Vom Erkennen der Wirklichkeit im Relief - Hansjörg Wagner
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Forum Sehen und Sagen 14. Oktober 2009<br />
Das <strong>Relief</strong><br />
<strong>Vom</strong> <strong>Erkennen</strong> <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong> <strong>im</strong> <strong>Relief</strong><br />
Von nichts, was in unserem Umfeld erscheint, kann man sagen, es habe eine Linie. Alles, was<br />
wir sehen, erkennen wir als Raum und Volumen. Wir sehen die Objekte zunächst als<br />
Substanzen. Erst mit <strong>der</strong> Beendigung des Sehaktes stellen wir fest, was das vor uns<br />
Erscheinende für ein Ding ist. Wir haben es wahrgenommen.<br />
Mit dem Schritt vom Sehen zum Wahrnehmen ist <strong>der</strong> Vernunftgrund erreicht. <strong>Vom</strong> noch<br />
Unbest<strong>im</strong>mten führt <strong>der</strong> Weg vom Sehen zur Feststellung des Wirklichen. Wir haben, heißt<br />
es, das Objekt in seinem Umriß erkannt, in seiner Linie.<br />
Dennoch müssen wir zu dem Ergebnis kommen, daß das, was wir als Objekt erkannt haben,<br />
gar keine Linien hat. Die Linien, mit denen wir das Objekt feststellen, werden <strong>im</strong> Bewußtstein<br />
des Betrachters verfertigt. In seinem linearen Bewußtstein, ohne dessen Zuhilfenahme jedes<br />
Orientieren ganz unmöglich wäre und das mit <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong> nicht das Mindeste zu tun hat.<br />
Ohne dieses lineare Bewußtsein wäre alles, worin die <strong>Wirklichkeit</strong> erscheint, ein Konglomerat<br />
aus Farben und Flächen, in denen es kaum möglich wäre, sich überhaupt in seiner Umgebung<br />
zurechtzufinden.<br />
Ein Gegenbeispiel finden wir darin, daß ein Objekt, ohne daß man es sieht, sofort ins<br />
Gedächtnis gerufen werden kann. Etwa in einem Fall, in dem etwas gesucht wird. - Hast Du<br />
meine Tasche gesehen? Ja, ich weiß, ich kenne die Tasche, ich werde sie finden. - Der Ort,<br />
wo die Tasche aufbewahrt wird, ist das Gedächtnis. Man hat das Objekt in <strong>der</strong> Vorstellung.<br />
Mit einem einfachen Umriß könnte man es auf Papier zeichnen.<br />
Das lineare Bewußtsein ist es, in dem zunächst die Fähigkeit gründet, die Erscheinungen<br />
sowohl bei ihrem Anblick zu unterscheiden, wie sich ihrer als Objekte zu versichern und in<br />
<strong>der</strong> Vorstellung zu bewahren. Für den Umriß, für die Linien bietet die Natur nichts<br />
Vergleichbares. Womit wir es zu tun haben sind Substanzen. Es sind konkave und konvexe<br />
Formen, ebene o<strong>der</strong> sphärische Körper aller Art, die <strong>der</strong> Zeichner in einer Linie auf das Papier<br />
wirft.<br />
Eine knapp ausgeführte Zeichnung zeigt uns den Nie<strong>der</strong>schlag einer Idee. Es stellt sich aber<br />
nun die Frage, auf welche Weise eine solche, meist unwie<strong>der</strong>holbare Zeichnung zu einer<br />
Umsetzung gelangt, in <strong>der</strong> sie von <strong>der</strong> Skizze, vom Entwurf, <strong>im</strong> Material des Malers o<strong>der</strong> des<br />
Bildhauers gültigen Ausdruck gewinnen soll.<br />
Der Unbefangenheit, aus <strong>der</strong> die Idee mit rasch hingeworfenen Linien in <strong>der</strong> Zeichnung zum<br />
Ausdruck gekommen war, steht nun die Materie entgegen. Das heißt nicht, wie man<br />
annehmen könnte, die Härte des Materials, des Steins, o<strong>der</strong> bei fortgesetztem Verän<strong>der</strong>n das<br />
Ermüden des Tonmodells, son<strong>der</strong>n die Gefahr, daß die Idee, von <strong>der</strong> eine lebendige<br />
Zeichnung zeugt, mehr und mehr zu ersticken droht. Die Idee, nur einem unmittelbar<br />
gewonnenen Eindruck folgend, ist nun <strong>der</strong> Natur in ihrer Unberedtheit wie<strong>der</strong>um gegenüber<br />
gestellt. Im Material soll sie zu gültigem Ausdruck gelangen.<br />
Die Reichweite <strong>der</strong> Idee ist auf die Probe gestellt und es fragt sich, ob die Zeichnung, ob sich<br />
die Linien auf dem Weg bis zur endgültigen Gestaltung als tragfähig erweisen wird. O<strong>der</strong> ob,<br />
wie es oft <strong>der</strong> Fall ist, die Zeichnung besser bleibt.<br />
1
Wo die Linie als Ausdruck einer momentanen Eingebung nur das weiße Papier einschließt,<br />
leere Flächen, dort beginnt <strong>der</strong> Prozeß <strong>der</strong> Gestaltung, in welcher <strong>der</strong> Umriß jetzt die<br />
Einzelformen umfassen soll.<br />
Das Begonnene steht unter dem Vorzeichen <strong>der</strong> Durchbildung, das heißt, <strong>der</strong> Verlebendigung.<br />
Den Unbegabten sehen wir zaghaft damit beschäftigt, sich in Details zu verlieren, denen die<br />
Wirkung versagt bleibt. Er fürchtet sich, energisch Hand anzulegen, da er die Funktionen<br />
einzelner Formen nicht in die Vorstellung bringt. Die Kontraktionen in <strong>der</strong> Bewegung etwa,<br />
ob von Mensch o<strong>der</strong> Tier, sucht er zu erraten. Er wagt es nicht, tiefer in den Stein zu gehen,<br />
noch Volumen aufzutragen. Er wagt es nicht, <strong>der</strong> Wirkung von Licht und Schatten<br />
nachzugehen, da er sich nicht sicher ist, wodurch sie hervorgerufen werden.<br />
Am Ende begnügt er sich mit <strong>der</strong> S<strong>im</strong>plifikation, indem er sich darauf beruft, daß sich ein<br />
