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Lösungsskizze - Prof. Dr. Tatjana Hörnle - HU Berlin

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Arbeitsgemeinschaft zur Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil<br />

Humboldt-Universität zu <strong>Berlin</strong> – Wintersemester 2012/2013<br />

Fall 13: Haustyrannen<br />

F ist mit dem rohen und trunksüchtigen M verheiratet, unter dem sie schon seit Jahren<br />

unsäglich leidet. M selbst ist „Präsident“ einer gewalttätigen Rockergruppe, deren Mitglieder<br />

ihm blinden Gehorsam zu leisten haben. Aus nichtigen Anlässen wird F von M immer wieder<br />

brutal misshandelt, wobei ihre Verletzungen wiederholt so schwer waren, dass sie in<br />

Lebensgefahr schwebte. Auch hatte sie bereits infolge einer gewalttätigen<br />

Auseinandersetzung eine Fehlgeburt erlitten. Eine Scheidung oder Trennung kam für F nicht<br />

in Betracht, weil M ihr wiederholt gedroht hatte, er würde sie und ihre beiden gemeinsamen<br />

Kinder umbringen, wenn sie ihn verlasse. Auch zu einer Anzeige bei der Polizei konnte sie<br />

sich nicht entschließen, da M wiederholt angekündigt hatte, auch in diesem Falle werde<br />

entweder er oder einer seiner ihm ergebenen Kumpane auf seine Anweisung hin F und die<br />

Kinder töten. Insofern spielte sie bereits mehrfach mit dem Gedanken, dass nur die Tötung<br />

des M ihr Martyrium beenden könnte, verwarf diese Idee aber stets, weil sie nicht wusste, wie<br />

sie den großen und stämmigen M zur Strecke bringen sollte.<br />

Eines Abends, als M wieder einmal betrunken gegen vier Uhr morgens nach Hause kommt,<br />

schlägt er F erneut auf brutale Weise. Danach legt er sich schlafen. F pflegt ihre Wunden und<br />

macht sich daran, aufzuräumen, da die Kinder um 6 Uhr geweckt werden müssen und sie sich<br />

daher nicht schlafen legen will. Beim Aufräumen findet sie in der Manteltasche des M eine<br />

schussbereite Pistole. In ihrer Verzweiflung und aus Furcht vor weiteren Angriffen am<br />

nächsten Tag entschließt sie sich zu handeln und M zu töten. Sie betritt das Schlafzimmer und<br />

feuert acht Mal auf M, der auf Grund der Schussverletzungen sofort verstirbt.<br />

Hat sich F wegen Totschlags gem. § 212 StGB strafbar gemacht?<br />

<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Tatjana</strong> <strong>Hörnle</strong><br />

Lehrstuhl für Strafrecht Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie<br />

und Rechtsvergleichung<br />

http://hoernle.rewi.hu-berlin.de<br />

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Arbeitsgemeinschaft zur Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil<br />

Humboldt-Universität zu <strong>Berlin</strong> – Wintersemester 2012/2013<br />

Lösungsvorschlag:<br />

Strafbarkeit der F wegen Totschlages gemäß § 212 Abs. 1 StGB<br />

F könnte sich dadurch, dass sie acht Mal mit der Pistole auf M schoss und ihn dadurch tötete,<br />

wegen Totschlags gemäß § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.<br />

I. Tatbestand<br />

1. Objektiver Tatbestand<br />

F hat acht Mal auf M geschossen. M ist gestorben. Die Schüsse waren kausal für die Tötung<br />

des M, denn sie können nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Erfolg, nämlich der Tod<br />

des M, in seiner konkreten Gestalt entfiele. Der Todeserfolg ist F auch objektiv zurechenbar,<br />

sodass der objektive Tatbestand des § 212 Abs.1 StGB erfüllt ist.<br />

2. Subjektiver Tatbestand<br />

F handelte bezüglich der Verwirklichung des objektiven Tatbestands auch vorsätzlich. Sie<br />

wusste, dass M durch die Schüsse sterben könnte, und wollte diesen Erfolg herbeiführen<br />

(Absicht).<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

Fraglich ist, ob F rechtswidrig gehandelt hat. Dies wäre nicht der Fall, wenn ein<br />

Rechtfertigungsgrund vorliegt.<br />

1. Notwehr, § 32 StGB<br />

Als erstes ist an eine Rechtfertigung durch Notwehr gem. § 32 StGB zu denken. Fraglich ist,<br />

ob sich F in einer Notwehrlage befand. Hierzu ist ein gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff<br />

erforderlich.<br />

Zum Zeitpunkt der Gewalttätigkeiten lag ein Angriff auf die körperliche Unversehrtheit und<br />

das Leben der F vor; dieser Angriff war rechtswidrig. Fraglich ist jedoch, ob der Angriff<br />

gegenwärtig war. Gegenwärtig ist ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet<br />

oder noch andauert. Hier war jedoch der konkrete Angriff des M in dem Moment beendet, in<br />

