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Textausgabe als PDF-Datei - Politik Unterricht Aktuell

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politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 1<br />

Version: 01/2012<br />

Verband der <strong>Politik</strong>lehrer


Gerhard Voigt:<br />

Perspektiven der Politischen Bildung<br />

in der Gegenwartsepoche<br />

Krisenbefunde und Paradigmenwechsel in der Politischen Bildung<br />

1. Das Bewusstsein, krisenhafte Umbrüche zu erleben<br />

1.1 Das Ende der Gegenwart<br />

In einer Szene in Shakespeares »König Lear« sagt Gloucester, der geblendet wurde, weil er<br />

seinem König treu blieb: „...was Fliegen sind dem müßigen Knaben, das sind wir den Göttern;<br />

sie töten uns zum Spaß.“ In diesen Zeilen liegt eine ganze – verstörend genaue – Kosmogonie,<br />

die Vision einer von übel wollenden Göttern regierten Welt und von Menschen, die in<br />

Nachahmung dieser Götter andere Menschen verstümmeln und umbringen. Ich habe keinen<br />

Zweifel daran, dass wir die grundlegende menschliche Veranlagung besitzen, Böses zu tun und<br />

Schmerz zuzufügen. Ebenso grundlegend ist unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden<br />

anderer, es sei denn, wir erkannten uns in ihnen so genau wieder, dass ein Schlag, der sich<br />

gegen sie richtet, auch uns träfe. In der überwiegenden Mehrheit werden wir durch Erziehung<br />

gezügelt (zu der manchmal die Prägung durch wohlmeinende religiöse Grundsätze gehört) und<br />

– sofern wir in stabilen und gut verwalteten Gesellschaften leben – auch durch Gesetze, die<br />

Gewalttätigkeit eindämmen und bestrafen.“<br />

Louis Begley: „Ein satanisches Requiem“. Über die Bestie Mensch im 20. Jahrhundert.<br />

Das bevorstehende Jahr 2000 wird in der öffentlichen wie den veröffentlichten Perspektiven sehr<br />

deutlich <strong>als</strong> erwarteter oder befürchteter Einschnitt wahrgenommen, bei dem in einem<br />

résumierenden Rückblick auf die »vergangene Gegenwart« diese immer mehr <strong>als</strong> sich abschließende<br />

oder abzuschließende Epoche begriffen wird; diese »Gegenwartsepoche« wird <strong>als</strong> sich<br />

abschließend, zu Ende gehend nicht nur sorgenvoll begriffen sondern in diesem Sinne auch in<br />

Medien und in der veröffentlichten Meinung bewusst funktionalisiert. [1] Unabhängig von der grundsätzlichen<br />

Skepsis, mit der solche »epochalen Perspektiven« und oft sehr irrationalen Emotionalisierungen<br />

der »Einschnitterwartungen« gewertet werden müssen, ist die unmittelbare politische<br />

Wirksamkeit dieser Befindlichkeiten nicht zu übersehen. Für die Pädagogik und Didaktik ist es<br />

daher notwendig und sinnvoll, sich kritisch-distanzierend in diese Diskurse einzumischen, um<br />

entsprechende didaktische und methodische Akzente für die Praxis des Schulunterrichts <strong>als</strong> Beitrag<br />

zur Bewältigung der irrationalen Endzeitängste und damit <strong>als</strong> Beitrag zur Krisenbewältigung der<br />

<strong>Politik</strong> setzen zu können. Erwartete grundsätzliche Veränderungen können daher auch <strong>als</strong> Chancen<br />

für einen notwendigen Paradigmenwechsel in der Politischen Bildung begriffen werden. Zunächst<br />

ist es aber notwendig, die subjektiven Erfahrungshorizonte und Befindlichkeiten in der<br />

Öffentlichkeit wie in der Schule kritisch zu durchleuchten. Eine zentrale Rolle spielt dabei der<br />

