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Theorie und Praxis - volker-rapsch.de

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Volker Rapsch präsentiert die<br />

<strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong><br />

<strong>de</strong>s Familienlebens<br />

Skizzen <strong>und</strong> Studien für eine Unterhaltung<br />

Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Personen (Hauptrollen) in <strong>de</strong>r Reihe ihres Auftretens:<br />

Jean-Francois, Carlo, Rambo, Eva-Maria, Sonja<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Erstes Kapitel: Vorspiel Seite 2<br />

Zweites Kapitel: Erstes Zwischenspiel Seite 14<br />

Drittes Kapitel: Hauptspiel Seite 19<br />

Erster Exkurs Seite 25<br />

Viertes Kapitel: Zweites Zwischenspiel Seite 67<br />

Fünftes Kapitel: Hauptspiel Zweiter Teil Seite 69


Erstes Kapitel: Vorspiel<br />

1<br />

Carlo: Jaja, das schmerzt.<br />

Jean-François: Genau darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, bevor ich mich an <strong>de</strong>n Schreibtisch<br />

setze <strong>und</strong> meine Rezension schreibe. – Verehrter Carlo, über Sie schreibe ich am liebsten. Die Rolle<br />

<strong>de</strong>s Wächters überzeugend darzustellen, heißt in <strong>de</strong>r Tat, <strong>de</strong>m, was nicht ist, Form <strong>und</strong> Figur zu<br />

verleihen. Das können nur ganz Große.<br />

Carlo: Ja! Ja! Ausgezeichnet! Denn schließlich gibt es ja gar keinen Beweis dafür, daß das von mir<br />

auf die Bretter gesetzte Sein tatsächlich so existiert, wie ich es auf die Bretter setze. Phänomenal,<br />

ein glänzen<strong>de</strong>r Anfang für Ihre Rezension.<br />

2<br />

Jean-François: Wirklich große Gedanken bedürfen keiner Nie<strong>de</strong>rschrift, sie leben aus sich selbst<br />

heraus.<br />

Carlo: Schon, schon, genau das wollte ich eigentlich sagen. Ich hätte es nur an<strong>de</strong>rs ausgedrückt.<br />

Aber es läuft auf dasselbe hinaus. – Jean-François, ich liebe Ihre Frau!<br />

Jean-François: Da sind Sie wohl <strong>de</strong>r einzige?!<br />

Carlo: Sind Sie nicht schockiert?<br />

Jean-François: Nein, überrascht.<br />

Carlo: Ich sage es nochmal mit Ihren Worten: nur die äußerste Subjektivität! Kurz, ich liebe Ihre<br />

Frau.<br />

Jean-François: Sie sagten es bereits.<br />

Carlo: Ach, tat ich das. Wie auch immer, es gibt da ein Problem.<br />

Jean-François: Noch eins?<br />

Carlo: Ich liebe auch Sonja.<br />

3<br />

Jaja, so geht's heutzutage zu in <strong>de</strong>r bösen Welt. Da bemüht sich einer, einö sympathisches Bild<br />

abzugeben, <strong>und</strong> schon wird ihm das von einem an<strong>de</strong>ren als Verstellung o<strong>de</strong>r falsches Spiel<br />

ausgelegt. Dabei ist <strong>de</strong>r Mensch doch nichts als ein Bild. Die Philosophen haben nichts begriffen,<br />

wenn sie behaupten, daß es egal ist, was die Welt von uns hält <strong>und</strong> nur zählt, was wir sind. Schlimm<br />

ist nur, man ist nicht Herr über sein Bild.


4<br />

Rambo: Sonntagsarbeit gehört verboten. Und dann diese eklatante Fehlbesetzung mit <strong>de</strong>r<br />

aufgeblasenen Schneeflocke. Eine Wächte <strong>und</strong> kein Wächter! Und überhaupt: dieser ganze<br />

Kulturkampf. Schon im Titel nichts als Lügen. Was soll da schon heißen: Auch Zwerge haben klein<br />

angefangen?! Da ist man nun an Wuchs so hart gestraft <strong>und</strong> muß die doppelte Impotenz eines<br />

Windbeutels wie Jean-François ertragen. Von wegen großer Kritiker, nicht mal schreiben kann er.<br />

Aber die St<strong>und</strong>e <strong>de</strong>r Wahrheit wird kommen. Alle wer<strong>de</strong>n sich noch w<strong>und</strong>ern, wenn ich die große<br />

Bühne <strong>de</strong>r Öffentlichkeit betrete <strong>und</strong> alle erfahren, daß seit <strong>de</strong>m Skandal von Wanne-Eickel je<strong>de</strong><br />

Kritik <strong>de</strong>s großen Meisters von mir stammt.<br />

5<br />

Eva-Maria: Ach, Carlo, Du bist ein sexuelles Disneyland. Ausschweifend wie ein Flächenbrand <strong>und</strong><br />

pünktlich wie eine schweizer Bahnhofsuhr. Deine Lei<strong>de</strong>nschaft ist so mitreißend... Egal, ich<br />

schließe die Augen <strong>und</strong> <strong>de</strong>nke mir, Du seist Heinz Drache.<br />

Carlo: Komm, Eva-Maria, lassen wir <strong>de</strong>n Drachen steigen.<br />

Eva-Maria: Ja, wir haben keine Zeit zu verlieren. Das Leben ist kürzer als die Länge <strong>de</strong>r Lust.<br />

Jean-François: Wissen ist Macht. Aber die Natur ist mächtiger. Sie ruft mich.<br />

6<br />

Eva-Maria: Eine Flasche im Bett <strong>und</strong> eine in <strong>de</strong>r Hand. Die Wüste Gobi als Liebesland. – Hat Sonja<br />

die Schnauze voll von Dir? – Es gibt zwar auch ein Naturrecht auf Wi<strong>de</strong>rstand, aber okay,<br />

<strong>de</strong>klinieren wir, aber nur, wenn Du mir erzählst, was damals in La Rochelle passiert ist.<br />

Jean-François: In La Rochelle? Nichts ist da passiert. Was soll da passiert sein? Weiß ich, was in La<br />

Rochelle passiert???<br />

Eva-Maria: Dann eben keine Grammatik. Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen.<br />

Jean-François: Also gut, Eva-Maria. Ich erzähl Dir alles, kann mich allerdings nur noch dunkel<br />

erinnern. Und eigentlich wäre gar nichts passiert, wenn dieser dämliche Zwerg nicht oben <strong>und</strong> unten<br />

verwechselt hätte. Tja, weißt Du, damals hatte ich noch Unterhaltungsnummern fürs Fernsehen<br />

recherchiert...<br />

Rambo: Mama, täuscht mich meine Ahnung o<strong>de</strong>r trifft sie zu? Ist Carlo mein Vater?<br />

Sonja: Noch nicht, aber was nicht ist, kann ja noch wer<strong>de</strong>n.<br />

7<br />

8<br />

Jean-François: Die Seele <strong>de</strong>s ganzen lebt in <strong>de</strong>n Details. Ach, Scheiß drauf, man muß soweit über


<strong>de</strong>n Dingen stehen, daß die Einzelheiten verschwimmen.<br />

Eva-Maria: Mir reicht's!<br />

Jean-François: Hört, hört! Ach komm, wir vertragen uns wie<strong>de</strong>r.<br />

Eva-Maria: Neenee, ich bleib' dabei. Ich geh' zu meiner Mutter.<br />

9<br />

Jean-François: Muß ich Dich wirklich darauf hinweisen, daß Deine Mutter vor nunmehr zwanzig<br />

Jahren von Pilzsammlern in <strong>de</strong>r Oberpfalz in einem Zustand vorgef<strong>und</strong>en wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n die Gazetten<br />

für gewöhnlich als einen gräßlichen F<strong>und</strong> bezeichnen?<br />

Eva-Maria: Hast Du schon eine I<strong>de</strong>e?<br />

Jean-François: Natürlich nicht.<br />

10<br />

Jean-François: O, dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck!...<br />

11<br />

Einhalt! Frage: Kann das große Minus dieser weitverzweigten, nachgera<strong>de</strong> weltweiten<br />

Verzweiflung <strong>und</strong> Bosheit, ja, auch Bosheit, wir wer<strong>de</strong>n's erleben, in ein Plus <strong>de</strong>r Hoffnung<br />

verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n? Und was ist das für ein Gott, <strong>de</strong>r, sollte es ihn überhaupt geben, sich<br />

anscheinend nicht um all dieses Elend kümmert. Beginnen wir von vorn:<br />

Jean-François: O, dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck!...<br />

12<br />

Eva-Maria: Aber Carlo war gut.<br />

Jean-François: Als was?<br />

Eva-Maria: Als Wächter natürlich, mein lieber Jean-François.<br />

Jean-François: Ich dachte schon, du meinst als Schauspieler.<br />

Eva-Maria: Alle Schauspieler sind Wächter.<br />

Jean-François: Wo hast Du <strong>de</strong>nn diesen Schwachsinn her?<br />

13


Eva-Maria: Aus <strong>de</strong>iner letzten Kritik. Ich erinnere mich genau: Ein Kultstück ohne Kult, das waren<br />

<strong>de</strong>ine Worte. Je<strong>de</strong>r einzelne dieser grandiosen Schauspieler, allen voran Ottokar Steiner, tauchte<br />

wankend aus einer Traumwelt auf <strong>und</strong> ließ nur wi<strong>de</strong>rwillig die Kopfgestalten ziehen, die <strong>de</strong>m Stück<br />

entwachsen waren. Gib's zu, Jean-François, das waren <strong>de</strong>ine Worte.<br />

14<br />

Jean-François: Seit wann liest Du meine Kritiken?<br />

Eva-Maria: Über irgen<strong>de</strong>twas muß man sich ja amüsieren in dieser kalten Welt.<br />

Jean-François: Ist <strong>de</strong>r Satz auch von mir?<br />

Eva-Maria: Stell dir vor, ausnahmsweise mal nicht.<br />

Jean-François: Früher Wittgenstein?<br />

Eva-Maria: Nein, im Ernst, vergorener Jean-François.<br />

15<br />

Jean-François: Ach lassen wir das. Wir sollten aufhören, es wird wirklich zuviel, um mal einen<br />

großen Philosophen <strong>de</strong>s Jetzt zu zitieren – Möchtes du einen Drink, Schatz?<br />

Eva-Maria: Gern. Im übrigen fin<strong>de</strong> ich es ziemlich abgeschmackt, daß Du für Carlo <strong>de</strong>n Claqueur<br />

machst.<br />

Jean-François: Carlo ist ein Nichts.<br />

Eva-Maria: Über dieses Nichts re<strong>de</strong>st du laufend.<br />

Jean-François: Variante, eh! Ganz früher Wittgenstein!<br />

Eva-Maria: Jaja, aber du kannst nicht schweigen.<br />

Jean-François: Ach, Carlo, Bretter, die die Welt be<strong>de</strong>uten...<br />

Eva-Maria: Er hält seinen Kopf tatsächlich für die Welt!<br />

16<br />

Jean-François: Eva-Maria, red' doch nicht so dumm daher. Sei doch froh, daß wir die Bretter haben.<br />

Unsere schöne Welt ist doch, wenn es sie überhaupt geben sollte, für unsereinen gar nicht ohne<br />

Bretter zu erkennen. Wir können uns noch so mühen, wir schaffen es einfach nicht, zu ihr<br />

vorzudringen. Und <strong>de</strong>shalb sind die Bretter so wichtig. Kapiert?!<br />

Carlo: Mein lieber Jean-François, wenn ich sie so höre, macht mich das richtig gespannt auf ihre<br />

Kritik.


17<br />

Carlo: Als Wächter war ich doch gut, o<strong>de</strong>r?<br />

Jean-François: Fast eine I<strong>de</strong>e zu gut, möchte ich meinen.<br />

Carlo: Meinen sie? Vielleicht habe ich in meine Rolle als Wächter vor <strong>de</strong>m Tor zu viel<br />

hineingelebt...<br />

Eva-Maria: Hineinleben ist gut. Haha. Im Hineinleben in die Rolle wird <strong>de</strong>ren Existenz niemals<br />

ausdrücklich festgestellt.<br />

Halt! Eva-Maria, dieses lebenslustige Geschöpf, versteht es immer wie<strong>de</strong>r aufs neue, mit kleinen<br />

<strong>und</strong> – wie in diesem Fall – nachgera<strong>de</strong> fulminanten Hinweisen, die auf eine außeror<strong>de</strong>ntliche<br />

praktische Intelligenz schließen lassen, uns auf die richtige Fährte zu setzen. « Im Hineinleben in<br />

die Rolle wird <strong>de</strong>ren Existenz niemals ausdrücklich festgestellt ». Welch ein Satz! Aber fahren wir<br />

fort:<br />

Jean-François: Hören Sie nicht auf Eva-Maria, lieber Carlo.<br />

Carlo: Ich hätte es nicht besser formulieren können.<br />

Jean-François: Wie recht Sie haben.<br />

18<br />

Carlo: Dennoch, es ist eine Sache, mit Worten zu beschreiben, was <strong>de</strong>r sinnliche Körper <strong>de</strong>s<br />

Schauspielers zu repräsentieren versucht, <strong>und</strong> es ist eine an<strong>de</strong>re Angelegenheit, das auch zu tun.<br />

Hoert! Hoert!<br />

Jean-François: Donnerwetter!<br />

19<br />

Jean-François: Aber, aber, mein Bester, ich liebe meine Frau, ich schlafe mit Sonja, <strong>und</strong> wenn ich<br />

Sie auf <strong>de</strong>r Bühne sehe, muß ich weinen.<br />

Carlo: Welch eine Vielseitigkeit! Sie weinen, wie Sie lieben. Weil Sie ergriffen sind.<br />

20<br />

Rambo, ja, <strong>de</strong>r Rambo. Sein Leben ist mittlerweile von <strong>de</strong>rart horren<strong>de</strong>n Mißinterpretationen <strong>und</strong><br />

biografischen Unklarheiten umstellt, daß ich es für meine Chronistenpflicht halte, das Wort zu<br />

ergreifen. Freilich, nicht darum kann es gehen, Unentschuldbares zu entschuldigen <strong>und</strong> selbst nur<br />

herabzuspielen. Aber... Nun, vielleicht zunächst nur so viel: Verschie<strong>de</strong>ne namhafte<br />

Wissenschaftler haben respektabel begonnen, wenngleich es offenbar auch ihnen, darunter <strong>de</strong>r<br />

große Anthropologe Ernst-Wilhelm von Hoff, nicht gelang, persönliche Ressentiments<br />

hintanzustellen. Um so wichtiger wäre <strong>de</strong>r Versuch, Rambos Leben in sachlich distanzierter


Betroffenheit zu würdigen. Aus <strong>de</strong>m Mann einen Frankenstein zu stilisieren, mag <strong>de</strong>n<br />

Publikumsgeschmack zwar kitzeln, hingegen dient es nicht auch nur <strong>de</strong>r geringsten Klärung.<br />

Rambo sprach niemals o<strong>de</strong>r nur ganz selten über seine Kindheit. Als ich ihn auf seinen Wuchs hin<br />

ansprach, <strong>de</strong>utete er an, er habe sich im Bubenalter verstümmelt. Daraufhin – ich erinnere mich<br />

genau – lächelte er sein geniertes Lächeln <strong>und</strong> zitierte <strong>de</strong>n 137. Psalm.<br />

Eva-Maria: Aaaaachsooo?!<br />

21<br />

Jean-François: Na, ganz einfach. Wenn eine Frau ein uneheliches Kind bekommt, zwinkert man<br />

sich zu <strong>und</strong> sagt: « Tsss, wie die Jungfrau von La Rochelle. »<br />

Eva-Maria: Allerdings: Tsss! Eine ziemlich mü<strong>de</strong> Variante <strong>de</strong>r unbefleckten... Wo aber steckt die<br />

Pointe?<br />

Jean-François: Dem Fernsehen hatte ich empfohlen, diese Nummer nicht in die Serie Jungfrauen<br />

unserer Zeit aufzunehmen. Das hätte mich meine Karriere gekostet.<br />

Was aber war nur wirklich geschehen in La Rochelle?<br />

22<br />

Rambo: Jean-François wird sich noch w<strong>und</strong>ern. Ja, w<strong>und</strong>ern wird er sich. Wäre nicht das Desaster<br />

in La Rochelle mit <strong>de</strong>r zersägten Jungfrau... Noch etwas Zeit <strong>und</strong> Jean-François, diese Fata<br />

Morgana <strong>de</strong>r bildungsbürgerlichen Wüste, wird sich erweisen als das, was er ist!<br />

23<br />

Rambo: Alles ist relativ, mein lieber Jean-François, auch das Phänomen <strong>de</strong>r Größe, sogar in <strong>de</strong>r<br />

letzten Reihe. Ich zum Beispiel. Von Schiller zu Millowitsch, von Goethe zu Labiche – vor mir<br />

immer die Dame mit Hut. Ich habe längst aufgehört, Damen zu hassen. Ich hasse Hüte. Das ist<br />

tragisch <strong>und</strong> verständlich. Tragisch, weil ich die Damen ohnehin nicht sehe. Und verständlich, weil<br />

alles, was ich sehe, <strong>de</strong>r Hut ist. Auch Zwerge haben Träume. Eine Dame ohne Hut.<br />

24<br />

Jean-François: O dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck.<br />

Sonja: Was ist eine Schlüsselszene?<br />

Jean-François / Eva-Maria / Carlo: Es reicht nicht aus, nur blond zu sein ...<br />

Sonja: Man muß auch noch wissen, was es be<strong>de</strong>utet.


25<br />

Jean-François: Endlich allein.<br />

Sonja: Und doch zu zweit.<br />

Jean-François: Tempus fugit.<br />

Sonja: Was heißt das?<br />

Jean-François: Die Zeit verfliegt. Das war lateinisch.<br />

Sonja: Lateinisch haben wir es noch nie getrieben. Ich liebe es, wenn Du so alte Sprachen sprichst.<br />

26<br />

Carlo: Hör mal, ich hab' <strong>de</strong>n Wisch gef<strong>und</strong>en! Beschluss: Die Ehefrau <strong>de</strong>s Reisen<strong>de</strong>n Jan Carlo<br />

Montag hat die To<strong>de</strong>serklärung <strong>de</strong>s am 31. Mai 1898 in Nürnberg geborenen Reisen<strong>de</strong>n Jan Carlo<br />

Montag, zuletzt wohnhaft gewesen in Bremen, Außer <strong>de</strong>r Schleifmühle Nr. 73, beantragt <strong>und</strong> zur<br />

Begründung <strong>de</strong>s Antrags glaubhaft gemacht, daß Montag sich aller Wahrscheinlichkeit nach am 21.<br />

Januar 1945 das Leben genommen hat. Seine Bekleidungsstücke, sämtliche Personalpapiere,<br />

Brieftasche <strong>und</strong> Geldbörse wur<strong>de</strong>n an diesem Tage in unmittelbarer Nähe <strong>de</strong>s Weserufers gef<strong>und</strong>en.<br />

Es fehlt seit<strong>de</strong>m von ihm je<strong>de</strong> Spur, auch sind alle Nachforschungen ergebnislos verlaufen. Von<br />

<strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>s Verschollenen ist keine Nachricht bei <strong>de</strong>m Gericht eingegangen. Die zur<br />

Begründung <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>serklärung erfor<strong>de</strong>rlichen Tatsachen sind auf Gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r vorgenommenen<br />

Ermittlungen für erwiesen erachtet wor<strong>de</strong>n. Der Antrag ist daher gerechtfertigt. Als Zeitpunkt <strong>de</strong>s<br />

To<strong>de</strong>s war, da die Ermittlungen ein An<strong>de</strong>res nicht ergeben haben, <strong>de</strong>r 21. Januar 1945 anzunehmen.<br />

Das Amtsgericht erkennt daher wie folgt: I. Der verschollene Reisen<strong>de</strong> Jan Carlo Montag, geboren<br />

am 31. Mai 1898 in Nürnberg, zuletzt wohnhaft gewesen in Bremen, Außer <strong>de</strong>r Schleifmühle Nr.<br />

73, wird für tot erklärt. II. Als Zeitpunkt <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s wird <strong>de</strong>r 21. Januar 1945 festgesetzt. III. Die<br />

Kosten <strong>de</strong>s Verfahrens fallen <strong>de</strong>m Nachlasse zur Last. Bremen, <strong>de</strong>n 9. Januar 1948. Das<br />

Amtsgericht, Abt. f. Aufgebotssachen: gez. Dr. Ohlsen. Für die Ausfertigung: S. Kräcker,<br />

Justizangestellte, als Urk<strong>und</strong>sbeamtin d. Geschäftsstelle. Es wird hiermit bescheinigt, daß<br />

vorstehen<strong>de</strong>r Beschluß rechtskräftig gewor<strong>de</strong>n ist. Bremen, <strong>de</strong>n 20. April 1948. Die Geschäftsstelle<br />

<strong>de</strong>s Amtsgerichts: gez. unleserlich, Justizamtmann.<br />

Sonja: Ich versteh' nicht ganz. Geht's hier um <strong>de</strong>inen Vater? Und welche Rolle soll Rambo dabei<br />

spielen? Gibt es irgen<strong>de</strong>ine Verbindung zwischen Bremen <strong>und</strong> La Rochelle? Ist <strong>de</strong>in Vater<br />

vielleicht mal dort gewesen? Wieso ist er dann überhaupt zurückgekommen?<br />

Carlo: Wer weiß das schon. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Rambo mehr weiß, als wir<br />

erahnen.<br />

27<br />

Eva-Maria: Nun höre sich einer das an: « Durch Geburt <strong>und</strong> Stellung hervorragen<strong>de</strong> Frauen, von<br />

nicht min<strong>de</strong>r angesehenen Männern unterstützt, haben sich zusammengetan, um in <strong>de</strong>r Nähe von<br />

Bonn ein Damenheim zu grün<strong>de</strong>n, in welchem alte <strong>und</strong> junge alleinstehen<strong>de</strong> Damen für längere<br />

o<strong>de</strong>r kürzere Zeit o<strong>de</strong>r auch zeitlebens Aufnahme fin<strong>de</strong>n können. » Hört sich doch gut an, o<strong>de</strong>r?!<br />

Allein schon wegen <strong>de</strong>r alleinstehen<strong>de</strong>n jungen Frauen. Vielleicht suchen die ja noch einen


Heimleiter, Jean-François. Sonja wird es schon verkraften.<br />

Jean-François: Ach, laß das doch. Reite doch nicht immer auf irgendwelchen erf<strong>und</strong>enen<br />

Geschichten rum.<br />

Eva-Maria: Reiten ist gut, Jean-François, haha, das ist das richtige Stichwort, haha, aus Deinem<br />

M<strong>und</strong>e. – Paß auf, es geht noch weiter. Hier steht, daß man <strong>de</strong>n Frauen « Gelegenheit zu passen<strong>de</strong>r<br />

<strong>und</strong> lohnen<strong>de</strong>r Arbeit zu schaffen <strong>und</strong> Stellen zur Selbstgewinnung ihres Lebensunterhalts zu<br />

vermitteln bestrebt ist. » Davon verstehst Du doch was, Jean-François! Die könnten sich keinen<br />

besseren Lehrmeister, vielleicht sollte ich besser Rittmeister sagen, wünschen.<br />

Jean-François: Langsam gewinne ich <strong>de</strong>n Eindruck, dass Du mich loswer<strong>de</strong>n möchtest. Wie lange<br />

sind wir jetzt verheiratet?<br />

Eva-Maria: Ach, Jean-François, frag' nicht, wenn Du wüßtest... Merke Dir lieber dies! Ich lese mal<br />

weiter vor: « Wer diesem außeror<strong>de</strong>ntlich för<strong>de</strong>rungswürdigen Zweck näher zu treten beabsichtigt,<br />

wen<strong>de</strong> sich an die Vorsitzen<strong>de</strong>, Frau von Herget in Oberkassel bei Bonn » – Du musst nicht<br />

mitschreiben, ich gebe Dir gleich die Zeitung, dann kannst Du alles noch einmal in Ruhe nachlesen.<br />

Diese Dame sowie, wie es hier heisst, « eine große Reihe an<strong>de</strong>rer Damen <strong>und</strong> Herren, <strong>de</strong>ren Namen<br />

durch die Genannte in Erfahrung gebracht wer<strong>de</strong>n können, nehmen Beiträge für das im besten<br />

Sinne wohltätige Unternehmen dankbar entgegen. » Hier, lies selbst!<br />

Jean-François: Du bist wirklich bescheuert! Was soll <strong>de</strong>r Scheiß!?<br />

Eva-Maria: Deinem Kritikerdasein ein En<strong>de</strong> bereiten! Rambo freut sich bereits.<br />

Rambo: Und? Hast Du die Rolle?<br />

Carlo: Ich weiß nicht. Ich weiß noch nicht einmal, um was es geht.<br />

28<br />

Rambo: Na, um was wohl! Im mo<strong>de</strong>rnen Theater, das sich seiner eigenen Inhaltslosigkeit bewußt<br />

ist, sich aber gleichzeitig oberflächlich <strong>und</strong> gleichgültig verhält, ist nämlich die Pornographie<br />

Ausdruck für die Apathie gegenüber sozialen Werten, für die <strong>de</strong>n Instinkt folgen<strong>de</strong> Anregung, für<br />

die Banalitäten <strong>de</strong>s Alltags.<br />

Carlo: Ach so.<br />

Rambo: Ja, eben. Sieh' das doch mal so: Als Ausdruck einer Epoche <strong>de</strong>r Deka<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Werte ist die<br />

Pornographie die Folge <strong>de</strong>r Machtlosigkeit <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Unsicherheit <strong>de</strong>r Menschen.<br />

Carlo: Da bin ich ja mal gespannt, wie wir das auf die Bretter kriegen. Und was Jean-François dann<br />

sagen wird.<br />

Rambo: Du fragst ihn am besten schon vorher.<br />

29<br />

Eva-Maria: Auch das war Deine Schuld! Du hast meine Mutter nie lei<strong>de</strong>n können. Erst hast Du sie


aus <strong>de</strong>m Haus getrieben <strong>und</strong> dann ins Altersheim <strong>und</strong> dann in <strong>de</strong>n Tod!<br />

Jean-François: Unsinn! Ich habe ihre Kochkünste immer gelobt.<br />

Eva-Maria: Blablabla. Ich laß mich schei<strong>de</strong>n. Und wenn ich nicht zu meiner Mutter gehen kann,<br />

wie Du so feinfühlig bemerken mußtest...<br />

Jean-François: Geh' doch zu meiner! Sie hat zwei Vorzüge: Erstens, sie lebt noch.<br />

Carlo: Und, Sonja, hast Du schon gehört?<br />

Sonja: Was <strong>de</strong>nn?<br />

30<br />

Carlo: Na, Jean-François wird Heimleiter. Nach<strong>de</strong>m er es bis zum Redaktionsleiter nicht geschafft<br />

hat...<br />

Sonja: Ach, red' nicht so daher.<br />

Carlo: Er soll dort eine echte Perspektive haben. Bis zum Rittmeister kann er es dort bringen. Das<br />

ist doch was – in seinem Alter.<br />

31<br />

« Wir müssen die Bedingtheit unserer Position in die Geschichte hineinnehmen, wenn wir sie<br />

verstehen wollen. » Sagte ein kluger <strong>und</strong> weiser Mann. Nun fließt die jeweils eigene Position dahin,<br />

wie die wandlungsfähige Geschichte dahinfließt – alles wird fragwürdiger.<br />

32<br />

Durch Hans Magnus Enzensbergers Fragen Zeugen <strong>und</strong> Zeugnisse – « Wer spricht? Wovon will er<br />

uns überzeugen? Und wieviel weiß er überhaupt? Wieviele Jahre sind vergangen zwischen <strong>de</strong>m<br />

erzählten Augenblick <strong>und</strong> <strong>de</strong>m <strong>de</strong>s Erzählens? Was hat <strong>de</strong>r Erzähler vergessen? Und woher weiß<br />

er, was er sagt? Erzählt er, was er glaubt gesehen zu haben? Erzählt er, was ein an<strong>de</strong>rer ihm<br />

erzählt hat? » - wird Familiengeschichtsschreibung nicht unmöglich gemacht, vielmehr hinsichtlich<br />

ihres Wahrheitsanspruchs relativiert bzw. auf die sozialpsychologische Determiniertheit von<br />

Erinnern <strong>und</strong> Erkennen, Überlagerung <strong>und</strong> Zeitempfin<strong>de</strong>n, Wissen <strong>und</strong> Vermittlung verwiesen. Das<br />

Schreiben einer Familiengeschichte im beson<strong>de</strong>ren ist von all <strong>de</strong>m weniger betroffen. In <strong>de</strong>r<br />

schlichten Darstellung <strong>de</strong>s Gewor<strong>de</strong>nseins fin<strong>de</strong>t es alle Antworten auf ausgesprochene <strong>und</strong><br />

unausgesprochene, auf bekannte <strong>und</strong> unbekannte Fragen.<br />

33<br />

Jean-François: Ich mache keine Interviews mehr. Ja früher, als ich noch Unterhaltungsnummern<br />

fürs Fernse...<br />

Sonja: Nun hör doch mal auf damit, alle Welt weiß inzwischen, daß Du mal beim Fernsehen warst!


Denk' doch mal an all die an<strong>de</strong>ren schönen Nummern. Wird übrigens mal wie<strong>de</strong>r Zeit!<br />

Jean-François: Kann man <strong>de</strong>nn nicht mal einen Gedanken zu En<strong>de</strong> spinnen?! Immerhin hatte ich<br />

damals immer die richtigen Fragen gestellt. Und – grammatikalisch korrekt.<br />

Sonja: Jetzt geht das schon wie<strong>de</strong>r los!<br />

Jean-François: Ich kenne je<strong>de</strong>nfalls keine bessere, lusterregen<strong>de</strong>re <strong>und</strong> lusterhalten<strong>de</strong>re, ja Lust <strong>und</strong><br />

– durchaus – Fleiß steigern<strong>de</strong> Metho<strong>de</strong>. Jawohl, auch Fleiß, ich <strong>de</strong>nke eben nicht nur an mich.<br />

Sonja: Beweis' es. Jetzt.<br />

Eva-Maria: Zu Deiner Mutter? Kommt überhaupt nicht in Frage. Da bleibe ich lieber hier bei Dir.<br />

Jean-François: War das jetzt eine neue Drohung?<br />

Eva-Maria: Wart's einfach ab.<br />

34<br />

Jean-François: Okay, wenn Du es nur unterläßt, Deiner toten Mutter eine permanente Imagepflege<br />

ange<strong>de</strong>ihen zu lassen. Du läßt sie ja sowieso nur <strong>de</strong>shalb in Deiner verquasten Familiengeschichte<br />

weiterexistieren, damit das Töchterlein sich immer wie<strong>de</strong>r fein in Positur bringen kann. Gib's doch<br />

zu.<br />

Eva-Maria: Du bist <strong>und</strong> bleibst ein Ekel. Wie Sonja das nur aushält.<br />

35<br />

Die hier <strong>und</strong> da erhobene For<strong>de</strong>rung, ab sofort, genauer: ab Folge Nummer 36, nicht mehr von<br />

« <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong> <strong>de</strong>s Familienlebens. Skizzen <strong>und</strong> Studien fuer eine Unterhaltung » zu<br />

sprechen, son<strong>de</strong>rn ganz im Sinne einer Zeichenoekonomie nur noch abgekuerzt etwa von « TuPFL-<br />

SuSU », womoeglich auch von Tupflsusu, wur<strong>de</strong> nach reiflicher Ueberlegung verworfen.<br />

36<br />

Rambo: « Und <strong>de</strong>in Verlangen soll nach <strong>de</strong>inem Manne sein, <strong>und</strong> er soll <strong>de</strong>n Herr sein », steht da<br />

nun Schwarz auf Weiß.<br />

Carlo: Ja <strong>und</strong>? Bring das mal Sonja bei.<br />

Rambo: Bei Gelegenheit gern. Immerhin ist es die Bibel, die die Beziehung zwischen Mann <strong>und</strong><br />

Frau festlegt. Aus <strong>de</strong>r Rippe <strong>de</strong>s Mannes gebil<strong>de</strong>t, steht sie ihm als Gehilfin zur Seite. Das alles<br />

Entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> ist, daß sie Nebendarstellerin ist, dazu bestimmt, sich mit <strong>de</strong>m Manne unterwürfig zu<br />

verbin<strong>de</strong>n. Verstehst Du: Nebendarstellerin! Du hast die Hauptrolle! Nutze sie! O<strong>de</strong>r willst Du ewig<br />

als Schneeflocke o<strong>de</strong>r was weiß ich über die Bühne stolpern?<br />

Carlo: Ich weiß nicht.


Rambo: Du weißt nicht? Ich weiß, Du weißt nichts. Ich wer<strong>de</strong> einmal <strong>de</strong>n Hamlet geben. Weißt Du,<br />

das ist klar.<br />

37<br />

Rambo: Was Jean-François sich wohl dabei gedacht hat? Die Sommerkampagne auf <strong>de</strong>n Brettern,<br />

die die Welt be<strong>de</strong>uten, hat begonnen, <strong>und</strong> die Bühnen fangen an, ihre Neuigkeiten ins Treffen zu<br />

führen, mit <strong>de</strong>nen sie die Gunst <strong>de</strong>s Publikums zu erobern ge<strong>de</strong>nken. Aber nur, weil sich <strong>de</strong>r<br />

erwünschte Erfolg nicht immer einstellt, muß man doch nicht gleich von einer Krise sprechen.<br />

Sonja: Ach, Du kennst Jean-François nicht. Er ist doch so sensibel...<br />

Rambo: Und ob ich ihn kenne. Ich kenne ihn vermutlich am besten von euch allen. Aber ich will da<br />

jetzt gar nicht groß einsteigen. Ich spreche vom Theater. Und davon, was Jean-François mit <strong>de</strong>m<br />

Theater im Sinn hat. Zum Beispiel Hannover, die erste Neuigkeit <strong>de</strong>r Saison, das vieraktige<br />

Lustspiel Flecken in <strong>de</strong>r Sonne von Franz Brennstein. Das Stück hatte von Anfang an einen sehr<br />

mäßigen Erfolg <strong>und</strong> nach <strong>de</strong>m letzten Akt sogar einen ausgesprochenen Mißerfolg. Und dann<br />

kommt <strong>de</strong>r große Kritikus daher <strong>und</strong> will uns die Welt erklären. Dabei liegt <strong>de</strong>r Gr<strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

Ablehnung hauptsächlich in <strong>de</strong>n politischen Anspielungen, welche bekanntermaßen gera<strong>de</strong> in<br />

Hannover einen nicht unwesentlichen Teil <strong>de</strong>s Publikums verstimmen musste.<br />

Sonja: Aber in Wien...<br />

Rambo: Wien, Wien, wenn ich das schon höre. In Wien wollten sie doch in <strong>de</strong>n Künstlergar<strong>de</strong>roben<br />

eine Neuerung einführen, die unserer Zeit würdig ist. Während bisher nämlich die Künstlerinnen<br />

<strong>de</strong>s Hofburgtheaters die niedlichen Löckchen, die ihnen gar so hübsch Stirn <strong>und</strong> Nacken zieren,<br />

ausschließlich mittels Brenneisen drehten, welche an gewöhnlichen, altväterlichen<br />

Spirituslämpchen erhitzt wur<strong>de</strong>n, wollen die Ingenieure <strong>de</strong>r Bühne nun mit dieser feuergefährlichen<br />

Erwärmungsmetho<strong>de</strong> brechen <strong>und</strong> an Stelle <strong>de</strong>s veralteten Spiritusbrenneisens das mo<strong>de</strong>rne<br />

elektrische Brenneisen setzen. Ob Du es glaubst o<strong>de</strong>r nicht: Die Friseure <strong>und</strong> Friseurinnen verhalten<br />

sich allerdings <strong>de</strong>r Neueinführung gegenüber ein wenig ablehnend, da sie befürchten, daß die<br />

Hantierung mit <strong>de</strong>m elektrischen Brenneisen Gefahren für <strong>de</strong>n Haarkünstler <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Frisierten<br />

selbst be<strong>de</strong>uten könne. Also: Hör' mir auf mit Wien.<br />

Sonja: Vielleicht fürchten die Schauspielerinnen <strong>und</strong> Schauspieler auch um ihren Spirit?<br />

Rambo: Hast schon viel von Jean-François gelernt. Übrigens muß ich mit Dir wegen Carlo<br />

sprechen.<br />

38<br />

Carlo blickt in diese großen hellbraunen Augen <strong>und</strong> das liebliche, von <strong>de</strong>r Bewegung <strong>de</strong>s Tanzens<br />

glühen<strong>de</strong> Gesicht. Ihre Figur erscheint so graziös, wie sie sich jetzt etwas ermü<strong>de</strong>t in ihren Stuhl<br />

zurücklehnt <strong>und</strong> ihre Hän<strong>de</strong> gedankenlos eine Rose zerpflücken, die er ihr vorhin gereicht hat.<br />

Carlo wird ganz sentimental.<br />

Carlo: Ich wollte, ich könnte Dich mitnehmen als meine kleine Frau!<br />

Sie <strong>de</strong>nkt, er macht einen Witz, <strong>und</strong> lacht amüsiert hell auf.


Eva-Maria: Du bist zu komisch!<br />

Carlo: Im vollen Ernst! Kannst Du mich nicht ein wenig lieb haben? – Nicht nur als Vetter, Eva-<br />

Maria, nicht nur als jemand, mit <strong>de</strong>m Du ab <strong>und</strong> an ins Bett steigst, son<strong>de</strong>rn so an<strong>de</strong>rs!<br />

Carlo stottert die letzten Worte ungeschickt heraus. Eva-Maria blickt ihn überrascht an. Das sind<br />

Worte aus <strong>de</strong>m Herzen. Sie kommt sich einen Moment vollständig hilflos vor. Doch faßt sie sich<br />

schnell.<br />

Eva-Maria: Komm, laß uns tanzen.<br />

Ein Holzweg vielleicht.<br />

39<br />

Eva-Maria: Eh bien! Unterhalte mich!<br />

Carlo: Wovon?<br />

Eva-Maria: Das überlasse ich Dir.<br />

Carlo: Sagen wir – von Deinen schönen Augen.<br />

Eva-Maria: Du wirst trivial.<br />

Carlo: Ich wer<strong>de</strong> poetisch.<br />

Eva-Maria: Auch das noch!<br />

Carlo: Man wird es immer, wenn man von Deinen Augen spricht.<br />

Eva-Maria: Die an<strong>de</strong>rn haben also doch recht?<br />

Carlo: Welche an<strong>de</strong>rn?<br />

Eva-Maria: Die da behaupten, Du seist in mich verliebt.<br />

40<br />

Carlo: Trotz<strong>de</strong>m fin<strong>de</strong> ich Deine Augen sehr schön.<br />

Eva-Maria: Schweig!<br />

Carlo: Schweigen wir!<br />

41<br />

Jean-François: Und dann die Büste! Überhaupt diese Gestalt, wie sie in <strong>de</strong>m Fauteuil hingegossen<br />

liegt! Auch die strengste Kritik muß bekennen – Eva-Maria ist eine schoene Frau. Meine Frau.


42<br />

Sonja: Du bist sehr besorgt um mich.<br />

Jean-François: Mit Recht, Du siehst etwas blaß aus.<br />

Sonja: So etwas sagt man nicht.<br />

Jean-François: Im Gegenteil, man wie<strong>de</strong>rholt es sogar – diese Blässe klei<strong>de</strong>t Dich nämlich<br />

entzückend.<br />

43<br />

Sonja: Es ist wahr – aber man tut so vieles Üerflüssiges.<br />

Rambo: Sehr vieles!<br />

Sonja: Zum Beispiel, wenn man über die Vernunft <strong>de</strong>r Dinge nach<strong>de</strong>nkt.<br />

Rambo: Ja.<br />

Sonja: O<strong>de</strong>r wenn man einer schönen Frau Gesellschaft leistet.<br />

Zweites Kapitel: Erstes Zwischenspiel<br />

44<br />

Rambo: Laß mich so beginnen: « Friedhelm Großkerner ist in allem, was er schreibt, ein<br />

interessanter Autor, sein spezielles Gebiet scheinen jedoch Romane aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r zerfallen<strong>de</strong>n<br />

B<strong>und</strong>esrepublik zu sein. Hier kann er die düstere, wil<strong>de</strong> Farbenpracht, die seiner Darstellung eigen<br />

ist, entfalten. » Was sagst Du?<br />

Jean-François: Kein schlechter Anfang. Im Anfang war A<strong>de</strong>nauer. Damit fing <strong>de</strong>r Zerfall schon an.<br />

Wie soll's weitergehen?<br />

Rambo: Nun, vergiß mal <strong>de</strong>n Alten <strong>und</strong> hör einfach zu: « Sein neuester Roman dieser Gattung, Der<br />

Lu<strong>de</strong>, gehört vielleicht zu <strong>de</strong>m Eindruckvollsten, was dieser Schriftsteller hervorgebracht. Er<br />

schil<strong>de</strong>rt hier die Schicksale eines jungen Menschen, <strong>de</strong>r, um die Schul<strong>de</strong>n seiner Mutter zu<br />

bezahlen, das schimpfliche, aber einträgliche Lu<strong>de</strong>ngewerbe ergreift; in ihn verliebt sich die<br />

altern<strong>de</strong> Schauspielerin Hil<strong>de</strong>gard, eine Geliebte <strong>de</strong>s Polizeipräsi<strong>de</strong>nten, <strong>und</strong> nun entrollt sich vor<br />

uns ein schauerliches Drama aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r wil<strong>de</strong>sten Entartung <strong>de</strong>r jüngsten Zeit. »<br />

Jean-François: Nicht schlecht. Bislang bin ich durchaus damit einverstan<strong>de</strong>n, wenn mein Name<br />

unter <strong>de</strong>r Besprechung steht.<br />

Rambo: So kann es weitergehen: « Großkerner ist Realist <strong>und</strong> tut sich sichtlich etwas zu gut auf die<br />

naturalistische Ausmalung von Prostitution, Politikverdrossenheit <strong>und</strong> Liebesszenen, aber dieser<br />

Realismus ist durchtränkt... »<br />

Jean-François: « Durchtränkt » ist ausgezeichnet!


Rambo: Jaja! « ...durchtränkt von Geist, <strong>und</strong> eine Fülle <strong>de</strong>r feinsten Beobachtungen aus <strong>de</strong>m Natur<strong>und</strong><br />

Seelenleben versöhnt uns mit <strong>de</strong>r Vorliebe <strong>de</strong>s Autors für das Grelle <strong>und</strong> Krasse. »<br />

Jean-François: « Nasse » o<strong>de</strong>r « Krasse »?<br />

Rambo: « Krasse »!<br />

Jean-François: « Naß » wäre besser. O<strong>de</strong>r wenigstens « feucht ».<br />

Rambo: Das ist mir egal. Kannst die Stelle ja än<strong>de</strong>rn. Der Schlußsatz je<strong>de</strong>nfalls soll lauten, Dein<br />

Einverständnis natürlich vorausgesetzt: « Wir stehen nicht an, diesen Roman, <strong>de</strong>r außer<strong>de</strong>m noch<br />

durch geistreiche <strong>und</strong> interessante Charakterzeichnungen erfreut, zu <strong>de</strong>n genialsten Gemäl<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Zeit <strong>de</strong>s b<strong>und</strong>esrepublikanischen Wahnsinns zu rechnen. »<br />

Jean-François: Gekauft! Das hat Substanz!<br />

45<br />

Jean-François: Welch ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>r Meister <strong>de</strong>r psychologischen Vertiefung Helmuth Ringlmair<br />

ist, wie er uns mit wenigen Worten mitten in eine eigenartige Seelenstimmung hinein zu versetzen,<br />

mit geringsten Mitteln Bil<strong>de</strong>r von packendster Eigenart zu malen versteht.<br />

Carlo: Seit wann interessierst Du dich für bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst.<br />

Jean-François: Aber Ringlmair ist doch kein Maler!<br />

Carlo: Eben drum. Aber, nebenbei gesagt, Theaterstücke schreibt er auch nicht, o<strong>de</strong>r?<br />

Jean-François: Tut er nicht, das ist wahr, aber er schreibt, <strong>und</strong> das will etwas heißen.<br />

Carlo: Ich höre.<br />

Jean-François: Ringlmair ist nicht irgendwer. Nimm sein jüngstes Buch Manfred, <strong>de</strong>r Terrorist.<br />

Carlo: Kenn' ich nicht.<br />

Jean-François: Macht nichts. Ich sag' Dir, um was es geht. Manfred, <strong>de</strong>r Terrorist ist eine, wenn<br />

man so will, Mönchsgeschichte aus <strong>de</strong>m letzten Jahrh<strong>und</strong>ert. Diese Bekehrungsgeschichte <strong>de</strong>s<br />

phantasievollen jüdischen Knaben ist ein Musterstück ergreifen<strong>de</strong>r Seelenmalerei. Mußt Du<br />

unbedingt lesen. Eva-Maria hat's auch gelesen. Dann habt ihr etwas, über das ihr sprechen könnt –<br />

das mal nur so am Ran<strong>de</strong> bemerkt.<br />

Carlo: Ich weiß gar nicht, was Du hast.<br />

Jean-François: Aber ich weiß, was Dir fehlt.<br />

Carlo: Du mußt es ja wissen.<br />

Jean-François: Ich muß es gar nicht wissen, ich weiß es einfach.


Eva-Maria: Hast Du Carlo von Manfred erzaehlt?<br />

Jean-François: Ja.<br />

46<br />

Eva-Maria: Das könnte ein Fehler gewesen sein. Da er die Hauptrolle im Spiel mit Sonja kaum wird<br />

behaupten können, die Bretter, die die Welt be<strong>de</strong>uten, ihn so recht nicht tragen wollen, es sei <strong>de</strong>nn,<br />

er kommt als Schneeflocke daher, macht er jetzt, so kommt er mir vor, will er jetzt wie Manfred<br />

sein, schlimmer noch, er gibt <strong>de</strong>n Manfred, er ist Manfred – glaubt er je<strong>de</strong>nfalls.<br />

Jean-François: Hätte schlimmer kommen können. Fickt er jetzt auch wie Manfred?<br />

47<br />

Carlo: Die Geschichte <strong>de</strong>r schwaermerischen Ekstase ist meine Geschichte, sehr wohl, ich war<br />

aufgenommen in die Wohngemeinschaft in <strong>de</strong>r Bückeburger Straße, jawohl, <strong>und</strong> ich war es, <strong>de</strong>r in<br />

die Einö<strong>de</strong> getrieben wur<strong>de</strong>, um seine Sün<strong>de</strong>n abzubüßen <strong>und</strong> um das Werk meiner Heiligung zu<br />

för<strong>de</strong>rn, ich bin es, <strong>de</strong>r, nach<strong>de</strong>m er Spirituosenhändler gewor<strong>de</strong>n <strong>und</strong> von höherer Warte ausgehend<br />

angespornt wor<strong>de</strong>n war, mit unerbittliche Starrheit gegen seine früheren Glaubensgenossen zu Fel<strong>de</strong><br />

zog, <strong>und</strong> da sie sich meinem Bekehrungseifer hartnäckig wi<strong>de</strong>rsetzten, sie <strong>und</strong> ihre Nie<strong>de</strong>rlassungen<br />

vernichtet hat. Aber ich sehe auch eine Reihe rührend lieblicher Bil<strong>de</strong>r, die in die Schrecknisse<br />

hineinspielen. Manfred, <strong>de</strong>r Terrorist ist ein Werk, o ja, <strong>und</strong> Manfred ist mein Werk. Manfred wird<br />

allen Bew<strong>und</strong>erung abnötigen.<br />

Sonja: Was ist <strong>de</strong>nn nun eigentlich? Geht Jean-François nach Bonn?<br />

48<br />

Rambo: Was weiß ich. Es scheint jetzt auch noch eine weitere Sache im Rennen zu sein, eine<br />

Erziehungsanstalt für Toechter, freilich in Cannstatt am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Welt. Ich kann mir nicht<br />

vorstellen, daß Jean-François in die Gegend ziehen möchte.<br />

Sonja: Die Gegend, rein geographisch gesehen, ist ihm ziemlich egal, glaube ich, wenn die<br />

Landschaften ihm nur zugänglich sind.<br />

Rambo: Ob ihm aber höhere Toechter liegen?<br />

Sonja: Sobald sie liegen – mit Sicherheit. Und in <strong>de</strong>rartigen Kreisen wird<br />

Französisch ja beson<strong>de</strong>rs gepflegt. Darauf legt er schon Wert.<br />

49<br />

Eva-Maria: Ich glaube, Jean-François will sich wirklich verän<strong>de</strong>rn. Aber er sagt nichts. Keine<br />

Ahnung, ob er nun nach Bonn o<strong>de</strong>r nach Cannstatt will. Mir scheint, er will wirklich weg.<br />

Sonja: Warum bist Du dir so sicher?<br />

Eva-Maria: Er läßt sich einen Bart wachsen.