Kunstwerk unserer Tage durch Bescheidenheit auszeichnet. „Wer bescheiden ist,“ sagt Arthur<br />
Schopenhauer, „hat es notwendig, bescheiden zu sein.“<br />
Namentlich die Zeichnungen <strong>der</strong> Renaissance wie die Michelangelos, Leonardos, Raffaels<br />
o<strong>der</strong> später Tiepolos, wie auch unserer Zeit näher, die des unentwegt zeichnenden Menzel<br />
weisen auf die Gewissenhaftigkeit hin, welche die Durchbildung des Objekts, insbeson<strong>der</strong>e<br />
die des menschlichen Körpers erfor<strong>der</strong>t. Man erkennt bei einer bereits voranschreitenden,<br />
o<strong>der</strong> unvollendeten Arbeit die Notwendigkeit <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong>holter Studien, um das<br />
entstehende Werk nicht zu gefährden. Die noch approx<strong>im</strong>ativ hingeworfene Idee soll durch in<br />
Nichts zu än<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Gestaltung endgültig erscheinen. Jetzt sind Volumen und Caven<br />
entstanden, die durch die Tiefe, mit <strong>der</strong> die Eisen ins Material gedrungen sind, Licht und<br />
Schatten gewinnen. Wir sehen das <strong>Relief</strong>.<br />
Ernst Gombrich sagte: „Nur was einen Schatten wirft, existiert.“<br />
Es ist sicher kein Zufall, daß Cézanne in seinem Streben nach einem weitgehend sicher<br />
konstruierten Bildaufbau mit höchster Sensibilität darüber wachte, daß je<strong>der</strong> Tonwert <strong>der</strong><br />
Gestaltung <strong>der</strong> Form diente. Wer die Skizzenbücher von Cézanne anschaut, wird erkennen,<br />
daß kaum einem malerischen Werk neuerer Zeit eine so stark bildnerische Beziehung<br />
vorausgeht wie dem Paul Cézannes.<br />
Es ist bekannt, daß es nicht unbedingt Äpfel waren, die man in seinen Stilleben sieht. Um die<br />
Stufen von Licht und Schatten, wie <strong>im</strong> <strong>Relief</strong>, richtig zu bewerten, welches durch das<br />
Hinzukommen von Farben hätte beeinträchtigt werden können, wählte Cézanne bisweilen<br />
Gipskugeln. So, wie er auch die Werke großer Bildhauer nach dem Gipsmodell zeichnete.<br />
Man erinnere sich an Zeichnungen von Cézanne, die er <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> nach Werken des 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>ts fertigte o<strong>der</strong> solche, die nicht ohne Mühe entstanden, wie etwa die nach<br />
Michelangelo.<br />
Es war keine Geschmacksfrage, die hier zur Wahl von best<strong>im</strong>mten Tonwerten führte, son<strong>der</strong>n<br />
die Frage nach dem folgerichtigen Best<strong>im</strong>men von Valeurs bzw. Farben, durch die Volumen<br />
erreicht werden sollten, ohne die Bildfläche zu zerstören. Analog zum Werk des Bildhauers,<br />
<strong>der</strong> mit dem Verlust des höchsten Punktes an seinem Block die Arbeit als Fragment aufgibt.<br />
Die Deklaration einer ganz neuen „Farbenwelt“, wie man aus dem Munde von allerhand<br />
Kunsttheoretikern hört, ist falsch. Cézanne hatte, wie etwa Philipp Otto Runge die<br />
Folgerichtigkeit von Pr<strong>im</strong>är und Komplementärfarben in den Dienst <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong><br />
Formen gestellt. Das <strong>Relief</strong> war es, das Cézanne in <strong>der</strong> Malerei verfolgte.<br />
Worin die Impressionisten das höchst Erreichbare suchten, dem Auflösen <strong>der</strong> Erscheinungen<br />
in Licht und Luft, wie Camille Pissarro, dessen Schüler Cézanne gewesen ist, ging es Cézanne<br />
um das Unverrückbare, nach <strong>der</strong> Sicherstellung des Objekts <strong>im</strong> Bild.<br />
2
Das Zufällige unterwarf er seiner Best<strong>im</strong>mung <strong>im</strong> Bildaufbau. Daher sein <strong>im</strong>mer neu<br />
angefachtes Interesse an den Werken <strong>der</strong> Bildhauerei.<br />
Leute, welche in <strong>der</strong> Kunst Cézannes etwas sehen wollen, das sie „mo<strong>der</strong>n“ nennen, sollten<br />
sich daran erinnern, daß es Nicolas Poussin war, dessen Kunst Cézanne am nächsten stand.<br />
Man könnte konsequenterweise also auch sagen, daß Poussin <strong>der</strong> Vorkämpfer <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne<br />
gewesen ist. Das hieße allerdings, daß die Kunsttheoretiker unserer Tage weniger interessant<br />
erscheinen dürften.<br />
Ein Bild von Menzel, die Atelierwand, zeigt gehe<strong>im</strong>nisvoll beleuchtete Gipsabgüsse. In <strong>der</strong><br />
Bildmitte strahlt ein weiblicher Torso, rechts wie<strong>der</strong>um ein Torso <strong>im</strong> Halbschatten. Man sieht<br />
Gerätschaften, Meßwerkzeuge, den Abguß einer Hand, einen Hundekopf und die<br />
Porträtskizzen von Kin<strong>der</strong>n und bedeutenden Männern, ganz unten rechts erkennt man die<br />
Maske von Richard <strong>Wagner</strong>. Das Bild zeugt auf höchster Stufe vom malerischen Begreifen<br />
des Skulpturalen. In einer zum Äußersten gesteigerten Wirkung von Licht und Schatten<br />
begegnen sich Malerei und Plastik. Menzels Bild zeigt mit dem Lichteinfall auf diese<br />
Gipsabgüsse durch malerische Mittel ein <strong>Relief</strong>. Das Auge reagiert auf den Kontrast von<br />
Licht und Schatten und gleichzeitig auf das Momentane, das die Abgüsse in die <strong>Wirklichkeit</strong><br />
zurückruft.<br />
Sähe man eine solche Szenerie <strong>im</strong> Umriß, in Linien, so könnte man an die Registratur eines<br />