Krisenbegriff, der eine wertende Verbindung zwischen objektivem gesellschaftlichen Wandel und<br />

subjektiv-biographischer gesellschaftlicher Erfahrung herstellt und zentraler Topos in der<br />

veröffentlichen Meinung ist: Das »Ende der Gegenwartsepoche«, der Übergang von Moderne zur<br />

Postmoderne, zur postindustriellen Gesellschaft – diese Begriffskontexte sind bezeichnend für die<br />

vorherrschende Wertung einer Zukunft, die sich weniger durch Neues, <strong>als</strong> durch Nachfolge<br />

auszeichnen wird – wird <strong>als</strong> Krise, <strong>als</strong> krisenhafter Umbruch verstanden.<br />

1.2 Zur Psychologie der Krisenwahrnehmung<br />

Die gegenwärtigen Entwicklungen der Gesellschaft, betreffend die innerstaatliche Befindlichkeit,<br />

wie auch die sich dramatisch umgestaltenden äußeren Beziehungen, erwecken beim zeitgenössischen<br />

Betrachter den nachhaltigen Eindruck, dass hier nicht nur die Wandlungsprozesse aus der frü-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 1


hen Nachkriegszeit oder noch ältere Kontinuitäten fortgeschrieben werden, sondern dass sich<br />

epochal neue Lebensbedingungen und Entwicklungstrends andeuten. Dabei ist die Wahrnehmung<br />

kontrovers, ob diese Umgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Determinanten etwa in<br />

den letzten beiden Jahrzehnten zu einem vorläufigen Abschluss kommen und mit der Jahrtausendwende<br />

neue Entwicklungsimpulse zu erwarten sind [2] , oder ob diese beiden Jahrzehnte der so<br />

genannten »Postmoderne« letztlich nur das Präludium sind für eine gerechtere Welt und noch<br />

weiter bevorstehende Umwälzungen. Auch wenn eine den gesellschaftlichen Zuständen in höherem<br />

Maße entsprechende Kategorisierung erst aus geschichtlicher Distanz heraus möglich sein wird, hat<br />

sich in unserem Bewusstsein der Eindruck festgesetzt, dass wir eine qualitativ besondere und<br />

gesonderte Gegenwartsepoche durchleben, die eher den Charakter der Krise <strong>als</strong> den der Konsolidierung<br />

trägt.<br />

Diese Wandlungen der gesellschaftlichen Realitäten sozialwissenschaftlich adäquat zu analysieren,<br />

stößt derzeit noch auf große Schwierigkeiten und bleibt weitgehend kontrovers, so dass es sicherlich<br />

nicht abwegig ist, von der Notwendigkeit eines sozialwissenschaftlichen Paradigmenwandels<br />

zu sprechen. [3]<br />

Damit soll auch die im Thema implizierte Begriffsdimension und Realitätsdeutung <strong>als</strong> »Krise«<br />

deutlich und nachdrücklich relativiert werden. Auf den Begriff der »Krise« können wir erst im<br />

Zusammenhang mit der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung gesellschaftlicher Realitäten<br />

eingehen, nicht jedoch mit dem Anspruch, eine objektivierbare Analysekategorie gefunden zu<br />

haben.<br />

Wie müssen uns vielmehr damit beschäftigen, die Situation der Politische Bildung in der Schule<br />

auszuleuchten und die Anforderungen, die eine veränderte gesellschaftliche Realität an die<br />

Politische Bildung stellt, im Sinne eines notwendigen Paradigmenwandels untersuchen.<br />

1.3 Krise, Realitätsdefinition und Wertordnung<br />

Gerade auch für diejenigen, die im Bereich der Politischen Bildung und im <strong>Politik</strong>unterricht der<br />