50<br />

Eva-Maria: Woran sitzt Du gera<strong>de</strong>?<br />

Rambo: Ach, ich schreib' an einer kleinen Abschiedsre<strong>de</strong>, falls Jean-François sich spontan<br />

entschei<strong>de</strong>n sollte, nach Bonn o<strong>de</strong>r nach Cannstatt zu gehen.<br />

Eva-Maria: Und? Kommst Du gut voran?<br />

Rambo: Es geht so. Ist nicht leicht, die passen<strong>de</strong>n Worte zu fin<strong>de</strong>n. – Wie gefällt Dir das: « Es<br />

kommt <strong>de</strong>m französischen Kritiker <strong>und</strong> Literaten weniger auf die Darstellung von Handlung als auf<br />

die <strong>de</strong>r Seelenvorgänge an, diese aber weiß er mit <strong>de</strong>r ganzen Grazie <strong>und</strong> Feinheit <strong>de</strong>r poetischen<br />

Empfindung zu schil<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ren ein Franzose überhaupt fähig ist. Jean-François' Werk als Kritiker<br />

<strong>und</strong> als Literat ist für Gourmets. »<br />

Eva-Maria: Das wird er aber gern hören.<br />

Rambo: Wart's ab. « Wer unbändig zu lachen wünscht, kommt vielleicht nur halb auf seine Kosten,<br />

<strong>de</strong>nn nicht sowohl das Gelächter <strong>de</strong>s unbändigen Wohlbehagens als die feinere Heiterkeit <strong>de</strong>s<br />

Geistes ist es, was <strong>de</strong>r große Schreiber bezweckt. »<br />

Eva-Maria: Das wird ihn umhauen!<br />

Rambo: Mit diesem Schlußsatz bringe ich ihn wie<strong>de</strong>r auf die Beine: « Der Erfolg seiner Arbeit ist<br />

ein bedingter, obschon <strong>de</strong>r ein wenig gröber angelegte Geschmack ihn als einen vollen bezeichnen<br />

wird. »<br />

Eva-Maria: Du bist eben <strong>de</strong>r wahre Jean-François, Rambo.<br />

Sonja: Jean-François kann ja doch ein bißchen schreiben.<br />

51<br />

Eva-Maria: Bist Du jetzt auch schon dahintergekommen. Bislang hast Du ihn wohl als einen<br />

ziemlich einseitig veranlagten Kerl erlebt.<br />

Sonja: Sei nicht albern! Sein Artikel ist wirklich gar nicht so schlecht, <strong>und</strong> das nicht nur<br />

unseretwegen – wir stehen nämlich im Mittelpunkt beziehungsweise unser 50. Jubiläum.<br />

Eva-Maria: Ach, ist das so? Wo kann ich ihn fin<strong>de</strong>n, diesen Artikel?<br />

Sonja: Ziemlich abseits unseres Weges.<br />

Der Text lautet: « Das Stück, welches, wenn einmal fertig gestellt, einen vollen <strong>und</strong><br />

durchschlagen<strong>de</strong>n Erfolg zu haben beabsichtigt, ist ein Intrigenlustspiel, eine höchst anspruchsvolle<br />

Burleske von kaum mehr zu übersehen<strong>de</strong>r Tragweite, <strong>de</strong>ssen Handlung zwar nicht gera<strong>de</strong> reich,<br />

aber sehr wirksam geführt ist. Der flotte <strong>und</strong> frische, sorgfältige Dialog gibt ein glänzen<strong>de</strong>s Zeugnis<br />

für die gewandte Fe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Verfassers. Die Neuheit enthält manche hübsche <strong>und</strong> unterhalten<strong>de</strong><br />

Szene, wenn auch die Schwäche fast aller neueren Lustspiele, unwahrscheinlich in <strong>de</strong>r Handlung zu<br />

sein, auch diesem Stücke, das Familienleben heißt <strong>und</strong> wie kein zweites <strong>de</strong>m Lebendigen sich<br />

verschrieben hat, anhaftet. » (Anm. d. Red.)


52<br />

Rambo: Ich habe eine I<strong>de</strong>e.<br />

Jean-François: Laß hören!<br />

Rambo: « Der zün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funke ».<br />

Jean-François: Spielst Du jetzt auf Carlo an? Ist es nicht voellig ausreichend, wenn er meint, er sei<br />

Manfred.<br />

Rambo: Ach, <strong>de</strong>r Carlo. Carlo interessiert mich in diesem Zusammenhang nur am Ran<strong>de</strong>. « Der<br />

zün<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Funke » hebt ab auf einen Vergleich, auf <strong>de</strong>n Vergleich eines Frauenherzens mit einer<br />

Elektrisiermaschine.<br />

Jean-François: Das ist doch Schwachsinn!<br />

Rambo: Keineswegs, <strong>und</strong> Du solltest das wissen. Denn: Im ruhigen Zustand ist die<br />

Elektrisiermaschine ein kaltes, be<strong>de</strong>utungsloses Ding. Aber setzt Du sie erst in Bewegung, so<br />

entwickelt sie rasch <strong>de</strong>n zün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Funken. – Kommt Dir das nicht bekannt vor? Wenigstens im<br />

Prinzip?<br />

Jean-François: Normalerweise bin ich ja nicht auf <strong>de</strong>n Kopf gefallen, aber in diesem Fall...<br />

Rambo: In diesem Fall nimmt ein Mann Zuflucht zu <strong>de</strong>r bewegen<strong>de</strong>n Kraft <strong>de</strong>r Eifersucht, um aus<br />

<strong>de</strong>r bis dahin gegen seine Liebe taub gebliebenen Schönen <strong>de</strong>n zün<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Funken hervorzulocken,<br />

was ihm <strong>de</strong>nn auch schließlich gelingt.<br />

Jean-François: Das macht die Sache natürlich erwägenswert. Trotz<strong>de</strong>m verstehe ich nicht, was das<br />

soll.<br />

Rambo: Nun, ein durchaus gefälliger, mit einzelnen Geistesblitzen ausgestatteter Dialog kommt<br />

dabei heraus. Er ist das Hauptverdienst <strong>de</strong>r in seiner Anspruchslosigkeit ganz artig unterhalten<strong>de</strong>n<br />

Affaere.<br />

Jean-François: Eh, ich erkenne mich darin wie<strong>de</strong>r! Du solltest die Geschichte ausbauen. Ich bin<br />

bereit für die Rolle.<br />

Rambo: Ich weiss nicht. Du bist ... äh ... Kritiker, kein Schauspieler. Und, zweitens, wolltest Du<br />

doch nach Bonn o<strong>de</strong>r nach Cannstatt, <strong>de</strong>r Perspektive wegen. O<strong>de</strong>r gibt es neue Entwicklungen, von<br />

<strong>de</strong>nen ich noch nichts weiß? Neuerdings widmest Du dich ja unerhört häufig <strong>de</strong>m Internet. Und<br />

schließlich: Unser Familienleben ist mir heilig.<br />

53<br />

Sonja: Carlo hat ein Buch.<br />

Eva-Maria: Ist nicht wahr.<br />

Sonja: Sei doch nicht so ekelhaft. Carlo gibt sich immer viel Mühe.


Eva-Maria: Kann ich nicht bestreiten.<br />

Sonja: Das meine ich nicht.<br />

Eva-Maria: Das meinst Du immer, auch wenn Du nicht davon sprichst. – Zum Thema: Carlos Buch.<br />

Sonja: Ich habe <strong>de</strong>n Eindruck, daß seine Phantasie keine Grenzen kennt.<br />

Eva-Maria: Ist er jetzt nicht mehr Manfred, <strong>de</strong>r Terrorist.<br />

Sonja: Ich weiß es nicht. Ich glaube, er wünscht es sich gar sehr, Manfred zu sein. Je<strong>de</strong>nfalls schaut<br />

er in besagtes Buch öfter hinein als in seine Rollenbücher.<br />

Eva-Maria: Seine Rollen sollten eigentlich nur ein flüchtiges Hineinschauen erfor<strong>de</strong>rn...<br />

Sonja: Also hat er Zeit für das an<strong>de</strong>re. Ein Beispiel: Wenn Carlo umherwan<strong>de</strong>rt, um seine Rolle<br />

einzustudieren, <strong>und</strong> dabei auf einen beson<strong>de</strong>rs geformten Stein stößt, dann nimmt er ihn in die<br />

Hand, betrachtet ihn genau <strong>und</strong> <strong>de</strong>nkt an h<strong>und</strong>ert Dinge, die das be<strong>de</strong>uten könnte. Der Stein sieht<br />

vielleicht wie eine Neun aus, <strong>de</strong>shalb könnte er diesmal in <strong>de</strong>r neunten Lotterieziehung<br />

herauskommen. Der hat vielleicht auch die Gestalt einer Kröte, was ein vergrabener Schatz<br />

be<strong>de</strong>uten kann. Was weiß ich!? Und dann gleicht <strong>de</strong>r Stein, wenn man ihn umkehrt, einer<br />

zusammengekrümmten Hand, das kann eine gute Einnahme verkün<strong>de</strong>n sollen. Wie auch immer, es<br />

ist unverkennbar, daß Carlo an einen solchen F<strong>und</strong> eine ganze Reihe <strong>de</strong>r feurigsten Vorstellungen<br />

knüpft. Und dann träumt er auch noch wie verrückt, je<strong>de</strong> Nacht wohl. Und, stell' Dir vor, Carlo<br />

glaubt an prophetische Träume. Vor gar nicht langer Zeit hat er von Hauben <strong>und</strong> Bügeln getraeumt.<br />

Er hat aber in seinem ganzen Leben noch nicht gebügelt. Also schaute er in sein Buch <strong>und</strong> schlug<br />

nach: « Hauben bügeln », richtig, da steht tatsächlich eine Deutung drin – ich hab' heimlich<br />

nachgeguckt – ,die besagt: « Bald unter die Haube kommen ».<br />

Eva-Maria: Du machst Dir also Hoffnungen!<br />

54<br />

Innerhalb <strong>de</strong>r Familie, in <strong>de</strong>r immer verschie<strong>de</strong>ne Richtungen nebeneinan<strong>de</strong>r herlaufen, sind es –<br />

zur Zeit – zwei ganz beson<strong>de</strong>rs entschie<strong>de</strong>ne Gegensätze, die um die Palme ringen. Einerseits<br />

schwört man auf einen Naturalismus, <strong>de</strong>r an nüchterner Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt,<br />

an<strong>de</strong>rerseits schlüpft durch ein Hinterpförtchen <strong>de</strong>r Mystizismus <strong>und</strong> Spiritismus mit all seinem<br />

phantastischen Anhang mitten in das Gebäu<strong>de</strong> <strong>de</strong>s mo<strong>de</strong>rnenen Materialismus hinein. Das gilt es<br />

zu erhärten. Demnaechst in diesem Theater.<br />

Drittes Kapitel: Hauptspiel<br />

55<br />

Eva-Maria (träumt): Jean-François, sei nicht bitter! Du hast mich einst geliebt, ich weiß es. Jetzt bin<br />

ich frei, – fürchte Dich nicht vor <strong>de</strong>r Sommerblüte. Ja, sie will berauschen, aber für Dich soll es ein<br />

süßer Rausch sein.


56<br />

Eva-Marias dunkle Augen sind gefährlich, ihr von glänzend schwarzem Haar gerahmter edler Kopf<br />

ist dies in noch höherem Gra<strong>de</strong>; Eva-Marias Näschen zerstört je<strong>de</strong>s ersten Sinnen, Eva-Marias<br />

M<strong>und</strong> jedoch ist gera<strong>de</strong>zu mör<strong>de</strong>risch für jedwe<strong>de</strong>n asketischen Gedanken. Das ist ein Persönchen,<br />

welches je<strong>de</strong> Philosophie über <strong>de</strong>n Haufen wirft, keine Wissenschaft dul<strong>de</strong>t, <strong>und</strong> hohe I<strong>de</strong>ale<br />

hinweglacht wie Sommersonne Schnee. Der sei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Schal in ihrer Hand ist eine schrecklichere<br />

Angriffswaffe als ein Dutzend Mitrailleusen, <strong>und</strong> ihre Briefe – Eva-Maria schreibt überaus schnell<br />

ganz kurze, zierliche Briefchen – sind Pfeile mit gefährlichen Wi<strong>de</strong>rhaken. Die Frauen <strong>und</strong><br />

Mädchen wer<strong>de</strong>n Eva-Maria kaum gewogen sein, letztere beson<strong>de</strong>rs nicht, wenn sie Bräute sind<br />

o<strong>de</strong>r es bald wer<strong>de</strong>n könnten. Die Männer wer<strong>de</strong>n nur verstohlene Blicke auf Eva-Maria zu werfen<br />

wagen, aus Angst, daß sie zu ihr hinfliegen könnten wie die Schiffe zum Magnetberge. Nun, wem sei<br />

gedankt?, ist Eva-Maria verheiratet – mit Jean-François, <strong>de</strong>m schlauen <strong>und</strong> durchtriebenen<br />

Gesellen. Noch – sollte man vielleicht hinzufügen.<br />

Eva-Maria: Rambo sagt « Mama » zu Dir! Seit wann?<br />

Sonja: Ja, das macht er manchmal. Ich weiß gar nicht, wann er damit angefangen hat.<br />

Eva-Maria: Aber Du bist doch gar nicht seine Mutter.<br />

Sonja: Bist Du dir da so sicher? Im Gegensatz zu Dir war ich bereits einmal in La Rochelle<br />

Eva-Maria: Du solltest dir sicher sein!<br />

Sonja: Ich werd' <strong>de</strong>r Sache nachgehen, versprochen.<br />

57<br />

Eva-Maria: Tu das, die Sache ist, glaube ich, ziemlich eilig. Sein Familienleben sei ihm heilig, soll<br />

er zu Jean-François gesagt haben.<br />

Sonja: Das kann ja heiter wer<strong>de</strong>n.<br />

Jean-François: O, dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck!<br />

Eva-Maria: Was ist <strong>de</strong>nn jetzt schon wie<strong>de</strong>r?<br />

58<br />

Jean-François: Ich stehe vor einer schwierigen Entscheidung. Die<br />

bewegen<strong>de</strong> Frage ist: Bonn o<strong>de</strong>r Cannstatt. – O<strong>de</strong>r nichts von <strong>de</strong>m.<br />

große, mich über alles<br />

Eva-Maria: Spiel' ich gar keine Rolle mehr?<br />

Eva-Maria wird in eine neue Rolle schlüpfen (müssen); das <strong>de</strong>utet sich bereits an.


59<br />

Rambo: In China scheint <strong>de</strong>utscher Kultur eine außeror<strong>de</strong>ntliche Mitwirkung beschie<strong>de</strong>n zu sein. In<br />

<strong>de</strong>r Hauptstadt Peking erscheint fortan <strong>und</strong> mit Beginn <strong>de</strong>r Olympischen Spiele eine umfassend<br />

angelegte Monatsschrift in <strong>de</strong>utscher Sprache, <strong>de</strong>ren ausgesprochene Absicht ist, die Blüten <strong>und</strong><br />

Früchte <strong>de</strong>utschen Geistes, <strong>de</strong>utscher Kultur auszustreuen als Samenkörner zu einer neuen<br />

chinesischen Kultur.<br />

Jean-François: Das hast Du aber schön gesagt. Tss...<br />

Rambo: Nun, äh, Du bist schließlich mein, äh, Vorbild, das sollte man schon merken. – Das eben<br />

erschienene erste Heft enthält übrigens ein Vorwort, welches Dein Interesse wecken dürfte.<br />

Jean-François: Wenn es <strong>de</strong>nn sein muß!<br />

Rambo: Muß es. Ich les' die <strong>de</strong>nkwürdigste Stelle einmal vor. Also sie lautet: « Wenn wir uns<br />

fragen, welches Land in unserer Zeit an <strong>de</strong>r Spitze <strong>de</strong>r europäischen Kulturstaaten steht, so können<br />

wir nicht umhin, auf Deutschland zu weisen. In <strong>de</strong>r Gefühlswelt <strong>de</strong>s Deutschen <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Chinesen<br />

herrscht so manche Übereinstimmung, daß wir zum Beispiel beim Lesen <strong>de</strong>s Wilhelm Tell o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Iphigenie auf Tauris uns ganz an<strong>de</strong>rs ergriffen fühlen als beim Lesen <strong>de</strong>s Hamlet o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Phaedra,<br />

ja, daß es einem Chinesen verhältnismäßig leichter ist, sich in die <strong>de</strong>utsche Gedanken- <strong>und</strong><br />

Gefühlswelt zu fin<strong>de</strong>n, als einem Rumänen o<strong>de</strong>r – jetzt paß auf – einem Franzosen. » Was sagst Du<br />

jetzt?<br />

Jean-François: Was soll ich zu einem solchen Unsinn nur sagen, vielleicht, daß die Chinesen bereits<br />

vor mehr als h<strong>und</strong>ert Jahren die besseren Deutschen wer<strong>de</strong>n wollten? Das verrät doch schon allein<br />

die Sprache: « Gefühlswelt » – wenn ich das schon höre!<br />

Rambo: Sei doch nicht so streng!<br />

Jean-François: Doch, bin ich! Zumal bei <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Theatermachern <strong>de</strong>r Franzose Molière<br />

höher im Kurs steht als Schiller. Wer sollte das besser wissen als ein großer Theaterkritiker wie ich.<br />

Und schaut man sich die Besucherzahlen an, dann kann ich nicht umhin festzustellen, daß die<br />

Deutschen Shakespaere vorziehen. Und <strong>de</strong>n Dalai Lama! Kürzlich hat <strong>de</strong>r Zeitgenosse Georg<br />

ziemlich unverblümt einen jungen Chinesen mit <strong>de</strong>n Worten zitiert: « Bisher haben wir nur Japaner<br />

<strong>und</strong> Amerikaner gehaßt, aber die Deutschen verehrt. Das ist jetzt vorbei. » Dem Dalai Lama sei<br />

gedankt. Der Carrefour-Boykott hingegen war vorbei, bevor er begonnen hatte. Letztlich haben<br />

eben die Franzosen die bessere Argumente, auch in China, das mußt Du mal begreifen.<br />

Rambo: Aber die Zeitschrift...<br />

Jean-François: Die Zeitschrift, die Zeitschrift??? Käse!!! Die sollten daraus eine Sportillustrierte<br />

machen, so eine Art Kicker für Chinesen, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>utscher Fussball von Bayern <strong>und</strong> Wer<strong>de</strong>r samt<br />

seiner Gedanken- <strong>und</strong> Gefühlswelt ist eventuell noch in <strong>de</strong>r Lage, die Chinesen zu begeistern.<br />

Rambo: O dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck!<br />

Jean-François: Du kannst auch nicht aus Deiner Haut.


60<br />

Eva-Maria: Ich war beim Frisör...<br />

Jean-François: Aha! Und? War's nett?<br />

Eva-Maria: Ich war beim Frisör <strong>und</strong> hab' da in einer dieser blö<strong>de</strong>n Nachrichtenillustrierten<br />

geblättert...<br />

Jean-François: Zum Lesen bist Du wohl nicht gekommen!?<br />

Eva-Maria: Sei nicht albern, laß das doch. Du mußt nicht mehr angestrengt eifersüchtig sein. In <strong>de</strong>r<br />

nächsten Woche haben wir unseren Scheidungstermin, dann ist eh alles vorbei. Und glaube nur<br />

nicht, daß ich nicht wüßte, was Du jetzt bereits alles unternimmst, um nur schnell neue Frauen<br />

kennenzulernen. Deine Stöbereien im Internet sind keinem verborgen geblieben.<br />

Jean-François: Ach, das* meinst Du. Das kann Dir doch egal sein, <strong>de</strong>mnächst sowieso.<br />

Eva-Maria: Beim Blättern bin ich auf einen Artikel Deines Kollegen Toni Korporis gestossen.<br />

Jean-François: Das ist kein Kollege, das ist ein hirnverbrannter Wissenschaftler <strong>und</strong><br />

umherfabulieren<strong>de</strong>r Theoretiker son<strong>de</strong>rgleichen.<br />

Eva-Maria: Ich mag ihn, auf <strong>de</strong>n Fotos sieht er richtig gut aus, sehr attraktiv. Und dumm ist er nun<br />

wahrlich nicht. Ich habe die Seite 'rausgerissen. Er sagt: « Sobald die Geschichtsforschung <strong>und</strong><br />

Geschichtsschreibung in die Breite geht, kann sie nur in großen Zügen schil<strong>de</strong>rn, die eine Fülle<br />

interessanter Einzelheiten unergrün<strong>de</strong>t lassen. Deshalb bleiben <strong>de</strong>r Spezialforschung <strong>und</strong><br />

Spezialschreibung wie etwa <strong>de</strong>r Familiengeschichtsschreibung immer reiche Schätze vorbehalten,<br />

<strong>de</strong>ren Hebung zu <strong>de</strong>n beson<strong>de</strong>rs anerkennenswerten Leistungen gehört. » Nun, wäre das nicht eine<br />

Aufgabe für Dich? Deine Tage als Kritiker scheinen mir gezählt. Mit Familiengeschichte, unserer<br />

Familiengeschichte könntest Du noch einmal richtig Ruhm ernten.<br />

Jean-François: Ich hab' an<strong>de</strong>re Pläne. Ich brauche keine Ratschläge <strong>und</strong> Deine schon mal gar nicht.<br />

* Eine sehr vermögen<strong>de</strong>, gemütvolle junge Dame (katholisch), die sich nach einem eigenen Heim sehnt, wür<strong>de</strong><br />

gern die Bekanntschaft eines e<strong>de</strong>l <strong>und</strong> treu gesinnten Herrn höheren Stan<strong>de</strong>s machen. Diskretion<br />

selbstverständlich.<br />

Sonja: Ich glaube, ich bin die längste Zeit mit Jean-François zusammengewesen.<br />

Rambo: Wieso sollte es Dir besser ergehen als all <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Geliebten auf dieser Welt?<br />

61<br />

Sonja: Aber er hätte doch wenigstens mal etwas sagen koennen, <strong>und</strong> sei es nur eine klitzekleine<br />

An<strong>de</strong>utung gewesen. Statt <strong>de</strong>ssen erzählt mir Eva-Maria, ausgerechnet Eva-Maria, daß Jean-<br />

François neuerdings Heiratsanzeigen studiert <strong>und</strong> auch vor katholischen Landfrauen nicht<br />

haltmachen wird. Der hat sie doch nicht mehr alle. Und das mir!<br />

Rambo: Du kannst ganz beruhigt sein, das mit <strong>de</strong>n Heiratsanzeigen ist bereits Geschichte <strong>und</strong> wird<br />

nicht mal eine Randnotiz in <strong>de</strong>r Familienchronik hergeben.


Sonja: Also, kann ich...<br />

Rambo: Du kannst dich um Carlo kümmern.<br />

Sonja: Carlo? Auf « Carlo » reagiert er schon mal gar nicht. Nie zuvor hat er seine Rollen <strong>de</strong>rart<br />

intensiv eingeübt. Seit er aber Manfred ist – <strong>und</strong> übrigens auch Manfred gerufen wer<strong>de</strong>n moechte –<br />

, seit<strong>de</strong>m ist er nicht nur andauernd vertieft in sein komisches Buch, mit <strong>de</strong>m er seine Träume<br />

<strong>de</strong>utet, neuerdings liest er auch noch Bakunin, Kropotkin, Malatesta o<strong>de</strong>r wie die alle heißen <strong>und</strong><br />

hört Sendungen über <strong>de</strong>n Spanischen Bürgerkrieg. Im Bett liegt er mir Pasolini – Ketzererfahrungen<br />

sammeln! Für mich ist da kaum noch Platz. Dabei wollte ich mich künftig ganz auf Carlo<br />

konzentrieren. Und jetzt dies.<br />

Rambo: Ach ja, tut mir leid für Dich, aber das ist interessant, höchst interessant. Dann gibt Carlo<br />

also gar nicht mehr <strong>de</strong>n Terroristen, <strong>de</strong>n vereinsamten Mönchsritter, <strong>de</strong>n Rächer, <strong>de</strong>n eifrigen<br />

Missionar?! Vielmehr hat er sich, wie es scheint, auf <strong>de</strong>n Pfad <strong>de</strong>r Tugend begeben, will sich wohl<br />

wie<strong>de</strong>r gemein machen. Klar, eine Prise Mystizismus darf nicht fehlen. Ich seh' schon <strong>de</strong>n alten<br />

Landauer Gustav seinen weiten Mantel schützend über Carlo ausbreiten. Das muss ich Jean-<br />

François erzählen.<br />

Sonja: Warum das <strong>de</strong>nn? Interessiert <strong>de</strong>r sich überhaupt noch für die Schauspielerei?<br />

Rambo: Wart's nur ab, aus <strong>de</strong>inem Carlo wird noch was wer<strong>de</strong>n, Mama! Alles eine Frage <strong>de</strong>r Zeit<br />

<strong>und</strong> ...<br />

62<br />

Jean-François <strong>und</strong> Eva-Maria sind geschie<strong>de</strong>n. Während Jean-François seine Zukunft plant, plagt<br />

Eva-Maria die Erinnerung. Bonn, Cannstatt – vorbei. Was sich über eine Annonce anzubahnen<br />

schien – auch daraus wur<strong>de</strong> nichts, weil er für alle überraschend schnell das Interesse an einer<br />

Beziehung zu einer zwar vermögen<strong>de</strong>n, aber letztlich wohl doch ein bißchen schwermütigen<br />

Katholikin verloren hatte. Womöglich liebäugelt Jean-François mit <strong>de</strong>m Job in Bielefeld*. Aber er<br />

hat noch an<strong>de</strong>re Eisen im Feuer. Die Mo<strong>de</strong>ration <strong>de</strong>s Steppenhühnerkongresses** im Dezember<br />

hat man ihm zwar noch nicht offiziell angetragen, seine Chancen sollen aber nicht schlecht sein,<br />

<strong>und</strong> so feilt er bereits heute an seinen einleiten<strong>de</strong>n Worten. Dieser Kongress soll sein letzter<br />

wirklich großer Auftritt wer<strong>de</strong>n. Er beabsichtigt einen Durchbruch. Sein Interesse an <strong>de</strong>n Damen<br />

dieser Welt ist ungebrochen – Jean-François orientiert sich. Sein Verhältnis zu seiner Geliebten<br />

Sonja wird ein peripherisches sein. Zweifellos hebt das Verhängnis sein drohen<strong>de</strong>s Haupt empor.<br />

Ein Verkettung von Umstän<strong>de</strong>n drängt stärker <strong>und</strong> stärker zur Enthüllung <strong>de</strong>s Geheimnisses,<br />

<strong>de</strong>ssen Schleier zu lüften Sonja in <strong>de</strong>n gemeinsamen Jahren mit Jean-François nie <strong>de</strong>n Mut<br />

gef<strong>und</strong>en. Die trotz aller <strong>de</strong>monstrativen Stärke unglückliche Frau sieht voraus, daß sie mit <strong>de</strong>m<br />

einen Wort ihr Glück endgültig zerstören wer<strong>de</strong>, <strong>und</strong> doch wird die Hoffnung, einen Ausweg aus<br />

<strong>de</strong>m Labyrinth zu gewinnen, immer kleiner. Sonja steht sehr viel unmittelbarer als Jean-François<br />

vor einem Durchbruch.<br />

* In einem großen <strong>und</strong> eleganten Landhause am Großen Park in Bielefeld soll ein Heim für unverheiratete,<br />

geschie<strong>de</strong>ne o<strong>de</strong>r auch verwitwete Kulturkritiker (Literaturkritiker, Theaterkritiker <strong>und</strong> übrige Verfasser von<br />

Animationsprosa) ohne Beschäftigung o<strong>de</strong>r auch außer Diensten eingerichtet wer<strong>de</strong>n, in welchem dieselben in<br />

kollegialem Beisammensein Kost <strong>und</strong> Wohnung nach Maßgabe <strong>de</strong>r beanspruchten Räumlichkeiten fin<strong>de</strong>n, <strong>und</strong><br />

zwar so, daß vermögen<strong>de</strong> Kritiker je nach Wunsch geräumige Wohnungen ausgestattet vorfin<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r selbst<br />

ausstatten können. Die Verwaltung soll einer geeigneten Persönlichkeit aus <strong>de</strong>m kulturellen Leben übertragen<br />

wer<strong>de</strong>n; Konversations-, Spiel- <strong>und</strong> Billardzimmer sind geplant, auch die Herstellung einer Bibliothek ist in<br />

Aussicht genommen. Das ganze soll am 1. Dezember eröffnet wer<strong>de</strong>n, wenn bis zum 15. August irgen<strong>de</strong>ine


entsprechen<strong>de</strong> Beteiligung bei <strong>de</strong>m zuständigen Agenten angemel<strong>de</strong>t wird. Da die schöne westfälische Stadt<br />

schon seit langem <strong>de</strong>r Lieblingsaufenthalt in Ruhestand versetzter Kritiker ist, so zweifelt man an dieser<br />

Beteiligung nicht, <strong>de</strong>nn es wird sicher so manchem erwünscht sein, mit <strong>de</strong>n Kollegen nicht nur gemütlich unter<br />

einem Dach zu leben, son<strong>de</strong>rn auch gemeinschaftlich mit ihnen Ausflüge durch die herrliche Gegend<br />

Ostwestfalens zu machen. Das Unternehmen, das von mehreren Feuilletonchefs <strong>und</strong> Großkritikern eingeleitet <strong>und</strong><br />

geför<strong>de</strong>rt wird, ist für die kulturelle Welt also je<strong>de</strong>nfalls ein willkommenes.<br />

** Siehe Faites Divers<br />

63<br />

Carlo wird seinen Durchbruch erleben. Mit Manfred ist er auf <strong>de</strong>m besten Wege: Rebellisches<br />

Denken <strong>und</strong> Fühlen wird sein Credo. Und er träumt davon, daß Jean-François ihm ein erstes <strong>und</strong><br />

zugleich letztes Mal ein großes Feuilleton widmet. Folgen<strong>de</strong> Eingangsphrase hat Carlo bereits<br />

heute vor Augen: « Einer <strong>de</strong>r genialsten unter <strong>de</strong>n leben<strong>de</strong>n Schauspielern, wenn man diese<br />

Bezeichnung in <strong>de</strong>r reproduktiven Kunst gelten lassen will, ist unstreitig <strong>de</strong>r erstaunlich<br />

vielseitige... », <strong>und</strong> er zweifelt, ob Jean-François ihm je gerecht wird wer<strong>de</strong>n können.<br />

64<br />

Eva-Maria packt Umzugskartons. Dabei fin<strong>de</strong>t sie einen Brief wie<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n sie vor Jahrzehnten das<br />

letzte Mal gelesen hatte, <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Jean-François all die Jahre vor ihr versteckt gehalten hatte. Und<br />

sie stößt auf einen Ausweis, ausgestellt am 16. November 1936, <strong>de</strong>r sie mit einer unbequemen<br />

Wahrheit bekannt machen wird: Eva-Maria wird in die Vergangenheit eintauchen. Auch Rambo<br />

packt, <strong>und</strong> zwar die Koffer. Seine Reise führt ihn nach La Rochelle. Dort wird er u. a. auf einen<br />

Stan<strong>de</strong>sbeamten mit Hörfehler treffen.<br />

Rambo: Du spielst also tatsächlich mit <strong>de</strong>m Gedanken, nach Bielefeld zu gehen.<br />

65<br />

Jean-François: Ja, warum <strong>de</strong>nn nicht!? Eine durchaus angenehme Beschäftigung erwartet mich dort,<br />

ich treffe auf Leute, mit <strong>de</strong>nen man Gespräche führen kann, gepflegte Gespräche, verstehst Du, <strong>und</strong><br />

ich lasse <strong>de</strong>n Alltagsstreß hinter mir.<br />

Rambo: Verstehe sehr wohl – alles grammatisch einwandfrei. Und...<br />

Jean-François: Und Du sitzt mir ohnehin im Nacken.<br />

Rambo: Demnächst sitz' ich erstmal im Zug – nach Frankreich, genauer: nach La Rochelle.<br />

Jean-François: Willst Du da wirklich hin? Was erhoffst Du dir davon? Ich bin auch bereits in La<br />

Rochelle gewesen – damals, als...<br />

Rambo: Als Du noch Unterhaltungsnummern für's Fernsehen recherchiert hast, ich weiß. Vielleicht<br />

ist da ja ein Zusammenhang.<br />

Jean-François: Ich fürchte fast.<br />

Rambo: Das Heim in Bielefeld sollte Dir eher Angst bereiten.


Jean-François: Wieso <strong>de</strong>nn das?<br />

Rambo: Aus meiner beschei<strong>de</strong>nen Sicht sind zwei Sachverhalte durchaus furchterregend.<br />

Jean-François: Nämlich welche?<br />

Rambo: Erstens: Bielefeld gibt's gar nicht wirklich. Aus finanzieller Not heraus wur<strong>de</strong> das Städtlein<br />

von Webern, insbeson<strong>de</strong>re aber von Spinnern in <strong>de</strong>r Revolution von 1848 zum eingebil<strong>de</strong>ten Ort<br />

erklärt. Es soll sogar Menschen geben, die behaupten, Bielefeld existiere erst seit Lys Assias « Der<br />

Cowboy hat immer ein Mä<strong>de</strong>l in Bielefeld ».<br />

Jean-François: Mach' mich nicht schwach! Aber immerhin Mä<strong>de</strong>ls.<br />

Rambo: Darauf wür<strong>de</strong> ich an Deiner Stelle nicht setzen. Damit wären wir beim zweiten Punkt:<br />

Kritikerinnen kommen nicht ins Heim. Also überleg's Dir.<br />

Erster Exkurs<br />

Das Heim für Kultukritiker kommt. Wie am vergangenen Wochenen<strong>de</strong> bekannt wur<strong>de</strong>, haben sich<br />

hinreichend genug Interessenten gemel<strong>de</strong>t, so daß <strong>de</strong>r Zeitplan bis zur Eröffnung vermutlich<br />

eingehalten wer<strong>de</strong>n kann. Die Initiatoren <strong>de</strong>s Heims organisierten aus diesem freudigen Anlaß eine<br />

Diskussionsr<strong>und</strong>e, an <strong>de</strong>r Igor Nogin, I<strong>de</strong>ologieforscher, Sehnaz El-Sahedi,<br />

Universalismustheoretikerin, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kulturanatom Toni Korporis teilnahmen. Letzterer kam<br />

allerdings in <strong>de</strong>r Schlußsequenz, die hier wie<strong>de</strong>rgegeben ist, nicht zu Worte. Die Veranstaltung<br />

wur<strong>de</strong> mo<strong>de</strong>riert von <strong>de</strong>m Theaterkritiker Jean-François.<br />

Jean-François: Bitte, Herr Professor Nogin.<br />

Nogin: Ich will auf das Argument meines Vorredners im Moment nicht eingehen, son<strong>de</strong>rn zunächst<br />

dies sagen: Der schreiben<strong>de</strong> Kritiker im allgemeinen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Kulturkritiker im beson<strong>de</strong>ren ist nicht<br />

vor <strong>de</strong>r Problematik geschützt, immerwährend etwas mitteilen zu müssen o<strong>de</strong>r auch zu wollen, was<br />

<strong>de</strong>m Inhalt <strong>de</strong>s Denkprozesses, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Schreiben vorausgeht, zuweilen auch eilt, nur ungenau<br />

entspricht. Der eine mag unter Zeitdruck stehen o<strong>de</strong>r eine professionelle Attitü<strong>de</strong> pflegen, <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>re ist einfach nur bequem <strong>und</strong> posiert gern – bei<strong>de</strong> greifen sie zu einer so imponieren<strong>de</strong>n wie<br />

auch, nebenbei gesagt, aka<strong>de</strong>misch relevanten Krücke, in<strong>de</strong>m sie ihrer Sprache Kraft <strong>und</strong><br />

Anschaulichkeit verleihen o<strong>de</strong>r aber das formale Gehabe <strong>de</strong>r inhaltlichen Präzisierung vorziehen;<br />

sie appellieren an das Vorstellungsvermögen <strong>de</strong>s einzelnen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Geist ihrer Leserschaft.<br />

El-Sahedi: Gut, gut, nur, um es in Anlehnung an Aristoteles zu sagen, darf <strong>de</strong>r Exaktheitsanspruch<br />

schon nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher Weise erhoben wer<strong>de</strong>n, schon gar<br />

nicht bei handwerklich-künstlerischer Produktion. Allein dann nicht, wenn man sich über <strong>de</strong>n<br />

Gegenstand <strong>de</strong>r Betrachtung nur allgemein im Klaren sein kann <strong>und</strong> er ein Mehr an Genauigkeit<br />

nicht zuläßt. O<strong>de</strong>r wenn es noch nichts zu klarzustellen gibt <strong>und</strong> es nur möglich ist, Konturen von<br />

<strong>de</strong>m zu entwerfen, was im Moment im Detail erschlossen wird.<br />

Jean-François: Hier also scheint mir die Metapher nicht überflüssig zu sein, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong>zu<br />

notwendig...<br />

An dieser Stelle kam es zu einem Zwischenruf aus <strong>de</strong>m Publikum. Ein älterer Herr rief <strong>de</strong>n<br />

Diskutanten auf <strong>de</strong>m Podium lauthals zu: « Herr Kapitän, <strong>de</strong>r Steuermann / hat gra<strong>de</strong> lallend


k<strong>und</strong>getan, / er brächte jetzt das Schiff zum Sinken – / me taph er wirklich nicht mehr trinken. »<br />

Jean-François zeigte sich darob irritiert <strong>und</strong> konnte es nicht verhin<strong>de</strong>rt, dass <strong>de</strong>r Zwischenrufer –<br />

es soll sich um einen gewissen Robert G. (71), Lyriker aus Frankfurt, gehan<strong>de</strong>lt haben – aus <strong>de</strong>m<br />

Saal geführt wur<strong>de</strong>. Sehnaz Al-Sahedi, die <strong>de</strong>n Mann sofort erkannt hatte, hätte liebend gern mit<br />

seinen eigenen Worten reagiert <strong>und</strong> ihm ein zutiefst fre<strong>und</strong>liches « Sie sym bol wahnsinnig<br />

gewor<strong>de</strong>n! » nachgeschleu<strong>de</strong>rt, beließ es aber bei nur einem Wort, <strong>de</strong>m sie eine nur kleine Pause<br />

folgen ließ, so daß <strong>de</strong>r Bezug dieses Wortes in <strong>de</strong>r Schwebe blieb.<br />

El-Sahedi: Genau – hier <strong>de</strong>koriert sie nicht, son<strong>de</strong>rn ist sie ein Mittel, <strong>de</strong>n Kopf voranzutreiben, wo<br />

es beinahe nichts mehr auszudrücken gibt. Die Kulturkritik ist ein Metapherneldorado, Sie sollten<br />

es wissen, Jean-François.<br />

Jean-François: Eh...<br />

Nogin: O ja, <strong>de</strong>m ist beizupflichten, ohne Frage. Der Sprachbil<strong>de</strong>rreichtum, <strong>de</strong>r Phantasie <strong>und</strong><br />

plastisches Ausdrucksvermögen womöglich unter Beweis stellen<strong>de</strong> Sprachbil<strong>de</strong>rreichtum also <strong>und</strong><br />

die fest umrissene, mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r standardisierte Sprache <strong>de</strong>r Blen<strong>de</strong>r...<br />

El-Sahedi: ...die als persönliche Note sich geriert <strong>und</strong> <strong>de</strong>r es doch an Originalität nur so mangelt!<br />

Nogin: ...bei<strong>de</strong>s sind Hilfsmittel. Die Verwendung dieser Hilfsmittel liegt selten nicht in <strong>de</strong>r Kluft<br />

zwischen Wissen <strong>und</strong> Können begrün<strong>de</strong>t o<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Diskrepanz zwischen Soll <strong>und</strong> Ist <strong>de</strong>r sozialen<br />

Beziehungskonstellation <strong>de</strong>s einzelnen, um es mal, mit Verlaub, Monsieur, vorsichtig<br />

auszudrücken.<br />

Jean-François: Ja, schön. Und diese Kluft o<strong>de</strong>r Diskrepanz, wie Sie sagen, Herr Nogin, muß<br />

überbrückt wer<strong>de</strong>n.<br />

Nogin: In <strong>de</strong>r Tat, ja. Und immer han<strong>de</strong>lt sich dabei um so eine Art Kuhhan<strong>de</strong>l – mit sich selbst.<br />

El-Sahedi: Womit wir beim Jargon wären! Der Jargon zielt ja gr<strong>und</strong>sätzlich auf Resonanz <strong>und</strong><br />

Verständnis. Aber schrillt er nicht auch effektvoll an, wenn man <strong>de</strong>r Fremdachtung schon gewiß<br />

sein will <strong>und</strong> die Selbstachtung dabei nicht verlorengehen soll? O<strong>de</strong>r wenn elitäre Zugehörigkeit<br />

bewahrt <strong>und</strong> Ausschluß vermie<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n soll? Sie wissen, wovon ich spreche?!<br />

Nogin: Nur zu gut. Hingegen zielen die Bemühungen <strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Metaphorik sich bedienen<strong>de</strong>n<br />

Kritikers immerhin auch auf Verständlichmachung <strong>de</strong>ssen, was eigentlich ausgedrückt wer<strong>de</strong>n soll.<br />

El-Sahedi: Wenn Sie so wollen, Herr Nogin. Ich muß allerdings hinzufügen, daß die Metaphorik<br />

<strong>de</strong>r praktischen, an Aktualitäten <strong>und</strong> Notwendigkeiten ausgerichteten Kulturkritik in aller Regel im<br />

Dienst <strong>de</strong>r raschen Bewältigung von Welt steht <strong>und</strong> kaum im Zeichen von Ent<strong>de</strong>ckung <strong>und</strong><br />

Erkennen. Metaphern wer<strong>de</strong>n fraglos hingenommen, insbeson<strong>de</strong>re häufig vorkommen<strong>de</strong> Metaphern<br />

wer<strong>de</strong>n kritiklos akzeptiert. Das kann man bedauern, muß man vielleicht auch. Auf je<strong>de</strong>n Fall muß<br />

man darauf hinweisen, wie es ein scharfsinniger Professor – namentlich Harry Pross – in seiner<br />

Berliner Abschiedsvorlesung Medium 'Kitsch' <strong>und</strong> Medienkitsch mit Bedacht getan hat.<br />

Jean-François: Aber eine sozusagen originelle Metaphorik, die verblaßte <strong>und</strong> in die<br />

Umgangssprache eingeflossene Metaphern umgeht, ist doch auch nicht besser, o<strong>de</strong>r? Strapaziert sie<br />

nicht das bildliche Vorstellungsvermögen hier wie da, wo es es eine gewissenhafte, umsichtige <strong>und</strong><br />

unzwei<strong>de</strong>utige, <strong>de</strong>n Zweifel nicht ausschliessen<strong>de</strong> Präzisierung auch getan hätte?<br />

Nogin: Sehr richtig. Spaß am Formulantentum führt selten zur Abgeklärtheit <strong>und</strong> zur Klärung.


