ten bei Therapeuten berichtete, sollen nach Reich<br />
nicht selten auch Analytiker unter dem Vorwand einer<br />
medizinischen Untersuchung „ihre Finger in die Va -<br />
gina” ihrer Patientinnen eingeführt haben (Peters<br />
1977).<br />
Es handelt sich offenbar um ein Sprengstück einer<br />
Instinkthandlung im Sinne von Bilz, der dies ein „In -<br />
stinktradikal“ nannte (1944); solche rudimentären in -<br />
stinktiven Antriebe prädisponieren zu unreflektiertem<br />
Handeln. Elemente solcher Instinktradikale lassen<br />
sich auch im Prozess von Übertragung und Gegen -<br />
übertragung ausmachen. Diese Sicht legt auch die vergleichende<br />
Verhaltensforschung (Eibl-Eibesfeld 1977)<br />
nahe.<br />
Man könnte befürchten, dass solche Übergriffe be -<br />
sonders dort erfolgen, wo sich Beratung bzw. Therapie<br />
direkt auf das Thema Sexualität fokussieren. Auch<br />
wenn sexualmedizinische Beratungen und Behand -<br />
lungen schon aufgrund ihrer zeitlichen Kürze meist<br />
das Geschehen in Übertragung und Gegenübertragung<br />
wenig oder gar nicht therapeutisch nutzen, treten diese<br />
Phänomene doch regelhaft auf und sind im Interak -<br />
tions prozess zu beachten. Sie können auch der therapeutischen<br />
Person helfen, die professionellen Grenzen<br />
zu bewahren, innerhalb derer Beratung und Therapie<br />
mög lich werden.<br />
Das betrifft prinzipiell auch die In ter aktionen beim<br />
Paargespräch, welches nach Mög lichkeit den Standard<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 125 – 136 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
126 W. Dmoch<br />
z.B. bei der Behandlung sexueller Funktionsstörungen<br />
darstellen sollte, auch wenn dieses Setting per se die<br />
Gefahr sexueller Übergriffe im Vergleich zu Einzel -<br />
gesprächen äusserst un wahrscheinlich erscheinen<br />
lässt. Übergriffe wie die ein gangs geschilderten lassen<br />
sich in ihrer Dynamik mit Hilfe des Übertragungskonzepts<br />
in ihrer Tendenz verstehen und als Fehl(be) -<br />
handlungen vermeiden. Daher soll die Entwicklung<br />
dieses therapeutischen Konzepts der Übertragung im<br />
Zusammenhang mit der Übergriffsproblematik dargestellt<br />
werden; auch historisch sind Zusammenhänge zu<br />
beschreiben.<br />
Der Verdacht oder konkrete Vorwurf, mit Abhän -<br />
gigen oder Schutzbefohlenen unerlaubte, oft sexuell<br />
konnotierte oder gar eindeutig sexuelle Handlungen<br />
durchgeführt zu haben, ist nicht neu und betrifft keineswegs<br />
nur klerikale Verhältnisse, wie jüngste Pres -<br />
se meldungen nahe legen könnten. Schon in Zeiten be -<br />
vor es eine formelle Psychotherapie gab, verdächtigte<br />
man den Hypnotiseur Friedrich Anton Mesmer (Be -<br />
gründer des animalischen Magnetismus), dass er seine<br />
„magnetischen“ Fähigkeiten missbraucht habe. Er<br />
muss te wegen verschiedener Verfolgungen seine Tä -<br />
tigkeit vom Bodensee nach Paris verlegen, aber auch<br />
dort gab es alsbald Anlass zu Zweifeln an seiner Be -<br />
handlungsweise: Beunruhigt über diese neue Behand -<br />
lungsform ließ Ludwig XVI 1784 eine Kom mis sion<br />
prüfen, ob der so genannte Mesmerismus zur Verfüh -<br />
rung von Frauen missbraucht werden könnte, was<br />
schließ lich auch bejaht wurde.<br />
Um Entgleisungen der therapeutischen Beziehung<br />
in Richtung von Missbrauchsverhalten zu verstehen,<br />
ist ein Blick in die Entwicklung der psychoanalytischen<br />
Therapie nützlich; denn hier ist die Theorie der<br />
Gesprächsführung und der Arzt-Patienten-Beziehung<br />
am weitesten elaboriert und daher kann man Orientie -<br />
rungshilfen für die Gestaltung der Beratungs- und Be -<br />
handlungssituationen auch in der Sexualmedizin ge -<br />
winnen.<br />
Auch die Anfänge der Psychoanalyse waren von<br />
Übertragungsproblemen und Agieren in der Therapie<br />
geprägt, für die man zunächst keine Begrifflichkeit<br />
und keine Erklärung hatte. So heißt es, Joseph Breuer<br />
habe die Behandlung der „Anna O“ (Berta Pappen -<br />
heim) aus Erschrecken über deren stürmische Übertragungsliebe<br />
– u. a. symptomatisches Inszenieren von<br />
Koitus-Pantomime, Scheinschwangerschaft und Ge -<br />
burtswehen – abgebrochen. In seinem Vortrag Zur<br />
Ätiologie der Hysterie (1896) vertrat Siegmund Freud<br />
die aus der Behandlung von Neurotikern ge wonnene<br />
Ansicht, hysterische Erkrankungen beruhten auf in der<br />
Kindheit aufgetretenen „sexuellen Erlebnis sen von<br />
vorzeitiger sexueller Erfahrung“. Dabei verwies er auf<br />
die ein Jahr zuvor mit Breuer publizierten Theoriebil -<br />
dungen über symptomauslö sen de Traumata aus den<br />
Studien über Hysterie: „So muss man an die bedeutsame<br />
Entdeckung Josef Breu ers anknüpfen, dass die<br />
Symp tome der Hysterie ihre Determinierung von (..)<br />
traumatisch wirksamen Erleb nis sen der Kranken herleiten.“<br />
Dabei gehe es nach seinem Verständnis um<br />
tat sächliche „sexuelle Erfahrun gen am eigenen Leib,<br />
um geschlechtlichen Verkehr.“<br />
Im gleichen Vortrag gliederte er die Verführungs -<br />
fälle in drei Gruppen: Sexuelle Attentate seitens fremder<br />
oder fernstehender Erwachsener, sexuelle Verfüh -<br />
run gen seitens Pflege- und Erziehungspersonen und<br />
sogenannte Kinderverhältnisse unter etwa gleichaltrigen<br />
Geschwistern.<br />
Obwohl sich Freud aus verschiedenerlei Rück -<br />
sichtnahmen später von dieser Auffassung einer se -<br />
xualtraumatischen Genese neurotischer Symptome<br />
dis tanzierte und statt dessen postulierte, unbewusste<br />
Phantasien seien die Quelle hysterischer Symptom -<br />
bildungen, wird dennoch zweierlei deutlich: dass die<br />
sexuell-traumatische Genese neurotischer Krankheits -<br />
bilder bereits seit über hundert Jahren bekannt ist und<br />
zugleich wird eine auf das Erkennen folgende vielfach<br />
motivierte Abwehr sichtbar.<br />
In seiner Vorlesung zur Einführung in die Psy cho -<br />
analyse (1917) bezeichnete Freud die erotischen Ge -<br />
fühle, welche seine Patientinnen ihm gegenüber zu er -<br />
kennen gaben, mit dem Begriff der „Übertragung“. In<br />
seiner Traumdeutung wird der Übertragungsbegriff<br />
aus gedehnt und als „Affektübertragung“ beschrieben.<br />
Freud ließ keinen Zweifel daran, dass der Analytiker<br />
diese neurotischen Liebeswünsche der Patienten we -<br />
der befriedigen noch ausnutzen oder gar in sexuelle<br />
Be ziehungen entarten lassen dürfe; das weist darauf<br />
hin, dass es Anlass zu solchen Warnungen gegeben<br />
haben muss. Zu den zuweilen überraschend auftauchenden<br />
Erscheinungsformen der Übertragung und<br />
ihrer zuweilen impulshaften Eigenart beschrieb Freud<br />
in seiner Selbstdarstellung (1925) eine eigene Erfah -<br />
rung:<br />
„Als ich einmal eine meiner gefügigsten Patien -<br />
tinnen, bei der die Hypnose die merkwürdigsten<br />
Kunst stücke ermöglicht hatte, durch die Zurückfüh -<br />
rung ihres Schmerzanfalls auf seine Veranlassung von<br />
ihrem Leiden befreite, schlug sie beim Erwachen ihre<br />
Arme um meinen Hals. Der unvermutete Eintritt einer<br />
dienenden Person enthob uns einer peinlichen Aus -<br />
einandersetzung, aber wir verzichteten von da an in<br />
still schweigender Übereinkunft auf die Fortset zung<br />
der hypnotischen Behandlung. Ich war nüchtern ge -<br />
nug diesen Zufall nicht auf die Rechnung meiner persönlichen<br />
Unwiderstehlichkeit zu setzen und meinte,<br />
jetzt die Natur des mystischen Elements, welches hinter<br />
der Hypnose wirkte, erfasst zu haben. Um es aus -
(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 127<br />
zuschließen oder wenigstens zu isolieren, mußte ich<br />
die Hypnose aufgeben“ (52).<br />
Auch wenn die <strong>Literatur</strong> die Geburtsstunde der<br />
Psy choanalyse meist mit der Behandlung von „Anna<br />
O“ und deren Erfindung der „talking cure“ datiert, die<br />
Formulierung einer eigentlichen psychoanalytischen<br />
Therapietheorie beginnt erst mit Freuds berühmten<br />
„Fall Dora“ (Ida Bauer), bei deren Behandlung Freud<br />
rückblickend erkannte, dass die Therapie scheitern<br />
muss te, weil ihm die eigentümliche „Übertragung“<br />
der Patientin nicht klar geworden war. Freud meinte,<br />
seine Patienten litten an „Reminiszenzen“, an Erinne -<br />
rungen aus früheren Traumata, die sie in einem Zwang<br />
zur Wiederholung szenisch und mit der Tendenz zum<br />
Agieren zu bewältigen suchten. Alle Gefühls ein stel -<br />
lungen von Seiten der Patienten, die eigentlich Per -<br />
sonen in früheren Beziehungen gelten und daher der<br />
aktuellen Bezogenheit inadäquat sind, gleichwohl<br />
unausweichlich in sie eingebracht werden, bezeichnete<br />
er als „Übertragung“.<br />
Greenson (1973) charakterisiert die Übertragung<br />
als einen „Irrtum in der Zeit“. und meint, dass in diesem<br />
„Anachronismus“ das Geheimnis der Neurose<br />
versteckt liege. Dementsprechend sieht er die Deutung<br />
der Übertragungen als den wichtigsten Bestandteil<br />
jeder psychoanalytischen Behandlung.<br />
Heute meint fast jedermann zu wissen, psychoanalytische<br />
Therapie bestehe wesentlich im „Deuten“, in -<br />
dem vorhandene aktuelle Konflikte auf frühkindliche<br />
Geschehnisse zurück geführt würden. Diese Vor stel -<br />
lung ist nicht völlig falsch, aber unvollständig und<br />
schief, denn auch kognitiv orientierte Beratungen und<br />
jede Therapierichtung enthalten sowohl Übertragungsphänomene<br />
als auch Deutungen seitens der therapeutischen<br />
Person. Es ist nahezu unmöglich, in therapeutischen<br />
und beratenden Begegnungen nicht<br />
Interpretationen (Deutungen) von Einstellungen und<br />
Verhaltensmustern zu nutzen. Um zu einer therapeutisch<br />
nutzbaren Deutung zu gelangen, muss der The -<br />
rapeut aber mit sehr viel Feingefühl nicht nur auf alles<br />
achten, was der Patient ihm entgegenbringt, sondern<br />
mit Innenschau auch wahrnehmen, was dies alles in<br />
ihm selbst auslöst.<br />
Argelander (1970) hat für diesen Prozess den<br />
Begriff „Szenisches Verstehen“ geprägt. Diese Auffas -<br />
sung des Übertragungs-Gegenübertragungs-Gesche -<br />
hens beinhaltet, dass ein Patient seine wichtigsten Be -<br />
ziehungsmodi (mitsamt den Beziehungswünschen und<br />
ihrer Abwehr) in der therapeutischen Situation infolge<br />
des so genannten „Wiederholungszwanges“ wieder<br />
auf leben lässt, als führe er ein altes Theaterstück auf,<br />
worin dem Therapeuten eine spezifische Rolle zugeschrieben<br />
wird. In dem Maße, wie die früheren Be -<br />
ziehungen des Patienten konflikthaft waren, enthält<br />
diese Re-Inszenierung die sogenannte „Übertragungsneurose“<br />
als ein wiederaufgenommenes Drama.<br />
Erfahrene Psychotherapeuten erkennen schon in<br />
der ersten Begegnung an scheinbar nebensächlichen<br />
Verhaltensdetails bedeutsame Bestandteile solcher<br />
Ge staltungstendenzen des Patienten und die darin enthaltene<br />
unbewusste Konflikthaftigkeit. (Argelander<br />
1970, Eckstaedt 1991). Dieses Konzept hat eine zentrale<br />
Bedeutung und brachte eine neue Dimension in<br />
die Psychotherapie.<br />
Veränderungen des Konzepts von<br />
Übertragung und Gegenüber -<br />
tragung<br />
Im klinischen Verständnis der Übertragung hat es<br />
Wand lungen gegeben. Man kann mit Cooper (1987)<br />
un ter scheiden zwischen einem „historischen” und<br />
einem „modernistischen“ Modell der Übertragung.<br />
Im klassischen Modell wird die Übertragung als<br />
neu rotische Wiederholung der Vergangenheit verstanden,<br />
als eine realitätsferne Verwechslung von Ver gan -<br />
genheit und Gegenwart. Daher ist die Aufmerksamkeit<br />
des Analytikers hier wesentlich retrospektiv eingestellt<br />
und das Konzept „Übertragung“ dient der Bear -<br />
beitung der „infantilen Neurose“, die auf diesem Wege<br />
aufgedeckt und aufgelöst werden soll.<br />
Im Unterschied hierzu betont das „modernistische<br />
Modell“ vor allem das Hier und Jetzt des Übertra -<br />
gungs geschehens als eine gegenwärtige neue Form<br />
der Bezogenheit, die in einem konstruktiven Sinne<br />
regulatorische Funktionen für das emotionale Erleben<br />
und das Verhalten des Patienten innerhalb der therapeutischen<br />
Beziehung hat.<br />
Sandler & Sandler (1983, 1987) haben in diesem<br />
Zusammenhang eine Differenzierung eingeführt zwischen<br />
dem Vergangenheits- und dem Gegenwartsun -<br />
be wussten. Dabei enthält das Gegenwartsunbewusste<br />
die zu aktuellen Wünschen und Phantasien aufbereiteten<br />
(nur indirekt zu erschließenden) Inhalte des<br />
Vergangenheitsunbewussten. Die„infantile Neurose“<br />
bekommt so den Rang eines Phantasmas unter vielen,<br />
im Gegenwartsunbewussten aktiven Phantasieproduk -<br />
tio nen. Damit wird der Analytiker zu einem aktiven,<br />
freilich zugleich beobachtenden und reflektierenden<br />
Teilnehmer der therapeutischen Zweierbeziehung, der<br />
den Patienten anleitet, seine in der Übertragung auftauchenden,<br />
meist mit Schamängsten und Schuld -<br />
gefühlen verbundenen Phantasien und Wünsche in ih -<br />
rer Bedeutung für die aktuelle interpersonale Bezo -<br />
gen heit zu erkennen und anzunehmen.
128 W. Dmoch<br />
Freud hat schon bei ihrer Entdeckung bemerkt, dass<br />
die Übertragung – an der er sich zunächst störte – sich<br />
im mer mit drängenden Gefühlen und Impulsen aktualisiert,<br />
als sei der Analytiker ein angemessener Em -<br />
pfänger, so dass hier eine Korrekturmöglichkeit be -<br />
steht: „.dass gerade sie (die Übertragungen) uns den<br />
un schätzbaren Dienst erweisen, die verborgenen und<br />
vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und<br />
manifest machen, denn schließlich kann niemand in<br />
absentia oder in effigie erschlagen werden“ (Freud<br />
1917).<br />
Genau dies macht die Übertragungsdeutung therapeutisch<br />
so wirksam: Die erlebte Wirklichkeit der –<br />
für den kritischen Verstand irrationalen – Gefühle er -<br />
höht die Empfänglichkeit für Deutungen und macht<br />
un mittelbar einsichtig, was jeweils gerade wiederholt<br />
wird; dies führt zu einer kognitiven und emotionalen<br />
Umorientierung.<br />
Die Abstinenz des Psychoanalytikers als ein wichtiges<br />
therapeutisch-technisches Mittel in der Therapie<br />
hat die Funktion, solche Wiederholungsinszenierun -<br />
gen möglichst unverfälscht erkennbar werden zu lassen;<br />
heute wird „Abstinenz“ meist als „behandlungstechnische<br />
Neutralität“ bezeichnet.<br />
Kernberg (1975) und Sandler (1988) haben ein<br />
Verstehensmodell der internalisierten Objektbezie -<br />
hun gen entwickelt, nach dem früher erfahrene Be -<br />
ziehungen zu den signifikanten Anderen verinnerlicht<br />
und der eigenen Geschichte als Teil der Identität (des<br />
Selbstkonzepts) zugeordnet werden. In der therapeutischen<br />
Situation erfahren diese Beziehungsweisen eine<br />
aktualisierte Reinszenierung. Der Analytiker erhält<br />
da bei wechselnde Rollenangebote und seine Bereit -<br />
schaft zur – therapeutisch reflektierten – Rollenüber -<br />
nah me (Sandler 1976) ist eine Voraussetzung dafür,<br />
dass die Inszenierung des neurotischen Beziehungs -<br />
dramas (Übertragungsneurose) überhaupt stattfinden<br />
kann.<br />
Gegenübertragung<br />
Freud hat die „Gegenübertragung“ als „unbewusstes<br />
Fühlen des Arztes“ gegenüber dem Patienten aufgefasst.<br />
Darum sollte der Analytiker möglichst keine<br />
blin den Flecken für seine eigenen Komplexe haben;<br />
hier aus leitet sich die Verpflichtung zur Eigenanalyse<br />
ab. Thomae & Kächele nennen in ihrem Lehrbuch<br />
(1985) die Gegenübertragung das „Aschenputtel“ der<br />
analytischen Theorie und stehen damit in guter Tra -<br />
dition mit Freud selbst, der die Gegenübertragung „an -<br />
stößig“ nannte.<br />
Als erste hat Paula Heimann (1950) nicht nur das<br />
Bild vom abstinenten, neutralen und durch die Übertragungsangebote<br />
des Patienten unbewegten Analyti -<br />
ker infrage gestellt. Sie hat vielmehr den diagnostischen<br />
und therapeutischen Wert der Gegenüber tra gungs-Re -<br />
ak tionen für das Verstehen des Patienten be tont.<br />
Unter diesen Gesichtspunkten kann uns das Kon -<br />
zept des „szenischen Verstehens“ einleuchten, wie es<br />
von Argelander (1970) beschrieben wurde: Die therapeutische<br />
Person stellt sich mit gleichschwebender<br />
Aufmerksamkeit auf die sich entfaltende „Szene“ ein,<br />
die der Patient (mit dem Analytiker als teilnehmendem<br />
Beobachter) innerhalb der therapeutischen Beziehung<br />
zur Aufführung bringt. Der Analytiker versucht dabei<br />
empathisch und introspektiv den Bedeutungsgehalt<br />
dieser Inszenierung zu erfassen, ohne sich diesen emotionalen<br />
Zugang durch theoretische Vorannahmen zu<br />
verbauen. Beim Verstehen dieser Szene lässt er sich<br />
von seinen Gegenübertragungsreaktionen leiten. Er<br />
lässt sich leiten im Verstehen, nicht ver-leiten etwa ins<br />
Handeln (Agieren), sondern er wahrt zum Schutz der<br />
therapeutischen Beziehung gegenüber den Übertragungsangeboten<br />
die therapeutisch-technische Neutra -<br />
li tät.<br />
Obwohl dieses Postulat in der psychoanalytischen<br />
Ausbildung vermittelt wird, fehlt es in den psychoanalytischen<br />
Ausbildungsinstituten allenthalben bis heute<br />
an konkreten Anleitungen, auf welche Weise diese<br />
pro fessionelle Haltung in kritischen Situationen be -<br />
wahrt werden kann.<br />
Klare Grenzen sind entscheidende Voraussetzun -<br />
gen für die Definition von Beziehungen. In beruflichen<br />
Beziehungen helfen sie, den Rahmen für die professionelle<br />
Arbeit zu sichern.<br />
In allen interpersonalen Situationen, in denen zwischen<br />
den Beteiligten die Macht in der Beziehung<br />
asym metrisch verteilt ist – wie etwa zwischen Meister<br />
/Lehrling, Vorgesetzter/Untergebener, Arbeitgeber<br />
/Ar beitnehmer, Arzt/Patient, – helfen Grenzen, die<br />
Hand lungsbereiche zu bestimmen und die Integrität<br />
der Beziehung wie auch der Beteiligten zu bewahren.<br />
Da Übertragung und Gegenübertragung in allen Be -<br />
ratungsverhältnissen vorkommen – auch wenn sie<br />
nicht therapeutisch genutzt werden – ist die Hand ha -<br />
bung der Übertragung und der Gegenübertragung<br />
auch in sexualmedizinischen Beratungen und ganz be -<br />
sonders in sexualmedizinischen Behandlungen zu<br />
beachten. Was aber, wenn – man schätzt sich, man<br />
ver steht sich, man mag sich – Übertragung und Ge -<br />
gen übertragung agiert werden, statt reflektiert und in -<br />
terpretiert und ein gar nicht geheimnisvoller Sprung<br />
vom Seelischen ins Körperliche bevorsteht?<br />
Die Medizin hat in diesem Punkt früh klar das professionelle<br />
ärztliche Verhalten definiert. So fragt be -<br />
reits Platon (427-347 v. Chr.) in der Politeia (342 d):<br />
„Stimmt es nicht auch, dass kein Arzt, als Arzt, erwägt<br />
oder bestimmt, was im Interesse des Arztes ist – son-
(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 129<br />
dern suchen sie nicht alle das Zuträgliche für ihre<br />
Patienten?“<br />
Diese Formulierung definiert 400 Jahre vor Chris -<br />
tus Therapie als angewandte Nächstenliebe. Gleich<br />
der nächste Satz könnte auf die aktuellen Ten den zen<br />
zur wirtschaftlichen Ausbeutung (IGEL) bezogen<br />
werden: „Denn von dem wahren Arzt ist zugestan den,<br />
er sei (einer), der über die Leiber die Re gierung führt,<br />
nicht aber der Gelderwerber (Pfenning fuchser).“<br />
Uns ist dieses allen bekannte Prinzip ausformuliert<br />
im Corpus Hippocraticum: „Wes sen Haus ich auch be -<br />
suche, ich komme für das Wohl des Kranken, halte<br />
mich fern von allem vorsätzlichen Fehlverhalten, al -<br />
lem Schaden und besonders von sexuellen Bezie -<br />
hungen mit weiblichen oder männlichen Personen,<br />
seien sie Freie oder Sklaven.“<br />
Die Geschichte der frühen psychoanalytischen Be -<br />
we gung kennt dennoch verschiedene zum Teil sehr<br />
krasse Fälle mit chaotisch agierten Übertragungs- und<br />
Gegenübertragungsbeziehungen auch in Form von se -<br />
xuellen Verhältnissen in therapeutisch begonnenen<br />
Be ziehungen.<br />
Berühmte Beispiele sind neben C.G. Jung u. a.<br />
auch August Aichhorn, Sandor Ferenczi, Frieda<br />
Fromm-Reichmann, Karen Horney, Margret Mah ler<br />
und Otto Rank. Sattsam in der auch nichtanalytischen<br />
Öffentlichkeit bekannt ist die Affäre, die Jung mit seiner<br />
Analysandin Sabina Spielrein hatte; als seine Frau<br />
dies bemerkte, nötigte Jung sie zu einer analytischen<br />
Behandlung durch ihn; ihre durchaus be gründete Ei -<br />
fer sucht wurde so zu einem analysewürdigen Symp -<br />
tom umdefiniert. Später wiederholte Jung die ses Spiel<br />
mit der Psychiaterin Antonia Wolff.<br />
Ganz ähnlich nahmen auch Otto Rank und Rene<br />
Allendy (der Gründer der französischen psychoanalytischen<br />
Gesellschaft) beide nacheinander während der<br />
Analyse zu ihrer Analysandin Anais Nin eine sexuelle<br />
Beziehung auf (Cremerius 1988, Grunert 1989).<br />
Hay nal (1989) zufolge nahm Ferenczi seine Ge -<br />
lieb te Gi zel la Palos in psychoanalytische Behandlung,<br />
weil sie zwar ein sexuelles Verhältnisses zu ihm unterhielt,<br />
gleichwohl sich nicht von ihrem Mann trennen<br />
wollte; als er bald darauf auch deren Tochter Elma Pa -<br />
los in Therapie nahm, wurde auch Elma seine Gelieb -<br />
te. Freud drängte auf Abbruch dieser Liasion und auf<br />
Fortführung der Analyse von Elma durch ihn selbst,<br />
vorgeblich um die Echtheit ihrer Liebe zu prüfen.<br />
Freud gab aus dieser Behandlung persönlichste Ge -<br />
heimnisse der Patientin an Ferenczi weiter, später<br />
über nahm Ferenczi wieder die Fortführung der Be -<br />
handlung.<br />
Dieses Durcheinander, das gleich mehrere Grenz -<br />
verletzungen enthält, zeigt deutlich den damaligen<br />
hilflosen Umgang mit Übertragungsproblemen, die<br />
aus agiert werden, statt sie zu reflektieren und therapeutisch<br />
zu nutzen.<br />
Georg Groddeck (wir verdanken ihm den Begriff<br />
des „Es“) nahm Emmy von Voigt in Analyse, dennoch<br />
gab er ihr zeitgleich eine Anstellung als Assistentin;<br />
alsbald begann er eine Liebesbeziehung, die später<br />
durch Heirat legitimiert wurde (Ferenzci & Grod deck<br />
1986)<br />
Liest man mit heutigem Verständnis, so scheinen<br />
die Analytiker der ersten Generation den Ödipuskomplex<br />
eher agiert als verstanden zu haben: Wie Lockot<br />
berichtet, ging Sandor Rado ganz ähnlich wie Grod -<br />
deck vor, als er sich in eine Patientin verliebte: er heiratete<br />
sie (Lockot 1985). Sein Schüler Harald Schultz-<br />
Hencke nahm die Ehefrau seines Analytikerkollegen<br />
Gustav Bally in analytische Behandlung noch wäh -<br />
rend er in Lehranalyse bei Rado war, machte ihr wäh -<br />
rend einer Behandlungsstunde einen Heiratsantrag<br />
und schloss mit ihr eine letztlich unglücklich ausgehende<br />
Ehe. (Lockot 1985).<br />
Wilhelm Stekel nahm wiederholt zu seinen Patien -<br />
tin nen sexuelle Beziehungen auf (Reich, zit. n. Peters<br />
1977). Auch Wilhelm Reich verliebte sich des öfteren<br />
in seine Analysandinnen und brach dann die Analysen<br />
ab, „um außerhalb der Analysen ein normales Lie bes -<br />
verhältnis zu beginnen” (Peters 1977: 52); er heiratete<br />
schließlich seine Analysandin Annie Pink.<br />
Wie Roazen berichtet, wurde Ernest Jones wegen<br />
des Vorwurfs mehrerer sexueller Übergriffe gegenüber<br />
Kindern inhaftiert, seine Arbeitsstelle im Kinderkran -<br />
ken haus wurde ihm gekündigt. Nach seiner Flucht<br />
nach Kanada wurde er auch dort auffällig und musste<br />
einer seiner Patientinnen 500 Dollar zahlen, um sie<br />
davon ab zu bringen, ihn öffentlich der Verführung zu<br />
beschuldigen (Roazen 1971). Als Freud während der<br />
Analyse von Joan Riviere erfuhr, dass sie während<br />
ihrer vorhergegangenen Analyse bei Jones ein sexuelles<br />
Verhältnis mit diesem hatte, versuchte Freud mit<br />
heftigen Ermahnungen auf Jones ein zu wirken (Gay<br />
1989).<br />
Zuweilen waren die sich aus solchem Agieren<br />
ergebenden Beziehungen äußerst verzwickt: So wurde<br />
Viktor Tausk der Geliebte der 18 Jahre älteren Lou<br />
Andreas Salome, weswegen Freud ihn nicht zur Lehr -<br />
analyse annahm und ihn statt dessen an Helene<br />
Deutsch verwies; diese aber war gerade selbst bei<br />
Freud in Lehranalyse. Als Freud auf Helene Deutschs<br />
Begeisterung für Tausk mit Eifersucht reagierte,<br />
dräng te er Helene Deutsch dazu, die analytische Be -<br />
handlung Tausks aufzugeben. Dieser wiederum verliebte<br />
sich in eine 16 Jahre jüngere Analysandin, be -<br />
gann ein sexuelles Verhältnis mit ihr und drängte auf<br />
Heirat; jedoch erschoss Tausk sich am Tag vor der<br />
standesamtlichen Trauung (Roazen 1971, Gay 1989).
130 W. Dmoch<br />
Helene Deutsch brach die Lehranalyse von Margaret<br />
S. Mahler ab, weil sie Mahler wegen deren paranoidmelancholischer<br />
Art als unanalysierbar beurteilte;<br />
Mah ler begann darauf bei August Aichhorn eine zweite<br />
Lehranalyse, aus der während der Therapie eine<br />
Liebesbeziehung wurde (Stepansky 1989, Grosskurth<br />
1991).<br />
Cremerius erwähnt (1988: 168), „die intime Be -<br />
zie hung Heinz Hartmanns mit Marie Bonaparte”, de -<br />
ren Sohn sich gleichzeitig bei Heinz Hartmann in<br />
Analyse befand.<br />
Diese Verwirrungen weisen darauf hin, wie<br />
schwer sich die frühen Psychoanalytiker mit dem Ab -<br />
stinenzgebot taten; dies mag unter anderem darin be -<br />
gründet sein, dass die Dynamik von Übertragung und<br />
Gegenübertragung noch unzulänglich verstanden war.<br />
Auch waren die damaligen Lehranalysen meist nur<br />
kurz und hatten nur begrenzte Ziele wie etwa die An -<br />
er kennung der Tatsachen unbewusster Vorgänge im<br />
Seelenleben, der Bedeutsamkeit von Träumen und der<br />
Bedeutung von Übertragung und Widerstand. Super -<br />
vi sionen zu Beginn der Behandlungstätigkeit waren<br />
nicht institutionalisiert und beschränkten sich meist<br />
auf die Zeit der eigenen Analyse.<br />
Zunächst herrschte in der psychoanalytischen Ge -<br />
meinde die Tendenz zum Verschweigen dieser Proble -<br />
matik vor, obwohl alle davon wussten; man wusste<br />
nicht, mit diesen Tatsachen umzugehen und verstand<br />
es vor allem nicht, einen psychoanalytischen Umgang<br />
damit zu pflegen.<br />
Es dauerte wohl auch daher ein halbes Jahrhun -<br />
dert, bis das Thema des sexuellen Missbrauchs in therapeutisch<br />
definierten Beziehungen in den professionellen<br />
Diskurs eingebracht wurde.<br />
Die professionelle Aufmerksamkeit für diese Pro -<br />
bleme schärfte sich erst in den letzten vierzig Jahren,<br />
wofür Publikationen stehen wie Carotenutos Die<br />
heimliche Symmetrie: Sabina Spielrein zwischen Jung<br />
und Freud (1982 in Italien veröffentlicht, 1984 in englischer<br />
Übersetzung erschienen, deutsch 1986).<br />
Tatsächlich hat die romantische Beziehung von C.<br />
G. Jung zu seiner Patientin Sabina Spielrein seinerzeit<br />
zu einem intensiven Briefwechsel mit Sigmund Freud<br />
geführt. Freud gestand seinem Schüler brieflich, auch<br />
er sei in ähnliche Verwicklungen geraten und nur mit<br />
Mühe habe er so etwas erreicht wie ein „near escape“.<br />
Als der Psychoanalytiker McCartney (1966) be -<br />
kannte, dass er in über 10% der Behandlungen von<br />
Patientinnen mit diesen intime Kontakte aufgenommen<br />
habe und behauptete, er habe seinen Patientinnen<br />
bei der Überwindung ihrer sexuellen Probleme geholfen,<br />
kam in den Vereinigten Staaten die Diskussion<br />
über sexuelle Übergriffe und Ausbeutung in der Psy -<br />
cho therapie in Gang. Zwar gab es zunächst keine<br />
wesentliche öffentliche Reaktion und keine juristische<br />
Sanktion, jedoch wurde McCartney aus der American<br />
Psychiatric Association ausgeschlossen.<br />
Eine heftige öffentliche Reaktion löste dagegen<br />
die provozierende Frage des Psychiaters Shepard<br />
(1971) „Should you sleep with your therapist?“ aus,<br />
weil seine Frage von den Medien aufgegriffen wurde.<br />
Auch er behauptete, sexuelle Beziehungen in Thera -<br />
pien seien für die Pa tienten notwendig für deren emotionales<br />
Wachstum. Als Shepard ein Jahr später ein<br />
weiteres Buch mit ähnlichen Standpunkten publizierte,<br />
entzog ihm die Be hörde die Zulassung für die ärztliche<br />
Tätigkeit. Irving Yalom (1998) behandelt diese<br />
Fragen in romanhafter Form, wobei die breite psychiatrische<br />
Öffentlichkeit weiß, dass es sich um einen<br />
Schlüsselroman mit realem Hintergrund handelt (Die<br />
rote Couch).<br />
Aber das alles ist doch so selten, könnte man einwenden.<br />
Tatsächlich wird dieser Einwand auch ge -<br />
macht, wie aus einer Pressemeldung erkennbar wird:<br />
Sexuelle Beziehung in der Therapie ist die<br />
Ausnahme<br />
(dpa) Aus einer von der Deutschen Forschungsge -<br />
mein schaft bezahlten Studie der Frankfurter Fach -<br />
hoch schule, die jetzt veröffentlicht worden ist geht<br />
her vor:<br />
Nach Einschätzung jedes zehnten Psychologen<br />
kön nen in Ausnahmefällen sexuelle Beziehungen in<br />
Therapien für den Klienten hilfreich sein; aber nur<br />
etwa 20 von 1200 befragten klinischen Therapeuten<br />
geben an, selbst schon einmal sexuellen Kontakt zu<br />
einem Patienten gehabt zu haben.<br />
„Sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und<br />
Klienten sind Ausnahmen“ betonte die Leiterin des<br />
Forschungsprojekts, Irmgard Vogt. Gut 95 Prozent der<br />
im Berufsverband Deutscher Psychologen organisierten<br />
klinischen Therapeuten lehnten solche Bezie -<br />
hungen zu Hilfesuchenden ab. Die Auswirkung eines<br />
sexuellen Verhältnisses seien in der Regel negativ,<br />
sagte Vogt.<br />
Allerdings habe jeder zweite Therapeut in den vergangenen<br />
fünf Jahren mit einem Hilfesuchenden zu<br />
tun gehabt, der angab, sexuellen Kontakt zu einem<br />
Therapeuten gehabt zu haben. Umarmungen und Be -<br />
rührungen der Schulter sind der Studie nach relativ<br />
häufig.<br />
Dabei neigten männliche Therapeuten eher dazu,<br />
Patienten anzufassen als weibliche Psycho logen. Zu -<br />
dem flirteten männliche Psychologen in der Therapie<br />
mehr und machten häufiger sexuelle An gebote als ihre<br />
Kolleginnen.<br />
Nach der Arbeit von Moggi et al. (1992) und der<br />
Metaanalyse Katherine Hall (2001), bei der sich eine
(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 131<br />
umfangreiche Übersicht zur <strong>Literatur</strong> findet, kann das<br />
Phänomen nicht als selten bezeichnet werden.<br />
Wissenschaftliche Ansätze<br />
Die erste wissenschaftlich fundierte Übersicht über<br />
die Häufigkeit von sexuellen Übergriffen von Ärzten<br />
gegenüber ihren Patienten brachte eine anonyme Um -<br />
frage unter 1000 männlichen Ärzten durch Kardener<br />
(1973): Von 460 antwortenden Ärzte bekannten rund<br />
10% erotische Kontakte mit ihren Patientinnen, 5%<br />
schlossen sexuellen Verkehr ein. Auch in dieser Tä -<br />
tergruppe fand sich bei 13% die Meinung, sie hätten<br />
ihren Patientinnen damit geholfen, sexuelle Blocka -<br />
den zu lösen; allerdings hielten 87% der Antwor -<br />
tenden derlei Beziehungen für unangemessen.<br />
Hintergründe für diese Untersuchung teilt Tschan<br />
in einem jüngsten Buch „Missbrauchtes Vertrauen“<br />
(2001) mit: Nachdem Kardeners Ehefrau entdeckt hat -<br />
te, dass ihr Ehemann sexuelle Kontakte mit Patien -<br />
tinnen hatte, wollte ihr Mann mittels dieser Unter -<br />
suchung nachweisen, dass sein Verhalten nichts<br />
Außer gewöhnliches sei; seine Frau ließ sich trotzdem<br />
scheiden. Die Kalifornische Psychiatrische Gesell -<br />
schaft schloß Kardener aus (Gary Schoener, persönliche<br />
Mitteilung, zit. nach Tschan 2001).<br />
Die große Mehrzahl missbräuchlichen Verhaltens -<br />
weisen (95%) ereignen sich (Bouhoutsos et al. 1983)<br />
zwischen männlichen Therapeuten und weiblichen Pa -<br />
tienten. In derselben Arbeit werden nur 3% sexuelle<br />
Kon takte von Therapeutinnen zu männlichen Patien -<br />
ten genannt, in 2,5% fand der sexuelle Kontakt zwischen<br />
einem männlichen Therapeuten und einem<br />
männ lichen Patienten statt und nur in 1,4% der Fälle<br />
zwi schen weiblichen Therapeutinnen und Patien -<br />
tinnen. Andere Arbeiten differenzieren diese Zahlen:<br />
Zum Geschlechterverhältnis fanden Anders & Wiesler<br />
(1995) bei einer Befragung von Folgetherapeuten,<br />
dass es in 86% männliche und in 14% weibliche Per -<br />
sonen waren, die mit Patienten sexuelle Beziehungen<br />
aufnahmen.<br />
Schoener (1989) gibt in 77% aller Fälle Übergriffe<br />
eines männlichen Therapeuten gegenüber weiblichen<br />
Patientinnen an. In 15% sind es Therapeutinnen,<br />
die mit Patientinnen sexuelle Kontakte eingingen, in<br />
5% handelt es sich um gleichgeschlechtliche Kontakte<br />
zwischen Männern und in 3% nahmen Therapeutinnen<br />
mit männlichen Patienten sexuelle Beziehungen auf.<br />
Obwohl nicht alle Übergriffe sexueller Natur sind,<br />
sondern auch emotionaler Missbrauch und wirtschaftliche<br />
Ausbeutung vorkommen, zentriere ich hier auf<br />
die sexuellen Handlungen.<br />
Alle Übergriffe, insbesondere aber sexuell gefärbte<br />
Handlungen oder sexuelle Begegnungen, die in therapeutischem<br />
Zusammenhang stattfinden, pervertieren<br />
die Grundbedingungen der Behandlung: Die übergriffige<br />
therapeutische Person zerstört das subtile Ge -<br />
flecht der therapeutischen Beziehung, das „vas hermeticum“<br />
(wie es Jung als Gefäß der Wandlung genannt<br />
hat) wird zerbrochen. Wandelt sich der Therapeut zum<br />
Liebespartner, tritt zugleich eine unheilvolle Konfu -<br />
sion von Rollen ein, die für den therapeutischen Pro -<br />
zess zerstörerisch ist. Als Patienten Betroffene können<br />
den eigenen Gefühlen und ihren Wahrnehmungen<br />
nicht mehr vertrauen, es entsteht Verwirrung über Zu -<br />
neigung, Liebe und sexuellem Bedürfnis. Auch der<br />
Therapeut kann bei magelnder fachlicher Distanz sei -<br />
ne Aufgabe nicht mehr erfüllen.<br />
Folgen bei den Patienten<br />
! Der eigentliche Missbauchsvorgang belastet traumatisch<br />
! Eine sekundäre Traumatisierung tritt durch<br />
Schuld zuweisung an die Opfer ein<br />
! Die Rolle als Opfer mit negativen Kognitionen<br />
verfestigt die Traumatisierung und eine resignierte<br />
Grundhaltung<br />
Symptomatische Beeinträchtigungen<br />
! Unsicherheit mit den eigenen Grenzen und den<br />
Grenzen anderer<br />
! Ambitendenz in nahen Beziehungen<br />
! Gefühle des Isoliertseins<br />
! Dissoziative Gestörtheit, somatoforme Störungen<br />
! Kognitive Verunsicherung:<br />
! Eigene Wahrnehmungen und Gefühle werden als<br />
nicht verlässlich empfunden, die Repräsentanz<br />
von Selbst und Welt werden erschüttert; die<br />
Fähigkeit, sich selbst und anderen zu vertrauen,<br />
wird nachhaltig beeinträchtigt.<br />
Unterdrückte Wut und ihre Folgen wie<br />
! emotionale Labilität, Depression und Suizidne -<br />
gung<br />
! selbstverletzendes Verhalten<br />
! sexuelle Störungen<br />
! Entfremdungserlebnisse und Körperbildstörungen<br />
Heilungsmöglichkeiten<br />
Betroffene benötigen Hilfe beim Aufgeben der Opfer -<br />
rolle und beim Lernen, Liebe und Sexualität klar zu<br />
un terscheiden. Die hierzu notwendigen therapeutischen<br />
Strategien sind von Becker-Fischer (1996) so -<br />
wie Fischer & Riedesser (1999) ausführlich dargestellt.<br />
Tschan (2001) legt nach seinen Erfahrungen mit<br />
Opfern und Tätern großen Wert darauf, dass die Bera -<br />
tung von Täter und Opfer aus derselben Beziehung<br />
im mer strikt getrennt wird:
132 W. Dmoch<br />
„Die Opfer als die Schwächeren und Traumatisierten<br />
brauchen einen besonderen Schutz, und schon mit ge -<br />
sundem Menschenverstand erkennt man, dass es für<br />
das Opfer unzumutbar ist, mit dem Täter zusammentreffen<br />
zu können. Als Traumahelfer macht man sich<br />
bei Nichtbeachtung dieses Grundsatzes für die Retrau -<br />
matisierung des Opfers mitverantwortlich.“<br />
Tschan beschreibt in diesem Zusammenhang ein<br />
spe zifisches Täterverhalten unter dem Aspekt des Tä -<br />
ter-Opfer-Ausgleichs, der im Sinne des Täters instrumentalisiert<br />
werden soll:<br />
„Zu Beginn der Behandlung drängen Täter oft auf<br />
eine Gegenüberstellung mit dem Opfer und versuchen<br />
den Traumahelfern weiszumachen, dass damit alle<br />
Kon flikte aus der Welt geschafft werden könnten. Ins -<br />
geheim erhoffen sie sich aber damit, das Opfer von<br />
wei teren Schritten und Aussagen abhalten zu können<br />
und somit letztendlich ungeschoren davonzukommen.<br />
Man hüte sich vor derartigen Dreiparteiengesprächen,<br />
die regelmäßig zur Retraumatisierung des Opfers füh -<br />
ren. Es muss allein dem Opfer überlassen werden,<br />
wann und ob es zu einer Aussprache mit einem Täter<br />
bereit ist.“<br />
Dies verweist auch darauf, dass es nicht ausreicht,<br />
übergriffige Therapeuten nachträglich durch Straf -<br />
maß na hmen zu sanktionieren, sondern dass auch prä -<br />
ventive Aufgaben gestellt sind.<br />
Zum Problem der Rehabilitation<br />
von übergriffigen Therapeuten<br />
In der Täterberatung sind genaue Kenntnisse über ty -<br />
pische Abwehrstrategien erforderlich. Tschan (l.c.) be -<br />
tont, es sei oft hilfreich, gleich zu Beginn den Tätern<br />
klar zu machen, wie durchschaubar ihre Ab wehr -<br />
manöver seien. Auch müsse ihnen erklärt werden, dass<br />
die Beratung keine juristische Beurteilung darstellen<br />
kann. Die Aufgabe bestehe vielmehr darin, zusammen<br />
mit dem Täter dessen individuelles Verhalten zu untersuchen<br />
und wo notwendig, seine Habituationen zu<br />
ver ändern und ihm Bewältigungsstrategien zu vermitteln.<br />
Es geht dabei um die Identifizierung der Täter -<br />
strategie, die als kreisförmiges Modell des Verhaltens<br />
beschrieben ist.<br />
Der vitiöse Zirkel des<br />
Missbrauchs<br />
Wegbereitend für die Entwicklung eines Konzepts<br />
vom sexuellen Missbrauch als einem kreisförmigen<br />
Pro zess und dessen Anwendung für ein präventives<br />
Trai ning waren Gorton et al. (1996a,b) die diese ur -<br />
sprünglich für pädophile Sexualstraftäter entwickelten<br />
Techniken verwendet haben. Das Kreismodell impliziert<br />
auch, dass oft der gleiche Täter mehrfach für<br />
übergriffiges Verhalten verantwortlich ist. Aufgrund<br />
seiner allgemeinen Gültigkeit ist dieses zirkuläre Mo -<br />
dell des Verhaltens für die Arbeit mit missbrauchenden<br />
Fachleuten gut geeignet. Schoener (1999) hat dieses<br />
Modell zu einem interaktiven Training für Fach -<br />
leute elaboriert.<br />
Der Missbrauch beginnt im Kopf<br />
Imaginationen sexueller Fantasien gegenüber Pers -<br />
onen, zu denen sexuelle Kontakte verpönt sind, lösen<br />
sowohl Ängste wie auch Schuld- und Schamgefühle<br />
aus, wenn sie als reale Handlungsentwürfe aufgefasst<br />
werden, statt sie deskriptiv als Abbildungen eines Be -<br />
ziehungsaspekts in der Therapie zu nutzen. Imaginativ<br />
antizipierte Strafverfolgungen mit beruflichen Konse -<br />
quenzen rufen dann angstbesetzte Vorstellungen hervor<br />
und es treten Schuldgefühle gegenüber den emo -<br />
tio nal abhängigen Personen auf; vielleicht machen<br />
sich auch Schamgefühle angesichts der Impulse und<br />
Imaginationen bemerkbar, die wiederum zu Abwehr in<br />
Form von Spaltungsvorgängen Anlass geben.<br />
Es handelt sich dabei um einen psychischen Ab -<br />
wehrvorgang, der dazu dient, unerträglich wider -<br />
sprüch liche emotionale Zustände auszublenden. Sym -<br />
bolisch gesprochen wird eine Art Zyste oder Krypta<br />
im Ich errichtet. Nach außen ist solch ein abge kap sel -<br />
ter Komplex durch verschiedene Pseudo-Er klä rungen<br />
gesichert, die den Missbrauch scheinbar legitimieren<br />
und relativieren. Die missbrauchende Fach per son<br />
kon struiert hierzu eine persönliche Unschulds vor stel -<br />
lung für ihr Tun wie etwa: „Wir hatten uns verliebt“.<br />
Sol che kognitiven Verzerrungen und Abspal tungen<br />
mit der untergründigen Konnotation, dass Lie be doch<br />
alles erlaube sowie alles verzeihe, haben Ab -<br />
wehrfunktion. Hinzu kommen bewusste Rationa li -<br />
sierungen, Beschönigungen und Opferbeschuldi gun -<br />
gen wie: „Andere machen es auch“ oder „Eine lustvolle<br />
Begegnung hat noch niemandem geschadet“ und<br />
der häufiger Verweis auf die Einwilligung der Be -<br />
troffenen als Einstieg in die Opferbeschuldigung.<br />
Soziale Manipulation: Grooming<br />
Aus der Forschung mit Pädophilen stammen Er -<br />
kenntnisse über das die Umgebung manipulierende<br />
Täterverhalten, die sich auf den hier behandelten<br />
Bereich übertragen lassen.<br />
In der vergleichenden Verhaltensforschung be -<br />
zeich net man das soziale Lausen und Fellpflegen als<br />
„grooming“. Man spricht im Englischen vom Bräuti -<br />
gam als dem „bridegroom“, der die Braut streichelt.<br />
Groo ming bedeutet auch, einem Pferd das Fell zu
(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 133<br />
striegeln. In diesem Zusammenhang ist mit diesem<br />
Be griff gemeint, dass Täter alle Beteiligten manipulieren,<br />
um sie sich geneigt zu machen und jeden Verdacht<br />
gegenüber ihren Absichten zu zerstreuen. Diesem Ver -<br />
halten sind Unbeteiligte ebenso ausgesetzt wie die un -<br />
mittelbare Umgebung des Opfers und die Betroffenen<br />
selbst.<br />
In den folgenden Beispielen werden verschiedene<br />
Elemente von Grooming und übergriffigem Verhalten<br />
erkennbar:<br />
Äußern die Opfer Bedenken hinsichtlich intimer<br />
Kon takte im Rahmen des fachlichen Verhältnisses,<br />
werden diese von Tätern relativiert.<br />
Beispiel: Ein Psychotherapeut aus einer rheinischen<br />
Großstadt trug seiner Patientin im zweiten Be -<br />
willi gungsabschnitt einer Langzeit-Psychotherapie<br />
eine se xuelle Begegnung am Wochenende an. Ihre<br />
Beden ken, er sei doch verheiratet und seine Frau er -<br />
warte ein Kind, relativierte er mit dem Hinweis: Seine<br />
Frau sei gerade wegen vorzeitiger Wehen im Kranken -<br />
haus, sie stehe nicht zur Verfügung und insofern entgehe<br />
ihr ja nichts.<br />
Zuweilen wird das Behandlungsverhältnis beendet,<br />
da mit ab sofort nichts mehr hinderlich sei; schon<br />
Wil helm Reich hatte diesen Weg gewählt.<br />
Beispiel: Ein psychosomatisch orientierter Frau -<br />
en arzt überwies seine langjährige Patientin wegen<br />
sexueller Erlebensstörungen in eine Paartherapie zu<br />
mir; am Abend des gleichen Tages, an dem er die<br />
Über weisung ausgestellt hatte, rief er die Patientin zu<br />
Hause an und wies sie darauf hin, dass er besondere<br />
fachliche Kennt nisse habe, die ihr ungewöhnliche Er -<br />
fahrungen ermöglichen würden. Er schlug ihr ein Tref -<br />
fen in dem neben seiner Praxis gelegenen Hotel vor.<br />
Manchmal erreicht der Täter sein Ziel auch durch<br />
Drohungen, wodurch das Opfer gefügig gemacht<br />
wird. Das folgende Beispiel, das in der Presse gemeldet<br />
und kommentiert wurde, enthält auch die Tendenz<br />
zur Opferbeschuldigung.<br />
Beispiel: Ein 47-jähriger Frauenarzt hatte nach der<br />
Überzeugung des Gerichts seine Praktikantin mit einer<br />
unglaublichen Geschichte zum Geschlechtsverkehr<br />
überredet. Das Mädchen hatte befürchtet, schwanger<br />
zu sein, nachdem ihre Regel ausgeblieben war. Der<br />
Gynäkologe machte ihr weis, sein Sperma sei in der<br />
Lage, die Leibesfrucht abzutöten. Er habe ein entsprechendes<br />
Medikament eingenommen. Als ihre Schwan -<br />
gerschaft ausblieb, sah die Praktikantin die Aussage<br />
des Arztes bestätigt. Einige Monate später stellte der<br />
Gynäkologe seiner Praktikantin eine Ausbildungs -<br />
stelle in seiner Praxis in Aussicht. Er redete dem Mäd -<br />
chen ein, sie erwarte erneut ein Kind, wieder sollte<br />
Geschlechtsverkehr eine Schwangerschaft verhindern.<br />
Da die junge Frau die Lehrstelle nicht gefährden wollte,<br />
ließ sie sich erneut auf eine sexuelle Begegnung<br />
ein. Der Arzt beteuerte vor Gericht seine Unschuld<br />
und sprach von einem Racheakt. Seine frühere Prak -<br />
tikan tin habe ihn nur angezeigt, weil sie keine Lehr -<br />
stelle bekommen habe. Dem vermochten die Richter<br />
nicht zu folgen. Schließlich habe die Jugendliche ihre<br />
Er lebnisse lange für sich behalten. Der Vorsitzende<br />
Rich ter sprach von gravierenden psychischen Folgen<br />
der Taten, die das Mädchen an den Rand des Selbst -<br />
mordes gebracht hatten.<br />
Aus rechtlichen Gründen vermochte die Kammer<br />
kein generelles Berufsverbot gegen den Mediziner<br />
aus zusprechen. Die Richter untersagten ihm jedoch,<br />
vier Jahre lang weibliche Jugendliche zu behandeln<br />
oder zu beschäftigen. Nach Aussagen einiger Zeu -<br />
ginnen hatte sich der Arzt auch an anderen Mädchen<br />
vergriffen. Bei einer jungen Frau wollte der Gynäko -<br />
loge angeblich Hand anlegen mit der Begründung, ein<br />
Orgasmus könne den Feten abtreiben.<br />
Das Urteil brachte den Heidelberger Gynäkologen<br />
für zwei Jahre und neun Monate hinter Gitter. Zudem<br />
ordnete das Heidelberger Landgericht ein begrenztes<br />
Berufsverbot an.<br />
Sexuelle Übergriffe geschehen zuweilen im<br />
Sprech zimmer des Arztes, zuweilen bei Verabre -<br />
dungen außerhalb. Manchmal ereignen sie sich nur<br />
wenige Male, manchmal werden sie über einen längeren<br />
Zeitraum hinweg fortgesetzt.<br />
Beispiel: Ein Professor für Gynäkologie, der im<br />
Rah men seiner endokrinologischen Beratungen auch<br />