Schule tätig sind, ergibt sich ein deutlicher Perspektivwandel sowohl betreffend die Gegenstände<br />

und Inhalte der Vermittlung <strong>als</strong> auch die unmittelbaren Lernsituationen, im außerschulischen wie<br />

im schulisch-institutionellen Bereich. Zum Teil werden diese Veränderungen von den Lehrkräften<br />

in diesem Bereich subjektiv <strong>als</strong> schmerzlich empfunden, da sie viele Sicherheiten und Orientierungen,<br />

bisher bewährte Selbstverständnisse auflösen und ein grundlegendes Überdenken der Berufssituation<br />

notwendig machen.<br />

Was kennzeichnet nun die im Thema angesprochene »Gegenwartsepoche« in Hinblick auf die<br />

Erfahrungs- und Lebenswelt »Schule und Politische Bildung«?<br />

Zur charakteristischen Berufserfahrung der in der Politischen Bildung Tätigen wird die Konfrontation<br />

mit dem Bedeutungsverlust des »Politischen« und dem Legitimationsdefizit [4] der Träger<br />

politischen Handelns in der heutigen Gesellschaft. »Bedeutungsverlust« bedeutet jedoch durchaus<br />

nicht, dass unter funktionalen Gesichtspunkten <strong>Politik</strong> überflüssig oder Politisches Handeln obsolet<br />

geworden wäre, ganz im Gegenteil! Es handelt sich aus verschiedenen Gründen zunächst einmal um<br />

einen Vertrauensverlust gegenüber den politisch Handelnden, den <strong>Politik</strong>ern. Vordergründig wird<br />

der Vertrauensverlust der <strong>Politik</strong>er mit ihren wahrgenommenen oder vermuteten charakterlichen<br />

Schwächen, mit der Erfahrung des Versagens und der Unglaubwürdigkeit politischer Aussagen und<br />

Versprechen oder mit oft sehr pauschalisierten Korruptionsvorwürfen begründet. Wenn dies auch<br />

im Einzelnen zutreffen mag, ist diese Argumentations- und Wahrnehmungsebene nicht ausreichend.<br />

Alle diese Vorwürfe sind so alt, wie es Herrschaft und <strong>Politik</strong> gibt. [5] Sie sind die Perspektive des<br />

Beherrschten, des Machtschwächeren, oder die Perspektive des Machtkonkurrenten. Der grundlegende<br />

Legitimationsverlust ist demgegenüber strukturell begründet. Die ins Unüberschaubare<br />

gewachsene Menge der Entscheidungsnotwendigkeiten in der <strong>Politik</strong>, in der sich die langen Interdependenzketten<br />

[6] der modernen Gesellschaft ebenso widerspiegeln wie die sozioökonomische Ver-<br />

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flochtenheit und Vernetzung, korrespondiert mit einem relativen Wirkungsverlust der Einzelentscheidung,<br />

mit dem Verlust der Möglichkeit unmittelbarer Erfolgswahrnehmung und sinkender<br />

Entscheidungsspielräume und Autonomie der <strong>Politik</strong>er selbst. Es wächst die Diskrepanz zwischen<br />

Entscheidungsdruck, Erfolgserwartung und Gestaltungsspielräumen, die in der Öffentlichkeit <strong>als</strong><br />

<strong>Politik</strong>versagen wahrgenommen wird. Eine weitere Begründung des offenkundigen oder auch nur<br />

vermuteten Bedeutungsverlustes des »Politischen« liegt in der zunehmenden strukturellen und<br />

funktionalen Auseinanderentwicklung der Gesellschaft, in der kein eindeutiges Machtzentrum mehr<br />

ortbar ist, sondern nur noch eine große Zahl konkurrierender Machteliten, die unterschiedlichen<br />

Funktionsgruppen zuzuordnen sind. Am klarsten, wenn auch in gewissem Sinne einseitig, hat dieses<br />

Phänomen Niklas Luhmann herausgearbeitet. [7]<br />

1.4 Zur begrifflichen Bestimmung der Wahrnehmung des »Zerfalls der Gesellschaft« und<br />

des »Zerfalls der gültigen Wertnormen«<br />

Zerfallswahrnehmungen liegen im Zentrum der Krisenerfahrung in unserer gesellschaftlichen<br />