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dem er sich ins Bett legte und einschlief. Zum Tatzeitpunkt ging von ihm keine Gefahr mehr<br />

aus. Zwar war zu erwarten, dass M auch am nächsten Tag wieder gewalttätig werden und<br />

einen erneuten Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der F starten konnte. Insoweit<br />

bestand also eine „Dauergefahr“ für Rechtsgüter der F. Diese wird jedoch nach ganz h.M. von<br />

dem Begriff des „gegenwärtigen Angriffs“ in § 32 StGB nicht erfasst. Wegen der<br />

„Schneidigkeit“ des Notwehrrechts ist dessen Reichweite zeitlich begrenzt und nicht auf<br />

Dauergefahren zu erstrecken. Mangels gegenwärtigen Angriffes ist F folglich nicht nach § 32<br />

StGB gerechtfertigt.<br />

2. Notstand, § 34 StGB<br />

F könnte indes durch Notstand nach § 34 StGB gerechtfertigt sein.<br />

a) Hierzu muss eine Notstandslage vorliegen. Eine solche besteht dann, wenn eine<br />

gegenwärtige Gefahr für geschützte Rechtsgüter des Täters oder eines <strong>Dr</strong>itten vorliegt. Unter<br />

einer Gefahr versteht man einen Zustand, der in eine konkrete Rechtsgutsbeeinträchtigung (=<br />

Verletzung) umschlagen kann, sofern keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Dies ist im<br />

vorliegenden Fall gegeben, da F befürchten musste, von M in ihrer körperlichen Unversehrtheit<br />

verletzt zu werden.<br />

Gegenwärtig ist die Gefahr, wenn die Rechtsgutsbedrohung bei natürlicher Weiterentwicklung<br />

jederzeit in einen Schaden umschlagen kann. Unter Gegenwärtigkeit versteht man hier einen<br />

Zustand, dessen Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich<br />

befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden. Dabei ist<br />

entscheidend, dass sich der Begriff der „Gegenwärtigkeit der Gefahr“ nicht mit dem Begriff des<br />

„gegenwärtigen Angriffs“ i.S. des § 32 StGB deckt. § 34 StGB erfasst auch so genannte<br />

Dauergefahren. Eine Dauergefahr liegt vor, wenn der Schadenseintritt jederzeit eintreten, aber<br />

auch noch einige Zeit auf sich warten lassen kann. Hier bestand eine solche Dauergefahr für das<br />

Leben und die körperliche Unversehrtheit der F, da der trunksüchtige, gewalttätige M sie schon<br />

mehrmals lebensgefährlich verletzt hatte und aufgrund der Vorfälle in der Vergangenheit damit<br />

zu rechnen war, dass sich diese Handlungen wiederholen, der Schaden also in absehbarer Zeit<br />

eintreten konnte.<br />

b) Die Tötung des M war geeignet, die Gefahr von F abzuwehren. Die Gefahr müsste ferner<br />

nicht anders abwendbar gewesen sein. Hier ist es jedoch bereits sehr fraglich, ob die Tötung das<br />

erforderliche Mittel war, um die von M ausgehende Dauergefahr zu beseitigen. Jedenfalls kann<br />

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aber nicht von einem wesentlichen Überwiegen des Erhaltungsgutes (gegenüber dem verletzten<br />

Rechtsgut ausgegangen werden. Das Interesse der F an ihrer körperlichen Unversehrtheit und<br />

ihrem Leben überwiegt das Interesse des M an seinem Leben nicht wesentlich. Vielmehr stehen<br />

sich hier gleichwertige Interessen gegenüber. Das Leben eines Menschen kann nicht geringer<br />

bewertet werden als das eines anderen. Zu berücksichtigen ist zwar auch, dass ein Fall des<br />

Defensivnotstands vorlag – die Rettungshandlung richtete sich gegen denjenigen, von dem die<br />

(Dauer-)Gefahr ausging. Das Tatopfer, M, begründete die Dauergefahr für die Täterin. Aber<br />

auch unter Berücksichtigung dieses Umstands fällt es schwer, zu begründen, dass das geschützte<br />

Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Auch wenn man das Verschulden des M an<br />

der Situation berücksichtigt, kann eine vorsätzliche Tötung von der Rechtsordnung nicht<br />

gestattet werden. Dies ergibt sich jedenfalls aus dem in § 34 S. 2 StGB genannten Umstand, dass<br />

die Tat ein angemessenes Mittel sein muss, die Gefahr abzuwenden. Selbsthilfe in Form der<br />

vorsätzlichen Tötung eines Menschen kann nur in den engen zeitlichen Grenzen des § 32 StGB,<br />

nur im Falle der Notwehr, als rechtmäßige Maßnahme eingeordnet werden. Der Bereich des<br />

rechtlich Zulässigen wird jedoch überschritten, wenn es um Tötung zur vorsorglichen<br />

Gefahrenabwehr gegenüber einem Störer geht.<br />

Die Tötung von M war daher nicht gerechtfertigt.<br />

III. Schuld<br />

1. Notwehrexzess, § 33 StGB<br />

F könnte aufgrund eines Notwehrexzesses nach § 33 StGB entschuldigt sein. Dann müsste sie<br />

die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken überschritten haben.<br />

Erforderlich ist ein Überschreiten der Grenzen der Notwehr. Daher ist primär der sog.<br />

intensive Notwehrexzess von § 33 StGB erfasst. Hier hingegen lag der Fall anders, da auf<br />

Grund der Beendigung des Angriffs schon gar keine Notwehrlage mehr gegeben war<br />

(nachzeitiger extensiver Notwehrexzess) und möglich künftige Angriffe noch nicht begonnen<br />

hatten (vorzeitiger extensiver Notwehrexzess). Ob der extensive Notwehrexzess von § 33<br />

StGB erfasst wird, ist umstritten. Ein Ansatz bejaht dies: Die „Grenzen eines Notwehrrechts“<br />

könne auch derjenige überschreiten, der die zeitlichen Grenzen überschreite. Allein<br />

entscheidend sei, dass die Tat in Zusammenhang mit der Ausübung eines Notwehrrechts<br />

geschehe. Für die Schuld des Täters könne es keinen Unterschied machen, ob er die Grenzen<br />

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rechtmäßiger Verteidigung in Intensität oder zeitlicher Hinsicht überschreite. Dieser Auffassung<br />

ist aber entgegenzuhalten, dass die asthenischen Affekte (Verwirrung, Furcht, Schrecken)<br />

gerade nicht allein, sondern nur zusammen mit der Tatsache, dass damit ein tatsächlicher<br />

rechtswidriger Angriff abgewendet wird, zur Straffreiheit führen sollen. Nach einem<br />

restriktiveren Ansatz umfasst § 33 StGB nur den intensiven, nicht aber den extensiven<br />

Notwehrexzess. Dem ist beizupflichten. Die Nachsicht, die die Anwendung des § 33 StGB für<br />

den Täter bedeutet, ist auch darauf zurückzuführen, dass der Täter in der Situation unter<br />

extremem Stresses handelt, der bei einem laufenden oder jedenfalls unmittelbar bevorstehenden<br />

Angriff entsteht. Bei einem beendeten oder erst in der Zukunft zu erwartenden Angriff ist der<br />

psychische <strong>Dr</strong>uck dagegen weniger akut. In unserem Fall ist daher eine Anwendung des § 33<br />

StGB für F ausgeschlossen. Es scheidet daher auch der Entschuldigungsgrund des § 33 StGB<br />

aus (andere Ansicht vertretbar).<br />

2. Entschuldigender Notstand, § 35 StGB<br />

F könnte aber nach § 35 StGB aus entschuldigendem Notstand entschuldigt sein.<br />

Es bestand eine Notstandslage, nämlich eine gegenwärtige Gefahr für die Täterin selbst, d.h.<br />

für die körperliche Unversehrtheit der F.<br />

Die Gefahr dürfte nicht anders abwendbar gewesen sein, d.h. sie müsste das relativ mildeste<br />

Mittel zur Beseitigung der Gefahr dargestellt haben. Dies ist hier fraglich. Zu denken wäre als<br />

Alternative an ein Einschalten der Polizei. Ein solches kam allerdings subjektiv aus der Sicht<br />

der Täterin nicht in Betracht, da sie in diesem Falle noch mehr um ihr Leben und das Leben<br />

der gemeinsamen Kinder fürchtete. Auch die Möglichkeit einer Scheidung entfiel ihrer<br />

Ansicht nach wegen der <strong>Dr</strong>ohung von M, F und die Kinder dann umzubringen. Das Merkmal<br />

der anderen Abwendbarkeit ist indes objektiv zu bestimmen. Der BGH hatte jüngst einen<br />