psychotherapeutische Behandlungen anbietet, für die<br />
er keine Ausbildung hat, hat mir innerhalb von 15<br />
Jahren vier seiner Patientinnen zur Behandlung von<br />
Trauer reaktionen überwiesen, nachdem er längere se -<br />
xuelle Verhältnisse mit ihnen hatte. Die letzte Über -<br />
wei sung betraf die Ehefrau eines Mitglieds der gleichen<br />
Hoch schule, die sich jeden Samstag in der Praxis<br />
ihres Ge lieb ten zu sexuellen Begegnungen eingefunden<br />
hatte. Bei einer Verabschiedung und der Frage<br />
nach dem nächsten Samstag war die Antwort: „Da<br />
geht es nicht, da heirate ich doch“.<br />
Nach einem sexuellen Übergriff bleiben beim Tä -<br />
ter häufig Scham- und Schuldgefühle, vor allem aber<br />
Angst zurück. Die Angst betrifft eine drohende An -<br />
zeige, etwaige berufliche und gesellschaftliche Kom -<br />
plikationen. Daher versuchen Täter häufig selbst die<br />
Opfer zu nötigen, alle etwa vorhandenen Beweise zu<br />
beseitigen. Wenn dennoch etwas heraus kommt, wird<br />
selbst bei ganz offensichtlichen und schwerwiegenden<br />
Übergriffen alles geleugnet oder bagatellisiert, Sach -<br />
verhalte werden verdreht und das Opfer wird eingeschüchtert<br />
oder gar der Verleumdung beschuldigt. Da<br />
dem Missbrauch verschiedene Grenzüberschreitungen<br />
voran gehen, hat Schoener diese Entwicklung mit glit-
134 W. Dmoch<br />
schigen Schräge verglichen: Innerhalb der fachlichen<br />
Beziehung werden kumulativ Grenzverletzungen<br />
begangen, bei denen eine vorausgehende geringgradige<br />
Grenzüberschreitung die nächste, schwerer wiegende<br />
ermöglicht. Da es sich um einen längeren Pro -<br />
zess handelt, der nicht überraschend abläuft, können<br />
auf verschiedenen Ebenen Einhalt gebietende Siche -<br />
rungen im Verhalten implantiert werden.<br />
In dem zuletzt geschilderten Beispiel wird ein<br />
Umstand erkennbar, der bedenkenswert erscheint: Es<br />
wird ohne nennenswerte oder mit einer nur geringen<br />
Ausbildung Psychotherapie betrieben oder ein psychotherapieähnliches<br />
Behandlungsverhalten angestrebt.<br />
Aus den Arbeiten der Gruppe um Fischer<br />
(1994) ist bekannt, dass viele der Täter auch mit einer<br />
anerkannten Psychotherapieausbildung Behandlungen<br />
übernehmen, die länger dauern oder schwieriger sind<br />
als die Kompetenz der Behandler erlaubt.<br />
Auch bei den meisten Psychotherapeuten hat es<br />
wäh rend der Ausbildung außer indirekten moralischen<br />
Appellen kaum eine systematische Vorbereitung auf<br />
den Umgang mit Grenzen gegeben.<br />
Viele der Interessenten und Teilnehmer der sexualmedizinischen<br />
Kurse haben keine oder nur eine geringe<br />
psychotherapeutische Ausbildung und auch sie<br />
erhalten bisher zu wenig konkrete Hilfe, sich und ihre<br />
Patienten vor Entgleisungen im Behandlungsprozess<br />
zu schützen. So manche zu Beginn einfach aussehende<br />
sexualtherapeutische Beratung oder Behandlung<br />
kann unversehens an Dynamik gewinnen und in<br />
schwierig zu handhabende Situationen führen.<br />
Ein Gynäkologe fragte in einer Balintgruppe recht<br />
erstaunt: „Warum soll ein Frauenarzt, der bei körperlicher<br />
Untersuchung direkte Berührungen vornehmen<br />
muss, bei einer Patientin mit koitaler Empfin dungs -<br />
störung nicht auch die Lokalisation des Gräfen -<br />
bergpunktes und dessen Sensibilität demonstrieren?“<br />
Strategien zur Hilfe?<br />
Erst 1994 erschien eine praktische und umfassende<br />
Darstellung zur Frage „Grenzen einhalten: Die<br />
Aufrechterhaltung von Sicherheit und Integrität im<br />
psychotherapeutischen Prozess“ und ein Jahr darauf<br />
erschien „Grenzen und Grenzverletzungen in der<br />
Psychoanalyse“ der Psychiater Gabbard & Lester<br />
(1995). Zugleich wurde vermehrt zur Beurteilung und<br />
zum Umgang mit Fachleuten anderer Professionen<br />
publiziert, die sexuellen Umgang mit ihren Patienten<br />
hatten, u.a. auch über Geistliche, die sexuellen<br />
Kontakt mit Gemeindemitgliedern aufnahmen ( es ist<br />
offenbar kein Problem, das erst jüngst entstanden ist).<br />
Diese Publikationen führten zu Beurteilungs- und<br />
Behandlungsmethoden von Fachpersonen, die Grenz -<br />
verletzungen aller Art – nicht nur sexuelle Übergriffe<br />
– begingen. Die Ausnutzung von Vertrauens verhält -<br />
nis sen durch Fachleute kann im Bildungsbereich, im<br />
Bereich von Sport- und Freizeit und auch im Ge sund -<br />
heitswesen geschehen.<br />
Um als Opfer und als Täter betroffenen Personen<br />
zu helfen, war eine Fülle von Fragen zu klären:<br />
Was ist unter sexuellem, was unter emotionalem Miss -<br />
brauch durch Fachleute zu verstehen?<br />
Lassen sich Umstände besonderer Risiken auf<br />
Seiten der Opfer und der Täterseite ermitteln?<br />
Wie kann man missbräuchliches Verhalten durch<br />
Fachleute mindern oder verhindern? Welches sind die<br />
Folgen für Betroffene und ihre Angehörigen?<br />
Welche Hilfsmöglichkeiten stehen für als Opfer<br />
oder Täter Betroffene zur Verfügung?<br />
Fischer et al. (1995) beurteilen aus ihren Unter -<br />
suchungen die Rehabilitationsmöglichkeiten für übergriffige<br />
Psychotherapeuten eher pessimistisch. Thera -<br />
piewillige missbrauchende Fachleute haben es demge -<br />
mäss schwer, geeignete und bereite Therapeuten zu<br />
finden. Vielleicht war dies ein Motiv für die flämischen<br />
Autoren Vanhoek und van Daele, im Jahr 2000<br />
ein „Arbeitsbuch Täterhilfe“ zu publizieren, das sich<br />
als eine Anleitung zur Selbsthilfe an Sexualtäter wendet<br />
und ihnen eine Chance für Schritte zu Eigen -<br />
verantwortlichkeit bietet; viele der darin beschriebenen<br />
Schritte zur Kontrolle des Übergriffsverhaltens<br />
sind für Täter in therapeutischen Situationen übertragbar.<br />
Es bleibt aber fraglich, ob bereits übergriffig ge -<br />
wor dene Fachleute auf sich allein gestellt die Kraft<br />
und Beharrlichkeit haben, solch ein Abgren zungs -<br />
manual selbständig abzuarbeiten; in einer therapeutischen<br />
Beziehung zu einer fachkundigen kollegialen<br />
Person können auch Zeiten der Entmutigung und Ver -<br />
zweiflung überwunden werden; auch erscheint es<br />
frag lich, ob die Stärkung der eigenen Gewissens -<br />
funktion außerhalb der therapeutisch gestalteten Be -<br />
ziehung zu einer das emotionalen Fortschreiten bejahenden<br />
und bestätigenden therapeutischen Person zu<br />
Stande kommt.<br />
Die Scheu von Psychotherapeuten, übergriffig ge -<br />
wor dene Kollegen in Behandlung zu nehmen, könnte<br />
zum Teil an den widersprüchlichen und heftigen Ge -<br />
gen übertragungsreaktionen liegen, die von Abscheu,<br />
Ablehnung und Verurteilung bis hin – im Sinne einer<br />
Identifikation mit dem Täter – zu verborgener Scham,<br />
heimlichem Mitleid, halb eingestandenem Bedauern<br />
und gar einer eindeutigen Parteinahme tendieren kann.<br />
Diese Tendenzen können zum Agieren von Affekte in<br />
Form von Opferbeschuldigungen führen. Auch die<br />
Ge fahr emotionaler Korrumpierbarkeit aus Fürsorge<br />
für den Behandlungskandidaten ist sorgfältig zu be -<br />
achten. Mitwisser können sich mit quälenden Ge -
(Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe in therapeutischen Situationen 135<br />
danken an eine Mitverantwortung konfrontiert fühlen<br />
und die Furcht, selbst etwa durch eine Verleum dungs -<br />
klage in juristische Verwicklungen zu geraten, ist nicht<br />
zu unterschätzen. Hier könnte eine fachlich kompeten -<br />
te Supervision hilfreich sein, auf die eigentliche Auf -<br />
gabe zu zentrieren. Übernimmt der Therapeut zu viel<br />
Ver antwortung, kann dies vielleicht den notwendigen<br />
Wandlungsprozess beeinträchtigen. Da die Behand -<br />
lung von übergriffigen Tätern mit solchen komplizierten<br />
Problemen der Gegenübertragung verbunden sind,<br />
ist eine solche Aufgabe nur durch therapeutisch erfahrene<br />
Personen bei obligater Supervision zu bewältigen.<br />
Gegenüber den Täter-Kollegen empfiehlt Tschan<br />
(2001) eine „sehr eindeutige therapeutische Haltung.<br />
Die Täterberatung sollte nicht im moralischen Sinne<br />
verurteilend sein, hingegen mit klarer Haltung, was<br />
die Verantwortung der betreffenden Fachperson be -<br />
trifft.“<br />
Etwas später fordert Tschan: „Gleich zu Beginn je -<br />
der Be ratung muss das Auftragsverhältnis klargestellt<br />
wer den. Folgende Fragen müssen beantwortet werden:<br />
Kommt er auf Druck von Dritten (Arbeit geber,<br />
Gerichte, Behörden, Berufsverbände, Ange hö rige<br />
etc.)? Will er seinen eigenen möglichen Schaden minimieren<br />
und möglichst ungeschoren davonkommen<br />
oder bereut er seine Handlungen und sieht den<br />
Schaden ein, den er angerichtet hat?<br />
Was erwartet der Täter von einer Beratung, welches<br />
sind seine Zielsetzungen?<br />
Das Ziel der Beratung besteht darin, beim Täter<br />
die notwendigen Verhaltensänderungen zu ermöglichen,<br />
die einen emotionalen Lernprozess einzuleiten.<br />
Das soll den Tätern möglich machen, sich in die<br />
Situation des Opfers zu versetzen, damit sie das Un -<br />
recht ihres Tuns auch wirklich einsehen können und<br />
sie ihre Impulse besser kontrollieren lernen.“<br />
Was kann man vorbeugend und<br />
als Rehabilitation tun?<br />
Tschan meint, dass es nicht genüge, die Ver feh lungen<br />
strafrechtlich würdigen zu lassen; es müsse auch über<br />
Vorbeugung und Schutz vor Wiederholung nachgedacht<br />
werden. Daher schlägt er vor, im Rahmen eines<br />
zukünftig anzuwendenden Rehabilitations kon zeptes<br />
für alle missbrauchenden Fachleute diese vor Be -<br />
handlungsaufnahme durch eine unabhängige Instanz<br />
im Hinblick auf ihre Rehabilitierbarkeit zu beurteilen<br />
(2001).<br />
Tschan zeigt sich jedoch nicht unkritisch, indem er<br />
warnt: „Es ist davon auszugehen, dass sich nur ein<br />
kleiner Bruchteil von missbrauchenden Fachleuten<br />
frei willig für eine Beratung meldet. Die Motivation<br />
für einen derartigen Schritt reicht von echter Einsicht<br />
über das eigene Fehlverhalten oder Angst vor möglichen<br />
administrativen und rechtlichen Folgen bis zum<br />
Druck von außen im privaten Bereich (Ehepartner,<br />
Angehörige).“<br />
In Deutschland haben die Arbeiten von Monika<br />
Becker-Fischer und Gottfried Fischer (1994) die<br />
Grund lage für eine Gesetzesänderung abgegeben, wie<br />
sie inzwischen mit der Schaffung des Paragraphen 174<br />
c StGB rechtskräftig wurde. Hier hat der Gesetzgeber<br />
für den nötigen Schutz gesorgt, aber dieser ist erst<br />
nachträglich wirksam: Es wird ein Prinzip durch ein<br />
strafbewehrtes Verbot geschützt, nicht aber die Opfer<br />
Fest steht: Sexuelle Übergriffe kommen neben Miss -<br />
brauchshandlungen anderer Art in beachtenswerter<br />
Zahl vor.<br />
Die Folgen bei den Opfern sind sehr nachteilig.<br />
Die Täterstrategien sind bekannt. Bestrafungen, wenn<br />
sie denn zustande kommen, schützen nicht vor<br />
Folgetaten.<br />
Die wichtigsten Risikomerkmale der Täter – abgesehen<br />
von individueller Problematik – sind bekannt:<br />
Je kürzer die psychotherapeutische Ausbildung und je<br />
geringer der Supervisionsanteil, desto eher wird ein<br />
Psychotherapeut übergriffig handeln.<br />
Es liegen Übungsprogramme vor, mit denen Täter<br />
und Gefährdete lernen können, professionelle Distanz<br />
zu wahren. Hier müssen aber auch Strukturen geschaffen<br />
werden, Opfern und Tätern zur Rehabilitation hilfreich<br />
zu sein.<br />
Abgrenzungstraining<br />
Seit einigen Jahren liegen Erfahrungen (Epstein 1994,<br />
Gorton et al. (1996) mit dem ursprünglich für pädophile<br />
Täter entwickelten „boundary training“ vor, das<br />
auch als Abgrenzungstraining für Fachleute geeignet<br />
ist, um sie bereits vom Beginn ihrer Laufbahn an zu<br />
sensibilisieren und auf mögliche Situationen vorzubereiten,<br />
die zu Grenzüberschreitungen führen könnten.<br />
Die Zielgruppe eines solchen Abgrenzungstrainings<br />
sind Fachleute, die auf Grund ihres Tätigkeits spek -<br />
trums in Gefahr kommen können, Grenzen nicht einzuhalten.<br />
Da die Akademie für Sexualmedizin nicht nur Psy -<br />
chotherapeuten mit längerer und qualitativ differenzierter<br />
Ausbildung in ihre Kurse aufnimmt, sondern<br />
auch Fachärzte mit geringeren psychotherapeutischen<br />
Fähigkeiten und Fertigkeiten, hat sie Verantwortung<br />
für eine präventive Schulung der künftigen sexualmedizinisch<br />
Tätigen Kollegen und will diese auch wahrnehmen.<br />
Dies könnte sie in vermehrtem Umfang um -<br />
setzen, indem sie in der sexualmedizinischen Aus bil -<br />
dung auch eine Kompetenzerweiterung im Abgren -
136 W. Dmoch<br />
zungsverhalten und ein Bewusstsein für Grenzen im<br />
se xualmedizinischen Kontext vermittelt, was wie einleitend<br />
festgestellt weniger im Paargespräch als vielmehr<br />
in Einzelgesprächen zum Tragen kommen sollte.<br />
Das Curriculum (Vogt et al. 1995) vermittelt Ärzten<br />
aus verschiedenen medizinischen Fachbereichen wertvolles<br />
Wissen und Können, um sexualmedizinisch in<br />
ihren jeweiligen beruflichen Bereich tätig zu werden<br />
und bereitet sie mit erheblichem Aufwand an Selbst -<br />
erfahrung und Supervision auf therapeutische Situ -<br />
atio nen vor, die ihnen bis dahin ungewohnt waren. Es<br />
ist ein Bestandteil der Verantwortung und Fürsorge -<br />
pflicht der Lehrenden, auch präventiv tätig zu werden.<br />
Ich bin der Auffassung, dass die ASM nicht den<br />
Fehler der etablierten psychotherapeutischen Ausbil -<br />
dungs institutionen wiederholen darf, dieses Thema in<br />
ihren Weiterbildungen und im professionellen Diskurs<br />
zu vernachlässigen.<br />
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Anschrift des Autors<br />
PD Dr. Walter Dmoch, Bromberger Str. 22, 40599 Düsseldorf, mail: walter.dmoch@uni-duesseldorf.de
Fortbildung<br />
Sexuologie<br />
„Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden.<br />
Die Partnerschaft ist zusammengewachsen.“ *<br />
Dirk Rösing<br />
„Confidence and Security are<br />
now present. Our Partnership<br />
has grown.“<br />
Im folgenden wird über den Verlauf einer Sexual the -<br />
ra pie berichtet. Wegen einer Erektionsstörung stellte<br />
sich ein junger Mann in der Sprechstunde für Erektile<br />
Dys funk tion der Poliklinik für Urologie der Ernst-<br />
Moritz-Arndt Universität Greifswald vor. Nach einer<br />
Zeit von 8 Wochen in denen 4 Gespräche mit dem<br />
Mann geführt wurden, konnte er motiviert werden<br />
seine Widerstände, die Partnerin am gemeinsamen<br />
Gespräch teilnehmen zu lassen, aufzugeben. Die The -<br />
rapie umfasste 9 Stunden und erstreckte sich über<br />
einen Zeitraum von 4 Monaten. Es wird nachfolgend<br />
aufgezeigt, dass die Einbeziehung der Partnerin entscheidend<br />
für den erfolgreichen Thera pieverlauf war<br />
und beide davon in einem überschaubaren Zeitin -<br />
tervall profitierten.<br />
Anlass der Erstvorstellung<br />
Herr L. stellte sich mit einer Überweisung eines am -<br />
bulant tätigen urologischen Kollegen zur weiteren Ab -<br />
klä rung einer erektilen Dysfunktion vor. Die be reits<br />
be stimm ten Testosteronwerte waren im Norm bereich.<br />
Ein Therapieversuch mit Apomorphin war ge scheitert.<br />
Der 30 jährige gutaussehende Mann berichtet im<br />
Erst gespräch über seine „Potenzprobleme“ mit den<br />
Wor ten: „Es passiert gar nichts mehr“.<br />
Herr L. ist ordentlich gekleidet, wirkt gepflegt. Er<br />
ist schüchtern, hilflos und kann zunächst kaum Blick -<br />
kon takt halten. Es fällt ihm schwer, über seine Sexua -<br />
li tät zu sprechen. Eine differenziertere Analyse der<br />
Pro blematik wird nur durch ständiges Nachfragen<br />
möglich.<br />
Vor einem Monat habe er Frau P. kennengelernt.<br />
Sie sei seine erste Frau. Beim Petting habe er eine<br />
Erektion bekommen, aber beim Versuch den Koitus zu<br />
* Worte eines 30 jährigen Mannes mit Erektionsstörung am Ende einer<br />
Paartherapie.<br />
vollfüh ren, kam es zur Gliederschlaffung. „Ich dachte<br />
es kommt von der Aufregung“. Weitere Versuche<br />
einen Koi tus zu erreichen scheitern. Herr L. berichtet<br />
über mor gendliche sowie bei der Masturbation auslösbare<br />
Erektionen. Er äußert die Befürchtung, durch jahrelang<br />
durchgeführte Selbstbefriedigung, nicht in der<br />
Lage zum Vollzug eines Geschlechtsverkehres zu sein.<br />
Seine Part nerin beschreibt Herr L. als tolerant. Sie sei<br />
das „was man sich immer erträumt hat“. Es wäre ihm<br />
je doch sehr peinlich über diese Thematik mit ihr zu<br />
sprechen. Seine „Misere“ belaste ihn sehr stark, so<br />
dass eine schnelle Lösung eingefordert wird. „Wenn<br />
es einmal klappen würde, wäre das Problem gelöst.<br />
Ich will nur normal sein.“ Er berichtet über gemeinsame<br />
Zu kunfts pläne, w.z.B. einen Kinderwunsch seiner<br />
Part nerin, der so nicht erfüllbar ist.<br />
Seine Freundin, die ihn jedes mal bis ins Warte -<br />
zim mer begleitete, mit ins Gespräch einzubinden,<br />
wird wie derholt energisch zurückgewiesen. 8 Wochen<br />
nach dem Erstkontakt, ohne wesentliche Veränderun -<br />
gen der Sexualproblematik, aber weiterer positiver<br />
Ge staltung der Partnerschaft ist Herr L. mit einem Ge -<br />
spräch zu dritt einverstanden.<br />
Lebensgeschichtliche und sozio -<br />
sexuelle Entwicklung<br />
Herr L. bezeichnet sich als einen „Einzelgänger“. „Ich<br />
hätte gern Freunde gehabt, aber ich habe mich immer<br />
abgeschottet“. Nach dem Abschluss der 10. Klasse<br />
folg te eine Lehre und Zivildienst. Seit einigen Jahren<br />
arbeitet er als Angestellter in einem Baumarkt.<br />
Herr L. hat bis zur jetzigen Partnerschaft gemeinsam<br />
mit den Eltern in einer Wohnung gelebt. Die Be -<br />
ziehung bezeichnet er als „sehr gut“. Die Vorstellung<br />
seiner Freundin im Elternhaus habe „Freude bereitet“.<br />
Er hat einen 10 Jahre älteren Bruder, zu dem wenig<br />
Kon takt besteht.<br />
Bis zum 18. Lebensjahr habe er im elterlichen<br />
Schlaf zimmer geschlafen. Sexuelle Handlungen zwischen<br />
den Eltern habe er nie bemerkt. Die sexuelle<br />
Auf klärung sei zu Hause kein Thema gewesen. Er<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 137 – 139 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
138 D. Rösing<br />
habe sei ne Mutter nur einmal nackt im Bad „überrascht“,<br />
woraufhin sie erschrocken sei und sich ein<br />
Hand tuch vorgehalten habe.<br />
Mit 14 Jahren begann er zu masturbieren. Mit 18<br />
Jah ren besorgte er sich „normale“ pornographische<br />
Fil me, die er als Masturbationsvorlage verwendete.<br />
Pa ra phile Phan tasien bestehen nicht.<br />
Erstkontakt mit dem Paar und<br />
Bezie hungsentwicklung<br />
Die 29 jährige Frau P. ist aufgeschlossen und wirkt<br />
dadurch attraktiv. Sie berichtet von einer zunehmenden<br />
Lösung der „Verkrampfung“ bei ihrem Freund.<br />
„Wir können jetzt lockerer darüber reden. Es geht<br />
eben noch nicht voll los, das braucht seine Zeit.“<br />
Herr L. und Frau P. sind seit einigen Jahren Ar -<br />
beits kollegen. Seit längerer Zeit habe Herr L. den<br />
Wunsch nach näheren Kontakten zu ihr. Er habe sie<br />
jedoch nie daraufhin angesprochen. Eine SMS von<br />
Frau P., in der sie ihm ein Angebot zum näheren Ken -<br />
nenlernen unterbreitet, wird von Herrn L. angenommen.<br />
Beide führen daraufhin ein langes Gespräch miteinander.<br />
Nach ca. 4 Wochen zieht Herr L. in die Woh -<br />
nung von Frau P.<br />
Frau P. hatte vor dieser Bindung einen Partner.<br />
Nach dem sie anfänglich auch einige Male koital verkehrt<br />
hatten, seien sexuelle Kontakte von Seiten des<br />
Partners abgebrochen worden. „Ich bin weggeschoben<br />
worden. Ich habe in einem kalten Bett gelegen.“ Nach<br />
verbalen Beschimpfungen ist Frau P. ohne Ankün -<br />
digung aus der Wohnung ausgezogen.<br />
Während des Erstkontaktes mit dem Paar wird die<br />
Zuneigung zwischen beiden spürbar. Hilfesuchend<br />
greift Herr L. nach der Hand seiner Partnerin. Frau P.<br />
erwidert diese Geste. Häufig nehmen beide Blickkon -<br />
takt miteinander auf, unsicher spielt er mit den Fin -<br />
gern an der Tischkante.<br />
Therapieverlauf<br />
Nach den ersten Stunden wird die sexuelle Unerfah -<br />
ren heit beider Partner deutlich. Die Versagensangst,<br />
Angst den Partner verlieren zu können sowie die Un -<br />
fähigkeit über seine Gefühle zu sprechen, stehen bei<br />
Herrn L. im Vordergrund. Auch bei Frau P. werden<br />
Ängste deutlich durch unerfüllte Sexualität ähnliches<br />
aus der Biogra phie wieder zu erleben. Schon nach den<br />
ersten Gesprä chen schildert Frau P. Veränderungen im<br />
Umgang mit dem Thema Sexualität. „Ich sehe das<br />
jetzt lockerer, und es belastet mich nicht mehr so sehr<br />
wie am Anfang.“<br />
Bei der sexuellen Funktionsstörung handelt es sich<br />
um eine Erektionsstörung vom situativen Typ geprägt<br />
durch Leistungsangst und sexuelle Unerfahrenheit<br />
(DSM-IV 302.72, ICD-10 F52.2).<br />
Das Paar ist motiviert und äußert seine Bereit -<br />
schaft an einer Sexualtherapie.<br />
Nach Aufnahme der Sensualitätsübung I verbunden<br />
mit einem Koitusverbot berichtet Frau P. über das<br />
Gefühl tie fer Entspannung. „Ich kann mich fallen lassen.“<br />
Zu gleich gibt sie ihrem Partner positive Rück -<br />
informa tionen über seinen Körper wie z. B. „er hat<br />
sehr schöne Füße“. Auch Herr L. empfindet die Übungen<br />
als „sehr an genehm und erregend“. Beide reden<br />
nun über das Thema Sexualität wesentlich in ten siver<br />
miteinander.<br />
In der zweiten Therapiestunde wirkt Herr L. sehr<br />
un zufrieden mit dem Therapieverlauf. „Es bringt nicht<br />
den gewünschten Erfolg.“ Frau P. beschreibt ihre Em -<br />
pfin dungen ambivalent. Sie fühlt sich in der Rolle des<br />
Gestreicheltwerdens zwar sehr entspannt, äußert aber<br />
„schlechtes Gewissen“ ihrem Partner gegenüber zu<br />
haben. Hier wird dem Paar nochmals der enorme Leis -<br />
tungsdruck gespiegelt und die Fehlvorstellung in dieser<br />
Phase der Therapie seinem Partner etwas beweisen<br />
zu müssen. Positiv verstärkt wird die einsetzende Fä -<br />
hig keit von Herrn L., jetzt besser über seine Gefühle<br />
und Enttäuschungen sprechen zu können. Diese Fä -<br />
higkeit, Ängste und Erwartungen zu verbalisieren und<br />
so Missverständnisse zu vermeiden, wird in den nächsten<br />
Stunden deutlich. Den Wunsch nach einem Kind<br />
hatte Frau P. vor zwei Jahren ihren Kolleginnen ge -<br />
gen über geäußert und gleichzeitig betont, dass eine<br />
Partner schaft dafür nicht Bedingung wäre. Dies sei<br />
Herrn L. „zugetragen“ worden. Auch die Situation,<br />
dass sie ihren letzten Partner plötzlich verlassen hatte,<br />
bewirkte bei Herrn L. Verlustängste. „Das war schon<br />
im Kopf drin. Ich hatte Angst verlassen zu werden.“<br />
Mit wachsender Nähe und Vertrautheit zwischen den<br />
Partnern wird es möglich Gefühle und Empfindungen<br />
anzusprechen und auf die aktuelle Situation zu reflektieren.<br />
Frau P. ist in der Lage die Übungen als Körper -<br />
sprache zu übersetzen und sagt: „Es hat etwas mit Ver -<br />
trauen zu tun darüber zu sprechen und sich fallen lassen<br />
zu können.“<br />
In den folgenden Stunden wird es nun möglich<br />
über den Sensate focus II zum stimulierenden Strei -<br />
cheln zu wechseln. Herr L. berichtet jetzt über zunehmende<br />
Erek tionen und beide sind in der Lage sich<br />
gegenseitig orgasmusfähig zu stimulieren. Der Zu -<br />
sam menhang zwi schen der beziehungsorientierten<br />
und genital-sexuellen Dimension wird in dieser Phase<br />
verstärkt bearbeitet. Frau P. sagt rückblickend auf die<br />
Beziehungs entwicklung, welche inzwischen 5 Monate<br />
besteht: „Das Eingangsproblem ist als Tagesthema<br />
nicht mehr relevant. Zuerst waren wir sehr steif im<br />
Umgang miteinander. Ich kann mich immer mehr
„Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden. Die Partnerschaft ist zusammengewachsen“ 139<br />
ohne schlechtes Gewissen fallen lassen. Auch im alltäglichen<br />
Leben besteht Harmonie.“ Auch Herr L. ist<br />
nun zunehmend in der Lage, über seine Gefühle zu<br />
sprechen. „Ich fühle mich jetzt besser und bin stolz<br />
darauf. Ich merke, dass es durch kleine Schritte besser<br />
wird.“ Das Paar findet ein eigenes sexuell erregendes<br />
Vokabular für sich. Das Orgasmuserleben gestaltet<br />
sich intensiv, abwechslungsreich und gehört nun zu<br />
den Übungen dazu. „Es ist sehr schön zu erleben, wie<br />
er seinen Orgasmus bekommt. Ich finde es spannend<br />
den Orgasmus immer wieder als etwas Neues zu er -<br />
fahren.“<br />
In den Therapiesitzungen wird nun verstärkt die<br />
Bedeutungserteilung einen Orgasmus bei sich und seinem<br />
Partner zu erleben hervorgehoben. Worte wie<br />
„Vertrauen, Akzeptanz, Geborgenheit und Nähe“ werden<br />
zur Übersetzung des körperlichen Ausdrucks verwendet.<br />
Die ehrliche und vertrauensvolle Atmosphäre<br />
zwischen den Partnern, die in den Therapiestunden<br />
wiederholt herausgearbeitet wird, gestattet es beiden<br />
auch Zurückweisung sexueller Aktivitäten, bedingt<br />
durch alltägliche Stressoren, nicht als etwas Verlet -<br />
zendes zu empfinden.<br />
In der 6. Therapiestunde berichten beide, bei noch<br />
bestehendem Koitusverbot, miteinander einen Koitus<br />
erlebt zu haben. „Es war sehr schön und hat in die<br />
Situation gepasst. Es hat unserer Beziehung gut<br />
getan.“ Dieses Erlebnis wird zunächst ausreichend<br />
gewürdigt. Gleichzeitig gilt es im Folgenden das<br />
Erreichte zu stabilisieren und die von ihm beklagte<br />
„schnelle Ejakulation“ nicht manifest werden zu lassen.<br />
Dem Paar werden die Übungen des Penisein -<br />
führens („quiet vagina“) erläutert. Die Partner sind<br />
nun in der Lage, diese Übungen ohne Schwierigkeiten<br />
durchzuführen, dabei sprechen sie miteinander über<br />
ihre Gefühle und geben diese in den Therapiestunden<br />
wieder und verstärken somit das Erlebte positiv.<br />
Gefragt nach dem Zusammenhang zwischen Partner -<br />
schaft und erlebter Sexualität antwortet Frau P.: „Es ist<br />
kompakt. Ich glaube es, wenn er sagt er findet mich<br />
hübsch, weil ich ihn spüre“. Auch Herr L. ist nun in<br />
der Lage den Koitus als Körpersprache wahrzunehmen.<br />
„Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden.<br />
Die Partnerschaft ist zusammengewachsen.“<br />
Das Paar beschreibt in der 8. Therapiestunde verschiedene<br />
Stellungen ohne Schwierigkeiten probiert<br />
zu haben, auch die Abstände bis zur Ejakulation sind<br />
größer geworden. Die Grenzen werden nun als Aus -<br />
druck wachsender Selbstständigkeit der Partnerschaft<br />
vom Paar eigenständig aufgeweicht. In der 9. Stunde<br />
berichten beide über einen Nachmittag, bei dem es zu<br />
einem dreistündigen sexuellen Miteinander kam. „Es<br />
war sehr schön, sehr intensiv, das Beste bisher.“<br />
In der Partnerschaft bestehen jetzt feste Zukunfts -<br />
pläne. Der Geschlechtsverkehr erfolgt ohne Verhü -<br />
tungs mittel. Beide sind sich einig das Thema Kinder -<br />
wunsch so auf sich zu kommen zu lassen. Die nächste<br />
Konsultation des Paares wird im gegenseitigen Ein -<br />
verständnis nach einem Monat erfolgen.<br />
Am Therapieverlauf kann beispielhaft dargestellt<br />
werden, dass ohne die Einbeziehung der Partnerin ein<br />
derart befriedigendes Ergebnis für das Paar wahrscheinlich<br />
nicht möglich gewesen wäre. Durch die po -<br />
sitiven Rückmeldungen und die einfühlsame Art der<br />
Partnerin war es Herrn L. möglich, Erektionen zu zu -<br />
las sen und diese als Körpersprache zu begreifen.<br />
Gleichzeitig profitierte Frau P. davon, durch das entstandene<br />
Vertrauen in der Partnerschaft, auch ihre<br />
Ängs te verbalisieren zu können. Das Kernproblem<br />
Partnerschaft und Sexualität als Einheit zu betrachten,<br />
wird am Beispiel des Paares durch Äußerungen des<br />
Symptomträgers im Erstkontakt und am Ende der<br />
Sexualtherapie deutlich. „Wenn es einmal klappen<br />
wür de, wäre das Problem gelöst“. „Vertrauen und<br />
Sicher heit sind jetzt vorhanden. Die Partnerschaft ist<br />
zusammengewachsen.“<br />
Anschrift des Autors<br />
Dr. med. Dirk Rösing, Klinik und Poliklinik für Urologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität, Fleischmannstr. 42-44, 17487 Greifswald,<br />
mail: dirk.roesing@uni-greifswald.de
••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />
Neu: VIRIDAL 40 µg<br />
Zur Behandlung der erektilen Dysfunktion steht den<br />
Be troffenen eine Vielzahl von Therapieoptionen zur<br />
Verfü gung.<br />
Je nach Ätiologie der Erkrankung wird durch die orale<br />
Me dikation jedoch keine zufriedenstellende Erektion<br />
er zielt. Insbesondere Patienten nach einer radikalen<br />
Pros tatektomie oder Diabetiker reagieren in vielen<br />
Fällen un befriedigend auf orale Präparate.<br />
Für diese Patienten ist die Schwellkörper-Auto in -<br />
jektions-Therapie mit Alprostadil (SKAT) die The rapie<br />
der Wahl. Das Zweikammersystem von VIRIDAL ist da -<br />
bei für die Patienten extrem komfortabel in der Anwen -<br />
dung.<br />
VIRIDAL ist als 10 µg, 20 µg und jetzt auch als 40<br />
µg Stär ke erhältlich, so dass auch schwerste Störun -<br />
gen therapierbar sind. VIRIDAL ist damit das einzige<br />
Prä parat zur SKAT, das auch in dieser hohen Do sierung<br />
zur Verfügung steht.<br />
Shabsigh et al. (Urology 2000. 55: 477 - 480) zeigte,<br />
dass gerade bei Sildenafil-Non-Respondern die mittlere<br />
Al pros tadil-Dosis bei SKAT bei 28,3 µg lag. Patien -<br />
ten, die mehr als 20 µg Alprostadil für eine zufriedenstellende<br />
Erek tion benötigen, konnten bisher in<br />
Deutschland nicht be handelt werden. Für die se Klientel<br />
steht nun VIRIDAL 40 µg zur Verfügung.<br />
VIRIDAL ist sehr gut verträglich, denn es wirkt dort,<br />
wo es wirken soll – lokal in den Schwellkörpern.<br />
Caelyx in der First-line Therapie des metastasierten<br />
Mammakarzinoms – effektiv und besser verträglich<br />
Neue Studiendaten erstmals auf der 38. Jahrestagung der<br />
American Society of Clinical Oncology (ASCO) Ende Mai 2002<br />
präsentiert<br />
Pegyliertes Liposomales Doxorubicin (Caelyx) hat sich im Vergleich mit freiem<br />
Doxorubicin in einer randomisierten Phase III-Studie bei Patien tinnen<br />
mit unvorbehandeltem metastasiertem Mammakarzinom als eben so wirksam<br />
bei erheblich geringeren Nebenwirkungen erwiesen – dies berichtete<br />
Nely Wigler vom Tel Aviv Medical Center, Israel, anlässlich der 38. Jah res -<br />
tagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO) Ende Mai 2002<br />
in Orlando.<br />
In die Studie waren 509 Patientinnen mit metastasiertem Mamma kar -<br />
zinom eingeschlossen worden. 254 Patientinnen erhielten Caelyx in einer<br />
Do sierung von 50 mg/m 2 alle 4 Wochen, 255 Patientinnen freies Doxo -<br />
rubicin in einer Dosierung von 60 mg/m 2 alle drei Wochen. Primäre End -<br />
punk te der Studie waren das progressionsfreie Überleben und die Kardio -<br />
toxizität. Das progressionsfreie Überleben unterschied sich unter Caelyx<br />
nicht signifikant von freiem Doxorubicin, das Gesamt überleben war in beiden<br />
Studienarmen vergleichbar. Deutlich unterschiedlich war jedoch die<br />
Kardiotoxizität der beiden Substanzen. Von den insgesamt 509 Patien -<br />
tinnen zeigten 58 Patientinnen einen Abfall der LVEF (linksventrikulären<br />
Ejektionsfraktion): 10 unter Caelyx und 48 unter Doxorubicin (p = 0.0006).<br />
Zwei der mit der pegylierten liposomalen Formulierung behandelten Pa -<br />
tien tinnen entwickelten eine Herz in suffizienz im Vergleich mit 12 Patien -<br />
tinnen unter Doxorubicin. Weitere Nebenwirkungen, die unter Doxorubicin<br />
weit häufiger auftraten, wa ren Alopezie, Übelkeit und Erbrechen. Lediglich<br />
Hautreaktionen waren unter Caelyx häufiger.<br />
„Diese Ergebnisse mit Caelyx bedeuten einen wichtigen Fortschritt für<br />
die Chemotherapie des metastasierten Mammakarzinoms“ – so Nely Wig -<br />
ler wörtlich. „Die Verminderung von Nebenwirkungen wie Alo pezie, Übelkeit<br />
und Erbrechen bringen den Patientinnen eine signifikant verbesserte<br />
Lebensqualität. Die erheblich verringerte Kardioto xizität versetzt die The -<br />
ra peu ten in die Lage, den Patientinnen mit metastasiertem Mamma -<br />
karzinom die volle Chemotherapiedosis über einen längeren Zeitraum zu<br />
verabreichen.“<br />
Brustkrebs ist heute die häufigste Krebserkrankung der Frau. Schät -<br />
zungs weise 50.000 Frauen erkranken in Deutschland jährlich an einem<br />
Mammakarzinom, etwa 18.000 versterben an dieser Erkrankung pro Jahr.<br />
Brustkrebs ist damit nach Lungenkrebs die zweihäufigste Todes ursache<br />
bei den Krebserkrankungen. Für Patientinnen mit metastasiertem Mam -<br />
makarzinom beträgt das 5-Jahres-Überleben lediglich 20%, das Mittel<br />
liegt bei 2 oder 3 Jahren nach Feststellung der Metasta sierung.<br />
Caelyx ist in Deutschland seit 1996 für die Behandlung des AIDS-assoziierten<br />
Kaposi Sarkoms und seit 2000 für die Therapie des fortgeschrittenen<br />
Ovarialkarzinoms zugelassen. Mit einer Zulassung für die Be handlung<br />
des metastasierten Mammakarzinoms wird im Herbst 2002 gerechnet.<br />
I<br />
Nach Selbstangaben der Industrie
Diskussion<br />
Sexuologie<br />
Hinter-Fragwürdigkeit der etablierten AIDS-<br />
Bekämpfungskonzeption<br />
Reinhard Wille, Reinhard H. Dennin, Michael Lafrenz<br />
Questionability of the established<br />
concept of combating AIDS<br />
In unserer schnelllebigen und zudem ökonomisch und<br />
öko logisch globalisierten sowie kommunikativ weltweit<br />
vernetzten Epoche ist ein Vierteljahrhundert eine Zeit -<br />
spanne, in der Veränderungen eintreten können, die damalige<br />
Überzeugungen als überholt und nicht mehr zeitge -<br />
mäß erscheinen lassen.<br />
Wer hätte sich um 1977 vorstellen können,<br />
! dass Deutschland wiedervereinigt, aber<br />
! dass der bundesrepublikanische Sozialstaat auf ho -<br />
hem Wohlstandsniveau nicht mehr bezahlbar ist und<br />
! dass ausgerechnet die traditionell ausbildungsbewusste<br />
und bildungsstolze Bundesrepublik bei der innereuropäischen<br />
PISA-Studie auf einem kümmerlichen<br />
Platz ganz weit unten gelandet ist,<br />
! dass auch trotz notorischer Erhebungsmängel und<br />
verzerrender Nebentendenzen immer noch von offizieller<br />
Seite die polizeiliche Ermittlungsstatistik als<br />
Grundlage für kriminologische Entwicklungsten den -<br />
zen herangezogen wird?<br />
! dass das monatliche Ritual der Verkündigung der Ar -<br />
beitslosenzahlen in Nürnberg auf geschönten Statis ti -<br />
ken beruhte.<br />
Da dürfen, ja müssen die AIDS-Statistiken insoweit in<br />
Frage gestellt werden, als sie zur Untermauerung der<br />
Grund konzepte der offiziellen AIDS-Bekämpfungs-Stra -<br />
te gien herangezogen werden – und zwar sowohl von den<br />
am Status quo Interessierten als auch von den skeptischen<br />
und kritischen Reformern.<br />
Vor gut 15 Jahren stellten die seinerzeit zuständige<br />
Bun desministerin Rita Süßmuth und ihr leider viel zu früh<br />
verstorbener Berater Siegfried Dunde die Weichen für das<br />
damals neuartige Konzept einer gesellschaftlich orientierten<br />
HIV-Praeventions-Strategie (Aufklärung und hoher<br />
Wis sensstand um Risiken und Chancen, Enttabuisierung<br />
der Kondombenutzung; Verbot der Ausgrenzung und Dis -<br />
kri minierung – Symbol Rote AIDS-Schleife –, statt dessen<br />
„Positiv leben“ und szenen-interne Betreuung durch staatlich<br />
(mit-)finanzierte Selbsthilfegruppen). Die Alternative,<br />
nämlich die klassischen Individuum-zentrierten Konzepte<br />
mit nicht gezielter HIV-Testung und gezielter Spezial prä -<br />
vention der HIV-Positiven, wurde in den meisten osteuropäischen<br />
Ländern, aber auch in wenigen US-Staaten be -<br />
vorzugt. Das Süßmuth-Dunde-Konzept nahm inkauf, dass<br />
die erwarteten Einstellungsänderungen der Hauptrisiko -<br />
grup pen einen langen Zeitraum beanspruchen und die an -<br />
gestrebte Risikominimierung nur eine relative sein kann<br />
und zeitlich verzögert einsetzen werde. In der Tat hat laut<br />
neueren Erhebungen (Bochow 1989, Dannecker 1990,<br />
John son et al. 1994) Kondombenutzung unter Homophi -<br />
len rasant zugenommen, von selten auf gut 70% (und partiell<br />
sogar mehr). Dort, wo ein hoher Infektionssockel von<br />
bis zu 10% (und mitunter mehr) vorzufinden ist, reicht<br />
eine Unsafe-Sex-Quote von 20-25% aus, um einen Teil<br />
der Erstinfektionen zu erklären. Die anfänglichen Ver -<br />
suche, durch Kriminalisierung und Pönalisierung eine ab -<br />
schreckende Wirkung zu erreichen, verebbten schnell,<br />
! teils aus strafrechtsdogmatischen Gründen (wegen<br />
der erfreulich niedrigen Infektionsquote pro ungeschützten<br />
Kontakt kann nur eine versuchte Körper -<br />
verletzung zu einer nennenswerten Strafbarkeit füh -<br />
ren, die im StGB nur bei gefährlicher Körperverlet -<br />
zung vorgesehen ist)<br />
! teils aus kriminalpsychologischen Gründen (zwischen<br />
Ansteckung und Tod liegen durchschnittlich<br />
etwa 10 Jahre, ein psychologisch nicht überbrückbares<br />
Ursache-Wirkungs-Intervall).<br />
! teils aus der Erkenntnis, dass weder das Geschlechts -<br />
krankheitengesetz von 1953 noch das Bundes seu -<br />
chen gesetz Zwangseingriffe – etwa Therapien wider<br />
Willen des Patienten – vorsahen.<br />
! teils aus der Erfahrung, dass auch früher sexuell übertragbare<br />
Krankheiten nicht mittels des Strafrechtes<br />
effektiv bekämpft wurden, sondern durch gesund -<br />
heits polizeiliche Kontrollen der damals wesentlichen<br />
Infektionsquelle Prostitution.<br />
Der Protest der englischen Oberschicht-Mütter, die sich<br />
nicht länger damit abfinden wollten, dass ihre Söhne sich<br />
in Oxford oder Cambridge venerisch infizierten und an<br />
Tabes oder Paralyse elend zugrunde gingen, führte etwa<br />
vor 100 Jahren zur sogenannten Suffragetten-Bewegung,<br />
die über ihre anfänglichen Intentionen hinaus erfolgreich<br />
für feministische Ideale wie Gleichberechtigung auch<br />
beim Wahlrecht kämpfte.<br />
In Deutschland brachte die sogenannte sexuelle Re -<br />
volution im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts u.a. die ge -<br />
nerelle Aufhebung des Ehemonopols für erlaubte Sexu -<br />
alität und damit zunehmende Freizügigkeit schon ab der<br />
Adoleszenz, synchron auch die Erweiterung der sexuell<br />
erotischen Normalität (Partnertausch, Promiskuität und<br />
bis dahin als pervers geltende orale und anale Praktiken),<br />
und insbesondere die schrittweise Entkriminalisierung der<br />
männlichen Homosexualität (1969/1979 und 1994) mit<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 141 – 143 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
142 R. Wille, R.H. Dennin, M. Lafrenz<br />
sich. Mehr oder weniger offen Schwule und Lesben finden<br />
sich heute in Leitungsfunktionen wohl aller politischen<br />
Par teien, so dass der mitunter recht schrill inszenierte<br />
Christopher-Street-Day zu einer lieben, aber fast schon<br />
ana chronistisch anmutenden Tradition geworden ist.<br />
So erfreulich diese Normalisierung der gleichgeschlechtlich<br />
lebenden und liebenden Minderheit ist – und<br />
das gilt gleichermaßen für die faktische Entpönalisierung<br />
der Übertragung von Geschlechtskrankheiten und auch für<br />
AIDS –, so sollte die Rücknahme des Strafrechtes auch für<br />
Ärzte gelten, die anlässlich einer eingewilligten Blutent -<br />
nahme zur klinischen Diagnostik auch einen HIV-Test<br />
mit laufen lassen (Stille 2001). Denn die in der Blutentnah -<br />
me liegende tatbestandsmäßige Körperverletzung ist<br />
durch die Einwilligung gedeckt, also nicht strafbar. Der<br />
Erst-Autor hat seinerzeit als Landes-AIDS-Beauftragter in<br />
Schleswig-Holstein diese arztrechtliche Besonderheit der<br />
Kollegenschaft mit der Begründung vermittelt, dass die<br />
damals noch gesellschaftlich diskriminierte männliche<br />
Ho mosexualität ein besonderes Persönlichkeitsrecht erforderlich<br />
mache. Wenn vor 15 Jahren allerdings einige Juris -<br />
ten (Herzog 1988) eine psychische Destabilisierung bis<br />
hin zur (Prä-)Suizidalität durch die arztrechtlich gebotene<br />
Offenbarung des HIV-positiven Laborergebnisses behaupteten<br />
und u.a. daraus ein Recht auf Nichtwissen ableiteten,<br />
dann widerspricht diese Unterstellung nicht nur der medizinischen<br />
Empirie, sondern auch dem Grundkonzept eines<br />
einsichtigen, vernünftigen und um einen hohen Wissen -<br />
stand bemühten Adressaten der AIDS-Bekämpfungs-<br />
Kampagne. Wegen des großen zeitlichen Aufwandes und<br />
der zivil- und strafrechtlichen Risiken haben (zu) viele<br />
Ärzte auf den HIV-Test verzichtet und damit die epidemiologisch<br />
brisante Heerschar der aus Angst ungetesteten<br />
Ahnungslosen vermehrt. Heute herrscht in der Bevöl -<br />
kerung nicht mehr Panik und Schrecken, sondern eher eine<br />
beängstigende Gleichgültigkeit gegenüber der AIDS-Ge -<br />
fährdung und bei den Mitbürgern mit Risikoverhalten an -<br />
gesichts der verbesserten antiretroviralen Therapie (ART)<br />
angstverdrängender Gleichmut vor. Arztrechtlich er -<br />
scheint es kraß einseitig, dass dem potentiellen (Über-)<br />
Träger einer tödlichen Krankheit ein Recht auf Nicht -<br />
wissen zur Seite stehen soll, der Arzt aber unter Straf -<br />
drohung steht, wenn er die richtig vermutete Diagnose<br />
labortechnisch absichert und pflichtgemäß dem Patienten<br />
übermittelt. Hinsichtlich seiner strafrechtlichen Dignität<br />
erinnert das eben angeführte „Recht auf Nicht-Wissen“ an<br />
das von einem Lübecker Schöffengericht aufgestellte<br />
„Recht auf Rausch“.<br />
Zur ärztlichen Verunsicherung trägt zusätzlich ein Ur -<br />
teil vom OLG Frankfurt (August 1999) bei, das sogar eine<br />
Offenbarung des positiven HIV-Befundes gegenüber ge -<br />
fährdeten Intimpartnern/innen verlangt, also die ärztliche<br />
Schweigepflicht aufhebt, falls HIV-Positiver und HIVnegative<br />
Partnerin beim gleichen Arzt Patienten sind.<br />
Zurück zur skeptischen Eingangssentenz über den<br />
Realitätsgehalt von Stastitiken. Die Datenerhebung für die<br />
HIV-Statistiken unterliegt einer nicht unerheblichen<br />
Selektion, weiterhin Definitionsschwierigkeiten etwa zwischen<br />
Homo-, Bi- und Heterosexuellen (seit kurzem MSM<br />
und Hetero) sowie Überschneidungen von Auslands- und<br />
Prostituiertenkontakten, mit und ohne Drogenmissbrauch.<br />
Verwirren könnte den epidemiologischen Laien auch die<br />
nosologisch gebotene Differenzierung von HIV-Neuin fek -<br />
tion im Diagnose-Jahr und HIV-Erstdiagnosen.<br />
Ein u.E. wesentliches Manko liegt aber bei den bes -<br />
tenfalls nur indirekt, jedenfalls keineswegs vollständig<br />
erfaßten „ahnungslos HIV-Infizierten“, immerhin 80% der<br />
HIV-Erstdiagnostizierten. Darüber hinaus enthält die auf<br />
Wissen und Eigen verantwortung setzende gesellschaftsbezogene<br />
Anti-AIDS-Konzeption in Deutschland eine im -<br />
ma nente Schwach stelle bei Mitbürgern<br />
! die nicht die deutsche Sprache ausreichend beherrschen<br />
! die noch patriarchalisch geprägten Vorstellungen über<br />
die Rolle von Frau und Mann unterliegen und durch<br />
touristische Migrantinnen, die aus Osteuropa und<br />
Übersee über Ringe von Menschenhändlern und Zu -<br />
hältern nach Deutschland eingeschleust werden und<br />
hier als Prostituierte nicht dem Prinzip Verantwortung<br />
und Solidarität folgen, sondern den menschenverachtenden<br />
Usancen einer frühkapitalistischen Rotlicht -<br />
szene<br />
Geradezu fatal wirkt sich dabei aus, dass die soziale Um -<br />
schichtung in den GUS-Staaten zur Verarmung weiter<br />
Krei se und damit auch zu einer Verelendungsprostitution<br />
mit explodierenden HIV-Infektionsquoten geführt hat. Auf<br />
die epidemiologische Bedrohung wurde schon vor 2 Jah -<br />
ren (Wille & Hansen 2000) eindringlich und in Übereinstimmung<br />
mit O. Hamouda (RKI) und I. Kon (Moskau)<br />
auf dem 5. Congress of Sexology in Berlin hingewiesen,<br />
und eine mit empfindlichen Konventionalstrafen bewährte<br />
Krankenversicherungspflicht der Bordelliers für ihre an -<br />
schaffenden Touristinnen gefordert, erwartungsgemäß oh -<br />
ne Nachhall, geschweige denn Nachhaltigkeit. Jeder wissenschaftlich<br />
Tätige muß damit rechnen, dass selbst empirisch<br />
gut belegte wissenschaftliche Postulate von Politi -<br />
kern nur dann beachtet werden, wenn sie ohnehin deren<br />
gerade aktuellen Interessen entsprechen.<br />
Diese Infektionsquelle ist deshalb so brisant, weil die<br />
„Migrantinnen“ aus Osteuropa und Übersee bei uns illegal<br />
leben und nach dem gültigen Infektionsschutzgesetz<br />
(IfSG) nicht (mehr) auf übertragbare Krankheiten labormedizinisch<br />
untersucht werden, da auch beim IfSG der<br />
Gesetzgeber vom Prinzip der Eigenverantwortung ausgeht.<br />
Die in den alten und besonders in den neuen Bun -<br />
desländern früher so aktiven Amtsärzte sind heute Ange -<br />
stellte der (vom Kreistag und vom Gesundheitsbudget<br />
abhängigen) Kreisgesundheitsbehörde und müssen ihre<br />
Aktivitäten stark reduzieren. Schon ab 1992 haben Ge -<br />
sundheitsämter in Schleswig-Holstein die früher für eingetragene<br />
HwG-Personen obligatorischen Kontrollunter -<br />
su chun gen eingestellt (vgl. Wille & Hansen 2000). Seit<br />
2001 ist Prostitution in Deutschland auch nicht mehr sittenwidrig<br />
oder illegal, sondern wie in Holland ein versicherungs-<br />
und steuerpflichtiger Beruf, vielleicht in der<br />
modischen Form einer Ich-AG.