Realität. Ob es dabei um den zu beklagenden Zerfall einer überkommenen Wertordnung oder um<br />

die Orientierungsprobleme in einer unübersichtlicher gewordenen Gesellschaftsstruktur handelt:<br />

politisches Handeln und gesellschaftliches Alltagsverhalten wird zunehmend schwieriger, da allgemein<br />

anerkannte, konsensfähige Maßstäbe und Orientierungen fehlen. Diese Grundbefindlichkeit<br />

wird wissenschaftlich vor allem im Individualisierungsdiskurs aufgenommen und dann sofort mit<br />

dem Diskurs über Universalisierungs- und Globalisierungsprozesse konfrontiert. Inhaltlich soll<br />

dieser Problemkreis später noch einmal aufgegriffen werden. [8]<br />

Begrifflich sind diese Prozesse nur schwer eindeutig zu fassen. Terminologische Differenzen<br />

prägen die wissenschaftlichen und publizistischen Diskussionen über die zunehmende Ausdifferenzierung<br />

der heterogener werdenden Gesellschaftsstruktur. Der traditionelle Schichtbegriff reicht<br />

für eine genauere Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse sicher nicht mehr<br />

aus. Als Beschreibung bestimmter mittelfristiger Entwicklungen vor allem im Bereich der<br />

Migrationsforschung kann man sicherlich noch von »Unterschichtungsprozessen« durch die<br />

internationale Arbeitsmigration wie, abgeleitet aus der historischen Perspektive, von »Überschichtungen«<br />

durch den Herrschafts- oder auch ökonomischen Hegemonialoktroy sprechen, wobei die<br />

betroffenen auszugrenzenden »Schichten« weder von ihrer sozioökonomischen wie von ihrer<br />

Statussituation her noch zutreffend <strong>als</strong> Oberschicht oder Unterschicht klassifiziert werden könnten.<br />

Gerade auch in der statusmäßigen Selbstdefinition gibt es erhebliche Abweichungen, die z.B. den<br />

traditionellen Oberschichtenbegriff obsolet werden lassen zu Gunsten differenzierter und konkurrierender<br />

Macht-, Status- und Wirtschafts- (= auch Konsum-) Eliten. Wenn im internationalen Kontext<br />

noch von Oberschichten gesprochen wird, ist hier nicht der klassische Schichtbegriff zu sehen,<br />

sondern die verkürzte Beschreibung internationaler Eliten, die oftm<strong>als</strong> eher an den globalisiertenund<br />

universalisierten Kontexten <strong>als</strong> der regionalen kulturellen Verwurzelung orientiert sind und in<br />

ihrem Alltagsverhalten eine »universalisierte Weltkultur« repräsentieren, jedoch nur in dem Maße,<br />

in dem es dieser Personengruppe gelingt, diese mit persönlicher Macht und wirksamem Einfluss zu<br />

unterfüttern.<br />

Auch die Unterschichten sind in dieser Form nicht mehr <strong>als</strong> Schicht oder geschlossene Gruppe<br />

greifbar; die hier zusammengefassten Lebenssituationen sind hochgradig different und auch in ihren<br />

biographischen Chancen und Begrenzungen so unterschiedlich, dass heute ein allgemeines, in der<br />

älteren Klassentheorie erwartetes und gefordertes Klassenbewusstsein oder ein Bewusstsein vergleichbarer<br />

Schichtinteresse zwischen Arbeitslosen, Obdachlosen, verarmten Familien, ausländischen<br />

Arbeitskräften, arbeitslosen Jugendlichen etc. etc. nicht mehr anzutreffen und auch nicht<br />

mehr zu erwarten ist.<br />

Die in den fünfziger Jahren entwickelte Deutungsperspektive einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft<br />

oder die Subsumption aller Gruppen zu einer gesellschaftlichen Mittelschicht mag zwar<br />

im formalen historischen Vergleich zu der Klassengesellschaft des beginnenden Industrialismus<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 3


und <strong>als</strong> provokante Gegenthese zu marxistischen Gesellschaftsvorstellung sinnvoll und geltungsrelevant<br />

gewesen sein, trifft aber die heutigen Lebensrealitäten und gesellschaftlichen Konflikte nicht<br />

mehr. Auch die These vom »Mittelschichtbewusstsein« sollte eher durch die Feststellung<br />

induzierter vergleichbarer Verhaltensreaktionen auf eine industrielle Konsumgesellschaft und ihre<br />