Sammlers erinnert werden, an die Aufreihung seines Besitzes. Im Kontrastieren von Licht und<br />
Schatten, <strong>im</strong> <strong>Relief</strong> nähert sich das Bild mehr und mehr <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong> und zwar ganz <strong>im</strong><br />
Sinne des Wortes. Es ist die von außen auf den Menschen wirkende <strong>Wirklichkeit</strong>.<br />
Die Bildhauer des späten Mittelalters übergaben die beendeten Werke, eine Heilige Nacht<br />
o<strong>der</strong> eine Kreuzigungsdarstellung den Faßmalern, welche die holzgeschnitzten Werke farbig<br />
faßten. Die Heilsgeschichte sollte unmittelbar auf die Gemeinde wirken; so als wären die<br />
Gläubigen am Geschehen beteiligt. Nun glänzte das <strong>Relief</strong> in strahlendem Gold und die<br />
Gewän<strong>der</strong> <strong>der</strong> Heiligen in Farben. Das Gleiche finden wir bereits bei den Ägyptern und in <strong>der</strong><br />
Bildhauerei <strong>der</strong> Griechen. Höhen und Tiefen des <strong>Relief</strong>s vertiefen und steigern sich. Tief<br />
drangen die Bildhauer Italiens in den Marmor. Licht und Schatten wurden zu Zeugnissen <strong>der</strong><br />
Energie und des Glaubens.<br />
Die Linie, die dem inneren Bewußtsein einer den Bildhauer leitenden Idee entspringt und so<br />
als erster Aufriß zu Papier gebracht wird, bleibt <strong>im</strong> Grunde genommen eine Zeichensprache,<br />
die vielleicht nur <strong>der</strong> Autor bei seinem weiteren Vorhaben selbst versteht. Möglich, daß sich<br />
gerade deshalb wenige <strong>im</strong> Kreise <strong>der</strong> Rezipienten finden, die in <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> Zeichnung<br />
den Gradmesser einer künstlerischen Potenz erkennen.<br />
Die Art und Weise, mit welcher Dürer zeichnete, läßt in einem kaum mehr als einer Vision<br />
angedeuteten Blatt –Roswitha von Gan<strong>der</strong>she<strong>im</strong> überreicht Otto dem Großen ihr Buchzugleich<br />
den Kupferstecher wie den Xylographen erkennen. In einer Zeichnung wie –die<br />
betenden Hände- o<strong>der</strong> –den Baumeister- Studien zum Rosenkranzfest entwickelt Dürer mit<br />
weißer Deckfarbe auf blauem Papier das <strong>Relief</strong>. Im Umgang mit dem Grabstichel o<strong>der</strong> mit<br />
dem Xylographiermesser sieht man <strong>im</strong> fortgesetzten Verfolgen <strong>der</strong> Volumen vom tiefsten bis<br />
zum höchsten Punkt, den Weg zur vollkommen durchgebildeten Form, zur Plastizität eines<br />
<strong>Relief</strong>s.<br />
Was <strong>im</strong> Werk zur Vollendung gelangen soll, kündigt sich in <strong>der</strong> Zeichnung an. Die flüchtige<br />
Idee ist festgehalten. Mit größtmöglicher Prägnanz soll sie verwirklicht werden. Das aber<br />
heißt, daß eine innere Vorstellung, die nun ins Werk gesetzt werden soll, <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong><br />
konfrontiert ist. Schon mit dem Begriff –Verwirklichen- verbindet sich <strong>der</strong> Auftrag, das<br />
3
Wirkliche zu erwirken. Das Problem aber liegt darin, daß <strong>der</strong> Anblick des Natürlichen hierbei<br />
wenig, bzw. gar nicht hilft. Man mag beobachten, soviel man will. Es hilft darum nicht, weil<br />
das sich in <strong>der</strong> Natur fortgesetzt Verän<strong>der</strong>nde vom Ablauf <strong>der</strong> Zeit abhängig ist. Das<br />
Kunstwerk ist statisch. Der Bildhauer erkennt seinen Auftrag darin, daß er das sich stetig<br />
Verän<strong>der</strong>nde in unverän<strong>der</strong>licher Form zum Ausdruck bringe.<br />
Hierin erkennen wir, die Rezipienten, am Ende das, von dem gesagt werden kann, es sei<br />
zeitlos.<br />
Das Einzige, womit die Natur dem Bildhauer zu Hilfe kommt, sind Licht und Schatten. Wir<br />
sehen ihn seine Arbeit umkreisen o<strong>der</strong> sie unterbrechen, wenn etwa bei sehr starkem,<br />
senkrechtem Tageslicht sich je<strong>der</strong> Schatten verflüchtigt. Trostlose Stunde für den Bildhauer.<br />
Er sieht kein <strong>Relief</strong>, das Leben in seiner Skulptur ist erloschen, Höhen und Tiefen<br />
verschwunden. Was <strong>im</strong> Moment bleibt, ist <strong>der</strong> Umriß, die Linie, wie auf <strong>der</strong> Zeichnung. Die<br />
Zeichnung war gut. Sie war das hingeworfene Zeugnis, <strong>der</strong> Angelpunkt <strong>der</strong> Idee, die es zu<br />
vertiefen gilt. Die Kontur genügte. Jetzt aber, bei unbarmherzigem Mittagslicht wirkt die<br />
Kontur enttäuschend. Es fehlt das Lebendige, so lange bis die Schatten wie<strong>der</strong>kehren.<br />
Nun müßte man sich fragen, welche Bedeutung bei konsequentem Verzicht auf das<br />
Wirkliche, <strong>der</strong> Linie zukommt. So wie das Thema, <strong>der</strong> musikalische Einfall <strong>der</strong> Komposition<br />
vorausgeht. Es hatte bis dato kaum jemand gegeben, <strong>der</strong> von einem musikalischen Erlebnis<br />
gesprochen hätte, dem man nichts weiter als die Tonleiter vorspielte. Es wäre verwun<strong>der</strong>lich,<br />
hörte man den dezidierten Musikfreund sagen, er höre das tiefe F so gern. Zumindest müßte<br />
man ihm das absolute Gehör zugestehen.<br />
Schon mit <strong>der</strong> Improvisation auf dem Klavier wird <strong>der</strong> Einfall analog zur Zeichnung manifest.<br />