ähnlichen Fall zu entscheiden, wobei er Folgendes ausführte 1 :<br />

Die Gefahr wäre dann nicht anders als durch die Notstandstat abwendbar gewesen,<br />

wenn diese das einzig geeignete Mittel gewesen wäre, der Notstandslage wirksam zu<br />

begegnen (BGH NJW 1966, 1823, 1824 f.; Urteil vom 21. Mai 1992 - 4 StR 140/92).<br />

Als anderweitige Abwendungsmöglichkeiten kamen hier ersichtlich die<br />

Inanspruchnahme behördlicher Hilfe oder der Hilfe karitativer Einrichtungen in<br />

1 BGH in NJW 2003, S.2464-2468.<br />

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Betracht, namentlich der Auszug der Angeklagten mit den Töchtern aus dem<br />

gemeinsamen Haus und die Übersiedlung etwa in ein Frauenhaus, aber auch das<br />

Suchen von Zuflucht bei der Polizei mit der Bitte um Hilfe im Rahmen der<br />

Gefahrenabwehr; Letzteres wäre naheliegenderweise mit einer Strafanzeige<br />

verbunden gewesen. Die Angeklagte hat indessen nicht versucht, sich auf diese Weise<br />

aus ihrer bedrängten Lage zu befreien. Unter diesen Umständen könnte die Gefahr<br />

nur dann als nicht anders abwendbar bewertet werden, wenn aufgrund konkreter<br />

Anhaltspunkte des Einzelfalles die hinreichende Wirksamkeit der<br />

Handlungsalternativen von vornherein zweifelhaft gewesen wäre. Denn auch bei<br />

Bestehen einer Dauergefahr muss die Abwehr nicht darauf beschränkt werden, die<br />

Gefahr nur hinauszuschieben (BGHSt 5, 371, 375; BGH NJW 1979, 2053, 2054).<br />

Anhaltspunkte dafür, dass die Alternativen zur Abwehr der Gefahr nicht in diesem<br />

Sinne wirksam gewesen wären, können sich etwa daraus ergeben, dass die Behörden<br />

trotz Hilfeersuchens und Kenntnis der Lage in der Vergangenheit nicht wirksam<br />

eingeschritten waren und daher ungewiss bleiben musste, ob sie in der aktuellen<br />

Notstandslage nachhaltig eingreifen würden (BGH NJW 1966, 1823, 1824 f.; NJW<br />

1979, 2053, 2054), oder dass mögliche polizeiliche Hilfe die Notstandslage nicht<br />

wirksam hätte beseitigen können (dazu BGH GA 1967, 113). Nach den bisherigen<br />

Feststellungen lässt sich nicht verlässlich beurteilen, ob die Angeklagte zur<br />

Abwendung der ihr und den Kindern drohenden Gefahr ohne aussichtsreiche,<br />

wirksame Handlungsalternative war, wiewohl dies eher fern liegen wird. Auch wenn<br />

im Falle des Auszugs und der Inanspruchnahme von Hilfe Nachstellungen Ms zu<br />

besorgen gewesen wären, so bleibt zu bewerten, wie ernst die von diesem<br />

ausgesprochenen <strong>Dr</strong>ohungen tatsächlich zu nehmen waren. Schließlich ist im<br />

Grundsatz bei vollständiger Kenntnis des objektiven Sachverhalts davon auszugehen,<br />

dass solcherart in Bedrängnis geratenen Familienangehörigen von staatlichen<br />

Stellen und karitativen Einrichtungen auch wirksame Hilfe zuteil wird ... An die<br />

Annahme anderweitiger Abwendbarkeit der Dauergefahr sind nicht zuletzt aus<br />

normativen Gründen und zumal dann, wenn die Vernichtung des Rechtsguts Leben in<br />

Rede steht, keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Dem entspricht die<br />

Verpflichtung staatlicher Stellen (der Polizei, aber zum Beispiel auch der<br />

Jugendämter) zum wirksamen Einschreiten. Danach gilt: Die von einem<br />

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"Familientyrannen" aufgrund seiner immer wiederkehrenden erheblichen<br />

Gewalttätigkeiten ausgehende Dauergefahr für die übrigen Familienmitglieder ist<br />

regelmäßig im Sinne des § 35 Abs. 1 StGB anders abwendbar als durch die Tötung<br />

des "Tyrannen", indem Hilfe <strong>Dr</strong>itter, namentlich staatlicher Stellen in Anspruch<br />

genommen wird.<br />

Unter Berücksichtigung dieser Auffassung des BGH wird auch in diesem Fall eine<br />

Entschuldigung aus § 35 StGB abzulehnen sein, denn auch hier hätte F aus objektiver Sicht<br />

zunächst versuchen sollen, sich staatlicher Stellen und Behörden zu bedienen. In einem<br />