Individualisierungszumutungen ersetzt werden. Der Schichtdiskurs ist wie der Klassendiskurs in<br />

seiner traditionellen Form zu Ende geführt.<br />

Der Versuch, die Heterogenität der Gesellschaft durch die Einführung des Milieubegriffes zu<br />

ersetzen, mag einen Schritt weiter führen, evoziert aber auf der Grundlage vorausgesetzter sozialisationstheoretischer<br />

Grundannahmen, die unter dem Aspekt der heutigen Kultur- und Zivilisationswissenschaft<br />

eher in Frage zu stellen sind, ein harmonisierendes Gesellschaftsbild. Es wird noch<br />

problematischer, wenn durch die breite Resonanz von milieugestützten Gesellschaftsmodellen<br />

gerade die publizistisch etikettierten Gruppen im Sinne einer self-fulfilling prophecy sich erst expost<br />

ausdifferenzieren, wie es erkennbarer Weise bei einer Reihe von ausseparierten Jugendkulturen<br />

eindeutig der Fall gewesen ist. Jugendliche, in ihrer Orientierungsunsicherheit, verstehen publizistische<br />

Milieugruppierungen <strong>als</strong> Verhaltens- und Identifikationsangebote, mit denen sich erst rekursiv<br />

in einer gegenseitigen Wechselbeziehung bestimmte Wertorientierungen und Gesellschaftsbilder<br />

verbinden. [9]<br />

Der Verfasser bevorzugt in Kenntnis der semantischen Ambivalenzen zur Bezeichnung dieser<br />

Gruppierungsprozesse den durchaus werthaltigen und dynamischen Begriff der »Fraktionierung«,<br />

der sowohl das Auseinanderfallen selbst, <strong>als</strong> auch die Unterschiedlichkeit der zu Grunde liegenden<br />

Maßstäbe mit bezeichnen kann. Fraktionen gehen sprachlich auf den Vorgang des Bruches oder des<br />

Auseinanderbrechens zurück. Damit bezeichnet dieser Begriff deutlicher <strong>als</strong> der Begriff der<br />

unterschiedlichen Milieus die problematische Spannung zwischen der <strong>als</strong> Gesamtheit verstandenen<br />

Gesellschaft und den (sich) ausdifferenzierenden, ausgliedernden, konfligierenden oder sich<br />

auseinander entwickelnden Teilen dieser Gesellschaft. Sowohl in Bezug auf die sozioökonomischen<br />

Lebensperspektiven wie auch der Ausdifferenzierung der Wertnormen (bzw. Zivilisationsstandards)<br />

und Realitätsbilder der Alltagskultur sind diese Prozesse der Fraktionierung bis hin zur Individualisierung<br />

zu beobachten und stehen, wie schon angedeutet, in einem interdependenten dialektischen<br />

Zusammenhang [10] mit den Prozessen der kulturellen Universalisierung.<br />

Der Begriff der Fraktionierung ist zu bevorzugen, da er einmal den noch immer wichtigen Blick auf<br />

gesamtgesellschaftliche Prozesse und Interdependenzen nicht verstellt, dabei aber das, so die zu<br />

Grunde liegende These, tendenziell fortschreitende Auseinanderfallen heterogener Teilgruppen in<br />

den Ländern der sozioökonomischen Zentren [11] auch qualitativ <strong>als</strong> Auseinanderbrechen kennzeichnet,<br />

ohne dabei scheinrationalen funktionalistischen Deutungsmuster [12] einerseits oder sehr eingeschränkt<br />

erklärungsmächtigen Deutungen der Systemtheorie unterworfen zu werden (Vgl. Fußnote<br />