Das Thema wird notiert. Es entstehen Modulationen, Abwandlungen, Durchführungen, <strong>der</strong><br />
thematische Grundgedanke wird variiert. Weitet sich <strong>der</strong> Gedanke aus, wird er <strong>im</strong> Ermessen<br />
des Komponisten tragfähig, so wird er zur Sinfonie. Der Komponist beginnt mit <strong>der</strong> Partitur.<br />
Durch die Steigerung <strong>der</strong> Oberst<strong>im</strong>men in den verschiedenen Klangwirkungen bis hin zum<br />
Kontrabaß, gewinnt <strong>der</strong> Grundgedanke, gewinnt die Thematik, die Improvisation am Klavier<br />
einen sich fortwährend steigernden Ausdruck.<br />
Wir sehen wie durch einen Nebelschleier, indem wir zu einem klaren Bild zurückzufinden<br />
suchen. Wir sehen eine Senkrechte, eine Waagerechte und einen Kreis als ein noch<br />
unbest<strong>im</strong>mbares Arrangement.<br />
Die Senkrechte könnte ebenso gut ein Baumstamm sein wie eine stehende Figur, die<br />
Waagerechte, <strong>der</strong> Horizont wie die Tischplatte, <strong>der</strong> Kreis eine Baumkrone o<strong>der</strong> ein<br />
Blumenstrauß. Auf welche Weise ein Bildgedanke die Vorstellung best<strong>im</strong>mt, in dem ganz<br />
unabhängig vom Objekt ein rein kompositioneller Rhythmus die Vorstellung diktiert, läßt sich<br />
nicht hinterfragen.<br />
George Braque konnte sicherlich nichts dagegen tun, daß seine Objekte am Ende <strong>im</strong>mer<br />
wie<strong>der</strong> Flaschen wurden, das Gleiche galt auch für Giorgio Morandi. Es wird deutlich, daß ein<br />
weitgehend künstlerischer Ausdruck ohne die Verbindung mit einem wirklichen Ding kaum<br />
möglich ist, und es nichts mehr als natürlich, daß ein malerisches Temperament schon <strong>im</strong><br />
Umgang mit den Mitteln in <strong>der</strong> Bildgestaltung dem Ideellen eher zugewandt ist, als <strong>der</strong><br />
Bildhauer.<br />
Denn in <strong>der</strong> Gestaltung von Krügen und Flaschen geriete <strong>der</strong> Bildhauer auf den Boden <strong>der</strong><br />
Töpferei. Er würde zum Kunstgewerbler. Auch die vegetativen Formen werden den Maler<br />
eher als den Bildhauer beschäftigen. Es wäre befremdend, wenn aus dem Mund des Fauns <strong>der</strong><br />
lebendige Wasserstrahl, den er ausspeit, aus Stein gemeißelt wäre.<br />
4
Allein dies läßt bereits die Grenzen bildhauerischer Möglichkeiten erkennen. Schon die<br />
Flüchtigkeit des Pinselstriches zeigt oft genug an, daß die bewegte Natur sich <strong>der</strong> Malerei<br />
durchaus anbietet, wo etwa ein Baum gemalt wird, <strong>der</strong> sich <strong>im</strong> Wind beugt.<br />
Das Spiel von Licht und Schatten war geeignet, eine polierte Bronze, wie man bei Plastiken<br />
von Rodin o<strong>der</strong> Meunier sehen kann, unmittelbar lebendig erscheinen zu lassen.<br />
Es ist hingegen bemerkenswert, daß die von Rodin mit dem Stift hingeworfenen und leicht<br />
aquarellierten Aktzeichnungen kaum eine Modulation erkennen lassen.<br />
Je stärker die Idee vom Maler o<strong>der</strong> vom Bildhauer Besitz ergreift, umso stärker sieht er sich<br />
zu einer möglichst prägnanten Art <strong>der</strong> Verwirklichung veranlaßt.<br />
Be<strong>im</strong> Lesen einer Schrift ist man erstaunt über die Prägnanz <strong>der</strong> Worte, über den Rhythmus<br />
<strong>der</strong> Sprache und die Kraft des Ausdrucks. Der Leser bewun<strong>der</strong>t sowohl die Wortwahl als auch<br />
die Höhen und Tiefen des Satzes, indem er das Gesagte in <strong>der</strong> Melodie wie <strong>im</strong> Stakkato<br />
nachvollzieht. Man wird sich durch die Nüchternheit <strong>der</strong> Darstellung des Schrecklichen, des<br />
Unhe<strong>im</strong>lichen sicherlich eher bewußt, wo es trocken und wie ohne jede Beteiligung mitgeteilt<br />
wird, als dort, wo man den Autoren selbst schwitzend sieht.<br />
Denn, was er auch mitzuteilen hat, es mag das unglaublichste Ereignis sein, glaubwürdig wird<br />
es nicht aus seiner Beteiligung an dem, was er schil<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> Distanz, die die<br />
Beherrschung seiner ans Wort gebundenen Mittel voraussetzt, <strong>der</strong> Sprache. Es hat seine<br />
Richtigkeit wenn man sagt, die Worte kommen wie gemeißelt.<br />
Wer eine Erzählung von Leo Tolstoi liest, wird schon durch die Art <strong>der</strong> Darstellung, durch die<br />
Mentalität des Dichters in eine an<strong>der</strong>e Welt hineingeführt als in einer Novelle von<br />
Maupassant.<br />
Dies aber liegt darin, daß diese Geschichte in Rußland spielt und die an<strong>der</strong>e in Frankreich. Es<br />
liegt also in einer angeborenen Sehweise und <strong>der</strong> daraus folgenden Art des Ausdrucks. Wenn<br />
Tolstoi in –Anna Karenina- ein deutsches Z<strong>im</strong>mermädchen in Bad Kissingen schil<strong>der</strong>t, so<br />
verrät die Darstellung in humorvoller Weise den Russen.<br />
Aus <strong>der</strong> Distanz, wie mit halbzugekniffenen Augen gesehen, gewinnt die Darstellung an Höhe<br />
und Tiefe und wird damit aktuell.<br />
Eine Idee, die für ein ganzes Werk best<strong>im</strong>mend bleiben soll, bedarf <strong>der</strong> Realisierung in <strong>der</strong><br />
Durchbildung. Wir haben vom Beginn <strong>der</strong> Arbeit an das Tektonische erkannt, das noch <strong>im</strong>mer<br />