Rechtsstaat steht den Opfern ein Rechtssystem zur Verfügung, das sie stets und zunächst<br />

ausschöpfen müssen, bevor sie zur Selbstjustiz übergehen.<br />

3. § 35 Abs. 2 StGB<br />

F wäre allerdings dann nicht zu bestrafen, wenn die Gefahr zwar objektiv anders abwendbar<br />

gewesen wäre, sie aber bei Begehung der Tat irrig Umstände angenommen hätte, die sie<br />

entschuldigen würden, und wenn sie diesen Irrtum nicht hätte vermeiden können (§ 35 Abs. 2<br />

StGB). F hielt ihre Situation für ausweglos; sie glaubte, die Polizei nicht einschalten zu<br />

können und auch bei einer Trennung von M mit dem Schlimmsten, nämlich ihrer Tötung oder<br />

der ihrer Kinder, rechnen zu müssen. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, dass F sich<br />

über die anderweitige Abwendbarkeit der Gefahr irrte. Fraglich ist aber, ob dieser Irrtum auch<br />

unvermeidbar war. Der BGH führte hierzu in o.g. Entscheidung aus:<br />

... kommt es für die Frage der Vermeidbarkeit eines solchen Irrtums (§ 35 Abs. 2<br />

StGB) darauf an, ob die Angeklagte mögliche Auswege gewissenhaft geprüft hat.<br />

Dabei sind die Anforderungen an diese Prüfungspflicht nach den konkreten<br />

Tatumständen zu bestimmen (BGH, Urteil vom 21. Mai 1992 - 4 StR 140/92). Von<br />

Bedeutung sind dafür insbesondere die Schwere der Tat und die Umstände, unter<br />

denen die Prüfung stattgefunden hat, insbesondere die Zeitspanne, die für sie zur<br />

Verfügung stand und ob dem Täter eine ruhige Überlegung möglich war;<br />

gegebenenfalls kommt es auch darauf an, wodurch ihm die Einsicht in die<br />

tatsächliche Sachlage verschlossen war. Hier stand mit der Tötung eines Menschen<br />

eine der am schwersten wiegenden Straftaten und der Angriff auf das höchste<br />

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Individualrechtsgut in Frage. Daher werden an die Prüfungspflicht der Angeklagten<br />

strenge Anforderungen zu stellen sein. Für die Vermeidbarkeit eines entsprechenden<br />

Irrtums würde es sprechen, wenn sich auch in der neuen Hauptverhandlung ergäbe,<br />

dass der Angeklagten vor der Tat eine lange Überlegungsfrist zur Verfügung stand,<br />

in der sie Erkundigungen über Möglichkeiten zur anderweitigen Abwendbarkeit der<br />

Gefahr und Rat hätte einholen können.<br />

Hier erscheint der Irrtum von F bei Berücksichtigung der besonderen Schwere der Tat und der<br />

verhältnismäßig langen Vorgeschichte nicht als unvermeidbar. Aus diesem Grunde ist auch<br />

eine Entschuldigung nach § 35 Abs. 2 StGB abzulehnen. Es bleibt deshalb lediglich der<br />

Ausweg, wegen des vermeidbaren Irrtums über die anderweitige Abwendbarkeit der Gefahr<br />

die Strafe zu mildern, § 35 Abs. 2 S. 2 StGB.<br />

Exkurs: Schuldfähigkeit, verminderte Schuldfähigkeit, §§ 20, 21 StGB<br />

Es gibt Stimmen, die insbesondere in den Haustyrannenfällen an der psychischen<br />

Zurechenbarkeit bzw. vollen Urteilsfähigkeit des jahrelang misshandelten Opfers zweifeln.<br />

Insbesondere in der US-amerikanischen Wissenschaft hat sich hierfür der Begriff „battered<br />

woman“-Syndrom eingeprägt. Unabhängig davon, wie man zu dieser Rechtsfigur steht und<br />

ob und inwieweit dies auch nach deutschem Recht zu einem Schuldausschluss oder einer<br />

Schuldminderung führt, gibt der vorliegende Sachverhalt hinsichtlich der konkreten<br />

psychischen Konstitution der F wenig Auskunft, sodass an der Schuldfähigkeit auf Grund des<br />

vorliegenden Sachverhalts nicht zu zweifeln ist.<br />

IV. Ergebnis<br />

F hat sich gemäß § 212 I StGB strafbar gemacht. (Die Strafe ist nach §§ 35 Abs. 2 S. 2, 49<br />

Abs. 1 StGB zu mildern.)<br />

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