7). Es wird durch diesen Begriff weder eine stringente gesellschaftliche Hierarchisierung der sich<br />

ausdifferenzierenden Gruppen impliziert, noch eine harmonisierende Deutung vermittelt, wie sie<br />

klassische Schicht- und Milieutheorien nahe legen.<br />

Begriffsgeschichtlich muss jedoch eine Distanzierung von der ideologischen Konnotation des<br />

Begriffs Fraktionierung in den sozialistischen und kommunistischen Parteien der Arbeiterbewegung<br />

erfolgen, wo damit oft diffamierend der ideologische Vorwurf der Spaltung der Partei durch<br />

parteiinterne Gruppenbildungen bzw. der Verrat an der Klassensolidarität durch ideologisches Abweichlertum<br />

gemeint war und dies zur vermeintlichen Schwächung der eigenen Position führen<br />

müsse <strong>als</strong> Folge von schuldhafter Konsensverletzung seitens der Vertreter bzw. Vertreterinnen<br />

anderer Auffassungen. Dieser eingeschränkten Begriffsbedeutung folgen wir ausdrücklich nicht und<br />

denken, dass diese Funktionalisierung heute geschichtlich so überholt ist, dass eine erneuerte,<br />

grundsätzliche gesellschaftswissenschaftliche Verwendung des Begriffes aus den schon genannten<br />

Gründen möglich und sinnvoll ist. Wenn dennoch eine kritische semantische Konnotation mit-<br />

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transportiert wird, ist dies aus der Perspektive der Entwicklung der modernen Staatsgesellschaft<br />

auch nicht abzuweisen. [13]<br />

1.5 Anmerkungen zu den gegenwärtigen Problemen der Theorie und Rezeption des<br />

Krisenbegriffs [14]<br />

Der Krisenbegriff wird in den »westlichen Ländern der sozioökonomischen Zentren« [15] und in den<br />

so genannten »Transformationsländern«, den ehemaligen Staaten des »real existierenden Sozialismus«<br />

sehr unterschiedlich rezipiert, wie es in Hinblick auf die unterschiedlichen historischen und<br />

gesellschaftlichen Erfahrungen schon diskutiert worden ist. Am Rande sei bemerkt, dass der<br />

Krisenbegriff in den Ländern der so genannten »Semiperipherien« und den peripheren Regionen der<br />

»Dritten Welt« auf Grund stark abweichender Maßstäbe und Zukunftshoffnungen und -befürchtungen<br />

wieder anders verstanden und rezipiert wird. [16] Doch das soll hier nicht das Thema sein.<br />

Wichtiger ist jedoch, dass der Gebrauch des Begriffes »Krise« in der subjektiv geprägten Alltagssprache<br />

ein anderer ist, <strong>als</strong> in den veröffentlichten Diskursen der Massenmedien oder der<br />

wissenschaftlichen Diskussion. [17]<br />

Die theoriegeschichtlichen Ambivalenzen des Krisenbegriffes sind bei einem Anspruch auf<br />

begriffliche Vertiefung und Differenzierung nicht ohne ausdrücklichen Bezug auf die marxistische<br />

Krisentheorie darzustellen. In wie weit eine ursprünglich marxistische Krisenzyklentheorie Eingang<br />

in die »westliche« Volkswirtschaftslehre und die Wirtschaftspolitik von Ländern wie der Bundesrepublik<br />

Deutschland oder anderen westeuropäischen Staaten gefunden hat, ist in der Literatur<br />

im Blick auf die wechselnde Bedeutung keynesianischer Kategorien und nachfrageorientierter<br />

»staatsinterventionistischer« wirtschaftspolitischer Konzepte schon mehrfach angerissen worden.<br />