Hinter-Fragwürdigkeit der etablierten AIDS-Bekämpfungskonzeption 143<br />
Wenn die AIDS-Statistiken wegen der durchlöcherten<br />
Erhebungsmethoden unzuverlässig sind, sollten das zu -<br />
ständige Ministerium und die BZgA sich nicht auf diese<br />
unsichere Grundlage berufen. Wie schon vor 15-20 Jahren<br />
schlingert Deutschland zur Zeit wieder zwischen Hysterie<br />
und Besänftigung und werden wieder kritische Auffas -<br />
sungen von der Gegenseite als unseriös abgewimmelt.<br />
Dass kritisches Hinterfragen zumal vor Wahlen bei<br />
Ministerialen unerwünscht ist, ist nachvollziehbar, wenn<br />
auch nicht nachweisbar. Aber die Mitteilungspflicht der<br />
epidemiologisch, sexualmedizinisch und arztrechtlich<br />
Wissenden sollte bei der öffentlichen Diskussion als rollenspezifische<br />
Aufgabe wenigstens toleriert, besser noch<br />
ausdrücklich anerkannt werden.<br />
Unseres Erachtens stellt damals wie heute das Straf -<br />
recht kein wirksames Instrument zur AIDS-Bekämpfung<br />
dar. Selbst wenn einmal wie kürzlich in Schweden ein<br />
HIV-positiver Däne bei einer besonderen Beweislage zu<br />
sieben Jahren Haft verurteilt wurde, weil er mit mehreren<br />
Schwedinnen ungeschützten Verkehr hatte und zwei von<br />
ihnen nachweisbar infizierte, so fallen derartig okkasionelle<br />
Einzelurteile bei 2000 HIV-Erstdiagnosen in<br />
Deutsch land pro Jahr nicht ins Gewicht. Gerade weil wir<br />
prinzipiell gegen kontraproduktives Bestrafen sind, halten<br />
wir es mit dem sozialanthropologischen Prinzip der persönlichen<br />
Verantwortung für unvereinbar, dass wissentlich<br />
lebensbedrohende Infektionen der Intimpartner/innen<br />
dann straf- und zivilrechtlich unbeanstandet bleiben, wenn<br />
der HIV-Negative im aufgeklärten Konsens mit seiner/m<br />
HIV-positivem Partner/in auf Safer-Sex-Praktiken verzichtet.<br />
Versicherungsrechtlich sieht das BSG V in seinem<br />
§ 52 zwar vor, dass bei vorsätzlicher (…) Herbeiführung<br />
einer Krankheit die Krankenkassen in angemessener Höhe<br />
ihre Leistungen kürzen können. Der Grat zwischen be -<br />
dingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist so<br />
schmal, dass es die Kassen i.a. nicht auf eine gerichtliche<br />
Entscheidung ankommen lassen. In den ersten Jahren<br />
nahm die AIDS-Rechtsprechung eher bedingten Vorsatz<br />
an; bei der desaströsen Finanzsituation der öffentliche<br />
Bud gets kann es bei der kommenden Reform der Kran -<br />
kenversicherung nicht auszuschliessen sein, dass u.U.<br />
sogar beide Partner zu den beträchtlichen Kosten jahrelange<br />
AIDS-Therapie finanziell herangezogen werden. Wie<br />
schon Hans Giese (1955) betont hat, ist die Sexualität auf<br />
Wir-Bildung angelegt und nach aktuellen Lehrbuchwissen<br />
wird (nur) in der Paarbeziehung das menschliche<br />
„Grundbedürfnis“ nach Akzeptanz, Annahme, Nähe, Ge -<br />
borgenheit und Sicherheit abgedeckt (Beier et al. 2001). In<br />
der medizinischen Dia gnostik und Therapie ist das Paar,<br />
die Zweierge mein schaft, in seinen gegenseitigen Abhän -<br />
gig keiten das anzusprechende Gegenüber, nicht etwa zwei<br />
vernunftbegabte und nach den Vorstellungen der Juristen<br />
freie Individuen.<br />
Daher darf umso weniger die Grenze zum parasozialen<br />
Unrecht, nämlich zur bedingt vorsätzlichen lebensbedrohenden<br />
Infektion eines intimen Freundes verwischt werden,<br />
sondern muß mit sensiblem Rechtsgefühl präzisiert<br />
und durch psychagogische Erinnerungsimpulse immer<br />
wie der aufgefrischt werden. Das Prinzip Verantwortung<br />
gilt auch für die strukturell und/oder presserechtlich Ver -<br />
antwortlichen der Publikationsorgane der AIDS-Selbst -<br />
hilfe-Gruppen. Wer nicht inkauf nehmen will, dass bei<br />
einer kommenden Reform der Krankenversicherung die<br />
nicht ganz unbeträchtlichen Kosten der AIDS-Therapie<br />
(jährlich etwa 50.000 Euro pro Patient) zur Disposition<br />
gestellt werden, sollte höchst sensitiviert auf die Gebote<br />
der Rechtsordnung achten und dabei die Maß stäbe der<br />
gesamten Versichertengemeinschaft zugrunde le gen und<br />
nicht die internen der Adressaten der AIDS-Hilfe-Szene.<br />
Der sexuellen Gestimmtheit und dem toxischen Im -<br />
perativ psychotroper Drogen gemeinsam ist eine herabgesetzte<br />
Bestimmbarkeit durch rationale Argumente, ein<br />
Sich-Ausliefern an subcorticale Befindlichkeiten, in denen<br />
Prävention und Prophylaxe einen stark herabgesetzten<br />
Stellenwert erhalten. Wenn nicht ständige Erinnerungsund<br />
Ermunterungskampagnen für das Einhalten des zwischenmenschlich<br />
notwendigen Sicherheitsverhalten sorgen,<br />
nehmen zu leicht Wunschvorstellungen und Selbst -<br />
rechtfertigungen überhand.<br />
Wenn schon hohe Kleriker in Rom von der „Ecclesia<br />
semper reformanda“ sprechen, dann gilt das ständige<br />
Hinterfragen erst recht für jedes Menschenwerk, und dazu<br />
muss man unbestreitbar wohl auch zeitgebundene AIDS-<br />
Konzepte, ihre Strategien und Statistiken zählen.<br />
<strong>Literatur</strong><br />
Beier, K.M.; Bosinski, H.; Hartmann, U.; Loewit, K. (2001):<br />
Sexu al medizin. Urban & Fischer, München, Jena.<br />
Bochow, M (1989): AIDS und Schwule. AIDS-Forum. DAH BD<br />
IV.<br />
Dannecker, M (1990): Homosexueller Männer und AIDS. Kohl -<br />
hammer: Stuttgart/Berlin/ Köln.<br />
DAH (2002): Deutsche AIDS-Hilfe e.V., siehe: www.aidshilfe.de.<br />
Giese, Hans (1955): Die Sexualität des Menschen. Berlin:<br />
Springer.<br />
Herzog, W. (1988): Das Strafrecht im Kampf gegen AIDS-Des pe -<br />
rados.<br />
Johnson et al. (1994): Sexual Attitudes and Lifestyles. Oxford:<br />
Black well Scientific Publications<br />
Stille, W. (2001): Ärztezeitung 20, 217: 2ff.<br />
Wille, R.; Hansen, Th. (2000): Die Prostitution in Deutschland um<br />
die Jahrtausendwende. Sexuologie 2/3: 141-154.<br />
Anschriften der Autoren<br />
Prof. em. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Wille, Sexualmed. Forschungs- u. Beratungsstelle am Klinikum der Universität Kiel, Arnold-Heller-Str. 12, 24105 Kiel<br />
Prof. Dr. rer. nat. habil Reinhard H. Dennin, Institut für Medizinische Mikrobiologie & Hygiene, Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum, Ratzeburger<br />
Allee 160, 23538 Lübeck, mail: dennin@hygiene.MU-luebeck.de<br />
Dr. Michael Lafrenz, Universität Rostock, Medizinische Fakultät / Klinikum, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin, Abteilung für Tropenmedizin und<br />
Infektionskrankheiten, Ernst-Heydemann-Str. 6, 18057 Rostock
••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />
Zeitgemäße Therapie der Erektilen Dysfunktion<br />
Vielversprechende Datenlage bei<br />
Tadalafil<br />
Urologen setzen auf den weiterentwickelten<br />
PDE 5-In hibitor<br />
In dem weiterentwickelten PDE 5-Hemmer Tadalafil von<br />
Lilly ICOS sehen führende Experten eine deutliche Ver -<br />
besserung der Therapie der Erektilen Dysfunktion (ED).<br />
„Insbesondere die integrierten Daten aus sechs Phase-III-<br />
Studien verdeutlichen die Potenz des neuen Thera peu -<br />
tikums“, so Dr. Axel-Jürg Potempa, Urologe, Sexu al ex per -<br />
te und Studienleiter aus München. „Tadalafil zeichnet sich<br />
durch einen raschen Wirkeintritt, ein breites Wirk zeit fens -<br />
ter und ein günstiges Nebenwirkungsprofil aus“, bringt<br />
Potempa die wichtigsten Charakteristika auf den Punkt.<br />
Tadalafil (Markenname CialisTM) wurde Ende Juli vom<br />
European Committee for Proprietary Medici nal<br />
Pro ducts (CPMP) positiv bewertet und zur Zulas sung<br />
empfohlen.<br />
Vielversprechende integrierte Daten<br />
Der Anteil der Patienten mit leichter bis schwerer ED aus vier Pha -<br />
se-III-Studien, die von verbesserten Erektionen berichteten, lag bei<br />
81 Prozent. Von den Patienten aus insgesamt fünf Studien, die in<br />
dem Zeitraum von 12 bis 24 Stunden nach Einnahme von Tadalafil<br />
sexuell aktiv waren, berichteten sogar 80 Prozent über erfolgreichen<br />
Geschlechtsverkehr. In der jüngsten Studie hatten etwa 60<br />
Prozent der Betroffenen noch 36 Stunden nach Tadalafileinnahme<br />
erfolgreich intimen Verkehr. Vergleichbar sind die integrierten Er -<br />
gebnisse aus sechs Phase-III-Studien im Hinblick auf die besonders<br />
häufig und stark von ED betroffenen Diabetiker: Bei 76 Prozent der<br />
Diabetes mellitus-Patienten waren die Erektionen verbessert.<br />
„Auch in punkto Wirkeintritt zeigt Tadalafil ein Produkt-Charak -<br />
teristikum, das den Anforderungen an eine moderne ED-Medika -<br />
tion gerecht wird: Bei etwa einem Drittel der Patienten setzt die<br />
Wirkung schon nach 16 Minuten ein“, weist Potempa auf eine<br />
wich tige Compliance-fördernde Eigenschaft hin.<br />
Gute Verträglichkeit – zufriedene Patienten<br />
„Die Zufriedenheit der Studienteilnehmer spiegelt sich auch in der<br />
Abbruchrate wider: Weniger als zwei Prozent brachen die Studien<br />
ab“, so Potempa, der<br />
auch gleich eine weitere<br />
Erklärung anführt: „Die<br />
geringe Ausprä gung<br />
von Nebenwirkun gen<br />
wie Kopf schmerzen oder<br />
Dys pep sie, die im Stu -<br />
dien ver lauf dazu noch<br />
weiter abnahmen, verdeutlichen<br />
die gute Ver -<br />
träglichkeit von Ta da la -<br />
fil.“<br />
Studienleiter Dr. Axel-Jürg Potempa aus München<br />
Hinzu kommen die fehlenden pharmakologischen Interaktionen<br />
zwischen Tadalafil und reich haltigen Mahlzeiten sowie Alkohol.<br />
„Ein besonders wichtiger Aspekt im Alltag des Patienten“, weiß<br />
Potempa aus langjähriger Praxiserfahrung zu berichten. „Einem<br />
romantischen Dinner mit einem Gläschen Wein steht als sinnliches<br />
Vorspiel nun nichts mehr im Weg.“ Das gilt auch für stabile Herz-<br />
Patienten, die nicht mit Nitraten therapiert werden. Ungeachtet<br />
dessen, ob sie andere blutdrucksenkende Medikamente einnahmen<br />
oder nicht, konnten folgende Ergebnisse dokumentiert werden:<br />
Tadalafil zeigte keinen klinisch relevanten Einfluss auf Blut -<br />
druck oder Herzfrequenz.<br />
Urologen setzen auf Tadalafil<br />
„Die bisherigen Daten zu Wirksamkeit, Wirkdauer und Sicherheit<br />
zeigen, dass Tadalafil die Therapie der ED voranbringen wird“, ist<br />
Potempa vom Erfolg des weiterentwickelten PDE 5-Inhibitors überzeugt.<br />
„Ein Medikament mit diesen Charakteristika, insbesondere<br />
das breite Wirkzeitfenster von mindestens 24 bis zu 36 Stunden,<br />
befreit den Patienten vom Zwang Medikation und sexuelle Akt -<br />
ivitäten koppeln zu müssen und erlaubt eine Sexualität, wie sie vor<br />
der ED war. Und das ist therapeutisches Neuland, auf das wir<br />
Urologen uns für unsere Patienten freuen“, macht der Sexual -<br />
experte abschließend den Nutzen des Präparates deutlich. „Aus<br />
den Erfahrungen meines Praxisalltags weiß ich, dass gewisse<br />
Bedürfnisse der ED-Patienten noch nicht erfüllt werden können.<br />
Das wird sich wohl bald ändern.“<br />
Nach seiner positiven Bewertung im Juli hat das European Com -<br />
mit tee for Proprietary Medicinal Products Tadalafil zur Zu -<br />
lassung empfohlen. Die Markteinführung von Tadalafil mit Mar -<br />
kenname CialisTM wird für die erste Jahreshälfte 2003 erwartet.<br />
II<br />
Nach Selbstangaben der Industrie
Aktuelles<br />
Sexuologie<br />
Sexualität und kulturelle Vielfalt<br />
27. Fortbildungstage für Sexualmedizinund Psychosomatik zugleich<br />
10. Jahrestagung der Akademie für Sexualmedizin<br />
in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin der Fort- und<br />
Weiterbildungskommission der Deutschen Urologen<br />
Frankfurt am Main, 29. – 31. Mai 2003<br />
Wissenschaftliche Leitung<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. K. M. Beier, Dr. med. H.J.Berberich, Priv.-Doz. Dr. med. H. A. G. Bosinski, Prof. Dr. med. Fröhlich<br />
Prof. Dr. med. U. Hartmann, Prof. Dr. med. K. Loewit, Prof. Dr. med. H.-J. Vogt<br />
Tagungspräsident<br />
Dr. med. H. J. Berberich<br />
Die Akademie für Sexualmedizin lädt gemeinsam mit der Gesellschaft für Praktische Sexualmedizin alle sexualmedizinisch tätigen<br />
und/oder interessierten ärztlichen und psychologischen Kolleginnen und Kollegen ein zu ihrer 10. Jahrestagung. Gleichzeitig<br />
sind dies die 27. Fortbildungstage für Sexualmedizin, welche 1976 erstmals von W. Eicher, H.-J. Vogt und F. Conrad in Heidelberg<br />
organisiert wurden. Die jetzt bevorstehende Jubiläumstagung findet erstmals in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis für<br />
Psychosomatische Urologie und Sexualmedizin der Fort- und Weiterbildungskommission der Deutschen Urologen statt..<br />
Die Thematik der Plenarvorträge ist breit gefächert, wie es der Vielgestaltigkeit der Sexualmedizin entspricht und ausgerichtet am<br />
Gegenstandskatalog der curricular fundierten Fortbildung „Sexualmedizin/ Sexualtherapie“. Die Seminararbeit steht gleichrangig<br />
neben den Vorträgen und kann auch zum modularen Erwerb der Zusatzbezeichnung Psychotherapie sowie für die Curricula<br />
„Sexualmedizin/Sexualtherapie“ genutzt werden.<br />
Weitere Informationen über das Kongressbüro<br />
Dr. med. H. J. Berberich<br />
Facharzt für Urologie / Umweltmedizin<br />
Kasinostraße 31 65929 Frankfurt am Main-Höchst<br />
Tel.: 069-316776, Fax: 069-316717<br />
e-mail: berberich@uro-psycho.de<br />
Teilnehmerregistrierung und Kongressorganisation<br />
medi-log GmbH, Breckenheimer Straße 1, 65719 Hofheim a.T., Tel.:06192/901593, Fax: 06192/901594<br />
Tagungsort<br />
Frankfurt am Main – Haus der Jugend<br />
Vorläufiges wissenschaftliches Programm<br />
Donnerstag, 29. Mai 2003<br />
8.30 Uhr<br />
Eröffnung: Grußworte<br />
9.00 – 10.30 Uhr: Sexualmedizin und Gesellschaft<br />
H.A.G. Bosinski (Kiel): Gesellschaftliche Herausfor derun -<br />
gen an die Sexualmedizin<br />
W. Schiefenhövel (Andechs/München): Liebe und<br />
Sexuali tät in kulturvergleichender Perspektive<br />
11.00 – 12.30 Uhr: Seminargruppen<br />
14.30 – 16.00 Uhr: Seminargruppen<br />
16.30 bis 18.00 Uhr: Kulturdifferenzen in der Be -<br />
handlung<br />
P. Wetzels (Hannover): Migration und Sexualdelinquenz<br />
H. Karatepe (Frankfurt/M): Probleme türkischer Männer<br />
in der sexualmedizinischen Sprechstunde<br />
18.30 Uhr: Empfang des Tagungspräsidenten mit<br />
Fest vortrag<br />
H.J. Berberich (Frankfurt/M.): Zur Kultur geschichte der<br />
Kastration<br />
Sexuologie 9 (3) 2002 145 – 146 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Freitag, 10. Mai 2003<br />
Samstag, 11. Mai 2003<br />
9.00 – 10.30 Uhr: Sexualität und Internet<br />
K. Leidlmair (Innsbruck): Intimkommunikation im Internet<br />
H. Schorn (Ahaus): Patienteninformation über das<br />
Internet<br />
11.00 bis 12.30 Uhr: Seminargruppen<br />
14.30 – 16.00 Uhr: Sexualität und kultureller Em -<br />
pfangsraum<br />
U. Hartmann (Hannover): Sexuelle Einstellungen und Ge -<br />
wohn heiten im Ländervergleich – Daten einer internationalen<br />
Vergleichsstudie<br />
K.M. Beier et al. (Berlin): Erektionsstörungen und Lebens -<br />
qualität – Ergebnisse einer deutschen Repräsentativstudie<br />
16.30 – 18.00 Uhr: Seminargruppen<br />
19.30: Festabend im Südbahnhof Frankfurt mit<br />
Kabarett, Jong lage und Livemusik<br />
9.00 – 10.30 Uhr: Neues über die Sexualität der<br />
Frau<br />
K.P. Jünemann (Kiel): Neue Befunde zur weiblichen<br />
Sexualphysiologie (angefragt)<br />
C. Rüffer-Hesse (Hannover): „Luststörungen“ bei Frauen:<br />
Medikamentöse und sexualtherapeutische Behandlungs -<br />
optionen<br />
11.00 – 12.30 Uhr: Seminargruppen<br />
14.30 – 16.00 Uhr: Männliche Luststörung:<br />
Zwischen zuviel und zuwenig<br />
E. Janssen (Bloomington/USA): Variations in sexual desire<br />
and response: Inhibition and excitation proneness<br />
R. Schulte (Gemmringheim) „Sex-Sucht" zwischen<br />
Norma lität und Dissozialität<br />
16.30 Uhr: Verabschiedung<br />
Themen und LeiterInnen der Seminargruppen<br />
I. Grundlagen<br />
1. G. Kockott: Anamnese & Gesprächsführung bei<br />
sexu ellen Störungen<br />
2. K. Loewit: Prinzipien sexualmedizischer Interventionen<br />
3. V. Banthien: Grundlagen der Kommunikation<br />
4. W. Dmoch: Erotische Übertragung in der Sexualtherapie<br />
II. Schwerpunkt-Seminare<br />
5. Ch. J. Ahlers & J. Ponseti: Therapie bei Sexualstraftätern<br />
6. H. Völkel: Sexuelle Deviationen und Störungen aus tiefenpsychologischer<br />
Sicht<br />
7. M. & H. Neubauer: Einführung in die imaginative<br />
Technik bei Paaren<br />
III. Fallsupervision / Selbsterfahrung<br />
8. G. Haselbacher: Fallseminar<br />
9. G. Kumpan: Postgraduiertengruppe<br />
10. P. Nijs: Themenzentrierte Selbsterfahrung<br />
Kasse muss Viagra zahlen<br />
Krankenkassen müssen ihren Versicherten zur Behandlung einer Erektionsschwäche das Arzneimittel Viagra als Sachleistung gewähren.<br />
Dies entschied das Sozialgericht Dortmund am 26. Juli diesen Jahres (AZ.: S 24 KN 81 /01 KR).<br />
Einem 51-jährigen Knappschaftsversicherten aus Bochum war ärztlich bescheinigt worden, seit über zwei Jahren an einer Erektions schwä -<br />
che zu leiden. Ursache war eine Diabetes-Erkrankung. Die Bundesknappschaft lehnte die Kassenübernahme für Viagra jedoch ab, weil<br />
dieses Arzneimittel der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz diene. Derartige Mittel seien nach den Arzneimittel-Richtlinien von<br />
der Verordnung ausgeschlossen. Der 51jährige erhob daraufhin Klage gegen die Bundesknappschaft. Das Sozialgericht Dortmund gab<br />
dieser Klage statt. Der Versicherte habe einen gesetzlichen Anspruch auf die Versorgung mit apothekenpflichtigen Medikamenten. Der<br />
Ausschluss von Mitteln zur Behandlung der erektiven Dysfunktion in den Arzneimittelrichtlinien sei unwirksam, da es gegen übergeordnetes<br />
Gesetzes recht verstoße. Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen dürfe in seinen Richtlinien nicht generell Krankheiten<br />
von der vertragsärztlichen Behandlung ausschließen. Nur der Gesetzgeber könne einen nach dem Sozialgesetzbuch bestehenden Kran -<br />
ken behand lungsanspruch zurücknehmen.
Sexuologie<br />
Herausgegeben von der Akademie für Sexualmedizin und der Gesellschaft<br />
für Praktische Sexualmedizin<br />
Inhalt<br />
Orginalarbeiten<br />
148 Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen: Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung<br />
zu den Determinanten sexueller Zufriedenheit<br />
4 Susanne Philippsohn, Kristina Heiser, Uwe Hartmann<br />
155 Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienreparation mit Kunststoffnetz<br />
4 Jürgen Zieren, Dirk Beyersdorff, Klaus M. Beier, Jochen M. Müller<br />
160 Sexualität und Menopause<br />
4 Mechthild Neises<br />
170 Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland. Analyse der HIV-Statistiken<br />
4 Reinhard Wille<br />
Fortbildung<br />
180 Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion<br />
4 Tim Schneider, Herbert Sperling, Herbert Rübben<br />
Diskussion<br />
186 Betreuungsrecht und Kindesmissbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts<br />
4 Guido Loyen, Wolfgang Raack<br />
Aktuelles<br />
187 Grußworte anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Piet Nijs, Buchbesprechung, Jahresinhaltsverzeichnis<br />
Anschrift der Redaktion<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier (V.i.S.P.), MA Rainer Alisch, Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin des Univer si täts klini kums Charité, Luisenstrasse 57,<br />
D-10117 Berlin, Tel.: 030/ 450 529 301 (Fax: -529 992), e-mail: klaus.beier@charite.de<br />
Verlag: Urban & Fischer Verlag GmbH & Co. KG, Nieder lassung Jena, PF 100 537<br />
D-07705 Jena, Telefon (03641) 626-3; Fax (03641) 62 65 00;<br />
E-mail: journals@urbanfischer.de<br />
Anzeigennahme und -verwaltung: Urban & Fischer Ver lag & Co. KG, Nieder lassung<br />
Jena, Anzeigenleitung: Sabine Schröter, PF 100 537, D-07705 Jena, Telefon (03641) 62<br />
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lassung Jena, Abo-Service und Ver trieb: Babara Dressler, Löbdergraben 14a, 07743 Jena,<br />
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*Unverbindlich empfohlene Preise . Preisän derung vorbehalten. Folgende Kredit karten<br />
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ten nummer und Gültigkeitsdauer angeben).<br />
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ist, insbesondere die Einspie lung, Verbreitung oder Wiedergabe in elektronischer Form<br />
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Satz: Rainer Alisch, Hanseatenweg 6, 10557 Berlin<br />
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D-99423 Weimar.<br />
Diese Zeitschrift wird ab Band III, Heft 1 (1996) auf elementar chlorfreiem, pH-Wert neutralem,<br />
alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />
© 2003 Urban & Fischer Verlag<br />
Coverfoto: © gettyimages<br />
Sexuologie – Zeitschrift für sexualmedizinische Fort bil dung und<br />
Forschung<br />
Sexuologie ist eine wissenschaftliche Fachzeitschrift für die sexualmedizinische<br />
Fort bildung und Forschung. Thematisiert wer den die psychischen,<br />
somatischen, soziokulturellen sowie ethisch-rechtlichen Aspekte von Sexu -<br />
alität, Geschlechtlichkeit und/oder Repro duktion, welche – gerade in ihren<br />
Wechsel wirkungen – für die Medizin von Bedeutung sind.<br />
Sexuologie ist konzipiert für Ärztinnen und Ärzte der verschiedensten me -<br />
dizinischen Bereiche (vor allem Allgemein medizin, Andrologie, Dermato-<br />
Vernerologie, Endokrinologie, Gynäkologie, Psychiatrie, Psychosomatik, Psy -<br />
chotherapie, Urologie) sowie für Fachleute aus anderen Humanwissen -<br />
schaften (z.B. Anthropolo gie, Psychologie, Soziologie) und aus der Arbeit<br />
mit Sexual straftätern.<br />
Sexuologie bietet interdisziplinäre Orientierung auf dem Ge biet der Sexu -<br />
almedizin; d.h. zu Diagnostik und Therapie bei sexuellen Funktions -<br />
störungen, Geschlechts identi tätsstörungen, sexuellen Ver haltensab wei -<br />
chun gen (Paraphilien, Sexualdelin quenz) sowie bei Sexualstörungen aufgrund<br />
von Erkrankungen und deren Behand lung. Die Sichtweisen verschiedener<br />
Fächer gelangen dabei zur Darstellung.<br />
Wissenschaftlicher Beirat<br />
Dorothee Alfermann, Leipzig<br />
Ralf Dittmann, Bad Homburg<br />
Walter Dmoch, Düsseldorf<br />
Günter Dörner, Berlin<br />
Wolf Eicher, Mannheim<br />
Erwin Günther, Jena<br />
Heidi Keller, Osnabrück<br />
Heribert Kentenich, Berlin<br />
Rainer Knussmann, Hamburg<br />
Götz Kockott, München<br />
Heino F.L. Meyer-Bahlburg, New York<br />
John Money, Baltimore<br />
Elisabeth Müller-Luckmann,<br />
Braunschweig<br />
Piet Nijs, Leuven<br />
Ilse Rechenberger, Düsseldorf<br />
Hans Peter Rosemeier, Berlin<br />
Wulf Schiefenhövel, Andechs<br />
Wolfgang Sippell, Kiel<br />
Michael Sohn, Frankfurt/M.<br />
Hans Martin Trautner, Wuppertal<br />
Henner Völkel, Kiel<br />
Hermann-J. Vogt, München<br />
Reinhard Wille, Kiel<br />
Abstracted/Indexed in BIOSIS · CAB Abstracts · Chemical Abstracts Service (CAS) · Chemical Abstracts (SEXUEX) PSYNDEX · PsycINFO<br />
Mehr Informationen zur „Sexuologie" und anderen Zeitschriften finden Sie im Internet: http://www.urbanfischer.de/journals. Das jeweils neueste Inhaltsverzeich -<br />
nis können Sie jetzt auch kostenlos per e-mail (ToC Alert Service) erhalten. Melden Sie sich an: http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei<br />
Frauen: Ergebnisse einer Fragebogenuntersuchung<br />
zu den Determinanten sexueller Zufriedenheit<br />
Susanne Philippsohn, Kristina Heiser, Uwe Hartmann<br />
Sexual Satisfaction and Sexual<br />
Myths among Women: Results of<br />
a Survey on the Determinants of<br />
Sexual Satisfaction<br />
Abstract<br />
The present study focuses on the clarification of the meaning<br />
of sexual satisfaction derived from masturbation, petting,<br />
and coitus for women. Another important point was<br />
the identification of determining factors for orgasm, se -<br />
xual satisfaction and satisfaction with sex life in general.<br />
For the first time, the influence of sexual „myths“ on se -<br />
xual satisfaction and orgasm was examined. These myths<br />
were adapted for women from the ten male sexual myths<br />
developed by Zilbergeld. We also investigated the effects<br />
of attitudes towards sexuality, quality of the partnership,<br />
the dealing with sexuality during childhood and sexual<br />
abuse on sexual satisfaction and orgasm. The study was<br />
carried out by means of a self-developed questionnaire.<br />
102 women of different age and education participated.<br />
In accordance with Jayne’s two-dimensional model,<br />
sexual satisfaction and orgasm proved to be interdependent,<br />
but not identical. It was possible to provide a de -<br />
scription of sexual satisfaction comprising a set of various<br />
emotional qualities. Our data indicate that sexual satisfaction<br />
from coitus has more or less the same meaning for<br />
all women of our sample, whereas sexual satisfaction<br />
from masturbation or petting have highly subjective qualities.<br />
Some of the sexual myths as well as the attitude<br />
towards sexuality and the quality of partnership showed<br />
a significant impact on female sexuality.<br />
Our results indicate that the new classification of<br />
female sexual dysfunction should be extended and modified.<br />
Keywords: Sexual satisfaction, Orgasm, Sexual myths,<br />
Mas turbation, Petting, Coitus<br />
Zusammenfassung<br />
Die Hauptziele der vorliegenden Untersuchung bestanden<br />
in Klärung der Begriffe „sexuelle Befriedigung“ und<br />
„Zufriedenheit mit dem Sexualleben insgesamt“ sowie in<br />
der Bestimmung einiger Einflussfaktoren auf das Orgas -<br />
mus erleben und die sexuelle Befriedigung/Zufriedenheit<br />
mit dem Sexualleben.<br />
Mit Hilfe eines Fragebogens wurde an 102 Frauen<br />
unterschiedlichen Alters und Bildungsstandes untersucht,<br />
was sexuelle Befriedigung durch Masturbation, Petting<br />
und Koitus unabhängig vom Erleben eines Orgasmus subjektiv<br />
bedeutet. In die möglichen Determinanten der Or -<br />
gasmuskonstanz, der sexuellen Befriedigung und der Zu -<br />
friedenheit mit dem Sexualleben insgesamt wurden erstmals<br />
sogenannte Sexualmythen einbezogen. Sie wurden<br />
von den zehn von Zilbergeld für Männer entwickelten Se -<br />
xualmythen für Frauen abgeleitet. Daneben wurde die<br />
Rolle der Einstellung zu Sexualität, der Qualität der Part -<br />
ner schaft, des Umgangs mit Sexualität in der Ur -<br />
sprungsfamilie und sexuellen Missbrauchs als Deter mi -<br />
nanten sexueller Zufriedenheit überprüft.<br />
Die Ergebnisse zeigten, dass, passend zur Theorie Jay -<br />
nes, sexuelle Befriedigung und Orgasmuskonstanz voneinander<br />
abhängig, aber nicht identisch sind. Der Begriff<br />
„sexuelle Befriedigung“ konnte in seiner inhaltlichen Be -<br />
deutung weiter erhellt werden. Es zeigte sich, dass die se -<br />
xuelle Befriedigung beim Koitus für alle befragten Frauen<br />
eine sehr ähnliche Bedeutung hat, während die Be -<br />
friedigung bei Masturbation und Petting von stark subjektiver<br />
Qualität ist. Einige der Mythen erwiesen sich ebenso<br />
wie die Einstellung zur Sexualität und die Qualität der<br />
Partnerschaft als außerordentlich bedeutsam für die weibliche<br />
Sexualität.<br />
Aus den Ergebnissen können einige Schlussfolgerun -<br />
gen hinsichtlich der aktuellen Klassifikationen weiblicher<br />
Sexualstörungen gezogen werden.<br />
Schlüsselwörter: Sexuelle Befriedigung, Orgasmus, Sexu -<br />
almythen, Masturbation, Petting, Koitus<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 148 – 154 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen 149<br />
Einleitung und Fragestellung<br />
Wenn es um die Erforschung weiblicher Sexualität<br />
geht, erscheinen häufig die Begriffe „sexuelle Be frie -<br />
digung“ oder „Zufriedenheit mit dem Sexualleben“.<br />
Wirklich wichtig genommen werden sexuelle Be frie -<br />
digung und Zufriedenheit mit dem Sexualleben allerdings<br />
nicht: Die Bedeutung dieser Begriffe bleibt meistens<br />
unklar; sie werden zum Teil – hauptsächlich in<br />
älteren Untersuchungen – einfach synonym mit dem<br />
Er leben eines Orgasmus verwendet, zum Teil nicht<br />
wei ter hinterfragt; Störungen der sexuellen Befrie -<br />
digung fanden auch bei der „International Consensus<br />
Development Conference on Female Sexual Dys func -<br />
tion: Definitions and Classifications“ trotz intensiver<br />
Diskussion letztlich keine Aufnahme in die Klassi -<br />
fikation Basson et al. 2001).<br />
Bereits 1981 hat Jayne ein Modell aufgestellt, in<br />
dem sexuelle Befriedigung und Orgasmuskonstanz für<br />
Frauen als zwei eigenständige, allerdings voneinander<br />
abhängige Dimensionen sexuellen Erlebens aufgefasst<br />
wurden. Danach ist eine einfache Gleichsetzung der<br />
sexuellen Befriedigung mit dem Erleben eines Or -<br />
gasmus nicht statthaft. Vielmehr erhöht das Erleben<br />
eines Orgasmus die sexuelle Befriedigung in der Re -<br />
gel, ist aber weder notwendig noch hinreichend für<br />
eine hohe sexuelle Befriedigung.<br />
Egidi und Bürger veröffentlichten 1981 eine Stu -<br />
die, in der sie einige Frauen selbst beschreiben ließen,<br />
was für sie sexuelle Befriedigung bedeute. Damit be -<br />
gann die inhaltliche Klärung der Begriffe. Inzwischen<br />
existieren einige Arbeiten zu diesem Thema, die allerdings<br />
noch kein konsistentes Bild ergeben. Ein Teil<br />
unserer hier vorgestellten Untersuchung diente daher<br />
dem Zweck, auf dem Weg der Begriffsklärung einen<br />
Schritt weiter zu kommen. In diesem Zusammenhang<br />
erschien ebenfalls von Interesse, ob sexuelle Befrie -<br />
digung für Frauen eher von vergleichbarer Qualität<br />
und damit gut messbar ist oder ob es sich um etwas<br />
interindividuell sehr Unterschiedliches handelt, das<br />
sich damit einer Objektivierung entzieht.<br />
Der zweite Teil unserer Studie diente der Diffe -<br />
renzierung einiger, im Folgenden näher ausgeführter<br />
Determinanten der Orgasmuskonstanz bei Mastur ba -<br />
tion, Petting und Koitus, der durch Masturbation, Pet -<br />
ting und Koitus erlangten sexuellen Befriedigung und<br />
schließlich der Zufriedenheit mit dem Sexualleben<br />
insgesamt.<br />
Sexualmythen: Zilbergeld (1988) stellte zehn „Sexu -<br />
al mythen“ vor, die im Wesentlichen Männer betreffen.<br />
In Anlehnung daran wurden für die vorliegende Studie<br />
die folgenden Mythen für Frauen entwickelt:<br />
1. Beim Sex zählt nur die Leistung, insbesondere das<br />
Er reichen eines Orgasmus;<br />
2. Die Frau ist beim Sex passiv und folgt dem, was der<br />
Mann bestimmt;<br />
3. Die Frau übernimmt beim Sex Führung und Verant -<br />
wortung;<br />
4. Die Frau ist zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse<br />
des Mannes da;<br />
5. Eine Frau ist immer bereit und will immer;<br />
6. Jeder Körperkontakt muss zum Sex führen;<br />
7. Sex = Geschlechtsverkehr;<br />
8. Sex sollte natürlich und spontan sein;<br />
9. Den Orgasmus müssen beide Partner gleichzeitig<br />
er reichen;<br />
10. Sexualität ist etwas Unreines, Schmutziges.<br />
Einstellung zu Sexualität: Die Einstellungen zu verschiedenen<br />
Bereichen der Sexualität können auf der<br />
Dimension permissiv versus restriktiv variieren. Für<br />
die folgenden Bereiche wurde untersucht, ob eine permissivere<br />
Einstellung in Zusammenhang mit einer<br />
höheren Orgasmuskonstanz bzw. größerer sexueller<br />
Be friedigung in den o. g. Bereichen steht: Kommu ni -<br />
ka tion mit anderen über Sexualität, Masturbation, se -<br />
xuelle Sozialisation von Kindern und Jugendlichen,<br />
Ju gendsexualität und vorehelicher Geschlechts ver -<br />
kehr, Sexualität im Alter, Stellenwert der Sexualität im<br />
Verhältnis zu anderen Dingen des Alltags, Gründe für<br />
sexuelle Betätigung und Pornographie.<br />
Partnerschaft: Der Zusammenhang der Qualität der<br />
Partnerschaft mit Orgasmuskonstanz bzw. sexueller<br />
Befriedigung wurde für die folgenden Bereiche untersucht:<br />
Stabilität der Partnerschaft, Kommunikations -<br />
verhalten, Rollenverteilung in der Partnerschaft,<br />
Machtverteilung in der Partnerschaft, Gefühle der<br />
Part ner zueinander, Akzeptanz durch den Partner, Er -<br />
füllung von Wünschen durch den Partner und Ähnlichkeit<br />
des Partners mit dem Vater und mit einem<br />
gedachten Idealpartner.<br />
Des weiteren wurde der Einfluss des Sozialstatus,<br />
des Umgangs mit Sexualität in der Ursprungsfamilie<br />
und eines erlebten sexuellen Missbrauchs bzw. erlebter<br />
Sexualität unter Gewaltanwendung auf die Se xu -<br />
alität untersucht.<br />
Methodik<br />
Zur Untersuchung der genannten Fragestellungen<br />
wurde ein umfangreicher Fragebogen entwickelt, der<br />
die oben genannten Bereiche umfasst. Um eine bessere<br />
Auswertbarkeit zu ermöglichen, enthielt er nahezu<br />
ausschließlich geschlossene Fragen. Die Items zur in -<br />
halt lichen Klärung der Begriffe „sexuelle Befrie di -<br />
gung“ und „Zufriedenheit mit dem Sexualleben insge-
150 S. Philippsohn, K. Heiser, U. Hartmann<br />
samt“ wurden aus den Aussagen der von Egidi und<br />
Bürger (1981) befragten Frauen abgeleitet. Der Vali -<br />
dierung dienten Skalen zur Selbsteinschätzung. Einige<br />
der Items für den Bereich „Einstellung“ wurden dem<br />
SES-1 (Frenken & Vennix 1981) entnommen, andere<br />
zur Beurteilung der Partnerschaft den TSST (Zimmer<br />
1985). Zum Vergleich des Partners mit dem Vater und<br />
einem gedachten Idealpartner wurden Polaritäten pro -<br />
file verwendet.<br />
Die Fragebögen wurden im Schneeballverfahren<br />
an 170 Frauen unterschiedlichsten Alters und Bil -<br />
dungs standes, möglichst mit festem Partner, verteilt.<br />
Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Pro -<br />
gramm SPSS für Windows, Version 10.0.7.<br />
Ergebnisse<br />
1. Stichprobenbeschreibung<br />
Die Rücklaufquote betrug mit 103 Fragebögen 60,6%.<br />
102 Fragebögen waren auswertbar. Die Abbildungen 1<br />
– 4 geben einen Überblick über die sozialen Daten der<br />
beteiligten Frauen.<br />
Es handelt sich nicht um eine repräsentative Stich -<br />
probe, man kann den Grafiken jedoch entnehmen,<br />
dass die Sozialdaten der teilnehmenden Frauen sehr<br />
weit gestreut sind: das Alter der Frauen liegt zwischen<br />
unter 20 bis über 60 Jahren (Median in der Alters -<br />
gruppe der 31- bis 35-jährigen); der Bildungsstand va -<br />
ri iert von Hauptschulabschluss bis hin zu abgeschlossenem<br />
Studium mit einem Überwiegen höherer<br />
Bildung; über die Hälfte der Frauen ist verheiratet, die<br />
übrigen sind ledig oder geschieden bzw. getrennt le -<br />
bend. 28 Frauen leben nicht mit einem festen Partner<br />
zusammen, die übrigen leben seit bis zu über 30 Jah -<br />
ren mit einem festen Partner.<br />
Abb. 1: Alter der an der Untersuchung teilnehmenden Frauen<br />
Abb. 2: Bildungsstand der an der Untersuchung teilnehmenden Frauen<br />
Abb. 3: Familienstand der an der Untersuchung teilnehmenden Frauen<br />
Abb. 4: Zusammenleben mit festem Partner
Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen 151<br />
2. Sexuelle Befriedigung und Zufriedenheit<br />
mit dem Sexualleben insgesamt<br />
Es bestehen signifikante Korrelationen zwischen se -<br />
xu eller Befriedigung und Orgasmuskonstanz (Korre -<br />
la tionskoeffizient r = 0,627** für Masturbation; r =<br />
0,495** für Petting; r = 0,667** für Koitus). Dennoch<br />
gibt es einige Frauen, die trotz seltenen oder fehlenden<br />
Orgasmus bei Petting oder Koitus eine hohe Befrie -<br />
digung erleben. Umgekehrt existieren für alle drei un -<br />
tersuchten Formen sexueller Betätigung Frauen, die<br />
trotz einer hohen Orgasmuskonstanz nur eine mittlere<br />
bis niedrige Befriedigung erfahren. Auch durch die<br />
folgenden Ergebnisse bei der inhaltlichen Klärung des<br />
Begriffes der sexuellen Befriedigung wird deutlich,<br />
dass sexuelle Befriedigung durch Masturbation, Pet -<br />
ting und Koitus nicht mit dem Erleben eines Orgas -<br />
mus gleichzusetzen ist.<br />
Mit Hilfe von Clusteranalysen lässt sich feststellen,<br />
dass sexuelle Befriedigung durch Koitus für die<br />
meisten Frauen eher das Gleiche bedeutet. Im einzigen<br />
großen Cluster (88 Frauen) lassen sich 79,4% der<br />
Varianz 1 durch das Gefühl, nach Koitus entspannt zu<br />
sein, das Erleben eines Orgasmus, die Abwesenheit<br />
des Gefühls, weit entfernt vom Partner zu sein und die<br />
Empfindung eines „satten Wohlgefühls“ erklären.<br />
Sexuelle Befriedigung durch Petting erweist sich<br />
da gegen als von stark subjektiver Qualität. Zwei<br />
Gruppen von Frauen (Clusteranalyse) sind getrennt<br />
auf die Frage hin untersucht worden, mit welchen<br />
Gefühlen sexuelle Befriedigung durch Petting am ehesten<br />
beschrieben werden kann. Für die größere<br />
Gruppe (54 Frauen) lassen sich 78,6% der Varianz 1<br />
sexueller Befriedigung durch die Gefühle, nach<br />
Petting nicht einsam zu sein und glücklich, „eins“ mit<br />
sich selbst und „eins“ mit dem Partner zu sein er -<br />
klären. Für die kleinere Gruppe (19 Frauen) erklären<br />
die Gefühle, nach Petting „eins“ mit dem Partner, ge -<br />
borgen, nicht unruhig, nicht weit entfernt vom Partner<br />
und frei von sexueller Spannung zu sein, sogar 91,1%<br />
der Varianz 1 .<br />
Sexuelle Befriedigung durch Masturbation erweist<br />
sich ebenfalls als von stark subjektiver Qualität. Es<br />
sind drei Gruppen von Frauen (Clusteranalyse) ge -<br />
trennt untersucht worden. In der größten Gruppe (29<br />
Frauen) erklären Gefühle von ausgeglichen, nicht einsam<br />
und „eins“ mit sich selbst sein und das Erleben<br />
eines Orgasmus zusammen 82,7% der Varianz sexueller<br />
Befriedigung, in der mittelgroßen Gruppe (24<br />
Frau en) die Gefühle, nach Masturbation entspannt,<br />
1 Regressionsanalyse<br />
„eins“ mit sich selbst und ausgeglichen zu sein,<br />
91,7% der Varianz und in der kleinsten Gruppe (acht<br />
Frauen) allein die Empfindung eines „satten Wohl -<br />
gefühls“ 94,8% der Varianz.<br />
Für die Zufriedenheit mit dem Sexualleben insgesamt<br />
spielt der Koitus die größte Rolle, wobei die<br />
sexuelle Befriedigung durch Koitus wichtiger ist als<br />
die Orgasmushäufigkeit.<br />
3. Determinanten der Orgasmuskonstanz<br />
und sexuellen Befriedigung<br />
Etliche der im Folgenden ausgeführten Einfluss fak -<br />
toren wirken sich deutlich mehr oder sogar aus -<br />
schließlich auf entweder die Orgasmuskonstanz oder<br />
die sexuelle Befriedigung aus, was ein weiteres Indiz<br />
für die angenommene Zweidimensionalität ist. Aus<br />
Gründen der Übersichtlichkeit wird z. T. auf eine Auf -<br />
führung im Einzelnen verzichtet.<br />
Sozialstatus: Nicht verheiratete und höher gebildete<br />
Frauen und Frauen, die noch nicht so lange mit<br />
einem festen Partner zusammenleben, verfügen in dieser<br />
Studie eher über positive Masturbations er -<br />
fahrungen (Bildung – Orgasmuskonstanz: r =<br />
0,273**; Partnerschaft – Orgasmuskonstanz: r =<br />
-0,220*; Bildung – sexuelle Befriedigung: r =<br />
0,387**), verheiratete und geschiedene/getrennt<br />
lebende Frauen dagegen berichten eher über eine hö -<br />
here Orgasmuskonstanz bei Koitus.<br />
Zwei der zehn untersuchten Sexualmythen weisen<br />
deutlich negative Zusammenhänge mit der durch<br />
partnerschaftliche Aktivität erlangten sexuellen Be -<br />
friedigung und der Zufriedenheit mit dem Sexualleben<br />
insgesamt auf: Beim zweiten Mythos („Die Frau ist<br />
beim Sex passiv und folgt dem, was der Mann be -<br />
stimmt“) wurden die zugehörigen Items zum Zweck<br />
der statistischen Analyse zu einer Skala zusammengefasst<br />
(Cronbachs ! = 0,7510). Signifikante Zusam -<br />
men hänge bestehen mit der durch Petting erlangten<br />
sexuellen Befriedigung (r =-0,232*) und der Zu frie -<br />
denheit mit dem Sexualleben insgesamt (r = -0,204*).<br />
Im Bereich des sechsten Mythos („Jeder Kör per kon -<br />
takt muss zum Sex führen“) sind zwei Items von Be -<br />
deu tung. „Männer umarmen Frauen nur, wenn sie Sex<br />
von ihnen wollen“ korreliert negativ mit der Orgas -<br />
mus konstanz bei Koitus (r = -0,270**), der durch<br />
Petting (r = -0,240*) und Koitus (r = -0,335**) erlangten<br />
sexuellen Befriedigung und der Zufriedenheit mit<br />
dem Sexualleben insgesamt (r = -0,330**). „Wenn ich<br />
Nä he oder Zärtlichkeit brauche, kann ich mich an meinen<br />
Partner anlehnen, ohne dass unbedingt Gedanken<br />
an Sexualität aufkommen“ korreliert positiv mit der<br />
sexuellen Befriedigung durch Koitus (r = 0,227*).<br />
Beide Mythen sind allerdings eher bei älteren Frauen
152 S. Philippsohn, K. Heiser, U. Hartmann<br />
zu finden (M2: r = 0,244*; M6: Korrelations ko effi -<br />
zient der einzelnen Items zwischen r = 0,228* und r =<br />
0,325**) und daher vermutlich langsam am Aus ster -<br />
ben. Eine Absicherung dieser These müsste durch eine<br />
Folgeuntersuchung stattfinden. Der achte My thos<br />
(„Sex sollte natürlich und spontan sein“) zeigt mäßige<br />
negative Auswirkungen ausschließlich auf die Mas -<br />
turbation. Die Korrelationen der einzelnen Items mit<br />
Orgasmuskonstanz oder Befriedigung weisen Koeffi -<br />
zienten zwischen r = -0,222* und r = -0,225* auf.<br />
Drei der zehn Mythen sind zur Zeit von großer<br />
Bedeutung. Dies sind der vierte, der fünfte und der<br />
zehnte Mythos. Der vierte Mythos („Die Frau ist zur<br />
Befriedigung sexueller Bedürfnisse des Mannes da“),<br />
untersucht als Skala aus vier Items (! = 6889), zeigt<br />
unabhängig von sozialen Faktoren eine Verbreitung<br />
von etwa 17% in ausgeprägter und weiteren etwa 31%<br />
in abgeschwächter Form. Seine negativen Auswir -<br />
kungen auf die gesamte partnerschaftliche Sexualität<br />
sind beträchtlich: Die Orgasmuskonstanz bei Koitus (r<br />
= -0,306**), die sexuelle Befriedigung durch Petting<br />
(r = -0,262*) und Koitus (r = -0,380**) und die<br />
Zufriedenheit mit dem Sexualleben insgesamt (r =<br />
-0,310**) nehmen ab. Der fünfte Mythos („Eine Frau<br />
ist immer bereit und will immer“), ebenfalls als Skala<br />
aus drei Items (! = 0,6013), ist zur Zeit nur mäßig verbreitet<br />
– lediglich sechs Prozent in ausgeprägter und<br />
weitere 25% in abgeschwächter Form – , wirkt sich<br />
jedoch negativ auf einen großen Teil der partnerschaftlichen<br />
Sexualität aus, nämlich Orgasmus kons -<br />
tanz (r = -0,219*) und sexuelle Befriedigung (r =<br />
-0,312**) durch Koitus und Zufriedenheit mit dem<br />
Sexualleben insgesamt (r = -0,308**). Der zehnte<br />
My thos („Sexualität ist etwas Unreines, Schmutzi -<br />
ges“) weist eine nicht unbedeutende Verbreitung auf;<br />
diese lässt sich aus den einzelnen Items ganz grob auf<br />
etwa zwölf bis 49% in ausgeprägter und weiteren 20 –<br />
38% in mäßiger Form schätzen. Mit zunehmendem<br />
Bildungsstand nimmt die Prävalenz des Mythos ab<br />
(Kor relationskoeffizienten zwischen r = 0,202* und r<br />
= 0,248*). Es bestehen hauptsächlich negative Aus -<br />
wirkungen zweier Items auf die Orgasmuskonstanz<br />
bei Petting (Korrelationskoeffizienten r = -0,220* und<br />
r = -0,219*).<br />
Die noch verbleibenden vier Mythen erwiesen<br />
sich zum Teil als unbedeutend für die Sexualität der<br />
Frauen, zum Teil müssen sie nochmals mit veränderten<br />
Items überprüft werden..<br />
Eine permissivere Einstellung zu Sexualität steht<br />
in allen Bereichen hauptsächlich in positivem Zu -<br />
sammenhang mit Orgasmuskonstanz und sexueller<br />
Be friedigung durch Masturbation. Die Korrelation der<br />
Gesamtskala „Einstellung“ (! = 0,8889) liegt bei r =<br />
0,263* für die Orgasmuskonstanz und r = 0,405** für<br />
die sexuelle Befriedigung. Für einige Bereiche besteht<br />
außerdem ein positiver Zusammenhang einer permissiven<br />
Einstellung mit der Orgasmuskonstanz bei Pet -<br />
ting: Der Korrelationskoeffizient der Skala „Jugend -<br />
sexualität und vorehelicher Geschlechtsverkehr“ (! =<br />
0,7501) liegt bei r = 0,219*, bei Gründen für sexuelle<br />
Betätigung für das Item „Sex ist hauptsächlich zum<br />
Vergnügen da“ bei r = 0,241. Lediglich beim Stellen -<br />
wert der Sexualität im Verhältnis zu anderen Dingen<br />
des Alltags bestehen teilweise Zusammenhänge mit<br />
dem Koituserleben und der Zufriedenheit mit dem Se -<br />
xualleben insgesamt: Frauen, die sexuelles Zusam -<br />
menpassen in der Wichtigkeit über das Funktionieren<br />
des Haushaltes und des Zusammenlebens stellen, zeigen<br />
eine größere Zufriedenheit mit dem Sexualleben<br />
insgesamt (r = 0,203*), und Frauen, die sexuelles Zu -<br />
sam menpassen über den finanziellen Verdienst des<br />
Ehe manns stellen, zeigen eine größere Orgasmus -<br />
kons tanz bei Koitus (r = 0,202*), größere sexuelle Be -<br />
friedigung durch Koitus (r = 0,287**) und größere Zu -<br />
friedenheit mit dem Sexualleben insgesamt (r =<br />
0,200*).<br />
Die Qualität der Partnerschaft hängt in den meisten<br />
Bereichen am stärksten mit der Zufriedenheit mit<br />
dem Sexualleben insgesamt zusammen (Korrelationen<br />
zwischen r = 0,202* und r = 0,668**), kaum weniger<br />
mit der sexuellen Befriedigung durch Koitus (r =<br />
0,207* bis r = 0,544**). Danach rangieren Orgas mus -<br />
konstanz bei Koitus (r = 0,224* bis r = 0,295**) und<br />
sexuelle Befriedigung durch Petting (r = 0,204* bis r<br />
= 0,346**). Hierbei handelt es sich durchweg um partnerbezogene<br />
Sexualität und deutlich überwiegend um<br />
die psychische Dimension der Sexualität, nämlich die<br />
sexuelle Befriedigung, weniger um die körperliche<br />
Sei te, die Orgasmuskonstanz. Vereinzelt zeigen sich<br />
Zusammenhänge mit der Masturbation.<br />
Sexu ali tät in der Ursprungsfamilie: Für die<br />
Frau en unserer Studie hat es keinen signifikanten Ein -<br />
fluss auf die Sexualität, ob während der Kindheit und<br />
Jugend in der Familie über Sexualität geredet wurde,<br />
durch wen sie sexuell aufgeklärt wurden, wie offen<br />
ihre Eltern Gefühle gezeigt haben und ob ihnen Sexu -<br />
alität durch die Eltern als etwas Schlechtes vermittelt<br />
wurde.<br />
Sexueller Missbrauch und Sexualität unter Ge -<br />
waltanwendung wurden gemeinsam als sexueller<br />
Miss brauch erfragt. 13 der 102 Frauen gaben unter<br />
dieser Prämisse sexuellen Missbrauch an. Es ließen<br />
sich kaum signifikante Auswirkungen auf die Sexu -<br />
alität feststellen. In der Tendenz zeigten sich um so<br />
eher Auswirkungen, je jünger die Frauen bei Beginn<br />
des sexuellen Missbrauchs waren.