El-Sahedi: Es sei <strong>de</strong>nn, eine vom Kritiker vorgenommene starke Betonung <strong>de</strong>r Form <strong>und</strong> eine hohe<br />

Bewertung <strong>de</strong>r technischen Fertigkeiten sind begrün<strong>de</strong>t in <strong>de</strong>m drängen<strong>de</strong>n Verlangen,<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Ausdruck übereinzubringen.<br />

Jean-François: Gut gesagt, schöne Frau. Wer von uns kennt dieses Verlangen, dieses drängen<strong>de</strong><br />

nicht! Ach... Wir müssen trotz<strong>de</strong>m zum En<strong>de</strong> kommen. Lassen Sie mich mit <strong>de</strong>n Worten jenes<br />

Berliner outstanding intellectual schließen: Kritiker, Kulturkritiker, die « um <strong>de</strong>r Verständlichkeit<br />

<strong>de</strong>s Ausdrucks willen Sprachbil<strong>de</strong>r verwen<strong>de</strong>n, laufen Gefahr, <strong>de</strong>n Aberglauben zu nähren, ihre<br />

Bil<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Mo<strong>de</strong>lle seien schon die Wirklichkeit. »<br />

El-Sahedi: Schon. Allerdings weiß ich nicht, ob Sie mit <strong>de</strong>m Zitat diesen libertären Denker nicht ein<br />

bißchen verkürzt wie<strong>de</strong>rgeben, ob man das so stehen lassen kann.<br />

Jean-François: Kann man nicht. Das machen wir später unter uns bei<strong>de</strong>n aus. Wie wär's?<br />

An dieser Stelle war Schluß. Man mußte in <strong>de</strong>r Zeit bleiben. Während <strong>de</strong>r Applaus überraschend<br />

anschwoll, drangen leise gesprochene Worte nicht zu Jean-François durch: « Was willst Du von<br />

mir, Honigsüßer? Du bist wie ein Schmetterling, <strong>de</strong>r zum Licht will <strong>und</strong> die Entfernung zur heißen<br />

Lampe nicht einschätzen, zum Tod keinen Abstand halten kann. » Sehnaz El-Sahedi fand das<br />

Beispiel abgedroschen <strong>und</strong> als Metapher einen billigen Gemeinplatz – aber angemessen: « Ius<br />

primae noctis? Ich bin doch keine Debütantin! », murmelte sie, <strong>de</strong>n Blick auf's Publikum gerichtet.<br />

Sie gab sich völlig entspannt <strong>und</strong> war doch unübersehbar irritiert. Jean-François bemerkte das mit<br />

Genugtuung, siegessicher. Nur <strong>de</strong>r Unerfahrene erwartet gewöhnlich mehr von sich, als er vermag.<br />

Ein priapischer Kritiker muß nicht hier sein. Obwohl – ...<br />

Übrigens steht noch nicht fest, wer das Kritikerheim leiten wird. Eine geeignete Persönlichkeit aus<br />

<strong>de</strong>m kulturellen Leben hat sich bislang nicht fin<strong>de</strong>n lassen. Ein Kandidat für <strong>de</strong>n Posten könnte<br />

freilich Jean-François sein, <strong>de</strong>r sich als Kultur- <strong>und</strong> Theaterkritiker einen Namen gemacht hat <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>m Vernehmen nach aus <strong>de</strong>m aktiven Dienst schei<strong>de</strong>n möchte.<br />

67<br />

Rambo: Schon hat er eine an <strong>de</strong>r Angel.<br />

Sonja: Hab' schon gehört. Eine Wissenschaftlerin.<br />

Rambo: Ach! Das ist mir neu. Ich weiß nur von einer aus <strong>de</strong>m Orient.<br />

Sonja: Ja, eben.<br />

Rambo: Aber die ist, glaube ich, keine Wissenschaftlerin.<br />

Sonja: Der macht Sachen, <strong>de</strong>r Jean-François.<br />

Rambo: Sie soll mit Bernard-Henri Lévy befre<strong>und</strong>et sein.<br />

Sonja: Was än<strong>de</strong>rt das?<br />

68


Eva-Maria: Mir tut er inzwischen leid. Kaum ist er mich los, stürzt er sich auf ein neues Abenteuer,<br />

anstatt das mit Dir in völliger Freiheit auszukosten.<br />

Sonja: Ich wäre ja bereit, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt noch will. Und wenn er nach<br />

Bielefeld gehen sollte, wäre es sowieso endgültig vorbei. Auch für mich. Nach Bielefeld kriegen<br />

mich keine zehn Pfer<strong>de</strong>.<br />

Eva-Maria: Ich kann Dir versprechen – Jean-François wird nach Bielefeld gehen <strong>und</strong> das Heim für<br />

Kritiker leiten wollen. Carlo, was meinst Du?<br />

Carlo: Wieso will er das <strong>de</strong>nn machen? Bielefeld gibt's doch gar nicht! Wie kann es ein Heim in<br />

Bielefeld geben, wenn es schon <strong>de</strong>n Ort, wo das Heim sein soll, nicht gibt. O<strong>de</strong>r habe ich da etwas<br />

in <strong>de</strong>n falschen Hals bekommen? – Wenn er nur bald das große Feuilleton über mich schreibt.<br />

69<br />

Rambo: Wieso nur hat Jean-François die Briefe versteckt? Es sind doch Deine Briefe! Warum hat<br />

er das getan?<br />

Eva-Maria: Ich weiß es selbst nicht genau. Von Zeit zu Zeit hatte ich ihn gefragt, ob er etwas über<br />

<strong>de</strong>n Verbleib <strong>de</strong>r Briefe wisse. Eine klare Antwort bekam ich nie. Vielleicht war er eifersüchtig.<br />

Rambo: Hatte er Gr<strong>und</strong> dazu?<br />

Eva-Maria: Ein bißchen vielleicht.<br />

Rambo: Ein bißchen vielleicht? Vielleicht hast Du ihn über all die vielen gemeinsamen Jahre spüren<br />

lassen, dass er gar nicht gemeint war, son<strong>de</strong>rn ein an<strong>de</strong>rer?<br />

Eva-Maria: Kann sein. Aber warum hat er mir Alfreds Briefe weggenommen. Wenigstens hat er sie<br />

nicht verbrannt. Sogar <strong>de</strong>n Brief seines Kamera<strong>de</strong>n ließ er mir nicht.<br />

Rambo: Sehr geehrtes Fräulein Eva-Maria! Zu <strong>de</strong>m Hel<strong>de</strong>nto<strong>de</strong> Ihres Alfred spreche ich persönlich<br />

Ihnen mein herzlichstes Beileid aus <strong>und</strong> versichere meines <strong>und</strong> meiner Kamera<strong>de</strong>n aufrichtiges<br />

Mitgefühl. Mit dieser schmerzlichen Nachricht sind nun alle unsere Hoffnungen auf Alfreds<br />

Wie<strong>de</strong>rkehr zerschlagen wor<strong>de</strong>n. So hat auch Er sein Höchstes <strong>und</strong> Letztes gegeben für unser<br />

Vaterland. Wir ge<strong>de</strong>nken all Seiner in tiefer aber stolzer Trauer. Er war gewiß einer unserer besten<br />

<strong>und</strong> tapfersten Kamera<strong>de</strong>n. Die Gewißheit, daß auch sein Opfer <strong>de</strong>n endültigen Sieg unseres Volkes<br />

herbeiführen hilft, soll Ihnen, sehr geehrtes Fräulein Eva-Maria, ein guter Trost sein. – Meine<br />

Güte, von wann ist <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Brief? Vom 18. Januar 1945! – Als ich gestern aus <strong>de</strong>m Lazarett zur<br />

Staffel zurückkehrte, erhielt ich von Herrn Hpt. Klamm Ihren zweiten Brief. Ich bin Ihnen nun eine<br />

Erklärung schuldig. Auf Ihren ersten Brief hin schrieb ich Ihnen beiliegen<strong>de</strong> Antwort. Lei<strong>de</strong>r<br />

konnte ich diese bisher nicht abschicken. Es war in Mörtitz bei Leipzig. Den Brief hatte ich gera<strong>de</strong><br />

fertig geschrieben, als plötzlich Einsatz befohlen wur<strong>de</strong>. In <strong>de</strong>r Luft bekamen wir <strong>de</strong>n Befehl, gleich<br />

in Münster zu lan<strong>de</strong>n. So wur<strong>de</strong> das eine Verlegung ohne Gepäck. Das wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>n<br />

zurückgebliebenen Kamera<strong>de</strong>n zusammengepackt. Meine Schreibsachen lagen nun auf <strong>de</strong>m Tisch<br />

<strong>und</strong> wur<strong>de</strong>n in irgen<strong>de</strong>ine Aktenmappe gepackt. Je<strong>de</strong>nfalls fand ich die Sachen jetzt bei meiner<br />

Rückkehr in meinem Zimmer vor. Einer meiner Kamera<strong>de</strong>n hatte es in seinem Gepäck gef<strong>und</strong>en.<br />

Ich bitte Sie höflichst diese Verzögerung zu entschuldigen. Sie wur<strong>de</strong> durch diese komische<br />

Verlegung verursacht. – Welch ein Dokument <strong>de</strong>r Zeit, Eva-Maria. Wir sollten Jean-François für


seine Konservierungsarbeit dankbar sein... – Auch diese letzten Westeinsätze haben in unsere<br />

Reihen Lücken gerissen. Von Alfreds Kamera<strong>de</strong>n sind wir jetzt nur noch zwei Mann in <strong>de</strong>r Staffel.<br />

Der Krieg for<strong>de</strong>rt unerbittlich seine Opfer. Alles für unsere gerechte Sache <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Endsieg.<br />

Dieses ist unser aller Trost! Sehr geehrtes Fräulein Eva-Maria, sollten Sie noch irgendwelche<br />

Fragen haben, so wen<strong>de</strong>n Sie sich bitte an mich. Ich stehe Ihnen je<strong>de</strong>rzeit gern zur Verfügung. So<br />

verbleibe ich mit <strong>de</strong>n besten Wünschen Ihr Bernd Thiel. – Junge, Junge!<br />

Eva-Maria: Alfred war meine große Liebe. Als dieser Brief kam, wußte ich längst Bescheid. Bereits<br />

im Oktober 1944 erhielt meine Mutter ein Telegramm mit <strong>de</strong>r Bitte, mich, wie es hieß,<br />

« vorzubereiten », da Alfred von einem sogenannten « Feindflug » nicht zurückgekehrt sei. Sie war<br />

sehr fürsorglich.<br />

Rambo: Aber dann kam ja Jean-François.<br />

Eva-Maria: Ja, aber viel später, im Frühjahr 48. Er hieß zu <strong>de</strong>r Zeit allerdings noch Hans-Joachim.<br />

Mein Bru<strong>de</strong>r hatte ihn ins Haus gebracht, sie studierten an <strong>de</strong>rselben Uni, aber verschie<strong>de</strong>ne Fächer.<br />

Vater war ja bereits tot, er hätte Hans-Joachim damals nicht akzeptiert. Alfred o<strong>de</strong>r keinen. Alfred<br />

war gefallen, also keinen.<br />

Rambo: Wäre Dir womöglich einiges erspart geblieben, wenn Du auf Deinen Vater gehört hättest...<br />

Eva-Maria: Mein Vater war ein fürchterlicher Nazi.<br />

Rambo: Das sagst Du jetzt. – Wie ist er <strong>de</strong>nn gestorben?<br />

Eva-Maria: Nun war er doch noch mal zur Buchmesse gefahren, unser Schwerenöter.<br />

Sonja: Ja, mit mir.<br />

Eva-Maria: Also doch!<br />

Sonja: Ja, aber das war wohl das letzte Mal. Überhaupt.<br />

70<br />

Eva-Maria: Jean-François wird sich auf seine neue Aufgabe konzentrieren wollen. Bielefeld wird<br />

anstrengend wer<strong>de</strong>n.<br />

Sonja: Ich weiß nicht, ob ihm das bewußt ist. Den Auftrag, das neue Buch von Martin Baleiner zu<br />

rezensieren, hat er gern angenommen. Die Besprechung ist bereits fertig.<br />

Eva-Maria: Hat er sie selbst geschrieben?<br />

Sonja: Diesmal ja. Man merkt es. Hier, nimm! Lies selbst!<br />

Eva-Maria: « In <strong>de</strong>n Herzen <strong>de</strong>r Frauen hat wohl selten ein Buch so warme Sympathie erweckt, wie<br />

Martin Baleiners neuer Roman Ein Mann liebt die Frauen, <strong>und</strong> auch die ernstere Kritik erkennt<br />

seine Vorzüge bereitwillig an. Die schöne Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Werkes, die sich schon auf <strong>de</strong>n ersten Seiten<br />

in <strong>de</strong>n schlichten Versen <strong>de</strong>r Hermine ausgesprochen fin<strong>de</strong>t: 'Vergiß getrost das eigne Sein / Und<br />

sorg für andrer Leut Ge<strong>de</strong>ihn,' erweitert sich im Verlauf <strong>de</strong>r Erzählung zu <strong>de</strong>m Satze: 'Geht Dir<br />

verloren, was Du Dein Glück nennst, <strong>und</strong> gelingt es Dir, es in An<strong>de</strong>ren zu wecken, so fin<strong>de</strong>st Du es


wie<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r eigenen Brust.' »<br />

Sonja: Man glaubt es nicht! O<strong>de</strong>r?<br />

Eva-Maria: Nee. – « Das ist eine schöne, beherzigenswerte Lehre, <strong>und</strong> gern sprechen wir die Worte<br />

nach, die wir in Rad<strong>de</strong>tzkis kritischer Würdigung <strong>de</strong>r Hermine fan<strong>de</strong>n: 'Die Treue ist überhaupt <strong>de</strong>r<br />

Gr<strong>und</strong>ton, <strong>de</strong>r das ganze durchklingt in <strong>de</strong>n mannigfaltigsten Akkor<strong>de</strong>n; mit Stolz wer<strong>de</strong>n wir uns<br />

bewußt, daß die Städter <strong>de</strong>n wahren Keim <strong>de</strong>s Lebens geborgen <strong>und</strong> gerettet haben.' » – Versteh'<br />

ich nicht.<br />

Sonja: Da gibt's nichts zu verstehen.<br />

Eva-Maria: Vielleicht ja doch. – « 'Und die Städterinnen', fügen wir hinzu, in<strong>de</strong>m wir <strong>de</strong>r Hermine<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Käthe ge<strong>de</strong>nken, um die sich die an<strong>de</strong>ren Gestalten <strong>de</strong>s Romans bewegen. Wer diese<br />

Mädchenknospen kennen lernte <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Erblühen ihres Wesens <strong>und</strong> ihrer Fre<strong>und</strong>schaft folgte, <strong>de</strong>r<br />

vergißt sie nicht wie<strong>de</strong>r. Treue ist die Gr<strong>und</strong>lage <strong>de</strong>s Seelenlebens dieser bei<strong>de</strong>n. Sie bewährt sich in<br />

<strong>de</strong>m Verhältnis <strong>de</strong>r einen zu <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren wie in je<strong>de</strong>r Lage ihres Daseins, <strong>und</strong> mit dieser Kunst läßt<br />

Baleiner die jungfräuliche Hermine <strong>de</strong>n Werber nötigen, <strong>de</strong>r Treue zu ge<strong>de</strong>nken, die ihm selbst ein<br />

heiliges Bündnis zur Pflicht macht. »<br />

Sonja: Totaler Quatsch!<br />

Eva-Maria: Vielleicht. Immerhin erkenne ich meinen Jean-François nicht wie<strong>de</strong>r.<br />

Sonja: Lies weiter!<br />

Eva-Maria: « Mit liebenswertem Humor wird dieser zum fröhlichen Siege führen<strong>de</strong> Kampf um die<br />

Treue geschil<strong>de</strong>rt, <strong>und</strong> das Nürnberger Mädchen zeigt <strong>de</strong>m kecken Franzosen, <strong>de</strong>r ihr Bildnis malt,<br />

in anmutiger Kurzweil, 'daß das Herz einer Jungfrau kein Tand o<strong>de</strong>r Spielzeug <strong>und</strong> daß selbst ihre<br />

Lippen ein Heiligtum, so sie <strong>de</strong>m künftigen Gemahl rein zu erhalten schuldig. » – Sonja, ich halt<br />

das nicht mehr aus. Was nur ist in Jean-François gefahren?! Laß uns etwas an<strong>de</strong>res machen.<br />

Sonja: Trinken wir ein Gläschen. Das hilft. Und morgen tun wir uns <strong>de</strong>n Rest an.<br />

Eva-Maria: Vielleicht sollten wir erstmal das Buch lesen.<br />

Eva-Maria: Ich bin soweit.<br />

Sonja: Dann leg' los!<br />

71<br />

Eva-Maria: « Das Kapitel, in <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r junge Meister Hippolyte die Hermine abkonterfeit, welcher<br />

Künstler hätt' es wohl nicht mit Vergnügen gelesen? Neckerei <strong>und</strong> Scherz würzen es von Anfang<br />

bis zum En<strong>de</strong>, auch die Muse <strong>de</strong>r Dichtung wird von <strong>de</strong>m fröhlichen Werber zu Hilfe gerufen; doch<br />

das Sonett, in <strong>de</strong>m Hippolyte erklärt, daß er <strong>de</strong>s Jupiter ge<strong>de</strong>nke, <strong>de</strong>r als Schwan zur Er<strong>de</strong> kam, um<br />

sich <strong>de</strong>r Schönheit Ledas gefangen zu geben, <strong>und</strong> welches en<strong>de</strong>t: 'Und auf <strong>de</strong>s Gottes Bahn / Treibt<br />

es zu dir, Erhabenste, mich kleinen;' dies Sonett wird von <strong>de</strong>r Hermine mit einem an<strong>de</strong>rn erwi<strong>de</strong>rt,<br />

<strong>de</strong>ssen Schlußstrophe lautet: 'Und zu <strong>de</strong>r schönen Leda flog <strong>de</strong>r Hans. / Die sah ihn an <strong>und</strong> lacht aus<br />

voller Kehle: / Du wirst ein Brätlein geben, hübsche Gans!' »


Sonja: Gut, daß ich das Buch noch nicht gelesen habe.<br />

Eva-Maria: « Aber damit ist das heitere Spiel nicht zu En<strong>de</strong>. » – Haha! – « Sein sonniger Glanz<br />

war es wohl, <strong>de</strong>r Meister Polcke veranlasste, es mit <strong>de</strong>n Mitteln seiner Kunst zur Darstellung zu<br />

bringen. Baleiner läßt die Hermine in einer an<strong>de</strong>ren Stellung malen. Bei ihm richtet sich <strong>de</strong>r Blick<br />

in die Ferne, als harre sie <strong>de</strong>s Reihers, 'also daß sie einer Jägerin gleichsah'; – auf Polkes Zelloloid<br />

sitzt sie <strong>de</strong>m heiter erregten Künstler im Jogginganzug einer Nürnberger Jungfrau. Ihr wie ihrer<br />

Fre<strong>und</strong>in sieht man an, daß Monsieur Hippolyte eben etwas Munteres gesagt hat, das eine treffen<strong>de</strong><br />

Antwort herausfor<strong>de</strong>rt, <strong>und</strong> die schlagfertige Jungfrau, die selbst <strong>de</strong>n Fragen <strong>de</strong>s bayerischen<br />

Ministerpraesi<strong>de</strong>nten frisch <strong>und</strong> frank zu entgegnen versteht, wird nicht lange auf eine solche<br />

warten lassen. »<br />

Sonja: Ob die wirklich mit Seehofer re<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>? Ich glaub's nicht.<br />

Eva-Maria: Wurscht. Jean-François muß völlig hemmungslos am Rechner gesessen haben. Ich<br />

erkenne ihn wirklich nicht wie<strong>de</strong>r. Wieso nur mußte er ausgerechnet dieses Buch besprechen? O<strong>de</strong>r<br />

geht es ihm um das Bild?<br />

Sonja: Keine Ahnung. Lies weiter.<br />

Eva-Maria: « Noch hört sie schweigend zu, doch bald wird sie die feinen Lippen öffnen <strong>und</strong> sich<br />

wehren gegen was es auch sei. »<br />

Sonja: Jetzt wissen wir doch, um was es ihm geht. Letztlich kennt er nur ein Thema.<br />

Eva-Maria: Täusch dich nicht! Hör: « Ihr Antlitz ist es, das heute lichtgemalt wird. Das Kostüm ist<br />

Nebensache, <strong>und</strong> Polcke lag es weniger daran, das Bild <strong>de</strong>s Hippolyte wie<strong>de</strong>rzugeben, als <strong>de</strong>n<br />

fröhlichen Verkehr zwischen <strong>de</strong>r schönen, frischen Nürnbergerin <strong>und</strong> <strong>de</strong>m kecken jungen<br />

Lyonaiser. Vielleicht hat er damit das Rechte getroffen. »<br />

Sonja: Sag' ich doch. Ich kenne schließlich meinen Jean-François.<br />

Eva-Maria: Du kennst <strong>de</strong>inen. Ich kannte einen, <strong>und</strong> justament lerne ich einen neuen Jean-François<br />

kennen. – « Ob <strong>de</strong>r Dichter, <strong>de</strong>ssen Kunst die köstlichen, unvergeßlichen Gestalten <strong>de</strong>r Hermine<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Käthe geschaffen, sie in diesen gewiß recht anmutigen Mädchengestalten wie<strong>de</strong>rerkennen<br />

wird, ist eine Frage, die er allein zu beantworten vermag. Je<strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>s Baleinerschen Romans hat<br />

sich eine beson<strong>de</strong>re Vorstellung von <strong>de</strong>r Hermine <strong>und</strong> <strong>de</strong>r lieblichen Käthe gebil<strong>de</strong>t, <strong>und</strong> mag es<br />

ihm auch schwerfallen, die seine <strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Lichtmalers unterzuordnen, wird er ihm doch zugeben<br />

müssen, daß er einen fesseln<strong>de</strong>n Vorgang entsprechend <strong>und</strong> in einer Weise darzustellen verstan<strong>de</strong>n,<br />

die zu manchem Für <strong>und</strong> Wi<strong>de</strong>r auffor<strong>de</strong>rn möchte. Der Schreiber dieser Zeilen hat sich die<br />

Hermine schlanker, mehr jungfräulich als frauenhaft <strong>und</strong>, damit er sich eines Wortes <strong>de</strong>s Dichters<br />

bediene, 'aufrechter' <strong>und</strong> entschie<strong>de</strong>ner als Verkörperung ges<strong>und</strong>er <strong>und</strong> selbstbewußter<br />

Daseinsfreu<strong>de</strong> gedacht; doch möchte auch er <strong>de</strong>n Liebreiz nicht missen, auf <strong>de</strong>ssen Wie<strong>de</strong>rgabe <strong>de</strong>r<br />

bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Künstler am letzten verzichten konnte. Es gibt eben nicht zwei, die sich von <strong>de</strong>m gleichen<br />

beschriebenen Dinge die gleiche Vorstellung bil<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> wenn dies ein junges weibliches Wesen<br />

ist, <strong>und</strong> es ward so dargestellt, daß wir die Anmut darin wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, ohne die wir es uns nicht<br />

<strong>de</strong>nken können, fühlen wir uns schon veranlaßt, <strong>de</strong>n Künstler zu loben <strong>und</strong> ihm zu danken. » – Das<br />

war's.<br />

Sonja: Unser Jean-François – doch noch für eine Überraschung gut.<br />

Eva-Maria: Wenn es <strong>de</strong>nn eine ist. – Wo ist eigentlich Rambo?


Sonja: In Frankreich. Auf <strong>de</strong>n Spuren <strong>de</strong>r Jungfrau von La Rochelle.<br />

72<br />

Jean-François: Mich hat's erwischt.<br />

Carlo: Grippe o<strong>de</strong>r was?<br />

Jean-François: Mensch Manfred, mich hat's erwischt! Ich hab' mich verliebt!<br />

Carlo: Na prima. In diese Wissenschaftlerin aus <strong>de</strong>m Iran etwa, diese Sehnaz.<br />

Jean-François: Ja, in die auch.<br />

Carlo: Jean-François hat es erwischt.<br />

Eva-Maria: Wenn trifft es diesmal?<br />

73<br />

Carlo: Ich weiß nicht. In eine Sehnaz ist er verliebt. Und in eine an<strong>de</strong>re ist er ebenfalls verliebt –<br />

sagt er.<br />

Eva-Maria: Ist das die, mit <strong>de</strong>r Bernard-Henri Lévy um die Ecken zieht? Sonja erzählte mir davon.<br />

Dabei soll Jean-François die Frau gar nicht kennen, nicht wirklich kennen, nur über das Internet. Ob<br />

sie von ihrem wahren Glück weiß?<br />

Carlo: Vermutlich nicht. Das Mä<strong>de</strong>l soll ja – heißt es, aber ich möcht's kaum glauben – keine<br />

Ahnung davon haben, mit wem sie sich eingelassen hat.<br />

Eva-Maria: So ein trauriger Clown an ihrer Seite, das muß sie doch merken.<br />

Carlo: Und wenn nicht?<br />

Eva-Maria: Der Mann ist doch bekannt wie ein bunter H<strong>und</strong>, <strong>und</strong> das nicht nur in Saint-Germain<strong>de</strong>s-Prés.<br />

Dann bekommt sie es eben um die Ohren.<br />

Carlo: Sie soll schlecht hören – aber ein tolles Dekolleté haben.<br />

Eva-Maria: Ja, da kann er nicht wi<strong>de</strong>rstehen. – Sag, woher weißt du das alles?<br />

Carlo: Hat mir Rambo gemailt – <strong>und</strong> <strong>de</strong>r sollte Bescheid wissen, schließlich hält er sich in<br />

Frankreich auf.<br />

Eva-Maria: Aber Rambo wollte nach La Rochelle.<br />

Carlo: Alle Wege nach La Rochelle führen über Paris...<br />

74


Sonja: Sagst du mir ihren Namen?<br />

Jean-François: Später vielleicht.<br />

Sonja: Was gefällt dir an ihr?<br />

Jean-François: Sie ist so sehr intensiv.<br />

Sonja: Das hast du über das Internet feststellen können?<br />

Jean-François: Und ihr Dekolleté.<br />

Sonja: Aber du kennst sie doch noch gar nicht!<br />

Jean-François: Sie hat das schönste Dekolleté von Paris! Rambo hat's gesehen.<br />

Rambo: Hör mal, Eva-Maria, eigentlich geht es dich ja überhaupt nichts mehr an ...<br />

Eva-Maria: Und wieso rufst du dann an?<br />

75<br />

Rambo: Ich will es dich aber wissen lassen – trotz<strong>de</strong>m. Ich weiß doch, daß du vor Neugier platzt:<br />

Sie ist tatsächlich eine Schönheit, eine mysteriöse obendrein. Ich kann mir gut vorstellen, daß Jean-<br />

François einen Narren an ihr gefressen hat.<br />

Eva-Maria: Hat sie wirklich ein so aufregen<strong>de</strong>s Dekolleté?<br />

Rambo: Wie kommst du <strong>de</strong>nn darauf?<br />

Eva-Maria: Soll sie doch haben. Du hast es Carlo, äh, ich meine Manfred selbst erzählt.<br />

Rambo: Neenee, das Dekolleté hat er. Man sagt hier, er habe das schönste Dekolleté von Paris,<br />

vielleicht auch darüber hinaus. Ich kann das nicht beurteilen. Aber seine tief ausgeschnittenen,<br />

strahlend weißen Hem<strong>de</strong>n sind schon eine Wucht.<br />

Eva-Maria: Also stimmt das doch, das mit Bernard-Henry Lévy!?<br />

Rambo: Vermutlich. Sie ruft ihn freilich Gérard.<br />

76<br />

Jean-François: « Einer <strong>de</strong>r genialsten unter <strong>de</strong>n leben<strong>de</strong>n Schauspielern, wenn man diese<br />

Bezeichnung in <strong>de</strong>r reproduktiven Kunst gelten lassen will, ist unstreitig <strong>de</strong>r erstaunlich<br />

vielseitige... » – so wer<strong>de</strong> ich beginnen, das ist ein ausgezeichneter Einstieg, ich signalisiere von<br />

Beginn an gewisse Vorbehalte <strong>und</strong> kann ihm doch irgendwie entsprechen.<br />

77


Rambo: Wieso rufst Du an?<br />

Jean-François: Ich muß dir einen Traum erzählen. Ich hoffe, du hast ein Ohr für mich.<br />

Rambo: Warum grad mir? Aber gut, schieß los!<br />

Jean-François: Es war vor ein paar Tagen in Bielefeld, als ich eines Abends so heftige<br />

Kopfschmerzen bekam, daß ich frühzeitig zu Bett ging. Ich hatte dann einen überaus lebhaften <strong>und</strong><br />

klaren Traum, <strong>de</strong>ssen Einzelheiten mir jetzt noch ganz <strong>de</strong>utlich vor Augen stehen. Ich träumte, ich<br />

wäre bei <strong>de</strong>r Familie <strong>de</strong>r Dame, welche später meine Frau wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>, <strong>und</strong> stän<strong>de</strong> am Kamin.<br />

Plötzlich sagte ich allen gute Nacht, nahm mein prächtig gefülltes Rotweinglas <strong>und</strong> wollte zu Bett<br />

gehen. Auf <strong>de</strong>m Flur bemerkte ich jedoch, daß sie sich noch auf <strong>de</strong>r Treppe befand, eilte ihr nach<br />

<strong>und</strong> schlang von hinten meine bei<strong>de</strong>n Arme unter ihre Arme hindurch um ihre Taille. Obwohl ich<br />

das prall gefüllte Weinglas in <strong>de</strong>r linken Hand trug, hin<strong>de</strong>rte das doch im Traum die Bewegung<br />

nicht. Dabei wachte ich auf <strong>und</strong> hörte unmittelbar nachher eine Uhr im Hause zehnmal schlagen. So<br />

stark war mein Eindruck <strong>de</strong>s Traums, daß ich am nächsten morgen einen eingehen<strong>de</strong>n Bericht an<br />

sie absandte...<br />

Rambo: Wer ist sie <strong>de</strong>nn?<br />

Jean-François: Unwichtig! Hör' zu! – Aber ehe sie meinen Bericht empfing, erhielt ich einen<br />

an<strong>de</strong>ren aus ihrer Fe<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r sich mit <strong>de</strong>m meinigen gekreuzt hatte <strong>und</strong> in <strong>de</strong>m es hieß: « Dachtest<br />

Du gestern abend gera<strong>de</strong> um zehn Uhr ganz beson<strong>de</strong>rs an mich? Als ich die Treppe zum<br />

Schlafzimmer hinaufging, hörte ich <strong>de</strong>utlich Deine Fußtritte auf <strong>de</strong>r Treppe <strong>und</strong> fühlte, wie Du<br />

Deine Arme um meine Taille legtest. » Was sagst du dazu?<br />

Rambo: Das hast du doch alles nur geträumt – samt <strong>und</strong> son<strong>de</strong>rs!<br />

Jean-François: Von wegen! Ich glaube, sie liebt mich wie ich sie liebe.<br />

Rambo: Und ich fürchte das Schlimmste. Traumzeit.*<br />

Jean-François: Wenn du willst, zeige ich dir bei Gelegenheit <strong>de</strong>n Brief.<br />

Rambo: Lieber nicht.<br />

* Rambos Traum: « Bei einer Gelegenheit – ich bin unfähig, das Datum anzugeben, doch muß ich ungefähr elf<br />

Jahre alt gewesen sein – ging ich auf einem Platz in La Rochelle spazieren, wo meine Eltern damals lebten. Ich<br />

las dabei in einem Lehrbuch <strong>de</strong>r Mathematik, eines Gegenstan<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r wenig geeignet ist, Phantasien o<strong>de</strong>r<br />

krankhafte Einbildungen irgendwelcher Art hervorzurufen, als ich plötzlich das Schlafzimmer sah, das bei uns zu<br />

Hause das weiße Zimmer genannt wur<strong>de</strong>, <strong>und</strong> auf <strong>de</strong>m Bo<strong>de</strong>n liegend meine Mutter, allem Anscheine nach tot.<br />

Die Vision muß einige Augenblicke gedauert haben, waährend <strong>de</strong>ren meine reale Umgebung zu verblassen <strong>und</strong> zu<br />

verlöschen schien; aber als die Vision verschwand, kamen die tatsächlichen Gegenstän<strong>de</strong> erst verschwommen<br />

<strong>und</strong> allmählich klarer mir wie<strong>de</strong>r zum Bewußtsein. Ich konnte gar nicht an <strong>de</strong>r Wirklichkeit <strong>de</strong>ssen, was ich<br />

gesehen, zweifeln, <strong>und</strong> so, anstatt heimzukehren, ging ich sogleich zu unserem Hausarzt <strong>und</strong> traf ihn<br />

glücklicherweise an. Er machte sich ohne zu zögern mit mir auf <strong>de</strong>n Weg <strong>und</strong> fragte mich allerlei, was ich nicht<br />

beantworten konnte, da meine Mutter anscheinend ganz wohl war, als ich sie verließ. Ich führte <strong>de</strong>n Doktor<br />

unmittelbar in das weiße Zimmer, wo wir in <strong>de</strong>r Tat meine Mutter so liegen fan<strong>de</strong>n, wie ich es gesehen hatte. Alles<br />

war richtig, bis auf die kleinsten Einzelheiten. Sie war plötzlich von einem Herzkrampf befallen wor<strong>de</strong>n <strong>und</strong> wäre<br />

schwerlich <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> entgangen, wenn nicht <strong>de</strong>r Arzt so zeitig gekommen wäre. Ich wer<strong>de</strong> meinen Vater <strong>und</strong><br />

meine Mutter bitten, dies zu lesen <strong>und</strong> zu unterzeichnen. » Hier haben wir ein ausgesprochenes Beispiel von <strong>de</strong>m,<br />

was man gewöhnlich Hellsehen zu nennen pflegt, was aber in in unserem Zusammenhang** eine ganz an<strong>de</strong>re


Beleuchtung empfängt...<br />

** Siehe Szene 64<br />

78<br />

Jean-François: Liebe Fre<strong>und</strong>e <strong>de</strong>s Hauses. Ich heiße Sie herzlich willkommen in Bielefeld zu<br />

unserer ersten Veranstaltung im neuen Heim für Kritiker. Kamingespräch wollen wir sie nennen,<br />

<strong>und</strong> ich hoffe sehr, daß es uns gelingt, sie ausbauen zu können zu einer Reihe, so daß wir fortan<br />

durchaus berechtigterweise von Kamingesprächen wer<strong>de</strong>n sprechen können. Unser erster<br />

Kamingespräch wird, <strong>und</strong> das kann <strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren durchaus überraschen, nicht von<br />

Literatur han<strong>de</strong>ln, son<strong>de</strong>rn die bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Kunst in <strong>de</strong>n Mittelpunkt rücken. Insasse Willi hat sich<br />

fre<strong>und</strong>licherweise bereit erklärt, uns einen kleinen Vortrag halten.<br />

Willi: Mit Vergnügen.<br />

Jean-François: Das freut mich. Anschließend wollen wir diskutieren. – Lassen Sie mich einleitend<br />

das Folgen<strong>de</strong> sagen: Seit<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Impressionismus in <strong>de</strong>r Kunstkritik bis zu einem gewissen Grad<br />

Anerkennung gef<strong>und</strong>en hat, genügt er bereits <strong>de</strong>r hochstreben<strong>de</strong>n Phantasie einiger Maler nicht<br />

mehr. Den Eindruck malen, welchen die Gegenstän<strong>de</strong> auf uns ausüben, anstatt <strong>de</strong>r Gegenstän<strong>de</strong><br />

selbst, ist schon ganz gut, aber sind wir unserer Eindrücke auch immer bewusst? Manche Dinge<br />

machen nur einen halben, ungewissen Eindruck, ihr richtiges Bild muß also ein Art Rätsel sein, vor<br />

welchem sich <strong>de</strong>r Beschauer <strong>de</strong>n Kopf darüber zerbricht, was <strong>de</strong>r Künstler eigentlich gemeint o<strong>de</strong>r<br />

gewollt habe. Die große malerische Wahrheit liegt also im Intentionismus. Sein Prinzip ist, Figuren<br />

<strong>und</strong> Landschaften wie verschleiert, wie im Nebel liegend darzustellen, durch Lichter <strong>und</strong> Schatten<br />

Neugier<strong>de</strong> <strong>und</strong> Spannung hervorzurufen. Seine Hauptmittel bestehen in aufgelösten Umrissen,<br />

tiefen Hintergrün<strong>de</strong>n <strong>und</strong> überraschen<strong>de</strong>r Farbengebung. Willi weiß mehr. Bitte, Willi.<br />

Rambo: In welcher Zeit lebt Jean-François eigentlich?<br />

Willi: Wer will das schon wissen – letztlich. Ich bin dran. Bis später.<br />

79<br />

Rambo: In Paris war ich dabei, als ein Klub gebil<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r lediglich <strong>de</strong>n Zweck verfolgt, die<br />

Nationalgerichte je<strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s <strong>de</strong>r Welt zu kosten. Die erste Mahlzeit setzte sich, <strong>und</strong> das war,<br />

meine ich, wirklich eine Überraschung, ganz aus italienischen Gerichten <strong>und</strong> Weinen zusammen.<br />

Eva-Maria: Und? Hat's geschmeckt?<br />

Rambo: Vorzüglich, was auch eine kleine Überraschung darstellt.<br />

Eva-Maria: Ob <strong>de</strong>in Urteil ebenso günstig lauten wird, wenn die Lieblingsspeisen Chinas <strong>und</strong><br />

Anatoliens an die Reihe kommen, ist zweifelhaft. Schwalbennestersuppe, H<strong>und</strong>efleisch o<strong>de</strong>r<br />

Lammbraten, mit Knoblauch gefüllt, sind nicht je<strong>de</strong>rmanns Sache.<br />

80


Sonja: Jetzt will er doch noch ein Buch herausgeben.<br />

Carlo: Hab' davon gehört.<br />

Sonja: Das Beson<strong>de</strong>re an <strong>de</strong>m Buch sollen die zwei Teile sein, aus <strong>de</strong>nen es besteht.<br />

Carlo: Was ist daran so außergewöhnlich?<br />

Sonja: Nun, <strong>de</strong>n ersten Teil will er « Der gute Ton in allen Lebenslagen » nennen. Dabei soll es sich<br />

um ein Handbuch für <strong>de</strong>n Verkehr in <strong>de</strong>r Familie han<strong>de</strong>ln.<br />

Carlo: Interessant!<br />

Sonja: Glaub' ich auch. Ich bin gespannt, was er zum Verkehr zu sagen hat <strong>und</strong> wie er ihn schil<strong>de</strong>rt.<br />

Der zweite Teil soll « Unserer Frauen Leben » heißen. Mal davon abgesehen, dass Jean-François<br />

zweifelsfrei Fachmann in dieser Angelegenheit ist, ist mir <strong>de</strong>r Bezug zu Teil 1 nicht klar.<br />

Carlo: Mir schon.<br />

81<br />

Jean-François: Guten Abend, liebe Fre<strong>und</strong>e. Anläßlich unseres heutigen Kamingesprächs verfolge<br />

ich die Absicht, aus eigenem Werke vorzutragen. Es hat sich ja herumgesprochen, daß ich neben<br />

meiner Beschäftigung als Leiter unseres Heimes für Kritiker hier im so schönen wie anregen<strong>de</strong>n<br />

Bielefeld an einem neuen Buch arbeite mit <strong>de</strong>m sehr wohl programmatischen Titel « Der gute Ton<br />

in allen Lebenslagen ». Wer mich kennt, <strong>de</strong>r weiß, daß <strong>de</strong>r Verkehr in <strong>de</strong>r Familie, <strong>und</strong> um <strong>de</strong>n geht<br />

es hier zuallererst, mir seit jeher ein beson<strong>de</strong>res Anliegen ist. Ich möchte freilich aus <strong>de</strong>m zweiten<br />

Teil meines im Entstehen begriffenen Werkes lesen, <strong>de</strong>n ich « Unserer Frauen Leben » zu betiteln<br />

ge<strong>de</strong>nke. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Herrn Privatdozent Toni Korporis danken. Toni<br />

Korporis ist bekanntlich ein – <strong>und</strong> ich übertreibe keineswegs – großer Kulturanatom. Diesem<br />

anerkannten Wissenschaftler verdanke ich entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Hinweise, die insbeson<strong>de</strong>re das Kapitel in<br />

starkem Maße begeistert haben, aus <strong>de</strong>m ich Ihnen heute einige meiner Einsichten <strong>und</strong> Erkenntniss<br />

vortragen wer<strong>de</strong>. Bevor ich zum Eigentlichen komme, darf ich Ihnen noch zwei Gäste vorstellen,<br />

über <strong>de</strong>ren Anwesenheit ich mich sehr freue. Da wäre einmal Eva-Maria. Mit ihr verbrachte ich<br />

viele glückliche Jahre <strong>de</strong>r Ehe. Heute sind wir gute Fre<strong>und</strong>e, ja mehr als nur das. Da wäre zum<br />

an<strong>de</strong>ren Sehnaz El-Sahedi. Sie hat sich als Universalismustheoretikerin einen Namen gemacht. Daß<br />

sie heute hier unter uns weilt, ist nicht nur <strong>de</strong>m Umstand geschul<strong>de</strong>t, daß sie an <strong>de</strong>r Entstehung<br />

gera<strong>de</strong> <strong>de</strong>s zweiten Teils meines neuen Buches schon ausschlaggebend beteiligt ist, son<strong>de</strong>rn auch,<br />

<strong>und</strong> das erfüllt mich durchaus mit Stolz, mit jagen<strong>de</strong>n Pulsen, in gar atemloser Erregung <strong>de</strong>n Weg<br />

zu meinem Herzen gef<strong>und</strong>en hat. – Alsogleich beginne ich: « Die medizinische Wissenschaft ist<br />

längst auf <strong>de</strong>n Standpunkt gekommen, daß sie in <strong>de</strong>r <strong>Praxis</strong> die Arbeitsteilung bevorzugt. Fast für<br />

je<strong>de</strong>s erkrankte Organ <strong>de</strong>s menschlichen Körpers gibt es einen Spezialarzt, <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Fortschritt, <strong>de</strong>n<br />

dies für die lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Menschheit be<strong>de</strong>utet, ist unschätzbar. Der Spezialist erlangt durch die<br />

tausendfältige Übung eine solch vertrauenserwecken<strong>de</strong> Sicherheit <strong>de</strong>r Diagnose, eine über je<strong>de</strong>n<br />

Ta<strong>de</strong>l erhabene Geschicklichkeit in <strong>de</strong>r Anwendung <strong>de</strong>r vorhan<strong>de</strong>nen Heilmittel <strong>und</strong> für sich selber<br />

ein so ausgeprägtes Selbstvertrauen, daß die Krankheit in <strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>s Patienten die Hälfte ihrer<br />

Schrecken verliert. Gelingt es <strong>de</strong>m Arzt auch nicht, <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> die Macht zu entreissen, so versteht<br />

er es doch, vielen Übeln <strong>de</strong>n Charakter <strong>de</strong>r Unheilbarkeit zu nehmen, <strong>de</strong>n sie in früheren Zeiten<br />

gehabt haben, <strong>und</strong> man dürfte hiernach eigentlich zu <strong>de</strong>r Annahme berechtigt sein, daß <strong>de</strong>r<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustand <strong>de</strong>r Menschheit in unseren Tagen ein sehr blühen<strong>de</strong>r sein müßte. Wir wissen


lei<strong>de</strong>r, daß dies nicht <strong>de</strong>r Fall ist, trotz aller sanitären Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung von<br />

Krankheiten <strong>und</strong> trotz <strong>de</strong>r ärztlichen Weisheit in Behandlung <strong>de</strong>rselben. Die Ursache dieser<br />

traurigen Tatsache liegt tiefer, als es auf <strong>de</strong>n ersten Blick erscheint. Die Lei<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen so viele<br />

unterliegen, sind nicht immer nur körperlicher Natur, <strong>und</strong> es gilt dies ganz beson<strong>de</strong>rs von <strong>de</strong>m<br />

weiblichen Geschlecht. »<br />

Eva-Maria: Das muß er eben erst geschrieben haben. Ich kenne das nicht. Sie?<br />

El-Sahedi: Nein. Er hat dieses Kapitel offensichtlich vor uns verheimlicht. Das kann nur<br />

schiefgehen. Er wird sich um Kopf <strong>und</strong> Kragen re<strong>de</strong>n.<br />

Eva-Maria: Eher weniger. Hier sind fast auschließlich Männer anwesend.<br />

El-Sahedi: Hören wir ihm weiter zu. Vielleicht wird's doch nur halb so schlimm.<br />

Jean-François: « Wo ist die Grenze zwischen physischen <strong>und</strong> psychischen Schmerzen, wie sich<br />

dieselben beispielsweise bei hysterischen Personen äußern? Was lei<strong>de</strong>t bei <strong>de</strong>nselben mehr, <strong>de</strong>r<br />

Körper o<strong>de</strong>r die Seele? Sind diese Aufregungen, diese Wahnvorstellungen, diese tiefe Melancholie<br />

im grellen Wechsel mit momentaner hochgradiger Heftigkeit, eine Folge <strong>de</strong>r körperlichen<br />

Zerrüttung o<strong>de</strong>r ist diese durch die Erkrankung <strong>de</strong>s Gemüts o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Geistes bedingt? Gehören<br />

solche Kranke in die Kategorie <strong>de</strong>rjenigen, welche <strong>de</strong>m Psychiater anvertraut wer<strong>de</strong>n müssen, o<strong>de</strong>r<br />

bedarf es nur einer rationellen Hebung <strong>de</strong>r gesunkenen Körperkräfte, um das Übel zu beseitigen?<br />

Der Laie darf sich nicht vermessen, die Entscheidung in solchen Fällen zu treffen, in welchen selbst<br />

die erfahrensten Ärzte zweifelhaft sein dürften, dagegen gelingt es seinem aufmerksam<br />

beobachten<strong>de</strong>n Auge leichter als <strong>de</strong>m nur in kritischen Fällen herbeigerufenen Arzte, <strong>de</strong>m Ursprung<br />

dieser Frauenkrankheiten im intimen Verkehr <strong>de</strong>r Familie <strong>und</strong> <strong>de</strong>s engeren Umgangskreises<br />

nachzugehen <strong>und</strong> Mittel zur Beseitigung ihrer Entstehungsursachen aufzufin<strong>de</strong>n. »<br />

El-Sahedi: Wo Jean-François die Ursachen wohl fin<strong>de</strong>n wird?<br />

Eva-Maria: Er wird es uns bestimmt gleich sagen.<br />

Jean-François: « Die Ursachen <strong>de</strong>r Nervenlei<strong>de</strong>n, die sich bei <strong>de</strong>m weiblichen Geschlecht in so<br />

mannigfaltigen Formen zeigen, liegt ... »<br />

Eva-Maria: Jetzt kommt's!<br />

Jean-François: « ...hauptsächlich in <strong>de</strong>r Überschwenglichkeit <strong>de</strong>s Gefühlslebens, in <strong>de</strong>m sich die<br />

meisten mo<strong>de</strong>rnen Frauen, auch die tüchtigsten, unbewußt gefallen. »<br />

El-Sahedi: Tsss...<br />

Eva-Maria: So ist er eben. Nicht ganz gegenwärtig.<br />

Jean-François: « Wenn, liebe Fre<strong>und</strong>e, liebe Insassen <strong>und</strong> liebe Gäste, wenn das lautere Gold <strong>de</strong>s<br />

Gemütes täglich <strong>und</strong> stündlich in kleine Schei<strong>de</strong>münze umgesetzt wird, dann ist es nicht zu<br />

verw<strong>und</strong>ern, wenn zuletzt <strong>de</strong>r größte Schatz sich verausgabt <strong>und</strong> eine Krisis eintritt, welche Seele<br />

<strong>und</strong> Körper aus <strong>de</strong>n gewohnten Fugen treibt. Wer nicht hauszuhalten versteht, wird immer <strong>de</strong>m<br />

Bankrott verfallen, <strong>und</strong> wer bei je<strong>de</strong>m kleinen Anlaß sich in Worten <strong>und</strong> Taten, in <strong>de</strong>n größten<br />

Übertreibungen <strong>und</strong> Aufgeregtheiten gefällt, <strong>de</strong>r mutet seinen Nerven eine Anstrengung zu, welche<br />

dieselben auf die Dauer nicht ertragen können. »


El-Sahedi: Der ist doch nicht von dieser Welt. Was ist nur in ihn gefahren?<br />

Eva-Maria: Jean-François ist, wie er ist. Kann man's ihm ver<strong>de</strong>nken?<br />

El-Sahedi: Ich muß mir das wirklich überlegen, ob ich auch in Zukunft an seiner Seite sein möchte<br />

o<strong>de</strong>r ob ich ihn ziehen lassen soll.<br />

Eva-Maria: Wohin?<br />

El-Sahedi: Es gibt da eine Frau im Hintergr<strong>und</strong>, ich weiß es. Aber er re<strong>de</strong>t nicht.<br />

Eva-Maria: Lauschen wir doch <strong>de</strong>m, was er noch zu bieten hat.<br />

Jean-François: « Der Keim zu <strong>de</strong>m Übel, von <strong>de</strong>m hier die Re<strong>de</strong> ist, wird, <strong>und</strong> darauf muß<br />

heutzutage nicht mehr in aller Ausführlichkeit hingewiesen wer<strong>de</strong>n, wird also in aller Regel bei<br />

<strong>de</strong>m kleinen Kin<strong>de</strong> schon gelegt. Die Eltern selber, von blin<strong>de</strong>r Zärtlichkeit beseelt, sind die ersten<br />

Urheber <strong>de</strong>r Nervosität bei <strong>de</strong>m Säugling. Für das Kind kann man alles opfern. Schreien soll es<br />

nicht, es ist eine Grausamkeit, solch süßes Ding weinen zu lassen. So geht es durch die ersten<br />

bei<strong>de</strong>n Lebensjahre <strong>de</strong>r Kleinen – alles eitel Wonne <strong>und</strong> Zärtlichkeit. Das Kind fängt trotz alle<strong>de</strong>m<br />

an zu kränkeln, bleibt mager <strong>und</strong> blass, <strong>und</strong> lächelt jetzt seltener als früher. Manches Kind ist auch<br />

wohl stark genug, das Übermaß <strong>de</strong>r elterlichen Gefühle ohne sofort sichtbaren Scha<strong>de</strong>n zu ertragen,<br />

aber es trägt schon schwer an <strong>de</strong>n Sün<strong>de</strong>n seiner Eltern; Sün<strong>de</strong>n, die aus <strong>de</strong>r übermäßigen,<br />

verkehrten Zärtlichkeit <strong>de</strong>rselben entspringen, aus diesem Luxus <strong>de</strong>r Gefühle, <strong>de</strong>r ins Ver<strong>de</strong>rben<br />

führt. Die mo<strong>de</strong>rne Frauenkrankheit hält bereits bei <strong>de</strong>m Schulmädchen seinen Einzug, das Kind ist<br />

nervös. Es ist mit Bestimmtheit anzunehmen, daß es bei <strong>de</strong>m Anblick einer Spinne einen Schrei<br />

ausstößt <strong>und</strong> beim Gewitter die Augen zuhält. Mit <strong>de</strong>r Entwicklung schreitet die Krankheit fort. Die<br />

heutigen sozialen Zustän<strong>de</strong> beför<strong>de</strong>rn das Übel mit Dampf. »<br />

Eva-Maria: Wo er recht hat, hat er recht.<br />

El-Sahedi: Reaktionäre Scheiße ist das. Sonst nichts.<br />

Eva-Maria: Gehen Sie doch nicht so hart mit ihm ins Gericht. Jean-François ist ein Filou, das<br />

sollten Sie nun wirklich wissen.<br />

El-Sahedi: Ich versuch's.<br />

Eva-Maria: Gut so! Warten wir doch mal ab, wie die ganze Sache en<strong>de</strong>n wird.<br />

Jean-François: « Das junge Mädchen überarbeitet sich, wenn es einen Beruf ergreifen will; es<br />

überwacht <strong>und</strong> strapaziert sich vielleicht noch mehr, wenn es einige Winter unserer Geselligkeit<br />

mitmacht. Tritt es in die Ehe, dann fehlt die Kraft zum Ertragen <strong>de</strong>r unausbleiblichen körperlichen<br />

Anstrengungen. Aus <strong>de</strong>r Zahl dieser körperlich erschöpften verheirateten Frauen rekrutiert sich das<br />

Heer <strong>de</strong>r Unverstan<strong>de</strong>nen <strong>und</strong> Hoffnungslosen. Das junge Mädchen, das unverheiratet bleibt,<br />

ergreift vielleicht einen Beruf, <strong>de</strong>r ihr anfangs Vergnügen macht, bis Gewohnheit <strong>und</strong><br />

Enttäuschungen ihre künstliche Erregung herunterstimmen <strong>und</strong> die Unbefriedigte mit freudlosen<br />

Blick in die lange Zukunft schaut, in welcher ein Tag genau so aussieht wie <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re, eine lange<br />

schleppen<strong>de</strong> Kette, die ihre Kraft <strong>und</strong> Lebensfreudigkeit lähmt, in<strong>de</strong>m sie ihre Freiheit<br />

beeinträchtigt. Auch sie fängt an, hier <strong>und</strong> da ein körperliches Lei<strong>de</strong>n zu fühlen, ein Körnchen<br />

Wahrheit, um das ihre geschäftige Phantasie eine ganz unendliche Zahl von Schmerzen schafft, bis<br />

sie wirklich krank <strong>und</strong> arbeitsunfähig gewor<strong>de</strong>n ist. Die unseligen schwachen Nerven sind es, die all<br />

dies Elend heraufbeschwören. »


El-Sahedi: Ob Jean-François glaubt, was er da re<strong>de</strong>t?<br />

Eva-Maria: Sie kennen ihn wirklich schlecht.<br />

Jean-François: « Und die Zahl <strong>de</strong>r körperlichen Übel <strong>de</strong>s Frauengeschlechts infolge <strong>de</strong>r Nervosität<br />

ist erschreckend <strong>und</strong> wächst von Jahr zu Jahr. Migräne, Neuralgie, Hysterie – unsere Urgroßmütter<br />

<strong>und</strong> Ururgroßmütter wußten nichts davon. Sie kämpften mit Blattern, Typhus <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren<br />

grauenerregen<strong>de</strong>n Krankheiten, welche uns die ärztliche Wissenschaft zum Teil erleichtert, zum<br />

Teil ganz aus <strong>de</strong>m Weg geräumt hat – Nerven kannten sie nicht. Sie ließen sich anschwärmen,<br />

ansingen, andichten, ließen ihre Verehrer in unerquicklicher Sentimentalität untergehen, sie selbst<br />

blieben ges<strong>und</strong> <strong>und</strong> behielten <strong>de</strong>n Kopf oben. Das sollte <strong>de</strong>r Frau, die es ernst nimmt mit <strong>de</strong>m Wohl<br />

ihrer Familie, zu <strong>de</strong>nken geben. » Damit, liebe Fre<strong>und</strong>e <strong>de</strong>s Hauses, liebe Gäste <strong>und</strong> Insassen, soll<br />

es für heute genug sein. Ich habe aus einem unveröffentlichten Manuskript gelesen. Dieses<br />

Manuskript wird Bestandteil eines Buches sein, an <strong>de</strong>m ich momentan arbeite. Erscheinen wird<br />

« Der gute Ton in allen Lebenslagen » einschließlich <strong>de</strong>s zweiten Teils mit <strong>de</strong>m Titel « Unserer<br />

Frauen Leben » aller Voraussicht nach Mitte <strong>de</strong>s nächsten Jahres. Das ist Zukunftsmusik. Heute<br />

diskutieren wir das, was ich zu sagen die Ehre hatte. Bitte!<br />

Andrzej (Gast): Es ist außer Frage, daß je<strong>de</strong>s Zeitalter seine bestimmten Krankheitsformen hat, die<br />

es charakterisieren <strong>und</strong> tyrannisieren, <strong>und</strong> so hoch wir uns gegenwärtig dünken, so viel wir gelernt<br />

<strong>und</strong> erf<strong>und</strong>en haben, so sehr uns die Naturwissenschaften in ihrem riesenhaften Fortschreiten mit<br />

Erfindungen an die Hand gehen – geknechtet wer<strong>de</strong>n wir <strong>de</strong>nnoch von <strong>de</strong>n Lei<strong>de</strong>n unserer Zeit, aus<br />