Doch scheint darüber hinaus eine differenziertere Überlegung notwendig zu sein, um die notwendige<br />

begriffliche Klarheit zu schaffen. In der für die politologische Diskussion des Krisenbegriffes<br />

wesentlichen marxistischen und neomarxistischen Diskurstradition sind zwei Elemente von<br />

besonderer Bedeutung; einmal in der Konsequenz der Basis-Überbau-Thematik zur Bestimmung<br />

des »Politischen« die eindeutige wirtschaftliche bzw. sozioökonomische – aus den nationalökonomischen<br />

Reflexionen der klassischen marxistischen Schriften hergeleitete – Fundierung des<br />

Krisenbegriffes, die die Ebene der subjektiven Rezeption und der daraus erwachsenden gesellschaftlichen<br />

Handlungsebenen weitgehend ausblendet [18] , zum anderen die Zuordnung des ökonomischen<br />

Krisenphänomens selbst zu einer bestimmten, nämlich der bürgerlich-kapitalistischen<br />

Gesellschafts- und Wirtschaftsformation. In dieser, so der Vorstellung des historisch-dialektischen<br />

Materialismus entspringend, „historischen Entwicklungsstufe“ ist die »Wirtschaftskrise« Ursache<br />

und Agens der Entstehung der geschichtsnotwendigen »revolutionären Situation«, die durch den<br />

Klassenkampf zwischen den antagonistischen Klassen der Bourgeoisie und des Proletariates den<br />

Übergang zur sozialistischen und damit folgend der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft <strong>als</strong><br />

Endziel der Geschichte führt.<br />

Die »Krise« ist damit historische eindeutig der kapitalistischen Gesellschaft zuzuordnen und sie ist<br />

ein objektiver Tatbestand in der kapitalistischen Wirtschaft <strong>als</strong> Phase der kapitalistischen<br />

Konjunkturzyklen [19] . Diese aus der marxistischen Kapitalismusanalyse entwickelte Krisenzyklentheorie<br />

ist dabei so detailliert und bindet in überzeugender Weise die ökonomischen Handlungsdeterminanten<br />

Gewinnorientierung und Konkurrenz ein, dass es nicht verwundert, dass in wirtschaftsgeschichtlichen<br />

Phasen entwickelter Konkurrenz und geringen Staatseinflusses, wie in Mitteleuropa<br />

und stärker noch in den USA bis zur Weltwirtschaftskrise die von der Krisenzyklentheorie<br />

vorhergesagten und beschriebenen Konjunkturzyklen weitgehend der ökonomisch-gesellschaftlichen<br />

Realität entsprachen [20] und damit auch wie schon angesprochen zur Grundlage der wirtschaftspolitischen<br />

Konzepte von Keynes wurde. Hofmann [21] leitet aus der Darstellung der Krisenzyklentheorie<br />

und der durch diese Konjunkturzyklen verursachte Weltwirtschaftskrise – historisch<br />

damit die Überlegungen Keynes teilweise nachvollziehend – den „dauernden Staatseintritt“ in die<br />

Wirtschaft (»Staatsinterventionismus«) und schließlich die „Vermachtung der Märkte“ durch<br />

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Konzentrationsprozesse ab. Letzterer Aspekt wird heute wieder aufgegriffen in der ökonomischen<br />

Analyse von Globalisierungsprozessen. Über die keynesianische Rezeption der Krisenzyklentheorie<br />

ist der ökonomische Krisenbegriff seiner marxistischen Bedeutungskonnotation entkleidet worden<br />

und konnte damit auch in die volkswirtschaftliche Terminologie der kapitalistischen Ökonomien<br />

eingehen.<br />

Doch darf der grundlegende Bedeutungs- und Funktionswandel des Krisenbegriffes dabei nicht<br />

übersehen werden. Im Gegensatz zur marxistischen und neomarxistischen Tradition überlagert sich<br />

der ökonomisch-fachliche Krisenbegriff mit dem subjektivistischen Begriff »Krise« der Umgangssprache<br />

[22] und übernimmt damit auch die gesellschaftliche Funktion, <strong>als</strong> populäre Begriffskategorie<br />

zwischen objektiver gesellschaftlicher Erfahrung und wertender Rezeption der eigenen Situation im<br />

unüberschaubar werdenden Wirtschaftszusammenhang zu vermitteln und damit gesellschaftlichaffirmativ<br />