an die Grundformen des Blockes gebunden ist. Von <strong>der</strong> noch vorläufig tektonischen Figur<br />
beginnt <strong>der</strong> Weg ins Malerische, <strong>der</strong> Vorstoß ins <strong>Relief</strong>.<br />
Analog zur Dichtung, in <strong>der</strong> die Akteure vorerst noch <strong>im</strong> Konzept als Figur eingeführt und<br />
nun lebendige Charakter gewinnen sollen, verhält es sich mit den Einzelformen in einer<br />
Plastik.<br />
<strong>Vom</strong> Tektonischen führt <strong>der</strong> Weg ins Aktuelle. Wir können auch sagen, vom Konstruktiven<br />
ins Malerische.<br />
Michelangelo, <strong>der</strong> sich ausschließlich als Bildhauer und als Architekt begreifen konnte,<br />
übernahm nach größtem Wi<strong>der</strong>stand den Auftrag, die Fresken in <strong>der</strong> Sixtinischen Kapelle zu<br />
malen. Aber es sollte sich zeigen, mit welcher Kraft <strong>der</strong> bildnerische Impuls in dieser Malerei,<br />
in Michelangelos Fresken wirksam geworden war. Nach Vasaris Berichten soll Michelangelo,<br />
wenn er meißelte, mit einer solchen Wut auf den Stein eingeschlagen haben, daß man hätte<br />
glauben können, <strong>der</strong> Stein ginge in Trümmer. Mag es die Ungeduld gewesen sein, ein kaum<br />
zu zügeln<strong>der</strong> Wille, um den Menschen, an dem er arbeitete, zum Reden zu bringen. Es ist<br />
denkbar, daß er am Ende, ob als Maler o<strong>der</strong> als Bildhauer, nur das Lebendige hervorzubringen<br />
trachtete.<br />
5
So zeigt die Skulptur, das <strong>Relief</strong> mit Hilfe <strong>der</strong> Kontraste Licht und Schatten das unmittelbare<br />
Verhältnis des Bildhauers wie des Malers zur <strong>Wirklichkeit</strong>.<br />
Es ist bezeichnend für die Unfruchtbarkeit unserer Zeit, daß die asketischen Vorstände von<br />
allerlei Künstlerverbänden den Autoren ihre Sparte zuweisen. Mit dem Schwinden des<br />
<strong>Relief</strong>s, das aus <strong>der</strong> Anschauung <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong> gewonnen wurde, beginnt die Verarmung<br />
künstlerischer Vorstellungen. Womit wir es jetzt zu tun haben sind Bil<strong>der</strong> einer mechanisch<br />
konstruierten Welt. Anstelle dessen, worin die <strong>Wirklichkeit</strong> erkannt und <strong>im</strong> wörtlichen Sinne<br />
begreiflich erschien, steht nun das Schema.<br />
Leonardo da Vinci sagte, daß jemand, dem das räumliche Begreifen fehlt, zum Maler, wie<br />
zum Bildhauer ungeeignet sei. Der Mangel einer Veranlagung, die einen Menschen befähigt<br />
dem Räumlichen äquivalenten Ausdruck zu geben, wird ihn daran hin<strong>der</strong>n, überhaupt tätig zu<br />
werden. Dasselbe hören wir von Max Beckmann.<br />
Eine solche Veranlagung, die Fähigkeit räumlich zu sehen und ein aus <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong><br />
gewonnenes Erlebnis räumlich zu reproduzieren, ist, wie es Kant nennt, eine Gabe <strong>der</strong> Natur.<br />
Insofern läge es nahe zu denken, daß ein mit solcher Fähigkeit begabter Mensch, aus dieser<br />
seiner natürlichen Veranlagung nichts weiter hervorbringt, als das Natürliche.<br />
Ob sich sein künstlerischer Wille <strong>im</strong> Lyrischen o<strong>der</strong> <strong>im</strong> Dramatischen äußert, ob er zu stark<br />
farbigen Kontrasten o<strong>der</strong> zum Monochromen tendiert, liegt eben in seiner Natur. Man wird<br />
kaum erwarten können, daß aus einer Lilie ein Rosenstock werde.<br />
Nur durchaus unkünstlerische Menschen, namentlich solche, die mit Bil<strong>der</strong>n handeln und also<br />
vom Verlangen ihres Publikums ausgehen, hört man sagen, „malen sie farbig, malen sie bunt<br />
– die Welt ist grau genug“. Derartige Bemerkungen verraten ihr betontes Desinteresse sowohl<br />
an <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong>, wie an dem, worin sich die natürliche Begabung vor allem eines jungen<br />
Menschen zu erkennen gibt. Programmatisch hat man seit Jahrzehnten unternommen, die<br />
<strong>Wirklichkeit</strong> <strong>im</strong> Bild <strong>der</strong> Natur für ungültig zu erklären und ein daraus hervorgehendes<br />
Talent, eine natürliche Begabung, als ein Relikt aus <strong>der</strong> Vergangenheit als nicht zeitgemäß zu<br />
erachten.<br />
Die Natur wird unter dem Fokus <strong>der</strong> Selbsterhaltung gesehen. Auf keinen Fall aber in ihrer<br />
Beziehung zum Kunstwerk. <strong>Vom</strong> Vor- und Zurückgehen <strong>der</strong> Erscheinungen, von Raum und<br />
Volumen ist allein noch aus theoretischer Sicht die Rede.<br />
Das, womit wir es bei den Produkten gegenwärtiger Kunst zu tun haben, sind Flächen o<strong>der</strong><br />
Konstruktionen, die mit keiner Anschauung entfernt in Verbindung stehen.<br />
Der Architekt einer Kirche gerät mit seinem Sakralbau eher in die Nähe einer Bahnhofshalle,<br />
als zu wagen, sich für einen Beitrag einer <strong>der</strong> Architektur verschwisterten Künste, Malerei<br />
o<strong>der</strong> Bildhauerei, zu entscheiden. Ein Schlosser hat ihm das Kreuz zusammengeschweißt, das<br />
nur wenig über den Altar hinausreicht. Es ist die Angst, die den Architekten davor bewahrt<br />
ein Gesetz zu mißachten, dem er <strong>im</strong> Min<strong>im</strong>alismus zu folgen hat. In einem solchen<br />