<strong>de</strong>m Ring können wir nicht heraus, <strong>de</strong>n Torheit, Eitelkeit, Genußsucht <strong>und</strong> vor allem Unverstand<br />

wie ein ehernes Band um uns herum gezogen haben.<br />

Jean-François: Ach, lieber Andrzej, wie soll ich Ihnen antworten!? Sie haben ja so recht. Lassen Sie<br />

mich folgen<strong>de</strong>rmaßen unsere anregen<strong>de</strong> Diskussion für heute been<strong>de</strong>n: « Die schönsten Rosen,<br />

welche die Mutter in das häusliche Leben einzuflechten vermag, die Rosen <strong>de</strong>r Ges<strong>und</strong>heit auf <strong>de</strong>n<br />

Wangen ihrer Kin<strong>de</strong>r, sie wer<strong>de</strong>n da nicht erblühen, wo die Harmonie <strong>de</strong>s Leibes <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Seele<br />

durch Nervosität gestört ist. »<br />

Eva-Maria: Ich wußte doch, daß Jean-François noch die Kurve kriegt.<br />

El-Sahedi: Ach, ich liebe ihn.<br />

82<br />

Rambo: Es ist unbegreiflich, mit welcher Naivität die meisten Frauen eingestehen: « Ich bin<br />

entsetzlich neugierig! »<br />

Eva-Maria: Was willst Du mir damit sagen? Ich war bei einem von seinen Kamingesprächen dabei.<br />

Na <strong>und</strong>?!<br />

Rambo: Du wolltest doch nur die neue Fre<strong>und</strong>in sozusagen begutachten. Jean-François wird's<br />

genossen haben.<br />

Eva-Maria: Ach, ich bin nun mal sehr neugierig. Ganz allgemein.<br />

Rambo: Als ob darin nicht das Bekenntnis größter Kleinlichkeit läge. Du offenbarst einen völligen<br />

Mangel an Selbstbeherrschung <strong>und</strong> Wür<strong>de</strong>, mit einem Worte: die Abwesenheit <strong>de</strong>s Edlen,


Vornehmen, Stolzen.<br />

Eva-Maria: Ist das nicht ein bißchen dick aufgetragen? Wie sprichts Du mit mir? Deine<br />

Frankreichreise scheint Dir nicht gut bekommen zu sein. Was weißt Du <strong>de</strong>nn schon?<br />

Rambo: Gute Frage.<br />

83<br />

Jean-François: An Briefen fesselt uns vielfach nicht allein ihr objektiver Inhalt, son<strong>de</strong>rn auch das<br />

Interesse für die Person ihres Schreibers, <strong>de</strong>ssen Wesen sich in ihnen ausdrückt, <strong>und</strong> für die ihres<br />

Empfängers, auf <strong>de</strong>n sie häufig mehr o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>r heftige Streiflichter werfen. Alle diese<br />

Standpunkte gelangen zur Geltung in einem Buch, welches ich für die Veröffentlichung<br />

vorbereite...<br />

Willi: Noch ein Buch? Wo nimmt <strong>de</strong>r bloß die Zeit her?<br />

Andrzej: Vielleicht arbeitet er schon seit langem dran.<br />

Jean-François: ...Liebe Fre<strong>und</strong>e <strong>de</strong>r Kamingespräche, ich lese heute aus « Das Leben Eva-Marias in<br />

ihren Briefen »...<br />

Willi: Hemmungslos, <strong>de</strong>r Mann. Ob seine Frau...<br />

Andrzej: Ehemalige Frau!<br />

Willi: Ob seine ehemalige Frau davon weiß?<br />

Jean-François: ...In <strong>de</strong>r Tochter <strong>de</strong>s großen Zirkusartisten Hans Emil hat sich, wie ich in meiner<br />

Eigenschaft als Herausgeber im Vorwort treffend darstelle, « das Überspru<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Vaters in die<br />

Einfachheit <strong>und</strong> Anmut <strong>de</strong>s weiblichen Wesens umgesetzt. Sinnig, liebenswürdig, von offenem<br />

Verständnis <strong>und</strong> warmen Mitgefühl für das Wohl <strong>und</strong> Wehe an<strong>de</strong>rer beseelt, immer mehr um die ihr<br />

Nahetreten<strong>de</strong>n als um sich selbst besorgt, so blickt sie uns als eine überaus sympathische, fesseln<strong>de</strong><br />

Erscheinung aus ihren Briefen entgegen. »<br />

Andrzej: Ob das so weitergeht?<br />

Jean-François: Tja, liebe Fre<strong>und</strong>e, ich übertreibe keineswegs. Lassen Sie mich fortfahren: « Sind<br />

wir anfänglich versucht, ihre Mitteilungen mehr aus Interesse für so manche bekannte <strong>und</strong><br />

be<strong>de</strong>utsame Persönlichkeit, die als angere<strong>de</strong>te o<strong>de</strong>r besprochene darin auftritt, zu lesen, so<br />

versenken wir uns mit mehr <strong>und</strong> mehr unmittelbarem Anteil in das Wesen <strong>de</strong>r Briefschreiberin<br />

selbst <strong>und</strong> gewinnen allmählich Interesse für die uns ursprünglich gleichgültigsten Menschen nur,<br />

weil sie zu ihr in nähere Beziehung getreten. »<br />

Andrzej: Ob er heute wohl noch einen Brief, wenigstens auszugsweise, vorliest?<br />

Carlo: So ist es, so war es, <strong>und</strong> so wird es allezeit bleiben.<br />

84


Sonja: Was <strong>de</strong>nn?<br />

Carlo: Für junge Seelen gibt es an jener Schwelle, die aus <strong>de</strong>n lachen<strong>de</strong>n Tagen harmloser<br />

Kin<strong>de</strong>rspiele in <strong>de</strong>n Ernst tatkräftigen Lebens hinüberführt...<br />

Sonja: Was ist <strong>de</strong>nn mit dir los?<br />

Carlo: ...hinüberführt, nicht Interessanteres als Herzensgeschichten. « Liebt er sie? Liebt sie ihn<br />

wie<strong>de</strong>r? Wird er sie heiraten? Wer<strong>de</strong>n sie glücklich sein? »<br />

Sonja: Carlo, Carlo, ich muß schon sagen... O<strong>de</strong>r studierst Du eine neue Rolle ein?<br />

Carlo: Wer, sag' mir wer zählt sie alle auf, die Fragen dieser Art, die sich über rosige<br />

Mädchenlippen drängen, wo man einen jungen Mann <strong>und</strong> eine blühen<strong>de</strong> Schöne sich für einan<strong>de</strong>r<br />

interessieren sieht! « Die Glückliche! » flüstert wohl die eine <strong>de</strong>r lieben Fre<strong>und</strong>innen leicht errötet<br />

vor sich hin. « Aber ich bitte dich, die bei<strong>de</strong>n passen doch gar nicht zusammen! » zischt eine an<strong>de</strong>re<br />

<strong>de</strong>r dritten ins Ohr. « Er tut mir leid, er hält viel zu große Stücke auf sie, <strong>de</strong>r Arme. Was wird er für<br />

Augen machen, wenn er aus seinem Liebesrausch erwacht <strong>und</strong> sich überzeugt, wie wenig das<br />

oberflächliche, flatterhafte Ding seinen hochfliegen<strong>de</strong>n I<strong>de</strong>alen gleicht. »<br />

Sonja: Carlo, Carlo, was du dir nur für Gedanken machst. Was sagt Manfred dazu?<br />

Carlo: Manfred kommentiert sich nicht selbst!<br />

Sonja: Aber Du <strong>und</strong> Manfred – ihr seid doch keine Romantiker.<br />

Carlo: Natürlich bin ich das. In<strong>de</strong>m ich romantisiere, schaffe ich die Voraussetzungen für eine<br />

optimale Entfaltung meiner vielfältigen terroristischen Aktivitäten.<br />

Sonja: Das kann man wohl sagen. Das, was Du Romantisieren nennst, ist bereits <strong>de</strong>r reinste Terror.<br />

Im übrigen: Glaube nur nicht, ich wüßte nicht, auf wen <strong>und</strong> was Du anspielst.<br />

Carlo: Glaube, das war ein Stichwort! Laß mich anknüpfen: « Ich glaube, du beurteilst sie doch zu<br />

hart, » wen<strong>de</strong>t die Angere<strong>de</strong>te schüchtern ein. « Sie hat sich gern von <strong>de</strong>m <strong>und</strong> jenem <strong>de</strong>n Hof<br />

machen lassen, – nun ja, sie hätte wohl mitunter etwas zurückhalten<strong>de</strong>r sein können, aber, du lieber<br />

Himmel, sie ist jung <strong>und</strong> hübsch. »<br />

Sonja: Bist Du etwa eifersüchtig?<br />

Carlo: Quatsch! « Na, » sagt die eine zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n, « mit ihrer Schönheit können es aber<br />

an<strong>de</strong>re wohl aufnehmen, <strong>und</strong> eben weil sie noch gar so jung <strong>und</strong> unreif ist, ist es noch viel zu früh,<br />

um sich sterblich in sie zu verlieben. »<br />

Sonja: Du re<strong>de</strong>st wirr. Sehnaz ist nicht zu jung. Na ja, für Jean-François vielleicht schon...<br />

Carlo: Wenn hier jemand eifersuechtig ist, dann Du! Bist Du es, die da leise fragt: « Glaubst du<br />

wirklich, daß er so sehr Feuer <strong>und</strong> Flamme ist? » Und ich sage Dir mit <strong>de</strong>n Worten eines <strong>de</strong>r<br />

Mädchen: « Ob ich es glaube! Er hat ja gar keine Augen mehr für irgendwen o<strong>de</strong>r irgend etwas<br />

außer seiner Angebeteten! Na, wollen wir sehen, wie lange das dauert! » Du siehts, liebe Sonja,<br />

während so die Meinungen herüber <strong>und</strong> hinüber getauscht wer<strong>de</strong>n, wan<strong>de</strong>rn die bei<strong>de</strong>n, die Dein<br />

Interesse, die das Interesse <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren so lebhaft erregen, glückselig dahin, ganz versunken in die<br />

Wonne, die je<strong>de</strong>s von ihnen aus <strong>de</strong>m leisen, zärtlichen Flüstern <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren schöpft. Was kümmert


sie das Gere<strong>de</strong> <strong>de</strong>r mißgünstigen Welt?<br />

Sonja: Wie sagtest Du eben: Wollen wir sehen, wie lange das dauert!<br />

Rambo: Ich weiß, wem seine Liebe eigentlich gilt.<br />

Eva-Maria: Meinst Du diese dubiose Französin mit <strong>de</strong>m aufregen<strong>de</strong>n Dekolleté?<br />

85<br />

Rambo: Genau die. Aber, erstens, ist sie keine Französin. Zweitens mag es durchaus ein Vergnügen<br />

sein, in ihren Ausschnitt zu schauen, das sprichwörtliche Dekolleté jedoch hat – ich sag's zum<br />

letzten Mal – nicht sie, son<strong>de</strong>rn ein an<strong>de</strong>rer.<br />

Eva-Maria: Wohl nicht Jean-François? Das wüßte ich!<br />

Rambo: Du weißt gar nichts.<br />

Eva-Maria: Weißt Du <strong>de</strong>nn, wie sie heißt?<br />

Rambo: Ja. Ich habe sie im Café <strong>de</strong> Flore kennengelernt. Sie saß an seinem Tisch im ersten Stock,<br />

aber Bernard-Henri hatte sie versetzt. Das war meine Chance. Wir sind dann 'rüber in die Pianobar<br />

<strong>de</strong>r Closerie. Sie wollte mir unbedingt etwas über ihre Großmutter erzählen, aber Carla quasselte<br />

dauernd dazwischen. Daraufhin habe ich sie dann eingela<strong>de</strong>n, mich nach La Rochelle zu begleiten.<br />

Wir sind mit <strong>de</strong>m Zug gefahren <strong>und</strong> hatten viel Zeit füreinan<strong>de</strong>r.<br />

Eva-Maria: Sie ist also mitgefahren. Das dürfte Jean-François nicht gefallen.<br />

Rambo: Ihm dürfte noch weniger gefallen, was ich in La Rochelle herausgef<strong>und</strong>en habe...<br />

Rambo: Kommst Du voran?<br />

86<br />

Jean-François: Mehr schlecht als recht. Mit « Unserer Frauen Leben » habe ich mir sehr wohl<br />

einiges vorgenommen. Hätte ich vorher gewußt, was da auf mich zukommt... Ich habe mir das,<br />

ehrlich gesagt, ein bißchen einfacher vorgestellt. Frauen sind halt kompliziert, auch als Sujet.<br />

Rambo: Hättest Du es besser wissen können?<br />

Jean-François: Ich stelle gera<strong>de</strong> fest, wie wenig ich doch weiß – insbeson<strong>de</strong>re von Frauen, über<br />

Frauen.<br />

Rambo: Mit <strong>de</strong>m Wenigen, was Du weißt, füllst Du schon seit Jahrzehnten Zeile um Zeile<br />

irgendwelcher Gazetten. Zu unserer aller Leidwesen.<br />

Jean-François: So schlimm ist das, was ich mache, doch nun wirklich nicht.<br />

Rambo: Doch, das ist es – solange Du selbst schreibst.


Jean-François: Ich habe Visionen, darauf kommt es an! So einer wie Du kommt doch gar nicht erst<br />

auf die I<strong>de</strong>e, etwa jene Kapitel, die <strong>de</strong>n Haushalt betreffen, zu seinem beson<strong>de</strong>ren Anliegen zu<br />

machen. Mehr o<strong>de</strong>r weniger ist noch für je<strong>de</strong> Frau, berufstätig o<strong>de</strong>r nicht, <strong>de</strong>r Haushalt ein<br />

Arbeitsplatz, an <strong>de</strong>m sie, zumeist auf sich allein gestellt, mit <strong>de</strong>r anfallen<strong>de</strong>n Arbeit fertig zu wer<strong>de</strong>n<br />

hat, solange nicht die Gesellschaft ihr weitestgehend die Hauptlast <strong>de</strong>r häuslichen Tätigkeiten<br />

abzunehmen vermag. Es kommt also darauf an, die Frau für diese Arbeit gewissermaßen zu<br />

qualifizieren.<br />

Rambo: Ans Werk, Jean-François, ans Werk!<br />

Sonja: Rambo hat in Paris Spuren hinterlassen.<br />

Eva-Maria: Das w<strong>und</strong>ert mich nicht. Kleine Männer machen das.<br />

Sonja: Du hast keine Vorurteile, nicht wahr?!<br />

Eva-Maria: Schau' sie Dir doch an, die Knirpse!<br />

87<br />

Sonja: Schon gut. Ich wollt' nur sagen, daß auf <strong>de</strong>r Homepage <strong>de</strong>s Closerie sie alle genannt wer<strong>de</strong>n,<br />

sozusagen wie am Fließband. Hemingway <strong>und</strong> Proust sind dabei, Sartre selbstverständlich <strong>und</strong><br />

Gainsbourg, Lénine, Breton, Aragon natürlich auch, die Sagan <strong>und</strong> die Gréco <strong>und</strong> sogar Johnny<br />

Depp. Rambo befin<strong>de</strong>t sich dort in illustrer Gesellschaft.<br />

Eva-Maria: Das freut mich für ihn. Aus Jean-François' Dunstkreis ist er wohl raus. Endlich kann er<br />

frei atmen.<br />

88<br />

Jean-François: Liebe Fre<strong>und</strong>e unserer Kamingespraeche , liebe Gäste <strong>de</strong>s Hauses, liebe Insassen<br />

daselbst! Oft, wenn ein großes national-literarisches Gut gefähr<strong>de</strong>t ist, steht, gera<strong>de</strong> im<br />

entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Augenblick, im Volke ein Genius auf, <strong>de</strong>r, von zwingen<strong>de</strong>m Drange getrieben <strong>und</strong><br />

mitunter sich seiner Sendung kaum bewußt, für dieses große Gut eintritt <strong>und</strong> allen, die da hören<br />

wollen, sagt, was auf <strong>de</strong>m Spiele steht: die altehrwürdige Muttersprache. Da, als hätte ein Gott ihn<br />

geweckt, rüstete sich gera<strong>de</strong> in einer jener windigen Provinzen <strong>de</strong>s ehemaligen Erbfeinds, in<br />

Aquitanien, ein kleiner Mann aus <strong>de</strong>m fahren<strong>de</strong>n Volke zu einer nationalen Tat auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r<br />

Sprache: Uns wur<strong>de</strong> ein Dichter einer noch nicht erschienenen Kultur geschenkt. Dieser Mann ist<br />

heute bei uns! Begrüßen Sie mit mir – Rambo! Der Dichter von « Wechselseitigkeit <strong>und</strong><br />

Kausalitaet » ist ein Selfma<strong>de</strong>mann im vollsten Sinne <strong>de</strong>s Wortes. Am 6. Mai 1968 im<br />

franzoesischen La Rochelle <strong>und</strong> dort in unmittelbarer Nähe <strong>de</strong>r Rue Napoléon unter dubiosen<br />

Umstän<strong>de</strong>n auf die Welt gefallen, verlebte er seine Jugend in zumeist engen <strong>und</strong> sehr beschränkten<br />

Verhältnissen. Er wußte sich zu befreien. « La vie est la farce à mener par tous », schrieb er in unser<br />

aller Stammbuch. Rambo, bitte!<br />

Rambo: Bi <strong>de</strong> Dichterie kuemmt doch nix herut, un dor kann ik mi gor nix bi <strong>de</strong>nken.<br />

89


Rambo: Du kannst mi bannig leed don, Jean-François. Holl di doch an din Geschäft!<br />

Jean-François: Was <strong>de</strong>nn für ein Geschäft, um Himmels willen?<br />

Rambo: Ik will di mal wat seggen. Du möst di <strong>de</strong>nken, du steist vör enen bree<strong>de</strong>n Graben. Up disse<br />

Sit is drögen Sand un gor nix los; up <strong>de</strong> anner Sit äwer is dat ganz wunnerschön; <strong>de</strong>nn möst du doch<br />

heräwer.<br />

Jean-François: Ich versteh' kein Wort!<br />

Rambo: Drum.<br />

Sonja: Scheint so, daß Rambo jetzt völlig durchgeknallt ist.<br />

90<br />

Eva-Maria: Ja, scheint so. Obwohl – probiert habe ich's bereits. Nur: Ik kann dat nu man noch nich.<br />

Sonja: Und das ist gut so.<br />

Eva-Maria: Ach, Kleine, was weißt du <strong>de</strong>nn schon. Daß seine Umgebung ihn nicht versteht, mag<br />

sein Schicksal sein. Aber liegt's an Rambo?<br />

Carlo: Na, Jean-François, wie steht's um Dein neues Werk?<br />

Jean-François: Ach, Manfred, Du bist's. Was <strong>de</strong>nn für ein Werk?<br />

91<br />

Carlo: Zier' Dich nicht so. Rambo hat mir davon erzählt. Es soll um Frauen gehen. Da hast Du ja<br />

hinreichend Stoff gesammelt...<br />

Jean-François: « Unserer Frauen Leben » wird das Buch heißen. Es wird ein ernsthaftes Buch sein.<br />

Carlo: Klar!<br />

Jean-François: Im Moment arbeite ich an einem äußerst spannen<strong>de</strong>n Thema.<br />

Carlo: Laß hören!<br />

Jean-François: So langsam aber sicher komme ich hinter das Geheimnis <strong>de</strong>r Liebenswürdigkeit<br />

unserer Frauen. Und ich wer<strong>de</strong> das Geheimnis lüften.<br />

Carlo: Kann ein Geheimnis nicht ein Geheimnis bleiben? Wäre das nicht besser, zumal im Falle<br />

unserer Frauen?<br />

Jean-François: Weißt Du, Manfred, die Eigenart <strong>de</strong>s weiblichen Charakters macht sich im Umgang<br />

in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nsten Formen geltend. Die gebil<strong>de</strong>te Frau, <strong>und</strong> um die, nur um die geht es mir ...<br />

Carlo: Sowieso!


Jean-François: Die gebil<strong>de</strong>te Frau kann sowohl durch geistvolles Wesen wie durch beschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Zurückhaltung glänzen. Die eine besitzt eine blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Unterhaltungsgabe, die an<strong>de</strong>re imponiert<br />

durch festes <strong>und</strong> ruhiges Auftreten. Auch die Gemütliche, die Naive, alle haben ihre Berechtigung<br />

in <strong>de</strong>r Gesellschaft ...<br />

Carlo: Bist Du dir da sicher?<br />

Jean-François: ... <strong>und</strong> sie wissen sich durch ihre Son<strong>de</strong>rart einen Kreis zu schaffen, <strong>de</strong>r sie<br />

anerkennt.<br />

Carlo: Aber ...<br />

Jean-François: Genau, Manfred, eine einzige Eigenschaft gibt es in<strong>de</strong>s, die <strong>de</strong>r Frau we<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft noch in <strong>de</strong>r Familie fehlen darf.<br />

Carlo: Und die wäre?<br />

Jean-François: Der Mangel dieser Eigenschaft wür<strong>de</strong> sie zu einer Verfehmten stempeln!<br />

Carlo: Nun mach' es nicht so spannend!<br />

Jean-François: Ich benenne diese unumgängliche Ingredienz <strong>de</strong>r weiblichen Bildung Takt, das ist<br />

das Feingefühl im Verkehr mit Menschen.<br />

Carlo: Nicht gera<strong>de</strong> Dein Spezialgebiet, o<strong>de</strong>r?<br />

92<br />

Carlo hat Jean-François überrre<strong>de</strong>n können, ohne viel Mühe freilich, ein weiteres Mal aus<br />

« Unserer Frauen leben » zu lesen, <strong>und</strong> zwar im Rahmen <strong>de</strong>r Bielefel<strong>de</strong>r Kamingespräche. Auf<br />

Bitten von Jean-François spricht <strong>de</strong>r Schauspieler Carlo, gegenwärtig eher bekannt unter <strong>de</strong>m<br />

Namen Manfred – unter diesem Namen wird auch eine Akte beim Verfassungsschutz geführt – die<br />

einleiten<strong>de</strong>n <strong>und</strong> zum Thema hinführen<strong>de</strong>n Worte. Carlo läßt nicht unerwähnt, daß Jean-François<br />

ihm ein Geheimnis anvertraut hat. Die Lesung zeugt von <strong>de</strong>r ausgezeichneten Beobachtungsgabe<br />

<strong>de</strong>s großen Kulturkritikers, von seinen Formulierungskünsten, sie zeugt aber auch von seiner<br />

Fähigkeit, künftige Entwicklungen, hier in erster Linie die sich anbahnen<strong>de</strong>n sozialen Folgen <strong>de</strong>r<br />

wirtschaftlichen, in seine Reflexionen einfließen zu lassen. Nicht zuletzt gelangt, ironisch<br />

gebrochen, seine tiefe Resignation ob <strong>de</strong>s Scheiterns <strong>de</strong>r kommunistischen Gegenrevolution zum<br />

Ausdruck. Die Lesung in Ausschnitten:<br />

« Genau <strong>de</strong>finieren läßt sich <strong>de</strong>r Begriff Takt nicht. Es kann eine Dame <strong>de</strong>r feinsten<br />

Umgangsformen mächtig sein <strong>und</strong> wird folglich nie einen Verstoß begehen gegen Sitte <strong>und</strong><br />

Anstand, gegen das Herkommen, das fast einem Gesetze gleichwertig ist, <strong>und</strong> <strong>de</strong>nnoch kann es<br />

Fälle geben, in <strong>de</strong>nen wir ihr das Taktgefühl absprechen müssen. Wir lernen an diesem Beispiel,<br />

dass die Beobachtung aller Regeln <strong>de</strong>s guten Tons, welcher ja die äußere Form <strong>de</strong>r geselligen<br />

Bildung ist, noch nicht Takt genannt wer<strong>de</strong>n kann, daß dazu viel mehr nötig ist als eine gute<br />

Erziehung im gewöhnlichen Sinne, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Takt ist eine Gefühlssache. Ein guter Mensch,<br />

welchem das Gebot Liebe <strong>de</strong>inen nächsten wie dich selbst! in Fleisch <strong>und</strong> Blut übergegangen ist,<br />

wird niemals taktlos sein. »<br />

« Es ist eine auffallen<strong>de</strong> Erscheinung, daß unsere Zeit, die so rücksichtslos das eigene Ich in <strong>de</strong>n


Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> stellt, die <strong>de</strong>n einzelnen ganz <strong>und</strong> gar ohne Bedauern über das Glück <strong>de</strong>s Nächsten<br />

hinwegschreiten läßt, eine Zeit, die auch das weibliche Geschlecht genötigt hat, han<strong>de</strong>lnd, ja<br />

teilweise kämpfend aus <strong>de</strong>m Schutz <strong>de</strong>r Familie herauszutreten, daß eben diese Zeit doch<br />

hinwie<strong>de</strong>rum solch eine unendliche Liebesfülle <strong>und</strong> Opferfreudigkeit in <strong>de</strong>m Frauenherzen zu<br />

zeitigen verstan<strong>de</strong>n hat, daß es sich zu je<strong>de</strong>m Werke <strong>de</strong>r Barmherzigkeit bereit <strong>und</strong> geschickt fin<strong>de</strong>n<br />

läßt. Wo gäbe es einen Samariterdienst, bei <strong>de</strong>m edle Frauen sich nicht beteiligten, wo wür<strong>de</strong> wohl<br />

ein Tempel <strong>de</strong>r Barmherzigkeit gebaut ohne Frauenhän<strong>de</strong>? Und wo bedürfte es gera<strong>de</strong> größeren<br />

Zartsinns, größeren Feingefühls als in <strong>de</strong>r Behandlung <strong>de</strong>s Unglücks, <strong>de</strong>r Krankheit, <strong>de</strong>r verbitterten<br />

<strong>und</strong> entmutigten Armut? In <strong>de</strong>r Tat, so paradox die Behauptung auch klingen mag: Unser<br />

realistisches Zeitalter, unsere krisenhafte Lebenswelt hat die feine Blüte <strong>de</strong>s weiblichen Taktes erst<br />

zur rechten, vollen Entfaltung gebracht! Was wir hier unter weiblichem Takt verstehen, zwingt uns<br />

die höchste Bew<strong>und</strong>erung ab. Es ist ein allgewaltiger, lebensspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Strom <strong>de</strong>r reinen, warmen<br />

Menschenliebe, die unser Zeitalter a<strong>de</strong>lt wie keines zuvor. Die Frauen sind aus eigener Initiative im<br />

Laufe <strong>de</strong>r letzten Jahrzehnte in eine Bewegung eingetreten, welche von <strong>de</strong>r Herzensbildung <strong>de</strong>s<br />

schwachen Geschlechts ein glänzen<strong>de</strong>s Zeugnis ablegt: die freiwillige Kranken- <strong>und</strong> Armenpflege.<br />

Von <strong>de</strong>n Städten ist diese Bewegung ausgegangen, <strong>und</strong> überall regte es sich, diesem Beispiel zu<br />

folgen. Wer es nicht im großen konnte, <strong>de</strong>r tat es in <strong>de</strong>r Stille. Unberührt blieb keine, <strong>und</strong> die<br />

aufrichtige Nächstenliebe erzeugte <strong>de</strong>n Takt, <strong>de</strong>r die Frau ohne Unterschied <strong>de</strong>r Konfession o<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>s Stan<strong>de</strong>s zur Samariterin machte. Es wur<strong>de</strong> nicht mehr gegeben, nur um <strong>de</strong>r schreien<strong>de</strong>n Not<br />

abzuhelfen <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Unzufrie<strong>de</strong>nheit <strong>de</strong>r Nichtbesitzen<strong>de</strong>n entgegenzusteuern, es wur<strong>de</strong> gegeben mit<br />

<strong>de</strong>m vollen Bewußtsein <strong>de</strong>r Menschenpflicht, <strong>und</strong> das Zartgefühl, welches die Spen<strong>de</strong> begleitet,<br />

nahm <strong>de</strong>m Empfänger das Gefühl <strong>de</strong>r Beschämung. »<br />

« Offenheit <strong>und</strong> Geradheit sind schätzenswerte Eigenschaften, <strong>und</strong> nirgends sind dieselben höher zu<br />

achten als im Familienverkehr. Wie wenig Menschen können aber die ungeschminkte Wahrheit<br />

ertragen, wenn dieselbe nicht durch eine rücksichtsvolle Form gemil<strong>de</strong>rt ist! Selten wird sie willig<br />

aufgenommen, noch seltenener aber wirkliche Besserung <strong>de</strong>r geta<strong>de</strong>lten Verhältnisse damit erzielt.<br />

Wer ist auch in <strong>de</strong>r Familie geneigt, sich bessern zu lassen? Der Gatte, das Haupt <strong>de</strong>r Familie,<br />

fürchtet, sich eine Blöße zu geben, wenn er einer Mahnung seitens eines Familienglie<strong>de</strong>s Gehör<br />

schenkt. Die Frau, die, stets von Liebe getragen, sich über alle Kritik erhaben wähnt, fühlt sich bei<br />

einer Rüge tief gekränkt. Erwachsene Kin<strong>de</strong>r nehmen erfahrungsgemäßig von <strong>de</strong>n Eltern einen<br />

Ta<strong>de</strong>l am unwilligsten hin. Geschwister untereinan<strong>de</strong>r sind nie zur Duldung geneigt. Die offene,<br />

unbemäntelte Wahrheit, die in <strong>de</strong>r Regel auf <strong>de</strong>n Lippen <strong>de</strong>s Mannes liegt, wirkt sie nicht gera<strong>de</strong>zu<br />

feindlich <strong>de</strong>m Ziel entgegen, das damit erreicht wer<strong>de</strong>n sollte? Gibt es da für die Frau, die Mutter,<br />

die Schwester nicht manchen zerrissenen Fa<strong>de</strong>n zu knüpfen, manchen Knoten in <strong>de</strong>r Geduld zu<br />

entwirren, ehe die Hand <strong>de</strong>s Mannes ihn zerhaut? Wer<strong>de</strong>n die Hausgenossen, mögen sie über o<strong>de</strong>r<br />

unter uns stehen, diese Hand nicht segnen, welche Konflikte verhütet, ehe dieselben Zeit hatten,<br />

sich zu entwickeln? Diese Erfolge erringt jedoch nur <strong>de</strong>r Takt, welcher aus <strong>de</strong>r wahren<br />

Herzensbildung entspringt, die wie<strong>de</strong>rum in <strong>de</strong>r Liebe wurzelt. Und wo <strong>de</strong>r Takt keinen keinen<br />

friedlichen Ausweg mehr fin<strong>de</strong>t, da tritt die Diskretion in ihr Recht. Es gibt unzählige Stimmungen,<br />

die keine Berührung vertragen; viele Kämpfe im Schoß <strong>de</strong>r Familie müssen in <strong>de</strong>r Stille von <strong>de</strong>m<br />

einzelnen ausgekämpft wer<strong>de</strong>n. Dabei helfen zu wollen durch ein Wort, einen Blick, wür<strong>de</strong> alles<br />

ver<strong>de</strong>rben. Wohl <strong>de</strong>r Familie, in <strong>de</strong>r eine taktvolle Frau waltet, welche nichts an das Licht zerrt, was<br />

erst durch das gesprochene Wort zum Unrecht wird, welche <strong>de</strong>n kleinen kindlichen Sün<strong>de</strong>r<br />

schweigend sein Herzeleid ausschluchzen läßt, ohne je<strong>de</strong>smal mit minutiöser Genauigkeit<br />

feststellen zu wollen, ob es Reue, ob es Trotz o<strong>de</strong>r das Gefühl <strong>de</strong>r Hilflosigkeit gewesen, was die<br />

heißen Tränen ins Rollen gebracht hat. Es wird kein Plätzchen in <strong>de</strong>m Herzen ihres Kin<strong>de</strong>s geben,<br />

das nicht im heiligsten Vertrauen sich ihr erschließt, wenn das Kind fühlt, daß die Mutter seine<br />

schmerzlichen Gefühle achtet, daß sie schweigend mit ihm trauert, kurz – wenn <strong>de</strong>r kindliche<br />

Verstand auch <strong>de</strong>n Ausdruck nicht fin<strong>de</strong>t – daß sie eine diskrete <strong>und</strong> verzeihen<strong>de</strong> Mitwisserin seiner<br />

Schuld ist. »<br />

« Auch in <strong>de</strong>r Gesellschaft, wie man gewohnheitsmäßig <strong>de</strong>n geselligen Verkehr <strong>de</strong>r gebil<strong>de</strong>ten


Kreise nennt, ist <strong>de</strong>r Takt <strong>de</strong>r Frau, die als Dame anerkannt sein will, unentbehrlich. Viele halten<br />

fälschlich eine übertünchte Hoeflichkeit gegen Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Feind für Takt. Das ist ein Irrtum. Der<br />

Takt bewahrt ebenso sicher vor <strong>de</strong>m Zuviel wie <strong>de</strong>m Zuwenig an Zuvorkommenheit. Der Takt weiß<br />

durch die richtige Schätzung <strong>de</strong>r Personen, mit welchen man verkehrt, eine ungezwungene <strong>und</strong><br />

doch seine Form <strong>de</strong>s Umgangs anzubahnen, welche die Geselligkeit zu einer Quelle wirklicher<br />

Freu<strong>de</strong>n macht. Taktvolle Personen wer<strong>de</strong>n auch im intimsten Umgang niemals aufdringlich durch<br />

zu große Vertraulichkeit, noch verletzend durch Mangel an Teilnahme. Auch wird sich die taktvolle<br />

Frau niemals in schiefe Situationen bringen lassen, da ihr Benehmen, vom richtigen Instinkt<br />

geleitet, keine wi<strong>de</strong>rwärtigen Elemente an sich herankommen läßt. Je<strong>de</strong>nfalls ist die taktvolle Frau<br />

immer beliebt. »<br />

« Ja, meine Damen <strong>und</strong> Herren, liebe Fre<strong>und</strong>e, liebe Gäste <strong>de</strong>s Hauses, liebe Insassen. Unser<br />

heutiges Kamingespräch soll nicht en<strong>de</strong>n, ohne das Geheimnis <strong>de</strong>r Liebenswürdigkeit unserer<br />

Frauen vollends gelüftet zu haben. Dazu bediene ich mich eines Zitats. Ich bitte um Ihr Verständnis,<br />

die Dame möchte anonym bleiben. Sie hat mir das Folgen<strong>de</strong> anvertraut: Es ist so einfach, die<br />

Menschen fre<strong>und</strong>lich zu stimmen. Ich suche mich <strong>de</strong>njenigen eben nur anzupassen, mit <strong>de</strong>nen ich<br />

verkehre, <strong>und</strong> wahrlich, wenn ich <strong>de</strong>nke, jemand dadurch wohltun zu können, ist das eine so leichte<br />

Mühe! Wer anstößt, trägt immer die Hauptschuld in sich selbst. Meiner oberster Gr<strong>und</strong>satz ist:<br />

Je<strong>de</strong>m das Seine! Den Lebhaften lasse ich re<strong>de</strong>n <strong>und</strong> höre ihm, meist mit Vergnügen, zu – glauben<br />

Sie mir, gut zuhören können ist <strong>de</strong>n meisten Menschen gegenüber die dankbarste Metho<strong>de</strong>. Dem<br />

Schüchternen plau<strong>de</strong>re ich vor, bis er Mut bekommt, dann höre ich wie<strong>de</strong>r zu, <strong>und</strong> das ist meist<br />

reizend, wie hübsch solch ermutigte Schüchterne sich dann geben können. Mit <strong>de</strong>m<br />

Melancholischen bin ich eine kleine Weile ernst, <strong>und</strong> das Lächeln habe ich dann immer kommen<br />

sehen, selbst bei <strong>de</strong>n Pathetischesten. Mit <strong>de</strong>n Fröhlichen aber bin ich von Herzen gern fröhlich.<br />

Alter Herren geben sich mit Vorliebe jugendlich, <strong>und</strong> das lasse ich gelten – warum auch nicht? Hat<br />

doch je<strong>de</strong>r Mensch sein Steckenpferd! Junge Herren darf man um Gottes willen nicht en bagatelle<br />

behan<strong>de</strong>ln, sie sind noch nicht genug von ihrer Wür<strong>de</strong> durchdrungen, als daß sie ein Jota von <strong>de</strong>r<br />

ihnen zukommen<strong>de</strong>n Rücksicht wissen könnten. Von alten Damen habe ich mit Freu<strong>de</strong>n stets noch<br />

etwas gelernt. Eine je<strong>de</strong> hat ihre wertvollen Erfahrungen <strong>und</strong> ist liebenswürdig, wenn man<br />

dieselben zu würdigen weiß. Die Mittelalterlichen müssen mit etwas mehr Zartheit behan<strong>de</strong>lt<br />

wer<strong>de</strong>n, namentlich wenn sie unverheiratet sind. Das habe ich stets mit beson<strong>de</strong>rer Freu<strong>de</strong> getan,<br />

<strong>und</strong> mir gegenueber ist selbst die Herbste mild gewesen. Junge Mädchen sind am leichtesten zu<br />

behan<strong>de</strong>ln. Sie sind wie die Blumen, die nur <strong>de</strong>n Sonnenschein brauchen, um zu blühen, <strong>und</strong> da <strong>de</strong>r<br />

Sonnenschein <strong>de</strong>s Salons das Vergnügen ist, ist die Jugend entzückt, sobald sie sich amüsiert, <strong>und</strong><br />

das ist gar leicht bewerkstelligt. Die einzig Wi<strong>de</strong>rwärtigen sind für mich die zudringlichen<br />

Menschen; für diese kenne ich allerdings keine Rücksicht <strong>und</strong> kein Erbarmen. Ein klein wenig aber<br />

sage ich mir bei allen, ob alt o<strong>de</strong>r jung: 'Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem<br />

an<strong>de</strong>ren zu.' Mit diesem Sprüchlein, das mir stets gegenwärtig ist, bin ich noch immer gut gefahren!<br />

En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Zitats. Dem ist hier <strong>und</strong> heute nichts hinzuzufügen. Guten Abend. »<br />

Das Buch « Der gute Ton in allen Lebenslagen » wird <strong>de</strong>mnächst veröffentlich wer<strong>de</strong>n. Jean-François will das<br />

Werk in zwei Teilen erscheinen lassen. Die hier dokumentierte Lesung erfolgte aus <strong>de</strong>m zweiten Teil, <strong>de</strong>r allem<br />

Anschein nach « Unserer Frauen Leben » betitelt sein wird.<br />

Eva-Maria: Manfred macht Ernst.<br />

Sonja: Was hat er angestellt?<br />

Eva-Maria: Eigentlich nichts Beson<strong>de</strong>res. Er hat ein Flugblatt herausgegeben.<br />

Sonja: Wirklich?<br />

93


Eva-Maria: Ja! Und ich sage Dir, er beherrscht seinen Text: « Wenn Sie wollen, » so geht's los,<br />

« daß die Menschen nicht an<strong>de</strong>re Menschen unterdrücken, so geben Sie ihnen nie die Macht in die<br />

Hän<strong>de</strong>. Wenn Sie wollen, daß sie die Freiheit, die Rechte, <strong>de</strong>n menschlichen Charakter ihrer<br />

Mitmenschen achten, dann sorgen Sie dafür, daß sie gezwungen sind, sie zu achten ... »<br />

Sonja: Zwang! Unser kleiner Terrorist, das sieht ihm ähnlich.<br />

Eva-Maria: Nicht so voreilig, Sonja. Es geht ja noch weiter. Hör' doch einfach erstmal zu:<br />

« Gezwungen nicht durch <strong>de</strong>n Willen o<strong>de</strong>r die bedrücken<strong>de</strong> Aktion an<strong>de</strong>rer Menschen, noch durch<br />

<strong>de</strong>n Zwang <strong>de</strong>s Staates <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gesetze, die notwendigerweise von Menschen vertreten <strong>und</strong><br />

angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n müssen, was sie ihrerseits wie<strong>de</strong>r zu Sklaven machen wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn durch die<br />

Organisation <strong>de</strong>r Gesellschaft, die so eingerichtet ist, das sie je<strong>de</strong>m <strong>de</strong>n vollsten Genuß seiner<br />

Freiheit läßt, aber keinem die Möglichkeit gibt, sich über die an<strong>de</strong>ren zu erheben, noch sie zu<br />

beherrschen, als durch <strong>de</strong>n natürlichen Einfluß <strong>de</strong>r geistigen <strong>und</strong> moralischen Fähigkeiten, die er<br />

besitzt ... »<br />

Sonja: Predigt Manfred jetzt die geistig-moralische Wen<strong>de</strong>? Das ist doch alles von gestern!<br />

Eva-Maria: « ... die er besitzt, ohne daß dieser Einfluß sich je als ein Gesetz auflegen könnte o<strong>de</strong>r<br />

auf irgen<strong>de</strong>ine politische Einrichtung stützte. »<br />

Sonja: Zugegeben, nicht schlecht. War das alles?<br />

Eva-Maria: Nein, aber ich laß es besser sein. Du hörst mir eh nicht richtig zu.<br />

Sonja: Doch doch. Ich bin nicht befangen, nur weil ich Jahre das Bett mit einem geteilt habe, <strong>de</strong>r<br />

inzwischen sowieso ein an<strong>de</strong>rer ist. Er bringt jetzt eine Sache, seine Sache zu En<strong>de</strong>, das ist gewiß.<br />

Eva-Maria: Warten wir es ab.<br />

Sonja: Wo hat er <strong>de</strong>nn seine Flugblätter verteilt?<br />

Eva-Maria: Erstmal nur in Bielefeld, <strong>und</strong> dort auch nur im Kritikerheim. Ist wohl ein Testlauf für<br />

ihn.<br />

Sonja: Ist sich seiner Sache wohl doch nicht so sicher.<br />

94<br />

Rambo: Er, also Jean-François, ist offensichtlich <strong>de</strong>r Ansicht, daß es eine männliche <strong>und</strong> eine<br />

weibliche Art <strong>de</strong>r Koketterie gibt, <strong>und</strong> daß <strong>de</strong>r Unterschied in <strong>de</strong>r vermeintlichen Tatsache<br />

begrün<strong>de</strong>t liege, daß <strong>de</strong>r Mann aus allen er<strong>de</strong>nklichen Grün<strong>de</strong>n kokett zu sein pflegt, die Frau<br />

hingegen vornehmlich aus einem, nämlich im Hinblick auf die zu machen<strong>de</strong> Herzenseroberung. Der<br />

Mann sei mehr theoretisch <strong>und</strong> aka<strong>de</strong>misch im Punkte <strong>de</strong>r Koketterie; die Frau mehr praktisch.<br />

Eva-Maria: Ja, <strong>und</strong>?<br />

Rambo: Bist du etwa auch dieser Meinung? Unterschreibst du diese These?<br />

Eva-Maria: Woher weißt du überhaupt, was Jean-François über Koketterie <strong>de</strong>nkt?


Rambo: Als ich in Aquitanien war, habe ich jeman<strong>de</strong>n kennengelernt, <strong>de</strong>r bei einem<br />

Forschungsinstitut in Südwestfrankreich arbeitet. Sein Chef hat sich irgendwie zu diesem Thema<br />

geäußert. Daraufhin haben die da unten eine Mail von Jean-François erhalten. Und diese Mail*<br />

wur<strong>de</strong> mir zugespielt.<br />

Eva-Maria: Eklig.<br />

Rambo: Nee, « trostlos », wie <strong>de</strong>r Institutsleiter meint. Und er hat recht. Jean-François ist sich sogar<br />

nicht zu scha<strong>de</strong>, einen absolut grimmigen Frauenfeind zu zitieren, wenn er schreibt: « We<strong>de</strong>r für<br />

Musik noch für Poesie, noch für bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Künste haben die Frauen wirklich <strong>und</strong> wahrhaftig Sinn<br />

<strong>und</strong> Empfänglichkeit, son<strong>de</strong>rn es ist lediglich Äfferei zum Behuf ihrer Gefallsucht, wenn sie solche<br />

affektieren <strong>und</strong> vorgebeben. » Doch damit nicht genug. Es wird noch besser: « Es liegt in <strong>de</strong>r<br />

Frauennatur, alles nur als Mittel, <strong>de</strong>n Mann zu gewinnen, anzusehen, <strong>und</strong> ihr Anteil an irgend etwas<br />

an<strong>de</strong>rem ist immer nur ein simulierter, ein bloßer Umweg, das heißt, läuft auf Koketterie hinaus. »<br />

Eva-Maria: Da hat er wohl doch ein bißchen übertrieben.<br />

Rambo: Das fin<strong>de</strong>t Jean-François auch. Aber, <strong>und</strong> das ist entschei<strong>de</strong>nd, sieht er in <strong>de</strong>r Übertreibung<br />

einen wahren Kern, <strong>de</strong>r sich, wie es in seiner Mail heißt, « nicht wegdisputieren läßt: Das Dichten,<br />

Denken <strong>und</strong> Trachten <strong>de</strong>r Frauen, <strong>und</strong> somit auch ihre Koketterie, bezieht sich weit ausschließlicher<br />

auf die Männer als umgekehrt. » Was sagst du nun?<br />

* Das Institut Scientifique <strong>de</strong> Recherche Hypernaturaliste erreichte unlängst elektronische Post, gesen<strong>de</strong>t von<br />

einem gewissen Jean-Francois. In <strong>de</strong>r Mail heißt es u. a.: « Jenes hübsche zwanzigjährige Mädchen – <strong>de</strong>ine<br />

Schwester vielleicht o<strong>de</strong>r die <strong>de</strong>ines Fre<strong>und</strong>es – wie an<strong>de</strong>rs geht das hübsche Blondinchen heute über die Bretter<br />

<strong>de</strong>r Existenz als gestern abend beim Tee im engsten Familienzirkel. Das macht, heute sind einige junge Herren<br />

zugegen, die um je<strong>de</strong>n Preis dazu gebracht wer<strong>de</strong>n sollen, die kleine geistreich zu fin<strong>de</strong>n. Als ob das nötig wäre!<br />

Singt nicht Heinrich Heine, diese Überflüssigkeit <strong>de</strong>s sogenannten Esprits mit fast übertriebener Schneidigkeit<br />

akzentuierend: Den Leib will ich umsahen, / Den Leib, so rosig <strong>und</strong> jung. / Die Seele magst du behalten: / Hab'<br />

selber Seele genug! Das ist <strong>de</strong>r Trotz <strong>de</strong>s selbstbewußten, geistvollen Mannes, <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>m Weibe Natur verlangt<br />

<strong>und</strong> erquicken<strong>de</strong> Anmut, aber keine Jongleurkünste auf <strong>de</strong>m Drahtseil <strong>de</strong>s Intellekts. In gewohnter Verkennung<br />

<strong>de</strong>ssen, was ihrem Geschlecht frommt, klettert unser Blondinchen unaufhörlich auf jenem Drahtseil herum <strong>und</strong><br />

wird aus lauter Koketterie beinahe unsympathisch, sie, auf <strong>de</strong>ren meerblaue Kin<strong>de</strong>raugen ich noch gestern ein<br />

halbes Dutzend ungeborener Verherrlichungen im Busen trug! » Pedro Pedigree verschlug es die Sprache, als er<br />

die Mail, die hier nur auszugsweise zum Besten gegeben wird, las. Kommentar <strong>de</strong>s Professors: « Es ist trostlos! »<br />

Sonja: Nein, das ist nich mehr zum Aushalten!<br />

Eva-Maria: Was <strong>de</strong>nn?<br />

Sonja: Ach, du weißt es doch auch, frag doch nicht so dumm!<br />

95<br />

Eva-Maria: Ach so, das meinst du. Ja, ich konnte die ganze Nacht kaum schlafen, so schwül war<br />

mir.<br />

96<br />

Rambo: « 'Greift nur hinein ins volle Menschenleben' – aber greift es auch wirklich <strong>und</strong> nicht<br />

vorbei. » Wie fin<strong>de</strong>st du diesen Anfang?