Sexuelle Befriedigung und Sexualmythen bei Frauen 153<br />
Diskussion<br />
Sexuelle Befriedigung durch Masturbation, Petting<br />
und Koitus lässt sich inhaltlich offenbar gut durch die<br />
oben genannten Begriffskombinationen beschreiben.<br />
Zur Untersuchung der sexuellen Befriedigung wurden<br />
allerdings Begriffe verwendet, die sich in ihrer Be -<br />
deutung überlappen. Aus diesem Grunde gibt es z. T.<br />
etliche andere, ähnliche Kombinationen von Items, die<br />
in der statistischen Auswertung nur geringfügig<br />
schlech ter abschneiden.<br />
Interessant ist die Frage, warum sexuelle Be -<br />
friedigung durch Koitus für die meisten Frauen eher<br />
das Gleiche bedeutet, während sexuelle Befriedigung<br />
durch Petting oder Masturbation von stark subjektiver<br />
Qualität ist. Es könnte ein Zusammenhang mit der<br />
Häufigkeit bestehen, in der die befragten Frauen diesen<br />
drei Aktivitäten nachgehen, denn Koitus ist die se -<br />
xuelle Aktivität, die von den Frauen am weitaus häufigsten<br />
praktiziert wird, Masturbation dagegen diejenige,<br />
die am seltensten ausgeübt wird. Danach wäre<br />
ein Angleichen der Erwartungen unterschiedlicher<br />
Frau en mit zunehmender Erfahrung möglich. Eben -<br />
sogut könnte ein in unterschiedlichem Maße vorhandenes<br />
Schrifttum zu unterschiedlich einheitlichen Er -<br />
wartungen führen. Hierbei handelt es sich aber um<br />
Ver mutungen, die in weiteren Studien überprüft werden<br />
müssen.<br />
Aufgrund unserer deutlichen Ergebnisse eines<br />
zwar hochsignifikanten Zusammenhangs der sexuellen<br />
Befriedigung mit der Orgasmuskonstanz, aber<br />
einer nicht bestehenden Identität beider, ist eine Auf -<br />
nahme sexueller Befriedigungsstörungen als eigenständige<br />
Kategorie in eine moderne Klassifikation se -<br />
xu eller Störungen zu fordern. Solange das nicht ge -<br />
schehen ist, sollten sie dennoch Berücksichtigung in<br />
Diagnostik, Therapie und weiterer Forschung finden.<br />
Bei den untersuchten Determinanten sexueller Be -<br />
friedigung (bzw. der Orgasmuskonstanz) liegen die<br />
Ergebnisse einiger im Rahmen bisheriger Unter su -<br />
chungen, die Ergebnisse anderer sind dagegen weniger<br />
erwartungsgemäß. Von besonderer Wichtigkeit<br />
sind die Sexualmythen, da sie bei Frauen erstmalig<br />
Gegenstand der Untersuchung waren und sich z. T. in<br />
bedeutender Weise auf die weibliche Sexualität auswirken.<br />
So sind die Ergebnisse zum Einfluss des Sozial -<br />
status auf die Sexualität im Großen und Ganzen mit<br />
denen Laumanns (1994: 84, 114, 119ff.) vergleichbar.<br />
Bezüglich der Partnerschaft wurden signifikante<br />
Zusammenhänge mit partnerschaftlicher Sexualität<br />
gefunden. Von besonderem Interesse ist dabei die Fra -<br />
ge eines gerichteten Zusammenhangs, d. h.: Beein -<br />
flusst eher die Sexualität die Partnerschaft oder umgekehrt<br />
die Partnerschaft die Sexualität? Diese Frage<br />
nach der Kausalität kann aufgrund einer solchen Un -<br />
tersuchung nicht beantwortet werden. Ein Vergleich<br />
mit anderen Veröffentlichungen zu diesem Thema<br />
macht allerdings deutlich, dass man einen gerichteten<br />
Zusammenhang vorwiegend in Form eines Einflusses<br />
der Qualität der Partnerbeziehung auf das sexuelle<br />
Erleben annehmen muss (s. Egedi & Bürger 1981:<br />
129; Arentewicz & Schmidt 1993: 45 , 53; Blumstein<br />
& Schwartz 1983: 201; Buddeberg 1987: 142).<br />
Wie bereits erwähnt, bestehen vereinzelt statistisch<br />
signifikante Zusammenhänge mit der Mastur -<br />
bation. Diese lassen sich aber nicht in einen konzeptionellen<br />
Gesamtzusammenhang stellen. Daher ergibt<br />
sich die Frage, ob es sich um tatsächlich bedeutsame<br />
Korrelationen handelt oder eher um zufällig aufgetretene<br />
Signifikanzen, wie es bei einer großen Anzahl<br />
von Items vorkommen kann. Aus bisherigen Unter -<br />
suchungen gehen keine derartigen Zusammenhänge<br />
hervor, was die Wahrscheinlichkeit der zweiten Mög -<br />
lichkeit erhöht.<br />
Dass die Einstellung zur Sexualität hauptsächlich<br />
mit der Masturbation, wesentlich weniger mit Pet -<br />
ting und fast gar nicht mit Koitus und Zufriedenheit<br />
mit dem Sexualleben insgesamt in Zusammenhang<br />
steht, könnte daran liegen, dass Koitus ohnehin als<br />
eheliche Sexualaktivität überall akzeptiert und verbreitet<br />
ist. Dagegen spielen offenbar für eine partnerschaftliche<br />
Sexualaktivität ohne Koitus oder gar<br />
Masturbation innerhalb einer Partnerschaft Einstel -<br />
lungs faktoren eine größere Rolle.<br />
Die Ergebnisse zum Umgang mit Sexualität in<br />
der Ursprungsfamilie befinden sich in Übereinstimmung<br />
mit Teilen der Ergebnisse Uddenbergs (1974),<br />
nach dessen Untersuchung es keine Rolle spielt, wieviel<br />
Information über Sexualität eine Frau von ihrer<br />
Mutter erhalten hat (s. 42). Sie stehen dagegen in völligem<br />
Gegensatz zu den Ergebnissen Darlings und<br />
Hicks‘ (1983), die herausfanden, dass die erinnerte<br />
Bot schaft der Eltern, Sex sei etwas Schlechtes, negative<br />
Auswirkungen auf die sexuelle Befriedigung habe<br />
und dass es sich positiv auswirke, wenn die Eltern zu<br />
Hause Sexualität oft diskutierten (s. 240).<br />
Sexualmythen unter Frauen sind – wie erwähnt –<br />
erstmalig Gegenstand der Untersuchung gewesen. Ein<br />
Teil der Mythen weist eindeutig negative Auswir kun -<br />
gen auf die weibliche Sexualität auf. Das bedeutet,<br />
dass sie sowohl in der zukünftigen Forschung als auch<br />
bei der Suche nach Ursachen einer konkreten Sexual -<br />
störung nicht mehr außer Acht gelassen werden sollten.
154 S. Philippsohn, K. Heiser, U. Hartmann<br />
Insbesondere ist in diesem Zusammenhang eine<br />
Betrachtung des in der neuen Klassifikation der In -<br />
ternational Consensus Development Conference on<br />
Female Sexual Dysfunction (Basson et al. 2001) eingeführten<br />
Begriffes „receptivity to sexual activity“ –<br />
zu deutsch „Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität“ –<br />
notwendig. Eine Definition dieser Kategorie wird in<br />
der Veröffentlichung nicht gegeben. Es wird aber<br />
deut lich, dass es sich um etwas anderes als „sexuelle<br />
Erregbarkeit“ handeln muss. Das heißt, dass eine ge -<br />
störte Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität bei ungestörter<br />
sexueller Erregbarkeit als sexuelle Störung aufgefasst<br />
wird. Wann aber kann es zu einer solchen Si -<br />
tuation kommen? Etwa dann, wenn ein Partner sexuelle<br />
Aktivität mit seiner Partnerin wünscht, obwohl sie<br />
keine Lust hat? Hier wird nun deutlich, welch große<br />
Bedeutung den Ergebnissen zum fünften Mythos<br />
(„Eine Frau ist immer bereit und will immer“) zukommen.<br />
Aus ihnen geht nämlich eindeutig hervor, dass es<br />
umfassend negative Auswirkungen auf die Sexualität<br />
einer Frau hat, wenn sie sich auf sexuelle Aktivitäten<br />
einlässt, ohne wirklich Lust dazu zu haben.<br />
Es wird demnach deutlich, dass man sowohl bei<br />
der Definition des Begriffes „receptivity to sexual<br />
activity“ als auch bei der Zuweisung dieser Diagnose<br />
stets bedenken muss, dass wenigstens ein Minimum<br />
sexuellen Verlangens unabdingbare Voraussetzung für<br />
„Empfänglichkeit für sexuelle Aktivität“ ist.<br />
<strong>Literatur</strong><br />
Arentewicz, G.; Schmidt, G. (1993): Sexuell gestörte Bezie hungen.<br />
Konzept und Technik der Paartherapie. Stuttgart: En ke.<br />
Basson, R. et al. (2001): Report of the International Consensus De -<br />
ve lop ment Conference on Female Sexual Dysfunction: De fini -<br />
tions and Classifications. J Sex Marital Ther 27: 83-94.<br />
Blumstein, Ph.; Schwartz, P. (1983): American Couples: Money,<br />
Work, and Sex. New York: Morrow Publishers.<br />
Buddeberg, C. (1987): Sexualberatung. Eine Einführung für Ärzte,<br />
Psy chotherapeuten und Familienberater. Stuttgart: Ferdinand En -<br />
ke Verlag.<br />
Darling, C.A.; Hicks (1983): Recycling Parental Sexual Messages. J<br />
Sex Marital Ther 9: 233-243.<br />
Egidi, K.; Bürger, G. (1981): Das Gefühl der Befriedigung. Was Se -<br />
xu al forscher nicht erfassen können, sagen die Frauen selbst. Rein -<br />
beck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.<br />
Frenken, J.; Vennix, P. (1981): SES Sexuality Experience Scales.<br />
Lis se: Swets & Zeitlinger B.V.<br />
Jayne, C. (1981): A Two-Dimensional Model of Female Sexual Res -<br />
ponse. J Sex Marital Ther 7: 3-30.<br />
Laumann, E.O.; Gagnon, J. H.; Michael, R. T.; Michaels, S. (1994):<br />
The Social organisation of sexuality: sexual practices in the Uni -<br />
ted States. Chicago: The University of Chicago Press.<br />
Uddenberg, N. (1974): Psychological aspects of sexual inadequacy<br />
in women. J Psychosom Res 18: 33-47.<br />
Zilbergeld, B. (1988): Männliche Sexualität. Tübingen, 14. Aufl.:<br />
Deut sche Gesellschaft für Verhaltenstherapie.<br />
Zimmer, D. (1985): Sexualität und Partnerschaft: Grundlagen und<br />
Pra xis psychologischer Behandlung. München; Wien; Baltimore:<br />
Urban und Schwarzenberg.<br />
Anschrift der Autoren<br />
Dr. Susanne Philippsohn, Dr. Kristina Heiser, Dipl.-Psych., Prof. Dr. Uwe Hartmann, Dipl.-Psych., Arbeitsbereich Klinische Psychologie, Abteilung für<br />
Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule, Konstanty-Gutschow-Str. 8, 30623 Hannover,<br />
mail: hartmann.uwe@mh-hannover.de
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier<br />
Leistenhernienreparation mit Kunststoffnetz<br />
Jürgen Zieren, Dirk Beyersdorff, Klaus M. Beier, Jochen M. Müller<br />
Sexual Function and Testicular<br />
Perfusion after Inguinal Hernia<br />
Repair with Mesh<br />
Abstract<br />
Background: Open tension-free techniques of hernia re -<br />
pair using synthetic meshes revealed an excellent patient<br />
comfort with low recurrence rates. The influence of the<br />
resulting fibrosis on testicular perfusion and sexual function<br />
is still unclear.<br />
Methods: In a prospective observation study testicular<br />
volume, perfusion, and sexual function was investigated<br />
before plug and patch repair, after 3 months, and every 6<br />
months thereafter. Testicular volume and perfusion was<br />
examined by a standardized scrotal ultrasound and du -<br />
plex sonography. Sexual function was assessed by a validated<br />
anonymized questionnaire.<br />
Results: Seventy-three patients were included and follow-up<br />
examinations by questionnaire and sonography,<br />
respectively, were completed in 73 and 68 patients after<br />
3 months, 51 and 43 after 6, and 24 and 14 after 12<br />
months. Preoperative testicular volume and flow volume<br />
was comparable between the side of hernia and the contralateral<br />
side (average 10.2 ± 4.8 cm 3 versus 9.8 ± 5.3,<br />
respectively) and showed no significant differences during<br />
follow-up. In 11 (15%) patients with preexisting disorders<br />
sexual function was normalized postoperatively. Ten<br />
(14%) other patients (3 of them with neuralgia pain)<br />
described limitations of sexual activity due to inguinal pain<br />
(n = 4; 6%) or a loss of sensivity in the inguinal area (n =<br />
6; 8%) after the procedure. Among these, sexual function<br />
recovered spontaneously within 12 months postoperatively<br />
in 6 patients (2 with inguinal pain, 4 with loss of sensitivity).<br />
In all other patients sexual function showed no<br />
changes after inguinal hernia repair.<br />
Conclusions: So far there is no evidence for a significant<br />
im pairment of the cord structures and the sexual function<br />
after inguinal hernia repair in the plug and patch technique.<br />
Keywords: Plug and patch; Mesh; Tension-free; Cord<br />
structure; Sexual function; Testicular perfusion<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 155 – 159 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie<br />
Zusammenfassung<br />
Hintergrund: Offene spannungsfreie Verfahren der Leis -<br />
ten hernienreparation mit Implantation von Kunststoff net -<br />
zen haben einen exzellenten Patientenkomfort und geringe<br />
Rezidivraten ergeben. Unklar ist, welchen Einfluß die Fi -<br />
bro sierung der Kunststoffnetze auf die Testicularperfusion<br />
und die Sexualfunktion hat.<br />
Methoden: Im Rahmen einer prospektiven Beobach -<br />
tungs studie wurden das testiculäre Volumen und Perfu -<br />
sion so wie die Sexualfunktion vor Plug und Patch Repa -<br />
ration, 3 Monate postoperativ und anschließend alle 6<br />
Mo nate untersucht. Testicularvolumen und -perfusion<br />
wur den mit tels standardisierter Skrotal- und Duplex so -<br />
nographie ermittelt, die Sexualfunktion wurde mit einem<br />
validierten anonymen Fragebogen erhoben.<br />
Ergebnisse: 73 Patienten wurden eingeschlossen. Die<br />
Nachsorgeuntersuchungen mit Fragebogen und Sono -<br />
graphie konnten nach 3 Monaten bei 73 bzw. 68, nach 6<br />
Monaten bei 51 bzw. 43 Patienten und nach 12 Monaten<br />
bei 24 bzw. 14 Patienten durchgeführt werden. Das präoperative<br />
Testicularvolumen war vergleichbar zwischen<br />
Her nienseite und Gegenseite (Durchschnitt 10.2 ± 4.8<br />
cm 3 versus 9.8 ± 5.3) und zeigte keinen signifikanten<br />
Unterschied im Verlauf.<br />
Bei 11 (15%) mit präoperativen Störungen der Sexual -<br />
funk tion kam es postoperativ zu einer Normalisierung.<br />
Zehn (14%) weitere Patienten (darunter 3 mit Neuralgie)<br />
berichteten über Einschränkungen der Sexualfunktion aufgrund<br />
von Leistenschmerzen (n = 4; 6%) oder aufgrund<br />
eines Sensibilitätsverlustes (n = 6; 8%) postoperativ.<br />
Unter diesen Patienten kam es innerhalb von 12 Mo -<br />
na ten postoperativ bei 6 Patienten zu einer spontanen<br />
Normalisierung der Sexualfunktion (2 mit Leistenschmer -<br />
zen, 4 mit Sen sibilitätsverlust). Bei allen an deren Patienten<br />
kam es postoperativ zu keiner Änderung der Sexual funk -<br />
tion.<br />
Schlußfolgerung: Bislang ergibt sich kein Hinweis für<br />
eine signifikante Beeinträchtigung der Samenstrang struk -<br />
turen und der Sexualfunktion nach Leistenhernien re pa -<br />
ration in der Plug und Patch Technik.<br />
Schlüsselwörter: Plug and Patch; Kunststoffnetz; spannungsfrei;<br />
Samenstrangstrukturen, Sexualfunktion, Testi -<br />
cu lar perfusion
156 J. Zieren, D. Beyersdorff, K. M. Beier, J. M. Müller<br />
Dass operative Eingriffe im Abdominal-, Becken- und<br />
Urogenitalbereich auch sexualmedizinisch relevante<br />
Folgen nach sich ziehen können, ist im Zusammen -<br />
hang mit Krebserkrankungen (z. B. Rektumkarzinom,<br />
Prostatakarzinom) durch einige erste Studien belegt<br />
und findet immer stärker Beachtung. Bereits die Pla -<br />
nung von Operationen bzw. die Auswahl des chirurgischen<br />
Zentrums und des operativen Vorgehens ist als<br />
wichtige Weichenstellung anzusehen, da mit Blick auf<br />
die Sexualfunktionen ein möglichst nervenschonendes<br />
Operationsverfahren anzustreben ist (vgl. Beier et al.<br />
2001). Wenig Beachtung hingegen fanden bisher die<br />
weniger schwerwiegenden, dafür aber sehr häufig<br />
durch geführten Leistenhernienoperationen, die in na -<br />
hezu allen allgemeinchirurgischen Abteilungen und<br />
so gar ambulant zu den Routineeingriffen gehören. Da -<br />
bei sind gerade sie aus sexualmedizinischer Sicht so -<br />
wohl hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die<br />
Sexualfunktionen als auch auf die Hodenperfusion<br />
von Interesse.<br />
Lange Zeit bestand das Standardverfahren darin,<br />
nach Reposition des Bruchsacks den Fasziendefekt<br />
durch Vernähen ortsständigen Bindegewebes zu ver -<br />
schließen (z.B. Shouldice oder Bassini-Operation).<br />
Teil weise unbefriedigende Ergebnisse mit hohen post -<br />
operativen Beschwerden und Rezidivraten führten in<br />
den 80er Jahren auch zur Verwendung von nicht resorbierbaren<br />
Kunststoffnetzen. Diese werden weitgehend<br />
ohne Spannung entweder über einen klassischen Leis -<br />
tenschnitt von außen oder über die „Schlüssel -<br />
lochtechnik“ – d.h. minimal-invasiv (endoskopisch)<br />
von abdominal eingebracht. Erste klinische Ergebnis -<br />
se dieser auch als „spannungsfrei“ bezeichneten Ver -<br />
fahren sind bezüglich postoperativer Schmerzen und<br />
Rezidivraten im Vergleich zu den früheren Stan -<br />
dardverfahren sehr gut (Lichtenstein & Shulman 1986,<br />
Rutkow & Robbins 1993, Zieren et al. 1998).<br />
Tier experimentelle Untersuchungen und klinische<br />
Erfah rungen (Klosterhalfen et al. 1998, Klinge et al.<br />
1998) haben jedoch gezeigt, dass die zumeist verwendeten<br />
Kunststoffnetze aus Polypropylene über eine<br />
chronische Fremdkörperreaktionen zu Verhärtungen<br />
und Schrump fungen führen können (Schumpelick).<br />
Ange sichts der engen Lagebeziehung der Kunststoff -<br />
netze zu den Samenstrangstrukturen beim Mann stellt<br />
sich damit die Frage nach möglichen Langzeiteffekten<br />
durch die Netze. Im Rahmen einer propsektiven Beob -<br />
achtungsstudie wurde daher die Hodendurchblutung<br />
und Sexualfunktionen bei Patienten vor und nach<br />
„Plug und Patch Reparation“ standardisiert untersucht.<br />
Methoden<br />
Die Studie wurde als prospektive Beobachtungsstudie<br />
angelegt und von der Ethikkommission der Charité ge -<br />
nehmigt. Von Januar 1999 bis Januar 2000 wurden 133<br />
Männer vor elektiver Operation eines einseitigen nicht<br />
inkarzerierten Leistenbruchs in der Chirurgische Kli -<br />
nik Charité, Campus Mitte, nach schriftlicher Ein ver -<br />
ständniserklärung in die Studie aufgenommen. Aus -<br />
schlusskriterien waren Alter unter 18 Jahren, Rezidivoder<br />
inkarzerierte Leistenhernie und Hodenerkrankun -<br />
gen (Tumor, Orchitis).<br />
Operationsverfahren<br />
Die Plug und Patch Reparation wurde zumeist unter<br />
standardisierter Lokalanästhesie nach Amid (1:1 Ge -<br />
misch 0.5% Carbostesin, 1% Xylocithin, Fa. Astra)<br />
oder auf Patientenwunsch in Intubationsnarkose<br />
durch geführt. Nach Leistenschnitt und Eröffnung der<br />
Externusaponeurose wurde der Bruchsack freipräpariert<br />
und in die Bauchhöhle reponiert. In allen Fällen<br />
wurde aus einem eingeschnittenen ca. 10 x 10cm<br />
großen Prolene-Netz ein Kegel geformt und hinter<br />
dem inneren Leistenring (indirekte Hernie) bzw. die<br />
direkte Bruchpforte eingeführt.<br />
Anschließend wurde der innere Leistenring durch<br />
Naht so eingeengt, dass er für die Kleinfingerspitze<br />
pas sierbar blieb. Zusätzlich wurde ein Onlay Patch aus<br />
Prolene (ca. 5 x 10cm), der mit einem Schlitz und<br />
einer runden Öffnung für den Durchtritt der Sa men -<br />
stranggefäße versehen war, auf die Leistenkanal -<br />
hinterwand aufgebracht und der Schlitz anschließend<br />
ver schlossen (Abb.1-3). Schließlich wurde die Ex te -<br />
rnu sa poneursoe fortlaufend vernäht, Subcutan- und in -<br />
tracutane Hautnaht beendeten den Eingriff.<br />
Abb. 1: Aus einem Kunststoffnetz wird ein Kegel geformt (sogenannter<br />
„Plug“)
Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienreparation 157<br />
Abb. 2: Der „Plug“ wird hinter dem inneren Leistenring eingeführt und<br />
fixiert<br />
Abb. 3: Der „Onlay-Patch“ mit einem Schlitz für den Durchtritt der Samen -<br />
strangstrukturen wird auf der Leistenkanalhinterwand aufgebracht<br />
Postoperativ konnten die Patienten unmittelbar auf -<br />
stehen und bei unauffälligem Lokalbefund noch am<br />
Ope rationstag die Klinik verlassen. Die Wieder auf -<br />
nahme körperlicher und sexueller Aktivität wurde<br />
nicht limitiert und konnte vom Patienten frei entschieden<br />
werden.<br />
Untersuchungen<br />
Die Hauptzielkriterien der Studie waren mögliche<br />
Ver änderungen der Sexualfunktionen und der Hoden -<br />
perfusion. Die Hernienlokalisation (direkt/indirekt)<br />
wur den präoperativ sonografisch bestimmt und folgende<br />
Variablen auf zu operierender und der Ge -<br />
genseite untersucht: Testicularvolumen (cm 3 ), Blut -<br />
fluß der A. spermatica (Vmax [cm/sec]) durch Hoden -<br />
sonografie sowie Farb Duplex Sonografie mittels 7<br />
Mhz Schallkopf durch denselben Untersucher (DB)<br />
analog zu der von Kupzyk-Joeris (1989) beschriebenen<br />
Technik.<br />
Die Sexualfunktionen der Patienten wurden mit<br />
einem Erhebungbogen erfasst, der am Institut für Se -<br />
xu al wissenschaft und Sexualmedizin der Charité ent -<br />
wik kelt, hinsichtlich der Re-Test-Reliabilität ge prüft<br />
und im Rahmen verschiedener Studien zu Aus wirkun -<br />
gen chronischer Erkrankungen auf Sexua li tät und Part -<br />
ner schaft (z. B. Morbus Parkinson, vgl. Beier et al.<br />
2000, oder Multiple Sklerose, vgl. Beier et al. 2002)<br />
eingesetzt worden ist. Das Erhebungs ins tru ment enthält<br />
Fra gen zum sexuellen Erleben und Ver halten mit<br />
einer Erfassung sexueller Funktionsstörun gen (Ap pe -<br />
tenz stö rungen, Erektionsstörungen, Orgas mus störun -<br />
gen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr) so wie zur<br />
sexuellen und partnerschaftlichen Zu frie denheit. Er<br />
wurde für die Zwecke der hiesigen Studie adaptiert,<br />
etwa um evtl. auftretende Wundprobleme mit zu erfassen.<br />
Die Erhebungen wurden präoperativ sowie 3 Mo -<br />
nate, 6 Monate und 12 Monate postoperativ durchgeführt.<br />
Da bei wurden die Patienten gebeten, ein persön -<br />
liches Code-Wort zu benutzen (und über die verschiedenen<br />
Messzeitpunkte beizubehalten), damit bei der<br />
Aus wertung prä- und postoperative Frage bö gen zugeordnet<br />
werden konnten, gleichzeitig aber die Ano ny -<br />
mität gewahrt wurde. Die nicht operierte Seite sowie<br />
präoperative Ergebnisse dienten als Kontrolle. Zur<br />
statistischen Analyse wurde der Mann-Whitney U Test<br />
für kontinuierliche nicht parametische Daten ge nutzt;<br />
das Signifikanzniveau wurde auf p < 0.05 festgelegt.<br />
Ergebnisse<br />
Insgesamt wurden 73 Patienten mit einem Durch -<br />
schnittsalter von 57+14 Jahren in die Studie aufgenommen.<br />
Präoperativ klagten bereits 11 (15%) der Pa -<br />
tienten während des Geschlechtsverkehrs über Schmer -<br />
zen durch den Leistenbruch. Eine Verkleinerung des<br />
Hodenvolumens wurde präoperativ von keinem Pa -<br />
tienten angegeben. Bei den Lokalbefunden handelte es<br />
sich um 52 (71.2%) indirekte, 21 (28.8.%) direkte und<br />
14 (19.1%) kombinierte direkte/indirekte Leistenher -<br />
nien. Der durchschnittliche Herniendefekt betrug<br />
2.8+1.7 cm (1.1-4.6). Intraoperative Komplikationen<br />
traten nicht auf; popstoperative Komplikationen be -<br />
standen in Wundproblemen (Serome n=11; 15%; Hä -<br />
matom n = 8; 11%; Infektion n = 2; 2.7%) und Neu -<br />
ralgie (n = 6; 8.2%). Die Wundkomplikationen heilten<br />
spontan und folgenlos innerhalb von 3 Monaten wäh -<br />
rend die Neuralgien bei 4 (5.5%) Patienten partiell<br />
persistierten (Tabelle 1). Die Sexualfunktionen und<br />
Testicularvolumen konnte bei allen Patienten präoperativ,<br />
bei 73 bzw. 68 nach 3 Monaten, 51 bzw. 43 nach<br />
6 Monaten und 24 bzw. 14 nach 12 Monaten untersucht<br />
werden. Während des Follow-ups sind 3 Pa tien -<br />
ten (4.1%) verstorben, 7 (9.5%) verzogen und 6
158 J. Zieren, D. Beyersdorff, K. M. Beier, J. M. Müller<br />
Tab. 1: Ergebnisse I<br />
Alter (Jahre); MW+SD<br />
Typ der Leistenhernie<br />
Indirekt<br />
Direkt<br />
Kombiniert (direkt/indirekt)<br />
Herniengröße (cm); MW+SD<br />
Komplikationen<br />
Intraoperativ<br />
Postoperativ<br />
Serom<br />
Hämatom<br />
Infektion<br />
Neuralgie<br />
* Werte in Klammern sind %<br />
57+14<br />
52 (71)*<br />
21 (29)<br />
14 (19)<br />
2.8+1.7<br />
0<br />
27 (37)<br />
11 (15)<br />
8 (11)<br />
2 (3)<br />
6 (8)<br />
(8.2%) mit anamnestisch unauffälligen Befunden<br />
konn ten nicht zur Nachuntersuchung motiviert werden.<br />
Präoperativ zeigte die Hodenperfusion der nicht<br />
operierten Seite keinen signifikanten Unterschied zur<br />
Hernienseite. Auch postoperativ ergab sich weder<br />
zwi schen den Seiten noch im Vergleich zu präoperativen<br />
Befunden ein signifikanter Unterschied in der Ho -<br />
denperfusion (Tabelle 2). Bei allen Patienten mit präoperativen<br />
Schmerzen infolge des Leistenbruches und<br />
Einschränkungen der Sexualfunktionen hatten sich<br />
diese innerhalb von 3 Monaten postopertaiv normalisiert.<br />
Sexuelle Störungen durch Leistenschmerzen wa -<br />
ren postoperativ signifikant geringer als präoperativ<br />
(p < 0.05). Allerdings klagten 10 (14%) Patienten mit<br />
un auffälligem präoperativen Befund über Einschrän -<br />
kungen der Sexualfunktionen (vornehmlich der sexuellen<br />
Appetenz) und qualitativem Verlust des sexuellen<br />
Erlebens durch Leistenschmerzen (n = 4; 6%) bzw.<br />
Sensibilitätsverlust im Leistenbereich (n = 6; 8%,<br />
Tabelle 2) nach 3 Monaten. Bei 6 dieser Patienten (2<br />
mit Leistenschmerzen, 4 mit Sensibilitätsverlust) kam<br />
es zu einer völligen Normalsierung innerhalb von 12<br />
Monaten. Die Mehrheit der Patienten (n = 63, 86%)<br />
zeigte überhaupt keine Änderung in ihrem sexuellen<br />
Erleben und Verhalten im Vergleich zu den präoperativen<br />
Befunden. Darüberhinaus konnte keine Korrela -<br />
tion zwischen Sexualfunktion und Testicularvolumen<br />
bzw. -perfusion beobachtet werden.<br />
Diskussion<br />
Im Gegensatz zu den großen klinischen Erfahrungen<br />
bezüglich technischer Aspekte der spannungsfreien<br />
Her nienreparation mit Kunststoffnetzen existieren nur<br />
wenige Untersuchungen zu den lokalen Komplikatio -<br />
nen an den Samenstrangstrukturen. Silich (1996) be -<br />
richtete über eine Erosion des Samenleiters durch eine<br />
Kante des implantierten Kunststoffnetzes, die zu ei -<br />
nem schmerzhaften Spermatogranulom 4 Jahre nach<br />
spannungsfreier Hernienreparation mit einem Poply -<br />
pro pylen-Netz geführt hat. Nach Exzision des<br />
Spermato granuloms konnte eine mikroskopische<br />
Samen leiter kon struktion durchgeführt werden. In<br />
einer ersten ex perimentellen Studie wurde von Uzzo<br />
(1999) untersucht, welchen Einfluß der konventionelle<br />
Nahtver schluß bzw. die Implantation eines Kunst -<br />
stoffnetzes zur Hernienreparation auf die Samen lei -<br />
terstrukturen in einem Hundemodell hat. Dabei wur -<br />
den keine signifikanten Unterschiede bezüglich Testi -<br />
cularvolumen, testiculärer Temperatur, Blutfluss und<br />
Vasogramm im prä- und postoperativen Vergleich so -<br />
wie zwischen den beiden Verfahren festgestellt. Histo -<br />
logische Unter su chungen zeigten eine normale Sper -<br />
ma togenese in den Hoden wobei eine muskuläre<br />
Verdickung des Samen leiters in der Netzgruppe ausgeprägter<br />
war. Eine Ero sion oder Stenose des Samen -<br />
leiters durch das Netz wur de nicht beobachtet. Bei Re-<br />
Operationen von Pa tien ten, bei denen zur Hernien ver -<br />
sorgung laparoskopisch das Kunststoffnetz intraperitoneal<br />
vor die Bruch lücke eingebracht worden war,<br />
wur den bereits früher klinisch asymptomatische<br />
Adhä sionen des Kunst stoffnetzes an den Samenleiter -<br />
Tab. 2: Ergebnisse II<br />
Präoperativ Postoperativ (Monate) P<br />
3 6 12<br />
Testiculauntersuchung<br />
Gesamtzahl der Patienten (n) 73 68 43 14<br />
Testicularvolumen (cm 3 ), MW+SD 10.2+4.8 11.4+5.2 10.9+3.7 11.3+4.9 NS<br />
Testicularvolumen (cm/sec), MW+SD 0.032+0.15 0.036+0.09 0.029+0.12 0.035+0.18 NS<br />
Evaluation der Sexualfunktion<br />
Gesamtzahl der Patienten (n) 73 73 51 24<br />
Störungen der Sexualfunktionen 11 (15) 10 (14) 7 (14) 4 (17) NS<br />
Leistenschmerzen 11 (15) 4 (6) 3 (6) 2 (8) S<br />
Parästhesie 11 (15) 6 (8) 4 (8) 2 (8) NS<br />
! Werte in Klammern sind %<br />
! NS = nicht signifikant, S = signifikant
Sexualität und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienreparation 159<br />
strukturen beobachtet (Fitzgibbons et al. 1994). Zu -<br />
sammenfassend decken sich diese Ergeb nisse mit den<br />
bisherigen klinischen Erfah run gen. Es ist nicht davon<br />
auszugehen, dass die Implantation von Kunststoff net -<br />
zen zur Her nienreparation die Samen strangstrukturen<br />
oder die Se xualfunktionen negativ beeinflusst. Die je -<br />
nigen Patien ten, die bereits vor der Operation über<br />
Schmer zen in folge des Leistenbruchs und Einschrän -<br />
kungen ihrer Se xualfunktionen beklagten, profitierten<br />
von dem Ein griff, während der Anteil derjenigen Pa -<br />
tien ten, die prä operativ keine Beeinträchtigung ihres<br />
sexuellen Er lebens und Verhaltens durch Leisten -<br />
schmerzen bzw. Sensibilitätsverlust im Leistenbereich<br />
aufwiesen, sehr wohl aber nach dem Eingriff bei<br />
lediglich 14 % lagen, wobei die Studie keinen Auf -<br />
schluss darüber ermöglicht, ob andere Faktoren (Ko -<br />
morbidität, partnerschaftliche Beziehungssituation)<br />
einen zusätzlichen Ein fluss gehabt haben könnten.<br />
Ohne hin ist es ein Nach teil der Studie, dass die Part -<br />
nerinnen der operierten Männer nicht in die Unter -<br />
suchung mit einbezogen wurden, wozu es allerdings<br />
eigener Fragebögen und eines hohen organisatorischen<br />
Aufwandes (4 Mess zeitpunkte!) bedurft hätte.<br />
Hingewiesen sei aber auch darauf, dass lediglich 14%<br />
der operierten Männer eine klinisch relevante<br />
Sexualstörung aufwiesen, während die Prävalenz für<br />
die entsprechende Altersgruppe (das Durchschnitts -<br />
alter der operierten Männer lag bei nach 57 Jahren)<br />
aus repräsentativen Untersuchungen (also an nichtklinischen<br />
Stichproben) deutlich höher liegt. Nach den<br />
Daten von Laumann et al. (1994) gaben 31% der Män -<br />
ner Probleme mit der sexuellen Appe tenz, der Er re -<br />
gung oder dem Orgasmus an (untersuchter Alters be -<br />
reich: 18 – 59 Jahre). Allerdings besteht auch hier<br />
noch weiterer Forschungsbedarf, insbesondere zur<br />
Fra ge der Komorbidität und der Bedeutung partnerschaftlicher<br />
Faktoren. Ein solcher Ansatz bietet sich<br />
ebenso für weitere Studien zu den Auswirkungen von<br />
Leistenhernienoperationen auf Sexualität und Partner -<br />
schaft der Betroffenen an. Wie verschiedene Stu dien<br />
gezeigt haben, können die Kunststoffnetze auch zu<br />
einer anhaltenden chronisch inflammatorischen Reak -<br />
tion mit Schrumpfung und Verhärtung des Implantates<br />
führen (Klinge et al. 1996), so dass weitere Nachun -<br />
tersuchungen angestrebt werden sollten. Darüberhin -<br />
aus sollten zusätzliche tierexperimentelle Studien im<br />
Detail untersuchen, welchen Einfluss die Implantation<br />
eines Polypropylen-Stopfens hinter den inneren Leis -<br />
ten ring – wie bei der Plug und Patch Re pa ration – auf<br />
die in unmittelbarem Kontakt befindlichen Samenlei -<br />
ter strukturen hat.<br />
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Anschrift der Autoren<br />
PD Dr. med. Jürgen Zieren, Prof. Dr. Jochen M. Müller, Medizinische Fakultät Charité der Humboldt Universität zu Berlin, Klinik für Allgemein-, Visceral-, Gefäßund<br />
Thoraxchirurgie, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin, mail: juergen.zieren@charite.de;<br />
Dr. med. Dirk Beyersdorff, Institut für Radiologie, Campus Charité Mitte, Schumannstr. 20/21, 10117 Berlin;<br />
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus M. Beier, Institut für Sexual wissenschaft und Sexualmedizin, Universitätsklinikum Charité, Humboldt-Universität zu Berlin, Luisenstr.<br />
57, 10117 Berlin, mail: klaus.beier@charite.de
Orginalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Sexualität und Menopause *<br />
Mechthild Neises<br />
Sexuality and Menopause<br />
Abstract<br />
Menopause is a phase in a woman’s life cycle that is very<br />
often looked upon merely as an aspect of deficiency<br />
based on hormonal activity and loss of generative function.<br />
Yet this becomes evident in the term „climacteric“<br />
which signifies a beginning decline after having reached<br />
a summit – a „climax“. The problem is restricted to changes<br />
in sexual experience and behavior of menopausal<br />
women. It should, however, be kept in mind that this<br />
describes only one aspect of a woman’s aging process.<br />
Further facets of what is called physical maturity, such as<br />
life experience, personality development, model function<br />
and social welfare, may well go together with psychical<br />
and physical differentiation and productivity.<br />
Sexuality during menopause is essentially influenced<br />
by the following factors: psychosocial status, educational<br />
status, professional status and every day stress situations.<br />
Further important factors are a woman’s own negative<br />
perception of the menopause, experiences of physical or<br />
psychical illness as well as sexual behavior in the past<br />
whereby the sexual partner plays the most important role.<br />
The duration of a partnership and the feelings towards<br />
the partner are decisive. The menopause itself influences<br />
the sexual reaction while only the postmenopausal phase<br />
leads to a reduction of libido and sexual activity accompanied<br />
by a strong increase in dyspareunia. Under psychosomatic<br />
aspects the menopause is to be seen as a<br />
border situation in which the topic of separation is being<br />
reanimated by the loss of fertility, generative function and<br />
biologically determined options which may result in a<br />
destabilization of the psychological equilibrium. The hit -<br />
herto known self-reliance is called into question and may<br />
lead to a maturity crisis or even culminate in a rupture of<br />
psychical, physical and social integrity. The chance given in<br />
this crisis is to find a way for revision and a new start, i.e.<br />
to reinvent one’s identity and to develop a new sense of<br />
life on a higher stage of maturity.<br />
Keywords: Menopause, Sexuality, Partner relationship, At -<br />
tai nable maturity<br />
* Manuskript wurde nach einem Vortrag erstellt, der gehalten wurde anlässlich der<br />
„9.Jahrestagung der Akademie für Se xualmedizin, Sexuelle Gesundheit und<br />
Lebensqualität“, 9.-11. Mai 2002, Leu ven, Belgien<br />
Zusammenfassung<br />
Die Menopause ist eine Lebensphase der Frau, die häufig<br />
ausschließlich unter dem Defizitaspekt betrachtet wird,<br />
wel cher sich auf die hormonelle Aktivität und den Verlust<br />
der generativen Funktion bezieht. Dies wird schon in dem<br />
Begriff Klimakterium deutlich, welches einen beginnenden<br />
Rückgang nach einem Gipfel – „Klimax“ – bezeichnet.<br />
Das Thema wird begrenzt auf die Veränderung des<br />
sexuellen Erlebens und Verhaltens der Frau in der Me -<br />
nopause. Dabei sollte bewusst bleiben, dass dies nur eine<br />
Seite des Älterwerdens der Frau beschreibt. Die weiteren<br />
Facetten für das, was wir unter seelischer Reifung, Le -<br />
bens erfahrung, Persönlichkeitsprägung, Vorbildfunktion<br />
und Fürsorge verstehen, kann durchaus mit einer seelisch<br />
geistigen Differenzierung und Produktivität einhergehen.<br />
Die Sexualität in der Menopause wird wesentlich be -<br />
ein flusst durch die psychosoziale Situation, den Ausbil -<br />
dungs stand und das Berufsleben sowie Alltagsstressoren.<br />
Wesentlich ist die eigene negative Wertung der Meno -<br />
pause, Erfahrung von körperlicher oder seelischer Krank -<br />
heit sowie das Sexualleben in der Vergangenheit. Die<br />
wich tigste Bedeutung kommt der Beziehung zum Se xu -<br />
alpartner zu. Dabei sind die Dauer der Beziehung und die<br />
Ge fühle für den Partner mitbestimmend. Der Einfluss der<br />
Menopause zeigt sich ausschließlich auf die sexuelle Re -<br />
agibilität, während erst die Veränderung in der Postme -<br />
nopause zu einer Abnahme der Libido und der Häufigkeit<br />
der sexuellen Aktivität führt bei gleichzeitig starker Zu nah -<br />
me der Dyspareunie. Unter psycho-somatischen Aspek -<br />
ten ist das Klimakterium als Schwellensituation zu sehen<br />
in der das Thema Trennung erneut aktualisiert wird, und<br />
zwar Abschied von der Fruchtbarkeit und der Potenz des<br />
Gebärens und den biologisch determinierten Wahlmöglichkeiten.<br />
Im psychologischen Erleben ist dies verbunden<br />
mit einer Verunsicherung. Es wird das bisherige Selbst -<br />
verständnis in Frage gestellt, was zu einer Reifungskrise<br />
füh ren kann bis hin zur Erschütterung der körperlichen,<br />
psychischen und sozialen Integrität. Die Chance dieser<br />
Krise ist, dass sie zu Aufbruch und Neubeginn führen<br />
kann, das heißt zu einer Umorganisation der Identität und<br />
zu einer neuen Sinnhaftigkeit auf einem reiferen Niveau.<br />
Schlüsselwörter: Menopause, Sexualität, Partnerbezie -<br />
hung, Reifungschance<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 160 – 169 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Sexualität und Menopause 161<br />
Einleitung<br />
Die Menopause ist eine Lebensphase der Frau, die<br />
häufig ausschließlich unter dem Defizitaspekt be -<br />
trachtet wird, welcher sich auf die hormonelle<br />
Aktivität und den Verlust der generativen Funktionen<br />
bezieht. Dies wird schon in dem Begriff Klimakterium<br />
deutlich, welches einen beginnenden Rückgang nach<br />
einem Gipfel, „Klimax“ bezeichnet. In der <strong>Literatur</strong><br />
der 80-er und 90-er Jahre wird die Menopause in Ver -<br />
bindung gebracht mit dem Verfall des Körpers bis hin<br />
zu dem Tode Näherrücken (Cromus 1993). Kon -<br />
strukti ver wird das, was eine Frau während des Kli -<br />
makteriums erlebt mit dem Begriff Veränderung in<br />
Ver bindung gebracht (Raguse-Stauffer 1995). Im Er -<br />
leben der Frau wird dabei der unwiederbringliche Ver -<br />
lust der Gebärfähigkeit verknüpft mit vielem anderen,<br />
das als endgültig verloren erlebt wird und benannt<br />
wer den exemplarisch Attraktivität und sexuelle Er -<br />
lebnisfähigkeit. Solche Zuschreibungen lassen die<br />
progressiven Aspekte des Klimakteriums als Entwick -<br />
lungsphase außer Acht. So zum Beispiel die äußeren<br />
Veränderungsmöglichkeiten, die sich in dieser Le -<br />
bensphase anbieten wie das Wiederaufnehmen oder<br />
Intensivieren einer Berufstätigkeit oder auch eine Be -<br />
rufsausbildung, die eine neue konstruktive Aktivität<br />
darstellen kann. Sies (1992) sagt dazu, dass wir der<br />
Be trachtung dieser Lebensphase nicht gerecht werden<br />
solange wir von dem Ideal des Unbeschädigtseins als<br />
ab solutem Wert ausgehen, an dem alle anderen Zu -<br />
stände gemessen werden. Nach ihrer Meinung sollte<br />
anstelle des Ideals der Vollkommenheit der Wunsch<br />
nach Vollständigkeit treten. Damit müssen die Diffe -<br />
renzen zwischen beschädigt und heil nicht ausgeglichen<br />
werden, sondern dienen als Spannungspotenzial<br />
für eine weitere Entwicklung. Demnach könnte die<br />
Frage für eine Frau, die sich in dieser Lebensphase mit<br />
dem Älterwerden auseinandersetzen muss eher lauten,<br />
wie kann ich mich identisch mit mir selber fühlen<br />
obwohl ich mich öfters weder „Herr im eigenen<br />
Körper“ noch „von anderen anerkannt“ fühle? (Schle -<br />
singer-Kipp 1995) Es finden sich zahlreiche Künst le -<br />
rinnen und Wissenschaftlerinnen, welche erst im hö -<br />
heren Alter mit ihren produktiven Leistungen Auf -<br />
merksamkeit gefunden haben. So besteht kein Zwei -<br />
fel, dass diese Phase der Veränderung nicht gleichzusetzen<br />
ist mit einer Verminderung der Lebensqualität,<br />
sondern sofern es um die geistige und künstlerische<br />
Produktivität geht möglicherweise erst dann ein<br />
Freiraum geschaffen wird, welcher die Leistungs fä -<br />
hig keit voll ermöglicht.<br />
Mein Thema begrenzt mich auf die Veränderungen<br />
des sexuellen Erlebens und Verhaltens der Frau wäh -<br />
rend und nach der Menopause und es sollte bewusst<br />
sein, dass dies nur die eine Seite des Älterwerdens der<br />
Frau beschreibt. Die andere Seite ist das, was wir un -<br />
ter seelischer Reifung, Lebenserfahrung, Persön -<br />
lichkeitsprägung, Vorbildfunktion und Fürsorge verstehen<br />
und was, wie erwähnt, durchaus mit einer zu -<br />
nehmenden seelisch-geistigen Differenzierung und<br />
Pro duktivität einhergehen kann.<br />
Sexualität im höheren<br />
Lebensalter<br />
Die medizinisch-therapeutische <strong>Literatur</strong> richtet häufig<br />
den Blick auf sexuelle Probleme älterer Menschen<br />
und es ist uns sehr vertraut, in diesen Kategorien, das<br />
heißt den Problem-bezogenen, zu denken und zu be -<br />
werten. Darum möchte ich zunächst anhand von zwei<br />
Zitaten den Blick richten auf das, was Sexualität ist<br />
und sein kann, das heißt den lustvollen Aspekt.<br />
„Sexualität ist das, was wir daraus machen: eine<br />
teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Ab -<br />
wehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, eine<br />
Waffe der Aggression (Herrschaft, Macht, Strafe, Un -<br />
ter werfung), ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein<br />
idea ler Zustand, das Böse, das Gute, Lust oder Ent -<br />
spannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbst -<br />
achtung, ein Ausdruck der Zuneigung, eine Art der<br />
Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Ver -<br />
gnügen, Vereinigung mit dem All, mystische Extase,<br />
indirekter Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg<br />
zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Art<br />
menschliches Neuland zu erkunden, eine Technik,<br />
eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer<br />
Krank heit oder Gesundheit oder einfach eine sinnliche<br />
Erfahrung.“ (Müller-Luckmann 2000)<br />
Aus distanzierterem und sachlicherem Blick win -<br />
kel von Springer-Kremser (2002) heißt es „Sexua lität<br />
bezeichne nicht allein die Aktivitäten und Lust, die<br />
vom Funktionieren des Genitalapparates abhängen,<br />
son dern eine ganze Reihe von Erregungen und Ak -<br />
tivitäten, die bereits in der Kindheit bestehen und eine<br />
Lust verschaffen, die aus der Befriedigung des Be -<br />
dürfnisses nach Nähe, Intimität, Zärtlichkeit resultiert,<br />
also nicht auf die Stillung eines physiologischen Be -<br />
dürfnisses (Atmung, Hunger, Ausscheidungs funk tion)<br />
reduzierbar ist. Sie finden sich als Komponenten in<br />
der sogenannten normalen Form der sexuellen Lie be.“<br />
In Interviews zur Sexualität älterer Frauen wird<br />
zum einen deutlich, dass Sexualität kein generelles Ta -<br />
buthema ist, dennoch selten spontan darüber gesprochen<br />
wird und oft Umschreibungen benutzt werden.<br />
Bei vielen Frauen wird bei direktem Nachfragen deutlich,<br />
dass Hemmungen und Unsicherheiten bei kon -<br />
kre ten Benennungen bestehen. Von vielen Frauen wird
162 M. Neises<br />
ein Nachlassen des sexuellen Interesses beschrieben.<br />
Dies wird jedoch nicht in den Zusammenhang mit<br />
Wech seljahren oder Alter gebracht sondern eher auf<br />
länger bestehende sexuelle Schwierigkeiten in der<br />
Part nerschaft bezogen. So führen Frustrationen gegen -<br />
über dem Ehemann, mit dem Zärtlichkeit und sexuelle<br />
Befriedigung nicht erlebt werden konnte dazu, dass<br />
Sexu a lität vermieden wird oder Geschlechtsverkehr<br />
wird als eine Pflichtübung dargestellt und das Alter<br />
oder gynäkologische Diagnosen wie zum Beispiel Hor -<br />
mon man gel oder eine Reizblase werden benutzt, diese<br />
Pflicht übung nun endlich einzustellen. Die sexuellen<br />
Pro bleme in einer Ehe treten oft erst offen zutage<br />
wenn die Kinder aus dem Haus sind und das Paar wieder<br />
ver sucht, die Beziehung miteinander auszubauen.<br />
Gelegentlich ist es in dieser Lebenssituation erst nach<br />
der Paartrennung aus der Ehe möglich, Sexualität als<br />
etwas eigenes zu erleben und als spielerisches Aus pro -<br />
bieren eigener Wünsche und nicht mehr die anerzogene<br />
völlige Ausrichtung auf den Mann. Diese größere<br />
Klarheit hinsichtlich der eigenen Wünsche führt bei<br />
Frauen zu oft stärker gelebter Zärtlichkeit und Gebor -<br />
genheitswünschen (Neises 2001).<br />
Betrachtet man die Prävalenz von sexuellen Dys -<br />
funktionen bei Frauen, so wird diese von Ärzten, die<br />
regelmäßig Fragen nach der sexuellen Funktion in ihre<br />
Anamnese einbeziehen mit 50% angegeben. Wo bei<br />
sexuelle Dysfunktion definiert ist als Störung in einer<br />
oder mehreren Phasen des sexuellen Reaktions zyklus’<br />
oder durch Schmerzen beim Geschlechts ver kehr. Be -<br />
trachtet man speziell gynäkologische Patien tinnen, so<br />
sind es 38%, die Schwierigkeiten im Bereich der Se -<br />
xu alität angeben. Dies sind überwiegend Hemmun -<br />
gen, Ängste, 15% davon be schrei ben Probleme beim<br />
Or gasmus und 16% mangelnde Freude am Ge -<br />
schlechts verkehr. Zwei Drittel dieser Frauen betonen<br />
gleichzeitig ihre globale Zufriedenheit in der sexuellen<br />
Beziehung (Vermillion & Holmes 1997). Die Be -<br />
fragung von 100 verheirateten Paaren außerhalb der<br />
medizinischen Sprechstunde zeigte, dass 63% der<br />
Frauen und 40% der Männer Erfahrungen mit sexuellen<br />
Dysfunktionen angaben (Ebd. 1997). Dies steht in<br />
Kontrast zur <strong>Literatur</strong> über sexuelle Probleme älterer<br />
Menschen, die zu drei Viertel Erektionsprobleme von<br />
Männern zum Thema hat und bei Frauen am häufigsten<br />
die Dyspareunie. Betrachtet man die Faktoren,<br />
die Einfluss auf die sexuelle Reaktion und damit auf<br />
sexuelle Dysfunktionen bei Frauen haben, lassen sich<br />
neben Alter, Menopause und Hormonersatztherapie<br />
(HRT), die Gegenstand dieser Übersicht sind und un -<br />
ter Ausklammerung der besonderen Situation von<br />
Schwan gerschaft, Wochenbett und Stillperiode noch<br />
die folgenden Faktoren auflisten (Heiman & Meston<br />
1997, Vermillion & Holmes 1997):<br />
! Operationen<br />
! Medikamente<br />
! Alkohol<br />
! Drogen und andere Substanzen<br />
! sexuelle Traumatisierung<br />
! chronische Erkrankungen<br />
! körperliche Behinderung<br />
! psychologische Faktoren<br />
! interaktionale Faktoren<br />
Tatsächlich besteht bei älteren Frauen eine sehr geringe<br />
Nachfrage nach der Behandlung von sexuellen Stö -<br />
rungen im Gegensatz zu älteren Männern, die wegen<br />
Erektionsproblemen häufig Ärzte und Beratungs ein -<br />
richtungen aufsuchen (von Sydow 2001).<br />
60% der über 50-jährigen Frauen erleben ihre<br />
Lubrikation aus ausreichend, 40% finden sie unzureichend.<br />
60% der Männer und 58% der Frauen über 60<br />
Jahre kennen männliche Erektionsprobleme aus eigener<br />
Erfahrung. Mit 55 Jahren erleben sich etwa 10%<br />
aller Männer als völlig impotent, mit 70Jahren etwa<br />
15% und sehr viel mehr leiden unter „minimaler oder<br />
moderater Impotenz“. Es handelt sich hier zum Teil<br />
um einen normalen Alterungsprozess, wobei auch Er -<br />
kran kungen und Medikamente einen negativen Effekt<br />
ha ben können, und emotional-sexuelles Vermeidungs -<br />
ver halten, das oft von Männern und Frauen praktiziert<br />
wird. Ältere Frauen wie auch Männer führen die Be -<br />
en digung der koitalen Aktivität meist auf ein Ein -<br />
schlafen der männlichen sexuellen Initiative zurück<br />
wegen Krankheit oder Abnahme der Potenz. Sexuelle<br />
Probleme des Mannes führen bei Paaren wesentlich<br />
häu figer zur Beendigung des Geschlechtsverkehrs<br />
(14-40%) als sexuelle Probleme der Frau (4-6%).<br />
Häu fig steht die koitale Aktivität des Paares in einem<br />
engen Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand<br />
des Mannes, nicht aber mit dem der Frau (von Sydow<br />
2000).<br />
Ein besonderer Aspekt ergibt sich aus der Verän -<br />
derung der Sexualität durch chronische Erkrankungen<br />
wie zum Beispiel das Mammakarzinom. Eine Be -<br />
fragung von 220 Patientinnen mit Mammakarzinom<br />
zu Fragen der Krankheitsbewältigung und Lebens qua -<br />
lität einschließlich Sexualität mittels strukturiertem<br />
In terview und Selbsterhebungsfragebögen ergab bei<br />
80% der Frauen, die in einer Partnerschaft lebten, und<br />
etwa 70%, die die Bereitschaft hatten sich zum Thema<br />
Sexualität mitzuteilen, dass bis zu fünf Jahre postoperativ<br />
von rund 40% der Frauen leichte bis schwere<br />
Ein schränkungen in der Sexualität angegeben wurden.<br />
Diese Veränderungen konnten mit der Frage nach der<br />
Libido nicht erfasst werden. Diese wurde meist als<br />
kons tant oder gering beeinträchtigt angegeben. 41%<br />
der Frauen litten zu unterschiedlichen Zeitpunkten an
Sexualität und Menopause 163<br />
Dyspareunie, 45% der Frauen beschrieben eine Ab -<br />
nah me des Wunsches nach Sexualität beim Partner,<br />
gleichzeitig gaben 67% der Frauen an, dass die Ver -<br />
änderung der Sexualität nicht zu Partnerproblemen<br />
führt. 41% gaben den Wunsch an, über Sexualität<br />
spre chen zu können und 80% hatten den Wunsch nach<br />
mehr Information zu möglichen Auswirkungen der Er -<br />
krankung und Behandlung auf die Sexualität (Neises<br />
1998, Neises 1994).<br />
Psychosomatische Aspekte der<br />
Menopause<br />
Die Betrachtung der epidemiologischen Aspekte des<br />
Kli makteriums bezogen auf Zahlen in Deutschland<br />
an hand des Statistischen Jahrbuches 1996 und der<br />
Daten des Bundesministeriums für Gesundheit 1995<br />
(zit. in Ditz 2000) beträgt die mittlere Lebenser war -<br />
tung für Frauen heute 79,3 Jahre, das mittlere Me -<br />
nopausenalter liegt bei 52,2 Jahren, das heißt die postmenopausale<br />
Lebensphase umfasst 25 bis 30 Jahre bei<br />
10 Millionen 50- bis 70-jährigen Frauen. Allein die<br />
Häufigkeiten, wie sie in den Zahlen ausgedrückt sind<br />
unterstreichen, wie wichtig der Fokus der Betrachtung<br />
ist. Die Zusammenstellung der klimakterischen Be -<br />
schwer den von Hauser et al. (1994) in einer <strong>Literatur</strong> -<br />
übersicht zeigt neben dem häufigsten Symptom Hit -<br />
zewallungen (in fast 73%) das Thema Sexualität erst<br />
auf Rang 12, Libidoabnahme (31%) und Rang 17,<br />
Dyspareunie (7,6%) (Tabelle1). Die übrigen Symp -<br />
tome wie zum Beispiel Nervosität, Reizbarkeit,<br />
Schwin del und Müdigkeit, um nur einige zu nennen,<br />
charakterisieren einen psychosomatischen Symptom -<br />
komplex weshalb es wichtig ist, die Lebensphase un -<br />
ter psychologischen und psychodynamischen As pek -<br />
ten zu betrachten.<br />
Im Klimakterium kommt das Thema der Trennung<br />
wieder auf, wie es im weiblichen Lebenszyklus häufiger<br />
wiederkehrt, so in der Adoleszenz, in der es die<br />
Trennung vom kindlichen Körperschema und von Au -<br />
tonomievorstellungen ist. In der Schwangerschaft ist<br />
es die Trennung vom vertrauten Körperschema und<br />
eben so von Autonomievorstellungen. In der Geburt<br />
und im Wochenbett ist es die Durchtrennung der Na -<br />
be lschnur und erneut die Änderung des Körper sche -<br />
mas. Und schließlich in der Menopause der Ab schied<br />
von der Potenz, der Fruchtbarkeit und den biologisch<br />
determinierten Wahlmöglichkeiten (Springer-Kremser<br />
2002). Im psychologischen Erleben ist dies ver bunden<br />
mit einer Verunsicherung. Es wird das bisherige<br />
Selbst verständnis in Frage gestellt, was ähnlich wie in<br />
der Adoleszenz zu einer Reifungskrise führen kann,<br />
das heißt zur Erschütterung der körperlichen, psy chi -<br />
schen und sozialen Integrität. Die Chance dieser Krise<br />
ist, dass es zum Aufbruch und zum Neubeginn führen<br />
kann, das heißt zu einer Umorganisation der Identität<br />
und zu einer neuen Sinnhaftigkeit auf einem reiferen<br />
Niveau.<br />
Von den hormonellen Umstellungen, die sich im<br />
Körper der Frau vollziehen, wird äußerlich das Auf -<br />
hören der Menstruation wahrgenommen, was auch das<br />
Ende der Gebärfähigkeit bedeutet. Die bewussten und<br />
unbewussten Vorstellungen, die diese Vorgänge auslösen,<br />
sind ausschlaggebend für die Bedeutung, die die<br />
einzelne Frau ihnen gibt. Die Art und Weise wie das<br />
Aufhören von Menstruation und Gebärfähigkeit interpretiert<br />
werden kann zu einer veränderten Wahr neh -<br />
mung ihrer selbst führen und auch zu der Erwartung<br />
oder Befürchtung, von anderen als verändert wahrgenommen<br />
zu werden. Unter diesem Einfluss werden<br />
auch weitere Veränderungen, die in diese Lebensphase<br />
häufig fallen, wahrgenommen, dazu gehören Verän de -<br />
rungen in der Beziehung zum Partner, zu den erwachsen<br />
werdenden und sich loslösenden Kindern und zu<br />
den alten von Krankheit und Tod bedrohten Eltern<br />
(Ra guse-Stauffer 1995). Ob in dieser Zeit aktiv Um -<br />
stel lung herbeigewünscht und verwirklicht werden<br />
kann hängt davon ab, wie die körperlichen Verän -<br />
derungen verstanden und verarbeitet werden. Insofern<br />
ist das Klimakterium als Schwellensituation zu verstehen,<br />
die unbewältigte neurotische Selbstwert-, Bezie -<br />
hungs- und Triebkonflikte erneut aktualisiert. Unter<br />
die ser Belastung können bisher adaptive Abwehr -<br />
formen in Abhängigkeit von der Persönlichkeit und<br />
Tab. 1: <strong>Literatur</strong>übersicht zu klimakterischen Beschwerden (nach Hauser et al.<br />
1994)
164 M. Neises<br />
von traumatisierenden Früherfahrungen dekompensieren<br />
und zu den beschriebenen psychosomatischen<br />
Erkrankungen führen. Auf die Tatsache, dass etwas<br />
unwiederbringlich zuende geht reagieren Menschen<br />
sehr unterschiedlich. Dies kann Trauer sein, die einen<br />
längeren Ablösungsprozess begleitet, oder aber auch<br />
Wut, die unter Umständen Angst und Schuldgefühle<br />
auslöst und in ein depressives Erleben mündet.<br />
Verleugnung und Flucht sind eine weitere Alternative.<br />
Ein Konzept des Verlustes als Modell zur Entstehung<br />
klimakterischer Beschwerden hat Ditz (2000) entwik -<br />
kelt (Abbildung1). Für die psychosomatische Arbeit<br />
mit Frauen in dieser Lebensphase heißt es, die folgenden<br />
Schlüsselbereiche zu bearbeiten, dazu gehören<br />
! die Einstellung zur körperlichen Alterung,<br />
! die Bedeutung des Verlustes der Fertilität,<br />
! die Abnahme der Leistungsfähigkeit und kompetitiven<br />
Möglichkeiten,<br />
! die Veränderung der familiären Beziehungen,<br />
! die Veränderung der Sexualität,<br />
! die Auslösesituation der klimakterischen Be -<br />
schwer den.<br />
Diese Auflistung macht deutlich, dass die Verän de -<br />
rung der Sexualität nur eine Facette im Erleben dieses<br />
Lebensabschnittes ist.<br />
Abb. 1: Das Konzept des Verlusts als Modell zur Entstehung klimakterischer Beschwerden (nach Ditz 2000)<br />
Hormonersatztherapie (HRT) und<br />
Sexualität<br />
Ältere Frauen gelten im medizinischen Diskurs viel -<br />
fach als erotisch beeinträchtigt durch die hormonelle<br />
Umstellung der Wechseljahre und häufig wird ih nen<br />
alleine deshalb eine Rettung durch Hormon ga ben<br />
empfohlen (von Sydow & Reimer 1995). Nach der<br />
Untersuchung von Schultz-Zehden (1998a) sind die<br />
Frauen, die HRT erhalten stärker belastet durch kli -<br />
makterische Beschwerden insgesamt und zeigen dabei<br />
deutlich mehr Nervosität, Erregbarkeit, aber auch ein<br />
stärkeres Verlusterleben und ein stärkeres Bedro -<br />
hungs er leben. Dieses Ergebnis wirft einige Fragen<br />
auf, so zum Beispiel ob vielleicht Ärzte/Ärztinnen<br />
eher belastetere und psychisch klagsamere Frauen für<br />
eine HRT auswählen, ob vielleicht belastete Frauen<br />
eher eine HRT fordern und ob sich vielleicht die Grup -<br />
pe mit HRT in ihrer Selbstwahrnehmung von der<br />
Grup pe ohne HRT unterscheidet. Fragt man nach der<br />
Kausalattribuierung von klimakterischen Beschwer -<br />
den, so schreiben 86% der Frauen ihre Beschwerden<br />
aus schließlich oder mindestens teilweise der Hormon -<br />
umstellung zu. Wesentlich für die Entscheidung für<br />
eine HRT ist für Frauen auch die Einstellung zum<br />
Alter (Schultz-Zehden 1998b). Man kann davon ausgehen,<br />
dass über ein Drittel (36%) aller Frauen Altern<br />
akzeptiert, sich dabei ein positives Körpergefühl be -<br />
wahrt und gesundheitsbewusstes Verhalten hinsicht-
Sexualität und Menopause 165<br />
lich Ernährung, sportlicher Aktivitäten und zum<br />
Beispiel Nichtrauchen praktiziert. Etwa ein weiteres<br />
Drittel (32%) der Frauen nehmen Distanz zum Alter<br />
ein, das heißt diese Gruppe lebt weder gesundheitsbewusst<br />
noch fürchtet sie gesundheitliche Risiken, was<br />
ein hohes Maß an Verleugnung voraussetzt. Die restlichen<br />
32% verteilen sich auf Frauen, die eine große<br />
Angst vor körperlichem Altern und vor Krankheit<br />
haben. Diese fühlen sich durch ihre abnehmende Leis -<br />
tungs fähigkeit besonders belastet und nehmen auch in<br />
be sonders hohem Maß Medikamente ein. Bei einer<br />
Un tergruppe (8%) steigert sich diese Belastung so<br />
weit, dass Alter als Bedrohung erlebt wird. Diese<br />
Grup pe gehört auch zum größten Teil zu den Hormon -<br />
an wen derinnen mit der Vorstellung, dass die Hor mon -<br />
an wen dung zu einer Verlangsamung des Alterungs -<br />
pro zesses führt. Neben dem Gesundheitsverhalten allgemein<br />
sind es die Einstellung zur Menopause, der<br />
Kultur kreis, das Bildungsniveau und der sozioökonomische<br />
Status, die die Ausprägung von Symptomen<br />
im Kli makterium voraussagen lassen, ebenso die<br />
Erwerbs tätigkeit und die familiäre Orientierung. So<br />
lässt sich ge nerell sagen, dass Frauen mit einem traditionell<br />
weiblichen Rollenverhalten unter den Wech -<br />
seljahrs beschwerden stärker leiden als selbstbewusste<br />
Frauen mit eher männlich-instrumentellen Eigen -<br />
schaf ten, das heißt Frauen, deren Selbstbewusstsein<br />
mehr von eigenen Tätigkeiten und eigenen Problem -<br />
lösungen geprägt ist und die damit weniger abhängig<br />
sind von Zuwen dungen durch den Partner und durch<br />
die Kinder. Da mit lässt Berufstätigkeit sich quasi als<br />
Schutzfaktor for mulieren während die Gruppe der<br />
Hausfrauen sich durch klimakterische Symptome am<br />
stärksten belastet fühlt.<br />
Die HRT-Nutzung in Deutschland der letzten 20<br />
Jahre hat in den 80-er Jahren zu einer Steigerung der<br />
so genannten Jemals-Nutzerin von fünf auf 20% ge -<br />
führt und in den 90-er Jahren von 20 auf 40%, wobei<br />
die aktuellen Nutzerinnen seit Anfang der 90-er Jahre<br />
mit etwa 28% angegeben werden (Heinemann et al.<br />
2002). Der Einfluss der HRT auf die Lebensqualität ist<br />
vielfach untersucht, dahingegen sehr viel weniger der<br />
Einfluss auf die Sexualität. Für wenige Substanzen<br />
lie gen – wie zum Beispiel für Tibolon-Untersuchun -<br />
gen in einem Doppelblindvergleich zu E2/NETA<br />
(17"-Östradiol / Norethisteronacetat) vor. Dabei wur -<br />
de die Häufigkeit, der Genuss und die Befrie digung<br />
untersucht. Diese Bereiche sowie das Gesamtergebnis<br />
zeigten einen signifikanten Gruppenunterschied (Nat -<br />
horst-Boos & Hammar 1997). In weiteren Untersu -<br />
chungen zur sexuellen Funktion und zum sexuellen<br />
Er leben wurde dies durch eine HRT kaum beeinflusst,<br />
war jedoch wesentlich davon abhängig, inwieweit<br />
eine Frau spontan die Menopause erlebte oder nach<br />
Hys terektomie und Ovarektomie (Nathorst-Boos et al.<br />
1993) (Abbildung 2). Dennerstein fand in einer Unter -<br />
suchung bei Frauen nach Hysterektomie und Ovarek -<br />
to mie positive Auswirkungen einer alleinigen Östrogentherapie<br />
auf sexuelles Begehren und Erleben<br />
(1980). Sie interpretierte diese Wirkung als Folge des<br />
insgesamt verbesserten Allgemeinzustandes nach Lin -<br />
derung der klimakterischen Beschwerden. Ein signifikanter<br />
Unterschied zwischen den beiden Gruppen<br />
zeigt sich für die Bereiche wie sie mit einer abgeänderten<br />
Version des McCoy’s Sex Scale Questionnaire<br />
erhoben wurden. Beckermann (2001) kommt in ihrer<br />
Übersichtsarbeit zum Einfluss der Östrogen-Gesta -<br />
gen-Hormontherapie zu dem Ergebnis, dass bei Frau -<br />
en, die nicht durch Operation (Hysterektomie und<br />
Ovar ektomie) ins Klimakterium kamen, Östrogene<br />
kei ne effektive Behandlungsmöglichkeit von sexuellen<br />
Problemen darstellen und dass generell hormonelle<br />
Faktoren sowohl für die Sexualität von Frauen als<br />
auch von Männern eine untergeordnete Rolle gegenüber<br />
erlernten soziokulturellen, kommunikativen und<br />
affektiven Faktoren spielen. Über die Bedeutung von<br />
physiologischen Androgenspiegeln, Prolaktin, Oxy to -<br />
cin, IGF-Werten (insulin-like growth factor) oder an -<br />
deren biochemischen Faktoren für die Sexualität von<br />
Frauen liegen derzeit noch keine gesicherten Er kennt -<br />
nisse vor. Interessanterweise kommt eine Studie, die<br />
in Bulgarien durchgeführt wurde und in der menstruierende<br />
Frauen verglichen wurden mit postmenopausalen<br />
Frauen mit und ohne HRT, von denen etwa 17%<br />
operativ in die Menopause versetzt wurden, zu einer<br />
sehr positiven Bewertung bezüglich des Ein flusses der<br />
HRT auf verschiedene Aspekte des sexuellen Erle -<br />
bens. Alle Bereiche des Sexuallebens waren signifikant<br />
niedriger bei den postmenopausalen Frau en in<br />
Abb. 2: Tibolon und seine Wirkung auf verschiedene Parameter der Sexualität im<br />
doppelblinden Vergleich zu E2/NETA bei 437 postmenopausalen Frauen nach 48<br />
Wochen (nach Nathorst-Boos et al. 1993)
166 M. Neises<br />
der Gruppe ohne HRT, sowohl im Vergleich zu den<br />
Frau en die noch menstruierten als auch im Ver gleich<br />
zu den Frauen unter HRT. Die signifikanten Un ter -<br />
schiede beziehen sich sowohl auf erotische Ge danken<br />
als auch das Lust- und Orgasmuserleben und die Erre -<br />
gungsfähigkeit sowohl durch den Partner wie auch<br />
durch erotische Stimuli (Tabelle 2). In der Unter su -<br />
chung bleibt der Zugang zu dieser Studie als auch die<br />
Tab. 2: Eine Untersuchung zum psychologischen Befinden und zur Sexualität von<br />
bulgarischen Frauen – signifikanter Einfluss einer Hormonersatztherapie (nach Boris -<br />
sova et al. 2001)<br />
Indikation zu einer HRT offen. Man kann darüber spekulieren<br />
inwieweit der Luxus der Verfügbarkeit einen<br />
Einfluss auf das Ergebnis hat.<br />
Veränderung der Sexualtät in der<br />
Menopause<br />
Die wesentliche Frage zum Thema Sexualität und<br />
Menopause stellt Lorraine Dennerstein in einer Unter -<br />
suchung von 2001 mit der Frage, sind die Ver än -<br />
derungen in der sexuellen Funktion während des mittleren<br />
Lebensabschnitts dem Alter oder der Menopause<br />
zuzuschreiben. Sie führt zunächst vielfältige Variablen<br />
auf, die die weibliche Sexualität in der Menopause<br />
beeinflussen:<br />
! Psychosoziale Situation<br />
! Beziehung zum Sexualpartner<br />
! Dauer der Beziehung<br />
! Gefühle für den Partner<br />
! Sexualleben in der Vergangenheit<br />
! Ausbildungsstand<br />
! Stressoren<br />
! Berufsleben<br />
! Persönlichkeitseigenschaften<br />
! Negative Wertung der Menopause<br />
! Erfahrung von körperlicher oder seelischer<br />
Krankheit<br />
Abb. 3: Einfluss von Variablen auf die weibliche Sexualität in der Menopause (nach Dennerstein 2001)
Sexualität und Menopause 167<br />
Diese Variablen werden in einem Fließdiagramm (Ab -<br />
bildung 3) dargestellt. Die Abbildung zeigt, dass der<br />
Hormonspiegel einen herausragender Einfluss auf die<br />
mangelhafte Lubrikation und damit auf das Symptom<br />
der Dyspareunie hat, aber auch weitere Meno pau sen -<br />
symptome beeinflusst, deren Summe sich auf das<br />
Wohl befinden und in der Folge auf die sexuelle Rea -<br />
gibilität auswirkt und damit Einfluss auf die Libido<br />
und die Häufigkeit der sexuellen Aktivität hat. Der<br />
Ein fluss der Menopause zeigte sich ausschließlich auf<br />
die sexuelle Reagibilität während signifikante Ver än -<br />
de rungen in der Postmenopause sowohl auf die Ab -<br />
nahme der Libido als auch auf die Abnahme der Häu -<br />
figkeit der sexuellen Aktivität Einfluss hatten bei<br />
gleich zeitig starker Zunahme der Dyspareunie. Dane -<br />
ben fand sich ein starker Effekt der Gefühle für den<br />
Part ner auf die Libido, die während des Untersu -<br />
chungs zeitraums bezogen auf den Menopausenzeit -<br />
raum fielen und gleichzeitig nahmen Potenzprobleme<br />
des Partners zu. Dennerstein kommt zu der zusam -<br />
men fassenden Bewertung, dass die sexuelle Reagi -<br />
bilität signifikant abnimmt über die Zeit, das heißt we -<br />
sentlich im menopausalen Übergang. Andere Parame -<br />
ter der weiblichen Sexualität, insbesondere die Libido,<br />
die Häufigkeit der sexuellen Aktivität und die Dys -<br />
pareunie, werden sehr viel prononcierter in der Post -<br />
menopause beeinflusst. Aspekte der Partnerbeziehung<br />
werden in der Menopause ebenso beeinflusst und es<br />
sind sowohl die biologischen als auch die psychosozialen<br />
Faktoren, die die weibliche Sexualität in dieser<br />
mittleren Lebensphase beeinflussen. Dabei kommt<br />
ins besondere den Beziehungsaspekten in der Partner -<br />
schaft eine herausragende Bedeutung zu.<br />
Interessant ist auch der Vergleich der menopausalen<br />
Frauen mit jüngeren Frauen (Tabelle 3). Dabei ist<br />
wie erwähnt die unzureichende Lubrikation ein häufiges<br />
Problem in der fünften Dekade im Vergleich zur<br />
etwa zweiten Lebensdekade, andererseits sind<br />
Schmer zen beim Ge schlechtsverkehr sowie das Erle -<br />
ben der Sexualität als nicht lustvoll und auch die<br />
Angst hinsichtlich der se xuellen Performance deutlich<br />
geringer während mangelhaftes sexuelles Interesse<br />
und Orgasmusstörungen etwa gleich häufig sind. Ver -<br />
gleicht man Singles und Verheiratete, beklagen Sing -<br />
les an erster Stelle den Mangel an Zärtlichkeit und erst<br />
danach den Mangel an sexuellen Kontakten.<br />
Zusammenfassen lassen sich die Ergebnisse der<br />
Studien über den Einfluss der Menopause wie Tabelle<br />
4 zeigt. Es kommt zu einer Abnahme der koitalen Ak -<br />
tivität bei unveränderter Masturbationsaktivität. Die<br />
Befunde zum sexuellen Interesse sind widersprüchlich,<br />
sowohl unverändert als auch abnehmend. Etwas<br />
seltener werden erotische Phantasien und Träume. Bei<br />
sexuell aktiven Frauen bleiben sexueller Genuss,<br />
Erregbarkeit und orgasmische Kapazität voll erhalten.<br />
Die Zunahme der Lubrikationsschwäche wird als ge -<br />
ring bewertet mit der Angabe des Anstieges von „selten“<br />
hin zu „gelegentlich“ und erst zur Postmenopause<br />
hin wird das Problem bedeutsam. Nicht unterschätzt<br />
werden darf die Abnahme der Zufriedenheit mit dem<br />
Partner als Liebhaber während die Zufriedenheit mit<br />
dem Partner als Freund und Mensch erhalten bleibt.<br />
66% der Frauen erleben ihre subjektiv eingeschätzte<br />
Attraktivität unverändert und ca. 30% der Frauen ma -<br />
chen sich Sorgen wegen ihrer Attraktivität (von Sy -<br />
dow 2001).<br />
Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die<br />
Veränderung der sexuellen Aktivität abhängig ist vom<br />
Alter und von der Partnerschaft. Dabei spielt eine<br />
wesentliche Rolle, ob Frauen in einer Partnerschaft le -<br />
ben und zufrieden mit der Partnerschaft sind. Bei vorhandener<br />
sexueller Aktivität wird die sexuelle Zu -<br />
friedenheit wesentlich mitbestimmt durch die Zufrie -<br />
Tab. 3: Sexuelle Funktionsstörungen im Altersvergleich (von Sydow 2001)<br />
Tab. 4: Ergebnisse von Studien über den Einfluss der Menopause auf die<br />
Sexualität<br />
! Abnahme der koitalen Aktivität<br />
! Unveränderte Masturbationsaktivität<br />
! Widersprüchliche Befunde zum sexuellen Interesse (unverändert oder<br />
Abnahme?)<br />
! Etwas seltenere erotische Phantasien und Träume<br />
! Sexueller Genuss, Erregbarkeit und orgasmische Kapazität bleiben<br />
sexuell aktiven Frauen voll erhalten<br />
! Geringe Zunahme von Lubrikationsschwäche („selten“ bis „gelegentlich“)<br />
! Abnahme der Zufriedenheit mit dem Partner als Liebhaber<br />
! Zufriedenheit mit dem Partner als Mensch/Freund bleibt erhalten<br />
! 66 % der Frauen erleben ihre subjektiv eingeschätzte Attraktivität<br />
unverändert<br />
! ca. 30 % der Frauen machen sich Sorgen wegen ihrer Attraktivität
168 M. Neises<br />
denheit mit der eigenen Gesundheit, die wiederum re -<br />
le vant ist für die Zufriedenheit mit der Partnerschaft.<br />
Eine hohe Zufriedenheit sowohl mit ihrer Partner -<br />
schaft als auch mit ihrer Sexualität zeigen die Frauen,<br />
die die Fähigkeit haben, über ihre eigenen Bedürfnisse<br />
zu sprechen und dabei gleichzeitig auf die emotionalen<br />
Bedürfnisse anderer adäquat einzugehen (Klaiberg<br />
et al. 2001). Die Veränderung der sexuellen Rea gi bi -<br />
lität in der Menopause hat vielfältige Einflussfaktoren,<br />
die auch individuell geprägt sind. Dazu gehört die be -<br />
wusste Wahrnehmung von sexuellen Stimuli, ihre Ein -<br />
schätzung im Kontext der Situation und der emotionalen<br />
Antwort und schließlich die physiologisch-genitalen<br />
Veränderungen (Basson 2002).<br />
Konsequenzen für die psychosomatische<br />
Grundversorgung<br />
Die Erfahrung der Frau in der Menopause als Rei -<br />
fungskrise und Reifungschance verbunden mit Tren -<br />
nungs- und Verlusterfahrungen spiegelt sich in der<br />
Kom plexität der psychosomatischen Reaktions wei -<br />
sen. Für die klimakterische Frau sind Trennung und<br />
Abschied zentrale Themen. Dabei geht es um einen<br />
Abschied für immer. In diesem Thema liegt auch eine<br />
der wesentlichen Aufgaben der alternden Frau, die den<br />
Verlust eines Teils ihrer selbst als Geschlechtswesen<br />
akzeptieren muss mit der schrittweisen Korrektur ih -<br />
res Körperbildes und der Anpassung an das sich verändernde<br />
Körperbild. Der Verlust von öffentlicher At -<br />
trak tivität und Fruchtbarkeit ist eine starke narzisstische<br />
Kränkung, auf die Wut und Aggression wie auch<br />
Verunsicherung und Trauer angemessene Gefühle<br />
sind. Dabei sind für viele Frauen sowohl die intensive<br />
Trauer als auch Aggressivität und Wut für das bewusste<br />
Erleben nicht zu akzeptieren. Die häufigsten Ab -<br />
wehr mechanismen die einsetzen, um den Verlust nicht<br />
spüren zu müssen, sind Ungeschehenmachen und Ver -<br />
leug nung. Misslingt die notwendige Trauerarbeit,<br />
kann dies in eine depressive Reaktion führen. Weitere<br />
Formen der Anpassungsstörung können der Medika -<br />
menten- oder auch Alkoholabusus sein.<br />
Vielen Frauen gelingt die notwendige Trauerarbeit<br />
und die damit verbundene Notwendigkeit, Bilanz in<br />
ihrem bisherigen Leben zu ziehen und unter Umstän -<br />
den bisherige Beziehungen zu überdenken oder in Fra -<br />
ge zu stellen. Die Aufweichung bisheriger Abwehr -<br />
mechanismen birgt auch eine Chance zum Neubeginn<br />
und zur Bereicherung. Insbesondere wenn Ängste und<br />
Verluste nicht abgewehrt und verleugnet werden müssen,<br />
sondern angesehen und angegangen werden können,<br />
haben sie kein zerstörerisches sondern ein reifendes<br />
Potenzial. Das Abschiednehmen von wichtigen<br />
Selbst anteilen wie der Attraktivität und der Frucht -<br />
barkeit ist ein schmerzlicher Prozess, aber die Voraus -<br />
setzung für ein anderes befriedigendes Weiterleben im<br />
Alter. Je mehr Attraktivität und Fruchtbarkeit die aus -<br />
schließlichen Quellen des narzisstischen Gleichge -<br />
wichts waren, desto schwieriger wird der Abschied<br />
und desto größer die Bestrebungen, durch Festhalten<br />
und Verleugnen den Verlust zu umgehen (Fervers-<br />
Schor re 1999).<br />
Für die psychosomatische Grundversorgung heißt<br />
das, im Klimakterium zu einer ganzheitlichen Diagno -<br />
se im Sinne des biopsychosozialen Modells zu kommen,<br />
also die individuelle Situation zu erfassen. Dazu<br />
gehört, was das Älterwerden des Körpers und der Ver -<br />
lust der Fertilität für die jeweilige Frau bedeutet, der<br />
Umgang mit der Abnahme der Leistungsfähigkeit und<br />
der kompetitiven Möglichkeiten, welche Veränderun -<br />
gen in den familiären Beziehungen und in der Sexua -<br />
li tät von Bedeutung sind und schließlich die Aus -<br />
lösesituation der klimakterischen Beschwerden zu er -<br />
fas sen. Im nächsten Schritt geht es um die Hilfe stel -<br />
lung bei der Reifungskrise. Dazu gehört ein umfassen -<br />
des Informieren über die Veränderungen der körperlichen<br />
Funktionen, Information zu aktiven Bewälti -<br />
gungs schritten, wie zum Beispiel Selbsthilfegruppen,<br />
und offenes Ansprechen von Mythen und Tabus zum<br />
Al ter und zur Sexualität im Alter. Dieses Gespräch<br />
braucht als Basis eine tragfähige, vertrauensvolle Be -<br />
ziehung, in dem eine offene und patientinnenzentrierte<br />
Kommunikation möglich ist. Darüber hinaus sollte<br />
selbstverständlich eine somatisch notwendige Thera -<br />
pie abgeklärt werden. Dies umfasst das Informieren<br />
über die Möglichkeiten der HRT, insbesondere welche<br />
klimakterischen Beschwerden damit beeinflusst werden<br />
können, welche Nebenwirkungen zu erwarten und<br />
welche Risiken bekannt sind. Die Notwendigkeit des<br />
Einsatzes von Psychopharmaka sollte abgeklärt werden<br />
wie auch die Notwendigkeit einer Psychotherapie.<br />
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Adresse der Autorin<br />
Prof. Dr. Dr. med. Mechthild Neises, Medizinische Hochschule Hannover, Psychosomatische Frauenheilkunde, Pasteurallee 5, 30655 Hannover,<br />
mail: Neises.MHH@gmx.de
Orginalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in<br />
Deutschland. Analyse der HIV-Statistiken<br />
Reinhard Wille<br />
The first two Decades of the<br />
AIDS-Age in Germany. A Statisti -<br />
cal Analysis<br />
Abstract<br />
Following a brief historical summary, the politically desired<br />
limitations of compulsary disease notification as grounds<br />
for statistical evaluation are revealed. The six subgroups<br />
(Homo/Bisexuals, IVDU; Heterosexuals; inhabitants from<br />
high prevalence countries; pattern II; hämophiliacs/transfusion<br />
recipients and perinatally acquired HIV) exhibit<br />
extreme variations in their respective quantitative and prognostic<br />
trends. The ever increasing percentage of HIV<br />
positive heterosexuals (17%) and inhabitants from high<br />
prevalence countries (20%) are only seemingly disconcerting.<br />
However, they do tend to sustain the smouldering<br />
and effectively uncontrollable HIV epidemie. So far<br />
Germany has, nevertheless, fared relatively well compared<br />
to the apocalyptic disaster seen elsewhere, at this time<br />
particularly in Afrika and, likely, soon also in Asia.<br />
Keywords: AIDS-Age, HIV-AIDS-Statistics, 6 ways of in -<br />
fek tion, Extremely different trends<br />
Zusammenfassung<br />
Nach kurzem Abriss der Vorgeschichte werden die politisch<br />
gewollten Einschränkungen der „Labormeldepflicht“<br />
als Grundlage der statistischen Aussagemöglichkeiten<br />
aufgezeigt. Die sechs Untergruppen (Homo / Bi; IVDA;<br />
Hetero; HPL / Pattern II; Hämo / Trans und PPI) zeigen<br />
extreme Unterschiede in ihren quantitativen und prognostischen<br />
Trends. Die stetig ansteigenden Zahlen in den<br />
Rubriken Hetero (17 Prozent) und HPL (20 Prozent) erweisen<br />
sich jedoch als nur scheinbar beängstigend; sie unterhalten<br />
aber bei uns den effektiv nicht kontrollierbaren<br />
„HIV-Schwelbrand“. Dennoch ist Deutschland bisher relativ<br />
glimpflich davongekommen angesichts des apokalytischen<br />
Desasters anderswo, zurzeit besonders in Afrika<br />
und bald auch in Asien.<br />
Schüsselwörter: AIDS-Ära, HIV-AIDS-Statistiken, 6 Infek -<br />
tions wege, eminent differente Trends<br />
Der Umgang mit der HIV-AIDS-Herausforderung hält<br />
auch unserer Gesellschaft mit ihren tradierten Tabus<br />
samt den uns eigenen betrüblichen und tröstlichen<br />
(Un)Tugenden den Spiegel vor. Angst und Verdrän -<br />
gung führten anfangs zu Panik und Hysterie, die 10<br />
Jahre später ebenso unvermittelt in Desinteresse und<br />
Fatalismus umschlugen.<br />
Die rote AIDS-Schleife mahnt Solidarität und<br />
Sen sibilität für alle von der HIV-Pandemie Bedrohten<br />
und Betroffenen an, ein stilles Symbol für Besinnung<br />
und Rückbesinnung.<br />
Der Welt-AIDS-Tag am 1. Dezember ruft zu einer<br />
offenen Bilanzierung über Erfolge und Defizite im<br />
Kampf gegen die bei uns „schleichende“ Bedrohung,<br />
die weltweit in einigen Regionen bereits apokalytische<br />
Ausmaße erreicht hat.<br />
Ausgangssituation vor 20 Jahren<br />
Wenn man die einschlägigen Statistiken unter die kritische<br />
Lupe nimmt, so stehen die Zahlen über HIV-<br />
Neuinfektionen unter dem Handikap, dass mit der<br />
Labormeldepflicht nicht HIV-Infizierte als Person<br />
erfasst werden, sondern anonymisierte positive Labor -<br />
befunde, die zwangsläufig trotz größter Anstren gun -<br />
gen unvollständig und auch wegen eventueller Dop -<br />
pel meldungen unzuverlässig sind.<br />
Als Anfang der 80er Jahre aus Kalifornien und<br />
New York die ersten AIDS-Fälle Experten und Öffentlichkeit<br />
alarmierten, dominierte passager die Be zeich -<br />
nung GRID (gay related immune deficiency syndrom),<br />
weil es sich ganz überwiegend um Homose -<br />
xuelle handelte, die an Kaposi-Sarkom und den opportunistischen<br />
Pneumonien erkrankten. Das Teenager-<br />
Idol Rock Hudson bekannte sich 1984 in einem spektakulärem<br />
Medienauftritt zu seiner bis dahin ver -<br />
schwie genen homophilen Neigung, die für Kenner der<br />
einschlägigen Hollywood-Szene offenes Party-Thema<br />
war.<br />
Zwar war der (vielfach als Schandparagraph apostrophierte)<br />
Paragraph 175 StGB ab 1973 nur auf<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 170 – 179 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 171<br />
Kon takte eines Volljährigen zu einem Minderjährigen<br />
(unter 18 Jahre) eingeengt, aber es bestand in weiten<br />
Kreisen nicht nur wegen des kirchlichen Verdiktes aus<br />
Rom („contra naturam“) immer noch eine stark ab -<br />
wer tende Einstellung. Wegen dieser diskriminierenden<br />
Atmosphäre konnte der gleichgeschlechtlich orientierten<br />
Minderheit Offenheit und vorbehaltlose seuchenpräventive<br />
Kooperation kaum zugemutet werden.<br />
Als Erster hat Montagnier den tückischen Retro- und<br />
Lentivirus sichtbar und züchtbar gemacht, so dass in<br />
Frankreich und auch in den USA (Gallo) der Suchtest<br />
Elisa und der Western-Blot-Bestätigungstest entwik -<br />
kelt wurden. Eingesetzt in größerem Umfange wurden<br />
diese bis heute gebräuchlichsten HIV-Diagnostika<br />
aber bei der viel leichter zugänglichen und für den In -<br />
fektionsweg über Transfusionen entscheidenden<br />
Grup pe der Blutspender, die mit dem infizierten Blut<br />
auf Hämophile und andere Empfänger die tödlichen<br />
HIV-Viren übertrugen. Bei den Homophilen dagegen<br />
bestanden starke generelle Widerstände gegen den<br />
AIDS-Test, die wegen des seuchenpolizeilichen<br />
Zwangs-outens durchaus einfühlbar waren, aber ge -<br />
gen arztethische und arztrechtliche Tradition auch auf<br />
die klinische Diagnostik ausgedehnt wurden. Aus nah -<br />
me war Bayern, weil sich dort anders als in allen anderen<br />
alten Bundesländern das Modell der amtlichen<br />
Überwachung (Gauweiler), sonst überall dagegen das<br />
Süßmuth-Modell des freiwilligen Selbst schut zes<br />
durch setzte. Da die damalige Gesundheits minis terin<br />
lediglich Wege aus der Angst aufzeigen wollte, begnügte<br />
man sich mit der anonymen Labor melde pflicht.<br />
Der AIDS-Experte der DDR Sönnichsen (Cha rité)<br />
demonstrierte 1987 auf einer Europakarte, dass vom<br />
Ural bis zum Atlantik mit Ausnahme der BRD, Bel -<br />
gien und Holland sowie England und Portugal überall<br />
eine namentliche Meldepflicht eingeführt war.<br />
Statistik<br />
Schon ab 1985 veröffentlichte das BGA/RKI die mit<br />
großem methodischem Aufwand ständig verbesserten<br />
Zahlen in übersichtlich gestalteten HIV- und AIDS-<br />
Sta tistiken. Trotz weiter bestehender Unsicherheiten<br />
kann man in Deutschland für den Zeitraum von 1984<br />
bis 2002<br />
! von 60.000, unter Einbeziehung eines geschätzten<br />
Dunkelfeldes<br />
! von 70.000 HIV-Infektionen / Test-Positiven, ferner<br />
! von 24.000 AIDS-Erkrankten,<br />
! von denen 20.0000 verstorben sind, ausgehen.<br />
Bei einer Einwohnerzahl von gut 80 Mio. ergibt<br />
sich daraus als grober Anhaltspunkt ein Wert von unter<br />
1 Promille, d.h., von 1000 Menschen in der Bundes re -<br />
publik hatte in den vergangenen 20 Jahren e i n e r<br />
einen pathogenen Kontakt mit dem HIV-Virus. Diese<br />
zum Teil geschätzten und deshalb auch hier abgerundeten<br />
Eckdaten liegen deutlich unter den meisten<br />
Hoch rechnungen des ersten (hysterischen) AIDS-<br />
Jahrzehnts.<br />
Selbst wenn sich dieser statistische Rückblick<br />
unter sexualwissenschaftlichen Präventionsaspekt auf<br />
die HIV-Neuinfektionen beschränkt (und die AIDS-<br />
Zahlen vorerst vernachlässigt, obwohl sich wegen der<br />
ohnehin schon langen und durch die Kom bina tions -<br />
therapie noch weiter verlängerten Manifestationszeit<br />
beachtliche, aber aus Unkenntnis nicht immer beachtete<br />
Differenzen ergeben, s.u. Anmerkungen zum<br />
Schles wig-Holsteinischen Ärzteblatt 11/2002), so<br />
kann auch dann nur eine holzschnittartige Grob zeich -<br />
nung die nach Situation und Prognose extremen Diffe -<br />
renzen der in den Statistiken erfassten Unter gruppen<br />
wie dergeben. Alle positiven oder negativen Ver än -<br />
derungen relativieren sich erheblich, wenn man die<br />
fehlenden Angaben (k.A.) mitdenkt, die sich aber er -<br />
freulicherweise allein von 1993 bis 2001 in den statistischen<br />
(Halb-)Jahresberichten des RKI von über 40<br />
auf unter 20 Prozent mehr als halbierten. Ferner sind<br />
auch gesetzliche Vorgaben (zuletzt das Infektions -<br />
schutzgesetz IfSG) und neue Erfassungsmodalitäten<br />
zu beachten (vgl. Abb. 1 und 2).<br />
Die sechs Untergruppen nach den<br />
Infektionswegen<br />
I. Homo-/Bi (MSM = Männer Sex mit Männern)<br />
II. Hetero<br />
III. Spritz-Drogenabhängige (IVDA)<br />
IV. Patienten aus Hochprävalenzländern (HPL, Pattern<br />
II)<br />
V. Hämo/Trans (Hämophile / Empfänger von Blut -<br />
transfusionen)<br />
VI. PPI (prä- oder perinatale vertikale Transmission)<br />
zeigen je nach sexuellen Usancen sowie Alter und<br />
Geschlecht höchst unterschiedliche Trends, weil sich<br />
! Fortschritte in Diagnostik und besonders in der<br />
! Therapie<br />
! Änderungen im Risikoverhalten (u.a. Safer-Sex,<br />
! Partnerfrequenz und Poppers)<br />
! Gruppenspezifische Interessenslage durch Partyund<br />
Designer-Drogen, Substitution<br />
! Akzeleration (Vorverlegung der Menarche, damit<br />
auch der früher einsetzenden sozio-sexuellen<br />
! Adoleszenz, Ablösung vom Elternhaus und mitunter<br />
auch Drogenerfahrungen) unterschiedlich<br />
auswirken.