Architekten findet man den heute gewöhnlichen Prototypen <strong>der</strong>er, die aus <strong>der</strong> Kritiklosigkeit<br />
in die Einfachheit, o<strong>der</strong> wie man heute sagt, in die Bescheidenheit flüchtet. Denn für das, was<br />
er geleistet hat, hätte ein Statiker genügt, wenn nicht auch ein Maurermeister.<br />
Leute aber, wie dieser Architekt, bringen es fertig, dem Portal <strong>der</strong> ehrwürdigsten Kathedrale<br />
ein aus Betonplatten gefügtes Kaufhaus zu konfrontieren. Sie sehen nicht die Diskrepanz<br />
zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden, das sie leisten. „So baut man heute“<br />
sagen sie, um ihre Dreistigkeit zu rechtfertigen.<br />
Wir schauen hinauf über die reichgeschnitzte Eichentür zum Tympanon, einem <strong>Relief</strong> als<br />
Zeugnis mittelalterlicher Bildhauerkunst. Dem aber sieht man sich nicht mehr verpflichtet.<br />
6
Aus dem Mangel an einer eigenen Begabung macht <strong>der</strong> Unbegabte nun eine Tugend. Er stellt<br />
sich in die Reihe <strong>der</strong> Min<strong>im</strong>al-Architekten, dem die Leistung eines Schlossers genügte,<br />
allerdings mit dem Unterschied, daß jener wenigstens sein Handwerk gelernt hat. Der<br />
Talentlose, <strong>der</strong> seine Absage aus dem in nichts nachzuweisenden Entscheid <strong>der</strong> Natur<br />
hinnehmen mußte, empfängt jetzt seine Zust<strong>im</strong>mung tätig zu werden aus dem Munde einer<br />
völlig unkritischen Gesellschaft. Die Barrieren sind gefallen und so bleibt es je<strong>der</strong> talentlosen<br />
Hausfrau, jedem Pensionär überlassen, mit solchen zu konkurrieren, die heute in öffentlichen<br />
Galerien gezeigt und bewun<strong>der</strong>t werden.<br />
Die Natur ist <strong>im</strong> Verleihen <strong>der</strong> Begabung sparsam. Sie selbst ist <strong>der</strong> Maßstab. Sie verbindet<br />
mit <strong>der</strong> Auszeichnung einer sicheren Sehweise und einer über das Mittelmaß<br />
hinausreichenden Einbildungskraft, Selbstkritik und Verantwortung.<br />
Es ist symptomatisch, daß <strong>der</strong> Min<strong>im</strong>alist, <strong>der</strong> sich mit jedem Schritt, <strong>der</strong> ihn von seinem<br />
Prinzip entfernt, seine Talentlosigkeit erkennen muß. Außer Stande, den Objekten, die er<br />
sieht, in ihren Höhen und Tiefen Ausdruck zu geben, sucht er nach einem Ausweg. Er n<strong>im</strong>mt<br />
stillschweigend hin, daß es ihm unmöglich ist, einem Volumen nachzuspüren, obwohl dies<br />
von einem Architekten o<strong>der</strong> von einem Bildhauer zu erwarten wäre.<br />
Es ist ihm nicht begreiflich zu machen, daß alles, was vor dem Auge des Menschen erscheint,<br />
ein großes zusammenhängendes <strong>Relief</strong> ist.<br />
Michelangelo wie Dürer und Goethe hatten in <strong>der</strong> Kunst des Zeichnens die größte Gabe<br />
gesehen, die dem Menschen zuteil werden konnte. „Alles, was wir sehen“ sagte<br />
Michelangelo, „ist gezeichnet, selbst die Ackerfurchen sind gezeichnet.“<br />
Sich seines Unvermögens bewußt, ist aber <strong>der</strong> Ambionierte bereit, alles was von solcher<br />
Warte gesehen werden müßte, zu verwerfen, um den Stümper, um sich selbst zu legit<strong>im</strong>ieren.<br />
Bereits <strong>der</strong> Umgang mit dem Material, dessen Beschaffenheit <strong>der</strong> Architekt aus dem<br />
Computer erfährt, entbindet ihn zugleich, sich selbst eine Vorstellung von <strong>der</strong> Realisierung<br />
seines Vorhabens machen zu müssen.<br />
Es ist keine Idee, die seinem Tun vorausgeht, son<strong>der</strong>n die elektronisch vermittelte Logik. So<br />
kann dem Architekten bei <strong>der</strong> Beschaffung von Fertigbauteilen we<strong>der</strong> eine Steigerung noch<br />
eine Vertiefung seines Konstruktes möglich werden. Was uns in einem Stadtbild umgibt,<br />
bietet, in welche Stadt man auch kommt, das <strong>im</strong>mer gleiche Bild, das Bild einer konstruierten<br />
<strong>Wirklichkeit</strong>, einer vom Utilitarismus geleiteten verungeistigten Welt.<br />
Was von <strong>der</strong> Bildhauerei wie von <strong>der</strong> Malerei in den letzten Jahrzehnten gezeigt wurde, kann<br />
<strong>im</strong> seltensten Fall als eine individuelle, aus <strong>der</strong> Anschauung hervorgebrachte Leistung<br />
gewertet werden, son<strong>der</strong>n dem blinden Folgen einer die Allgemeinheit beherrschenden<br />
Doktrin.<br />
Wie die Epochen gelehrt haben, waren es die Meisten, waren es ganze Massen, die dem<br />
offensichtlichsten Unsinn folgten, sofern sie sich einen, wenn auch geringen Erfolg<br />
versprachen. Einen Erfolg, <strong>der</strong> ihnen Gelegenheit geben sollte, sich in irgendeiner Weise zu<br />
profilieren.<br />
Wer sich mit solcher Gefolgschaftstreue auf den Weg in die Kunst begibt, tut, könnte man<br />
sagen, niemandem weh. Das ist richtig. Aber so einfach ist die Sache indessen nicht.<br />
Denn es geht nicht darum, daß je<strong>der</strong> malen kann, was er will, son<strong>der</strong>n darum, daß bei<br />
Hinwegfallen aller Kriterien jedem <strong>der</strong> gleiche Anspruch zugebilligt werden müßte. Das kann<br />
ich auch, sagt jener, und beweist es.<br />
7
Und niemand von denen, welche die großen Werke beherbergen, ob privat o<strong>der</strong> öffentlich, die<br />