Eva-Maria: Kommt darauf an, wohin ein solcher Anfang <strong>de</strong>n Leser bringen soll.<br />

Rambo: Na gut, ich les' mal weiter vor: « Wie viele gute Dramen wür<strong>de</strong>n entstehen, wenn die<br />

Dichter nicht Luftspiegelungen ihrer Phantasie für Lebenswirklichkeit nähmen! »<br />

Eva-Maria: Hab' ich irgendwo schon mal gelesen o<strong>de</strong>r gehört...<br />

Rambo: Kann nicht sein. Hör' doch erstmal weiter zu! « Da ist ein junges Talent, das Be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s<br />

bieten könnte, wovon es bereits in <strong>de</strong>m Schauspiel Michaela, welches, wie unseren Lesern<br />

vielleicht erinnerlich ist, vor Jahr <strong>und</strong> Tag im Ol<strong>de</strong>nburger Staatsschauspielhaus aufgeführt wur<strong>de</strong>,<br />

achtbare Beweise gegeben hat. Allein wie dort so hat Philipp Gluck auch in seinem neuen Drame<br />

« Weinseligkeit » im Südostbayerischen Städtetheater die Unfähigkeit bewiesen, Charaktere<br />

lebensnah zu gestalten. »<br />

Eva-Maria: Wo hast du dich <strong>de</strong>nn herumgetrieben? In Nie<strong>de</strong>rbayern etwa? Seit wann kümmerst du<br />

dich um Provinzbühnen?<br />

Rambo: Weil dort zuweilen stattfin<strong>de</strong>t, was in <strong>de</strong>n Metropolen so schmerzlich vermißt wird!<br />

Eva-Maria: Spinner.<br />

Rambo: Aber es ist etwas dran, glaube mir, auch wenn die kritische Aufarbeitung unserer<br />

Gegenwart meistens mißglückt. – Hör weiter zu: « Der berühmte Maler Birkenweiler hat seinen<br />

hochgestellten Verwandten <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Welt zum Trotz sein Mo<strong>de</strong>ll – es war ihm noch etwas mehr als<br />

dies – geheiratet <strong>und</strong> kommt eines schönen Tages ungela<strong>de</strong>n <strong>und</strong> unerwartet mit seiner jungen Frau<br />

abends in eine bei seinem Bru<strong>de</strong>r, seines Zeichens Ministerpräsi<strong>de</strong>nt eines B<strong>und</strong>eslan<strong>de</strong>s,<br />

stattfin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> auserwählte Gesellschaft. Wie das moöglich ist, frage man <strong>de</strong>n Dichter. Als er dort<br />

eine Aufnahme fin<strong>de</strong>t, die einer Zurückweisung gleichkommt, bricht er mit seinem Bru<strong>de</strong>r <strong>und</strong> <strong>de</strong>r<br />

'Gesellschaft', die seine Wahl verachtet. Aber bald kommt die Reue. Der Ehrgeiz ist <strong>de</strong>r Satan, <strong>de</strong>r<br />

ihn verführt. Er könnte Aka<strong>de</strong>miedirektor wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Kulturbotschafter seines Lan<strong>de</strong>s, wenn er die<br />

Frau nicht hätte. Man mutet ihm zu, sich von ihr zu schei<strong>de</strong>n. Anscheinend bietet sie selber Ursache<br />

dazu. Man verleum<strong>de</strong>t sie bei <strong>de</strong>m Gatten, man erregt seinen Argwohn dadurch, daß man ihm<br />

erzählt, sie habe häufig in seiner Abwesenheit nächtlicherweile mit einem Schönheitschirurgen,<br />

seinem Bekannten, an entlegenem Orte heimliche Zusammenkünfte. Dazu kommt dann das Gefühl<br />

<strong>de</strong>r inneren Unbefriedigung. Denn die Frau ist zwar gut <strong>und</strong> liebevoll, aber ungebil<strong>de</strong>t <strong>und</strong> von<br />

unkünstlerischer Anlage, sie hat kein Verständnis für sein Tun <strong>und</strong> drückt dadurch auf seine<br />

Schaffenskraft. Es kommt zu Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen, zu Vorwürfen, zu einer häßlichen Szene, in<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gatte die Gattin <strong>de</strong>r Untreue verdächtigt. Sie aber vermag sich nicht nur glänzend zu<br />

rechtfertigen, son<strong>de</strong>rn zugleich auch <strong>de</strong>n Gemahl zu <strong>de</strong>mütigen. Sie hat heimlich eine ehemalige<br />

Geliebte von ihm, die er treulos samt ihrem Kin<strong>de</strong> verlassen <strong>und</strong> <strong>de</strong>m Elend preisgegeben, gepflegt,<br />

in ihren Armen ist die Unglückliche verschie<strong>de</strong>n, als <strong>de</strong>r Gatte sie auf <strong>de</strong>n Pfa<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Schlechtigkeit<br />

wähnte. Sein Verdacht umpört sie <strong>und</strong> reißt ihr Herz von <strong>de</strong>m seinen für immer los. Sie wen<strong>de</strong>t sich<br />

von ihm, damit er Aka<strong>de</strong>miedirektor <strong>und</strong> Kulturbotschafter wer<strong>de</strong>, auf ewig. »<br />

Eva-Maria: Wahnsinnig kritisch, o<strong>de</strong>r?...<br />

Rambo: « Es ist von vornherein klar, daß <strong>de</strong>r Zuschauer an einem Hel<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r alles an<strong>de</strong>re nur nicht<br />

ein solcher ist, <strong>de</strong>r eine seltsam verschwommene <strong>und</strong> schwanken<strong>de</strong> Charaktereigenart zeigt, kein<br />

Interesse nehmen kann. Wo keine Männlichkeit ist, da fehlt <strong>de</strong>r Opposition gegen die Vorurteile <strong>de</strong>r<br />

Gesellschaft je<strong>de</strong> dramatische Berechtigung. »<br />

Eva-Maria: Daß du <strong>de</strong>in Handwerk bei Jean-François gelernt hast, kannst du nicht verleugnen.


Rambo: Wozu auch! Also geht <strong>de</strong>r Text folgen<strong>de</strong>rmaßen weiter: « Hein Meier hat das an seinem<br />

Manfred o<strong>de</strong>r Blut <strong>und</strong> Er<strong>de</strong> schon lange Jahre vor Philipp Gluck erfahren müssen. Und doch<br />

scheint das Wi<strong>de</strong>rspruchsvolle <strong>und</strong> Regelwidrige in solchen problematischen Künstlernaturen<br />

unsere Dramatiker immer von neuem mit unwi<strong>de</strong>rstehlichem Zauber zu locken. »<br />

Eva-Maria: Kommt da noch was?<br />

Rambo: Ja, klar. Muß ich aber erst noch schreiben. Du kannst dich auf die Fortsetzung inzwischen<br />

seelisch vorbereiten...<br />

Rambo: Soll ich von vorn beginnen o<strong>de</strong>r nur <strong>de</strong>n noch ausstehen<strong>de</strong>n Schlußteil lesen?<br />

Eva-Maria: Du gibst mir am besten <strong>de</strong>n Rest.<br />

97<br />

Rambo: Also gut. « In diesem Fall ist es nur zu realistisch, die nackte, trübselige <strong>und</strong> erbärmliche<br />

Wirklichkeit ist nur zu krass wie<strong>de</strong>rgegeben, um künstlerischen Reiz zu üben. » Das noch dazu.<br />

Und nun die Frau: « Wie gelangt sie nur zu <strong>de</strong>m so heroischen, so stolz-tragischen Entschluß, die<br />

anfangs <strong>und</strong> eine ganze Zeit hindurch weiter nichts als ein armes, unwissen<strong>de</strong>s <strong>und</strong> weltfrem<strong>de</strong>s<br />

Geschöpf aus <strong>de</strong>r untersten Schicht <strong>de</strong>s Volkes ist? Wie vermag sie sich zu solcher Höhe <strong>de</strong>r<br />

Lebensauffassung aufzuschwingen? Ja, man frage auch darüber nur <strong>de</strong>n Dichter. Er wollte anfangs<br />

wahrscheinlich die Ungerechtigkeit <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen Gesellschaftsordnung <strong>und</strong> ihre erkünstelte<br />

Lebensmoral im Hohlspiegel zeigen, <strong>und</strong> unvermerkt en<strong>de</strong>t er damit, dieser geschmähten<br />

Lebensauffassung zum Sieg zu verhelfen. Er spottet seiner seiner selbst <strong>und</strong> weiß nicht, wie! Daß<br />

ein Stück wie dieses, das nichts weniger <strong>de</strong>nn befriedigt, wenn es auch anreizt <strong>und</strong> fesselt <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch herausfor<strong>de</strong>rt, zum lebhaften Tagesgespräch wird, beweist, wie dankbar im Gr<strong>und</strong>e<br />

das Publikum für je<strong>de</strong>n ernsten Versuch ist, das Leben bei seinen problematischen Seiten zu<br />

erfassen. Der Erfolg verheißt <strong>de</strong>m Drame kein langes Dasein. Dazu ist ohnedies auch die Form, die<br />

Sprache nicht flüssig <strong>und</strong> einfach genug. Aber eine Zeit lang reizt es die 'Gesellschaft', <strong>und</strong> das<br />

genügt heutzutage, um sich einen Namen zu machen. »<br />

Eva-Maria: Da sagst du was.<br />

Rambo: Und gern sogar. – Weiter im Text: « Der Titel <strong>de</strong>s Stücks, Weinseligkeit, rührt von <strong>de</strong>m<br />

letzten Meisterwerk <strong>de</strong>s Malers her, das diesen Namen führt <strong>und</strong> worin seine Gattin das Mo<strong>de</strong>ll zu<br />

einer w<strong>und</strong>ervoll berücken<strong>de</strong>n Frauengestalt hergeliehen hat. Sie zerstört das Gemäl<strong>de</strong>, das sie<br />

zerschnei<strong>de</strong>t, in <strong>de</strong>m Augenblick, in welchem sie <strong>de</strong>n Entschluß faßt, sich von <strong>de</strong>m Elen<strong>de</strong>n<br />

abzuwen<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m sie eine Last ist, sie, die anfangs Angebetete. »<br />

Eva-Maria: So hörst du auf?<br />

Rambo: So höre ich auf.<br />

98<br />

Im Pariser Schauspielhaus hat <strong>de</strong>r neue Direktor Rambo seine Wirksamkeit in Gutes verheißen<strong>de</strong>r<br />

Weise begonnen. Die Inszenierung von « Romeo <strong>und</strong> Julia » war würdig, einfach <strong>und</strong> tüchtig, ohne<br />

sich auf das Feld <strong>de</strong>s Experimentierens zu verirren. Allerlei neugewonnene Kräfte, unter <strong>de</strong>nen


Labarche<strong>de</strong> am meisten hervorstach, zeigten, daß <strong>de</strong>r Vergnügungsprozeß <strong>de</strong>s Kulturinstituts von<br />

erfreulichsten Folgen gewesen ist. Später hat Turgenjeff mit seinem Drame « Natalie » seinen<br />

Einzug in die geweihten Hallen gehalten. Das Stück, das weit mehr als eine Seelen- als eine<br />

Handlungstragödie genannt zu wer<strong>de</strong>n verdient, behan<strong>de</strong>lt die schweren Gemüts- <strong>und</strong><br />

Gefühlskämpfe, in welche zwei Frauen miteinan<strong>de</strong>r geraten, die ihre Liebe <strong>de</strong>mselben Mann<br />

zugewen<strong>de</strong>t haben <strong>und</strong> obendrein durch die Ban<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Verwandschaft gegen einan<strong>de</strong>r zur<br />

Selbstverleugnung verpflichtet sind. Natalie <strong>und</strong> Vera, die Mutter <strong>und</strong> <strong>de</strong>ren Pflegetochter, lieben<br />

<strong>de</strong>n Hauslehrer, <strong>de</strong>r schließlich, um sich aus diesem auch für ihn verhängnisvollen Wi<strong>de</strong>rstreit zu<br />

retten, zur Pistole greift <strong>und</strong> seinem Leben ein En<strong>de</strong> macht. Das ist <strong>de</strong>r Kern dieses nach<br />

Dumas'schem o<strong>de</strong>r Sardouschem Muster komponierten Dramas, bei <strong>de</strong>m auch die Verletzung <strong>de</strong>r<br />

Gattenpflicht eine Rolle spielt. Turgenjeff hat mit außeror<strong>de</strong>ntlich feinem psychologischen<br />

Raffinement die psychologischen Stimmungen herausgearbeitet.<br />

99<br />

Im Bar<strong>de</strong>au-Theater zu La Rochelle ist auf einige Fehlschläge ein Lustspiel von Jean-François,<br />

einem früheren Kulturkritiker <strong>und</strong> noch früheren Kaufmann, gefolgt, welches seinem Namen « Die<br />

rechte Schüssel » Ehre zu machen <strong>und</strong> das Sesam <strong>de</strong>r Direktion zu erschließen verspricht. Das<br />

Stück zählt zu <strong>de</strong>r Gattung <strong>de</strong>r Rühr- <strong>und</strong> Handwerkerkomödien, in <strong>de</strong>nen tüchtige Väter,<br />

mißratene Söhne <strong>und</strong> hochmütige Schwiegertöchter die Hauptpersonen bil<strong>de</strong>n. Im vorliegen<strong>de</strong>n<br />

Fall hat man es mit einem Schlossersohne zu tun, <strong>de</strong>r über seinen Stand hinaus <strong>und</strong> in die noble<br />

Welt zu kommen trachtet, unter die Grün<strong>de</strong>r <strong>und</strong> Börsianer geht, eine elegante, aber herzlose<br />

a<strong>de</strong>lige Dame heiratet <strong>und</strong> schließlich sogar zu allerhand schwin<strong>de</strong>lhaften Kniffen greift, Bankrott<br />

macht, von seiner Frau verlassen wird <strong>und</strong> vollends in moralischen Verfall gerät, aus <strong>de</strong>m ihn nur<br />

die Liebe seines Vaters rettet. In die rechte Schüssel ist die Unschuld <strong>und</strong> Herzigkeit seines Kin<strong>de</strong>s<br />

gebettet, aus ihr schöpft <strong>de</strong>r Vater Kraft <strong>de</strong>r Versöhnung. Auf diese Weise schafft er es, daß sich <strong>de</strong>r<br />

Schrein <strong>de</strong>s Herzens wie<strong>de</strong>r öffnet. Jean-François hat mit geschickter Hand heitere Laune, lustige<br />

Einfälle <strong>und</strong> ernst-gemütvolle, ans Sentimentale streifen<strong>de</strong> Szenen durcheinan<strong>de</strong>r gemengt <strong>und</strong> so<br />

ein Stück zustan<strong>de</strong>gebracht, das an die Art L'Arronges' erinnert. Die Aufnahme war sehr beifällig.<br />

100<br />

Im Jean-Baptiste Poquelin-Theater zu Avignon hat ebenfalls ein Anhänger <strong>de</strong>r L'Arrongeschen<br />

Schule, <strong>de</strong>r frühere Schauspieler Carlo, in einschlägigen Kreisen auch bekannt unter <strong>de</strong>m<br />

Pseudonym Manfred, sein Zelt aufgeschlagen. Auch er weiß Humor <strong>und</strong> Ernst, zuweilen sogar<br />

tragisch angehauchten Ernst, in passen<strong>de</strong>r Weise miteinan<strong>de</strong>r abwechseln zu lassen, <strong>und</strong> er besitzt<br />

genug Erfindungsgabe, um durch eine zwar nicht von Längen freie, aber doch immerhin<br />

mannigfaltige Handlung zu interessieren. Den Kern <strong>de</strong>rselben bil<strong>de</strong>t das Schicksal einer von ihrem<br />

Vater, einem hohen Beamten im Innenministerium, verstoßenen Tochter, die einem kubanischen<br />

Korrespon<strong>de</strong>nten ihre Liebe zuwen<strong>de</strong>t <strong>und</strong> dadurch <strong>de</strong>s Vaters Absicht, sie mit <strong>de</strong>m Sohn eines<br />

a<strong>de</strong>ligen Polizeipräsi<strong>de</strong>nten zu vermählen, in <strong>de</strong>m Augenblick <strong>de</strong>r Entscheidung aufs schnö<strong>de</strong>ste<br />

vereitelt hat. Der Korrespon<strong>de</strong>nt, <strong>de</strong>r sich bei Castro verdächtig gemacht hat, wird von <strong>de</strong>r<br />

Behör<strong>de</strong> ausgewiesen, <strong>und</strong> dieser Umstand in Verbindung mit <strong>de</strong>m Herzensb<strong>und</strong>e, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Frem<strong>de</strong><br />

mit <strong>de</strong>r Tochter <strong>de</strong>s Staatsdieners geschlossen, fällt <strong>de</strong>m Vater <strong>de</strong>r letzteren so sehr auf sein<br />

Beamtengewissen, daß er seinem Dienste zu entsagen beschließt <strong>und</strong> seinen Abschied erbittet.<br />

Schließlich gelingt es <strong>de</strong>n vereinten Einwirkungen mehrerer Personen, die <strong>de</strong>m tief gekränkten<br />

Vater nachstehen, sein Gemüt zu rühren <strong>und</strong> zu veranlassen, daß dieses das « letzte Wort » –<br />

nämlich liebreiche Vergebung spricht. Das Stück wur<strong>de</strong> sehr virtuos gespielt <strong>und</strong> errang<br />

namentlich durch vollen<strong>de</strong>te Kunst <strong>de</strong>r Darsteller, unter <strong>de</strong>nen in erster Reihe die von einem<br />

allemannischen Kritikersekretariat nach <strong>de</strong>m Jean-Baptiste Poquelin-Theater übergesie<strong>de</strong>lte Sonja


glänzte, rauschen<strong>de</strong> Beifallsbezeugungen. Intendant Carlo hatte das Stück mit seiner Kunst selbst<br />

inszeniert <strong>und</strong> feierte damit seinen ersten Triumph.<br />

101<br />

Sonja: Eva-Maria soll ihre Erinnerungen an <strong>de</strong>n großen Kritiker <strong>und</strong> nicht min<strong>de</strong>r großen<br />

Schriftsteller Jean-François schon vor längerer Zeit vertrauten Hän<strong>de</strong>n übergeben haben.<br />

Rambo: Aber Jean-François ist doch noch gar nicht gestorben.<br />

Sonja: Das nicht, aber Eva-Maria <strong>de</strong>nkt vielleicht an Abschied. Sie hat die « vertrauten Hän<strong>de</strong> »<br />

ermächtigt, ihre Erinnerungen nach ihrem Tod zu veröffentlichen.<br />

Rambo: Ob das jemand lesen will?<br />

Sonja: Nun, die vom Institut Scientifique <strong>de</strong> Recherche Hypernaturaliste sind davon überzeugt.<br />

Eva-Marias Papiere sollen neben Briefen von Jean-François eigene Aufzeichnungen über ihre<br />

Beziehung zu ihm enthalten.<br />

Rambo: Wäre das nicht eher ein Thema für dich?<br />

102<br />

Ein vielleicht vorerst letzter Besuch im Kritikerheim zu Bielefeld.<br />

Jean-François: Liebe Fre<strong>und</strong>e, liebe Gäste, am heutigen Tage bringen wir eine neue<br />

Unterhaltungsnummer an <strong>de</strong>n Start. Es geht, wie meistens bei unseren mittlerweile ja weit über die<br />

Stadtgrenzen hinaus bekannten Kamingesprächen, um Literatur, genauer: um Literaturkritik.<br />

Jeweils zwei unserer Insassen wer<strong>de</strong>n gegeneinan<strong>de</strong>r antreten. Je<strong>de</strong>r wird einen selbstre<strong>de</strong>nd selbst<br />

verfaßten Text vortragen. Wir alle, die wir uns hier versammelt haben, wer<strong>de</strong>n im Anschluß darüber<br />

abstimmen, wessen Text besser ist. Es versteht sich von selbst, daß die Texte eine gewisse<br />

literarische Qualität haben sollten. Sie sollen aber keine Literatur im engeren Sinne sein, son<strong>de</strong>rn<br />

die Literatur bzw. ein Stück Literatur zum Gegenstand haben, kurzum: Vorzutragen ist die<br />

Rezension eines Buches. Unsere Rezensenten sind völlig frei in <strong>de</strong>r Wahl <strong>de</strong>s Buches. Wer heute<br />

gewinnt, tritt beim nächsten Mal gegen einen weiteren Rezensenten an. Na ja, uns so weiter. Den<br />

Anfang machen Insasse Willi <strong>und</strong> Insasse Hardi. Willi wird beginnen. Bitte!<br />

Willi: Danke! Also: Ein überraschen<strong>de</strong>s Spiel <strong>de</strong>r Gegensätze ist es, durch das <strong>de</strong>r neue Roman von<br />

Jean-François <strong>de</strong> Colza « Der Schloßherr von Castets en Dorthe » seine lebhafte Wirkung erzielt.<br />

Vom Totenbett eines Kin<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>ssen Verschei<strong>de</strong>n das jähe Zerreissen eines jungen Eheb<strong>und</strong>es im<br />

unmittelbaren Gefolge hat, aus <strong>de</strong>m lärmen<strong>de</strong>n Getriebe <strong>de</strong>r Weltstadt an <strong>de</strong>r Seine, <strong>de</strong>ren trübe<br />

bräunlich fluten<strong>de</strong> Wogen sich über so manchem <strong>und</strong>urchdringlich erscheinen<strong>de</strong>n Geheimnis<br />

dahinwälzen, gelangen wir in das idyllische Besitztum eines französichen Großgr<strong>und</strong>herren, sehen<br />

dort unter täuschend durchgeführter Maske das schöne, herzlose Weib auftauchen, <strong>de</strong>ren eisige<br />

Schroffheit uns in <strong>de</strong>n ersten, mit scharfen Strichen gezeichneten Szenen <strong>de</strong>s Romans kalt<br />

durchschauert hat. Wir sehen sie ein schlau abgekartetes Spiel mit feiner Berechung <strong>und</strong><br />

anscheinend unfehlbarer Überlegenheit Schritt vor Schritt <strong>de</strong>m vorgeplanten Ziel entgegenführen –<br />

einem Ziel, das ihre Erhöhung <strong>und</strong> die Nie<strong>de</strong>rlage, <strong>de</strong>n bitteren Herzenskummer ihrer unendlich<br />

viel e<strong>de</strong>lmütigeren Umgebung be<strong>de</strong>utet. Wir sehen sie schließlich dieses Ziel erreichen, sehen sie<br />

mit stolzer, lächeln<strong>de</strong>r Miene triumphieren – bis an ihre Sohlen sich das Verhängnis heftet in


Gestalt ihrer fluchbela<strong>de</strong>nen Vergangenheit, die sie längst in <strong>de</strong>n Ozean tiefsten Vergessens<br />

hinabgeschwemmt wähnt. Mit sicherem Stift gezeichnet, nehmen diese wechseln<strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>r unsere<br />

ganze Aufmerksamkeit gefangen, <strong>und</strong> diese gediegene Gr<strong>und</strong>ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>s Romans leistet <strong>de</strong>m<br />

ethischen Gefühl ebenso sehr Genüge wie seine blen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Durchführung <strong>de</strong>m augenblicklichen<br />

Interesse. – Vielen Dank!<br />

Jean-François: Willi, ich danke Dir! Das war so nicht vorgesehen, daß unsere neue<br />

Unterhaltungsreihe ausgerechnet sozusagen mit mir beginnt. Ich fühle mich geschmeichelt. Fahren<br />

wir fort. Gegen Insasse Willi mit seiner Rezension meines jüngsten Buches tritt nun Insasse Hardi<br />

mit seiner Rezension an. Hardi, bitte!<br />

Hardi: Jean-François, so leid es mit tut, meine Wahl ist nicht auf eines Deiner Bücher gefallen. Du<br />

wirst es verkraften. Ich beginne: Ein scharfer Denker <strong>und</strong> eine scharf ausgeprägte Individualitaet<br />

treten uns, wie in allen Werken Willi Wischers, so auch in <strong>de</strong>n Essays entgegen, die unter <strong>de</strong>r<br />

Aufschrift « Rechner <strong>und</strong> Aborte » in einem ansehnlichen Band vereinigt sind. Es sind Aufsätze,<br />

die früher verstreut in verschie<strong>de</strong>nen Zeitschriften erschienen, Re<strong>de</strong>n, die Wischer bei<br />

außeror<strong>de</strong>ntlichen Anlässen gehalten, Aphorismen, die sich in seinen maschinenschriftlichen<br />

Aufzeichnungen handschriftlich eingestreut fan<strong>de</strong>n. Alles atmet <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s großen Denkers, <strong>de</strong>r<br />

sich selten ins Abstrakte verliert, son<strong>de</strong>rn schon durch die anschauliche, faßbare Gestalt, in <strong>de</strong>r er<br />

die Ergebnisse seines philosophischen Nach<strong>de</strong>nkens vor uns treten läßt, auch <strong>de</strong>n Poeten bek<strong>und</strong>ete,<br />

als welcher er uns namhafte eigene Schöpfungen angedient hat. Wie <strong>de</strong>r Dichter <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Gelehrte,<br />

<strong>de</strong>r Schaffen<strong>de</strong> <strong>und</strong> Beurteilen<strong>de</strong> in ihm streiten, <strong>und</strong> bald die eine, bald die an<strong>de</strong>re Seite seines<br />

Wesens sich in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgr<strong>und</strong> stellt, darüber gewähren einige <strong>de</strong>r hier zum erstenmal<br />

abgedruckten Aphorismen interessanten Aufschluß. Kleine Kostprobe gefällig: « Wer voraussagt,<br />

sieht nicht, was auf ihn zukommt. Es besetzt die Zukunft mit Auskunft, damit es keine Zukunft<br />

geben. » Eine umfangreiche Ergänzung fin<strong>de</strong>n sie in <strong>de</strong>m an Geistesschätzen reichen « Tagebuch »<br />

<strong>de</strong>s originellen Essays « Viehzucht », das <strong>de</strong>r Verfasser aus <strong>de</strong>mselben Manuskript schöpfte, <strong>de</strong>m<br />

auch die Aphorismen entnommen sind. – Das war's. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Jean-François: Wir sind also unter uns geblieben, wenn ich das so sagen darf. Wer hätte das<br />

gedacht! Ich bin gespannt, wie das weitergehen wird. Heute aber, bevor wir zum Wein übergehen,<br />

stimmen wir erstmal <strong>und</strong> zum ersten Mal ab. Wer hat die bessere Rezension verfasst? Willi? O<strong>de</strong>r<br />

Hardi?<br />

103<br />

Rambo: Ich habe von Jean-François ein Manuskript zur Durchsicht erhalten. Ich weiß gar nicht, was<br />

ich davon halten soll. Er sagt, er möchte es gern im Rahmen <strong>de</strong>r Bielefel<strong>de</strong>r Kamingespräche<br />

vorstellen, ist sich aber nicht sicher, ob er es sich leisten kann, ein drittes Mal aus Unserer Frauen<br />

Leben zu lesen. Die erste <strong>und</strong> wohl auch die zweite Seance sollen bereits ein wenig zwiespältig<br />

aufgenommen wor<strong>de</strong>n sein.<br />

Eva-Maria: Das kann man so o<strong>de</strong>r so sehen.<br />

Rambo: Na, je<strong>de</strong>nfalls knüpft er an seine Ausführungen zur Koketterie an, was die ganze Sache<br />

natürlich reizvoll macht.<br />

Eva-Maria: Wie das?<br />

Rambo: Jean-François hat sich ganz offenbar mit Typen beschäftigt, mit Frauentypen.


Eva-Maria: Ach nee ...<br />

Rambo: Ich weiß, laß gut sein. – Was diese seine Arbeit so interessant macht, ist die – wenn man so<br />

will – Eröffnung. Er beginnt mit amerikanischen Frauentypen.<br />

Eva-Maria: Unglaublich! Jean-François kennt doch gar keine Amerikanerinnen! O<strong>de</strong>r vielleicht<br />

doch? Und ich weiß nur nichts davon?<br />

Rambo: Das ist noch nicht alles. Das erste Kapitel lautet Die Kokette.<br />

Eva-Maria: Ob sich dafür ein Verlag fin<strong>de</strong>n läßt? Reich' mir das Manuskript doch einmal rüber.<br />

(Liest.) « Eine allerliebst, kleine Brünette, diese Miss Daisy; schlank, zierlich, leichtfüßig wie die<br />

Antilope <strong>de</strong>r Prärie, leichtherzig wie <strong>de</strong>r schillern<strong>de</strong> Kolibri im Kelch <strong>de</strong>r Schwertlilie. Wenn sie<br />

lacht – <strong>und</strong> sie tut nichts lieber – klingt es wie Glockenblumenläuten, <strong>und</strong> zwei Reihen niedlicher,<br />

spitzer Zähnchen blitzen dann herausfor<strong>de</strong>rnd zwischen <strong>de</strong>n blühen<strong>de</strong>n Schmolllippen hervor. »<br />

Mein Gott, mir wird schlecht.<br />

Rambo: Wird noch besser. Nur Mut, lies nur weiter.<br />

Eva-Maria (liest): « Ihre Augen sind ein paar dunkle Gluten, die sprühen<strong>de</strong> Funken von Mutwillen,<br />

Lebenslust <strong>und</strong> Schelmerei entsen<strong>de</strong>n. Ihre Re<strong>de</strong> ist Schwalbengeschwitzer, <strong>und</strong> ihre Händchen<br />

gleichen weichen Katzenpfötchen – geschaffen zu streicheln <strong>und</strong> zu kratzen. Bei<strong>de</strong>s tut sie nach<br />

Belieben; immer lachend, immer anmutig. Ihre Füße sind so klein, daß einer ihrer Verehrer, <strong>de</strong>m<br />

die Gunst zu teil wur<strong>de</strong>, ihr die Gummischuhe über die Goldkäferstiefelchen zu ziehen, behauptete,<br />

diese wären so winzig, daß man Mühe hätte, sie mit bloßem Auge zu fin<strong>de</strong>n. » Kaum auszuhalten,<br />

fin<strong>de</strong>st Du nicht auch, Rambo?<br />

Rambo: Halt Dir immer vor Augen, wer das geschrieben hat. Dann geht's besser runter.<br />

Eva-Maria: Ich versuch's. (Liest.) « Ihr Gang ist <strong>de</strong>r Tanz einer Elfe, ihre ganze Gestalt ein<br />

konzentriertes Flattern <strong>und</strong> Schweben. » Nee, das reicht für heute.<br />

Rambo: Wie Du meinst. Kannst das Manuskript mit nach Haus nehmen. Ich bräuchte es nur in <strong>de</strong>n<br />

nächsten Tagen zurück. Jean-François will eine baldige Einschätzung von mir.<br />

*<br />

Eva-Maria (liest): « Daisy ist die jüngste Tocher eines Rechtsanwalts in Baltimore, <strong>de</strong>r nicht reich<br />

ist, aber in guten Verhältnissen lebt. Ihr Vater <strong>und</strong> ihre Geschwister verhätscheln sie; die übrige<br />

Welt verzieht sie. In ihrer Kleidung ist sie etwas nachlässig ... » – Ja, das mag mein Jean-François<br />

nur zu gern! – « ... das steht ihr jedoch so vorteilhaft, daß man geneigt ist, es für eine ihrer vielen<br />

Koketterien zu halten. » – Ist klar. – « Sie folgt darum mehr ihrem eigenen Geschmack als <strong>de</strong>r<br />

Mo<strong>de</strong>, fällt daher stets ins Auge, ist immer hübsch, immer reizend <strong>und</strong> – begehrlich. » – Jean-<br />

François, Jean-François. Wo führt das noch hin?! – « In je<strong>de</strong>r Gesellschaft, wo nicht getanzt wird,<br />

langweilt sich Miss Daisy zum Sterben; nur wo sie zwanglos mit jungen Leuten schwatzen <strong>und</strong><br />

liebäugeln kann, unterhält sie sich; sie zieht kleine, lustige Tanzkränzchen <strong>und</strong> Gartenpartien<br />

großen Gesellschaften vor. Da sie nicht imstan<strong>de</strong> ist, sich an einem allgemeinen Gespräch zu<br />

beteiligen, fin<strong>de</strong>t sie stets jemand, <strong>de</strong>r sich beson<strong>de</strong>rs für sie interessiert, mit <strong>de</strong>m sie nach<br />

Herzenslust flirtet. Von Musik <strong>und</strong> an<strong>de</strong>ren Künsten – ausgenommen Tanzkunst – versteht sie<br />

nichts; Konzerte sind die einzigen Fein<strong>de</strong> ihrer robusten Ges<strong>und</strong>heit, sie verursachen ihr Migräne. »<br />

– Nee, Jean-François, das ist weit unter Niveau, auch weit unter Deinem Niveau. Aber ich wer<strong>de</strong> sie<br />

nicht genießen, die Blamage, wenn <strong>de</strong>r Text erst einmal veröffentlicht ist.


*<br />

Eva-Maria (liest): « Ihre Sommererholung sind die Seashore Flirtations am Strand <strong>de</strong>r Isle of<br />

Shoals, wo es von Stu<strong>de</strong>nten, jungen Rechtsgelehrten, Kandidaten <strong>de</strong>r Theologie <strong>und</strong><br />

Kaufmannssöhnen nur so wimmelt. Vormittags sammelt sie dort mit <strong>de</strong>m einen Muscheln, nach<br />

<strong>de</strong>m Luncheon fährt sie mit einem an<strong>de</strong>ren Kahn, vor <strong>de</strong>m Dinner macht sie mit einem Dritten eine<br />

Bergpartie, <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Abends – wenn nicht getanzt wird – schwelgt sie unter <strong>de</strong>m Schutz eines<br />

weiteren jungen Mannes in Natur – mit Mondschein <strong>und</strong> Wellenschlag. Ein Glück, daß in Amerika,<br />

insbeson<strong>de</strong>re auf <strong>de</strong>r Felseninsel, das Duell außer Gebrauch ist! Die süße Miss Daisy wür<strong>de</strong> sich<br />

sonst nächtens im Blut ihrer zu Dutzen<strong>de</strong>n gerechneten Anbeter ba<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r Zahl sich zweifellos auf<br />

<strong>de</strong>n überleben<strong>de</strong>n besten Schläger o<strong>de</strong>r Schützen reduziert hätte. Wie die Verhältnisse jedoch<br />

liegen, leben jene ziemlich friedfertig nebeneinan<strong>de</strong>r, bis auf zwei o<strong>de</strong>r drei <strong>de</strong>r unerfahrensten,<br />

darunter Mr. Fuller, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m kleinen Dämon aus Baltimore rettungslos verfallen ist. Im<br />

Durchschnitt urteilen die jungen Gentlemen unter sich völlig unbefangen über <strong>de</strong>n Schwerpunkt<br />

ihrer Neigung. Ein Flirt ersten Ranges! Man muß sich vor ihr in acht nehmen! bemerkt Mr. Brown,<br />

<strong>de</strong>r kahnfahren<strong>de</strong> Ritter. Aber ein verteuf ... niedliches Geschöpf! meint <strong>de</strong>r muschelsammeln<strong>de</strong>.<br />

Mit was für einer Keckheit sie die Unschuldige spielt. Wie à propos ihr <strong>de</strong>r Knopf ihrer Bluse<br />

aufgeht! Well! Es lohnt sich <strong>de</strong>r Mühe, sie ihr wie<strong>de</strong>r zuzuknöpfen, urteilt <strong>de</strong>r bergerklettern<strong>de</strong>. Von<br />

Herz keine Spur! ruft einer <strong>de</strong>r weniger Beteiligten aus. Da irrst Du, Fre<strong>und</strong>! entgegnet ein an<strong>de</strong>rer;<br />

sie hats im Überfluß <strong>und</strong> gibt sich redlich Mühe, alles an <strong>de</strong>n Mann zu bringen! » – Fehlt jetzt nur<br />

noch, daß er von ihren viel zu großen Ohren angefängt, relativ gesehen, versteht sich. – « Mr.<br />

Fuller, <strong>de</strong>r sanfte, geistliche Naturschwärmer, bleibt stumm, wenn von Miss Daisy die Re<strong>de</strong> ist. Er<br />

liebt sie bis zum Wahnsinn. Wenn sie wüßte, welch ein Vulkan in <strong>de</strong>r Brust <strong>de</strong>s jungen Mannes<br />

tobt, wür<strong>de</strong> sie vielleicht die gefährlichen Mondscheinspaziergänge mit ihm vermei<strong>de</strong>n. Doch nein!<br />

Sie amüsiert sich zu gern ... » – Den Rest hebe ich mir für später auf. Mensch, Jean-François, auf<br />

welchen H<strong>und</strong> bist Du gekommen?<br />

Eingebetteter Exkurs<br />

Petite annonce parue dans la presse en ces termes: « Jeune Noire cherche compagnon. Origine<br />

ethnique sans importance. Je suis belle et j'adore m'amuser. Je raffole <strong>de</strong>s gran<strong>de</strong>s promena<strong>de</strong>s dans<br />

les bois, <strong>de</strong> bala<strong>de</strong>s en 4x4, <strong>de</strong> chasse, <strong>de</strong> camping, <strong>de</strong> sorties <strong>de</strong> pêche et <strong>de</strong> soirées ou je suis<br />

confortablement allongée auprès du feu. Je serai à votre porte quand vous rentrerez du travail, ne<br />

portant sur moi que ce que la nature m'a donné. Embrassez-moi et je suis à vous. Composez le (404)<br />

875-6429 et <strong>de</strong>man<strong>de</strong>z Daisy. » Plus <strong>de</strong> 15000 hommes ont répondu à cette annonce et ont<br />

découvert qu'ils avaient appelé la SPA au sujet d'une chienne Labrador <strong>de</strong> huit semaines... Bravo les<br />

mecs!<br />

Eva-Maria: Ich bin noch nicht am En<strong>de</strong> angelangt.<br />

Rambo: Macht nichts. Das Geschreibsel muß man sich langsam auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen lassen!<br />

*<br />

Eva-Maria: Okay, ich beeile mich. (Liest.) « Ihre Opfer interessieren sie nur gelegentlich, <strong>und</strong> zwar,<br />

wenn sie im Sterben liegen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e beschäftigt sie sich noch bei Mondschein mit Mr.<br />

Fuller; er win<strong>de</strong>t sich bereits in To<strong>de</strong>squalen, zappelt wie das veren<strong>de</strong>te Fischlein mit <strong>de</strong>m<br />

Angelhaken in <strong>de</strong>r Kehle, macht je<strong>de</strong> Folterskala einer unerhörten Liebe durch; kaltblütig sticht <strong>und</strong><br />

brennt, zerfleischt, zerlegt, zerhackt die hol<strong>de</strong> Daisy <strong>de</strong>n Unglücklichen mit je<strong>de</strong>m Blick ihrer<br />

Feueraugen, je<strong>de</strong>m Druck ihres Katzenpfötchens, je<strong>de</strong>m Wort aus ihrem M<strong>und</strong>e, <strong>de</strong>r stets wie<strong>de</strong>r<br />

versagt, was ihr Lächeln verspricht. Den Stoß, welcher ihm <strong>de</strong>n Garaus macht, versetzt sie ihm


endlich eines Sonntags, als er vom Gottesdienst heimkehrt, wo er zu seiner Pein Miss Daisy in <strong>de</strong>r<br />

Schar seiner Andächtigen vermißte. Er fin<strong>de</strong>t sie, wo sein Herz ihn hinführt, auf <strong>de</strong>m Fels im Meer,<br />

wo noch gestern abend <strong>de</strong>r Mond mit ihnen liebäugelte. Da sitzt sie, vom Sonnenschein umflossen<br />

– im Arm eines jungen Mannes, <strong>de</strong>r Mr. Fuller gänzlich fremd ist. Mein Verlobter, Mr. James<br />

Mason aus Brooklyn! – Unser Pastor, Mr. Fuller! macht sie mit <strong>de</strong>r süßesten Blumenmiene die<br />

bei<strong>de</strong>n Gentlemen bekannt. Dann schmiegt sie das lächeln<strong>de</strong>, jungfräulich erglühen<strong>de</strong> Gesichtchen<br />

an die Schulter <strong>de</strong>s glücklichen James, sieht <strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n letzten Zügen liegen<strong>de</strong>n jungen Geistlichen<br />

zärtlich an <strong>und</strong> flüstert: Ist mein James nicht ein netter Junge, Mr. Fuller? »<br />

*<br />

Eva-Maria (liest): « Sie ist eine entzücken<strong>de</strong> kleine Frau gewor<strong>de</strong>n, die süße Miss Daisy! Ihren<br />

James, ihre komfortable Häuslichkeit, ihre kleinen Dinners <strong>und</strong> Abendgesellschaften, ja, auch ihr<br />

kleines Mädchenbaby – liebt sie nach Kräften. Sie fin<strong>de</strong>t das Leben angenehm, nur hin <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r<br />

etwas langweilig. Wenn ihre Zeit es erlaubt, beschäftigt sie sich gern mit nützlichen Dingen;<br />

gegenwärtig nimmt sie französischen Unterricht bei einem Pariser Monsieur, <strong>de</strong>r sehr weiße<br />

Wäsche trägt <strong>und</strong> sich die Fingernägel sorgfältig putzt. James fin<strong>de</strong>t, daß die französichen St<strong>und</strong>en<br />

lang, wie eine kleine Ewigkeit, dauern, <strong>und</strong> wünscht, daß <strong>de</strong>r Monsieur nicht zu seinen<br />

Abendgesellschaften gela<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>. Aber – ce que femme veut, Dieu veut! – Monsieur erscheint<br />

<strong>und</strong> sticht sämtliche Anwesen<strong>de</strong>n durch die glänzen<strong>de</strong> Weiße seiner Pariser Oberhem<strong>de</strong>n aus.<br />

Liebling Daisy, sagt James, in<strong>de</strong>m er mit einem bleichen jungen Mann am Arm zu seiner Frau<br />

herantritt, die wie ein Schmetterling zwischen ihren Gästen hin <strong>und</strong> her flattert <strong>und</strong> alle<br />

überflimmert, ich bringe Dir einen alten Bekannten, unseren neuen Hilfsprediger, Mr. Fuller. Daisy<br />

reißt die Augen weit auf; dann schütteln sie sich kräftig die Hän<strong>de</strong>. Von nun an fallen Mrs. Masons<br />

Unterrichtsst<strong>und</strong>en oft aus. Monsieur ist in Verzweiflung. Daisy lacht ihn aus <strong>und</strong> schickt ihm eines<br />

Tages sein Honorar mit <strong>de</strong>m Bemerken, daß ihre vielseitigen Pflichten als Hausfrau <strong>und</strong> Mutter es<br />

ihr nicht länger gestatteten, das interessante Studium <strong>de</strong>r französischen Sprache fortzusetzen. James<br />

bemerkt, daß seine Frau eine entschie<strong>de</strong>n religiöse Richtung einschlägt; sie verfehlt kein kirchliches<br />

Abendmeeting <strong>und</strong> macht unter <strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>s jungen Hilfspredigers Kranken- <strong>und</strong><br />

Wohltätigkeitsbesuche. Plötzlich ... »<br />

Rambo: Eva-Maria, hast Du <strong>de</strong>n Text immer noch nicht durchgelesen?<br />

Eva-Maria: Gib mir noch ein bißchen Zeit, bitte.<br />

Rambo: Na gut, aber beeile Dich bitte, Jean-François wartet.<br />

Eva-Maria (liest): « Plötzlich ein Blitz aus heiterem Himmel: ein großes Falliment. Die ganze Stadt<br />

ist in Aufregung, Mr. James Mason ein ruinierter Mann. Wie wird seine süße Daisy <strong>de</strong>n Schlag<br />

hinnehmen? Keine Ohnmacht? Keine Jammerszene? Nein, sie hat ein starkes, kleines Herz. –<br />

Armer Mann, was weißt du von Daisys Herzen? Mit verstörter Miene kommt James nach Hause.<br />

Wo ist meine Frau? – Ausgegangen, Sir. Wahrscheinlich zu einem Kranken! gibt die gutmütig<br />

grinsen<strong>de</strong> Köchin zur Antwort. Sie läßt zuweilen <strong>de</strong>n Braten anbrennen, um in die Nurcery zu eilen,<br />

wo die kleine Miss Mason, um die sich sonst niemand viel kümmert, in <strong>de</strong>r Wiege schreit. Allein?<br />

fragt James kurz. Yes, Sir! Unruhig geht James lange in <strong>de</strong>m großen Drawingroom auf <strong>und</strong> nie<strong>de</strong>r.<br />

Endlich wird er zu Tisch gebeten. Ist meine Frau zurück? fragt er die im Speisesaal aufwarten<strong>de</strong><br />

Magd. Glaube wohl, Sir. Es ist ja über sechs Uhr. James begibt sich in die Kin<strong>de</strong>rstube: das Baby<br />

schläft, niemand ist bei ihm; in das Boudoir seiner Frau: leer; das Schlafzimmer: alles still! Daisy!<br />

Daisy! Keine Antwort. Vielleicht wartet sie schon im Speisezimmer? Nein, ihr Platz ist unbesetzt.<br />

Da – die Türglocke. Das muß sie sein! Eine eigene Beklemmung in <strong>de</strong>r Brust, steht James <strong>und</strong><br />

wartet. Ein Brief! – Wer hat ihn gebracht? – Ein Botendienst. Antwort nicht nötig. James öffnet <strong>und</strong><br />

liest das Briefchen. Er wird glühend rot, krei<strong>de</strong>weiß, er greift nach einer Stuhllehne. Dann knittert


er das Papierchen in <strong>de</strong>r Hand zusammen <strong>und</strong> geht mit schleppen<strong>de</strong>m Schritt in sein Arbeitskabinet.<br />

Es ist noch dunkel. Er schaltet das Licht auf seinem Schreibtisch an. Vorsichtig zieht er ein<br />

Schubfach auf <strong>und</strong> kramt darin. Er hat's gef<strong>und</strong>en. Einen Revolver. Er ist nicht gela<strong>de</strong>n – das wird<br />

bald getan sein. Nun spannt er <strong>de</strong>n Hahn. Draußen wird Kin<strong>de</strong>rgeschrei laut: das Baby ist<br />

aufgewacht. Wer wird sich seiner erbarmen? James horcht – bis alles wie<strong>de</strong>r still ist. Dann zielt er<br />

auf seine Stirn <strong>und</strong> drückt ab <strong>und</strong> – schlägt mit zerschmettertem Schä<strong>de</strong>l zu Bo<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r<br />

Brusttasche <strong>de</strong>s Toten fin<strong>de</strong>t man unter an<strong>de</strong>rem ein zerknittertes Papier von zierlicher Frauenhand:<br />

Lieber James! Nimm es mir nicht übel, daß ich Dich ohne je<strong>de</strong> Vorbereitung verlasse. Ich gehe mit<br />

Mr. Fuller nach <strong>de</strong>m Sü<strong>de</strong>n. Er kann nicht ohne mich leben, Du aber bist ein vernünftiger Mann <strong>und</strong><br />

wirst Dich nicht unnütz über <strong>de</strong>n Lauf <strong>de</strong>r Dinge grämen. Be<strong>de</strong>nke, daß mein Lebensglück auf <strong>de</strong>m<br />

Spiele steht, <strong>de</strong>nn Fuller <strong>und</strong> ich haben eine Lei<strong>de</strong>nschaft füreinan<strong>de</strong>r. Grüße unser herziges Baby<br />

<strong>und</strong> zürne nicht Deiner kleinen Daisy. »<br />

Rambo: Da fällt Dir nichts mehr ein, o<strong>de</strong>r?<br />

Eva-Maria: Nee. Das war's dann wohl endgültig. Wie wohl seine Neue, wie heißt sie noch gleich...<br />

Rambo: Sehnaz.<br />

Eva-Maria: Von mir aus. Wie wohl Sehnaz mit einem Mann, <strong>de</strong>r einen solchen Schwachsinn zu<br />

Papier bringt, zurechtkommt?<br />

104<br />

Jean-François: Lange nicht gesehen. Wie gehts, wie stehts?<br />

Sonja: Alles prima. Nur Carlo bereitet mir Sorgen.<br />

Jean-François: Was hast Du <strong>de</strong>nn mit <strong>de</strong>m noch am Hut?<br />

Sonja: Wir haben uns einmal geliebt. Das kann <strong>und</strong> will ich nicht vergessen.<br />

Jean-François: Dann muß ich Dir ja unauslöschlich in Erinnerung bleiben.<br />

Sonja: Carlo aber möchte ich nicht verlieren.<br />

Jean-François: Schon gut. Was ist <strong>de</strong>nn mir Carlo? Langweilt ihn das Theater inzwischen? Könnt'<br />

ich gut verstehen. Und wieso überhaupt Carlo? Er heißt doch seit einiger Zeit Manfred.<br />

Sonja: Ja, aber er möchte, so verstehe ich ihn, kein Manfred mehr sein.<br />

Jean-François: Sollen wir ihn <strong>de</strong>mnächst Wanja nennen?<br />

Sonja: Nun mach' ihn mal nicht gleich zum Deppen. Nein, er hat <strong>de</strong>n Naturschwärmer in sich<br />

ent<strong>de</strong>ckt.<br />

Jean-François: Weißt Du mehr? Das könnte für eine Story reichen.<br />

Sonja: Er ist <strong>de</strong>r Überzeugung, daß die Poesie <strong>de</strong>s Wal<strong>de</strong>s nicht nur lyrischen Dichtern, nicht nur<br />

<strong>de</strong>n Erzählern, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>n Theaterleuten einen unerschöpflichen Stoff bietet, er glaubt, daß<br />

auch <strong>de</strong>m Schauspieler die flüstern<strong>de</strong>n Zweige immer neue Geschichten zuraunen.