172 R. Wille<br />
Abb 1: AIDS in der Bundesrepublik Deutschland, An zahl der berichteten AIDS-Fälle nach Halbjahr der Diagnose mit Anteil der als verstorben berichteten<br />
Fälle sowie auf der Basis des bisher beobachteten Meldeverzuges noch zu erwartende Berichte nach Halbjahr der Diagnose, Stand 30.06.2002, aus: RKI,<br />
Epidemologisches Bulletin, 09.08.2002, Sonderausgabe B<br />
Abb 2: HIV in der Bundesrepublik Deutschland, HIV-Erstdiagnosen ab 1993 nach Diagnosejahr und Infektionsrisiko, Stand: 30.06.2002, aus: RKI,<br />
Epidemologisches Bulletin, 09.08.2002, Sonderausgabe B<br />
Da Lebenswirklichkeiten langfristig auch auf Stan -<br />
dards und Normen abfärben, sollen auch die jeweiligen<br />
sozialrechtlichen Begleitargumente auf ihre<br />
Aktualität hinterfragt werden.<br />
Mit diesem Rund- und Rückblick können über die<br />
Grenzen des wiedervereinigten Deutschlands hinaus<br />
auch innereuropäische Nachbarn (z.B. hohe Inziden -<br />
zen in den Mittelmeer-Anrainern) verglichen werden,<br />
um schließlich weltweit das staatsbedrohliche Desas -<br />
ter (u.a. in Teilen des mittleren und südlichen Afrikas)<br />
einzubeziehen und dann erst argumentativ abgesicherte<br />
Wertungen abzugeben wie: dort offener zivilisationsgefährdender<br />
Flächenbrand, hier unterschwellig<br />
sich weiterfressender Schwelbrand.
Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 173<br />
Trends der letzten Jahre<br />
Der wichtigste medizinisch-virologische Fortschritt<br />
liegt in der Entwicklung einer wirksamen antiviralen<br />
Therapie (ART), die speziell in differenzierender<br />
Kom bination (HART) das Fortschreiten der Krank -<br />
heitsstadien um Jahre zurückhalten kann und auch die<br />
Infektiosität herabsetzt.<br />
Die so gewonnene Zeitspanne mit erfreulich verbesserter<br />
Lebensqualität erweist sich auch epidemiologisch<br />
als mindergefährlich bei Pannen oder Nach -<br />
lässigkeiten im Safer-Sex-Verhalten.<br />
Damit verliert das frühere Argument an Gewicht,<br />
bei einer unheilbaren Krankheit – insoweit vergleichbar<br />
mit der erst spät auftretenden und dann qualvoll<br />
zum Tode führenden Chorea Huntington – sei bei Ab -<br />
wägung der individuellen Vor- und Nachteile das Ab -<br />
tauchen ins Nicht-Wissen-Wollen vorzuziehen. Das<br />
zeit liche Hinausschieben der AIDS-Morbidität und -<br />
mortalität durch die effektive HART setzt aber die<br />
Diagnose und damit den HIV-Test voraus. Dieser verliert<br />
für lebensbejahende Infizierte den Symbol cha -<br />
rakter für Zwangs-outen und rechtliche Schlech ter -<br />
stellung, sondern öffnet jetzt eine positive Perspektive<br />
aus dem Dunkel fatalistischen Verharrens. Damit wird<br />
die seinerzeit sogar mit einem Boykottaufruf gegen<br />
die vermeintliche Homosexuellenaushorchung ve r -<br />
bun dene Warnung des Sexualpublizisten Günter<br />
Amendt (1987), dass jede Mitarbeit an sozialwissenschaftlichen<br />
Studien der homosexuellen Minderheit<br />
scha de, vollends fragwürdig. Amendt richtete seine<br />
Polemik speziell gegen M. Dannecker (1990), der ge -<br />
gen diese Widerstände seine spontan geplante und<br />
dann vom Bonner Ministerium finanzierte Studie<br />
publizierte. Die Deutsche AIDS-Hilfe nahm ein BGH-<br />
Urteil gegen einen Zivilangestellten der US-Armee<br />
zum Anlass für ihren im November 1988 ergangenen<br />
Be schluss: Aufgrund des BGH-Urteils wird die Deut -<br />
sche AIDS-Hilfe in Zukunft aus politischen Gründen<br />
vom HIV-Anti-Test abraten. Diese damals etablierte<br />
Ab lehnung und arztrechtliche Kriminalisierung eines<br />
diagnostisch begründeten HIV-Testes passt bei konsequentem<br />
Überdenken heute nicht mehr in unsere Zeit.<br />
Zudem bahnt sich bei bestimmten (z.B. familienrechtlichen)<br />
Konstellationen mit wenigen Beteiligten die<br />
Mög lichkeit an, in Weiterentwicklung eines seit 1992<br />
bekannten Sequenzierungsverfahren über das Virus-<br />
Genom eine individuelle Zuschreibung des Virus-<br />
Transmitters zu erreichen. Noch ist nicht abzusehen,<br />
ob dieser bei einem Zahnarzt in Florida vor 10 Jahren<br />
bereits angewendete indirekte genetische Fingerprint<br />
forensisch im deutschen Zivil- oder gar im Strafrecht<br />
anerkannt wird.<br />
Die spezifischen Probleme und Trends der sechs<br />
statistischen Untergruppen divergieren stark:<br />
Homo- und bisexuelle Männer<br />
Da zu Beginn der AIDS-Ära fast ausschließlich junge<br />
und bis dato gesunde Homosexuelle (Bisexuelle wurden<br />
erst anschließend statistisch subsumiert und damit<br />
auch der interessierten Öffentlichkeit bekannter) an<br />
AIDS erkrankten, bestimmte die damalige Situation<br />
der homosexuellen Subszene, die – im Wortsinne -<br />
notwendigen Schritte der Gesundheitspolitik. Tradi -<br />
tionell begründetes Misstrauen gegen eine zwar nur<br />
noch latente, aber dennoch spürbare „Rosa-Winkel“-<br />
Mentalität, besonders in der älteren Generation, stand<br />
um 1984/85 bei der sozialpolitischen Weichenstellung<br />
einer vorbehaltlosen Offenheit der Hauptbetroffenen -<br />
gruppe entgegen. Die Gesundheitsministerin Rita<br />
Süß muth, beraten durch Siegfried Dunde, entschied<br />
sich gegen namentliche Meldepflicht, woraus sich<br />
auch die Duldung der kollektiv-psychologischen Vor -<br />
behalte bis hin zur Kriminalisierung gegenüber dem<br />
HIV-Test ergab, mit dem allein die Diagnose gesichert<br />
werden konnte. Obwohl wie die meisten osteuropäischen<br />
Länder, so auch die DDR zeigte, dass sich -<br />
erleichtert durch dort nur wenige Fälle - eine klinische<br />
Fahndung nach den Infektionsketten durchaus mit<br />
ärztlich-psychologischer Diskretion durchführen lässt,<br />
nahm das bundesdeutsche Modell des freiwilligen<br />
Selbstschutzes samt Selbststeuerung durch gleichartig<br />
Orientierte die immanenten Nachteile der (bestenfalls)<br />
verzögert eintretenden und obendrein keineswegs<br />
sicher effizienten Bekämpfung einer todbringenden<br />
Seuche in Kauf. Konsequent nennt Rita Süßmuth<br />
(1987) ihre Broschüre nicht „Wege aus der Gefahr“,<br />
sondern „Wege aus der Angst“; ihre sozialpolitisch<br />
neu artige Konzeption bekennt sich zu einem Vorrang<br />
des Sozialrechtes und der Gesellschaftspolitik unter<br />
Hintanstellung der Medizin und des Strafrechtes. Mit<br />
diesem Modell inklusive finanzieller Unterstützung<br />
der szene-internen Selbsthilfegruppen gelingt ihr die<br />
Einbeziehung der Hauptbetroffenen und zugleich auch<br />
die sozialethische Integration der homosexuellen<br />
Minderheit. Bei der partei-intern bekannten Eigenwil -<br />
ligkeit der CDU-Politikerin scheint es nicht ganz un -<br />
plausibel, dass sie das erwartbare Murren der auf seuchenhygienische<br />
Effizienz eingeschworenen Medizi -<br />
ner einkalkuliert haben könnte.<br />
Es gibt kein Kollektiv außer den Homo-/Bise xu -<br />
ellen, das so unmittelbar, so leidvoll, so häufig, also<br />
ex trem einprägsam nahe Freunde oder Intimpartner<br />
ver loren hat. Deren anfangs mehr latenten Ängste,<br />
dann die lang hingezogenen und extrem wechselhaften<br />
Krankheitsverläufe, nicht selten frustrierende
174 R. Wille<br />
Kon flikte mit der Familie und das unerbittliche, häufig<br />
elende Sterben stellen tief einprägsame psychische<br />
Engramme und tragische Lebensereignisse dar.<br />
Dennoch herrscht bei der homosexuellen Subpo -<br />
pu lation immer noch deutlich höhere Partnermobilität<br />
und relativ große Untreuetoleranz vor. Der Kondom -<br />
gebrauch ist nahezu aus dem Stand in wenigen Jahren<br />
auf 70 Prozent und segmental sogar mehr angestiegen.<br />
Aber kein kritischer Beobachter der MSM-Szene be -<br />
hauptet, dass auf der interpersonalen Verhaltensebene<br />
die aids-präventiv wünschenswerte Obergrenze er -<br />
reicht ist oder sogar erreichbar sein kann.<br />
Es gibt weiterhin positive Relativveränderungen,<br />
etwa bei Anwendung der Poppers (Amylnitrate) und<br />
beim Besuch der dark-rooms und Saunen.<br />
Auch wenn Martin Dannecker, der 1974 eine sehr<br />
hohe Promiskuität seines damaligen, aus Szenetreff -<br />
punkten rekrutierten Untersuchungskollektives (17%<br />
mit jährlich 150 und mehr Intimpartnern / Median<br />
14,3) präsentierte, in seinem repräsentativen Report<br />
1990 eine deutliche Verminderung fand (Median jetzt<br />
5,5), so sollte bei diesen Angaben eine auch bei hete -<br />
ro sexuellen Männern weit verbreitete subjektive Dis -<br />
krepanz zwischen dem idealen (tendenziell monogamen)<br />
und tatsächlichem (freizügigem) Verhalten be -<br />
rücksichtigt werden.<br />
Es fehlen für die Homo- und Bisexuellen konkrete<br />
An gaben über das verbleibende HIV-Sockelrisiko,<br />
das immerhin offensichtlich so hoch ist, um die jährlich<br />
etwa 700 HIV-Neuinfektionen in der MSM-<br />
Rubrik des RKI zu erklären.<br />
Zieht man sich aus dem Internet die Interviews von<br />
Michael Lenz über „Beziehungsweise Partner schaf -<br />
ten“ heraus (herausgegeben von der Deutschen AIDS-<br />
Hilfe), so findet man sicherlich zutreffende Überschriften<br />
wie: Menschen sind nicht monogam; Sex mit<br />
anderen hat etwas Aufregendes; u.ä.m., aber keine<br />
(aids-präventiv wünschenswerten) Anmahnungen von<br />
anzustrebender Partnertreue und striktem Safer-Sex.<br />
Nach den repräsentativen Erhebungen in USA und<br />
Großbritannien (Johnson et al.; Laumann et al, 1994)<br />
kann man von etwa 5 Prozent Homosexuellen ausgehen.<br />
In Deutschland leben etwa 20 Millionen Männer<br />
im sexuell aktivsten Alter von 15 bis 64 Jahren. Die<br />
daraus sich ergebende Ausgangszahl von 1 Million<br />
sollte man um die tatsächlich partnerschaftlich Ge -<br />
bundenen und um die sexuell Inaktiven reduzieren,<br />
de ren Anzahl grob geschätzt auf 250.000 angesetzt<br />
werden kann. Die dann verbleibenden 750.000 nicht<br />
monogamer Homosexueller infizieren – im Gruppen -<br />
durch schnitt natürlich – jährlich ca. 700 = knapp 1<br />
Promille ihrer Intimpartner mit der zum Tode führenden<br />
Krankheit.<br />
Von dem Frankfurter Soziologen Hondrich (1988)<br />
stammt der Satz: „Biologistisch gesprochen wird eine<br />
Subpopulation durch ihre eigene Politik stärker dezimiert<br />
als durch die von der Gegenseite favorisierte Po -<br />
litik“. Auch wenn man Dezimierung nicht wortwörtlich<br />
sondern metaphorisch als Minderung liest, so<br />
bleiben die mindestens 15.000 in zwei Jahrzehnten<br />
bereits an AIDS verstorbenen Homophilen ein unwiederbringlicher<br />
Verlust und die jährlich 700 Neuan -<br />
steckungen weiterhin eine Herausforderung, über die<br />
zwecks Verbesserung des status quo offen und öffentlich<br />
nachzudenken, erlaubt sein muss.<br />
Hämo/Trans<br />
Vor einem völlig anderen Problemhintergrund und in<br />
ganz anderen Dimensionen hat auch die „Blut-AIDS-<br />
Katastrophe“ in Deutschland weitreichende Folgen<br />
gezeitigt und wesentliche Reformen des Blut spen -<br />
dewesens, beim Bundesgesundheitsamt und im Arzt -<br />
recht bewirkt.<br />
Weil einfühlbare Entschädigungsinteressen der<br />
Hämo/Trans-Opfer mit den kommerziellen Interessen<br />
der Gegenseite, nämlich den Versicherern der Her -<br />
steller von Blut- und Plasmapräparaten sowie auch der<br />
Blutspendeeinrichtungen frontal kollidierten, weil<br />
weiterhin das Arzneimittelgesetz (AMG) einen juristischen<br />
Rahmen mit politischen Verant wortlichkeiten<br />
absteckte, hat sich der Deutsche Bundestag mit einem<br />
1993 eingesetzten Untersu chungs ausschuss über:<br />
„AIDS, Gesundheits gefährdung durch Blut und Blut -<br />
übertragung sowie zur haftungsrechtlichen Seite und<br />
ggf. finanziellem Aus gleich“ beschäftigt.<br />
1994 legte der Ausschuss den von Scheu (CDU)<br />
juristisch kristallklar aufgebauten und äußerst pointiert<br />
formulierten Abschlussbericht von 271 Seiten<br />
und einem Anhang von weiteren 400 Seiten vor (BTD<br />
12/8591). Dort werden die nosologischen und epidemiologischen<br />
Fakten kenntnisreich aufgeführt und mit<br />
ganz unverhohlenem Kopfschütteln zwischen den<br />
Zeilen Versäumnisse und Verschulden höchster Funk -<br />
tionäre in Berlin (BGA) und Genf (WHO) mit persönlichen<br />
Konsequenzen verdeutlicht. Es wackelten nicht<br />
nur Präsidentenstühle wegen retrospektiv kaum glaublicher<br />
Problem-Ausblendungen als Symptom von In -<br />
kompetenz und Verdrängung, sondern es wurde auch<br />
Übermut der Ämter und autoritäres Redeverbot für<br />
ProfessorInnen aufgespießt. Beklemmend sind die ge -<br />
nerellen Absagen der angefragten GutachterInnen und<br />
umgekehrt deren Ablehnungen wegen Befangenheit<br />
durch die Prozessgegner, weil fast alle fachlich prominenten<br />
Wissenschaftler beruflich mit den Pharma -<br />
firmen, Forschungsinstituten und Blutspendeein rich -<br />
tungen eng verbandelt waren, so dass es zu keinem Zi -
Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 175<br />
vil- oder Strafurteil kam. Das böse Wort vom Krähen-<br />
Komment machte die Runde; der BGH äußerte sich<br />
am 17. Dezember 1991 zur ärztlichen Aufklärungs -<br />
pflicht mit dem Leitsatz:<br />
Patienten sind immer dann über das Risiko einer<br />
Infektion mit Hepatitis und AIDS bei der Transfusion<br />
von Fremdblut aufzuklären, wenn es für den Arzt<br />
ernst haft in Betracht kommt, dass bei ihnen intraoder<br />
postoperativ eine Bluttransfusion erforderlich<br />
wer den kann. Darüber hinaus sind solche Patienten<br />
auf den Weg der Eigenblutspende als Alternative zur<br />
Transfusion von fremden Spenderblut hinzuweisen,<br />
soweit für sie diese Möglichkeit besteht, nachdem<br />
schon ab 1988 in anderen höchstrichterlichen Urteilen<br />
neue verbindliche Entwicklungslinien zu einem verschärften<br />
Arzthaftungsrecht aufgezeigt wurden.<br />
Auch unter den virologischen und transfusionsmedizinischen<br />
Experten bilden Unwissen und Dissens<br />
den Hintergrund, dass die Notwendigkeit eines HIV-<br />
Tests, die arztrechtliche Konsequenz eines positiven<br />
Test ergebnisses, die Mitteilungspflicht an den Patien -<br />
ten und Beratung über das nunmehr gebotene Safer-<br />
Sex-Verhalten nicht erkannt, sondern verharmlost, ja<br />
in einem Falle sogar belehrend ridiculisiert wurde,<br />
und zwar peinlicherweise mit dem immunologisch<br />
genau umgekehrten Indizwert der Antikörper bei<br />
Mumps und HIV/AIDS. Von der Opferseite wurde im<br />
Prozessverlauf vorgebracht, dass nicht ein einziger<br />
Patient nach einem positiven Test über die Einbe zie -<br />
hung und Kooperation der Ehefrau / Intimpartnerin<br />
zwecks gemeinschaftlicher Risikominderung aufgeklärt<br />
wurde. Wer damals an den einschlägigen interdisziplinären<br />
Treffen teilgenommen hat, musste häufig<br />
feststellen, wie etwa das Interesse für den Zeit -<br />
punkt der Serokonversion oder die Ursachen der er -<br />
freulich niedrigen Infektionsquote von unter 10 Pro -<br />
zent bei längerem (weil ahnungslos) ungeschützten<br />
Sexualverkehr von sero-differenten Partnern weit<br />
mehr interessierten als eine patientenorientierte ärztliche<br />
Empathie. Das fachspezifisch sexualmedizinische<br />
Ansprechen des „Paares als Patient“ stieß bei den meisten<br />
Vertretern der medizinischen Blut- und Transfu -<br />
sionsexperten auf Unverständnis, mitunter sogar auf<br />
un verhohlene Ablehnung. Diese Turbulenzen wurden<br />
von den dramatischen deutschlandpolitischen Ereig -<br />
nissen am Ende der 12. Legislaturperiode übertönt<br />
und blieben selbst für Experten (Autor war seinerzeit<br />
AIDS-Beauftragter in Schleswig-Holstein) intransparent.<br />
Nach längerem Tauziehen kam es schließlich zu<br />
einem Vergleich, in dem von insgesamt über 2.300<br />
Hä mo/Trans-Fällen gut 1300 mit durchschnittlich<br />
65.000 DM (die Opferseite sprach von „Almosen“ für<br />
Moribunde) auf der Grundlage des AMG abgefunden<br />
wurden. Das AMG wurde mehrfach nachgebessert,<br />
die Managementfehler führten zur Aufteilung des bis<br />
dahin eigenständigen Bundesgesundheitsamtes<br />
(BGA) in Teilinstitute, u.a. Robert-Koch-Institut<br />
(RKI) und Paul-Ehrlich-Institut (PEI), die dem Bun -<br />
desgesundheitsministerium unterstellt sind; die<br />
Sicher heit des Blutspenderwesens wurde erheblich<br />
ver bessert, so dass seit 1995 nur noch ein bis zwei<br />
Fälle HIV-Neuinfektionen unter der Rubrik Hämo/<br />
Trans auftauchen. Diese Zahl entspricht etwa dem seit<br />
langem bekanntem Restrisiko von 1 auf 6 Millionen<br />
Bluttransfusionen.<br />
Intravenös injizierende Drogenabhängige<br />
(IVDA)<br />
Geht man bei den weit auseinander liegenden Schät -<br />
zungen über die Größe dieser statistischen Unter -<br />
gruppe von einem vielleicht realistischen Mittelwert<br />
aus, so sollen zur Zeit etwa 100.000 Männer und<br />
50.000 Frauen in Deutschland als IVDA „an der Nadel<br />
hängen.“ In den HIV-Statistiken hat sich ihr Anteil seit<br />
Jahren bei etwa 12, neuerdings 10 Prozent (N= ca.<br />
200) stabilisiert.<br />
Tatsächlich scheinen aber dafür mehrere, weitgehend<br />
gegenläufige Trends in der Drogenszene verantwortlich<br />
zu sein, die sich in den Zahlen des RKI offenbar<br />
neutralisieren.<br />
Zum einen nimmt der Konsum von Drogen generell<br />
zu, auch weil das Alter der Drogenprobierer seit<br />
Jahren deutlich sinkt, offenbar eine Auswirkung der<br />
Ak zeleration, der ätiologisch umstrittenen und auch<br />
nicht immer linear verlaufenden Vorverlegung der<br />
körperlichen Pubertät mit komplementärer Verlänge -<br />
rung der sozialen Adoleszenz. Wenn das durchschnittliche<br />
Menarche-Alter heute bei 13,46 Jahren (Engel -<br />
hard, in Beier et al., 2000) liegt, dann beginnt das<br />
Interesse für Partnerschaft schon vorher und führt auf<br />
dem Wege der Verselbständigung zur inneren Ablö -<br />
sung vom Elternhaus bei erhaltener und wegen der<br />
neuen Erlebnisbereiche sogar verstärkten finanziellen<br />
Abhängigkeit. Das erwachende Interesse am anderen<br />
Geschlecht bleibt heute kein „Geplänkel mit dem<br />
Thema Liebe“, sondern geht oft bereits in einem Alter<br />
weit unter 14 Jahren in erste Disco-Begegnungen und<br />
bald darauf in körperliche Kontakte und schließlich in<br />
Sexualverkehr über. Ist der Partner strafmündig, fallen<br />
die se frühen Erfahrungen „unter den Staatsanwalt“.<br />
Immer häufiger werden Kindergynäkologen von 11-<br />
bis 14-Jährigen wegen Kontrazeption und/oder<br />
Schwan gerschaft konsultiert. Mütter werden zwar<br />
noch um kontrazeptiven Rat und erotische Orien tie -<br />
rung gefragt, aber selbst bei wahrgenommenen Fi -<br />
nanz- und Fürsorgepflichten können sie drohende
176 R. Wille<br />
Fehl entwicklungen ihrer Kinder nicht mehr erkennen<br />
und dürfen auch elternrechtlich nicht mehr effektiv<br />
ge gensteuern. In der neuen verhaltensformenden Peergroup<br />
kreisen zwecks Aufputschung für das modische<br />
Dauertanzen ständig neu zusammengebackene Desig -<br />
ner-Drogen mit meist unterschätztem Suchtpotential.<br />
Wird die Wirksubstanz etwa von Ecstasy apothekenrechtlich<br />
indiziert, so stehen überall Küchenlabors be -<br />
reit, um pharmakologisch leicht abgeänderte neue<br />
Dro gen auf den Teenager-Markt zu werfen, die in<br />
erster Linie die Rechtsbestimmungen umgehen und<br />
erst sekundär neue Suchtparadiese schaffen sollen<br />
(Thomasius, 2000).<br />
Dieser artifiziellen Atmosphäre mit suggestiver<br />
Griffnähe zur gerade aktuellen Scenen-Droge sind la -<br />
bile Kinder und Jugendliche in der peripubertären<br />
Um bruchphase nicht gewachsen, so dass schon früh<br />
und zunehmend deletäre Drogenkarrieren in Gang<br />
kommen.<br />
Spätestens beim Übergang zu Spritzdrogen steigt<br />
die Gefahr des rituell gemeinsamen Nadelgebrauches.<br />
Der übermäßige Geldbedarf (ca. 4.000 Euro im Mo -<br />
nat) bahnt bei einigen jungen Frauen den Einstieg in<br />
die Beschaffungsprostitution. Um die dortige Banali -<br />
sie rung der mitmenschlichen Bezüge und die soziale<br />
Verelendung zu stoppen, sind flächendeckend meist<br />
niederschwellige staatliche Substitutionsprogramme<br />
etab liert. Drogenambulanzen berichten von einem<br />
frap panten Rückgang des vorher florierenden Nadel -<br />
um tausches (in einer Kieler Ambulanz in kurzer Zeit<br />
nach Einführung der Substitution von über 250.000<br />
auf unter 120.000 Kanülen; mündliche Mitteilung).<br />
Von den 50.000 Fixerinnen gehen 25-30 Prozent trotz<br />
fester – allerdings nicht selten asexueller – Freund -<br />
schaften bei Bedarf auf den Beschaffungsstrich, auf<br />
dem die Freier die Preise drücken und für „ohne Gum -<br />
mi“ mehr zahlen, ohne ihre Gefährdung durch eine<br />
HIV-Infektion zu realisieren. Die Beschaffungsprosti -<br />
tuierten grenzen sich in ihrer Identität von den professionellen<br />
Prostituierten ab, die allerdings auf ihre Ge -<br />
sundheit weit mehr achten und weitestgehend nicht<br />
HIV-infiziert sind, während bei den IVDA-Prosti tu -<br />
ierten und besonders bei den „Immigrantinnen“ die<br />
HIV-Quote zwischen 10 bis 25 Prozent liegen soll.<br />
Die Welt der Drogen ist schon extrem artifiziell,<br />
die neuen Designer-Glückspillen umgehen die un -<br />
glaub würdig gewordenen Ordnungen eines Staates,<br />
der sich z.B. bei der Berliner Love-Parade als Mittäter<br />
der ungeniert auftretenden Drogendealer aufführt und<br />
der seine einkalkulierten Steuermehreinnahmen wiederum<br />
in die Substitutionsprogramme einbringt, um<br />
da mit den Kreislauf der künstlichen Welten zu schlie -<br />
ßen. Bundesweit werden etwa 60.000 Fixer substituiert,<br />
davon 20.000 Frauen.<br />
In einer eigenen Studie an Codein-substituierten<br />
Patienten des Kieler Arztes Dr. Gorm Grimm gab der<br />
deutliche AIDS-präventive Effekt den Ausschlag,<br />
trotz allergrößter ärztlicher Bedenken eine gedämpfte<br />
Befürwortung der Substitution auszusprechen (Wille<br />
et al. 1991).<br />
Prä-/perinatale Infektion (PPI)<br />
Für die sogenannte vertikale Mutter-Kind-Trans -<br />
mission genügt ein erfreulich kurzes Erfolgskapitel:<br />
Gemeldet wurden noch zwischen 1993 und 2001<br />
insgesamt etwa 320 durch ihre HIV-positiven Mütter<br />
infizierten Kinder. Diese anfangs noch etwa 2 Prozent<br />
verdünnen sich ab 1987 auf 1-2 Fälle jährlich, so dass<br />
die beiden Infektionsquellen PPI und die Hämo/Trans<br />
irgendwann ganz aus den HIV-Statistiken eliminiert<br />
werden können.<br />
Für den Rückgang kann ein stark verbessertes ge -<br />
burtsmedizinisches Management mit rechtzeitiger<br />
Sec tio und auf Tage bis maximal Wochen beschränkte<br />
pe rinatale antivirale Medikation verantwortlich ge -<br />
macht werden. Wichtiges Dosierungskriterium ist die<br />
mütterliche Viruslast; die beim Säugling zu 100 Pro -<br />
zent postnatal nachweisbaren mütterlichen Antikörper<br />
besagen noch nicht, ob auch eine kindliche Infektion<br />
statt gehabt hat. Lange Zeit galten ein Jahr postpartal<br />
60 Prozent der Kinder als infiziert, angesichts der<br />
stark geminderten prognostischen Aussichten quoad<br />
vitam vielleicht zu hoch angesetzt. Schon um 1990<br />
sprach man von 30 Prozent bleibend HIV-infizierter<br />
Kleinkinder; mit systematischer Anwendung der Sec -<br />
tio und antiviralen Medikamente sank dieser anfangs<br />
sogar eine medizinische Abruptio-Indikation begründende<br />
Anteil auf wenige Prozent, so dass heute ge -<br />
wünschte Schwangerschaften medizinisch entsprechend<br />
abgesichert mit recht guter Gesundheitser war -<br />
tung ausgetragen werden könnten.<br />
Kontrovers diskutiert wurde in den vergangen Jahren<br />
die Frage, ob angesichts des absehbaren AIDS-Todes<br />
der Mutter deren Wunsch nach einem Kind unterstützt<br />
werden oder man unter Umständen sogar durch medizinisch<br />
mögliche Maßnahmen zu der Existenz eines<br />
Kindes beitragen sollte, das als Halbwaise ungünstigenfalls<br />
auch ohne Vater oder familiäre Einbettung<br />
einen äußerst belasteten Lebensweg beginnen müsste.<br />
Vielleicht lässt sich das in dieser Frage sehr emotionale<br />
Engagement einiger Beraterinnen als Reaktion auf<br />
eine unverhohlen androzentrische Ablehnung dieser<br />
aus männlicher Sicht dubiosen Mutterwünsche verstehen.
Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 177<br />
Hetero und HPL (Pattern II)<br />
Rein begrifflich weisen diese beiden verbliebenen Un -<br />
ter gruppen in den HIV-Statistiken keine Gemein sam -<br />
keit auf. Weil aber ihre spezifische Problematik nur<br />
mit sexualwissenschaftlichen Kenntnissen erfasst<br />
wer den kann, sollen sie in einem Kapitel abgehandelt<br />
werden. Denn in den beiden Rubriken Hetero und<br />
HPL finden sich Virusübertragungen durch (überwiegend)<br />
heterosexuelle Kontakte mit Partnern, die in den<br />
AIDS-endemischen Ländern selbst Virusträger wurden<br />
oder mit Partnern intim verkehrten, die etwa als<br />
Bisexuelle Risikokontakte hatten. Beide Gruppen zeigen<br />
langsam aber stetig ansteigende Größen ord nun -<br />
gen (HPL 20%, Hetero 17%) bei den ca. 2.000 HIV-<br />
Neuinfektionen, aber ähnlich auch tendenziell im<br />
AIDS-Fallregister (dort jährlich zurzeit rund 500 Fäl -<br />
le, s.o. Schaubild). Aus dem Geschlechterver hältnis –<br />
in beiden Rubriken sind mehr Frauen als Männer aufgeführt<br />
– ist der Schluss erlaubt, dass typischerweise<br />
Intimkontakte zwischen Frauen und Männern stattfanden,<br />
von denen sich eine(r) mit einer HIV-Risiko -<br />
person sexuell eingelassen hatte, mit dem Unter -<br />
schied, dass dies bei den „Heteros“ überwiegend in<br />
Deutschland, bei den Pattern II in den HPL-Heimat -<br />
ländern geschah. Mutmaßlich wagen einige mit dort<br />
be reits erkennbaren Krankheitsstadien die illegale<br />
Ein reise nach Deutschland als letzten Versuch, zu<br />
einer Therapie zu gelangen. Da die Zahl der „Illega -<br />
len“ in Deutschland auf eine Million geschätzt wird,<br />
sind auch andere Motive denkbar.<br />
Ebenfalls unbekannt ist, ob die Vorpartner der<br />
„He teros“ von ihrer HIV-Infektion etwas wussten oder<br />
ahnten oder ob sie den nicht getesteten Ahnungslosen<br />
zugerechnet werden müssen. Bei den heutigen freizügigen<br />
Begegnungsformen der Geschlechter und dem<br />
weit verbreiteten Gleichmut gegenüber sexuell übertragbaren<br />
Krankheiten ist Letzteres wahrscheinlicher,<br />
da im Allgemeinen von Bisexuellen weder MSM-<br />
Kontakte noch bezahlte Sexerlebnisse mit möglicherweise<br />
infizierten Partnerinnen in der ständigen Paar -<br />
beziehung offenbart und eventuelle Konsequenzen<br />
(HIV-Test nach drei bis sechs Monaten Sero kon -<br />
versionsintervall) thematisiert werden.<br />
Die entscheidende Relativierung erfolgt aber<br />
durch die statistische Einbeziehung aller nicht aus -<br />
schließlich monogam lebender Personen. Auf den ers -<br />
ten Blick würde man bei dieser Grundgesamtheit we -<br />
gen der sozialen Kontrolle an regionale Unterschiede<br />
nach Stadt und Land, nach Konfession und Boden -<br />
ständigkeit und auch nach alten und neuen Bundes -<br />
ländern denken. Denn im deutsch-deutschen Vergleich<br />
gab es in vielen Parametern des Sexualverhaltens eine<br />
deutlich größere Zurückhaltung bei den in der DDR<br />
so zialisierten Jugendlichen, die sich aber in den<br />
Jahren nach 1990 weitgehend den Standards und dem<br />
Verhalten der westdeutschen Jugendlichen angenähert<br />
haben (Starke & Weller 2000). Speziell die Deutsch -<br />
land karte mit den regionalen Inzidenzen (AIDS pro<br />
Mio. E) in den Epidemiologischen Bulletins zeigt<br />
helle Gebiete (0-50 AIDS-Fälle) neben Teilen von<br />
Ober franken und der bayrischen Oberpfalz aus -<br />
schließlich östlich des ehemaligen Eisernen Vorhan -<br />
ges, so dass dort die tiefdunkle Insel Berlin (kumulierte<br />
Inzidenzen über 1000) umso kontrastreicher hervortritt.<br />
Die Wahrscheinlichkeit, sich in den neuen<br />
Bun desländern bei einer der etwa drei Millionen<br />
Frauen im Alter zwischen 15 und 50 Jahren anzustek -<br />
ken, ist auch heute noch recht gering. Wenn die<br />
Grund gesamtheit der Hetero-Frauen in Ost und West<br />
nicht mitgedacht wird, könnte unkommentiert der statistische<br />
Anstieg auf 20 Prozent bedrohlich aussehen,<br />
bei kritischer Betrachtung wohl zu Unrecht; denn die -<br />
se Prozentangaben beziehen sich auf die 2000 HIV-<br />
Neuinfektionen und die etwa 500 AIDS-Fälle jährlich.<br />
Dies zu wissen, kann für die Beratungsinhalte des<br />
Arz tes vorne an der Präventionsfront durchaus von<br />
ausschlaggebender Bedeutung sein.<br />
So findet sich im Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt<br />
(11/2002) auf Seite 4 ein stark verkleinertes<br />
Schau bild mit verschiedenen Segmenten, die den An -<br />
teil der Infektionswege von „AIDS in Europa“ erkennen<br />
lassen, vielleicht als Beitrag zum Welt-AIDS-Tag<br />
gedacht. Auf diesem Schaubild kann man staunend<br />
zur Kenntnis zu nehmen, dass 37 Prozent auf heteround<br />
nur noch 20 Prozent auf homosexuelle Kontakte<br />
zurückzuführen sind (die 33 Prozent IVDA können in<br />
diesem Zusammenhang vernachlässigt werden). Aus<br />
Botswana mit über 38 Prozent (!!) HIV-Infizierter und<br />
aidskranker Bevölkerung könnte ein effekthaschender<br />
Journalist noch härtere Horrorbilder als Realität publizieren.<br />
Wenn man den Kontext außer Acht lässt, kann<br />
man bekanntlich „mit der Wahrheit lügen“. Falls es<br />
unkritische Leser unter den Ärzten des nördlichsten<br />
Bundeslandes gibt, werden diese auf eine völlig<br />
falsche Fährte gesetzt, und zwar durch eine „objektive“<br />
Desinformation. Denn es wäre ganz fehlerhaft,<br />
eine gezielte böswillige Desinformation anzunehmen.<br />
Bei der Platzierung dieses (h)ausgemachten Unsinnes<br />
im Ärzteblatt Schleswig-Holstein dürfte subjektiv<br />
wohl eher ignoranter Aktionismus im Sinne einer un -<br />
bewussten Fahrlässigkeit eine Rolle gespielt haben.<br />
Für die Einordnung der (meist) bezahlten Sexual -<br />
kon takte ist es epidemiologisch uninteressant, ob die -<br />
se in Deutschland (Hetero) oder im Ausland (HPL)<br />
stattfinden. Motor ist einmal das heute weit verbreitete<br />
wenig wählerische Sexualverhalten ohne personale<br />
Bindung mit dem nach G. Schmidt (2000) sexualmo-
178 R. Wille<br />
ralisch umgewandelten Beziehungsparadigma: Ob<br />
hetero-, bi- oder homosexuell, oral, zart oder ruppig,<br />
bieder oder raffiniert, normal oder pervers, von hinten<br />
oder von vorne, ist moralisch ohne Belang. Von Be -<br />
lang ist, dass es vereinbart wird. Auch Kondome und<br />
Safer-Sex können ausgehandelt werden, und so wurde<br />
Verhandlungsmoral zu einem wichtigen Faktor der<br />
Vorbeugung von HIV-Infektionen und AIDS. Einige<br />
Zeilen später führt G. Schmidt Interviewangaben an:<br />
„just fun, no drama; ein bisschen Rauchen, ein bisschen<br />
Trinken, ein bisschen Sex (...) Oberflächlich und<br />
entsetzlich banal könnte man nörgeln, aber es ist eine<br />
Sexualität frei von falschem Tiefsinn, entmystifizierter<br />
entdramatisierter Sex. Und so scheint es, als sei die<br />
Sexualität zu Beginn des Jahrhunderts gründlich entrümpelt;<br />
vom Katholizismus, vom Patriarchat (fast)<br />
und von der Psychoanalyse. Das ist nicht wenig für 50<br />
Jahre, fast schon eine Erfolgsgeschichte.“<br />
Neben dem Partnerwechsel ist als zweiter Faktor<br />
für die AIDS-Pandemie heute die globale Migration<br />
und speziell in die immer noch vermeintlich reiche<br />
Bundesrepublik anzusehen. Aus Osteuropa (u.a. Ukra -<br />
ine und Bulgarien) werden Migrantinnen als Touris -<br />
tinnen eingeschleust, da hier ihre Menschenhändler<br />
und Zuhälter größere Profite mit ihnen erzielen als in<br />
ihrer Heimat. Die Gesundheitsämter haben ihre früher<br />
regelmäßigen Kontrolluntersuchungen der einge -<br />
schrie benen HwG-Personen schon seit Jahren eingestellt.<br />
Der grüne Koalitionspartner rühmt sich seines<br />
parlamentarischen Erfolges bei der rechtlichen Aner -<br />
kennung der Prostitution, wobei er sich argumentativ<br />
auf Beseitigung einiger tatsächlich ärgerlicher Wider -<br />
sprüchlichkeiten aufgrund der anachronistischen „Sit -<br />
ten widrigkeit“ beruft. Vor diesem rechtlichen und mo -<br />
ra lischen Hintergrund bieten in Deutschland ohne ge -<br />
sundheitliche oder ausländerrechtliche Kontrolle<br />
Frau en ihre käuflichen Sexdienste an, obwohl bekannt<br />
ist, dass unter den Migrantinnen viele – schätzungsweise<br />
15 bis 20 Prozent – HIV-Trägerinnen sind (Kon,<br />
Igor / Moskau, zit. in: Wille & Hansen 2000).<br />
Der gegenseitige Austausch von Lust- gegen Geldge -<br />
winn findet zwar auf höchst unterschiedlichem Niveau<br />
statt, keineswegs immer unter vulgären und/oder apersonalen<br />
Begleitumständen. Aber bei dem gegebenen<br />
Währungs- und Wohlstandsgefälle ist er auf allen Ebe -<br />
nen so verlockend, dass sich schon der Gedanke an ein<br />
Verbot verbietet. Wenn schon „Amor omnia vincit“,<br />
dann siegt erst recht Cupido über alle Vor- und Rück -<br />
sichten, über alle Prophylaxe und Prävention. Eine<br />
verbindliche Sexualmoral ist schon seit längerem am<br />
Ver schwinden (G. Schmidt, 1988), aber sicherlich<br />
nicht vollständig. Denn ohne kollektive Erwartungs -<br />
haltungen und daraus sich formenden Standards wür -<br />
de das „gewöhnliche Chaos der Liebe“ in offenen Ge -<br />
schlechterkrieg übergehen. So irritiert schon jetzt die<br />
selbstbewusste Eigenständigkeit adoleszenter (13-15<br />
Jahre alter) Mädchen ihre zwei Jahre später pubertierenden<br />
Alterskameraden. Mancher Junge fühlt sich<br />
von weiblichen Direktinitiativen zu einem sofortigen<br />
Kurzerlebnis nicht nur situativ überfordert, sondern<br />
auch chronisch verunsichert, wenn er in seinem ab -<br />
weisenden Verlegenheitserröten dann noch als schwul<br />
und/oder impotent, als abnormer Versager oder perverser<br />
Außenseiter lächerlich gemacht wird. Irgend -<br />
wann bilden sich aus dem amoralischen Chaos neue<br />
Standards heraus, die vielleicht nur für bestimmte<br />
Sub populationen gelten, die relativ unverbunden ne -<br />
ben einander eigene sexuell-erotische Selbstregulie -<br />
run gen einhalten. Gerade für Sexualkontakte und<br />
Dau erbindungen bestanden immer schon Klassenun -<br />
ter schiede, wie sie noch von Kinsey in seinen beiden<br />
Reporten (1948 für Männer, 1953 für Frauen) berichtet<br />
und interpretiert werden.<br />
Eine kommende Geschlechtermoral wird wegen<br />
der einschneidenden Veränderungen in den letzten 50<br />
Jahren andere konkrete Inhalte vorschreiben als in frü -<br />
heren Zeiten. So werden nicht nur die von G. Schmidt<br />
(2000) vorgebrachte soziogene Entmystifizierung der<br />
Sexualität, sondern auch die durch die Akzeleration<br />
bedingten biologischen Veränderungen einbezogen<br />
sein. Vielleicht liegt in nebeneinander existenten<br />
Gruppenmoralitäten sogar die bessere Chance, dass<br />
die Vorverlegung der Menarche eher anerkannt wird<br />
als bisher die Verlängerung der Lebensdauer, die<br />
schein bar unvermutet als „demographischer Faktor“<br />
unsere heutigen Rentenpolitiker zu hektischem Han -<br />
deln nötigt.<br />
Als bei den Anhörungen zur großen Strafrechts -<br />
reform vor 30 Jahren der Hamburger Sexualforscher<br />
Eberhard Schorsch die empirisch gesicherte Tatsache<br />
zur Sprache brachte, dass seit Einführung des Straf -<br />
gesetzbuches 1871 die Menarche um mindestens drei<br />
Jahre früher eintritt, und er daraus den Vorschlag formulierte,<br />
das Schutzalter in § 176 StGB von 14 auf 12<br />
Jahre herabzusetzen, erntete er bei erzkonservativen<br />
Juristen heftigste Entrüstung und auch bei vielen Zeit -<br />
ge nossen kopfschüttelnde Ablehnung. Wer heute diesen<br />
entwicklungspsychologisch gerechtfertigten Vor -<br />
schlag wiederholen wollte, müsste angesichts der fe -<br />
ministisch aufgeheizten öffentlichen Atmosphäre ge -<br />
gen Pädophile mit weit härteren Hostilitäten rechnen.<br />
Die im Grundgesetz garantierten Freiheitsrechte<br />
der Meinung und Forschung (Artikel IV und V GG)<br />
scheinen in den letzten Jahren des zweiten Jahr -<br />
tausends nicht mehr so unangetastet zu sein wie in den<br />
45 Jahren davor. Die Sexualmedizin / Sexualwis sen -<br />
schaft kennt fachspezifisch heftige Positionskämpfe<br />
verschiedener Schulen; hier folgen Strömungen und
Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutschland 179<br />
Ge genströmungen schneller aufeinander als etwa in<br />
den Naturwissenschaften. Der sexualmedizinische Er -<br />
kenntnisfortschritt erweist sich am stabilsten, wenn er<br />
von einem bio-psycho-sozialen Menschenbild ausgeht,<br />
in dem die Sexualität ein weitgehend autonomes<br />
Eigenleben besitzt, dem Politiker oder Planungs kom -<br />
missionen nur marginal Gewalt antun können.<br />
Wohl jeder außereuropäische Staatsmann oder So -<br />
zial politiker wäre erleichtert und froh, wenn angesichts<br />
der HIV/AIDS-Pandemie in seinem Lande nur<br />
ein unterschwelliger Schwelbrand wie in Deutschland<br />
zu bekämpfen wäre. Aber dieser HIV/AIDS-Schwel -<br />
brand hier ist in der sexuellen Wirklichkeit unserer<br />
Zeit ohne jede amtliche Kontrolle und letztlich auch<br />
nicht kontrollierbar. Der bisher für Deutschland relativ<br />
glimpfliche Ausgang darf nicht darüber hinwegtäuschen,<br />
dass sich hinter den nüchternen Statistik-Zah -<br />
len unendlich viel persönliches Leid und biographische<br />
Tragödien verbergen, unter ihnen einige vielleicht<br />
vermeidbare.<br />
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Adresse des Autors<br />
Prof. em. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Wille, Sexualmed. Forschungs- u. Beratungsstelle am Klinikum der Universität Kiel, Arnold-Heller-Str. 12, 24105 Kiel
Fortbildung<br />
Sexuologie<br />
Prostaglandin E1 und lokale Therapie<br />
der erektilen Dysfunktion<br />
Tim Schneider, Herbert Sperling, Herbert Rübben<br />
Prostaglandin E1 and local<br />
Therapy of Erectile Dysfunction<br />
Abstract<br />
Male erectile dysfunction has been accepted as a disease<br />
in public and its therapy has changed profoundly during<br />
this evolution. Besides oral therapy, intracavernosal injection-therapy<br />
and the Medicated Urethral System for Erec -<br />
tion (MUSE ® ) still have their place in the treatment of ED,<br />
although they are mostly used as second-line therapy in<br />
sidenafil-non-responders or patients with contraindica -<br />