sich in nichts von dem unterscheiden, was <strong>der</strong> Pensionär gemalt hat, könnten, wären sie<br />
ehrlich, etwas dagegen einwenden. Aber sie dürfen nicht ehrlich sein, sofern sie die Junta, zu<br />
<strong>der</strong> sie gehören nicht in Gefahr bringen wollen. Sie wissen zu gut, daß sie ihr Madrigal für<br />
den Beamten und für dessen Bild mit <strong>der</strong> gleichen Lautstärke anst<strong>im</strong>men müßten.<br />
Dieser aber geht mit seiner grau angestrichenen Pappe und einem roten Querbalken<br />
unverrichteter Dinge nach Hause, und eine Pappe mit dem blauen Balken hängt in <strong>der</strong><br />
Staatsgalerie.<br />
Man spricht heute von <strong>der</strong> Kunstszene, so wie man von einer Theateraufführung spricht. Es<br />
ist aber kaum denkbar, daß ein ernster Künstler in einer Szene auftritt, sofern er kein<br />
Schauspieler ist. In <strong>der</strong> Tat haben wir es in <strong>der</strong> bildenden Kunst also eher mit Komödianten zu<br />
tun als mit Malern und Bildhauern.<br />
Ich hatte am Anfang meines Vortrags die Linie als den Nie<strong>der</strong>schlag einer Idee bezeichnet, als<br />
Improvisation eines momentan erfaßten Objekts. Eine Linie, die <strong>der</strong> nicht nachvollziehbaren<br />
künstlerischen Vorstellung folgt. Wem es an einer solchen Vorstellung mangelt, vor allem<br />
aber an <strong>der</strong> Fähigkeit sie in wenigen Strichen zu manifestieren, bedient sich <strong>der</strong><br />
Meßwerkzeuge. Er bewegt sich auf dem Boden <strong>der</strong> Geometrie. Im schlechtesten Fall überläßt<br />
er das Gedeihen seines Produktes dem Zufall. Ich denke, daß es nicht notwendig ist, einen<br />
vernünftigen Menschen daran zu erinnern, daß hier jedes Kriterium abhanden kommt, auf das<br />
sich sein Urteil stützen könnte.<br />
Aber wie man sieht, hat wie <strong>im</strong>mer die Unvernunft gesiegt, auf welcher in <strong>der</strong> Vermassung<br />
<strong>der</strong> Erfolg gründet. Es wäre nicht das erste Mal, daß man die Vernunft außer Kraft setzt, um<br />
<strong>der</strong> Unvernunft das Feld zu überlassen.<br />
Wie sollte das <strong>Relief</strong> in seinen Höhen und Tiefen, Licht und Schatten zum prägnanten Bild<br />
menschlichen Wirkens überhaupt werden? Ihm gegenüber steht die Natur, in <strong>der</strong>en Walten<br />
<strong>der</strong> Mensch trotz aller wissenschaftlichen Spitzfindigkeit und bei allem Fortschritt nicht<br />
einzudringen vermag.<br />
Nehmen wir das <strong>Relief</strong>, so wie es die Meisterwerke <strong>der</strong> Vergangenheit vor Augen führen, als<br />
parabolisch für das Eindringen in die Materie, in die Natur. Solches Eindringen hat man in<br />
unseren Tagen ausschließlich <strong>der</strong> Wissenschaft und <strong>der</strong> Forschung überlassen. Da sich aber<br />
<strong>der</strong> Mensch in seinem Aufleben wie in seiner Hinfälligkeit als einen Teil <strong>der</strong> Natur zu<br />
begreifen hat, so bedeutet solches Eindringen zugleich Eindringen in sich selbst. Er wird Licht<br />
und Schatten in seinem Selbst erkennen müssen, seine Stärken und seine Schwächen erwägen,<br />
damit das Bild, das er von sich selbst macht, nicht zur Illusion werde.<br />
Wir finden in einer Nische des Marienaltars in Creglingen Tilmann Riemenschnei<strong>der</strong>s<br />
Selbstbildnis. In <strong>der</strong> Stephanskirche in Wien zwe<strong>im</strong>al das des Anton Pilgram und das erste<br />
Selbstbildnis finden wir <strong>im</strong> Dom zu Halle, es ist das des Meisters Conrad von Einbeck. Es ist<br />
übrigens bemerkenswert, daß sich <strong>der</strong> Meister Anton Pilgram in <strong>der</strong> Wiener Stephanskirche,<br />
in einem seiner beiden Selbstporträts, als den Fenstergucker darstellt. Den Mann, <strong>der</strong><br />
hinaussieht in die Welt aus <strong>der</strong> er gekommen ist. Das an<strong>der</strong>e zeigt ihn am Orgelfuß, so als<br />
trüge er das gewaltige Instrument auf seinen Schultern.<br />
Aus <strong>der</strong> Verbindung des Selbsterkennens mit <strong>der</strong> Erscheinung vermag eine wirklich<br />
schöpferische Kraft einer inneren Bewegung überzeugenden Ausdruck zu geben. Allein so<br />
wird das einfachste Ding in seiner Verwesentlichung zum Symbol.<br />
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Es ist also ein Unterschied, ob die Dinge unter dem Fokus ihrer Verwertbarkeit gesehen<br />
werden o<strong>der</strong> von einer Warte, die auf den Weg zum Kunstwerk führt.<br />
Wo wir es hingegen mit Rechtecken und Quadraten zu tun haben, mit roten o<strong>der</strong> schwarzen<br />
Kreisen, läßt sich schwerlich auf die unmittelbare Wirkung individuellen Erlebens schließen.<br />
Sie sind bei allem, was ihre Vertreter aufbieten wollen, Produkte, die aus dem Leeren<br />
gewonnen werden und sind Zeugnisse des Ungeistes.<br />
Lassen sie mich noch einen Moment bei einem <strong>Relief</strong> vom Pergamon-Altar verweilen. Es<br />
zeigt einen sterbenden Krieger. Ein Spalt, <strong>der</strong> zwei Blöcke trennt, aus denen das Werk<br />
entstanden ist, geht mitten durch die Figur hindurch. Den unteren Teil, Beine und Unterleib,<br />
sieht man in besserem Zustand als den oberen. Es ist aber bemerkenswert, daß <strong>der</strong> obere Teil,<br />