Jean-François: Zuraunen? Hat Carlo wirklich « zuraunen » gesagt?<br />

Sonja: Ja, ich hab's mir gemerkt. Kam mir seltsam vor.<br />

Jean-François: Seltsam? Wie auch immer, je<strong>de</strong>nfalls läßt seine Wortwahl auf nichts Gutes<br />

schließen. Erzähl' weiter!<br />

Sonja: Gern. Er glaubt, daß er sich als Naturschwärmer beobachtend in das Leben <strong>de</strong>r vierfüßigen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r gefie<strong>de</strong>rten Bewohner <strong>de</strong>s Forstes versenken kann ...<br />

Jean-François: ... um besser in die Rolle eines Wildschweins schlüpfen zu können ...?<br />

Sonja: Carlo geht davon aus, daß je<strong>de</strong>r Baum, je<strong>de</strong>r Strauch, je<strong>de</strong> Welle, die über blinken<strong>de</strong> Kiesel<br />

dahinrauscht individuelles Leben gewinnt.<br />

Jean-François: O dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck!<br />

Sonja: Genau, Carlo ist sich nämlich nicht sicher. Womöglich kämpft er in seinem Innern mit <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Seite seines Ichs, mit <strong>de</strong>m markigen Realisten, <strong>de</strong>r mit Vorliebe da eintritt, wo <strong>de</strong>r wackere<br />

Förster haust, <strong>und</strong> <strong>de</strong>n wettergebräunten Mann bei seinen Streifzügen durch das grüne Revier<br />

begleitet; <strong>de</strong>r ihn bei seinen stillen Herzensergüssen ...<br />

Jean-François: Sonja, lass' gut sein!<br />

Sonja: ... auf einsamer Wan<strong>de</strong>rung wie bei seinen heftigen, nicht selten blutigen Zusammenstößen<br />

mit Waldfrevlern <strong>und</strong> Wilddieben belauscht.<br />

Jean-François: Hoffentlich besinnt sich Carlo noch rechtzeitig auf seine terroristische<br />

Vergangenheit <strong>und</strong> bleibt insofern Traditionalist. Manfred ist mir wahrlich lieber als so ein<br />

Naturbursche!<br />

Sonja: Geh' doch nicht so hart mit ihm ins Gericht. Er ist ein Suchen<strong>de</strong>r – womöglich auf Dauer. Er<br />

stellt sich vor, ein Mann wie von gediegenem Erz zu sein. So ungefähr hat er sich ausgedrückt. Und<br />

Carlo sagte etwas, das fand ich so schön, daß ich mir's von ihm hab' aufschreiben lassen: « Er hat<br />

Kopf <strong>und</strong> Herz auf <strong>de</strong>m rechten Fleck, <strong>und</strong> da das letztere mit seiner ganzen Glut eine Wahl<br />

getroffen, die ihm nachgera<strong>de</strong> als eine unwürdige verdächtigt wird, muß ihm notwendigerweise <strong>de</strong>r<br />

Kampf mit <strong>de</strong>m eigenen Ich entbrennen – ein Kampf, für welchen die äußeren Stürme, die er zu<br />

bestehen hat, im Gr<strong>und</strong>e nur eine wohltätige Ablenkung bil<strong>de</strong>n. »<br />

Jean-François: Jetzt sage bloß noch, daß er sich bereits in <strong>de</strong>r Rolle sieht, wie einer aus <strong>de</strong>n<br />

Wirrsalen <strong>de</strong>r einen wie <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Art sich hervorarbeitet – mit festem Mannessinn.<br />

Sonja: Er träumt davon. Hilfst Du ihm?<br />

Jean-François: Zuerst hilfst Du mir, würd' ich sagen. Laß uns noch einmal zusammen ins Bett<br />

gehen.


105<br />

Briefe. Sonja an Jean-François: « Ich hatte gehofft, lieber Jean-François, Dich noch einmal zu<br />

sehen. Ich hätte Dir gern gesagt, daß ich immer mit guten Gedanken mich Deiner erinnere <strong>und</strong> Dir<br />

nicht nachgetragen habe, daß Du mich vergessen konntest. Es war besser so. Du schul<strong>de</strong>test Dein<br />

Leben Deiner Frau <strong>und</strong> Deiner Kunst. Ich freilich – ich habe die Jahre still auf Dich gewartet, so<br />

hoffnungslos es mir selbst erschien. Als Du nicht kamst, habe ich <strong>de</strong>m Mann meine Hand gereicht,<br />

<strong>de</strong>r trotz meiner törichten Art an mir nicht irre gewor<strong>de</strong>n war. Er hat mich so glücklich gemacht,<br />

daß es mir ein bitterer Gedanke ist, ihn jetzt verlassen zu müssen, ihn <strong>und</strong> meine bei<strong>de</strong>n lieben<br />

Jungen, <strong>de</strong>ren jüngerer Deinen Namen trägt. Ich kann nicht weiter, Du siehst, wie das Fieber meine<br />

Hand schüttelt. Lebe wohl! Ich höre, Du bist wie<strong>de</strong>r glücklich verheiratet? Deinen Ring, <strong>de</strong>n ich am<br />

Finger trug, bis ich <strong>de</strong>n Trauring daran steckte, wird mein Mann Dir zurückschicken. Er möge Dich<br />

manchmal erinnern an Deine Sonja. » (Entwurf)<br />

106<br />

Jean-François: Die letzte B<strong>und</strong>estagswahl hatte auch ihr Gutes.<br />

Eva-Maria: Da bin ich aber mal gespannt.<br />

Jean-François: Carlo ist seit<strong>de</strong>m Satiriker.<br />

Eva-Maria: Ob ihm das steht?<br />

Jean-François: Ich fin<strong>de</strong> schon. Ich bin auf eine feine Glosse gestoßen. Er hat sie Guido<br />

Westerwelle <strong>und</strong> gleich <strong>de</strong>r ganzen FDP gewidmet. Hör': « Wenn ein junger Schriftsteller zum<br />

erstenmale die Fe<strong>de</strong>r eintaucht, um ein Berliner Stimmungsbild zu schreiben, dann langt er sich<br />

unfehlbar die arme Lidl-Mitarbeiterin her, die an <strong>de</strong>r Kasse sitzt, <strong>de</strong>n ganzen Tag angeblich für<br />

einen Hungerlohn arbeitet, sich mangels Tageslicht die Augen verdirbt <strong>und</strong> allen Jammer <strong>de</strong>s<br />

Elends <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Armut zu kosten hat. Natürlich weiß aber <strong>de</strong>r sensationslustige Herr nicht, daß er<br />

damit einen fürchterlichen Unsinn behauptet, <strong>de</strong>nn diejenigen Leute, die mit sozialen<br />

Schwierigkeiten zu kämpfen haben, fin<strong>de</strong>t man am allerwenigsten dort, wo man dies glaubt, etwa<br />

unter <strong>de</strong>n Arbeitern. In Berlin hat je<strong>de</strong>rmann sein Auskommen, wenn es auch noch so beschei<strong>de</strong>n<br />

ist, sobald er nur Arbeit hat <strong>und</strong> ihm diese nicht wochenlang mangelt, <strong>und</strong> die arme Kassiererin<br />

kann mit <strong>de</strong>m, was sie verdient, zwar keine Sprünge machen wie ein Bankier, aber sie hat ihr<br />

Auskommen <strong>und</strong> braucht nicht zu darben. Sie hat sogar, ebenso wie tausend an<strong>de</strong>re fleißige Frauen,<br />

ihre Freu<strong>de</strong>n <strong>und</strong> Sonntags auch ihr Vergnügen. Die wahren Proletarier fin<strong>de</strong>t man keineswegs in<br />

Berlin unter <strong>de</strong>n Arbeitern, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>m sogenannten Mittelstand, dort, wo Stellung, Beruf,<br />

Bildungsgrad <strong>und</strong> vielleicht Verwandschaft eine gewisse Repräsentation, ein gewisses Image<br />

erfor<strong>de</strong>rn, wo gewisse Ausgaben unter allen Umstän<strong>de</strong>n gemacht wer<strong>de</strong>n müssen, während nur ein<br />

höchst beschei<strong>de</strong>nes, kleines Einkommen vorhan<strong>de</strong>n ist. Da fin<strong>de</strong>t man das wahre soziale Elend, da<br />

fin<strong>de</strong>t man einen fürchterlichen Kampf ums Dasein, ein Leben voll Entbehrungen <strong>und</strong> Entsagung,<br />

voll bitterer St<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Seelenqual. »<br />

Eva-Maria: Wenn das man nicht in die falschen Kehlen gerät.<br />

Jean-François: Und wenn schon. Besser läßt sich das Welbild dieser Partei gar nicht aushebeln.<br />

Carlo schlägt richtig zu. Soll ich ...<br />

Eva-Maria: Nein, lass' mal. Ich lese später selbst weiter. Leise.


107<br />

Sonja: Carlo schreibt jetzt.<br />

Rambo: Nee!?<br />

Sonja: Doch! Jean-François meint, Carlo schreibe gar nicht mal so schlecht. Zumin<strong>de</strong>st politisch<br />

gesehen.<br />

Rambo: Glaub' ich nicht. Was schreibt er <strong>de</strong>nn?<br />

Sonja: Hier, lies selbst.<br />

Rambo (liest): « Jan-Eric, so nennen wir <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>n dieser Skizze, hatte das Gymnasium absolviert<br />

<strong>und</strong> dann auf <strong>de</strong>r Universität wissenschaftliche Studien aller Art betrieben, insbeson<strong>de</strong>re sich mit<br />

mathematischen <strong>und</strong> naturwissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt, er hatte auch ein Staatsexamen<br />

<strong>und</strong> ein Diplom gemacht, hatte ein Probejahr als Philologe abhalten wollen, aber plötzlich gingen<br />

ihm durch <strong>de</strong>n Bankrott eines Onkels (wg. Wirtschaftskrise), in <strong>de</strong>ssen Geschäft seine wenigen<br />

Cents steckten, die letzten Hilfsmittel verloren, <strong>und</strong> er war gezwungen, irgend etwas zu ergreifen,<br />

wovon er leben konnte. Er fand eine Stellung als Hilfsmathematiker, eine diätische Stellung mit<br />

außeror<strong>de</strong>ntlich dürftigem Gehalt, aber bei seiner Sparsamkeit konnte er als Junggeselle schon<br />

davon leben. » Unser Carlo schreibt ja überraschend flüssig. Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Aber<br />

was will <strong>de</strong>r Dichter uns sagen?<br />

Sonja: Lies doch einfach erstmal weiter.<br />

Rambo (liest): « Aber gera<strong>de</strong> weil er sich zurückziehen mußte von allem Leben, von <strong>de</strong>m lustigen<br />

Treiben <strong>de</strong>r Großstadt <strong>und</strong> ihren Vergnügungen, fühlte er sich vereinsamt, sehnte er sich nach einer<br />

Lebensgenossin ... » – Lebensgenossin, tssss, aber immer noch besser als Lebenspartnerin – « ...<br />

<strong>und</strong> er brauchte nicht weit zu gehen, um eine zu fin<strong>de</strong>n. Er kannte eine liebenswürdige junge Frau<br />

schon von seiner Studienzeit her, eine vietnamesische Waise, die ebenso arm war wie er selbst, <strong>und</strong><br />

als er eines Tages mit ihr allein war, machte er ihr eine Liebeserklärung <strong>und</strong> erfuhr, daß er auch von<br />

ihr geliebt wur<strong>de</strong>. » Wie schön! Wie schön! Aber wann endlich beginnen die Qualen?<br />

Sonja: Sei nicht so ungeduldig.<br />

Rambo (liest): « Die Liebe begeisterte die bei<strong>de</strong>n unschuldigen <strong>und</strong> liebenswürdigen Leute so, daß<br />

sie vor keiner Schwierigkeit mehr zurückschreckten. Die Welt schien ihnen zu gehören, <strong>und</strong> sie<br />

beschlossen, <strong>de</strong>n Kampf ums Dasein gemeinschaftlich aufzunehmen, ohne recht zu wissen, in<br />

welchen Kampf sie gingen. » Nein, nein. Hat Jean-François nicht gemeint, es han<strong>de</strong>le sich um einen<br />

satirischen Text?<br />

Sonja: Aber <strong>de</strong>r Einstieg, <strong>de</strong>n ich Dir vorhin vorgelesen habe, <strong>de</strong>r hatte doch eine ganze Menge<br />

satirischen Impact.<br />

Rambo: Mag sein. Aber warum baut er anschließend so ab <strong>und</strong> produziert nur noch Langeweile?<br />

Ich lese weiter, vielleicht ist er doch ein guter Dramaturg. (Liest:) « Jan-Eric war außeror<strong>de</strong>ntlich<br />

fleißig in seinem Büro, er rechnete <strong>und</strong> saß am Rechner, um die statistischen Tabellen<br />

zusammenzubekommen, die <strong>de</strong>r Chef-Mathematiker <strong>de</strong>r Gesellschaft brauchte <strong>und</strong> für die jener<br />

auch außeror<strong>de</strong>ntlich honoriert wur<strong>de</strong>. Zu <strong>de</strong>m Dienst aber, <strong>de</strong>n Jan-Eric versah, konnte man je<strong>de</strong>n<br />

Stu<strong>de</strong>nten gebrauchen, <strong>de</strong>r etwas von Mathematik verstand <strong>und</strong> sich einen Nebenverdienst<br />

verschaffen wollte, <strong>und</strong> so war sein Gehalt nicht höher als zwölfh<strong>und</strong>ert Euro, als er eine feste


Stellung erhielt <strong>und</strong> nun sich durch nichts mehr vom Heiraten abhalten ließ. » Wo lebt er eigentlich,<br />

unser Carlo?<br />

Rambo: Dein Text ist ziemlich von gestern.<br />

Carlo: Wenn Du meinst.<br />

108<br />

Rambo: Du musst Dir nur selbst zuhören. Ich lese Dir aus Deinem Werk vor. « Jan-Eric wollte sich<br />

einen Nebenverdienst suchen, <strong>und</strong> ebenso seine Frau, die bis dahin Dauerpraktikantin beim RBB<br />

gewesen war. Sie erschraken zwar schon, als sie daran gingen, eine beschei<strong>de</strong>ne, kleine Wohnung<br />

zu mieten, wie hoch die Mitpreise seien, <strong>und</strong> sie fühlten sich wegen seiner Bekannten verpflichtet,<br />

eine Wohnung in einem <strong>de</strong>r besseren Stadtteile zu nehmen. Diese Wohnung allein verschlang fast<br />

ein Drittel ihrer Einnahmen, dazu die Kleidung <strong>de</strong>s Mannes, <strong>de</strong>r im Büro, wo er beständig mit <strong>de</strong>n<br />

Direktoren <strong>und</strong> obersten Vorgesetzten zu tun hatte, stets anständig erscheinen mußte; dazu kamen<br />

die Bedürfnisse <strong>de</strong>r Frau, <strong>und</strong> ein verschwin<strong>de</strong>nd kleiner Rest blieb übrig für das Leben. »<br />

Carlo: Ja, <strong>und</strong>? So ist es doch!<br />

Rambo: Na, ich weiß nicht. (Liest:) « Jan-Eric <strong>und</strong> seine Yvonne aber nahmen <strong>de</strong>n Kampf mit <strong>de</strong>n<br />

Verhältnissen mutig auf. Sie waren allein, sie richteten sich ein, so gut <strong>und</strong> so schlecht es ging. Sie<br />

brauchten nicht zu hungern, sie hatten es auch nicht nötig, Schul<strong>de</strong>n zu machen, sie kamen aber<br />

auch nur gera<strong>de</strong> durch. Sie mußten nicht nur je<strong>de</strong>n Cent, <strong>de</strong>n sie ausgaben, dreimal umdrehen,<br />

son<strong>de</strong>rn die kompliziertesten <strong>und</strong> schwierigsten Rechnungen aufstellten, um überhaupt je<strong>de</strong>n Cent<br />

herauszurechnen, <strong>de</strong>r notwendig war, <strong>und</strong> vom Leben hatten sie nichts, absolut nichts, als das<br />

Gefühl, alle Tage gesättigt zu sein <strong>und</strong> ein Dach ueber <strong>de</strong>m Kopf zu haben. » Carlo, Du bist<br />

obendrein ein Schwätzer!<br />

Carlo: Na na, werd' mal nicht ungerecht. Der Text wird zur Veröffentlichung gelangen, <strong>de</strong>r erste<br />

Teil ist bereits heraus, <strong>und</strong> viele Leute wer<strong>de</strong>n ihn lesen. Warten wir ihr Urteil doch ab.<br />

Rambo: Warten wir's ab.<br />

Sonja: Hör', wie nett unser Carlo schreibt.<br />

109<br />

Eva-Maria: Jetzt Du auch noch. Ich muß mir bereits die ganze Zeit anhören, daß Carlo wohl endlich<br />

seine wahre Berufung gef<strong>und</strong>en hat. Aber gut, leg' los.<br />

Sonja: « Welche Ironie klang nicht aus <strong>de</strong>n Briefen heraus, die Yvonne manchmal von ihren<br />

Fre<strong>und</strong>innen in <strong>de</strong>r Provinz erhielt <strong>und</strong> die ihr schrieben: Welch angenehmes Leben mußt Du doch<br />

in <strong>de</strong>m prächtigen Berlin führen! Wer es doch so gut hätte wie Du! Aber für Jan-Eric <strong>und</strong> Yvonne<br />

gab es nichts von diesem Berliner Leben, alle Vergnügungen, vom höchsten bis zum letzten,<br />

existierten für sie nicht, <strong>de</strong>nn sie kosten Geld, <strong>und</strong> die Eheleute hatten kein Geld für Vergnügungen<br />

aufzuwen<strong>de</strong>n. Sie konnten höchsten die Vergnügungen, die es gab, im Geist mitgenießen, wenn sie<br />

von ihnen in <strong>de</strong>r Zeitung lasen, die ihnen gegen billiges Geld <strong>de</strong>s Morgens ins Haus gebracht<br />

wur<strong>de</strong>. Sie mußten an Schaufenstern vorübergehen, in <strong>de</strong>nen die verführerischsten Bücher, die<br />

verlockendsten Köstlichkeiten <strong>und</strong> tausend Kleinigkeiten <strong>de</strong>r weiblichen Mo<strong>de</strong> aufgestapelt waren.


Alle diese glänzen<strong>de</strong>n, in Farbenpracht, Beleuchtung <strong>und</strong> schönem Inhalt strahlen<strong>de</strong>n Schaufenster<br />

waren we<strong>de</strong>r für ihn noch für sie vorhan<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> ihr Betrachten weckte höchstens bittere Gefühle<br />

<strong>und</strong> Wünsche, die ja doch nicht befriedigt wer<strong>de</strong>n konnten. »<br />

Eva-Maria: Kitsch, reinster Kitsch. Ich weiß gar nicht, weshalb Jean-François so begeistert ist von<br />

<strong>de</strong>m Text. Und wieso die ganze Berliner Szene nichts besseres zu tun hat, als sich mit Carlos<br />

Auslassungen zu befassen. Ist mir völlig raetselhaft.<br />

Sonja: Wieso haben so viele Leute FDP gewählt!?<br />

Eva-Maria: Das wird es sein ...<br />

Sonja: Eben. Wenn Du mir noch ein bißchen zuhörst, wirst Du schon dahinterkommen.<br />

Eva-Maria: Aber heute nicht mehr.<br />

110<br />

Carlo: Eva-Maria meint, das sei alles Kitsch, was ich zu Papier bringe.<br />

Rambo: Vielleicht hat sie recht. Aber wäre das schlimm?<br />

Carlo: Ja! Ich möchte ernstgenommen wer<strong>de</strong>n, als Autor, als Satiriker, als Gesellschaftskritiker. Ist<br />

das <strong>de</strong>nn wirklich Kitsch: « Dabei hatten sie noch gesellschaftliche Verpflichtungen, schon um <strong>de</strong>r<br />

Verwandschaft Yvonnes willen. Sie mußten hin <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r Gäste bei sich sehen, sie mußten auch<br />

Gesellschaften besuchen, <strong>und</strong> die entsprechen<strong>de</strong>n Ausgaben wären nicht zu erschwingen gewesen,<br />

wenn Yvonne nicht Tag <strong>und</strong> Nacht gearbeitet hätte. Sie machte die Buchhaltung für verschie<strong>de</strong>ne<br />

Tankstellen <strong>und</strong> erhielt dafür einen lächerlichen Lohn, weil ja lei<strong>de</strong>r von wohlhaben<strong>de</strong>ren Damen<br />

<strong>de</strong>n armen Frauen wie Yvonne das Brot dadurch geschmälert wird, daß diese Damen für <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>nkbar billigsten Preis arbeiten, nur um eine Beschäftigung zu haben <strong>und</strong> sich eine Kleinigkeit<br />

Taschengeld zu verschaffen. All diese Damen in guten Verhältnissen glauben W<strong>und</strong>er zu tun, wenn<br />

sie für Geld arbeiten, sie kommen sich unendlich stolz <strong>und</strong> erhaben vor <strong>und</strong> be<strong>de</strong>nken nicht, daß sie,<br />

die auf die Arbeit nicht angewiesen sind, die Preise drücken <strong>und</strong> dadurch die armen<br />

Geschlechtsgenossinnen unglücklich machen, die aus bitterster Not zur Arbeit gezwungen sind. »<br />

Rambo: Armer Irrer. Aber als Satire auf die FDP durchaus lesbar. Es fehlen aber ein paar <strong>de</strong>ftige<br />

Spitzen; <strong>de</strong>r Text leiert so dahin.<br />

Carlo: Ich möchte verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Mir geht es nicht wie vielen an<strong>de</strong>ren nur um <strong>de</strong>n Effekt.<br />

Deshalb lasse ich es ruhig angehen: « Auch Jan-Eric hatte versucht, sich eine Nebenbeschäftigung<br />

zu besorgen, ein ganzes Jahr lang hatte er diese Nebenbeschäftigung gesucht <strong>und</strong> nicht gef<strong>und</strong>en. Er<br />

hatte sich als Übersetzer für Verlage angeboten <strong>und</strong> dabei erfahren, daß man mit Kräften für<br />

Übersetzungen überhäuft sei, die gegen unglaublich billiges Geld englische o<strong>de</strong>r französische<br />

Übersetzungen anfertigten. Er erlaubte sich, <strong>de</strong>n Verleger darauf aufmerksam zu machen, daß das<br />

Deutsch dieser Übersetzer häufig ein miserables sei. Der Verleger entgegnete ihm kaltblütig, daß<br />

die Leser die Bücher nicht kauften, um <strong>de</strong>utschen Stil zu studieren, son<strong>de</strong>rn um die englischen,<br />

amerikanischen <strong>und</strong> französischen Sensationsromane kennen zu lernen. Er bot sich bei Zeitungen<br />

an <strong>und</strong> erfuhr zu seiner <strong>und</strong> unserer Überraschung, daß eine eigene Wissenschaft <strong>und</strong> langjährige<br />

Karriere dazu gehören, um für eine Zeitung so zu arbeiten, daß man etwas verdient. Und so lebte er<br />

<strong>de</strong>nn mit seiner Frau wie in einer weiten Wüste, ohne Fre<strong>und</strong>e, in beständiger Knappheit, die<br />

schlimmer ist als zeitweises Elend, ohne alle Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage, nur von <strong>de</strong>r


unbestimmten Hoffnung lebend, daß es einmal besser wer<strong>de</strong>n wür<strong>de</strong>. »<br />

Rambo: Mir kommen gleich die Tränen.<br />

Carlo: Du wirst Dich noch w<strong>und</strong>ern. Es kommt noch besser. Wart's ab. Denn: « Es wur<strong>de</strong> immer<br />

schlimmer. Ein freudiges Familienereignis trat ein, <strong>und</strong> Jan-Eric war eines Tages <strong>de</strong>r Vater eines<br />

allerliebsten Jungen. Aber in unserer Zeit, in <strong>de</strong>r selbst <strong>de</strong>r Tod kaum noch umsonst zu haben ist,<br />

verursacht auch <strong>de</strong>r Klapperstorch ... »<br />

Rambo: Klapperstorch! Du solltest doch besser Märchen erzählen.<br />

Carlo: « ... verursacht auch <strong>de</strong>r Klapperstorch sehr unangenehme Kosten ... »<br />

Rambo: Unangenehme Kosten! Du lieber Himmel!<br />

Carlo (weiterhin unbeeindruckt): « ...<strong>und</strong> hätte nicht Yvonne, in <strong>de</strong>r Voraussicht <strong>de</strong>r Dinge, die da<br />

kommen mußten, einen kleinen Betrag gespart, so wäre man in die größte Verlegenheit<br />

gekommen. »<br />

Rambo: Tja ...<br />

111<br />

Jean-François (liest): « Es kamen St<strong>und</strong>en, in <strong>de</strong>nen Jan-Eric überlegte, ob es nicht ein Glück für<br />

ihn sein wür<strong>de</strong>, wenn er ein Arbeiter wäre, ein einfacher Arbeiter, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>r Schaufel in <strong>de</strong>r Hand<br />

gräbt <strong>und</strong> ausgegrabenes Erdreich wie<strong>de</strong>r in die Löcher schüttet, eine Beschäftigung, zu <strong>de</strong>r man<br />

keineswegs eine wissenschaftliche Vorbereitung von neun Jahren braucht, wie Jan-Eric sie hatte,<br />

die aber genau ebensoviel einbrachte wie die Beschäftigung Jan-Erics. » Genial, einfach genial,<br />

dieser Knabe. Carlo formuliert geschickt, trefflich – will ich meinen. « Wie glücklich hätte er sich<br />

gefühlt, ein Arbeiter zu sein, <strong>de</strong>r nach nichts zu fragen hat, <strong>de</strong>r nicht an seinem Körper <strong>und</strong> in seiner<br />

Wohnung eine Art von Glanz <strong>und</strong> Repräsentation aufrechtzuerhalten hätte ... » Carlo steigert sich<br />

noch, eine einzige Überraschung, dieser Knabe! Der hat das Zeug zum FDP-Pressesprecher.<br />

Rambo: Bitte komm' jetzt aber nicht auf die I<strong>de</strong>e, laut zu lesen. Deine Zwischenkommentare<br />

reichen mir bereits.<br />

Jean-François (liest weiter): « ... dafür aber leben konnte, wie er wollte <strong>und</strong>, wenn nicht an<strong>de</strong>rs, so<br />

doch am Sonnabend seinen Vergnügungen in <strong>de</strong>n geistigen Getränken fand, die er zu sich nahm. »<br />

Unser aller Thilo sollte sich mal ein Beispiel an Carlos Formulierungskuensten nehmen! « Dieser<br />

Arbeiter hatte gar keine Ansprüche, beson<strong>de</strong>rs keine geistigen, er stellte auch gar keine Ansprüche<br />

an das Leben, <strong>und</strong> was er brauchte, verdiente er mit seiner Hän<strong>de</strong> Arbeit. Wie glücklich wäre Jan-<br />

Eric gewesen, mit einem solchen Arbeiter tauschen zu können; wenn er sah, wie seine Frau sich<br />

plagte <strong>und</strong> nichts vom Leben hatte, <strong>und</strong> wenn er sah, wie die Zukunft seines Kin<strong>de</strong>s eine unsichere<br />

<strong>und</strong> seine eigene Zukunft eine gefähr<strong>de</strong>te sei, faßte er die verrücktesten <strong>und</strong> verzweifeltsten<br />

Entschlüsse, von <strong>de</strong>nen in<strong>de</strong>s keiner zur Ausführung kommen konnte, weil dazu Geld gehörte, das<br />

Jan-Eric nicht besaß. » Junge, Junge – <strong>de</strong>r geborene I<strong>de</strong>ologe.<br />

112<br />

Carlo (liest seinen eigenen Text): « Eines Tages ging Jan-Eric die Treppe seiner Wohnung hinunter,


langsamer als sonst <strong>und</strong> mit noch sorgenvoller gebeugtem Haupt als sonst, Yvonne hatte ihm<br />

soeben mitgeteilt, daß <strong>de</strong>r kleine Lukas in einigen Monaten Gesellschaft bekommen wür<strong>de</strong>. Vor <strong>de</strong>r<br />

Haustür stand <strong>de</strong>r Hausbesitzer, <strong>und</strong> Jan-Eric grüßte ihn im Vorbeigehen, worauf <strong>de</strong>r alte, joviale<br />

Berliner im zurief: Nun, wie geht es, hoffentlich alles wohl bei Ihnen? Jan-Eric setzte eine<br />

fre<strong>und</strong>lichere Miene auf <strong>und</strong> sagte: Ja. – Ich freue mich immer über Sie <strong>und</strong> über Ihre liebe Frau,<br />

sagte <strong>de</strong>r joviale Hauswirt, <strong>und</strong> ich habe Sie aufrichtig gern als meine Mieter. Sie sind so nett, so<br />

liebenswürdig <strong>und</strong> anspruchslos, <strong>und</strong> es tut mir fast leid, Sie als Mieter verlieren zu müssen.<br />

Erstaunt sah Jan-Eric auf, <strong>de</strong>r Wirt aber fuhr fort: Ich will nämlich mein Haus verkaufen. Sie wissen<br />

ja, mir gehören auch die bei<strong>de</strong>n Nachbarhäuser, <strong>und</strong> meine Frau <strong>de</strong>nkt schon lange daran, aus<br />

Berlin heraus <strong>und</strong> in ihre Heimat nach Schleswig-Holstein zu ziehen. Ich habe ihr da eine Villa<br />

gekauft <strong>und</strong> will hier die drei Häuser losschlagen, wenn ich einen guten Käufer fin<strong>de</strong>. Natürlich,<br />

Ihr Kontrakt geht auch auf <strong>de</strong>n neuen Besitzer über, wenn ich verkaufe, <strong>und</strong> erstmal brauchen Sie<br />

bestimmt nicht auszuziehen. Jan-Eric ging weiter, ohne über die Unterhaltung mit <strong>de</strong>m Hausbesitzer<br />

beson<strong>de</strong>rs nachzu<strong>de</strong>nken. Was interessierten ihn die Geschäfte <strong>de</strong>s Mannes? » Carlo, Mensch!<br />

Komm' mal auf <strong>de</strong>n Punkt! (Schreibt:) « Kurz vor seinem Büro aber traf Jan-Eric einen Mann, <strong>de</strong>n<br />

er flüchtig einmal in einer Gesellschaft kennen gelernt hatte <strong>und</strong> <strong>de</strong>r jetzt plötzlich auf ihn zukam<br />

uns sagte: Hören Sie mal, mein lieber Jan-Eric, gut, daß ich Sie treffe. Ich wollte neulich schon<br />

einmal zu Ihnen hinauskommen. Sie wohnen doch in <strong>de</strong>r Mommsenstraße? – Gewiß, Herr<br />

Osterschwall, entgegnete Jan-Eric, da wohne ich. – Na ja, sagte Herr Osterschwall, ein schon noch<br />

jüngerer Herr, eigentlich hat es aber auch keinen Zweck, Sie wer<strong>de</strong>n kaum etwas wissen. Ich suche<br />

nämlich Gr<strong>und</strong>stücke dort in Ihrer Gegend, möglichst zusammenhängend, <strong>und</strong> es wäre ein sehr<br />

gutes Geschäft zu machen. – In <strong>de</strong>r Gegend, in <strong>de</strong>r ich wohne? Fragte Jan-Eric erstaunt. Ja,<br />

entgegnete Osterschwall. Das ist aber merkwürdig, sagte Jan-Eric, ich weiß zufällig jemand, <strong>de</strong>r<br />

seine Gr<strong>und</strong>stücke, drei Häuser, die nebeneinan<strong>de</strong>r liegen, vekaufen will. Herrn Osterschwalls<br />

Gesicht glänzte vor Freu<strong>de</strong>, <strong>und</strong> er rief (wie es ansonsten nur noch die Gräfin vermag; d. Red.):<br />

Drei Häuser? Teufel, das wäre ein großartig prächtiges Geschäft. Bitte nennen Sie mir <strong>de</strong>n Namen<br />

<strong>de</strong>s Mannes, bitte, sagen Sie mir, wer <strong>de</strong>r Mann ist, es soll Ihr Scha<strong>de</strong>n nicht sein. – Aber ich bitte<br />

Sie, erklärte Jan-Eric erstaunt, warum sollte ich Ihnen das nicht sagen? Es ist mein Hauswirt, <strong>de</strong>r<br />

Nummer 14 wohnt, er hat es mir vorhin erst selbst gesagt, daß er die Häuser verkaufen will. –<br />

Adieu! sagte hastig Herr Osterschwall, stürmte davon <strong>und</strong> nahm ein Taxi, <strong>und</strong> das geschah mit einer<br />

solchen Hast, daß Jan-Eric ihm verw<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> kopfschüttelnd nachsah. Der ganze Vorfall war für<br />

ihn höchst gleichgültig, <strong>und</strong> er hatte ihn nach einer Woche vollständig vergessen. » Ich muß die<br />

Kurve kriegen. Der ganze Text zieht sich zu sehr hin. Wenigsten ist Jean-François auf meiner Seite<br />

<strong>und</strong> verteidigt mich, während die an<strong>de</strong>ren immer nur lästern.<br />

113<br />

Jean-François: Das mußt Du hören, Rambo, das macht unserem Carlo so schnell keiner nach, mich<br />

eingeschlossen. Ich les' mal vor: « Es war an einem Sonnabend in <strong>de</strong>n Mittagsst<strong>und</strong>en, Jan-Eric war<br />

soeben aus seinem Büro zurückgekehrt <strong>und</strong> hatte ein höchst frugales Mittagessen ... » Ein höchst<br />

frugales Mittagessen! Das muß man sich auf <strong>de</strong>r Zunge zergehen lassen. Schmeckt sogar besser als<br />

Siebeck. « ... ein Stück gebratenes Pfer<strong>de</strong>fleisch, verzehrt. »<br />

Rambo: Je tâche <strong>de</strong> m'infiltrer les manières d'ici par tous les moyens possibles, quoiqu'on ait<br />

réellement à souffrir <strong>de</strong> leur genre.<br />

Jean-François: Laß doch diese blö<strong>de</strong>n Scherze, Rambo. Lausche lieber <strong>de</strong>n Worten unseres jungen<br />

Schriftstellers. Ich fahre fort: « Dann ... » also nach <strong>de</strong>m frugalen Mahl « ... saßen Jan-Eric <strong>und</strong><br />

seine Frau Yvonne da <strong>und</strong> rechneten <strong>de</strong>n Etat für die nächste Woche aus, <strong>und</strong> es wollte <strong>und</strong> wollte<br />

nicht stimmen. Es wollte <strong>und</strong> wollte nicht gehen, <strong>de</strong>r Ausgaben waren so viele, daß das Geld, das<br />

vorhan<strong>de</strong>n war, nicht zureichte. Der kleine Lukas, <strong>de</strong>r schon aufrecht im Bett sitzen konnte,


kreischte zwar laut vor Vergnügen, <strong>de</strong>n Eltern aber war gar nicht vergnügt ums Herz. Immer wie<strong>de</strong>r<br />

wur<strong>de</strong> gerechnet, aber trotz<strong>de</strong>m Jan-Eric sehr bewan<strong>de</strong>rt in <strong>de</strong>r höheren Mathematik war, konnte er<br />

doch die uralte Geschichte vom Defizit durch Rechnen nicht aus <strong>de</strong>r Welt schaffen. Da klingelte es<br />

draußen energisch... »<br />

Rambo: Ich habe nichts gehört.<br />

Jean-François: Werd' nicht albern. Es han<strong>de</strong>lt sich durchaus um einen seriösen Text. Wir sollten<br />

Carlo mit Respekt begegnen. Weiter gehts: « Jan-Eric ging hinaus, um zu öffnen, <strong>und</strong> sah vor sich<br />

<strong>de</strong>n Geldbriefträger, eine ihm so unbekannte Persönlichkeit, daß er unwillkürlich vor <strong>de</strong>m Mann<br />

erschrak. Herr Jan-Eric Mittermann? fragte dieser kurz <strong>und</strong> geschäftsmäßig. Ja, sagte <strong>de</strong>r Gefragte<br />

etwas ängstlich. Ein Geldbrief für Sie, sagte <strong>de</strong>r Briefträger, <strong>und</strong> er mußte sich fast mit Gewalt<br />

hineindrängen, <strong>de</strong>nn Jan-Eric stand so erstaunt da, daß er sich kaum bewegen konnte. Mechanisch<br />

ging er mit <strong>de</strong>m Briefträger in das Zimmer, unterschrieb einen Schein <strong>und</strong> begleitete <strong>de</strong>n Briefträger<br />

wie<strong>de</strong>r hinaus. Dann kam er zurück, sah seine Frau an <strong>und</strong> endlich <strong>de</strong>n Brief, auf welchem die<br />

inhaltsschweren Worte stan<strong>de</strong>n: Inhalt 12000 Euro. Dann brach er <strong>de</strong>n Brief auf <strong>und</strong> sah erst nach<br />

<strong>de</strong>r Unterschrift, welche Osterschwall lautete, <strong>de</strong>r Brief aber besagte kurz: Das Geschäft mit Ihrem<br />

Hauswirt ist unter Dach <strong>und</strong> Fach. Beiliegend sen<strong>de</strong> ich Ihnen Ihren Anteil an <strong>de</strong>n Prozenten mit<br />

12000 Euro. Wenn Sie wie<strong>de</strong>r etwas wissen, bitte, mich zu benachrichtigen. Mit bestem Gruß. Es<br />

dauerte ziemlich lange, bis sich Jan-Eric besinnen konnte, um was es sich handle.<br />

Rambo: Na, hoffentlich hat er's kapiert.<br />

114<br />

Carlo (schreibt): « Am nächsten Morgen, am Sonntag, machte sich Jan-Eric auf <strong>und</strong> ging zu<br />

Osterschwall, um sich bei diesem zu bedanken. Er traf ihn nicht zu Hause an, wohl aber wur<strong>de</strong> ihm<br />

gesagt, daß er ihn in einem bestimmten Restaurant antreffen wür<strong>de</strong>. Jan-Eric suchte das Restaurant<br />

auf, traf dort Herrn Osterschwall <strong>und</strong> wur<strong>de</strong> von diesem in eine beson<strong>de</strong>re Zimmerabteilung<br />

geführt, wo sie ungestört miteinan<strong>de</strong>r sprechen konnten. Als ihm Jan-Eric sagte, er sei mit seiner<br />

Frau außer sich vor Glück über das Geld, lachte Osterschwall zuerst, dann aber forschte er Jan-Eric<br />

nach seinen Verhältnissen aus <strong>und</strong> sagte: Es ist ein Skandal, wenn ein Mann wie Sie für ein<br />

Lumpengeld sich quälen sollte. Sie haben mir durch Ihr Ergriffensein bewiesen, daß Sie ein Herz<br />

haben, <strong>und</strong> wer ein Herz hat, <strong>de</strong>r hat auch Ehrlichkeit. Glauben Sie mir aber, man bezahlt heut die<br />

Ehrlichkeit sehr gut, <strong>und</strong> Leute wie Sie, auf die man sich verlassen kann auf je<strong>de</strong>n Fall, stehen hoch<br />

im Kurs. Drei Tage später empfing Jan-Eric einen Brief, in <strong>de</strong>m er ersucht wur<strong>de</strong>, nach seinen<br />

Bürost<strong>und</strong>en bei einem Herrn vorzusprechen, <strong>de</strong>ssen Namen er vorher gar nicht gehört hatte. Er traf<br />

diesen schon weißhaarigen Herrn in einem eleganten Arbeitszimmer, <strong>und</strong> dieser sagte ihm: Hören<br />

Sie, mein Wertester, wie mir Immobilien-Osterschwall, <strong>de</strong>n Sie ja auch kennen, sagt, wären Sie<br />

nicht abgeneigt, eine Vertrauensstellung anzunehmen, die bei unserer Gesellschaft zu vergeben ist.<br />

Osterschwall hat Sie mir auf das wärmste empfohlen, <strong>und</strong> ich halte von <strong>de</strong>m Mann so viel, daß<br />

seine Empfehlung einen großen, einen außeror<strong>de</strong>ntlich großen Wert bei mir hat. Sehen Sie, die<br />

Messehallen einschließlich sämtlicher Infrastrukturmaßnahmen wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Stadt übernommen<br />

<strong>und</strong> <strong>de</strong>r Bau wird weitergeführt, von <strong>de</strong>n neuen U-Bahnlinien <strong>und</strong> erst recht von <strong>de</strong>r Hafenstadt<br />

einschließlich Konzerthalle ganz zu schweigen. In <strong>de</strong>r City wer<strong>de</strong>n kolossale Bauverän<strong>de</strong>rungen<br />

vor sich gehen, ganze Gebäu<strong>de</strong>zeilen wer<strong>de</strong>n heruntergerissen <strong>und</strong> neu aufgebaut wer<strong>de</strong>n, <strong>und</strong> das<br />

Gr<strong>und</strong>stücks- <strong>und</strong> Baugeschäft wird einen ungeheuren Auffschwung bekommen, wie ihn unsere<br />

Stadt nie vorher gesehen hat. Ich gehöre zu einem Konsortium, welches sich an Bau- <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>stücksspekulationen beteiligt, bei <strong>de</strong>nen viele, viele, ja sehr viele Millionen beteiligt sind. Wir<br />

brauchen einen Mann, <strong>de</strong>m wir unser volles Vertrauen schenken können, <strong>de</strong>r wissenschaftlich<br />

gebil<strong>de</strong>t ist wie Sie, <strong>de</strong>r repräsentieren kann <strong>und</strong> für uns kleine Aufträge durchaus diskreter Natur


auszuführen hat, in<strong>de</strong>m er teils die Verbindung mit <strong>de</strong>r Presse aufrecht erhält, o<strong>de</strong>r vorsichtig<br />

Erk<strong>und</strong>igungen einzieht, kurzum, unser Interesse vollständig wahrt, je<strong>de</strong>n Auftrag prompt ausführt,<br />

<strong>und</strong> auf <strong>de</strong>n wir uns in allen Stücken verlassen können. Wollen Sie diese Stellung übernehmen? Sie<br />

wird Ihnen min<strong>de</strong>stens sechs bis acht Jahre ein gutes Einkommen abwerfen, <strong>und</strong> dann wer<strong>de</strong>n Sie<br />

wohl so viele Bekanntschaften gemacht haben, um eventuell auf eigenen Füßen in <strong>de</strong>rselben<br />

Branche zu arbeiten, o<strong>de</strong>r es fin<strong>de</strong>t sich bei uns wie<strong>de</strong>r etwas Neues. Wollen Sie sich einmal diesen<br />

Kontrakt ansehen? Jan-Erich durchlas <strong>de</strong>n Kontrakt, soweit ihm dies das Flimmern seiner Augen<br />

gestattete. Mit neuntausend Euro monatlich bei freier Wohnung engagiert, mit<br />

Repräsentationsgel<strong>de</strong>rn,über die Rechnung nicht zu legen war, son<strong>de</strong>rn die <strong>de</strong>r Engagierte nach<br />

freiem Ermessen im Interesse <strong>de</strong>r Gesellschaft ausgeben konnte, soweit er glaubte, das vor sich<br />

selbst verantworten zu können. Es schwin<strong>de</strong>lte <strong>de</strong>m ehrlichen Menschen fast vor Vertrauen, das<br />

man ihm schenkte, er konnte es kaum fassen, <strong>und</strong> endlich gestand er rückhaltlos, daß er erschüttert<br />

sei von <strong>de</strong>m Vertrauen, das man ihm schenken wolle, <strong>und</strong> daß er fast zweifle, <strong>de</strong>s Vertrauens<br />

würdig zu sein o<strong>de</strong>r vielmehr so viel leisten zu können, wie man ihm da bezahlen <strong>und</strong> entschädigen<br />

wolle. Der Weißhaarige hatte Jan-Eric in <strong>de</strong>mselben Augenblick durchschaut, er ergriff die Fe<strong>de</strong>r,<br />

unterzeichnete <strong>de</strong>n Vertrag <strong>und</strong> reichte dann die Fe<strong>de</strong>r Jan-Eric mit <strong>de</strong>n Worten: Unterzeichnen Sie,<br />

Sie sind unser Mann, o<strong>de</strong>r ich habe keine Menschenkenntnis. Suchen Sie so bald als möglich sich<br />

aus Ihrer bisherigen Stellung loszumachen, Ihr Gehalt läuft vom heutigen Tag bei uns. Ich habe die<br />

feste Überzeugung, wir wer<strong>de</strong>n miteinan<strong>de</strong>r zufrie<strong>de</strong>n sein. Heute ist Jan-Eric das, was man einen<br />

gemachten Mann nennt. » Hm, ist vielleicht ein bißchen zu seicht geraten. Hoffentlich gelingt mir<br />

mit <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Sätzen ein Schluß, <strong>de</strong>r die ganze Sache auf <strong>de</strong>n Punkt bringt. Ach, wenn ich doch<br />

nur die schriftstellerischen Fähigkeiten eines Jean-François hätte ...<br />

Jean-François: O dieser Lei<strong>de</strong>nsdruck!<br />

Eva-Maria: Das hast Du aber schon lange nicht mehr gesagt. Was ist nur los?<br />

115<br />

Jean-François: Er hat so gut angefangen, unser Carlo, <strong>und</strong> dann dieser Schluss! Hör: « Jan-Eric lebt<br />

in sehr guten Verhältnissen, macht glänzen<strong>de</strong> Geschäfte in <strong>de</strong>r Vermittlung von Gr<strong>und</strong>stückskäufen<br />

<strong>und</strong> -verkäufen, Hypotheken <strong>und</strong> so weiter, ist ein allgemein geachteter Mann <strong>und</strong> verdient spielend<br />

<strong>und</strong> oft in <strong>de</strong>m eleganten Restaurant, in <strong>de</strong>m er täglich sitzt, nur in <strong>de</strong>r Unterhaltung mit Fre<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> Kollegen an einem Tag so viel, wie in <strong>de</strong>n früheren Zeiten seines Lebens in einem Jahr. Das<br />

Geld liegt eben auf <strong>de</strong>r Straße, aber es sind wenige, äußerst wenige dazu berufen, es zu fin<strong>de</strong>n. »<br />

Tsss.<br />

Eva-Maria: Klasse!<br />

Jean-François: Meinst Du wirklich?<br />

Viertes Kapitel: Zweites Zwischenspiel<br />

116<br />

Aus <strong>de</strong>r Ferne tönt es wie ein Peitschenknall <strong>und</strong> H<strong>und</strong>egebell. Erst ein schwarzer Punkt nur,<br />

kommt es näher <strong>und</strong> näher, ein Pferd, das sich mühsam durch <strong>de</strong>n hohen Schnee durcharbeitet,<br />

umsprungen von einem Jagdh<strong>und</strong>, <strong>de</strong>r bald an ihm, bald an <strong>de</strong>m Gefährt, das <strong>de</strong>r Oberförster <strong>de</strong>r<br />

benachbarten Stadt lenkt, emporspringt, als wollte er sie zur Eile treiben, hinaus aus <strong>de</strong>r Kälte in die<br />

Wärme. Aber <strong>de</strong>n alten Herrn scheint es nicht zu eilen; neben ihm liegt das Jagdgewehr, die Pfeife


dampft, die Kälte ist er gewöhnt, <strong>und</strong> die Stille ringsum tut ihm wohl, stört ihn nicht in <strong>de</strong>n<br />

Gedanken, <strong>de</strong>nen er nachhängt. Seiner harrt daheim keine sorgen<strong>de</strong> Gattin, kein Kind, das <strong>de</strong>n<br />

Vater mit Jubel <strong>und</strong> Ungeduld erwartet, damit er es zum strahlen<strong>de</strong>n Weihnachtsbaum führe. Sein<br />

Haar ist weiß gewor<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r Jahre, <strong>und</strong> wer in das Gesicht <strong>de</strong>s Mannes blickt, <strong>de</strong>r<br />

gewahrt darin Spuren schweren Kummers <strong>und</strong> eines Kampfes mit sich selbst, <strong>de</strong>r um Jahre älter<br />

macht. Er ist ein einsamer <strong>und</strong> ein verlassener Mann. Seine Frau – tot, sein Kind... Es geht wie ein<br />

schmerzliches Zucken über sein Gesicht. War es die Kälte, die ihm das Wasser in die Augen trieb?<br />

Er will nicht mehr daran <strong>de</strong>nken – es ist, es muß vorbei sein. Aber es ist ja Weihnachtsabend, <strong>und</strong><br />

an einem solchen Abend war es gewesen, wo sein Kind, seine Eva-Maria, zu ihm gekommen war<br />

<strong>und</strong> ihm gestan<strong>de</strong>n hatte, daß sie <strong>und</strong> Jean-François, <strong>de</strong>r Sohn eines zwielichtigen, obendrein<br />

zugereisten Schulmeisters vom Dorf, eins gewor<strong>de</strong>n seien, ein Paar zu wer<strong>de</strong>n. Da hatte er erst laut<br />

aufgelacht, als machte sie einen Spaß. Als sie ihm aber sagte, daß es ihr heiliger Ernst sei, da war er<br />

wild <strong>und</strong> böse gewor<strong>de</strong>n <strong>und</strong> hatte seine Tochter mit einer Flut von Zornesworten ueberschüttet,<br />

dieweilen sie stumm vor ihm stand <strong>und</strong> nur manchmal ihn ansah mit ihren großen, dunklen Augen.<br />

Sie, seine Tochter, die Frau eines armen Schulmeistersohns, <strong>de</strong>r erst noch etwas wer<strong>de</strong>n musste –<br />

das wäre ja zum Tollwer<strong>de</strong>n gewesen. « Schlag Dir die Gedanken aus <strong>de</strong>m Kopf, Eva-Maria, » rief<br />

er, « daraus wird nun <strong>und</strong> nimmer etwas! » « Vater, » hatte sie gebeten, « <strong>de</strong>nk dran, daß heute<br />

Weihnachten ist; Du hast mir an <strong>de</strong>m Abend immer eine Freu<strong>de</strong> gemacht; gib uns heute Deinen<br />

Segen, <strong>und</strong> Du machst zwei Menschen glücklich! » « Du wirst auch mit einem an<strong>de</strong>ren glücklich<br />

wer<strong>de</strong>n, sei vernünftig, Eva-Maria! » Da war sie vor ihm nie<strong>de</strong>rgestürzt. « Gib uns Deinen Segen,<br />

Vater! » flehte sie, « Du weißt nicht, wie ich an Jean-François hänge. Ich kann ihn nicht verlassen –<br />

ich müßte sterben – Vater, sei barmherzig! » Er stieß sie beinahe rauh zurück. « Das war mein<br />

letztes Wort, <strong>und</strong> dabei bleibt's! » hatte er gesagt. Da hatte sich Eva-Maria rasch erhoben – ihn noch<br />

einmal angesehen mit einem so son<strong>de</strong>rbaren, starren Blick, <strong>und</strong> dann war sie zur Tür hinausgeeilt.<br />

117<br />

Sein Rufen nach ihr war ungehört verhallt. Er hatte alle seine Angestellten <strong>und</strong> Waldarbeiter<br />

aufgeboten, mit ihm <strong>de</strong>n Wald zu durchsuchen – von Eva-Maria keine Spur. Hatte sie <strong>de</strong>r Schnee,<br />

<strong>de</strong>r nun in dichten Flocken nie<strong>de</strong>rfiel, begraben? Als <strong>de</strong>r Oberförster sich am an<strong>de</strong>ren Morgen im<br />

Spiegel besah, schrak er vor sich selbst zurück. Er war über Nacht grau gewor<strong>de</strong>n. Gebeugt von<br />

schwerer Last begab er sich zum Haus <strong>de</strong>s Schulmeisters. Der sah erstaunt auf <strong>de</strong>n seltenen Gast. Er<br />

wußte, daß ihm <strong>de</strong>r Oberförster nie sehr hold gewesen, <strong>de</strong>n Gr<strong>und</strong> davon hatte er bis heute nicht<br />

erfahren; er hatte auch Veranlassung, ihm ob manchem zu grollen. « Ich weiß, was Sie herführt, »<br />

begann er. « Gebt mir meine Tochter, meine Eva-Maria, wie<strong>de</strong>r! » rief <strong>de</strong>r Oberförster <strong>und</strong> barg,<br />

laut aufweinend, sein Gesicht in die Hän<strong>de</strong>. « In törichter Härte habe ich sie von mir getrieben.<br />

Hätte sie nur einen Tag gewartet, es wäre alles an<strong>de</strong>rs gewor<strong>de</strong>n. Wissen Sie, was ich diese Nacht<br />

durchgemacht habe? Durch <strong>de</strong>n ganzen Wald bin ich gestreift, tausendmal habe ich ihren Namen<br />

gerufen, <strong>und</strong> wie ich endlich zuhause totmatt mich auf die Couch warf, da war mir's, als stün<strong>de</strong><br />

meine Frau neben mir, <strong>und</strong> ihr Auge ruhte auf mir, als sie mich fragte: « Wo ist unsere Eva-<br />

Maria? » Seine Brust hob sich in stürmischem Kampf. « Beruhigen Sie sich, » begann endlich <strong>de</strong>r<br />

Schulmeister, « Eva-Maria ist ein prima Mädchen! Noch heute gehe ich zu meinem Sohn, vielleicht<br />

weiß <strong>de</strong>r etwas von ihr. Ich dachte freilich, wir sehen uns heute fröhlicher wie<strong>de</strong>r! Nun, es kann ja<br />

noch alles wer<strong>de</strong>n. » Aber es war nicht gut gewor<strong>de</strong>n. Der Schulmeister hatte die Wohnung seines<br />

Sohnes leer gef<strong>und</strong>en. Niemand konnte ihm Auskunft geben, niemand hatte ihn gesehen. Und Jean-<br />

François <strong>und</strong> Eva-Maria blieben verschollen. Keine K<strong>und</strong>e von ihnen drang in die Heimat. Jean-<br />

François' Mutter starb bald, <strong>de</strong>r Oberförster ließ sich weit fort versetzen, in eine Gegend, wo er<br />

niemand <strong>und</strong> niemand ihn kannte. Jahre waren darüber hingegangen, er war ein einsamer Mann<br />

geblieben. Warum war sie von ihm gegangen? Warum mußte das alles über ihn kommen? Am En<strong>de</strong><br />

hatte er sich mit <strong>de</strong>m Gedanken vertraut gemacht, sie sei tot.