tions against oral medication. The leading substance is<br />
prostaglandin E1 (PGE1), which reaches response-rates of<br />
70-75% in more than 10.000 patients treated in a clinical<br />
setting by intracavernous injection therapy. At home response-rates<br />
did even reach 90%. Success-rates of papaverine<br />
alone or in combination with phentolamine do not<br />
surpass 70% in most studies and priapism is reported in<br />
more than 10%. MUSE ® is available in the EU since 1999<br />
and provides a needle-independent option for patients<br />
suffering from ED. Athough first encouraging results of<br />
response-rates greater than 70% are reported, 30-35%<br />
seems to be a realistic response-rate, that can be achieved<br />
with the 500 and 1000µg dosage. Local transdermal<br />
application of PGE1 is in clinical testing and seems to provide<br />
encouraging success-rates. Finally, local therapy is still<br />
one of the main therapeutical options and a wider variety<br />
of pharmacological substances and applications for local<br />
use can be expected in the nearby future.<br />
Keywords: Erectile dysfunction, Prostaglandin E1, Alprosta -<br />
dil, SKAT, MUSE<br />
Zusammenfassung<br />
Parallel zur Anerkennung der erektilen Dysfunktion (ED)<br />
des Mannes als Erkrankung hat sich auch die Therapie der<br />
ED grundlegend gewandelt. Derzeit existieren mit der<br />
Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT) vasoaktiver<br />
Substanzen, dem Medicated Urethral System for Erection<br />
(MUSE ® ) und verschiedenen oral applizierbaren Sub stan -<br />
zen multiple potente Therapieoptionen der ED. Die lokale<br />
Therapie der ED wird mittlerweile meist als Second-line<br />
Therapie eingesetzt. Führend in der lokalen Therapie der<br />
ED ist das Prostaglandin E1 (PGE1). Bei mittlerweile über<br />
10.000 in Studien mittels SKAT behandelten Patienten<br />
wur de eine Erfolgsrate von 70-75% bei intrakavernöser<br />
Injektion in der Klinik erzielt. Unter häuslichen Bedingun -<br />
gen liegen die Erfolgsraten sogar über 90%. Die Erfolgs ra -<br />
ten von Papaverin allein oder in Kombination mit Phen to -<br />
lamin bei der SKAT liegen nicht über 70% und in über<br />
10% der Fälle kommt es zu Priapismen. Die intraurethrale<br />
Applikation von PGE1 stellt eine nadelfreie Alter native zur<br />
SKAT dar und ist seit 1999 in der EU zugelassen. MUSE ® ‚<br />
bietet allen Patienten mit Abneigung ge gen SKAT aufgrund<br />
der Spritzengebundenheit oder Kon traindikationen<br />
gegen SKAT bzw. orale Präparate eine ergänzende The -<br />
rapieoption. Trotz anfänglichen Berichte von einer Wir -<br />
kungsrate bis zu 70% scheint insgesamt eine An sprech -<br />
rate von MUSE ® ‚ von 30-35% bei Einsatz der höheren<br />
Konzentrationen (500-1000µg) in häuslicher Um ge bung<br />
realistisch. Die lokale transdermale Applika tion von PGE1<br />
findet sich derzeit noch in klinischer Tes tung, scheint aber<br />
ebenfalls erfolgversprechend. Schluss endlich hat die lokale<br />
Therapie weiterhin einen festen Platz in der Behandlung<br />
der ED, wobei das verfügbare Armen tarium durch weitere<br />
Produkte sicherlich noch er weitert wird.<br />
Schlüsselworte: Erektile Dysfunktion, Prostaglandin E1,<br />
Alprostadil, SKAT, MUSE<br />
Einleitung<br />
Nach der Enttabuisierung der erektilen Dysfunktion<br />
(ED) des Mannes und Anerkennung als Erkrankung<br />
durch die Weltgesundheitsorganisation, wird die ED<br />
in zwischen als Erkrankung mit ausgeprägtem Verlust<br />
an Lebensqualität und konsekutiver Problematik für<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 180 – 185 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 181<br />
die Partnerbeziehung sozial akzeptiert. Parallel zu dieser<br />
Entwicklung hat sich auch die Therapie der ED<br />
grundlegend gewandelt. Nachdem anfänglich neben<br />
Phytotherapeutika nur operativ rekonstruierende oder<br />
mechanische Hilfsmittel wie die Vakuumerektions -<br />
hilfe als therapeutische Optionen der ED zur Ver fü -<br />
gung standen, existieren zum heutigen Zeitpunkt mit<br />
der Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT)<br />
vasoaktiver Substanzen und dem Medicated Urethral<br />
System for Erection (MUSE ® ) wirksame lokale The -<br />
ra pieoptionen. Zusätzlich ergänzen oral applizierbare<br />
Substanzen mit peripherem Wirkmechanismus wie<br />
z.B. die Phosphodiesterase-Typ-V-(PDE-5)-Inhibito -<br />
ren und auch zentralem Wirkansatz wie das Apo mor -<br />
phin die therapeutischen Möglichkeiten der ED. Wei -<br />
tere oral oder auch lokal applizierbare Substanzen be -<br />
finden sich in der klinischen Erprobung und werden<br />
demnächst die bereits verfügbaren Therapieoptionen<br />
ergänzen.<br />
Das Ziel dieser Reihe von Übersichtsarbeiten ist<br />
es, die derzeit und demnächst zur Verfügung stehenden<br />
Therapieoptionen im einzelnen aufzuzeigen. Im<br />
Rahmen dieser ersten Arbeit soll daher die lokale<br />
Therapie der ED unter der besonderen Be rück sichti -<br />
gung des Prostaglandin E1 (PGE1) vorgestellt werden.<br />
Schwellkörper-Autoinjektions -<br />
therapie (SKAT)<br />
Bis zur Markteinführung von Sildenafil war die<br />
Schwell körperpharmakontherapie der Goldstandard in<br />
der Behandlung der ED als First-line Therapie. Mitt -<br />
ler weile sind multiple oral applizierbare Pharmaka<br />
verfügbar, so dass die SKAT-Therapie bis auf wenige<br />
Ausnahmen (z.B. absolute Kontraindikationen gegen<br />
orale Medikation) als Second-line Therapie bei unzureichender<br />
Wirkung oraler Pharmaka eingesetzt wird.<br />
Durch die direkte Applikation des Pharmakons in das<br />
Corpus cavernosum können hohe lokale Wirkstoff -<br />
konzentrationen erzielt werden, welche zu einer guten<br />
Wirkungs-Nebenwirkungs-Relation führen. Mit einer<br />
Effektivität von 70-80% ist die SKAT-Therapie hochwirksam<br />
und bietet durch die direkte intrakavernöse<br />
Applikation nur geringe systemische Nebenwirkun -<br />
gen (Stief et al. 2000). Schlußendlich ist SKAT für Pa -<br />
tienten, die eine möglichst rasche Erektion wünschen,<br />
die auf eine orale Medikation nicht reagieren oder<br />
aber eine Kontraindikation zu einer solchen aufweisen<br />
eine optimale Therapieoption, wenngleich sicherlich<br />
die Notwendigkeit der Selbstinjektion eine Einbuße<br />
im Anwendungskomfort gegenüber den oralen Präpa -<br />
raten darstellt.<br />
Anwendung<br />
Die Injektion in den Penis erfolgt basisnah lateral im<br />
Winkel von 90° in das Corpus cavernosum zur Ver -<br />
meidung einer Läsion der Harnröhre oder des Gefäß -<br />
nervenbündels (Abb.1). Verwendet werden sollten 27-<br />
29 Gauge Kanülen. Nach der diagnostischen Schwell -<br />
körperinjektion durch den Arzt, bietet sich für die<br />
Anleitung des Patienten zunächst die Probe injektion<br />
von Kochsalz an. Eine sitzende Haltung auf der Kante<br />
der Untersuchungsliege ist anzuraten. Hat der Patient<br />
unter ärztlicher Anleitung die SKAT-Tech nik erlernt,<br />
kann diese nachfolgend eigenständig unter häuslichen<br />
Bedingungen durchgeführt werden.<br />
Für den dauerhaften Erfolg der SKAT ist sowohl<br />
eine sorgfältige Patientenselektion als auch eine suffiziente<br />
Anleitung durch den Mediziner in Bezug auf<br />
die Applikationsweise notwendig. Hierdurch kann die<br />
Zahl der Therapieabbrecher gering gehalten werden.<br />
Patienten mit Gerinnungsstörungen, unter Therapie<br />
mit Antikoagulatien oder die aufgrund kardialer Vor -<br />
schäden sexuelle Aktivität unterlassen sollten als auch<br />
Patienten mit stattgehabtem Priapismus oder hochgradiger<br />
Induratio Penis Plastica sollte diese The rapie<br />
nicht offeriert werden. Weiterhin sollte SKAT Pa tien -<br />
ten mit unzureichendem manuellem Geschick, extremer<br />
Adipositas oder ausgeprägten psychischen Stö -<br />
run gen nicht angeboten werden. Eine schriftliche Ein -<br />
willigung des Patienten vor der erstmaligen diagnostischen<br />
Schwellkörperinjektion (SKIT) ist anzuraten.<br />
Neben penilen Schmerzen bei der Injektion kön nen<br />
Hämatome und Fibrosen der Schwellkörper auf treten.<br />
Kommt es zu der gefährlichsten Kompli ka tion der<br />
SKAT, der anhaltenden Dauererek tion über länger als<br />
6 Stunden (Priapismus), so ist eine sofortige fachurologische<br />
Vorstellung zur Vermeidung hypoxischer<br />
Dau erschäden des Schwellkörpergewebes notwendig.<br />
Abb. 1: Technik der Schwellkörperautoinjektionstherapie mit lateraler Injektion un -<br />
ter Schonung der Harnröhre und des dorsalen Gefäßnervenbündels (Bildmaterial mit<br />
freundlicher Genehmigung der Hoyer-Madaus GmbH, Monheim)
182 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />
Prostaglandin E1 (z.B. Caverject ® ,<br />
Viridal ® )<br />
Pharmakologie<br />
Prostaglandine und weitere Produkte des Arachidon -<br />
säu re stoffwechsels finden sich nahezu ubiquitär im<br />
menschlichen Organismus und weisen ein erstaunlich<br />
breites Wirkungsspektrum auf. Sie werden auch als<br />
Ge webshormone bezeichnet und werden in den unterschiedlichen<br />
Zellen und Organen auf verschiedene<br />
Sti muli jeweils neu synthetisiert und freigesetzt<br />
(Giertz et al. 1992). Auch PGE1 gehört zu der Gruppe<br />
der Prostanoide, die als Mediatoren multipler physiologischer<br />
Prozesse in den meisten menschlichen Ge -<br />
weben vorkommen (Abb. 2). Bei der lokalen Therapie<br />
der ED wirkt PGE1 relaxierend auf die glatte Schwell -<br />
kör permuskulatur. Über Bindung an spezifische Re -<br />
zep toren an der Zellwand wird die membranständige<br />
Adenylatzyklase aktiviert, woraus eine in tra zelluläre<br />
cAMP-Erhöhung resultiert, die eine komplexe intrazelluläre<br />
Regulationskaskade aktiviert und schluss -<br />
end lich über sinkende Kalziumspiegel zu einer Re la -<br />
xation der Muskulatur führt. Diskutiert wird auch eine<br />
präsynaptische Hemmung der Noradrenalinfrei set -<br />
zung aus adrenergen Nervenendigungen. PGE1 hat<br />
eine Plasmahalbwertzeit von 15µg PGE1 auftreten<br />
und durch Zusatz von Natriumbikarbonat oder<br />
Pro cain gemildert werden können. Priapismen finden<br />
sich nach der Titrationsphase selten (bis 1%), häufiger<br />
werden penile Fibrosen beklagt (7-11%), die aber zu<br />
50% spontan abheilen und damit nur in 5-7% der<br />
Patienten nach langjähriger Therapie zu persistierenden<br />
Fibrosen führen (Montorsi 2002).<br />
Weiterhin wird durch die intrakavernöse Applika -<br />
tion von PGE1 ein „Trainingseffekt“ der glatten sinusoidalen<br />
Muskulatur beschrieben. Dies konnte über<br />
ver besserte penile arterielle Flußwerte in der Doppler -<br />
sonographie nachgewiesen werden und resultierte in<br />
wiederkehrenden Spontanerektionen in 37% von 70<br />
Patienten nach 12 Monaten in der Studie von Brock<br />
und Mitarbeitern (2001). Ebenfalls wird eine Neovas -<br />
ku larisation des kavernösen Gewebes diskutiert, die<br />
bislang aber histologisch nicht nachgewiesen werden<br />
konnte.<br />
Papaverin<br />
Pharmakologie<br />
Papaverinhydrochlorid ist ein Opiumalkaloid, welches<br />
über die Hemmung der Phosphodiesterase zu einer<br />
Vermehrung von cAMP und cGMP führt und die !1-<br />
Rezeptor-vermittelte Kontraktion der glatten Muskel -<br />
zel len über Beeinflussung der Kalziummobilisation<br />
ab schwächt. Bei intrakavernöser Applikation resultiert<br />
eine Relaxation der glatten Muskelzellen (Wang und<br />
Large 1991). Papaverin wird hepatisch metabolisiert<br />
und ist hepatotoxisch wirksam, was einen Transami -<br />
nasenanstieg oder sogar eine medikamenten-induzierte<br />
Hepatitis bewirken kann (Montorsi 2002).<br />
Klinische Erfahrungen<br />
Die erste Publikation über die intrakavernöse Appli -<br />
kation von Papaverin beim Menschen erfolgte 1982<br />
von Virag. Inzwischen ist eine Erfolgsrate von 61%<br />
bei Injektion in der Klinik und Behandlung von insgesamt<br />
über 2000 Patienten in zahlreichen Studien dokumentiert<br />
(Porst 1996). Die Dosierung bei der Papa -<br />
verin-Monotherapie reicht von 10 – 60mg. Im Ver -<br />
gleich zu einer Erfolgsrate von 72% bei PGE1 konnte
Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 183<br />
in einer Studie mit 447 Patienten nur bei 31% der<br />
allein mit Papaverin behandelten Patienten eine suffiziente<br />
Erektion erzielt werden (Porst 1989). Aufgrund<br />
der o.g. hepatotoxischen Wirkung und einer Priapis -<br />
musrate von bis zu 18% ist die Monotherapie mit<br />
Papaverin verlassen worden, wenngleich die problemlose<br />
Lagerung ohne Kühlung sowie der Preisvorteil<br />
sicherlich zu einer weiteren Existenz dieser Therapie<br />
insbesondere in finanzschwachen Ländern führen<br />
wer den (Montorsi 2002).<br />
Phentolamin / Papaverin<br />
(z.B. Androskat ® )<br />
Pharmakologie<br />
Phentolaminmesylat wirkt als ! 1 - und ! 2 -adrenerger<br />
Rezeptorblocker, der arterielle Gefässe dilatiert und<br />
die sympathische Hemmung der Erektion verhindert.<br />
Bei alleiniger intrakavernöser Applikation reicht die<br />
erektionsverstärkende Wirkung der Substanz nicht<br />
aus, so dass diese in Kombination mit Papaverin oder<br />
PGE1 gegeben wird.<br />
Klinische Erfahrungen<br />
1983 wurde von Brindley der Einsatz von Phento -<br />
lamin als Monotherapie bei ED erstmalig beschrieben.<br />
Im weiteren Verlauf hat sich die Kombinations the -<br />
rapie von Phentolamin mit Papaverin aber aufgrund<br />
bes serer Resultate durchgesetzt. Diese wurde 1985<br />
von Zorgniotti und Lefleur publiziert, die bei Gabe<br />
von 30mg Papaverin in Kombination mit 1mg Phen to -<br />
lamin eine Erfolgsrate von 71% bei 250 Patienten er -<br />
zielen konnten. In einer Studie mit 447 Patienten<br />
konnte bei 61% der mit einer Papaverin / Phento la -<br />
min-Kombination behandelten Patienten eine suffiziente<br />
Erektion erzielt werden, PGE1-Monotherapie<br />
zeig te eine Erfolgsrate von 72% (Porst 1989). Ins -<br />
gesamt liegt die Erfolgsrate der Kombinationstherapie<br />
bei 60-70%. Die Nebenwirkungsrate gleicht der alleinigen<br />
Papaverin-Therapie mit bis zu 15% Priapismen<br />
und 12% Fibrosierungen nach Langzeitgebrauch<br />
(Porst 1996).<br />
Heut zutage wird der Trimix ergänzend bei PGE1 Non-<br />
Respondern eingesetzt. Auch bei ausgeprägten penilen<br />
Schmerzen bei PGE1 Injektion stellt der Trimix<br />
mit seiner deutlich geringeren PGE1-Komponente<br />
eine therapeutische Option dar. Injiziert werden z.B.<br />
10.5mg Papaverin, 0.5mg Phentolamin und 5µg<br />
PGE1.<br />
Medicated Urethral System for<br />
Erection (medikamentöses urethrales<br />
System zur Erektions ver -<br />
stärkung) (MUSE ® )<br />
Die intraurethrale Applikation von PGE1 mittels eines<br />
sterilen Einmalsystems stellt eine nadelfreie Alter -<br />
native zur SKAT dar und ist seit 1999 in der EU zugelassen.<br />
MUSE # ist in den Stärken 250, 500 und<br />
1000µg PGE1 verfügbar und stellt für alle Patienten<br />
mit Abneigung gegen die intrakavernöse Injektion<br />
aufgrund der Spritzengebundenheit oder Kontraindi -<br />
ka tionen gegen SKAT bzw. orale Präparate eine ergänzende<br />
Therapieoption dar.<br />
Anwendung<br />
Die Erstanwendung sollte unter ärztlicher Aufsicht<br />
erfolgen, eine Anfangsdosis von 500µg hat sich in der<br />
Praxis bewährt (Abb.3). Vor der Applikation des<br />
Pellets sollte der Patient urinieren, da der verbleiben-<br />
Abb. 3: Anwendung des Medicated Urethral System for Erection (MUSE®) (Bild -<br />
material mit freundlicher Genehmigung der Abbott GmbH, Ludwigshafen)<br />
Prostaglandin E1 plus Phento la -<br />
min plus Papaverin (Trimix)<br />
Die sogenannte Trimix-Mischung von PGE 1, Phen -<br />
tolamin und Papaverin wurde 1991 von Benett und<br />
Mit arbeitern erstmalig beschrieben, die eine Erfolgs -<br />
rate von 92% bei 116 Patienten erzielen konnten.
184 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />
der Resturin in der Harnröhre für die Auflösung in der<br />
Harnröhre notwendig ist. Anschließend erfolgt eine<br />
Massage des Penis durch den Patienten zur Unter stüt -<br />
zung der Resorption des Pellets für 1 Minute.<br />
Das PGE1 wird vom Urothel der Harnröhre resorbiert<br />
und gelangt über kommunizierende Gefäße vom<br />
Corpus spongiosum in die Corpora cavernosa. Dort<br />
führt es, wie bei direkter intrakavernöser Gabe, zur<br />
Relaxation der glatten Muskelzellen und der kavernösen<br />
Arterien. 80% des intraurethral applizierten PGE1<br />
werden innerhalb der ersten 10 Min. resorbiert<br />
(Leung wattanakij et al. 2001). Nach 5-10 Min. be -<br />
ginnt die Wirkung des PGE1 und erreicht nach 20<br />
Min. die maximale erektile Antwort. Bei Dosierungen<br />
bis zu 1000µg wird eine Wirkdauer bis zu 80Min. be -<br />
schrieben (Leungwattanakij et al. 2001). Kontra indi -<br />
kationen sind bekannte Überempfindlichkeit gegen<br />
PGE1, Urethritis, schwere penile Anomalien wie ausgeprägte<br />
Harnröhrenengen oder Hypospadien, stattgehabter<br />
Priapismus und kardiale Schäden, die gegen<br />
eine sexuelle körperliche Betätigung sprechen. Wäh -<br />
rend der Schwangerschaft sollte MUSE ® nur un ter<br />
Ver wendung eines Kondoms angewandt werden.<br />
Klinische Erfahrungen<br />
Die Erfolgsraten der Anwendung von MUSE ® in der<br />
Klinik und auch unter häuslichen Bedingungen variieren<br />
in der <strong>Literatur</strong> sehr stark. Anfängliche klinische<br />
Studien zeigten eine Erfolgsrate von über 60% beim<br />
Einsatz in der Klinik (Padma-Nathan et al. 1997;<br />
Leung wattanakij et al. 2001). In einer koreanischen<br />
Mul ticenter Studie konnte ebenfalls bei 59% von 334<br />
Patienten in der Klinik behandelten Patienten eine suffiziente<br />
Erektion erzielt werden. Von diesen Res pon -<br />
dern berichteten weitere 78% über einen Erfolg der<br />
Therapie unter häuslichen Bedingungen (Kim et al.<br />
2000). Fulgham und Mitarbeiter konnten aber 1998<br />
nur eine Erfolgsrate von 13% bei 500µg und 30% bei<br />
der 1000µg Dosierung beobachten. Insgesamt ha ben<br />
in dieser Studie nur 18% der Patienten die The ra pie zu<br />
Hause fortgeführt. Trotz der o.g. anfänglichen Berich -<br />
te von einer Wirkungsrate bis zu 70% scheint insgesamt<br />
eine Ansprechrate von MUSE von 30-35% bei<br />
Einsatz der höheren Konzentrationen (500-1000µg) in<br />
häuslicher Umgebung realistisch (Stief et al. 2000).<br />
Bezüglich der Erfolgsrate ist die transurethrale<br />
Ap pli kation von PGE1 der intrakavernösen Applika -<br />
tion unterlegen. Shabsigh und Mitarbeiter (2000) be -<br />
richten in einer randomisierten Multicenterstudie von<br />
einer Erfolgsrate der SKAT von 82% im Ver gleich zu<br />
53% bei MUSE ® . Bei Misserfolg von MUSE ® ist<br />
Sildenafil in einem großen Prozentsatz der Patien ten<br />
erfolgreich, wohingegen der Einsatz von MUSE ® bei<br />
Sildenafil-Non-Respondern bei einer Er folgs rate von<br />
weniger als 1% wenig erfolgversprechend ist (Mydlo<br />
2000a). Trotzdem kann ggf. eine Kombination beider<br />
Therapieoptionen zu einem Therapieerfolg führen<br />
(Mydlo et al. 2000b).<br />
Nebenwirkungen sind vor allem penile Schmerzen<br />
bei bis zu 41% der Nutzer, sowie Schwindel (14%)<br />
und Mikro- bzw. Makrohämaturie bei weiteren 5%.<br />
Dauererektionen oder Harnröhrenstrikturen wurden<br />
bislang nicht beobachtet, wenngleich Harnwegsin fek -<br />
te in bis zu 0.2% auftreten. Bis auf eine Kasuistik sind<br />
Priapismen nicht bekannt (Padma-Nathan et al. 1997;<br />
Spivack et al. 1997; Leungwattanakij et al. 2001). Als<br />
Nebenwirkungen bei der Frau wird selten eine Vagi -<br />
nitis beschrieben, die jedoch zum Teil auf eine unzureichende<br />
Lubrikation der Vagina und auch lange se -<br />
xu elle Abstinenz zurückgeführt wird (Leungwatta -<br />
nakij et al. 2001).<br />
Transdermale lokale Prostaglan -<br />
din E1-Applikation<br />
(z.B. Topiglan ® )<br />
Neben der transurethralen und intrakavernösen<br />
Applikation von PGE1 bzw. anderen erektionsför -<br />
dern den Substanzen erscheint insbesondere eine trans -<br />
dermale Applikation in Form von Salbe bzw. Gel<br />
attraktiv. Erste Ergebnisse existieren mit topischem<br />
PGE1 (Topiglan # ), welches bei bis zu 38% der<br />
Patienten und Anwendung in der Klinik zu suffizienten<br />
Erektionen geführt hat (Goldstein et al 2001).<br />
Daten über die koitale Erfolgsrate bei Anwendung zu<br />
Hause stehen derzeit noch nicht zur Verfügung, werden<br />
aber nach Abschluss einer aktuell laufenden Phase<br />
III-Studie an 460 Paaren demnächst publiziert werden.<br />
(McMahon 2002). Das Gel wird direkt auf die Glans<br />
aufgetragen und die Resorption des Pharmakons wird<br />
durch einen Enhancer (SEPA: soft enhancer of percutaneous<br />
absorption, eine spezielle Substanz, die die<br />
Resorption durch eine reversible Veränderung der<br />
Lipid struktur des Stratum corneum steigert) vermittelt.<br />
Brennen und Rötung der Penishaut wurden von<br />
20% der Patienten bei primärer Applikation des Gels<br />
auf Penisschaft und Glans beklagt, so dass Topiglan#<br />
nur noch auf die Glans aufgetragen wird (McVary et<br />
al.1999; McMahon 2002). Nebenwirkungen beim<br />
weiblichen Partner wurden durch direkte intravaginale<br />
Applikation und eine Phase-III-Studie an 37 Paaren<br />
untersucht, hier zeigte sich kein signifikanter Unter -<br />
schied zwischen Topiglan # und Placebo (McMahon<br />
2002). Lokale Symptome waren leichtes Brennen oder<br />
Irritationen wie bei post-menopausalen Beschwerden.
Prostaglandin E1 und lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 185<br />
Schlussfolgerung<br />
Trotz der zunehmenden Anzahl an oral applizierbaren<br />
Substanzen zur Therapie der ED hat die lokale The -<br />
rapie mit der intrakavernösen, intraurethralen sowie<br />
trans dermalen Applikation erektionsfördernder Sub -<br />
stanzen ihren festen Platz in der Therapie der ED.<br />
Wäh rend insbesondere die SKAT bis vor kurzem als<br />
First-line Therapie angewandt wurde, wird sie heute<br />
meist erst bei Misserfolg der oralen Präparate oder<br />
Kontraindikationen gegen diese eingesetzt. Auch bietet<br />
die lokale Applikation von Pharmaka gegenüber<br />
der oralen einen deutlichen Vorteil bzgl. des Neben -<br />
wirkungspektrums und eine nahezu sofort einsetzende<br />
Wirkung ohne größere Latenzzeiten. Ein weiterer<br />
The ra pieansatz, der zunehmend verfolgt wird, ist die<br />
Kombinationstherapie oraler und lokaler Verfahren<br />
zur Steigerung der Erfolgsraten der jeweiligen Einzel -<br />
substanzen. Unter allen lokal applizierbaren Substan -<br />
zen nimmt das PGE1 derzeit die führende Rolle ein.<br />
Dennoch befinden sich weitere Substanzen zur lokalen<br />
Applikation in der Entwicklung, so dass mit einer<br />
weiteren Verbesserung der Erfolgsraten und Ausdeh -<br />
nung der lokalen Therapieoptionen in naher Zukunft<br />
zu rechnen ist.<br />
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Adresse der Autoren<br />
Dr. med. Tim Schneider, Dr. med. Herbert Sperling, Prof. Dr. med. Dr. h.c. Herbert Rübben, Urologische Universitätsklinik Essen, Hufelandstr. 55,<br />
45122 Essen, mail: tim.schneider@uni-essen.de
Diskussion<br />
Sexuologie<br />
Betreuungsrecht und Kindesmissbrauch –<br />
Eine selten genutzte Ergänzung des<br />
Strafrechts<br />
Guido Loyen, Wolfgang Raack<br />
Rigth of Custody and Childabuse<br />
– A seldom used Complement of<br />
Penalsystem<br />
Immer wieder, wenn die Öffentlichkeit ein besonders<br />
brutales Sexualverbrechen diskutiert, werden Stim -<br />
men laut, die schärfere Gesetze fordern. So titelte im<br />
Fall der neunjährigen Peggy die Welt am Sonn tag vom<br />
20. 5. 2001: „Schär ferer Kampf gegen Sexualstraftäter<br />
– Siche rungs verwahrung und Zwangs-Kastration<br />
gefordert“. Die öffentliche Diskussion scheint wie<br />
selbst verständlich vorauszusetzen, dass harte Strafen<br />
die einzig denkbare Reaktion sind und dass nach deren<br />
Ver büßung der Wiederholungsgefahr durch „Weg sper -<br />
ren“ vorgebeugt werden sollte.<br />
Abseits von derartigen publikumswirksamen For -<br />
de rungen wollen die Autoren die bereits vorhandenen<br />
gesetzlichen Möglichkeiten aus juristischer und ärztlicher<br />
Sicht diskutieren und an Hand eines über vier<br />
Jahre beobachteten Falles überlegen, inwiefern das<br />
Betreuungsrecht als Resozialisierungsmaßnahme dazu<br />
beitragen kann, den Schutz der Opfer vor den Tätern<br />
und der Täter vor sich selbst zu verbessern.<br />
Sexueller Mißbrauch von Kindern ist häufig. Die<br />
diesbezüglich umfassendste Studie für Deutschland<br />
stammt von Wetzels (1997): Bei enger Definition se -<br />
xu ellen Mißbrauchs (sexuelle Berührung, Penetration)<br />
fand er eine Prävalenzrate von 8,6% für Frauen und<br />
2,8% für Männer. Bei Zugrundelegung einer weiter<br />
ge fassten Definition (z. B. Exhibitionismus) stiegen<br />
diese Raten auf 18,1% für Frauen und 7,3% für Män -<br />
ner. In 27,1 % der Fälle waren die Täter Familien an -<br />
gehörige. Bezogen auf ein enges Inzestverhältnis (d.h.<br />
Väter bzw. Stiefväter als Täter) fanden sich Opferraten<br />
von 1,3% bei Frauen und 0,3% bei Männern. Die<br />
Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2000 nennt<br />
15.581 Fälle von sexuellem Kindesmißbrauch. Beier<br />
et al. (2001, 405) schätzt die Dunkelzifferrate auf 1 :<br />
5, d.h. auf ein gemeldetes kommen fünf nicht gemeldete<br />
De lik te.<br />
Sexueller Missbrauch von Kindern kann in sehr<br />
un ter schiedlicher Form geschehen. So ist immer wieder<br />
die Frage aufgeworfen worden, ob es nicht auch<br />
un pro ble matische pädosexuelle Handlungen geben<br />
könne (Lautmann 1994). Dannecker (2001) tritt dieser<br />
Auf fassung jedoch entschieden entgegen: „die klinische<br />
Erfahrung (...) ist Grund genug, den generellen<br />
Trau maverdacht, unter dem der sexuelle Mißbrauch<br />
steht, aufrecht zu erhalten“. Hirsch (1999) und Singer-<br />
Kap lan (2000) haben die Folgen sexuellen Miß -<br />
brauchs im Sinne einer schweren Störung der Persön -<br />
lichkeitsent wicklung und insbesondere der Bezie -<br />
hungs fähigkeit ausführlich beschrieben.<br />
Es kommt immer wieder vor, dass Täter ihrerseits<br />
sexuell missbraucht worden sind – für die Mehrzahl<br />
gilt dies aber nicht. Das psychoanalytische Konzept<br />
des Wiederholungszwangs erklärt dies als Identifi ka -<br />
tion mit dem Aggressor: Das frühere Opfer wird zum<br />
Täter, kann so die in der Kindheit erlebte Ohnmacht<br />
abwehren (Hirsch 1999). Die häufige Wiederholung<br />
mit vertauschten Rollen ist aber auch verhaltensmedizinisch<br />
im Sinne des Lernens am Modell erklärbar.<br />
Wirksame Prävention müßte an dieser Stelle einsetzen,<br />
um die Weitergabe dieses Verhaltensmusters zu<br />
un ter brechen.<br />
Trotz dieser schwerwiegenden Schäden werden<br />
nur die wenigsten Täter tatsächlich juristisch zur Ver -<br />
antwortung gezogen. Oft ist die Tat schwer nachzu -<br />
wei sen, die Täter entstammen dem engsten Fami lien -<br />
kreis und belegen die Kinder mit Sprechverbot. Ande -<br />
rerseits ist die Überwachung tatsächlich verurteilter<br />
Täter oft lückenhaft und zeitlich begrenzt.<br />
Die Rückfallgefahr ist schwer zu objektivieren, in<br />
der <strong>Literatur</strong> werden sehr unterschiedliche Zahlen ge -<br />
nannt, je nachdem welche Deliktgruppen ein- bzw.<br />
aus geschlossen werden. Egg (2000) geht für die<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 186 – 191 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 187<br />
Gruppe der Vergewaltiger und Kindesmißbraucher<br />
von 12-20% aus, Nedopil (2000) geht von einer Rück -<br />
fall quote von 50% aus. Die Polizeiliche Kriminal sta -<br />
tistik für das Jahr 2000 nennt eine Zahl von 45,3%.<br />
Beier (in: Beier et al. 2001) hat darauf hingewiesen,<br />
dass die Rück fallgefahr von der differentialtypologischen<br />
Zuord nung der Täter abhänge. So würden bei<br />
den „genuinen Pädophilen“, also Tätern mit pädophiler<br />
Haupt- oder Nebenströmung etwa die Hälfte bis<br />
mehr als drei viertel dieser Täter erneut dissexuell auffällig,<br />
während die sexuell unerfahrenen Jugendlichen<br />
und auch die stark intelligenzgeminderten Täter nur zu<br />
einem Zehn tel bis maximal einem Viertel erneut straffällig<br />
würden. Besonders schwer einschätzbar blieben<br />
die dissozialen Persönlichkeiten.<br />
Die meisten tatsächlich verurteilten und inhaftierten<br />
Täter müssen selbst bei vermuteter weiterer Ge -<br />
fährlichkeit entlassen werden. Und was geschieht<br />
dann?<br />
Nach Nedopil (2000) könne der Schutz der Gesell -<br />
schaft vor schuldfähigen Straftätern, die seit ihrer Ver -<br />
urteilung keine zusätzliche psychische Störung entwickelt<br />
haben, nicht Aufgabe der Psychiatrie sein. Er<br />
warnt vehement davor, den Krankheitsbegriff auf eine<br />
reine „Gefährlichkeit“ auszudehnen. Wichtig sei die<br />
Un terscheidung zwischen juristischem Krankheits -<br />
begriff, der v. a. auf die Ausprägung und das Ausmaß<br />
der jeweiligen Störung abhebt und dem medizinischen<br />
Krankheitsbegriff, der in einem ganz anderen Kontext<br />
zu sehen sei. Für Wiederholungsstraftäter müssten an -<br />
dere Lösungen als das „Wegsperren“ gefunden werden.<br />
Aber wie könnten die konkret aussehen ?<br />
Fallbeschreibung<br />
Der Täter, im Folgenden Hr. V. genannt (jetzt 27 Jahre<br />
alt), war zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt. Die erste psychiatrische<br />
Begutachtung durch den ärztlichen Autor<br />
erfolgte 1998, zu diesem Zeitpunkt hatte Hr. V. seine<br />
vierjährige Jugendhaftstrafe verbüßt. An laß der<br />
Begutachtung war die Einschätzung von seiten der<br />
Strafvollzugsbehörde, bei Hr. V. bestehe ein deutliches<br />
Gewaltpotential, die Rückfallgefahr wurde als „eher<br />
wahrscheinlich“ eingeschätzt. Bis zum Jahre 2001<br />
erfolgten insgesamt 4 ausführliche psychiatrische<br />
Untersuchungen, in die auch die Eindrücke des<br />
Betreuers und die ausführlichen Therapieberichte des<br />
Therapeuten eingingen. Nachdem der Bruder des Hr.<br />
V. (im Folgenden Hr. B. genannt) 2001 in den Ver -<br />
dacht geriet, seine Tochter mißbraucht zu haben – es<br />
handelte sich hierbei um eines der Mädchen, die schon<br />
Hr. V. mißbraucht hatte – erfolgte eine Begutachtung<br />
des Hr. B. wie auch der Kindsmutter sowie weiterer<br />
Familienangehöriger, so dass sich ein recht differenziertes<br />
Bild der familiären Situation ergab:<br />
Hr. V. ist das siebte von acht Kindern: drei Schwes -<br />
tern (+5, +4, +3 Jahre), drei Brüder (+8, +5, +1 Jahre)<br />
und ein Halbbruder (-3 Jahre). Die Großfamilie lebte<br />
ur sprüng lich in einer rheinischen Kleinstadt. Der Va -<br />
ter (heute 57 Jahre alt) war ursprünglich Bauarbeiter,<br />
ist seit 24 Jahren arbeitslos, seither lebt die Familie<br />
von der Sozialhilfe. Mehrere Familienangehörige be -<br />
schrei ben regelmäßigen Alkoholkonsum und Gewalt -<br />
ausbrüche, insbesondere gegenüber den Söhnen und<br />
der Ehefrau und sexuelle Nötigung der Ehefrau und<br />
von Bekannten im Beisein der Kinder. Die Mutter<br />
(heute 53 Jahre alt) wird als an ihren Kindern wenig<br />
interessiert und passiv beschrieben. Die Eltern verlieren<br />
das Sorgerecht für ihre drei Töchter aufgrund<br />
schwerer Verwahrlosung, diese wachsen bei Pflege -<br />
eltern auf und kommen erst mit ca. 20 Jahren wieder<br />
in Kontakt mit der Ursprungsfamilie. Der Halbbruder<br />
P. wuchs außerhalb dieser Familie auf.<br />
Die beiden Brüder des Hr. V. – Hr. B. und der später<br />
an einem hypoglykämischen Schock verstorbene<br />
Hr. H. – wachsen ab etwa dem 7. Lebensjahr in einem<br />
Heim für schwer erziehbare Jugendliche auf. Hr. B.<br />
wird im Heim mehrfach wegen aggressiver Verhal -<br />
tens weisen und zeitweiligen Alkohol- und Drogen -<br />
konsums auffällig. Im Rahmen des Verfahrens gegen<br />
Hr. B. gibt dieser zu, seine Ehefrau über Jahre regel -<br />
mäßig vergewaltigt zu haben.<br />
Hr. V. war somit das einzige der Kinder, das ununterbrochen<br />
in der Ursprungsfamilie aufwuchs. Im<br />
Alter von sieben Jahren musste Hr. V. wegen aggressiver<br />
Verhaltensweisen die Schule wechseln und be -<br />
such te dann aufgrund intellektueller Defizite eine<br />
Lern- und Sprachbehindertenschule. Er selbst berichtete<br />
in diesem Zusammenhang über Unruhezustände<br />
und Konzentrationsstörungen, er sei auch „sprachfaul“<br />
gewesen und habe gestottert. Eine testpsychologische<br />
Quantifizierung der Intelligenzanlage erfolgte<br />
zu keinem Zeitpunkt. Ob bei Hr. V. eine Aufmerk sam -<br />
keitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHD) (Boerner<br />
2001) vorgelegen haben könnte, war im Nachhinein<br />
nicht zu klären. Im Rahmen der Sonderschule erwarb<br />
er den Hauptschulabschluss. Seit dem 16. Lebensjahr<br />
arbeitete er als Hilfsarbeiter im Baugewerbe.<br />
Er schildert sich selbst als „zurückgezogenes<br />
Kind“, habe wenige Freunde gehabt. Er berichtete, im<br />
Alter von elf Jahren von seinem damals 20-jährigen<br />
Bruder (dem später verstorbenen Hr. H.) sexuell<br />
mißbraucht worden zu sein, dies sei ihm damals „ganz<br />
normal vorgekommen“. Im Alter von ca. 14 Jahren<br />
habe er begonnen, sich regelmäßig selbst zu befriedi-
188 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />
gen, in seinen Fantasien habe er sich sowohl Kinder<br />
als auch gleichaltrige Frauen vorgestellt. Mit 16/17<br />
Jahren habe er wenige Monate eine erste Freundin<br />
gehabt, mit ihr aber nicht sexuell verkehrt. Mit 19<br />
habe er zum ersten mal sexuellen Verkehr mit einer<br />
gleichaltrigen Frau gehabt, die Beziehung sei durch<br />
seine Inhaftierung beendet worden.<br />
Seit etwa dem 18. Lebensjahr lebte er im Haushalt<br />
des Bruders (Hr. B.), dessen Ehefrau und deren drei<br />
Kinder (damals 5, 4 und 3 Jahre). Er wurde von der<br />
Schwägerin überrascht, als er gerade im Begriff war,<br />
sich masturbatorisch an seinem vierjährigen Neffen zu<br />
befriedigen. Im Verlaufe des Gerichtsprozesses wurde<br />
offenkundig, dass er die Kinder mehrfach mißbraucht<br />
hatte. Er wurde wegen sexuellen Mißbrauchs von Kin -<br />
dern in sieben Fällen, einmal in Tateinheit mit Kör -<br />
perverletzung, zu einer vierjährigen Jugendstrafe verurteilt.<br />
Bei der Entlassung aus der JVA wurde ihm ein<br />
deut liches Gewaltpotential bei steigendem inneren<br />
und äußeren Druck attestiert, die Rückfallgefahr als<br />
„eher wahrscheinlich“ eingeschätzt.<br />
Zum Zeitpunkt der ersten betreuungsrechtlichten<br />
Begutachtung 1998 war er nun 24 Jahre alt und hatte<br />
die Haftstrafe verbüßt. Er bezeichnete sich selbst als<br />
„möglicherweise bisexuell „, schilderte jedoch immer<br />
noch sexuelle Fantasien mit Kindern. Eine Partnerin<br />
hatte er nicht. Er wirkte selbstunsicher, Ich-schwach<br />
und besaß ein nur wenig ausgeprägtes Problembe -<br />
wusst sein und tendierte dazu, seine sexuellen Fanta -<br />
sien zu verharmlosen. Auf Grund des mangelnden<br />
Problembewusstseins fehlte auch ein echtes Interesse<br />
an einer Therapie. Er selbst schätzte seine Rück -<br />
fallgefahr mit „30 zu 70“ ein. Auffällig waren insbesondere<br />
starke Stimmungsschwankungen und eine nur<br />
gering ausgebildete Fähigkeit, Frustrationen zu ertragen.<br />
Sein Verhalten wirkte sehr spontan, und er klagte<br />
selbst darüber, seinen Handlungsimpulsen „ausgeliefert“<br />
zu sein.<br />
Im Rahmen der ersten Begutachtung wurden folgende<br />
Diagnosen gestellt:<br />
! Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer<br />
Pädophilie (ICD 10: F 65.4)<br />
! Emotional instabile Persönlichkeitsstörung (ICD<br />
10: F 60.3)<br />
! Verdacht auf Alkoholmißbrauch bei gegenwärtiger<br />
Abstinenz (ICD 10: F 10.20)<br />
Vor diesem Hintergrund erfolgte 1998 erstmalig die<br />
Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung. Der Ge -<br />
richtsbeschluss nennt als Aufgabenkreise der Betreu -<br />
ung:<br />
! Gesundheitsfürsorge,<br />
! Bestimmung des Aufenthaltes mit Befugnis zur<br />
ge schlossenen Unterbringung oder zur Anord -<br />
nung unterbringungsähnlicher Maßnahmen, so -<br />
weit dies zur Abwehr von Behandlungsabbrüchen<br />
und Krisen erforderlich ist,<br />
! Rentenangelegenheiten,<br />
! Sozialhilfeangelegenheiten und Versicherungsan -<br />
sprüche,<br />
! Die Begleitung und Koordinierung jedweder Re -<br />
ha bilitaionsmaßnahmen.<br />
Obwohl gleichzeitig auch eine Bewährungs hel -<br />
ferin tätig wurde, kam es erst auf nachhaltigen Druck<br />
des Betreuers und gegen den anfänglichen Widerstand<br />
des Betroffenen zur Aufnahme einer Therapie.<br />
Der Betreuer ordnete die sozialen und finanziellen<br />
Verhältnisse, was zu einer Abnahme von Konflikten<br />
und Spannungszuständen führte. Im Rahmen der<br />
mehr fach durch Abbruch gefährdeten Therapie lernte<br />
Hr. V., konfliktträchtige Situationen frühzeitiger zu er -<br />
kennen, Kontakten mit Kindern aus dem Wege zu ge -<br />
hen, seinen mißbräuchlichen Alkoholkonsum zu reduzieren<br />
und aufkommende sexuelle Spannung rechtzeitig<br />
autoerotisch abzuführen.<br />
Bis Anfang 2001 erfolgten 3 weitere Begutach -<br />
tungen durch den ärztlichen Coautor, etwa im Abstand<br />
von je einem Jahr. Im Verlauf dieser Zeit wirkte Hr. V.<br />
zunehmend reifer, weniger impulsiv und allgemein<br />
belastbarer. Problembewußtsein und Behandlungs mo -<br />
tivation wirkten authentischer. Pädophile Fantasien<br />
kamen zwar noch vor, pädophile Handlungen wurden<br />
aber nicht mehr bekannt. Gleichzeitig versuchte er<br />
eine Annäherung an eine gleichaltrige Partnerin. Seit<br />
der Haftentlassung geht er einer regelmäßigen Tätig -<br />
keit nach.<br />
Diskussion<br />
Diese juristische Vorgehensweise nach dem<br />
Betreuungsrecht bietet gegenüber den herkömmlichen<br />
Möglichkeiten der strafrechtlichen Führungsaufsicht<br />
oder der öffentlich-rechtlichen Unterbringung erhebliche<br />
Vorteile.<br />
Zwar hat das Strafrecht mit der Möglichkeit einer<br />
obligatorischen unbefristeten Führungsaufsicht nach<br />
Verbüßung der Strafhaft dem Sicherungsbedürfnis der<br />
Bevölkerung in dem einschlägigen Bereich Rechnung<br />
getragen, aber in den Folgen ist dies sehr unvollkommen<br />
geblieben, da der Verstoß gegen Weisungen wäh -<br />
rend der Führungsaufsicht lediglich ein neues Straf -<br />
verfahren auslöst, § 145 a StGB, ohne dass die Wei -<br />
sung selbst durchgesetzt würde.
Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 189<br />
Ein insbesondere in Bayern festzustellender Ruf in<br />
der Bevölkerung nach einem „Wegsperren“ überführter<br />
und verurteilter Sexualstraftäter nach Verbüßung<br />
der Strafhaft, um dem erwarteten oder zu erwartenden<br />
Rückfall vorzubeugen, hat sicherlich dazu beigetragen,<br />
dass auch die wissenschaftliche Diskussion und<br />
ein schlägige Rechtsprechung hier besonders intensiv<br />
und exemplarisch für die Bundesrepublik insgesamt<br />
ist (vgl. Bosinski et al. 2002). Eine Möglichkeit zur<br />
geschlossenen Unterbrin gung eröffnen die öffentlich<br />
rechtlichen Unterbrin gungsgesetze der Länder im Fal -<br />
le einer psychischen Erkrankung, die zu einer Gefähr -<br />
dung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung führt.<br />
Nach Artikel 1 Abs. 1 des Bayerischen Unterbrin -<br />
gungsgesetzes kann in einem psychiatrischen Kran -<br />
kenhaus oder sonst in geeigneter Weise gegen oder<br />
ohne seinen Willen untergebracht werden, wer psychisch<br />
krank oder in Folge von Geistesschwäche oder<br />
Sucht psychisch gestört ist und dadurch im erheblichen<br />
Maße die öffentliche Sicherheit und Ordnung<br />
stört.<br />
Der Begriff der psychischen Krankheit im Sinne<br />
die ses Gesetzes erfasst alle Arten geistiger Abnor -<br />
mität, alle psychischen Abweichungen von der Norm,<br />
gleichgültig, welche Ursache sie haben oder wie sie<br />
zustande gekommen sind. Es muß nicht eine Geis -<br />
teskrankheit oder echte Psychose im medizinischen<br />
Sin ne vorliegen, vielmehr fallen unter den genannten<br />
Begriff auch die sog. Psychopathien, d.h. Störungen<br />
des Willens- Gefühls- und Trieblebens, welche die bei<br />
einem normalen geistig reifen Menschen vorhandenen,<br />
zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen<br />
und Gefühle beeinträchtigen, wenn sie nur einen die<br />
Freiheitsentziehung rechtfertigenden Schweregrad der<br />
Persönlickeitsstörung haben, wobei der Schweregrad<br />
dieser Störung Krankheitswert im Sinne des Gesetzes<br />
zukommen lässt. Ebenso muß die von psychisch<br />
Kran ken ausgehende Gefährdung von Rechtsgütern<br />
der Schwere des Eingriffs in die persönliche Freiheit<br />
entsprechen (vgl. BayObLG NJW 2000, 881).<br />
Zwar erkennt die Rechtsprechung an, dass bei der<br />
Beurteilung, ob der ermittelte medizinische Sachver -<br />
halt den gesetzlichen Begriff der psychischen Krank -<br />
heit ausfüllt, ob der Betroffene in Folge der Krankheit<br />
die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich ge -<br />
fährdet und ob seine zwangsweise Unterbringung deshalb<br />
erforderlich ist, der Richter nicht ohne die Dia -<br />
gnose des Sachverständigen auskommt und die psychiatrische<br />
Wissenschaft sich hierbei üblicherweise an<br />
einem Klassifikationssystem, überwiegend an dem<br />
von der WHO herausgegebenen ICD orientiert.<br />
Gleichwohl hat die Zuordnung des psychiatrischen<br />
Befunds zu einem medizinischen Krank -<br />
heitsbegriff für die Annahme einer Krankheit im juristischen<br />
Sinne keine Verbindlichkeit, sondern stellt<br />
lediglich einen wesentlichen Anhaltspunkt dar (vgl.<br />
BayObLG a.a.O mit weiteren Nachweisen).<br />
Der Vorwurf, dass mit einer derartigen teleologischen<br />
Auslegung und mit dem Rückgriff auf die<br />
Zwec ke des Unterbringungsrechts eine wissenschaftliche<br />
Grenzziehung zwischen Kriminalität und Krank -<br />
heit, zwischen Täter und Patient verhindert wird, liegt<br />
nahe. Mit Recht weist Nedopil (2000) auf die Frag -<br />
würdigkeit der Klassifikationssysteme zur Bestim -<br />
mung des Begriffs „Krankheit“ hin, insbesondere<br />
wenn von ihr wie im psychiatrischen Bereich nicht nur<br />
Ansprüche auf Versorgung und Hilfe, sondern auf<br />
zivilrechtliche Betreuungsmaßnahmen, Unterbringun -<br />
gen in geschlossenen Einrichtungen, Geschäftsunfä -<br />
hig keit und Schuldunfähigkeit abhängen. Eine Psy -<br />
chia trisierung von Kriminellen nährt nicht nur die Be -<br />
fürchtung, dass das Psychiatrische Krankenhaus wieder<br />
zur Verwahranstalt werden könnte, in welche die<br />
Allgemeinheit jene absondert, von denen sie sich belästigt<br />
oder bedroht fühlt, sie wird darüber hinaus zu<br />
einer Wiederbelebung alter Vorurteile gegenüber psychisch<br />
Kranken führen.<br />
Wie zuvor schon in Baden-Württemberg wird diesen<br />
Bedenken seit dem 1. 1. 2002 mit einer nach den<br />
Lan despolizeigesetzen nachträglich festgesetzten<br />
Sicherungsverwahrung Rechnung getragen, wogegen<br />
allerdings erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken<br />
bestehen. Dies hat dazu geführt, dass z. b. in Baden-<br />
Würt temberg eine rechtskräftige Unterbringungs an -<br />
ord nung noch in keinem Fall erfolgt ist (Ullenbruch<br />
2002). Die Diskussion kann sich jedoch in Zukunft<br />
auf die Altfälle beschränken, da der Bundestag mittlerweile<br />
am 7. 6. 2002 – vom Vermittlungsausschuss<br />
am 27. 6. 2002 bestätigt – den Gesetzentwurf BT-<br />
Dr.14/8586 – verabschiedet hat, der eine nachträgliche<br />
Anordnung der Sicherheitsverwahrung nur für den<br />
Fall vorsieht, dass ein entsprechender Vorbehalt<br />
bereits im Strafurteil erklärt wird. Diese bundesrechtliche<br />
Lösung ist verfassungsrechtlich unproblematisch,<br />
da sie im Gegensatz zu den landesrechtlichen<br />
Vorschriften nicht mit dem verfassungsrechtlichen<br />
Rückwirkungs-verbot gem. Art. 103 Abs. 2 GG kollidiert.<br />
Im Gegensatz zu dem dem Schuldprinzip verhafteten<br />
Strafrecht und dem Sicherungsbedürfnis rechnung<br />
tragenden Maßregelvollzugsrecht verfolgt das<br />
Betreuungsrecht fürsorgliche Gesichtspunkte, indem<br />
der betroffenen Person wegen einer der im Gesetz<br />
genannten psychischen Krankheiten oder einer auf<br />
einer geistigen oder seelischen Behinderung beruhenden<br />
Hilfebedürftigkeit ein Betreuer als gesetzlicher
190 T. Schneider, H. Sperling, H. Rübben<br />
Vertreter mit bestimmten Aufgaben z. B. Vermö -<br />
genssorge, Gesundheitssorge und Aufenthaltsbe stim -<br />
mung bestellt wird (§ 1896 BGB).<br />
Das Aufenthaltsbestimmungsrecht umfasst sowohl<br />
die Aufenthaltssicherung als auch die Aufenthalts ver -<br />
änderung, wobei die Übertragung auf einen Betreuer<br />
dann in Betracht kommt, wenn der Betreute in diesem<br />
Bereich zu keiner eigenen Entscheidung fähig ist oder<br />
sich mit einer selbst getroffenen Entscheidung schädigen<br />
würde. Hierbei ist in der Regel die Verbindung mit<br />
der Gesundheitsfürsorge geboten, um z. B. die Ein -<br />
nahme der erforderlichen Medikamente sicher zu stellen,<br />
wobei erforderlichenfalls der Betreuer berechtigt<br />
ist, die geschlossene Unterbringung zu beantragen, die<br />
in einem weiteren Verfahren zu prüfen ist (vgl. z. B.<br />
Bay ObLG Fam RZ 2002 1247).<br />
Innerhalb seines Aufgabenbereichs hat der Be -<br />
treuer die Möglichkeiten zur Beseitigung, Linderung<br />
oder Verhütung der Krankheit oder Behinderung auszuschöpfen<br />
(Rehabilitationspflicht), § 1901 Abs. 4<br />
BGB. Folgerichtig kann eine Unterbringung auch nur<br />
zum Wohl des Betreuten durch den Betreuer zur<br />
Abwehr einer Selbstschädigung oder Selbstge fähr -<br />
dung erfolgen, § 1906 Abs. 1 Ziff. 1 BGB. Die Selbst -<br />
gefährdung muss ihre Ursache in der psychischen<br />
Krankheit oder geistigen oder seelischen Behinderung<br />
haben.<br />
Im Gegensatz zu dem im öffentlich-rechtlichen<br />
Un ter bringungsrecht durch den Schweregrad be -<br />
stimmten Krankheitsbegriff ist für die Betreu er -<br />
bestellung die durch die Krankheit oder Behin de rung<br />
be wirkte Beeinträchtigung der Selbstbe stim mung<br />
maß gebend, die dazu führt, die eigenen Angele gen -<br />
heiten ganz oder teilweise nicht selbst zu besorgen<br />
oder besorgen lassen zu können (Bienwald 1999).<br />
Beschreibungen und Zuordnungen von Krankheits -<br />
bildern kommt hierbei ebenfalls nur der Wert von<br />
Anknüpfungspunkten zu. Die Betreuerbestellung<br />
zwecks Resozialisierung setzt zwar die Mitwirkungs -<br />
bereitschaft des Betreuten voraus, lässt jedoch bei der<br />
Gefahr einer Selbstschädigung, wozu eine Rückfalltat<br />
ohne weiteres gehören kann, eine Unterbringung<br />
durch aus zu. Eine Unterbringung zur Verhinderung<br />
einer Selbstschädigung in Folge psychischer Krank -<br />
heit setzt nämlich voraus, dass der Betreute aufgrund<br />
der Krankheit seinen Willen nicht frei bestimmen<br />
kann. Dies sagt das Gesetz zwar nicht ausdrücklich,<br />
der Sachverhalt ergibt sich aber aus einer verfassungskonformen<br />
Auslegung des Gesetzes (vgl. BayObLG<br />
FamRZ 1993, 600).<br />
Bullens (1999) hat nachdrücklich auf das erhebliche<br />
Maß der Verleugnung und Idealisierung des Miß -<br />
brauchs durch die Täter hingewiesen. Leidensdruck<br />
und Behandlungsmotivation seien oft gering und oberflächlich.<br />
Die Unterbringungsdrohung sei ein wichtiges<br />
Instrument zur Aufrechterhaltung des für die The -<br />
rapie notwendigen Leidensdrucks.<br />
Der in dem Betreuungsbeschluß genannte Aufga -<br />
ben kreis des Betreuers ermöglicht so, dem geäußerten<br />
Therapiewunsch Verbindlichkeit beizulegen und in<br />
Krisensituationen schnell einschreiten zu können.<br />
Schorsch (1989) hat darauf hingewiesen, daß<br />
Pädophilie weder generell schlecht noch generell gut<br />
sei. Pädophilie sei zunächst einmal nur eine der vielen<br />
Erscheinungsformen der Sexualität und bedeute nicht,<br />
daß dieses zunächst subjektive Phänomen automatisch<br />
Gegenstand medizinischer Behandlung, juristischer<br />
Kontrolle oder moralischer Bewertung werden müßte.<br />
Es gibt eine große Zahl pädophil veranlagter Men -<br />
schen, die in der Lage sind, ihre auf Kinder gerichtete<br />
Sexualität ausschließlich autoerotisch und im Rahmen<br />
von Fantasien auszuleben. Hierzu bedarf es jedoch<br />
einer reifen Persönlichkeitsstruktur mit einer guten<br />
Impulskontrolle.<br />
Beier (in: Beier et al. 2001, 350ff) unterteilt die<br />
Grup pe pädophiler Sexualdelinquenten differentialtypologisch<br />
in zwei Grup pen, bei welchen „der sexuelle<br />
Übergriff auf das Kind eine „Ersatzhandlung“ für die<br />
eigentlich ge wünschte sexuelle Beziehung zu einem<br />
altersentsprechenden Partner ist (etwa 35%) und zum<br />
anderen Täter, bei denen ein primäres (genuines) In -<br />
teresse am Kind als einem spezifischen sexuell-erotischen<br />
Sti mulus (besteht).“ Er nimmt bei der ersten<br />
Grup pe eine „pädophile Nebenströmung“, bei der<br />
zwei ten Gruppe eine „pädophile Hauptströmung“ an.<br />
Besonders problematisch sei die Kombination mit<br />
Dissozialität. Die Gruppe der pädophilen Täter ist also<br />
sehr heterogen.<br />
Vor dem Hintergrund des geschilderten Falles sehen<br />
wir insbesondere für die Gruppe der weniger schwer<br />
gestörten Sexualstraftäter z. B. mit pädophiler Neben -<br />
strömung ohne ausgeprägte Dissozialität eine Mög -<br />
lich keit zusätzlicher Hilfe durch die Einrichtung einer<br />
gesetzlichen Betreuung.<br />
Die meisten tiefenpsychologischen Konzepte ge -<br />
hen davon aus, dass bei frühen Störungen der Per -<br />
sönlichkeitsentwicklung wichtige seelische Struk -<br />
turen, die für die Konfliktbewältigung notwendig sind,<br />
nicht oder nur unzureichend angelegt werden. Solche<br />
Menschen können selbst bei geringfügigen Konflikten<br />
starke Ängste und Spannungen entwickeln, die sich<br />
dann in Aggression äußern oder sexualisiert werden.<br />
In der Sprache der Verhaltensmedizin könnte man<br />
sagen, dass grundlegende Konfliktbewältigungs stra -<br />
tegien nicht erlernt wurden und dass statt dessen inadäquates<br />
oder destruktives Verhalten gelernt wurde.
Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch – Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 191<br />
Im vorliegenden Fall konnten wir anhand der<br />
Schil derungen des Betroffenen und der umfangreichen<br />
fremd anamnestischen Daten eine ganze Reihe<br />
solcher Situationen herausarbeiten. Arbeitslosigkeit,<br />
wachsende Schulden und Isolation erzeugten ein ho -<br />
hes Maß an Unzufriedenheit. Der familiäre Hinter -<br />
grund und die katastrophale frühkindliche Situation<br />
machten das Ausmaß der Sozialisationsdefizite deutlich,<br />
die Ursa chen der geringen sozialen Kompetenz<br />
des Hr. V. wa ren unübersehbar.<br />
Der Betreuungsverlauf zeigte, dass die alltägliche<br />
Bewältigung finanzieller, beruflicher und privater Kri -<br />
sen zu einer deutlichen Reduktion von Impuls -<br />
handlungen führte. Nur aufgrund des Insistierens des<br />
Be treuers nahm Hr. V. eine Therapie auf. Durch regel -<br />
mäßige Verhaltenskontrolle, positive Verstärkung und<br />
in Krisensituationen zeitweilige Unterbringungs -<br />
drohung gelang es, Abbruchtendenzen entgegenzuwirken<br />
und so einen positiven Therapieverlauf psychosozial<br />
zu flankieren.<br />
Hr. V. hatte zunächst überhaupt keine Vorstellung,<br />
wie er mit seinen pädophilen Strebungen umgehen<br />
soll te, diese Triebwünsche wirkten abgespalten, un -<br />
kon trollierbar und erschienen ihm wie ein Fremd kör -<br />
per. Erst im Verlauf der Therapie gelang es ihm, sich<br />
sei ner auf Kinder gerichteten sexuellen Wünsche be -<br />
wußter zu werden, was überhaupt erst die Basis für die<br />
weitere Behandlung legte. Die regelmäßige The rapie<br />
er möglichte es ihm, sozial verträglichere Verhal tens -<br />
weisen im Sinne einer Vermeidung potenziell se xu -<br />
eller Situationen oder regelmäßiger autoerotischer<br />
Span nungsreduktion zu erlernen.Die Betreuung wurde<br />
sozusagen zu einem äußeren Korsett für ein schwaches<br />
und brüchiges Ich und ermöglichte durch konkrete<br />
Anleitung wichtige Entwicklungsschritte, die Hr.<br />
V. ohne diese Hilfe von sich aus wahrscheinlich nicht<br />
getan hätte.<br />
Wir sind uns darüber im Klaren, dass dieser bislang<br />
positive Verlauf nicht in jedem Fall erreichbar<br />
sein wird. Ohne die grundsätzliche Einsicht des Be -<br />
troffenen und seine Bereitschaft, die Betreuung als zu -<br />
sätzliche Unterstützung zu akzeptieren, wäre dieser<br />
Ver lauf wahrscheinlich nicht möglich gewesen. Ins -<br />
besondere für schwerer gestörte Personen mit starkem<br />
Aggressionspotenzial und geringer Koope ra tions be -<br />
reitschaft ist dieses Modell ungeeignet, da dieser Per -<br />
sonenkreis eher gegen die Betreuung agieren wird.<br />
Es wird daher die Aufgabe des ärztlichen Sach -<br />
verständigen und des Gerichts sein, die Betroffenen<br />
nicht nur defizitorientiert, sondern auch auf mögliche<br />
Entwicklungspotenziale hin zu betrachten. In jedem<br />
Fall ist es lohnend, vor einer Haftentlassung die Be -<br />
treu ungseinrichtung als flankierende Resozialisie -<br />
rungs maßnahme in Betracht zu ziehen.<br />
<strong>Literatur</strong>:<br />
„Schärferer Kampf gegen Sexualstraftäter“, Leitartikel der<br />
Welt am Sonntag vom 20. 5. 2001.<br />
Beier, K. M.; Bosinski, H. A. G.; Hartmann, U.; Loewit, K.<br />
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Urban & Fischer-Verlag.<br />
Bienwald (1999): In: J. v. Staudingers Kommentar zum Bür -<br />
gerlichen Gesetzbuch, Buch 4. Familienrecht, 13. Auflage,<br />
Sellier-de Gruyter, Berlin.<br />
Boerner, R. J. et. al. (2001): Aufmerksamkeitsdefizit- / Hy -<br />
peraktivitätsstörung des Erwachsenenalters (ADHD), Al -<br />
ko holabhängigkeit sowie kombinierte Persönlichkeits-stö -<br />
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Bosinski, H. A.G. ; Ponseti, J.; Sakewitz, F. (2002): Therapie<br />
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Bullens (1999): Der Täter ist ein netter Mensch, In: KiZ –<br />
Kind im Zentrum im EJF – Evangelisches Jugend – und<br />
Fürsorgewerk: Wege aus dem Labyrinth. Berlin, Im Eigen -<br />
verlag.<br />
Dannecker (2001): Sexueller Miss brauch und Pädosexualität.<br />
In: V. Sigusch (Hrsg.): Sexuelle Störungen und ihre Be -<br />
handlung, 3. Aufl., 2001, Thieme-Verlag, Stuttgart: 472.<br />
Egg, R. (2000): Rückfall nach Sexualstraftaten, Sexuologie 7<br />
(1) 12-26.<br />
Hirsch (1999): Realer Inzest: Psychodynamik des sexuellen<br />
Mißbrauchs in der Familie, Psychosozial-Verlag Gießen<br />
Lautmann, R. (1994): Die Lust am Kind. Portrait des Pädo -<br />
philen. Hamburg: Klein-Verlag.<br />
Nedopil, N. (2000): Grenzziehung zwischen Patient und<br />
Straf täter, NJW 12: 837-840.<br />
Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2000.<br />
Singer-Kaplan (2000): Sexualtherapie bei Störungen des se -<br />
xu ellen Verlangens. Stuttgart: Thieme-Verlag,<br />
Ullenbruch, Th. (2002): Nachträgliche Sicherungsverwah -<br />
rung – Fragen über Fragen, Neue Zeitschrift für Strafrecht:<br />
466.<br />
Wetzels, P. (1997): Prävalenz und familiäre Hintergründe se -<br />
xuellen Kindesmißbrauchs in Deutschland: Ergebnisse<br />
einer repräsentativen Befragung, Sexuologie 4 (2): 89-107.<br />
Adresse der Autoren<br />
Dr. med. Guido Loyen, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Eigelstein 103-113, 50668 Köln,<br />
mail: dr.loyen@gmx.de<br />
Dr. jur. Wolfgang Raack, Familien- und Vormundschaftsrichter, Direktor des Amtsgerichts Kerpen, Amtsgericht Kerpen, Nordring 2-8, 50151 Kerpen,<br />
mail: verwaltung@ag-Kerpen.nrw.de
••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />
Interview mit Prof. Porst<br />
Sie gelten in Deutschland als einer der Experten in Sachen<br />
erektile Dysfunktion. Haben Sie durchschnittlich mehr ED-<br />
Patienten als andere Urologen?<br />
Meine Praxis ist hochspezialisiert auf dieses Krankheitsbild: 80 Prozent meiner<br />
Patienten haben Sexualstörungen, insbesondere Potenzstörungen.<br />
Haben Sie ein durchschnittliches Patientengut hinsichtlich der<br />
Ursachen der ED in Ihrer Praxis oder kommen eher die schweren<br />
Fälle zu Ihnen?<br />
Ich glaube, dass die Praxis eher den Durchschnittspatienten in Deutschland<br />
reflektiert, da rund die Hälfte der Patienten direkt ohne Überweisung zu mir<br />
kommt. Ich sehe sehr viele Patienten noch ohne Vorbehandlung, teilweise<br />
natürlich auch schwerere Fälle, die vom Urologen überwiesen werden. Ins -<br />
gesamt kommen aber ED-Patienten zu mir, die sonst auch zu anderen<br />
Urologen gehen würden.<br />
Was halten Sie von der Partnerberatung? Bevorzugen Sie es,<br />
wenn die Partnerin Ihre Patienten bei den Bespre chungsbzw.<br />
Untersuchungsterminen begleitet?<br />
Ich halte es für wünschenswert und habe die Partnerin sehr gern dabei. In der<br />
Praxis ist es allerdings nur in etwa zehn Prozent der Fall, oft geht das aus<br />
organisatorischen Gründen nicht. Wenn Partnerschaftskonflikte in der<br />
Anamnese offenbar werden, bestelle ich grundsätzlich die Partnerin mit ein.<br />
Allerdings kann der Arzt eine ganze Menge mit dem Mann allein klären, denn<br />
über 80 Prozent der Männer, die zu mir kommen, haben das Problem in<br />
extenso vorher mit ihrer Partnerin besprochen. Die Partnerinnen wissen in der<br />
Regel, dass der Mann bei mir ist.<br />
Welchen Eindruck haben Sie von der „Offenheit“ der Pa tien -<br />
ten? Fällt es den Patienten heute bereits leichter über ED zu<br />
sprechen als noch vor vier Jahren?<br />
In der Offenheit hat sich nicht allzu viel geändert, generell ist das Thema noch<br />
weitgehend tabuisiert. In dieser Hinsicht ist meine Praxis allerdings nicht repräsentativ,<br />
da die Patienten mit einer anderen Einstellung in meine „Spe -<br />
zialitätenpraxis“ kommen. Es hat sich dahingehend etwas geändert, dass die<br />
Patienten nicht mehr so lange warten – früher oft drei bis fünf Jahre bis sie<br />
sich einem Arzt offenbarten. Da sie heute wissen, dass leicht anwendbare<br />
Substanzen verfügbar sind, kommen einige schon nach drei Monaten, um<br />
einen ärztlichen Rat einholen. Der Zeitraum bis zum Ent schluss, ärztliche Hilfe<br />
anzunehmen, verkürzt sich zunehmend.<br />
Welche Wege der Enttabuisierung halten Sie für richtig und<br />
hilfreich?<br />
Meiner Ansicht nach muss noch viel Aufklärungsarbeit bei den Frauen geleistet<br />
werden. Hier gibt es viele Ressentiments: Das stärkste davon ist sicherlich,<br />
dass die Penisse der Männer immer „funktionieren“ müssen. Viele Frauen<br />
haben noch im Kopf, dass eine Potenzstörung beim Mann ein Angriff auf die<br />
eigene sexuelle Anziehungskraft ist, was natürlich nicht der Fall ist. Sie fühlen<br />
sich oft beleidigt, wenn „er“ nicht mehr funktioniert, verdächtigen, dass es im<br />
Hintergrund eine zweite Person gibt. Die Frauen sollten lernen, dass das nicht<br />
so ist und überwiegend organische Störungen zugrunde liegen. Hier müssen<br />
wir noch viel Aufklärungsarbeit leisten.<br />
Wie schätzen Sie die Rolle der Gynäkolgen bei dem Thema ED<br />
ein?<br />
Die Gynäkologen sind in einer zwiespältigen Situation, denn sie werden durch<br />
ihre Patientinnen mit den sexuellen Nöten der Männer konfrontiert, können<br />
aber auf Grund Ihrer Ausbildung natürlich nur die Frauen behandeln. Dabei<br />
beschränkt sich die überwiegende Mehrzahl der Gynäkologen auf die reine<br />
Krebsvorsorge-Unter su -<br />
chung und fahndet nicht<br />
nach eventuell vorhandenen<br />
sexuellen Problemen<br />
bzw. geht auf diese ein, so -<br />
fern sie von den Frauen di -<br />
rekt geäussert werden. Wir<br />
wis sen, dass etwa 40 Pro -<br />
zent der Frauen von potenzgestörten<br />
Männern selbst<br />
erhebliche Sexualstörungen<br />
ha ben. Bei der „wiedererwachten“<br />
Sexualität ihres<br />
Man nes werden sie mit der<br />
ei genen „Unzulänglichkeit“<br />
konfrontiert und bleiben Prof. Hartmut Porst<br />
dann oft auf der Strecke.<br />
Hier ist noch viel Kooperation zwischen den Fachgruppen erforderlich. Ins -<br />
gesamt ist das gesamte Gebiet der Sexualforschung und Behandlung sexueller<br />
Störungen ein Stiefkind in den deutschen Universitäten, sowohl bei den<br />
Urologen wie bei den Gynäkologen.<br />
Welche Ansatzpunkte in der Ausbildung sehen Sie hier?<br />
Meines Erachtens gehört in beiden Fachbereichen, Urologie wie auch Gyn -<br />
äkologie, die moderne Sexualmedizin dazu. Dazu zählen nicht nur die Be ra -<br />
tungsmedizin, sondern auch die therapeutischen Möglichkeiten auf diesem<br />
Ge biet wie Arzneitherapie und operative Therapien. Davon erfährt der Me -<br />
dizinstudent in der Regel nichts.<br />
Wie viele Erstverwender von PDE-5-Inhibitoren bleiben bei<br />
der Medikation?<br />
Nach zwei Jahren Anwendung bleiben nur etwa 50-60 Prozent derjenigen<br />
dabei, die auf PDE5-Inhibitoren reagieren. Das Aussteigen hängt oft damit<br />
zusammen, dass die Patienten nach der ersten Verordnung nicht mehr weiter<br />
betreut werden. Wenn die Patienten regelmäßig weiter bestellt werden, auch<br />
mit der Partnerin gesprochen wird, sieht es etwas besser aus. Der momentan<br />
verfügbare PDE5-Hemmer hat sicherlich auch Schwächen, die künftig in<br />
anderen Präparaten ausgeglichen werden. Insgesamt ist mehr Motivation<br />
durch die Ärzte nötig.<br />
Welches sind Ihrer Meinung nach die entscheidenden Vorteile<br />
von Tadalafil?<br />
Ich kenne die Substanz sehr gut, da ich über dreihundert Studien-Patienten in<br />
den letzten Jahren damit behandelt habe. Der entscheidende Vorteil ist, dass<br />
der Patient und vor allem das Paar nicht mehr planen muss. Die Substanz<br />
wirkt, wie wir mittlerweile wissen, über ein bis zwei Tage. So kann Sex wieder<br />
so stattfinden, wie es früher üblich war, nämlich wenn man Lust aufeinander<br />
hat. Ein weiterer Vorteil ist natürlich auch, dass das Neben wir kungs -<br />
profil sehr gut ist. Das Wirkprofil ist vergleichbar mit Sildenafil.<br />
Welche Anforderungen würden Sie an eine ED-Therapie stellen,<br />
die bislang noch in keinem Medikament verwirklicht<br />
sind?<br />
Der ideale Weg wäre, dass Patienten mit ED „Aufbauspritzen“ mit gentechnisch<br />
hergestellten Substanzen bekommen, die drei bis vier Monate die<br />
Schwellkörperfunktion aufrechterhalten. Obwohl dies in der Gentechnologie<br />
im Tierversuch bereits erfolgreich durchgeführt werden kann, werden diese<br />
möglichen Therapien nicht in den nächsten fünf bis acht Jahren kommen, dies<br />
ist zur Zeit noch Zukunftsmusik. Derzeit hat Tadalafil bereits einen Durchbruch<br />
geschaffen, weil es Neuerungen in der ED-Therapie bringt. Insbesondere kommen<br />
die Paare weg von der „Planerei“, was der Idealvorstellung einer modernen<br />
ED-Behandlung doch sehr nahe kommt.<br />
I<br />
Nach Selbstangaben der Industrie
Aktuelles<br />
Anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Piet Nijs<br />
wurden die folgenden Grußworte überbracht von<br />
Frau Prof. Dr. Dr. M. Neises und Herrn Prof. Dr. P.<br />
Petersen im Na men der Deut schen Gesellschaft<br />
für Psycho so matische Frauen heil kun de und Ge -<br />
burtshilfe, DGPFG e.V.:<br />
Prof. Nijs’ Wirken als Professor für Psychiatrie<br />
und Psy chosomatik und Sexualwissenschaftler<br />
strahl te weit über Europa hinaus. Er hat der Gyn ä -<br />
ko logischen Psy chosomatik und der Sexualwis -<br />
sen schaft zusammen mit seinen Kolle gen in Eu -<br />
ropa zu hohem Ansehen innerhalb der Medizin,<br />
da rüber hinaus auch in den Kulturwissenschaften<br />
und vor allem im gesellschaftlichen Leben Bel -<br />
giens verholfen. Als Direktor des In stituts für Eheund<br />
Sexualwissenschaften der Katho lischen Uni -<br />
versität Leuven, als Gründer und Leiter der Ab tei -<br />
lung für Gynäkologische Psychosomatik und als<br />
Grün der und Leiter der Abteilung Sexualtherapie<br />
an der Universitätsklinik Leuven formte er über<br />
meh rere Jahr zehnte ein hochqualifiziertes, inter -<br />
dis ziplinäres Team, dessen praktische und wissenschaftliche<br />
Arbeit weitreichende Wirkung hatte.<br />
Als Autor veröffentlichte Prof. Nijs mehr als 500<br />
Publikationen, darunter 25 Bücher in niederländischer,<br />
französischer, englischer und deutscher<br />
Spra che. Er wirkte als Mitbegründer und Redak -<br />
teur zahlreicher wissenschaftlicher Zeit schriften<br />
(wie European Federation of Sexuology; Eu ro pean<br />
Society of Dance Therapy; Leuvensche Cahier vor<br />
Seksuologe; Journal of Psychosomatics and Gyn e -<br />
co logy) und als Mitglied europäischer und amerikanischer<br />
Fachge sellschaften.<br />
Sein Engagement galt der patientenorientierten<br />
Me dizin, „tender loving care“ in der Arzt-Patient-<br />
Be zie hung ist sein leitendes Motto gewesen. We -<br />
sent liche Arbeitsfelder sind Familienplanung (das<br />
Wort von der „kontrazeptiven Revolution“ stammt<br />
von ihm), Repro duktionsmedizin, Partnertherapie<br />
und Sexual the rapie. Auf diesen Gebieten hat er<br />
Sexuologie<br />
grund legende Arbeiten geschrieben. Seine Inten -<br />
tion ist dabei die kulturanthropologische Vertie -<br />
fung und Er wei terung dieser Gebiete; die Integra -<br />
tion einer mechanistisch vorgehenden Medizin in<br />
ein ganzheitlich ausgerichtetes Gebäude der Heil -<br />
kunde ist sein Herzensanliegen. Eine prak tische<br />
Folge dieses Konzeptes: An der Uni ver sitäts frau -<br />
en klinik Leuven lag die Geburtenrate nach Invi -<br />
trofertilisation etwa doppelt so hoch wie sonst im<br />
europäischen Durchschnitt – warum? Hier ließen<br />
sich Paare vor dem medizinischen Eingriff auf eine<br />
qua lifizierte Beratung durch kompetente sexual -<br />
thera peutische Berater/Thera peuten ein.<br />
Seine hohe wissenschaftliche und therapeutische<br />
Kom petenz paarte sich bei Prof. Nijs mit<br />
äußers ter Be scheidenheit – wie es dem guten Arzt<br />
und Therapeuten schon immer zur Ehre gereicht.<br />
Er war ein Glücksfall für die europäische Heilkun -<br />
de. Wenn es zukünftig weiter solche Glücksfälle in<br />
der Heilkunde gibt, so wäre es gut um die Medizin<br />
bestellt. Wir wünschen Herrn Prof. Nijs auch weiter<br />
ein fruchtbares Wirken.<br />
Sexuologie 9 (4) 2002 193 – 194 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie
194 Buchbesprechung<br />
B. Gromus: Sexualstörungen der Frau. Göttingen: Ho grefe,<br />
Verlag für Psychologie 2002, 119 Seiten, Preis: € 20,35<br />
Zur Thematik der weiblichen Sexualstörungen, die in den<br />
letzten Jahren zunehmend in den Vordergrund drängt, hat<br />
Beatrix Gro mus ein „Manual für die Praxis“ zur Verfügung<br />
gestellt. Mit der In ten tion, Frauen zu dem ihnen zustehenden<br />
erfüllten Sexu alleben zu verhelfen, hat die Autorin ein<br />
Buch vorgelegt, um The ra peuten grundlegende Infor ma tio -<br />
nen zur Beratung und The rapie von weiblichen Sexual -<br />
störungen zu vermitteln, wobei auch den betroffenen<br />
Frauen Hilfe angeboten werden soll, „um die eigene Symp -<br />
tomatik besser verstehen und einordnen zu können“. Ihr<br />
An liegen hat die Autorin meines Erachtens insgesamt<br />
erfüllt.<br />
Auf 119 Seiten vermittelt sie einen knappen, aber vielaspektigen<br />
Überblick über weibliche Sexualstörungen und<br />
ihre Be handlung mit praxisorientierten Anregungen, die die<br />
breite Er fahrung der Autorin in diesem Bereich widerspiegeln.<br />
Nach einer Beschreibung der einzelnen Störungs -<br />
bilder entsprechend ICD-10 und DSM-IV mit epidemiologischen<br />
und prognostischen An gaben, behandelt sie differentialdiagnostische<br />
Aspekte und biologische Grundlagen.<br />
Wert legt sie auf die Vermittlung von charakteristischen<br />
Merkmalen des weiblichen sexuellen Erlebens und Ver hal -<br />
tens und beschreibt die sexuelle Sozialisation der Frau mit<br />
den Veränderungen und Merkmalen der verschiedenen Le -<br />
bens abschnitte bis in das späte Erwachsenenalter. Bei der<br />
nun folgenden Darstellung der Störungstheorien betont sie<br />
die kognitiv-behavioralen Modellvorstellungen mit prädisponierenden<br />
Fakto ren, auslösenden und aufrechterhaltenden<br />
Bedingungen. In Kap. 3 stellt sie diagnostisches Vorge -<br />
hen und Therapieplanung ausführlich dar und gibt dem An -<br />
fän ger Fragenlisten vor (auch als beigefügte Handkarten)<br />
zur Durchführung einer umfassenden Exploration. Fast die<br />
gesamte zweite Hälfte des Buches (Kap. 4 und 5) ist der<br />
Beratung und Therapie weiblicher Sexualstörungen gewidmet.<br />
Bei der Beratung geht die Autorin auf die sexuelle<br />
Situation der Frau in den verschiedenen Lebensphasen ein,<br />
wobei sie pragmatisch die unterschiedlichen Problempunk -<br />
te mit Lö sungs angeboten abhandelt. Auch körperliche und<br />
psychische Erkrankungen mit ihrem Einfluss auf die Sexu -<br />
alität werden mit Beratungsaspekten dargestellt. Bei der<br />
The rapie weiblicher Se xualstörungen wird das bewährte<br />
kon ventionelle Konzept der Paartherapie, auf der Grundla -<br />
ge von Masters & Johnson/modifiziert durch Arentewicz &<br />
Schmidt, mit den verschiedenen Ele menten und Übungen<br />
breiter vorgestellt. Dabei geht die Autorin auch auf die Be -<br />
handlungsmodifikationen bei entsprechenden Stö rungsbil -<br />
dern ein. Den Abschluß bildet eine kurze Aus ein an der set -<br />
zung mit den derzeit noch in der Entwicklung befindlichen<br />
somatischen Therapieoptionen für die Frau, wobei die Au -<br />
torin die sog. Medikalisierung der weiblichen Sexualität als<br />
po tentielle Gefahr für das Verständnis des weiblichen Sexu -<br />
al er lebens kritisch beurteilt.<br />
Das vorgelegte Manual stellt meines Erachtens eine<br />
hilfreiche Einführung und erste Anleitung für den sexual -<br />
therapeutisch in teressierten Anfänger dar, indem die Auto -<br />
rin eine Vielzahl von we sentlichen Aspekten zu der umfassenden<br />
und komplexen Thematik weiblicher Sexual stö run -<br />
gen vorstellt. Der künftige Käu fer muss allerdings wissen,<br />
dass viele der geschilderten Themen nur kurz und knapp<br />
abgehandelt werden, als ein erster einführender Überblick.<br />
So schreckt zumindest, trotz der The men vielfalt, der Um -<br />
fang des Buches nicht.<br />
Der Käufer sollte des weiteren wissen, dass die Autorin<br />
weitgehend auf die schon langjährig bekannten, wichtigsten<br />
Standardwerke zur Behandlung sexueller Störungen rekurriert.<br />
Nun sind gerade die weiblichen Patienten und ihre<br />
Sexual pro bleme in den letzten zwei Jahrzehnten viel komplizierter<br />
geworden, betrachtet man sie mit dem heute deutlich<br />
differenzierteren diagnostischen Blick. Die altbewährten<br />
Therapiemaßnahmen sto ßen in vielen Fällen an unüberwindliche<br />
Grenzen, trotz unterstützender Einbindung der –<br />
von der Autorin allerdings kritisierten, m.E. unverzichtbaren<br />
– psychodynamischen Interventions maß nahmen. Not -<br />
ge drungen steuert die Sexualtherapie auf In novationen zu,<br />
eine Diskussion, die in dem vorliegenden Buch kaum an -<br />
klingt. Die deutliche Abwehr z.B. möglicher künftiger so -<br />
ma tischer Behandlungsoptionen sollte doch mehr Offenheit<br />
Platz machen, um den Frauen den Zugang zu potentieller<br />
so matischer Hilfe nicht zu verschließen – selbstverständlich<br />
mit der notwendigen kritischen Aufmerksamkeit und<br />
Distanz. Auch der Einsatz der konventionellen sexualtherapeutischen<br />
Verfahren, ein schließlich der Interventionsviel -<br />
falt einer Reihe weiterer The rapieschulen, zeigt sich inzwischen<br />
zunehmend begrenzt, z.B. bei der Behandlung der<br />
über die gestörte Funktion hinausgehenden Appetenzpro -<br />
ble me.<br />
Hier hätte man sich, mit einem kritischen Blick auf die<br />
Gren zen der bisherigen Behandlungsverfahren, weitere In -<br />
for ma tionen gewünscht zu den jüngsten Überlegungen und<br />
therapeutischen Ansatzpunkten, wie sie z.B. von David<br />
Schnarch entwickelt und eingebracht wurden.<br />
Ein großer Vorzug des vorliegenden Bandes ist seine<br />
Über sichtlichkeit und Strukturiertheit. Der gesamte Text ist<br />
inhaltlich klar gegliedert, und seitliche Überschriften geben<br />
den Inhalt des jeweiligen Absatzes oder Abschnittes schlagwortartig<br />
und präzise wieder. Diese inhaltliche Strukturie -<br />
rungshilfe, verbunden mit Übersichtstabellen, Zusammen -<br />
fassungen und optischen Hervor hebungen, macht den Text<br />
lesefreundlich und eingängig.<br />
Insgesamt eine hilfreiche Einführung und erste, pragmatische<br />
Anleitung für den künftigen Sexualberater und<br />
Sexualthera peu ten, die hoffentlich neugierig macht, sich<br />
wei ter in die Thematik zu vertiefen, um die vielseitigen Fa -<br />
cetten und psychodynamischen Zusammenhänge weiblicher<br />
Sexualität und ihrer Störun gen intensiver zu ergründen<br />
und verändern zu können.<br />
K. Heiser (Hannover)
••• pharma-report ••• pharma-report ••• pharma-report •••<br />
Therapie der Erektilen Dysfunktion<br />
Markteinführung des PDE5-Hemmers<br />
Cialis TM von Lilly<br />
Bad Homburg. Ab dem 3. Februar 2003 wird der neue Phos -<br />
phodiesterase5-Inhibitor Cialis TM (Tadalafil) von Lilly ICOS zur<br />
Behandlung der Erektilen Dysfunktion (ED) auf dem deutschen<br />
Markt erhältlich sein. Dies teilte das Unternehmen auf<br />
einer Pressekonferenz am 30. Januar 2003 in Frankfurt mit.<br />
Cialis TM zeichnet sich gegenüber den anderen Arzneimitteln<br />
zur ED-Therapie durch ein erheblich längeres Wirkzeitfenster<br />
aus: Die Wirkung ist bis zu 24 Stunden gewährleistet. Cialis<br />
befähigte einige Patienten, bereits nach 16 Minuten, eine<br />
Erektion zu bekommen. Dadurch wird den Anwendern er -<br />
möglicht, innerhalb dieses Wirkzeitfensters Sex wieder spontan<br />
zu erleben. Ein weiterer Vorteil des neuen Arzneimittels<br />
ist, dass die Wirkung nicht durch die Nahrungs- und Alko -<br />
holaufnahme beeinträchtigt wird.<br />
Mit der Indikation Erektile Dysfunktion wird Lilly seine Kom pe -<br />
tenz in der Urologie weiter ausbauen, wie Katrin Blank, Pres se -<br />
sprecherin des Unternehmens, Bad Homburg ausführte. Da rüber<br />
hinaus ist das 1996 eingeführte Nukleosidanalogum Gem zar ®<br />
seit einem Jahr auch zur Behandlung des Harn bla sen krebses zu -<br />
gelassen und bereits als Standardtherapie anerkannt. An Dulo -<br />
xetin, einem Medikament zur Behandlung der Stress harn in kon -<br />
tinenz in der späten klinischen Entwicklung, knüpfen sich weitere<br />
Erwartungen auf urologischem Gebiet. Gleichzeitig sieht<br />
Blank die Erektile Dysfunktion als ideale Ergänzung zum Portfolio<br />
der Diabetes- und KHK-Präparate von Lilly. „Diese Erkrankungen<br />
sind bei einer Mehrzahl der Patienten für Erektionsstörungen<br />
verantwortlich, so dass hier Synergien und Kompetenz im Unter -<br />
nehmen genutzt werden können“, so die Pressesprecherin.<br />
Professor Hartmut Porst, ED-Spezialist und Studienleiter deutscher<br />
Studien aus Hamburg, unterstrich die Neuartigkeit des<br />
Moleküls. „Bei Tadalafil handelt es sich um eine grundlegend an -<br />
dere Struktur als bei anderen Phosphodiesterase5-Hemmern“,<br />
so Porst. Die unterschiedliche Pharmakokinetik des Wirkstoffs<br />
liegt hierin begündet. Mit einer Halbwertszeit von 17,5 Stunden<br />
hält die erektionsfördernde Wirkung von Tadalafil bis zu 24 Stun -<br />
den an, nach Porst Studienerfahrung bei manchen Männern<br />
auch länger. In der Dosierung von 20 mg erwies sich Tadalafil als<br />
effektiv: „75 Prozent aller Paare konnten den Koitus erfolgreich<br />
zu Ende führen“, wie Porst berichtet. „Mit Cialis wird eine neue<br />
Ära in der Behandlung der erektilen Dysfunktion eingeläutet,<br />
denn es ermöglicht den Betroffenen einen zeitlichen Freiraum<br />
für sexuelle Aktivitäten und kommt so den Bedürfnissen der<br />
Men schen entgegen,“ fasst Porst seine bisherigen Erfahrungen<br />
zusammen.<br />
gingen mit fortgesetzter Behandlungsdauer zurück“, so Man -<br />
ning. Ein besonderes Augenmerk lag in den Studien auf be -<br />
stimm ten Patientengruppen wie den Diabetikern oder Pa tienten<br />
mit multipler antihypertensiver Medikation. Interaktions studien<br />
zeig ten hier, dass auch in diesen Gruppen keine Ein schrän kun -<br />
gen für die Therapie mit Cialis bestehen.<br />
Auf die Besonderheiten von Herz-Patienten in der Therapie mit<br />
Cialis ging Prof. Eckhart Peter Kromer, Kardiologe und Ärztlicher<br />
Direktor im Klinikum Stadt Hanau, besonders ein und wies darauf<br />
hin, dass die Patienten im Vorfeld einer Verordnung von<br />
PDE5-Hemmern auf ihr kardiales Risiko abgeklärt werden sollten.<br />
Eine strenge Kontraindikation bestehe während der Cialis-<br />
Therapie für Nitrate – ebenso wie bei der Einnahme von anderen<br />
PDE5-Inhibitoren. „Allerdings kommt den Nitraten langfristig<br />
kein prognostischer Effekt zu. Sie sind aus kardiologischer Sicht<br />
in der Regel als unnötig als zu betrachten“, so Kromer. Vielmehr<br />
gäbe es andere therapeutische Optionen wie bespielsweise<br />
ACE-und CSE-Hemmer, die sowohl prognostisch besser als auch<br />
für die Einnahme von Tadalafil unproblematisch seien. Dennoch<br />
empfiehlt Kromer wegen der potenziellen Gefährdung durch<br />
einen Blutdruckabfall, die Männer ausdrücklich vor der gleichzeitigen<br />
Einnahme von Cialis und Nitraten zu warnen.<br />
Dr. Udo Bermes, niedergelassener Urologe aus Wiesbaden,<br />
nahm als Prüfarzt an den klinischen Studien mit Tadalafil teil. Für<br />
die betroffenen Patienten sei die Frage nach dem Sexualleben<br />
oft wie ein „Sesam öffne Dich“ und damit Grundlage einer positiven<br />
Arzt-Patientenbeziehung. Die ED-Behandlung mit Cialis er -<br />
möglicht seiner Meinung nach zukünftig eine verbesserte Pa -<br />
tientenbetreuung in der Praxis. Die Studienteilnehmer beurteilten<br />
vor allem das breite Wirkzeitfenster von Tadalafil als wichtig für<br />
eine harmonische Sexualität und damit für ihre Paarbeziehung.<br />
„Die Befreiung von psychischem und zeitlichem Druck steht da -<br />
bei für die Betroffenen im Vordergrund“, berichtet Bermes von<br />
seinen Erfahrungen.<br />
Cialis wird in zwei Dosierungen erhältlich sein: die N1-Packung<br />
Cialis TM in der 10mg Dosierung (PZN 36393; 47,99 €) enthält vier<br />
Tabletten. Die N1-Packungen in der 20mg-Dosierung enthalten<br />
4 Tabletten oder 8 Tabletten (PZN 46298; 47,99 € / PZN 46299;<br />
90,28 €).<br />
Die Verträglichkeit von Tadalafil konnte in Studien an über 4000<br />
Patienten nachgewiesen werden. PD Dr. Martina Manning vom<br />
Lilly Medical Department berichtet über Kopfschmerzen und<br />
Dys pepsie, die mit 14 bzw. 10 Prozent als häufigste Neben -<br />
wirkung in den Studien beobachtet wurden. „In der Regel waren<br />
die unerwünschten Wirkungen leicht bis mäßig ausgeprägt und<br />
Nach Selbstangaben der Industrie<br />
II
INHALTSVERZEICHNIS <strong>SEXUOLOGIE</strong> BD IX (2002)<br />
CONTENTS <strong>SEXUOLOGIE</strong> VOLUME IX (2002)<br />
Orginalarbeiten<br />
Basson, R.: Neubewertung der weiblichen sexuellen Re ak tion<br />
23<br />
Basson, R.: Die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Sildenafil<br />
bei Frauen mit sexueller Dysfunktion im Zu sammenhang mit<br />
einer Störung der sexuellen Erreg barkeit 116<br />
Beier, K. M.; Goecker, D.;Babinsky, S.; Ahlers, Ch. J.: Sexualität<br />
und Partnerschaft bei Multipler Sklerose – Ergebnisse einer<br />
empirischen Studie bei Betroffenen und ihren Partnern 4<br />
Hartmann, U.; Niccolosi, A.; Glasser, D. B.; Gingell, C.; Buvat,<br />
J.; Moreira, E.; Lauman, E.: Sexualität in der Arzt-Patient-<br />
Kom munikation. Ergebnisse der „Globalen Studie zu sexuellen<br />
Einstellungen u. Verhaltensweisen“ 50<br />
Krüger, T. H.C.; Haake, Ph.; Exton M. S.; Schedlowski, M.;<br />
Hartmann U.: Orgasmusinduzierte Prolaktinsekre tion: Feed -<br />
back-Mechanismus für sexuelle Appetenz oder ein reproduktiver<br />
Reflex? 30<br />
Lundberg, P. O.: Die periphere Innervation der weiblichen<br />
Genitalorgane 98<br />
Neises, M.: Sexualität und Menopause 160<br />
Philippsohn, S.; Heiser, K.; Hartmann, U.: Sexuelle Befrie di -<br />
gung und Sexualmythen bei Frauen: Ergebnisse einer Fra -<br />
gebogen untersuchung zu den Determinanten sexueller Zu frie -<br />
denheit 148<br />
Rauchfuß, M.; Altrogge, C.: Paarbeziehung und Schwan -<br />
gerschaftsverlauf 61<br />
Zaviacic, M.: Die weibliche Prostata. Orthologie, Patholo gie, Se -<br />
xu ologie und forensisch-sexuologische Implika tionen 107<br />
Zieren, J., Beyersdorff, D.; Beier, K. M.; Müller, J. M.: Sexualität<br />
und Hodenperfusion nach spannungsfreier Leistenhernienre -<br />
paration mit Kunststoffnetz 155<br />
Wille, R.: Die ersten zwei Jahrzehnte der AIDS-Ära in Deutsch -<br />
land. Analyse der HIV-Statistiken 170<br />
Fortbildung<br />
Bosinski, H. A.G. ; Ponseti, J.; Sakewitz, F.: Therapie von Se xu -<br />
al straftätern im Regelvollzug – Rahmenbedingungen,<br />
Möglich kei ten und Grenzen 39<br />
Dmoch, W.: (Gegen)Übertragung und Sexualmedizin. Übergriffe<br />
in therapeutischen Situationen 125<br />
Fröhlich, G.: Neue Irrwege: „Penisvergrößerung bei gesunden<br />
Männern“ 75<br />
Rösing, D.: „Vertrauen und Sicherheit sind jetzt vorhanden. Die<br />
Partnerschaft ist zusammengewachsen.“ 137<br />
Schneider, T.; Sperling, H.; Rübben, H.: Prostaglandin E1 und<br />
lokale Therapie der erektilen Dysfunktion 180<br />
Historia<br />
Beier, K. M.; Alisch, R.: Das Institut für Sexualwissen schaft und<br />
die Dr. Magnus Hirschfeld-Stiftung (1919-1933) 83<br />
Diskussion<br />
Loyen, G.; Raack, W.: Betreuungsrecht und Kindesmißbrauch –<br />
Eine selten genutzte Ergänzung des Strafrechts 186<br />
Wille, R.; Dennin, R. H.; Lafrenz, M.: Hinter-Fragwürdigkeit der<br />
etablierten AIDS-Bekäm pfungs konzeption 141<br />
Orginalia<br />
Basson, R.: Re-appraisal of womens’s sex response<br />
23<br />
Basson, R.: Efficacy and Safety of Sildenafil Citrate im Women<br />
With Sexual Dysfunction Associated With Female Sexual<br />
Arou sal Disorder 116<br />
Beier, K. M.; Goecker, D.;Babinsky, S.; Ahlers, Ch. J.: Sexual<br />
and partnership aspects of Multiple Sklerosis<br />
4<br />
Hartmann, U.; Niccolosi, A.; Glasser, D. B.; Gingell, C.; Buvat,<br />
J.; Moreira, E.; Lauman, E.: Sexuality in patient-physiciancommunication.<br />
Results of „The Global Study of Sexual Atti -<br />
tu des and Behaviors“ 50<br />
Krüger, T. H.C.; Haake, Ph.; Exton M. S.; Schedlowski, M.;<br />
Hartmann U.: Prolactin secretion after orgasm: feedback-me -<br />
chanism for sexual drive or a reproductive reflex?<br />
30<br />
Lundberg, P. O.: The peripheral innervation of the genital organs<br />
of women 98<br />
Neises, M.: Sexuality and Menopause 160<br />
Philippsohn, S.; Heiser, K.; Hartmann, U.: Sexual Satisfaction<br />
and Sexual Myths among Women: Results of a Survey on the<br />
Determinants of Sexual Satisfaction<br />
148<br />
Rauchfuß, M.; Altrogge, C.: Partnership and Pregnancy<br />
61<br />
Zaviacic, M.: The Women’s Prostate: Orthology, Pathology, Se -<br />
xo logy and Forensic-Sexology Implications 107<br />
Zieren, J., Beyersdorff, D.; Beier, K. M.; Müller, J. M.: Sexual<br />
Function and Testicular Perfusion after Inguinal Hernia Repair<br />
with Mesh 155<br />
Wille, R.: The first two Decades of the AIDS-Age in Germany. A<br />
Statistical Analysis 170<br />
Case Studies<br />
Bosinski, H. A.G. ; Ponseti, J.; Sakewitz, F.: Treatment of incarcerated<br />
sex offenders: General framework, opportunities, and<br />
limits 39<br />
Dmoch, W.: Countertransference and Sexual Medicine. Cross -<br />
over in Therapy Situations 125<br />
Fröhlich, G.: Neue Irrwege: New misleading ways: „Penisen -<br />
large ment for healthy men“ 75<br />
Rösing, D.: „Confidence and Security are now present. Our<br />
Partnership has grown.“ 137<br />
Schneider, T.; Sperling, H.; Rübben, H.: Prostaglandin E1 and<br />
local Therapy of Erectile Dysfunction 180<br />
Historia<br />
Beier, K. M.; Alisch, R.: The Institute for Sexology and the Dr.<br />
Magnus Hirschfeld-Foundation (1919-1933) 83<br />
Discussion<br />
Loyen, G.; Raack, W.: Rigth of Custody and Childabuse – A seldom<br />
used Complement of Penalsystem 186<br />
Wille, R.; Dennin, R. H.; Lafrenz, M.: Questionability of the established<br />
concept of combating AIDS 141
Originalarbeiten<br />
Sexuologie<br />
Sexuologie 9 (1) 2002 65 – 77 / © Urban & Fischer Verlag<br />
http://www.urbanfischer.de/journals/sexuologie