Thorax und Schultern, trotz stärkerer Beschädigung lebendiger erscheint als <strong>der</strong> untere, die<br />
Beine. Das Bewegungsmotiv ist diagonal. Zusammensinkend stützt sich <strong>der</strong> Krieger auf den<br />
rechten Arm. Dieser gänzlich zerbrochene Arm gibt dem Gewicht <strong>der</strong> ganzen Figur in<br />
entgegenlaufen<strong>der</strong> Diagonale noch <strong>im</strong>mer Halt. Man hat den Eindruck, daß <strong>der</strong> noch gut<br />
erhaltene Kopf in seinem Ausdruck, in diesem zerbrochenen Arm <strong>im</strong> Sterben noch eine letzte<br />
Stütze findet.<br />
Wir ahnen die Vertiefung <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Linie eingeschlossenen Idee in den verbliebenen Details.<br />
Was dem Vorwurf zugrunde liegt und was darin zum Ausdruck gebracht werden soll, ist nicht<br />
das Zusammensinken eines Menschen, denn das könnte auch an<strong>der</strong>e Ursachen haben. Es ist<br />
das Sterben, von dem sich niemand ein Bild machen kann, ohne daß ihm die Anschauung zu<br />
Hilfe kommt. Das gleiche gilt auch für das Leben. Es jagt an uns vorüber und reißt uns mit.<br />
Man hört vom süßen Leben wie vom süßen Tod. Vielleicht gewinnt man zu wenig Einblick in<br />
das Leben an<strong>der</strong>er Menschen, die letzterem den Vorzug geben.<br />
Unabhängig von <strong>der</strong> Bindung an einen Glauben führt Spekulation auf den Weg in die<br />
Hypothese. Man ist bemüht über alles, was in fernster Zukunft geschehen könnte, Gewißheit<br />
zu erlangen. Nur die Gewißheit des Vorübergehenden, welche das eigene Leben mit jedem<br />
Tag neu ins Bewußtsein ruft, sucht man auszuklammern. Es mag sich aus dem Verschließen<br />
<strong>der</strong> Augen vor dem Wirklichen, dem Lebendigen die Motivation erklären, von <strong>der</strong> die<br />
Mo<strong>der</strong>ne, o<strong>der</strong> die gegenstandslose Kunst lebt. Denn je<strong>der</strong> Hinweis auf das Lebendige, jedes<br />
Bild, das von einem Erlebnis zeugt, wird zum Beispiel des Augenblicklichen, zur Metapher<br />
<strong>der</strong> Vergänglichkeit.<br />
Das aber ist es, was die Gesellschaft unserer Tage beunruhigt, ohne sich dessen bewußt zu<br />
sein. Darum eben hat man das Bild <strong>der</strong> Natur als ein riesenhaftes <strong>Relief</strong> aus Höhen und<br />
Tiefen, Licht und Schatten <strong>im</strong> Kunstwerk verworfen. Man verwirft es, um an kein Gesetz<br />
erinnert zu werden, das aus <strong>der</strong> <strong>Wirklichkeit</strong> ergeht.<br />
Sein Fragment über die Natur beginnt Goethe mit folgenden Sätzen: „Natur! Wir sind von ihr<br />
umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten und unvermögend tiefer in<br />
sie einzudringen. Ungebeten und ungewarnt n<strong>im</strong>mt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes und<br />
treibt sich mit uns fort, bis wir ermüdet sind und ihrem Arm entfallen.“ Und <strong>im</strong> vorletzten<br />
Absatz „Jedem erscheint sie in einer eigenen Gestalt. Sie verbirgt sich in tausend Namen und<br />
Termen und ist <strong>im</strong>mer dieselbe.“<br />
Der Wissenschaft, welcher man heute die letzte, gültige Aussage über alles, was die Natur<br />
betrifft, überlassen hat, sieht die Natur unter dem Vorzeichen <strong>der</strong> Determination. Der Weg,<br />
<strong>der</strong> zu ontologischem Denken führte, verliert sich in tausend Verzweigungen. Man erwartet<br />
von allem das Neue. So erklärt es sich, daß <strong>der</strong> Bezug zu einer von <strong>der</strong> Erfahrung<br />
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unabhängigen, intuitiven Leistung einer künstlerischen Vorstellung gar nicht mehr gegeben<br />
ist.<br />
Die für alles geltende Regel, es möge einfach sein, wird kaum auf jedes Vorhaben<br />
angewendet werden können. Vor allem nicht auf das Entstehen eines Kunstwerks.<br />
Rodin sagte: „Ich nehme einen Block und haue alles Übrige weg.“ Das allerdings hat sich nie<br />
als so einfach erwiesen. Der Block, aus dem Michelangelo den David geschaffen hatte, war<br />
von einem Vorgänger begonnen und dann <strong>im</strong> Stich gelassen worden. Woraus sich denn auch<br />
die Einschränkung <strong>im</strong> Bewegungsmotiv des David erklärt, wie es beson<strong>der</strong>s die<br />
Seitenansichten zeigen. Es ist also ein Unterschied, ob etwas durch Einfachheit überzeugt,<br />
o<strong>der</strong> nur auf einfachem Wege entsteht.<br />
Beethovens neunte Sinfonie beginnt einfach, mit dre<strong>im</strong>aligem Wie<strong>der</strong>holen einer Viertel- und<br />
einer ganzen Note. Das ist die Quelle, aus <strong>der</strong> sich <strong>der</strong> Strom ergießt, und eben das scheint,<br />
wenn man es hört, nicht so einfach zu sein.<br />
Lassen wir uns also nicht blenden von denen, die es sich einfach machen. Die we<strong>der</strong> in eine<br />
Tiefe gehen noch eine Höhe erreichen, zu denen <strong>im</strong> eigenen Bewußtsein <strong>der</strong> Raum fehlt.<br />
Rufen wir uns die Schroffen und Wächten <strong>im</strong> Gebirge wach o<strong>der</strong> die Rinde eines<br />
Baumstamms und damit zugleich alles, worin uns die Natur einen Weg zum <strong>Relief</strong> weist –<br />
zum Kunstwerk.<br />
<strong>Hansjörg</strong> <strong>Wagner</strong><br />
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