118<br />

« Ich sah sie springen, einer nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Sie nahmen im Zimmer wohl ein wenig Anlauf,<br />

<strong>de</strong>nn sie setzten keinen Fuß auf das Gelän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Balkons. Sie sprangen aus <strong>de</strong>r vierten Etage, einer<br />

nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren. Im Vorgarten <strong>de</strong>s fünfstöckigen Mietshauses befand sich ein Bassin, nicht sehr<br />

groß, aber tief genug. Sie plazierten ihre Arschbomben mitten hinein. Das Wasser spritzte hoch <strong>und</strong><br />

erreichte die dritte Etage. Ich sah zu. Ich beobachtete nicht, ich sah zu, nippte an meinem Kaffee.<br />

Gérard hatte mir <strong>de</strong>n Kaffee serviert. Ich kannte ihn nicht, alle an<strong>de</strong>ren erweckten <strong>de</strong>n Eindruck, mit<br />

ihm fre<strong>und</strong>schaftlich verb<strong>und</strong>en zu sein. Er hatte Freikarten, je<strong>de</strong> Menge, <strong>und</strong> er trug eine<br />

Thermoskanne bei sich. Woher nahm er die kleinen Kaffeetassen, die er mit einem vorzüglichen,<br />

heißen Arrabica zu füllen verstand? Ich wollte es gar nicht wissen. Für einen kleinen Moment war<br />

ich von seinen eleganten Bewegungen wie verzaubert. Gérard trug einen dunklen Anzug <strong>und</strong> ein<br />

weißes Hemd, weit geöffnet. Ich konnte fast <strong>de</strong>n Bauchnabel sehen. Ich mochte das nicht. Ich<br />

wollte ihn aber um eine Freikarte bitten. Gérard bewegte sich, die an<strong>de</strong>ren for<strong>de</strong>rten ihn, ich schaute<br />

hinaus durch das große Fenster, <strong>und</strong> ich sah sie springen. Den ersten, <strong>de</strong>n zweiten, <strong>de</strong>n dritten, <strong>de</strong>n<br />

vierten, lauter Arschbomben, <strong>de</strong>r fünfte verfehlte das Ziel. Der fünfte war <strong>de</strong>r kleinste <strong>und</strong><br />

augenscheinlich jüngste. Er kam zu stehen, krachte aber mit <strong>de</strong>m Kinn auf die hölzerne Umrandung<br />

<strong>de</strong>s Bassins, hatte versucht, mit bei<strong>de</strong>n Armen <strong>de</strong>n Aufprall ein wenig abzumil<strong>de</strong>rn. Vergebens. Der<br />

Junge ging ins Haus. Nichts ließ er sich anmerken, rein gar nichts. Ich registrierte, mehr nicht. Er<br />

hätte tot sein müssen o<strong>de</strong>r doch zumin<strong>de</strong>st schwer verletzt. Ich sah nur hin. Mein Blick war<br />

teilnahmslos. Ich bemerkte an mir stolze, harte, weltverachten<strong>de</strong> Züge, wie ich sie in <strong>de</strong>m schoönen<br />

Gesicht meiner Großmutter ent<strong>de</strong>ckt zu haben glaubte, damals. Ich weiß nicht, ob sie jemals<br />

glücklich gewesen ist. Sie lebte in einer unfreiwilligen traurigen Gefangenschaft, so wur<strong>de</strong> mir<br />

berichtet, <strong>und</strong> so war es wohl auch, geba<strong>de</strong>t in Tand <strong>und</strong> Flitter. Wähnte sie sich allein, entspannten<br />

sich die ernsten, harten Züge, ein melancholisches Lächeln umspielte die schöngeschwungenen<br />

Lippen, <strong>und</strong> mit sehnsüchtigen Blicken schaute sie hinaus in die Natur, <strong>de</strong>ren freier Genuß ihr für<br />

immer versagt war. So stellte ich sie mir vor. Befand sie sich aber in Gesellschaft an<strong>de</strong>rer, dann<br />

nahmen ihre Gesichtszüge gleich wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n herben, abweisen<strong>de</strong>n Ausdruck an, ihre herrliche<br />

Gestalt richtete sich majestätisch auf, <strong>und</strong> alles frauenhaft Mil<strong>de</strong> <strong>und</strong> Weiche war aus ihrer<br />

Erscheinung verschw<strong>und</strong>en. So muß sie gewesen sein. Sie, die ihr an <strong>de</strong>n Ufern <strong>de</strong>s Schwarzen<br />

Meeres gelegenes Elternhaus hatte verlassen müssen. Ich ging hinaus. Gérard rief mir etwas nach,<br />

ich drehte mich noch einmal kurz um, erblickte ihn aber nicht. Ich hatte sie springen sehen, aber es<br />

hätte auch an<strong>de</strong>rs kommen können. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Vielleicht war meine<br />

Großmutter eine ganz an<strong>de</strong>re. Vielleicht paßte mir die eine, die ich mir ausgemalt hatte, so grad.<br />

Und keine an<strong>de</strong>re? Vielleich hätte ich sie nicht springen sehen müssen. Meine kleine Freiheit. Es<br />

fing zu regnen an. Ich nahm die Straßenbahn <strong>und</strong> kam rechtzeitig zum Beginn <strong>de</strong>r Spätschicht im<br />

Krankenhaus an. » (Ausschnitt einer Lesung Eva-Marias im Kritikerheim zu Bielefeld.)<br />

Fünftes Kapitel: Hauptspiel, Zweiter Teil<br />

Jean-François: Ein köstliches Leitmotiv für einen Essay – köstlich, großartig!<br />

Carlo: Nun sag schon!<br />

119<br />

Jean-François: Die Darwinsche <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>de</strong>r katholische Mummenschanz, verfaßt von einem<br />

wahrhaft Frommen, hihi! Ich muss nächstens eine Broschüre mit diesem Titel herausbringen!<br />

Beeeenedictus!<br />

Carlo: Du bist wirklich von gestern.


Rambo: Unlängst bei Dir in Bielefeld hat doch Eva-Maria aus ihrer Biografie gelesen, o<strong>de</strong>r?<br />

Jean-François: Ja, ich <strong>de</strong>nke schon.<br />

120<br />

Rambo: Wieso erwähnte sie ein Krankenhaus? Sie hat meines Wissens nie in einem Krankenhaus<br />

gearbeitet.<br />

Jean-François: Hat sie auch nicht. Sie war wahrscheinlich ausgebüxt <strong>und</strong> mußte zu einer<br />

bestimmten Zeit zurück sein, damit niemand etwas merkt.<br />

Rambo: Soll das heißen, sie war krank, lag im Krankenhaus, aber wie<strong>de</strong>rum nicht so krank, daß sie<br />

nicht abhauen konnte?<br />

Jean-François: Wie man's nimmt. Sie war in <strong>de</strong>r Psychiatrie.<br />

Rambo: Davon hat sie nie erzaehlt.<br />

Jean-François: Warum sollte sie. Gelegentlich hat sie damit kokettiert, wahrscheinlich war das ihre<br />

Art, <strong>de</strong>n Aufenthalt in <strong>de</strong>r psychiatrischen Klinik zu verarbeiten. Im Gr<strong>und</strong>e war's ihr unangenehm.<br />

Rambo: Weshalb ist sie <strong>de</strong>nn überhaupt eingewiesen wor<strong>de</strong>n? O<strong>de</strong>r war sie freiwillig gegangen.<br />

Jean-François: Erzähl' ich Dir <strong>de</strong>mnächst.<br />

Rambo: Okay. Prost!<br />

Rambo: Erzähl!<br />

121<br />

Jean-François: Nun, sie war wegen zu hohem Blutdruck ins Krankenhaus gekommen. Es ging ihr<br />

schlecht. Bestimmte Vorkommnisse veranlaßten die behan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Mediziner, nervenärztlichen Rat<br />

hinzuziehen. Das führte dann dazu, daß sie mit einem antriebsgehemmten, <strong>de</strong>pressiven Syndrom,<br />

wie es hieß, in die Nervenklinik <strong>de</strong>r Uni eingewiesen wur<strong>de</strong>.<br />

Rambo: Das Ganze muß doch eine Vorgeschichte gehabt haben.<br />

Jean-François: Hat es. Ich bin kein Mediziner, Psychiater schon mal gar nicht, aber es war wohl so<br />

etwas wie eine Hemiparese, die Eva-Maria drei Jahre zuvor ereilt hatte. Wenig später machten sich<br />

dann Zustän<strong>de</strong> von Bewußtlosigkeit bemerkbar, ohne daß daraufhin ein pathologischer Bef<strong>und</strong><br />

erhoben wer<strong>de</strong>n konnte. Dann gesellte sich ein labiler Blutdruck <strong>und</strong> Fettstoffwechselbelastungen<br />

hinzu. Schließlich litt sie – <strong>und</strong> ich nicht min<strong>de</strong>r! – über <strong>de</strong>pressive Verstimmungen, die am En<strong>de</strong><br />

einen durchaus paranoi<strong>de</strong>n Charakter aufwiesen.<br />

Rambo: Und ich dachte immer, Du seist <strong>de</strong>r Irre.<br />

Jean-François: Na na, halt Dich zurück. Die Situation damals war gar nicht komisch. Die Ärzte<br />

diagnostizierten unter an<strong>de</strong>rem eine, ich zitiere, « paranoi<strong>de</strong> Psychose <strong>und</strong> cerebrale<br />

Vasculariasationsstörungen bei labilem Hypertonus ».


Rambo: Was habt ihr dagegen unternommen?<br />

Jean-François: Eva-Maria war drei Wochen in <strong>de</strong>r Psychiatrie. Es gelang <strong>de</strong>n Ärzten, ihre<br />

Stimmung <strong>de</strong>utlich zu steigern, sie beschäftigte sich auch wie<strong>de</strong>r. All das natürlich nicht zuletzt mit<br />

Hilfe von Medikamenten. Ein paar Jahre ging's gut. Irgendwann stellte man dann ein<br />

hirnorganisches <strong>de</strong>pressives Psychosyndrom fest o<strong>de</strong>r so ähnlich, obendrein eine Restparese nach<br />

einem Schlaganfall, <strong>de</strong>r von mir nicht bemerkt <strong>und</strong> von ihr wohl auch als ein solcher nicht<br />

i<strong>de</strong>ntifiziert wor<strong>de</strong>n sein muß. Daß man dann ebenfalls eine Gefäßsklerose mit Herzinsuffizienz<br />

festgestellt hatte, r<strong>und</strong>ete das Bild ab.<br />

Rambo: Von all <strong>de</strong>m habe ich nichts gewußt.<br />

Jean-François: Warum auch. Wieso auch. Wozu auch. Man merkt ihr ja auch nichts davon an.<br />

Rambo: Ob sie in ihrer Biografie darauf zu sprechen kommen wird?<br />

Jean-François: Was geht's mich an.<br />

Rambo: Aber Eva-Maria war doch Deine Frau!<br />

Jean-François: War, Rambo, war. Und das ist, mit Blick auf ihre Erinnerungen, bereits schlimm<br />

genug.<br />

122<br />

Während dieses in täglicher Unruhe dahinrauschen<strong>de</strong>n Lebens hatte Jean-François um so weniger<br />

Zeit <strong>und</strong> Gelegenheit gef<strong>und</strong>en, die Gefühle seines Herzens auszusprechen. Es war fast täglich<br />

zahlreiche Gesellschaft im Kritikerheim gewesen, viele von ihren Fre<strong>und</strong>innen waren gekommen,<br />

<strong>und</strong> in <strong>de</strong>m buntbewegten Leben hatte Jean-François oft tagelang nur eben Gelegenheit gef<strong>und</strong>en,<br />

sie mit einem flüchtigen Hän<strong>de</strong>druck <strong>und</strong> einigen herzlichen Worten zu begrüßen. Fast war ihm<br />

diese Zögerung erwünscht gewesen, <strong>de</strong>nn mit einer bangen Scheu, über die er sich selbst Vorwürfe<br />

machte, schreckte er immer wie<strong>de</strong>r vor <strong>de</strong>m entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Wort zurück, obwohl auch Sehnaz<br />

ihrerseits immer <strong>de</strong>utlicher zu zeigen schien, daß er nicht befürchten dürfe, seine Neigung<br />

unerwi<strong>de</strong>rt zu sehen. Auch während <strong>de</strong>r größeren Gesellschaften, welche in <strong>de</strong>r letzten Zeit in<br />

Bielefeld stattfan<strong>de</strong>n, hatte sie immer innige, herzliche Worte <strong>und</strong> tausend kleine Aufmerksamkeiten<br />

für ihn; oft hing sie sich in altgewohnter Weise an seinen Arm <strong>und</strong> schritt mit leichtem, kindlichem<br />

Geplau<strong>de</strong>r durch die Reihen <strong>de</strong>r Gäste; sie seufzte <strong>und</strong> errötete unter seinem Blick, <strong>und</strong> zuweilen<br />

schien es, als suche sie in all <strong>de</strong>m unruhigen Gewühl eine trauliche Unterhaltung mit ihm, zu<br />

welcher sich in<strong>de</strong>s niemals die Gelegenheit gef<strong>und</strong>en hatte.<br />

123<br />

An einem schönen Sommertag kam Jean-François von Berlin früher, als dies sonst seine<br />

sogenannten Geschäfte erlaubten (er versuchte sich als Kulturlobbyist), nach Bielefeld zurück. Er<br />

nahm nicht <strong>de</strong>n Weg nach <strong>de</strong>m Einfahrtstor <strong>de</strong>s Kritikerheimes, son<strong>de</strong>rn ließ seinen Wagen eine Art<br />

von Waldweg einschlagen, <strong>de</strong>r zu einem Seiteneingang führte. Hier stieg er aus. Sinnend,<br />

gebeugten Hauptes, schritt er in <strong>de</strong>n kleinen Park hinein, <strong>de</strong>r das Kritikerheim umgab. Sehnaz' Bild<br />

stand vor seiner Seele, <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r <strong>und</strong> wie<strong>de</strong>r sprach er, wie so oft schon, in Gedanken mit ihr, um<br />

ihr seine Liebe zu gestehen. Wenn er allein war <strong>und</strong> die Geliebte nur als ein Bild seiner Phantasie<br />

ihn umschwebte, dann fand er stets so innige, so glühen<strong>de</strong>, so schwungvolle Worte, um ihr alles zu


sagen, was in seinem Herzen für sie lebte – aber wenn sie da vor ihm stand, so war das alles wie<strong>de</strong>r<br />

verschw<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> seine Lippen, die sonst so sicher die Sprache beherrschten, blieben<br />

geschlossen. Ein leiser Ruf <strong>de</strong>r Überraschung klang ihm entgegen, er richtete seinen Kopf auf <strong>und</strong><br />

sah zu seinem Erstaunen – Sehnaz auf einer Parkbank sitzen. Eine unsägliche Verwirrung überkam<br />

ihn, als er sich so plötzlich hier in <strong>de</strong>r stillen Einsamkeit <strong>de</strong>rjenigen gegenübersah, mit welcher er<br />

sich soeben, leise flüsternd, so innig unterhalten hatte; es schien ihm, als müsse sie seine Gedanken<br />

auf seinem Gesicht lesen – er senkte die Augen zu Bo<strong>de</strong>n, flammen<strong>de</strong> Röte be<strong>de</strong>ckte seine Wangen,<br />

<strong>und</strong> fast wäre er umgekehrt, um wie ein auf verbotenen Wegen ertapptes Kind davonzueilen –<br />

zögernd trat er heran, um Sehnaz' Hand zu ergreifen, die sie ihm entgegenstreckte. Und als er nun,<br />

Jean-François, <strong>de</strong>r ehemalige Kulturgroßkritiker <strong>und</strong> gegenwärtige Leiter <strong>de</strong>s Bielefel<strong>de</strong>r<br />

Kulturkritikerheimes, scheu <strong>und</strong> langsam die Augen auffschlug, sah er, daß auch Sehnaz in<br />

eigentümlicher Verwirrung errötete <strong>und</strong> mit verschleierten, tränenfeuchten Augen zu ihm aufsah.<br />

Dem sanften Zug ihrer Hand nachgebend, setzte er sich neben sie auf die Marmorbank uns sagte<br />

mit weichem, innigem Ton: « Auch ich, Sehnaz, habe mich danach gesehnt, daß diese Zeit mit<br />

ihrem unruhigen Treiben vorübergehen möchte, <strong>und</strong> ich habe fast das schmerzliche Gefühl gehabt,<br />

als ob wir einan<strong>de</strong>r fremd gewor<strong>de</strong>n wären, seit wir nur vor so vielen beobachten<strong>de</strong>n Blicken <strong>und</strong><br />

so vielen lauschen<strong>de</strong>n Ohren miteinan<strong>de</strong>r verkehren konnten. » « O nein, mein Jean-François, nein,<br />

das fühle ich nicht – nein, Du bist mir nicht fremd gewor<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>utlicher als je empfin<strong>de</strong> ich es, daß<br />

ich nur zu Dir so mit <strong>de</strong>m rechten, vollen Vertrauen sprechen kann <strong>und</strong> daß je<strong>de</strong> Regung meiner<br />

Seele, je<strong>de</strong>s Geheimnis meiner Brust nur bei Dir eine sichere Stätte fin<strong>de</strong>t! » « Sehnaz! Sehnaz! »<br />

rief er entzückt, in<strong>de</strong>m er ihre Hand an seine Lippen führte, « wie glücklich machst Du mich; ja, bei<br />

Gott, alles, was Dich betrifft, ist meinem Herzen ein Heiligtum; Deinem Glück gehören alle Kräfte<br />

meines Lebens, ja, es ist eine Fügung <strong>de</strong>s Himmels, die mich hierher geführt hat; auch Du sollst<br />

klar in meinem Herzen lesen <strong>und</strong> erkennen, wie warm dasselbe für Dich schlägt. » « Ich weiß das,<br />

mein Lieber, ich weiß das, » sagte Sehnaz, seine Hand zärtlich in die ihrigen schließend, « Du bist<br />

so gut, so treu, Du wür<strong>de</strong>st alles für mich tun; Dir kann ich ohne Scheu mein ganzes Herz öffnen, so<br />

schwer mir das Wort auch wer<strong>de</strong>n mag. » Mit leuchten Blicken sah er in ihr erregtes Gesicht.<br />

Rambo: Ein Traum, Jean-François, ein Traum. Wach auf!<br />

Jean-François: Was weißt <strong>de</strong>nn schon Du?!<br />

124<br />

Jean-François war untröstlich, <strong>de</strong>nn Eva-Marias Kräfte verfielen sichtlich unter <strong>de</strong>m Einfluß dieses<br />

« unerklärlichen » Nervenlei<strong>de</strong>ns. Er beschwor <strong>de</strong>n Arzt, seine ganze Kunst aufzubieten, um Hilfe<br />

zu bringen; <strong>de</strong>r Arzt schüttelte be<strong>de</strong>nklich <strong>de</strong>n Kopf, <strong>de</strong>nn alle Symptome im Befin<strong>de</strong>n Eva-Marias<br />

<strong>de</strong>uteten auf eine so hochgradige Überreizung <strong>de</strong>s Nervensystems, daß eine schwere Geistesstörung<br />

o<strong>de</strong>r ein schnelles Aufzehren <strong>de</strong>r Lebenskräfte zu befürchten war. Er verordnete die Mineralwasser<br />

<strong>de</strong>s damals so viel besuchten, heute fast vergessenen Ba<strong>de</strong>orts Forges les Eaux. Jean-François,<br />

welcher nicht lange abwesend sein konnte, da die ganze Last eines Kulturkritikerdaseins auf ihm<br />

ruhte, brachte zwar Eva-Maria selbst dorthin, mußte sie aber an Ort <strong>und</strong> Stelle allein lassen. Schon<br />

nach acht Tagen kehrte sie plötzlich bleicher, unruhiger <strong>und</strong> aufgeregter als je zuvor wie<strong>de</strong>r<br />

zurück. Der Arzt schüttelte noch be<strong>de</strong>nklicher <strong>de</strong>n Kopf als früher; statt <strong>de</strong>r erhofften günstigen<br />

Wendung hatte sich Eva-Marias Zustand entschie<strong>de</strong>n verschlimmert, <strong>und</strong> sie verweigerte auf das<br />

bestimmteste, jene Bä<strong>de</strong>r noch weiter zu gebrauchen. Sie zog sich zurück, ihre Kräfte schwan<strong>de</strong>n<br />

mehr <strong>und</strong> mehr, <strong>und</strong> bald mußte sie <strong>de</strong>n größten Teil <strong>de</strong>s Tages im Bett zubringen.


125<br />

« Sie hat keine Seele, » murmelte er vor sich hin, « keine Seele, keine Seele. Wie hätte sie sonst so<br />

dastehen können, ohne ein einziges Wort, ohne eine einzige Regung, fühllos wie ein Stein! Aber sie<br />

wird es noch bereuen, ich weiß, Sehnaz wird es bereuen. So etwas rächt sich im Leben. » In dieser<br />

Weise wühlte sich Jean-François immer tiefer in seinen Liebesschmerz ein, seine Qual steigernd,<br />

bis er es glücklich dahin gebracht hatte, gegen das schöne <strong>und</strong> fühllose Geschöpf einen wahren<br />

Haß zu empfin<strong>de</strong>n. Aber das vermin<strong>de</strong>rte we<strong>de</strong>r seine Lei<strong>de</strong>nschaft, noch seinen Kummer. Bei<strong>de</strong>s<br />

schlug wie Flammen über ihm zusammen, daß ihm war, als ob es für ihn keine Rettung mehr gäbe.<br />

Denn wie er auch grübelte <strong>und</strong> sich <strong>de</strong>n Kopf zersann, er fand aus diesem Labyrinth von<br />

Lei<strong>de</strong>nschaften keinen Ausweg. Nun begann er auf das unsinnigste gegen sich selber zu wüten.<br />

126<br />

Jean-François: Unser Kamingespräch wird nunmehr eine Frau eröffnen, mit <strong>de</strong>r ich lange<br />

größtenteils glückliche Jahre verheiratet war. Viele unter Ihnen wer<strong>de</strong>n sie kennen. Bitte, Eva-<br />

Maria!<br />

Eva-Maria: Heute möchte ich bei <strong>de</strong>r wissenschaftlichen Einsicht unserer gelehrten Fre<strong>und</strong>e mir<br />

Aufklärung darüber erbitten, was es für eine Bewandtnis mit <strong>de</strong>n sogenannten kritischen Tagen hat,<br />

über welche man in <strong>de</strong>r letzten Zeit wie<strong>de</strong>r so viel in <strong>de</strong>n Zeitungen gelesen <strong>und</strong> welche Erdbeben,<br />

Grubenexplosionen, Orkane <strong>und</strong> all <strong>de</strong>rgleichen schreckliche Ereignisse mit sich bringen sollen.<br />

Sehnaz Al-Sahedi hat darüber eine <strong>Theorie</strong> aufgestellt, <strong>und</strong> in <strong>de</strong>n ersten Tagen <strong>de</strong>s November<br />

hatten wir einen solchen kritischen Tag, wie ich gehört habe, auch soll <strong>de</strong>r 1. Januar ebenfalls ein<br />

solcher ganz außeror<strong>de</strong>ntlich kritischer Tag sein. Ich kann mir nun absolut nicht <strong>de</strong>nken, daß es<br />

möglich sein könne, solche elementare Ereignisse vorher zu bestimmen, die doch von<br />

Zufälligkeiten o<strong>de</strong>r wenigstens von Einwirkungen abhängen, die sich <strong>de</strong>r menschlichen Kenntnis<br />

<strong>und</strong> Beobachtung wenn nicht entziehen, so doch keineswegs vollständig erschließen. Ich begreife es<br />

wohl, daß man einige Tage vorher einen Orkan ankündigt, wenn man weiß, daß es zum Beispiel<br />

über <strong>de</strong>m Kanal heftig weht <strong>und</strong> die Luftbewegung naturgemäß sich fortsetzen muß, aber auf<br />

weithin bestimmte Tage zu bezeichnen, welche elementare Krisen über uns herbeiführen sollen, das<br />

scheint mir doch in <strong>de</strong>r Tat nicht möglich.<br />

Willi (Heiminsasse): Ich bin allerdings nicht in <strong>de</strong>r Lage, Ihnen, gnädige Frau, eine vollkommene<br />

Erklärung <strong>de</strong>s Systems, welche Sehnarz Al-Sahedi für ihre <strong>Theorie</strong> <strong>de</strong>r kritischen Tage aufgestellt<br />

hat, zu geben. Sie hat ja diese <strong>Theorie</strong> veröffentlicht, in<strong>de</strong>s zum Verständnis <strong>de</strong>rselben gehören<br />

Vorbedingungen, welche <strong>de</strong>n meisten Menschen fehlen, <strong>und</strong> ihre Sätze wer<strong>de</strong>n ja auch vielfach von<br />

an<strong>de</strong>rer Seite bestritten. So viel in<strong>de</strong>s kann auch <strong>de</strong>r Laie begreifen, daß es sich bei Al-Sahedis<br />

Ansicht nicht etwa um Mystik o<strong>de</strong>r eine Art von geheimnisvoller Magie han<strong>de</strong>lt. Sie bringt<br />

vielmehr die elementaren Erscheinungen auf unserer Er<strong>de</strong> im wesentlichen mit <strong>de</strong>n Sonnenflecken<br />

in Verbindung, welche ja lange schon beobachtet wor<strong>de</strong>n sind <strong>und</strong> in <strong>de</strong>ren Erscheinung sie eine<br />

gewisse vorauszubestimmen<strong>de</strong> Regelmäßigkeit feststellen zu können meint, die aus <strong>de</strong>r Bewegung<br />

<strong>de</strong>r glühen<strong>de</strong>n Körpermasse <strong>de</strong>r Sonne <strong>und</strong> <strong>de</strong>s dieselbe umgeben<strong>de</strong>n Flammenmeeres herzuleiten<br />

wäre. Ob diese Vorberechnung wirklich mit mathematischer Genauigkeit möglich sei, weiß ich<br />

nicht, so viel aber scheint mir ganz richtig, daß <strong>de</strong>r Einfluß elementarer Erscheinungen auf <strong>de</strong>r<br />

Sonne, von <strong>de</strong>r ja unser ganzes Leben abhängt, nicht nur die Bewegungen unserer Er<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn<br />

auch unsere Vegetation, unsere eigene körperliche Existenz, mit einem Worte alles, was in uns <strong>und</strong><br />

um uns tätig wird, in Abhängigkeit steht, Rückwirkungen auf unsere Verhältnisse haben müsse.<br />

Jean-François: Ganz klar. Sehen wir doch manche ganz außeror<strong>de</strong>ntliche Einwirkung, die <strong>de</strong>r Mond<br />

auf die Er<strong>de</strong> <strong>und</strong> uns ausübt, <strong>de</strong>r doch unser Planet ist <strong>und</strong> von uns in Abhängigkeit steht <strong>und</strong> nur


ückwaerts wie<strong>de</strong>r duch die Zurückwerfung <strong>de</strong>s Sonnenlichts seinen Einfluß geltend macht.<br />

Willi: Eben. Wir sehen, daß <strong>de</strong>r Mond auf Ebbe <strong>und</strong> Flut <strong>und</strong> das Wachstum <strong>de</strong>r Pflanzen einen<br />

ganz wesentlichen Einfluss übt, ja, wir wissen, wie von ihm in geheimnisvoller <strong>und</strong> unerklärbarer<br />

Weise bei <strong>de</strong>n Sexsüchtigen auch auf <strong>de</strong>n menschlichen Orgasmus ein mächtiger Einfluß ausgeht.<br />

Wie viel mehr muß dies bei <strong>de</strong>r Sonne <strong>de</strong>r Fall sein. Wenn <strong>de</strong>ren regelmäßiges Licht so viel<br />

regelmäßige Erscheinungen auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> hervorbringt, wie Sommer <strong>und</strong> Winter, Tag <strong>und</strong> Nacht,<br />

das Schlafen <strong>de</strong>r Tiere <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Pflanzen, das Blühen <strong>de</strong>r Blumen, das Rei...<br />

Jean-François: Laß gut sein, Willi!<br />

Willi: ... so ist es natürlich, daß auch außergewöhnliche Erscheinungen am Sonnenkörper ebenso<br />

außergewöhnliche Wirkungen auf das elementare Leben <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> haben können, ja sogar haben<br />

müssen. Wenn also das Erscheinen <strong>und</strong> umgekehrt wie<strong>de</strong>r das Verschwin<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sonnenflecken,<br />

welche Öffnungen in <strong>de</strong>r Flammenatmosphäre <strong>de</strong>r Sonne sein sollen <strong>und</strong> doch Gasausströmungen<br />

gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n, an einzelnen Stellen unserer Er<strong>de</strong> plötzliche Abkühlung <strong>und</strong> dann wie<strong>de</strong>r<br />

Erwärmung hervorrufen, so ist es natürlich, daß daraus sich Stürme entwickeln müssen, in<strong>de</strong>m die<br />

kalten <strong>und</strong> warmen Luftschichten sich durch mächtige Strömungen miteinan<strong>de</strong>r ausgleichen. Diese<br />

Stürme müssen um so heftiger sein, je plötzlicher die Erwärmungen <strong>und</strong> Abkühlungen eintreten.<br />

Solche schnellen <strong>und</strong> mächtigen Temperaturverän<strong>de</strong>rungen müssen aber ebenso unter die<br />

Erdoberfläche herabwirken <strong>und</strong> die dort lagern<strong>de</strong>n Gase ebenfalls schnell erhitzen o<strong>de</strong>r abkühlen.<br />

Dadurch entstehen dann die sogenannten schlagen<strong>de</strong>n Wetter <strong>und</strong> die Grubenexplosionen in <strong>de</strong>n<br />

Bergwerken, ebenso auch die Erdbeben...<br />

Zwischenrufer: Hört! Hört!<br />

Willi: ...in<strong>de</strong>m die Gase <strong>und</strong> feurigen Dünste durch die höhere Erwärmung sich aus<strong>de</strong>hnen <strong>und</strong><br />

auszuströmen suchen.<br />

Eva-Maria: Aber...!<br />

Willi: Die Gewitter, gnädige Frau, hängen ebenfalls mit <strong>de</strong>rartigen Temperaturverän<strong>de</strong>rungen<br />

zusammen, da in <strong>de</strong>n schwülen Lüften sich <strong>de</strong>r elektrische Stoff häuft <strong>und</strong> zu Explosionen drängt!<br />

Eva-Maria: Das alles ist mir vollkommen klar <strong>und</strong>, lassen Sie es mich höflich ausdrücken:<br />

begreiflich. Auch daß die Sonnenflecken in solcher Richtung wirksam sind, scheint mir durchaus<br />

erklärlich <strong>und</strong> natürlich. Nur vermag ich es nicht zu fassen <strong>und</strong> als richtig anzunehmen, daß es<br />

möglich sein solle, das Erscheinen <strong>de</strong>r Sonnenflecken vorher bestimmen zu können <strong>und</strong> also<br />

bestimmte Tage anzugeben, an <strong>de</strong>nen Erscheinungen wie Grubenexplosionen, Erdbeben <strong>und</strong> so<br />

weiter eintreten müssen.<br />

Willi: Mir ist das ebenfalls nicht vollkommen erklärlich...<br />

Hardi (Insasse): Mir auch nicht, allein für unmöglich kann ich es nicht halten, <strong>de</strong>nn die elementaren<br />

Erscheinungen auf <strong>de</strong>r Sonne richten sich doch ebenfalls nach bestimmten Gesetzen, <strong>und</strong> wer durch<br />

Beobachtung o<strong>de</strong>r Kombination diese Gesetze ganz o<strong>de</strong>r teilweise ermittelt hat, <strong>de</strong>r wird natürlich,<br />

wenn er die Ursache feststellen kann, auch <strong>de</strong>ren Wirkung vorher bestimmen können, ebenso wie<br />

<strong>de</strong>r Astronom, <strong>de</strong>r einmal die Bahnen <strong>de</strong>r Weltkörper festgestellt hat, genau auf die Sek<strong>und</strong>e<br />

vorhersagen kann, wann sich dieselben in ihrer Konstellation <strong>de</strong>cken <strong>und</strong> dadurch Finsternisse<br />

erzeugen. Bei <strong>de</strong>n Astronomen stimmt die Probe vollständig. Die Finsternisse treten ein <strong>und</strong> damit<br />

ist <strong>de</strong>r Beweis geliefert, daß auch die Berechnungen <strong>de</strong>r Umlaufbahnen <strong>de</strong>r Weltkörper richtig sind.<br />

Man muß nun allerdings Frau Al-Sahedi die Gerechtigkeit wi<strong>de</strong>rfahren lassen, daß ihre


Vorhersagungen sich gar vielfach bewahrheitet haben, wie zum Beispiel für <strong>de</strong>n Anfang November<br />

ja Stürme genau an <strong>de</strong>m Tag eingetreten sind, <strong>de</strong>n sie vorher als einen sogenannten kritischen<br />

bezeichnet hatte. Wür<strong>de</strong>n sich diese Vorhersagungen weiter genau erfüllen, so wür<strong>de</strong> man<br />

schließlich auch <strong>de</strong>r <strong>Theorie</strong>, auf welcher dieselben beruhen, die Anerkennung <strong>de</strong>r Richtigkeit nicht<br />

versagen können.<br />

Jean-François: Also müssen wir zunächst wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n 1. Januar abwarten, um die jetzt noch nicht<br />

abgeschlossene Beweisführung weiter zu verfolgen.<br />

Eva-Maria: Ich möchte doch hervorheben, daß zwischen <strong>de</strong>n Al-Sahedischen <strong>Theorie</strong>n <strong>und</strong> <strong>de</strong>n<br />

Berechnungen <strong>de</strong>r Astronomen, auf <strong>de</strong>nen die Vorherverkündigungen <strong>de</strong>r Finsternisse beruhen, ein<br />

wesentlicher Unterschied besteht. Die Bahnen <strong>de</strong>r Planeten sind etwas ganz Bestimmtes, in ihren<br />

Eigenschaften wie in ihren Wirkungen unabän<strong>de</strong>rlich Feststehen<strong>de</strong>s. Es sind eben nur rein<br />

mathematische Berechnungen, die ja natürlich immer zutreffen müssen, sofern sie von richtigen<br />

Voraussetzungen ausgehen. Die <strong>Theorie</strong> von Sehnaz Al-Sahedi aber greift in das organische,<br />

gewissermaßen chemische Leben <strong>de</strong>r Weltkörper ein, <strong>und</strong> dabei ist, wie mir scheint, von <strong>de</strong>r<br />

Sicherheit rein mathematischer Berechnungen nicht die Re<strong>de</strong>. Wenn ich zum Beispiel bestimmt<br />

weiß, daß ein gewisses Medikament aus <strong>de</strong>m Pflanzen- o<strong>de</strong>r Mineralreich eine bestimmte Wirkung<br />

auf <strong>de</strong>n menschlichen Organismus ausübt, so kann ich darum doch niemals mit voller Bestimmtheit<br />

sagen, in welchem Gra<strong>de</strong> <strong>und</strong> zu welcher Zeit diese Wirkungen eintreten wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn das hängt<br />

von verschie<strong>de</strong>nen an<strong>de</strong>rweitigen Wirkungen ab, welche mir vielleicht teilweise ganz unbekannt<br />

sind, je<strong>de</strong>nfalls aber an<strong>de</strong>ren Gesetzen folgen. Wenn ich die gleiches Dosis eines Medikaments<br />

heute einem Menschen <strong>und</strong> morgen einem an<strong>de</strong>ren eingebe, so wird vielleicht bei <strong>de</strong>m einen die<br />

Wirkung viel geringer, vielleicht gar nicht eintreten, je nach<strong>de</strong>m er etwas an<strong>de</strong>res in sich<br />

aufgenommen hat, was eine Gegenwirkung erzeugt. Die Wirkung wird bei <strong>de</strong>m einen Menschen<br />

schneller als bei <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren eintreten, auch bei <strong>de</strong>mselben Menschen zu verschie<strong>de</strong>nen Zeiten <strong>und</strong><br />

unter verschie<strong>de</strong>nen Umstän<strong>de</strong>n sich an<strong>de</strong>rweitig äußern. Ich hege das Be<strong>de</strong>nken, daß auf <strong>de</strong>m<br />

Gebiet, das Frau Al-Sahedi allerdings mit vielem Geist <strong>und</strong> vieler Konsequenz zu erforschen<br />

bemüht ist, ganz genaue Berechnungen überhaupt nicht möglich sind, ja, daß die auf<br />

erfahrungsmäßige Beobachtung gestützten <strong>und</strong> an sich vielleicht richtigen Berechnungen unter<br />

Umstän<strong>de</strong>n ganz fehlsam wer<strong>de</strong>n, weil eben an<strong>de</strong>re Wirkungen dazwischen o<strong>de</strong>r entgegen getreten<br />

sind, <strong>de</strong>ren Gesetze man nicht kennt o<strong>de</strong>r die man nicht hat in Betracht ziehen können.<br />

Willi: Das ist ganz richtig, dagegen vermag ich nichts einzuwen<strong>de</strong>n, so sehr ich auch wünsche, daß<br />

die <strong>Theorie</strong> <strong>de</strong>r Frau Al-Sahedi sich bewahrheiten möge, <strong>de</strong>nn es wür<strong>de</strong> ja <strong>de</strong>r Menschheit zum<br />

großen Segen gereichen, wenn man die uns aus <strong>de</strong>m elementaren Leben <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> drohen<strong>de</strong>n<br />

Gefahren vorher berechnen <strong>und</strong> sich dadurch gegen sie schützen könnte. Den Ausschlag wird<br />

je<strong>de</strong>nfalls <strong>de</strong>r tatsächliche Beweis <strong>de</strong>r Richtigkeit geben müssen.<br />

Eva-Maria: So wollen wir <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>n 1. Januar abwarten, um zu sehen, ob auch dieser Tag sich<br />

wie<strong>de</strong>r als ein kritischer erweisen <strong>und</strong> die bösen Vorhersagungen wahr machen wird. Ich muß<br />

aufrichtig sagen, ich wünsche von Herzen, daß Frau Al-Sahedi unrecht haben möge <strong>und</strong> daß das<br />

kommen<strong>de</strong> Jahr sich nicht durch Erdbeben, Grubenexplosionen <strong>und</strong> gefährliche Stürme gleichsam<br />

auszeichnen möge – wir haben wahrlich <strong>de</strong>s Unglücks in <strong>de</strong>n Jahren '99, '06 <strong>und</strong> '09 genug gehabt,<br />

<strong>und</strong> ich sehne mich so recht nach einer ruhigen, gleichmäßig fre<strong>und</strong>lichen Zeit.<br />

Hardi: Nun, so abergläubisch wollen wir nicht sein, um aus einem Gewitter am Neujahrstag gleich<br />

verhängnisvolle Schlüsse auf Glück o<strong>de</strong>r Unglück <strong>de</strong>s ganzen Jahres zu ziehen.<br />

Eva-Maria: Ich bin nicht abergläubisch, aber doch muß ich gestehen, daß mir das Vertrauen zu<br />

einem glücklichen Jahr nicht so recht von Herzen kommen wür<strong>de</strong>, wenn <strong>de</strong>r Neujahrstag sich<br />

gera<strong>de</strong> durch Unglücksfälle auszeichnet.


Jean-François: Mag nun meine liebe Sehnaz am 1. Januar recht behalten o<strong>de</strong>r nicht, so bleibt ihre<br />

<strong>Theorie</strong> immer höchst interessant <strong>und</strong> ihre Mühe <strong>und</strong> Arbeit außeror<strong>de</strong>ntlich anerkennenswert!<br />

Auch beweist ein einmaliger Fehlschlag durchaus noch nichts gegen die Richtigkeit ihrer<br />

Voraussetzung. Je<strong>de</strong> neue Ent<strong>de</strong>ckung bedarf ja <strong>de</strong>r Zeit, um sich zu voller Wahrheit Bahn zu<br />

brechen. Fast alle unsere Erfindungen haben ja die Stadien <strong>de</strong>s Irrtums <strong>und</strong> <strong>de</strong>r Täuschung<br />

durchgemacht, bis endlich die Wahrheit sich siegreich Bahn gebrochen. Eine sichere Prognose <strong>de</strong>r<br />

elementaren Erscheinungen auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> wäre, wenn man sie erreichte, wohl <strong>de</strong>r höchste Triumph<br />

<strong>de</strong>s menschlichen Geistes <strong>und</strong> eine große Wohltat für alle Menschen. Mit diesen Worten möchte ich<br />

unser heutiges Kamingespräch schließen. Ich bedanke mich für das aufschlußreiche Gespräch. Bis<br />

zum nächsten Mal – hier bei uns im Kritikerheim zu Bielefeld.<br />

127<br />

Jean-François: Willkommen hier bei uns im Kritikerheim zu Bielefeld. Ich begrüße Sie sehr<br />

herzlich zu einem neuen Kamingespräch. Heute, nach Wochen schier unerträglicher Abstinenz,<br />

wer<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r einmal ich lesen, <strong>und</strong> zwar aus meinem Buch Unser Frauen Leben einige beson<strong>de</strong>rs<br />

gut gelungene Passagen, enthalten in einem Kapitel, welches Die vornehme junge Frau heißt. Wie<br />

auch im Falle <strong>de</strong>r Koketten – Sie wer<strong>de</strong>n sich an meine durchaus provokanten Ausführungen gern<br />

erinnern – han<strong>de</strong>lt es sich bei <strong>de</strong>r Vornehmen ebenfalls um einen nur auf <strong>de</strong>n ersten Blick spezifisch<br />

US-amerikanischen Frauentypus. Lassen Sie mich beginnen: « Maisgelb, himmelblau, weiß <strong>und</strong><br />

rosa – das sind die Farben, welcher Frau Natur sich bediente, als sie Miss Susan Backwater so<br />

blumenhaft blond <strong>und</strong> zart schuf. Sie erreicht kaum das gewöhnliche Mittelmaß <strong>und</strong> zeigt bereits in<br />

<strong>de</strong>r sanften R<strong>und</strong>ung ihres Wuches, daß sie etwas zur Fülle geneigt ist. Im Einklang damit sind ihre<br />

Bewegungen gemessen, <strong>und</strong> ihr Gang ist ruhig, rhythmisch gleichmäßig. Sie lacht nie laut, lächelt<br />

jedoch gern, mit einer gewissen matten Fre<strong>und</strong>lichkeit, etwa wie die blasse Dezembersonne, wenn<br />

sie sich redlich bemüht, die ihr entrückte, frieren<strong>de</strong> Er<strong>de</strong> zu bescheinen. Ihre Stimme hat jenen<br />

klaren, feinen Halbflüsterton, von welchem <strong>de</strong>r englische Dichter behauptet, daß er <strong>de</strong>r größte Reiz<br />

<strong>de</strong>s Weibes sei; sie gibt sich Mühe, ihn niemals fallen zu lassen. Je<strong>de</strong> Aufregung erscheint ihr<br />

unschicklich. Sorgfältig vermei<strong>de</strong>t sie, erhitzt o<strong>de</strong>r erregt auszusehen. Sie liebt große<br />

Gesellschaften, huldigt aber wenig <strong>de</strong>m Tanz; außer <strong>de</strong>m Manhatten gestattet sie sich höchstens<br />

noch <strong>de</strong>n Boston-Gli<strong>de</strong>-Waltz, <strong>de</strong>r eigens für sie erf<strong>und</strong>en sein könnte, weil er im Gr<strong>und</strong>e nur zu<br />

Abkühlung dient <strong>und</strong> <strong>de</strong>r einzige Tanz ist, welcher das Recht <strong>de</strong>r langen Schleppe an <strong>de</strong>r Ballrobe<br />

anerkennt. Die Hauptbedingung <strong>de</strong>s Bostons ist, daß <strong>de</strong>r Herr seine Tänzerin mit Kraft <strong>und</strong> Anmut<br />

im Arme hält. Ich bitte! Fangen wir endlich an! sagt Miss Susan Backwater zu ihrem Partner, <strong>de</strong>r<br />

beinahe schon fünf Minuten, <strong>de</strong>n Arm um ihre geschmeidige Taille gelegt, unbeweglich mit ihr in<br />

<strong>de</strong>r Reihe <strong>de</strong>r Tanzen<strong>de</strong>n steht. Ich meine, Miss Backwater, es tanzt sich so, im Stehen, recht<br />

angenehm! Wir haben noch obendrein <strong>de</strong>n Vorteil, unseren Platz nicht wechseln zu müssen. – Sie<br />

sind shocking, Mr. Vaugham! Führen Sie mich zu meiner Mutter! Ich wer<strong>de</strong> keinen Walzer mehr<br />

mit Ihnen tanzen. Sie hält ihr Wort, obgleich sie es, fre<strong>und</strong>lich lächelnd, wie im Scherze gibt... »<br />

Eva-Maria: Ich weiß nicht, das Vornehme liegt ihm offenbar nicht.<br />

Carlo: Warten wir's ab. Jean-François kriegt bestimmt noch die Kurve.<br />

Jean-François: « Wenn Miss Susan <strong>de</strong>n Ball verläßt, sieht ihre Toilette noch eben so frisch, ihr Haar<br />

so wohlgeordnet, ihr Gesicht so zart <strong>und</strong> kühl aus wie bei ihrem Eintritt in <strong>de</strong>n Saal. Die Heimat <strong>de</strong>r<br />

Ladyliken ist Phila<strong>de</strong>lphia, die stille, altjüngerferliche Quäkerstadt, wo ein Haus <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren zum<br />

Verwechseln ähnlich sieht, die weißen Marmortreppen – wer weiß, wie viele tausen<strong>de</strong>! – vor <strong>de</strong>n<br />

Haustüren alle zur selben St<strong>und</strong>e <strong>de</strong>s Morgens abgewaschen wer<strong>de</strong>n; wo man sich wegen <strong>de</strong>r<br />

w<strong>und</strong>erbaren Regelmäßigkeit <strong>de</strong>r Straßen so w<strong>und</strong>erbar schlecht zurechtfin<strong>de</strong>t. Ihre Eltern sind<br />

wohlhaben<strong>de</strong> Leute, Inhaber einer Kette von Fast-Food-Restaurants, <strong>de</strong>nen die Erziehung <strong>und</strong> das


Glück <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r sehr am Herzen liegt. Der ältere ihrer Söhne hat in Hei<strong>de</strong>lberg Medizin studiert,<br />

<strong>de</strong>r jüngere befin<strong>de</strong>t sich auf <strong>de</strong>r Universität Cambridge. Er wird wahrscheinlich Minister <strong>de</strong>r<br />

Episkopalkirche wer<strong>de</strong>n. Susan hat einen guten Unterricht genossen. Sie treibt ... »<br />

Carlo: Jetzt wird's interessant. Jean-François kommt zum Thema!<br />

Jean-François: « ... mit Verständnis Musik, singt nach ihrer eigenen Klavierbegleitung mit einer<br />

ungemein sympathischen, glockenreinen, kleinen Stimme <strong>und</strong> liest gute Bücher <strong>und</strong> Zeitschriften. »<br />

Carlo (laut): Welche <strong>de</strong>nn?<br />

Jean-François: Nun, sie liest Capote <strong>und</strong> Salinger, aber auch Randolph Bourne <strong>und</strong> Don DeLillo –<br />

<strong>und</strong> selbstverstaendlich <strong>de</strong>n New Yorker, außer<strong>de</strong>m Dante. Ich fahre fort: « Aber: Sie ist streng<br />

gläubig, versäumt nie die Kirche, hält eine Klasse in <strong>de</strong>r Sonntagsschule <strong>und</strong> ist stets die erste zur<br />

Morgenandacht, obgleich sie gern lange schläft. Des Sonntags geht sie keinen Vergnügungen nach<br />

<strong>und</strong> empfängt auch keinen Besuch. Die gesamte Dienerschaft verehrt sie, nie hört man ein lautes,<br />

unzufrie<strong>de</strong>nes Wort aus ihrem M<strong>und</strong>e, nie sieht man die Falte <strong>de</strong>s Unmuts, einen Schatten von<br />

schlechter Laune auf ihrer weißen Stirn... »<br />

Carlo: Hingegen versteht Du es, verehrter Jean-François, mit Deiner Lesung einen langen Schatten<br />

auf meine Stirn zu werfen: Meine schlechte Laune steigt sekündlich!<br />

Jean-François (unbeirrt): « Im Sommer reist Susan mit ihrer Mutter nach Newport, wo sich nach<br />

<strong>und</strong> nach auch die übrigen Familienmitglie<strong>de</strong>r einfin<strong>de</strong>n. Wie sich ihre Toiletten in Phila<strong>de</strong>lphia<br />

durch vornehme Einfachheit auszeichnen, so in Newport durch schmucklose Sauberkeit. Ihr<br />

Hauptvergnügen ist das Boating. Sie ru<strong>de</strong>rt sehr geschickt <strong>und</strong> versteht wie ein Lotse das Steuer zu<br />

führen. Einst wur<strong>de</strong> sie auf <strong>de</strong>m Meer vom Unwetter überrascht. Sie befand sich allein auf ihrem<br />

eigenen kleinen Segelboot mit einem alten Schiffer, <strong>de</strong>n sie eigentlich nur zur Begleitung<br />

mitgenommen hatte. Sie schwebten in Gefahr, unterzugehen; wie eine Nußchale tanzte das behen<strong>de</strong><br />

Fahrzeug auf <strong>de</strong>n hochschlagen<strong>de</strong>n Wogen; bei<strong>de</strong> waren bis auf die Haut durchnäßt. Ruhig, aber<br />

etwas bleicher als gewöhnlich, saß Miss Backwater am Steuer. Ob man uns am Strand noch nicht<br />

vermißt, Bob? Sie mußte ihre Stimme ungewöhnlich anstrengen, um sich in <strong>de</strong>m Rauschen <strong>und</strong><br />

Brausen <strong>de</strong>r Elemente hörbar zu machen. Ich glaube es, Miss! Wenn ich nicht irre, kommt uns<br />

jemand zu Hilfe! erwi<strong>de</strong>rte <strong>de</strong>r Fährmann, <strong>de</strong>m fast <strong>de</strong>r Atem ausgegangen war. Das ist gewiß mein<br />

Bru<strong>de</strong>r. Wer<strong>de</strong>n wir uns so lange halten können, Bob? – Ich hoffe es, Miss. Der Wind scheint<br />

gera<strong>de</strong> nicht stärker zu wer<strong>de</strong>n <strong>und</strong> kommt uns wenigstens nicht mehr direkt entgegen. Bob irrte. Es<br />

nahte keine Rettung. Und Miss Backwater fühlte ihre Kräfte merklich schwin<strong>de</strong>n. Sie bebte am<br />

ganzen Körper; die nassen Klei<strong>de</strong>r klebten ihr schwer an <strong>de</strong>n zarten Glie<strong>de</strong>rn... » Aber meine lieben<br />

Fre<strong>und</strong>e! Liebe Gäste! So bleiben Sie doch! Ich bitte Sie!<br />

Eva-Maria (laut): Das war einfach zu viel, Jean-François! O<strong>de</strong>r zu wenig! Wie man's nimmt. Wir<br />

ziehen jetzt alle in die Kneipe gegenüber. Vielleicht magst Du beizeiten nachkommen.<br />

128<br />

Sehnaz Al-Sahedi: Heute muß ich <strong>de</strong>n Herren eine sehr gelehrte Frage stellen, eine Frage, welche<br />

die Medien mehrfach behan<strong>de</strong>lt haben <strong>und</strong> über die ich trotz <strong>de</strong>r ernsten Sache <strong>und</strong> wegen <strong>de</strong>r<br />

Person, die sie betrifft, doch recht herzlich habe lachen müssen. Die Medien haben sich also<br />

eingehend darüber verbreitet, ob <strong>de</strong>r amtieren<strong>de</strong> Außenminister, nach<strong>de</strong>m die Universität Eichstätt<br />

ihn zum Doktor <strong>de</strong>r Theologie ehrenhalber ernannt hat, auch das Recht habe, die Kanzel zu<br />

besteigen <strong>und</strong> zu predigen. Ich zweifle durchaus keinen Augenblick, daß <strong>de</strong>r Außenminister auch


dieses Amtes äußerst erfolgreich zu walten verstehen wür<strong>de</strong> ...<br />

Carlo: Aber Sehnaz...!<br />

Sehnaz Al-Sahedi: ... <strong>de</strong>nn manche seiner Re<strong>de</strong>n sind wohl min<strong>de</strong>stens ebenso beherzigenswert <strong>und</strong><br />

erhebend gewesen als manche Predigt ...<br />

Carlo: Gut die Kurve genommen. Respekt!<br />

Sehnaz Al-Sahedi: ... aber wenn ich es nun versuche, mir diesen Außenminister im Talar als<br />

Prediger vorzustellen, so ist es mir unmöglich, ernsthaft zu bleiben. Wohl weiß ich, daß das nur<br />

müßige Fragen sind, aber ist <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Außenminister nun wirklich, wie die Leute sagen,<br />

« geistlich » gewor<strong>de</strong>n?<br />

Jean-François: Liebste Sehnaz, meine Liebe, vielen Dank für diese Hinstimmung. Uns heutiges<br />

Kamingespräch scheint ein höchst interessantes zu wer<strong>de</strong>n. Und in <strong>de</strong>r Tat, Sehnaz, sind das recht<br />

müßige Fragen, <strong>und</strong> diejenigen, welche dieselben in <strong>de</strong>n Medien erörtern, haben mehr überflüssige<br />

Zeit als Verständnis <strong>de</strong>r betreffen<strong>de</strong>n Verhältnisse. Die Erlangung <strong>de</strong>r Doktorwür<strong>de</strong> in einer<br />

Fakultät gibt nur aka<strong>de</strong>mische, aber keine staatlichen Rechte, wenn dieselben nicht ausdrücklich<br />

daran geknüpft sind, wie seinerzeit zum Beispiel an die Erwerbung <strong>de</strong>s Doktortitels <strong>de</strong>r Rechte die<br />

Befreiung von <strong>de</strong>m ersten, niedrigsten juristischen Staatsexamen. Ein Doktor <strong>de</strong>r Medizin ist darum<br />

noch nicht praktischer Arzt <strong>und</strong> darf als solcher nicht ohne weiteres tätig sein. Es gibt verschie<strong>de</strong>ne<br />

Apotheker, die Doktoren <strong>de</strong>r Medizin sind, ohne darum ärztliche Funktionen ausüben zu dürfen,<br />

sogar Zahnärzte haben zuweilen schon medizinische Doktorwür<strong>de</strong> erlangt. Ebenso haben wir auf<br />

<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite aka<strong>de</strong>mische Mediziner, welche we<strong>de</strong>r jemals ärztliche <strong>Praxis</strong> ausgeübt, noch die<br />

Berechtigung dazu erworben haben. Viele unserer be<strong>de</strong>utendsten Professoren, bei <strong>de</strong>nen eine große<br />

Zahl unserer jüngeren Ärzte gelernt hat <strong>und</strong> welche bahnbrechend auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r Heilk<strong>und</strong>e<br />

wirkten, haben niemals ärztliche <strong>Praxis</strong> geübt. So ist das <strong>de</strong>nn auch in <strong>de</strong>r theologischen Fakultät.<br />

Die Doktorwür<strong>de</strong> ist auch hier nur aka<strong>de</strong>misch <strong>und</strong> berechtigt als solche nicht zur Ausübung<br />

geistlicher Handlungen irgendwelcher Art. Die meisten unserer Geistlichen sind nicht Doktoren <strong>de</strong>r<br />

Theologie, <strong>und</strong> umgekehrt gibt es Doktoren <strong>de</strong>r Theologie, welche nicht Geistliche sind. Um also<br />

geistliche Funktionen ausüben <strong>und</strong> die Kanzel besteigen zu können, müßte unser Außenminister<br />

zuvor immer noch erst Kandidat wer<strong>de</strong>n, sich die Befähigung zum Amt erwerben <strong>und</strong> dann auch<br />

noch die Ordination erlangen. Eines aber steht <strong>de</strong>m Außenminister ganz zweifellos zu, das ist, <strong>de</strong>n<br />

aka<strong>de</strong>mischen Talar <strong>und</strong> <strong>de</strong>n Hut <strong>de</strong>r Doktoren <strong>de</strong>r Theologie zu tragen zu allen seinen<br />

Ehrenklei<strong>de</strong>rn, <strong>de</strong>ren er schon gar manche besitzt, wenn er sie auch wohl schwerlich jemals anlegen<br />

wird. »<br />

Willi (Heiminsasse): Da wäre ich mir nicht so sicher!<br />

Eva-Maria: Verzeih' meine Neugier, Jean-François, es wäre mir wirklich interessant zu wissen,<br />

welche verschie<strong>de</strong>nen Ehrenklei<strong>de</strong>r unser großer Außenminister zu tragen berechtigt ist, wenn er<br />

einmal die Neigung verspürte, sich äußerlich ebenso vielgestaltig zu zeigen, als er in seinem Geist<br />

auf <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Gebieten <strong>de</strong>s Wissens, ich erinnere an seine prof<strong>und</strong>en Kenntnisse etwa <strong>de</strong>r<br />

römischen Kulturgeschichte, <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Könnens, hier kann ich an nichts erinnern, heimisch ist.<br />

Sehnaz Al-Sahedi: Ungefähr kann Ihnen darüber wohl Auskunft geben, Gnädigste, doch weiß ich<br />

nicht, ob meine Kenntnis dieser zeremoniellen Frage ganz ausreichen wird.<br />

Jean-François: Nur zu, Sehnaz, nur zu!<br />

Sehnaz Al-Sahedi: Da haben wir zunächst die Uniform eines Generals <strong>de</strong>r Kavallerie, sodann die


Uniform <strong>de</strong>s Mag<strong>de</strong>burgischen Kürassierregiments Nr. 7 – bei<strong>de</strong> in zwei verschie<strong>de</strong>nen Formen<br />

übrigens: die große goldbestickte <strong>und</strong> die kleine einfache Generalsuniform, sowie <strong>de</strong>n blauen <strong>und</strong><br />

<strong>de</strong>n weißen Rock <strong>de</strong>r Kürassiere.<br />

Willi: Der hat doch gar nicht gedient!<br />

Sehnaz Al-Sahedi: Eben. Dazu kommt die Uniform <strong>de</strong>s 1. Siegburger Landwehrregiments Nr. 37,<br />

<strong>de</strong>ssen Chef ehrenhalber <strong>de</strong>r Außenminister ist. Diese sämtlichen militärischen Uniformen trägt <strong>de</strong>r<br />

Aussenminister zeitweilig, aber nicht in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. Die Kürassieruniform mit <strong>de</strong>m<br />

blaugelben Kragen <strong>und</strong> Mützenrand ist seine gewöhnliche Tracht, in <strong>de</strong>r ihn seine unmittelbar<br />

private Umgebung am meisten kennt. Die große Generalsuniform trägt er bei beson<strong>de</strong>rs feierlicher<br />

Gelegenheit. Ob für <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen Außenminister bereits eine eigene Uniform festgelegt ist, weiß<br />

ich nicht, ich muß das gestehen. Ich glaube das nicht, je<strong>de</strong>nfalls hat <strong>de</strong>r Außenminister niemals eine<br />

solche Uniform getragen.<br />

Eva-Maria: Vielleicht existiert eine solche Uniform. Und vielleicht trägt er sie auch – heimlich.<br />

Jean-François: Darüber läßt sich im Moment nur spekulieren...<br />

Sehnaz Al-Sahedi: Wir sind noch lange nicht zu En<strong>de</strong>! Die Galagar<strong>de</strong>robe unseres Außenministers<br />

<strong>de</strong>hnt sich noch sehr viel weiter aus...<br />

Jean-François: Machen wir doch einfach hier mal eine kleine Pause!<br />

Jean-François: Also fahren wir fort!<br />

129<br />

Sehnaz Al-Sahedi: Der Außenminister ist als Herr von Poppelsdorf, Go<strong>de</strong>sberg <strong>und</strong> Marienburg<br />

Mitglied verschie<strong>de</strong>ner Ritterschaften <strong>und</strong> also berechtigt, die entsprechen<strong>de</strong>n Uniformen dieser<br />

Korporationen zu tragen. Es ist Erb-Oberjägermeister von Braunschweig <strong>und</strong> Wolfenbüttel, hat also<br />

auch das Recht, die Uniform dieses Hofamtes zu tragen. Dazu kommt noch die Uniform eines<br />

Ehrenkommandanten <strong>de</strong>s Johanniteror<strong>de</strong>ns <strong>und</strong> das Galakleid <strong>de</strong>s gelben Adleror<strong>de</strong>ns mit <strong>de</strong>m<br />

großen dunkelblauen Mantel, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Liberale bei <strong>de</strong>r Vereidigung trug.<br />

Carlo: Liberal, liebe Sehnaz, ist ein sehr doppel<strong>de</strong>utiges Wort. In seinem eigentlichen Sinne<br />

be<strong>de</strong>utet es das Höchste, was <strong>de</strong>r streben<strong>de</strong> Menschengeist erreichen kann: die Freiheit von allem<br />

Vorurteil, <strong>de</strong>n weiten Umblick von <strong>de</strong>r hohen Warte <strong>de</strong>r Bildung <strong>und</strong> <strong>de</strong>s Wissens. Diejenigen<br />

mo<strong>de</strong>rnen Richtungen in <strong>de</strong>r Politik <strong>und</strong> in <strong>de</strong>r Religion, welche aus mangelhafter Bildung <strong>und</strong><br />

unfähigem Ehrgeiz in <strong>de</strong>r Verneinung <strong>und</strong> <strong>de</strong>r hämischen Kritik <strong>de</strong>r bestehen<strong>de</strong>n Rechte ihre Größe<br />

suchen, haben nun vielfach jenes Wort, das sie für sich in Anspruch nehmen, in Mißkredit gebracht.<br />

Jean-François: Carlo, Du kommt vom Thema ab.<br />

Carlo: Der Meinung bin ich ganz <strong>und</strong> gar nicht. Wir kennen <strong>de</strong>n einen o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren, <strong>de</strong>r liberal in<br />

jener ersten Be<strong>de</strong>utung ist, <strong>de</strong>r nicht <strong>de</strong>n Vertretern <strong>de</strong>r seichten Kritik angehört, <strong>de</strong>r nicht kritisiert,<br />

um im Bewußtsein <strong>de</strong>r Geistesarmut <strong>de</strong>n Schein <strong>de</strong>s Besserwissens zu verbreiten. Der<br />

Außenminister...<br />

Willi: Ganz Deutschland darf ihn ganz zu <strong>de</strong>n Seinen rechnen!


Carlo: Und auf ihn stolz sein!<br />

Jean-François: Okay, okay, wir brechen hier ab.<br />

Eva-Maria: Feigling!<br />

130<br />

Carlo: Wieviel PS hat <strong>de</strong>r Schlepper?<br />

Rambo: Du fragst wie die meisten, die sich einen Schlepper kaufen wollen. Was aber willst Du<br />

wirklich wissen?<br />

Carlo: Tja, eigentlich will ich genau das wissen.<br />

Rambo: Denk' doch mal nach!<br />

Carlo: Was ist <strong>de</strong>nn das für ein blö<strong>de</strong>s Spiel!?<br />

Rambo: Was Du wirklich wissen willst, ist, wieviel <strong>de</strong>r Schlepper ziehen kann.<br />

Carlo: Ja, wenn Du meinst.<br />

Rambo: Wenn ich meine... Genau das mußt Du wissen! Denn <strong>de</strong>r weitaus größte Teil <strong>de</strong>r gesamten<br />

Schlepperarbeiten besteht aus Zugarbeiten, <strong>und</strong> hierbei kommt es allein darauf an, welche Kraft am<br />

Zughaken zur Verfügung steht. Motorstärke <strong>und</strong> Zughakenleistung sind aber zweierlei, <strong>und</strong> was <strong>de</strong>r<br />

Schlepper an Zugkraft entwickelt, hängt nicht allein von <strong>de</strong>r Stärke seines Motors ab.<br />

Carlo: Aber ich will doch nur einen Schlepper, nur so.<br />

Rambo: Eben. Mach' Dich doch mal schlau! Dann wirst Du auf einen Schlepper stoßen, <strong>de</strong>ssen<br />

Zughakenleistung im Verhältnis zu seiner Motorstärke außeror<strong>de</strong>ntlich günstig ist.<br />

Carlo: Ist nicht wahr!<br />

Rambo: Doch! Dieser ungewöhnlich hohe Wirkungsgrad hat seine Begründung in <strong>de</strong>r Anordnung<br />

es Differentials auf einer Vorgelegewelle, <strong>de</strong>r Zahnform <strong>de</strong>r Hauptgetrieberä<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>m geringen <strong>und</strong><br />

vorteilhaften Eigengewicht <strong>de</strong>s Schleppers <strong>und</strong> nicht zuletzt <strong>de</strong>m hohen Durchmesser <strong>de</strong>r<br />

Triebrä<strong>de</strong>r.<br />

Carlo: Ich bin gerührt.<br />

Rambo: Das verw<strong>und</strong>ert mich nicht. Schließlich habe ich soeben ein Geheimnis gelüftet, das<br />

Geheimnis <strong>de</strong>r hohen Leistung eines Schleppers, über die je<strong>de</strong>r verw<strong>und</strong>ert ist, <strong>de</strong>r diese Maschine<br />

bei <strong>de</strong>r Arbeit sieht.<br />

Carlo: Ja, laßt Tatsachen sprechen. Mensch Rambo, wie heißt die W<strong>und</strong>erkiste?<br />

Rambo: F-12-G. Gibts aber nicht mehr. Du mußt Deine neue Karriere schon mit einem an<strong>de</strong>ren<br />

Gerät starten. O<strong>de</strong>r es besser ganz lassen. Weißt Du eigentlich schon, wie Du heißen wirst?


Carlo: Heini.<br />

Rambo: Immerhin ein Fortschritt, wenn ich an Manfred <strong>de</strong>nke.<br />

131<br />

Jean-François: Warum hast Du mir das nie gesagt?<br />

Eva-Maria: Ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht. Ist ja auch völlig unwichtig.<br />

Jean-François: Das fin<strong>de</strong> ich nicht. Du warst Siegerin bei einer Misswahl! So etwas schafft nicht<br />

je<strong>de</strong>.<br />

Eva-Maria: Siegerin <strong>de</strong>r Misswahl <strong>de</strong>r H 61! Das schränkt das Ganze doch ein bißchen ein.<br />

Jean-François: Ach was! Du hattest dich damals gegen starke Konkurrenz durchgesetzt. Wer weiß,<br />

was aus uns gewor<strong>de</strong>n wäre, wenn ich früher gewußt hätte, daß meine Frau bei einer richtigen<br />

Misswahl gesiegt hat.<br />

Eva-Maria: Ich sag's noch einmal: Es war die Misswahl <strong>de</strong>r H 61!<br />

Jean-François: Um so be<strong>de</strong>utsamer ist das Ereignis doch. Wer saß in <strong>de</strong>r Jury? Kenn' ich einen?<br />

Eva-Maria: Andreas, Gunter, Heinz, Hubert, Wolfgang, Werner, Hans-Wilhelm <strong>und</strong> Wilfried.<br />

Jean-François: Kenn' ich nicht. O<strong>de</strong>r vielleicht doch? Vielleicht sollte ich ein Kamingespräch über<br />

Misswahlen ins Auge fassen <strong>und</strong> eins <strong>de</strong>r Jurymitglie<strong>de</strong>r einla<strong>de</strong>n. Und dich natürlich auch. Was<br />

meinst Du?<br />

Eva-Maria: Klasse I<strong>de</strong>e...<br />

132<br />

Sonja: Wer hat das geschrieben?<br />

Jean-François: Ich kann es Dir nicht sagen.<br />

Sonja: Aber Du weißt, um wen es hier geht?<br />

Jean-François: Da wird ein Mensch beschrieben, <strong>de</strong>r mir nicht völlig unbekannt ist.<br />

Sonja: Wie alt warst Du, als das Gutachten angefertigt wur<strong>de</strong>?<br />

Jean-François: Rechne selbst! Das Gutachten stammt aus <strong>de</strong>m Jahr 1968.<br />

Sonja: Warum wur<strong>de</strong> es gemacht?<br />

Jean-François: Ich war nicht <strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r ich sein sollte.<br />

Sonja: Also wur<strong>de</strong> Dein Charakter einer wissenschaftlichen Analyse unterzogen. Ob's für das, was


Du bist, überhaupt reicht.<br />

Jean-François: So ungefähr. Ich glaubte mich vor wichtigen Entscheidungen stehend, war mir aber,<br />

so wur<strong>de</strong> es mir je<strong>de</strong>nfalls nahegelegt, über das, was ich wollte, völlig im Unklaren. Man <strong>de</strong>utete<br />

meine temperamentvolle Betriebsamkeit, die mir durchaus zu eigen war, auch wenn man es heute<br />

nicht mehr glauben mag, meinen guten Vorsatz <strong>und</strong> meinen Willen als Täuschungsmanöver.<br />

Sonja: Vergiß nicht Dein Verschlossensein bis zum Trotz – das dürfte Dir damals bereits die eine<br />

o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Schwierigkeit bereitet haben.<br />

Jean-François: Ach, laß das doch. Fehlt jetzt nur noch, daß Du mir Ungeduld, innere Unruhe <strong>und</strong><br />

zusammenhanglose Gedankenführung vorwirfst, die wollte man nämlich damals festgestellt haben<br />

<strong>und</strong> beschrieb sie als ein einem konstanten Entwicklungsverlauf hin<strong>de</strong>rliches Charaktermerkmal.<br />

Sonja: Trotz<strong>de</strong>m bist Du gewor<strong>de</strong>n, was Du bist – Großkritiker, mein Liebhaber <strong>und</strong> jetzt, nach all<br />

<strong>de</strong>n Strapazen, Leiter eines Kulturkritikerheims in Bielefeld. Das macht Dir so schnell keiner nach.<br />

Jean-François: Auf die I<strong>de</strong>e wird keiner kommen wollen.<br />

Sonja: Kennst Du die 68er Charakteranalyse?<br />

Eva-Maria: Was soll das sein? Klingt gruselig.<br />

133<br />

Sonja: Sie han<strong>de</strong>lt von Deinem Mann, Deinem Ex, genauer gesagt.<br />

Eva-Maria: Eine Charakteranalyse meines Ehemaligen, eine 68er obendrein? Kenn' ich nicht.<br />

Brauch' ich im Gr<strong>und</strong>e genommen auch nicht. Wür<strong>de</strong> ich aber trotz<strong>de</strong>m gern kennen. Laß hören!<br />

Sonja: « Auf <strong>de</strong>r einen Seite macht sich außeror<strong>de</strong>ntliche Frühreife bemerkbar, während<br />

an<strong>de</strong>rerseits naive <strong>und</strong> formschwache Abwehrbereitschaft gegen alles aufgestellt wird, was ihm<br />

unter Hinweis auf besseres Wissen <strong>und</strong> <strong>de</strong>mentsprechend höher gelenkter Einwän<strong>de</strong> för<strong>de</strong>rn könnte.<br />

Er ist <strong>de</strong>r Meinung, daß er seinen Weg allein zu verfolgen hat. Diese Denk- <strong>und</strong> Streitmetho<strong>de</strong>, die<br />

festen geistigen Positionen, welche man eigensinnig anzustreben versucht, die seiner Ansicht <strong>und</strong><br />

Überzeugung nach mit einer starken Gr<strong>und</strong>satzbildung für sein eigenes Leben zusammenhängen<br />

können. Wesentlich ist dabei seine ausgesprochene Gefühlsbeteiligung, welche keineswegs als<br />

schwächlich bezeichnet wer<strong>de</strong>n darf. Aber <strong>de</strong>r Affekt <strong>und</strong> weniger das Gemüt verleihen ihm <strong>de</strong>n<br />

Charakter. »<br />

Eva-Maria: Der Windh<strong>und</strong>, als <strong>de</strong>r er sich mir herausstellte, war er also schon immer...<br />

Sonja: « Die Tätigkeit erregt <strong>und</strong> entfacht schnell Wärme, welche sich mit <strong>de</strong>r Tätigkeitssteigerung<br />

<strong>und</strong> Wi<strong>de</strong>rstandsten<strong>de</strong>nzen zur Feurigkeit zu steigern vermag. » Was für eine Tätigkeit ist gemeint?<br />

Eva-Maria: Eine Tätigkeit im allgemeinen, nehme ich an.<br />

Sonja: Also weiter im Text: « Doch ist diese Gefühlsbeteiligung keinesfalls programmgeb<strong>und</strong>en.<br />

Vielmehr klingt die Gefühlsbeteiligung ebenso rasch ab, wie sie Jean-François überkommen hat.<br />

Bei ihm gibt es keine Stimmungsnachwirkung, welche zum beschaulichen Rückblick, zur<br />

menschlichen Auswertung o<strong>de</strong>r zum grüblerischen Vorausschauen im Anschluß an soeben been<strong>de</strong>te


Geschehnisse anregen könnte. » Das erklärt einiges.<br />

Eva-Maria: So, was <strong>de</strong>nn?<br />

Sonja: Na, <strong>de</strong>n Ereignishüpfer – von einem Event zu nächsten. Und Rambo hatte die Arbeit.<br />

Eva-Maria: Du wirst mit solchen Äußerungen Jean-François nicht gerecht. Eher reizen ihn neue<br />

Sachen sozusagen wirklich. Neue Geschehnisse stellen ihn vor neue Aufgaben. Das mag er.<br />

Sonja: Du hast recht, so ähnlich steht's hier auch. Damals allerdings, als er sich, wie es hier heißt,<br />

« inmitten <strong>de</strong>r sich nahezu revolutionieren<strong>de</strong>n Auswirkungen innerer Entfaltungsbereiche stehend »<br />

befand, konnte er sich wohl, <strong>de</strong>m Gutachten zufolge, <strong>de</strong>n Aufgaben « noch gar nicht recht bewußt<br />

wer<strong>de</strong>n. » Weiter heißt es: « Damit macht er sich die eigene Problemstellung bestimmt nicht leicht,<br />

mit Wissen <strong>und</strong> Vorsatz in sich eine klare Linie zu fin<strong>de</strong>n <strong>und</strong> festzuhalten. Äußere<br />

Situationsabhängigkeit seiner Gefühls- <strong>und</strong> Empfindungsbeteiligung erweckt häufig <strong>de</strong>n Anschein<br />

<strong>de</strong>r Launenhaftigkeit, die auf Gemütsschwankungen beson<strong>de</strong>rer Art schließen lassen. »<br />

Eva-Maria: Was jetzt wohl kommt!<br />

Sonja: « Dieser Anschein dürfte trügen. »<br />

Eva-Maria: Er war früher bereits ein Schauspieler, wenn Du mich fragst.<br />

Sonja: Ich frag Dich aber nicht. Weiter heißt es hier: « Er, » <strong>de</strong>r Anschein, « kann dadurch<br />

entstehen, daß die Gefühle zwar mit <strong>de</strong>r Sachlage wechseln, niemals sich aber in Unsachlichkeit zu<br />

verlieren drohen. Keineswegs ist Jean-François nachtragend o<strong>de</strong>r verstockt, wenn er sich auch vor<br />

eine Mauer anscheinen<strong>de</strong>n Unverstan<strong>de</strong>nseins gestellt sieht. Darin fin<strong>de</strong>t er Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Ursache für<br />

sein unglückliches <strong>und</strong> isoliertes Dastehen mit Wünschen <strong>und</strong> Erwartungen. Vielmehr kann Jean-<br />

François leichter verzeihen, zeigt sich Dank seiner guten Wesensart versöhnlich <strong>und</strong> letzten En<strong>de</strong>s<br />

einsichtsvoll, wenn er nach Zeit <strong>und</strong> Umstän<strong>de</strong>n erkannt zu haben glaubt, daß besseres Wissen<br />

akzeptiert <strong>und</strong> respektiert wer<strong>de</strong>n muß. Es fehlt <strong>de</strong>m jungen Mann keineswegs am guten Wollen,<br />

sich anzupassen <strong>und</strong> zu fügen... »<br />

Eva-Maria: Hört! Hört!<br />

Sonja; « ...wenn seiner empfindsamen, manchesmal unter Reizobjekten stehen<strong>de</strong>n<br />

Gefühlsmäßigkeit durch Entgegenkommen <strong>und</strong> Verständnis Rechnung getragen wer<strong>de</strong>n kann.<br />

Dabei darf keineswegs außer acht gelassen wer<strong>de</strong>n, daß er sich in einem Revolutionsstadium<br />

befin<strong>de</strong>t, welches seinen Geist <strong>und</strong> seinen Verstand überzieht, <strong>und</strong> welches langsamen Abklingens<br />

bedarf. Danach wird sich alles in einem gereinigten Licht zeigen. Jean-François scheint dank seiner<br />

Intelligenz, seiner ges<strong>und</strong>en, bisweilen sehr praktisch gelenkten Lebensauffassung zu <strong>de</strong>n größten<br />

Hoffnungen berechtigt zu sein. Man darf ihm gegenüber keineswegs die Geduld verlieren, ihn mit<br />

sanfter Gewalt dahin zu lenken versuchen, wo er festgefügtere Positionen wahrnehmen kann als<br />

solche, welche ihm als freier Autor <strong>und</strong> Kulturkritiker keineswegs geboten wer<strong>de</strong>n können. Seine<br />

künstlerischen Ambitionen, seine Begeisterung <strong>und</strong> sein künstlerisches Können <strong>und</strong> Vermögen<br />

dürfen nicht abgesprochen wer<strong>de</strong>n. Sie reichen aber vermutlich nicht aus, um mit dynamischer<br />

Durchführungskraft etwas zu behaupten <strong>und</strong> zu beherrschen, was aller Wahrscheinlichkeit nach<br />

nicht im überdurchschnittlichen Umfang vorhan<strong>de</strong>n ist. Vielleicht als sogenanntes Hobby sehr<br />

schön anzuwen<strong>de</strong>n <strong>und</strong> als solches ausführbar, doch keineswegs als ausreichen<strong>de</strong>r Broterwerb. Für<br />

eine erfolgreiche Karriere als Autor <strong>und</strong> Kritiker fehlen im großen <strong>und</strong> ganzen gesehen doch die<br />

nötigen gr<strong>und</strong>legen<strong>de</strong>n Voraussetzungen. » Ein solches Gutachten, mag es auch ein 68er sein, muß<br />

Jean-François doch sehr gekränkt haben.


Eva-Maria: Kann sein. Aber ob es geholfen hätte...? Jetzt ist er in Bielefeld. Vielleicht wird er dort<br />

endlich glücklich.<br />

Rambo (kommt hinzu): Das glaube ich nicht. Im übrigen kann ich auch nicht glauben, daß Jean-<br />

François diese vorgebliche Charakteranalyse damals schon gekannt hat. Er hatte eine Vorstellung<br />

von etwas, das er sein <strong>und</strong> machen wollte. Die Kenntnis seines Charakters hätte ihn wahrscheinlich<br />

vollkommen entkräftet – zumin<strong>de</strong>st intellektuell. Dann hätte er nur noch einmal am Tag or<strong>de</strong>ntlich<br />

vögeln <strong>und</strong> ansonsten vor allem in Ruhe gelassen wer<strong>de</strong>n wollen.<br />

134<br />

Auch über politische Ereignisse sprachen sie manchmal. Aber das lag, damals, eigentlich noch weit<br />

jenseits ihrer Horizonte. Wer kümmerte sich schon um Politik? Doch eines zog sie immer<br />

magischer an: die Gedanken an das an<strong>de</strong>re Geschlecht. Sein Fre<strong>und</strong> hatte überhaupt noch nichts<br />

Weibliches erlebt. Schwestern besaß er nicht, seine Mutter war ihm mitten in <strong>de</strong>r Kindheit<br />

davongestorben. Der strenge Vater <strong>und</strong> die harte Arbeit hatten ihn ganz mit Beschlag belegt. Erst<br />

seit er Jean-François gef<strong>und</strong>en, damals, blühte heimlich auch in ihm die Sehnsucht nach <strong>de</strong>m ganz<br />

an<strong>de</strong>ren auf, als das sie bei<strong>de</strong> das Weibliche empfan<strong>de</strong>n. Jean-François kannte nur seine Mutter,<br />

die Schwestern zählten nicht, ebensowenig ein Erlebnis auf <strong>de</strong>m Dachbo<strong>de</strong>n, ein Hörerlebnis, wenn<br />

man so will. Das war nur unheimlich <strong>und</strong> wild gewesen, entstammte einer ganz an<strong>de</strong>ren Sphäre,<br />

mit <strong>de</strong>r er nichts zu schaffen haben mochte; er hatte im Laufe <strong>de</strong>r Zeit jenes nächtliche Ereignis;<br />

jenes Hörereignis, mit zittern<strong>de</strong>r Anstrengung in <strong>de</strong>n hintersten Winkel seiner Gedanken<br />

abgedrängt. Nur im Traum belästigte es ihn manchmal. So verfügten die bei<strong>de</strong>n Jungen über kein<br />

zuverlässiges Wissen, keine hinreichen<strong>de</strong> Erfahrung. Um so unbeschwerter konnten sie sich ihren<br />

luftigen I<strong>de</strong>enflügen, ihren bunten, zärtlich ernsten Phantasien anvertrauen. Gera<strong>de</strong> weil allen<br />

bei<strong>de</strong>n bereits das Geschlecht auf versteckte Weise Schwierigkeiten machte, wußten sie alles, was<br />

mit <strong>de</strong>r Frau zusammenhing, nicht hoch genug hinaufzuheben. Da sie noch nichts erlebt hatten, so<br />

ahnten sie nichts von <strong>de</strong>n Verstrickungen <strong>und</strong> Versuchungen <strong>de</strong>s Eros.<br />

135<br />

« Ach Jean-François! » Das Mädchen, das sich mit ihm an <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>s Abgr<strong>und</strong>s gesetzt hatte,<br />

damals, hob die Schultasche, die sie zunächst zwischen ihn <strong>und</strong> sich gestellt hatte, zur Seite, rückte<br />

ihm nahe <strong>und</strong> lehnte sich an seine Schultern. Jean-François spürte, damals, wie ihm eine fliegen<strong>de</strong><br />

Röte bis unter die Haarwurzeln stieg. Aber er wagte es nicht, sich zu rühren. Das Mädchen legte<br />

ihre Hand auf seinen Schenkel, preßte sie mit leichtem Druck an ihn <strong>und</strong> ließ sie dann da liegen. Er<br />

fühlte sie wie ein Stück glühen<strong>de</strong>s Metall. « Ach Jean-François! » flüsterte sie nochmals, damals,<br />

<strong>und</strong> es schwang eine solche Lockung in ihrer Stimme, daß er ihr seine Augen zuwen<strong>de</strong>n mußte,<br />

ganz mechanisch <strong>und</strong> gegen seinen Willen. Kannte er dies Gesicht überhaupt? Zwei rote Flecken<br />

brannten ihr auf <strong>de</strong>n Wangen, ihr M<strong>und</strong> war halb geöffnet, als wartete sie darauf, mit einem tiefen<br />

Atemzug ein süßes Gesöff aufzunehmen, <strong>und</strong> was sprach aus ihren Augen: Verlangen, Versuchung,<br />

ein Angebot? Sie schlug die Augen nicht nie<strong>de</strong>r, als er in sie hineinblickte, weit offen hielt sie sie,<br />

ohne mit <strong>de</strong>n Wimpern zu zucken, graugrünliche, locken<strong>de</strong> Abgrün<strong>de</strong>. Wie ein Schwin<strong>de</strong>l erfaßte es<br />

<strong>de</strong>n Knaben. Was bot sich ihm hier an? Was erwartete sie von ihm? Plötzlich schlugen ihm die<br />

Zähne aufeinan<strong>de</strong>r, als packte ihn ein Eisesschauer. Er war auf nichts <strong>de</strong>rartiges vorbereitet,<br />

damals! Mit einer Anstrengung, die ihm buchstäblich Schweißtropfen auf die Stirn trieb, entwand<br />

er sich <strong>de</strong>r saugen<strong>de</strong>n Flut, die ihm unter die Oberfläche ziehen wollte, <strong>und</strong> fragte mit einer vor<br />

Erregung heiseren Stimme: « Hast Du eigentlich Deine Hausaufgaben bereits gemacht? » Das<br />

Mädchen spürte im selben Augenblick, daß dies eine Ablehnung be<strong>de</strong>utete. Sofort zog sie mit <strong>de</strong>r<br />

instinktiven List eines schon erwachten Geschöpfes die Fühler wie<strong>de</strong>r ein. Mit einem leichten


Schmollen in <strong>de</strong>r Stimme antwortete sie: « Natürlich! Du <strong>de</strong>nkst gleich nur an das eine, <strong>und</strong> ich<br />

habe mich so auf dich gefreut! » Sie reichte im eine Scheibe ihres Pausenbrots. Jean-François<br />

stand vor einem Rätsel, damals. War das noch die gleiche Sylvia, die nur wenige Monate zuvor<br />

scheu vor ihm gestan<strong>de</strong>n hatte, die ihm fast das Herz hatte sprengen wollen mit einer süßen<br />

Schwermut, einer verhaltenen Sehnsucht? Jetzt bewegte sie sich so viel selbstgewisser, ein ganz<br />

an<strong>de</strong>rer, gelockerter Zug lag um ihren M<strong>und</strong>, ihre Augen konnten beinahe herausfor<strong>de</strong>rnd<br />

aufleuchten, ihre Lippen waren voller <strong>und</strong> röter, <strong>und</strong> über ihren Brüsten spannte sich <strong>de</strong>utlich <strong>und</strong><br />

fest ihre dünne Bluse. Sie saß nun neben ihm <strong>und</strong> zog wie ängstlich <strong>de</strong>n allzu kurzen Rock über die<br />

nackten Knie. Früher hätten we<strong>de</strong>r sie noch er darauf geachtet; jetzt, damals, lenkte ihn dies<br />

Zupfen nur immer darauf hin, daß die Knie, braun, r<strong>und</strong> <strong>und</strong> fest, doch nicht darunter zu verbergen<br />

waren. Jean-François fühlte von neuem eine heiße Verwirrung in sich aufsteigen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

einen Zorn auf sich selbst. Nein, dieses Mädchen hatte nichts mit <strong>de</strong>r Sylvia gemein, die ihn vor<br />

kurzer Zeit erst aus einem jenseitigen Land so rein <strong>und</strong> ahnungsvoll anrief...<br />

136<br />

Eva-Maria (noch schlafbefangen): Du bist so weit von mir entfernt. Wenn ich Dich doch neben mir<br />

fühlen könnte!<br />

Jean-François (im Dunkeln ihre Hän<strong>de</strong> streichelnd, wie einem Kind einen unerfüllbaren Wunsch<br />

ausre<strong>de</strong>nd): Das Bett ist schmal, wir haben zu zweien nicht Platz darauf.<br />

Lange saß Jean-François stumm in Dunkeln auf <strong>de</strong>r Kante <strong>de</strong>s Betts. Er begann zu frösteln. Als er<br />

dachte, sie wäre wie<strong>de</strong>r eingeschlafen, <strong>und</strong> er sich leise erheben wollte, erklang ihre Stimme, eine<br />

klare Stimme, daß er wußte, sie hatte die ganze Zeit wachgelegen.<br />

Eva-Maria: Jean-François, ist die diese Nacht, wie du sie erhofft hast? Wir dürfen einan<strong>de</strong>r nicht<br />

enttäuschen!<br />

Jean-François (sie nicht zu verstehen wagend): Ich <strong>de</strong>nke daran, Eva-Maria, wie es sein wird, wenn<br />

wir einmal Mann <strong>und</strong> Frau sein wer<strong>de</strong>n.<br />

Eva-Maria: Nein, Jean-François, nicht so, nicht später, wenn viele Jahre vergangen sind. Sollen wir<br />

uns aufsparen? Will ich nicht alles, was Du willst?<br />

Dann überfiel sie ein herzhaftes Gähnen. Rührend, heiter, ein wenig verwunschen erschien sie nun.<br />

Ein Glas Himbeersaft war alles, was er ihr zur Ermunterung anbieten wollte. Er verspottete sie ein<br />

wenig, weil sie abermals gähnen mußte. In drolligem Zorn war sie ihm ein Kissen an <strong>de</strong>n Kopf,<br />

sprang auf <strong>und</strong> hatte sich in erstaunlich kurzer Zeit verwan<strong>de</strong>lt ...<br />

Jean-François: Wenn Du es so willst!<br />

Rambo: Je meurs; je me décompose dans la platitu<strong>de</strong>, dans la mauvaiseté, dans la grisaille.<br />

137<br />

Jean-François: Laß doch mal <strong>de</strong>n Mist. Keiner wie Du paart seine ausgewachsenen<br />

I<strong>de</strong>ntitätsprobleme mit einer <strong>de</strong>rart übersteigerten Hypochondrie. Du bist schon einmalig. Dabei<br />

habe ich noch Großes mit Dir vor, Rambo!


Rambo: Je m'entête affreusement à adorer la liberté libre!<br />

Jean-François: Du sollst mein Nachfolger wer<strong>de</strong>n! Du sollt <strong>de</strong>r neue Leiter <strong>de</strong>s Kritikerheims in<br />

Bielefeld wer<strong>de</strong>n! Und nicht rumspinnen.<br />

Rambo: Und was machst Du statt <strong>de</strong>ssen?<br />

Jean-François: Ich eröffne eine Schule für Kritiker, für Kulturkritiker, um genau zu sein.<br />

Rambo: Und ich soll mich also mit <strong>de</strong>n abgehalfterten Heinis herumärgern, die nie <strong>und</strong> nimmer<br />

ruhig sein können, ohne Unterlaß rumzappeln <strong>und</strong> vor allem fortlaufend dummes Zeug plappern.<br />

Inkontinenz muß Kulturkritikern in die Wiege gelegt wor<strong>de</strong>n sein. Was mutest Du mir zu? Ich bin<br />

kein Verwalter, ich bin Artist!<br />

Jean-François: Reg' Dich ab, Rambo. Ich sorge dafür, daß Du bei mir einen Lehrauftrag bekommst.<br />

Rambo: Non! Non! J'ai une très bonne réputation, qui me permettra <strong>de</strong> gagner ma vie<br />

convenablement!<br />

Jean-François: Pauvre conard!<br />

Rambo: Du weißt ja gar nicht, was Du da sagst.<br />

Jean-François: Wir sprechen uns noch...<br />

Rambo: Du wolltest noch etwas von mir?<br />

Jean-François: Kann mich nicht entsinnen.<br />

138<br />

Rambo: Dann wer<strong>de</strong> ich Dir einmal etwas sagen: Die permanenten Vorwürfe, ich hätte<br />

irgendwelche Probleme mit meiner I<strong>de</strong>ntität (<strong>de</strong>rartige Vorwürfe sind bereits hier <strong>und</strong> da erfolgt; d.<br />

Red.), gehen mit mittlerweile ein bißchen auf die Nerven.<br />

Jean-François: Warum <strong>de</strong>nn das?<br />

Rambo: Du mußt das fragen! Wenn einer Probleme hat, dann doch wohl du!<br />

Jean-François: Tsss...<br />

Rambo: Kaum einer verkörpert die Malaise so wie Du: Bist Kritiker, sogenannter Großkritiker<br />

sogar, willst aber kein Kritiker sein, son<strong>de</strong>rn etwas an<strong>de</strong>res, nämlich Künstler, am liebsten<br />

Schriftsteller. Statt <strong>de</strong>n Beruf seriös auszuüben, dich besser zu bil<strong>de</strong>n <strong>und</strong> dich nicht <strong>de</strong>r Kritik zu<br />

verweigern, ueberläßt Du das Schreiben <strong>de</strong>r Kritiken mir, je<strong>de</strong>nfalls hast Du das früher so<br />

praktiziert, <strong>und</strong> widmest dich irgendwelchen schriftstellerischen Projekten, statt Deine eigentliche<br />

Rolle als Kritiker ernster zu nehmen. Du hast aus verschie<strong>de</strong>nsten Manusikripten gelesen, hast dich<br />

in diversen Genren geübt, immer wie<strong>de</strong>r <strong>und</strong> nahezu zwanghaft das erscheinen eines Buches<br />

angekündigt – <strong>und</strong> was ist daraus gewor<strong>de</strong>n? Nichts. Kein Buch ist bislang erschienen. Mich<br />

w<strong>und</strong>ert das nicht. So wie Du die Kunst <strong>de</strong>r Kritik nicht beherrschst, so verfügst Du auch nicht über<br />

die Mittel <strong>de</strong>r literarischen Arbeit. Keineswegs gr<strong>und</strong>los scheinst Du mir genau dort gelan<strong>de</strong>t zu


sein, wo schon an<strong>de</strong>re, die einer allgemeinen Wertschätzung autonomer <strong>und</strong> meinungsfreudiger<br />

Kulturkritik entgegen gearbeitet haben, weil sie ihr Handwerk als multiple Persönlichkeiten meinten<br />

ausüben zu müssen, ohne we<strong>de</strong>r das eine noch das an<strong>de</strong>re wirklich zu können, gestran<strong>de</strong>t sind,<br />

nämlich in Bielefeld. Zugegeben, da bist Du Heimleiter, das ist ja was <strong>und</strong> womöglich genau das<br />

richtige für dich.<br />

Jean-François: Ich benötige aber eine neue Herausfor<strong>de</strong>rung. Ich spüre so tief in meinem Innern,<br />

daß ich noch nicht ausgereizt bin.<br />

Rambo: Kann ja sein. Aber suche dir doch bitte ein Betätigungsfeld aus, auf <strong>de</strong>m Du an<strong>de</strong>ren<br />

keinen Scha<strong>de</strong>n zufügen kannst.<br />

Jean-François: Ich will keinem irgend einen Scha<strong>de</strong>n zufuegen. Im Gegenteil, von einer Schule für<br />

Kritiker, gar einer Aka<strong>de</strong>mie, gelegen in einer traumhaften Landschaft, untergebracht in einem<br />

Gebäu<strong>de</strong> von formvollen<strong>de</strong>ter Schönheit <strong>und</strong> obendrein liebreizend <strong>und</strong> wohlgeformt ausgestattet<br />

<strong>und</strong> selbstre<strong>de</strong>nd von mir geführt, von solch einer Aka<strong>de</strong>mie wür<strong>de</strong>n alle profitieren, vielleicht<br />

sogar die Kulturkritik.<br />

Rambo: Immerhin hast Du eine Ahnung davon, daß Du wahrlich nicht dazu geeignet bist,<br />

irgendwelchen Hanseln <strong>und</strong> Dunseln Recherche-, Interview- <strong>und</strong> Schreibtechniken beizubringen,<br />

das journalistische Handwerk eben.<br />

Jean-François: Der Feuilletonist, ein Kollege <strong>de</strong>r Schreiberin, die ihre Zeitgenossen, wie unlängst<br />

zu erfahren war, <strong>de</strong>m Hungertod zuführen möchte, sieht das, wie er mir sagte, völlig an<strong>de</strong>rs.<br />

Rambo: Wehe, Du nutzt die Gelegenheit <strong>und</strong> zitierst mich jetzt!<br />

Jean-François: Entschuldige, ich kann's nicht lassen: « Eh bien je me résignerai à mon sort. »<br />

Rambo: Das war wirklich nicht nötig!<br />

Wird fortgesetzt.<br />

Stand: November 2010

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