ökonomische Sachverhalte subjektiv zu legitimieren. [23]<br />

Diese Funktion kann jedoch in anderen wirtschaftsgeschichtlichen und intellektuellen Traditionen<br />

nicht in gleicher Weise übernommen werden. Mit dem politisch gewollten und plötzlich vollzogenen<br />

Systemwandel in den Transformationsländern Ost- und Südosteuropas musste auch die das<br />

vorherige politische System stützende und legitimierende politische Ideologie des Marxismus in<br />

seiner damaligen marxistisch-leninistischen Ausprägung beiseitegeschoben werden. Gegenwärtig<br />

werden diese Erklärungsansätze und Gesellschaftsvorstellungen eher anathematisiert und aus<br />

politischen Gründen nicht in die aktuellen Diskurse einbezogen. Die Krisenzyklentheorie <strong>als</strong><br />

Kernstück der marxistischen Kapitalismuskritik unterliegt damit diesem Verdikt auch. War vor der<br />

»politischen Wende« im politischen Selbstverständnis der Länder des »real existierenden Sozialismus«<br />

eine Anwendung des Begriffs »Krise« auf die eigene Situation systemfremd und nicht<br />

erfolgt, so war eine fundamentale Kapitalismuskritik gerade auch mit den Begriffen aus der<br />

marxistischen Tradition in Bezug auf die gewollte und neu übernommene kapitalistisch-marktwirtschaftliche<br />

Systementscheidung kontraproduktiv und auch aus Gründen des eigenen Selbstverständnisses<br />

nicht möglich.<br />

Bestenfalls, wenn auch nicht durchgängig, wurde die Systemkritik mit einem verallgemeinerten,<br />

eher unpolitischen Begriff der »Krise« auf das »überwundene« bisherige sozioökonomische System<br />

angewandt und die Transformation gerade <strong>als</strong> Krisenlösungsstrategie verstanden. Dem können nun<br />

aber die Verlierer der Transformation, wie es vor allem bei den Aus- und Umsiedlern aber auch bei<br />

breiten Schichten in den Gebieten der ehemaligen DDR zu beobachten ist, nicht folgen, bei denen<br />

die subjektiv nachvollziehbare, objektiv aber kontraproduktive und historisch f<strong>als</strong>che Tendenz zur<br />

Idyllisierung der sozialistischen Vergangenheit im Sinne einer rückwärtsgewandten Utopie zu<br />

beobachten ist. [24]<br />

So unterscheidet sich der Begriffsgebrauch der Kategorie »Krise« beträchtlich je nach ideologischhistorischer<br />

Tradition und Wahrnehmung und Sinngebung der eigenen gesellschaftlichen Erfahrungen.<br />

Die Realerfahrung der »Krise im sozialistische System« wie auch »im nachsozialistischen<br />

System« ist durch die marxistische oder neomarxistische Krisenzyklen- und Revolutionstheorie des<br />

dialektisch-historischen Materialismus nicht hinreichend zu erklären und verständlich zu machen,<br />

widerspricht <strong>als</strong> der eindimensional gerichteten Fortschritts- und Geschichtserwartung oder -<br />

hoffnung <strong>als</strong> gegenläufige Bewegung grundsätzlich. Gesellschaftswissenschaftliche Ansätze in den<br />

Transformationsländern haben daher – auch subjektiv in der Lebenssituation der Wissenschaftlerinnen<br />

und Wissenschaftler begründet – große Schwierigkeiten mit einem differenzierten analytischen<br />

Zugang zur eigenen Krisengeschichte, bis hin zur verdrängten und gerade heute diskursnotwendigen<br />

Frage, in wie weit das »überwundene« System des »real existierenden Sozialismus« überhaupt<br />

sozialistisch – oder wie es die westliche Kritik schon früher formulierte: staatskapitalistisch –<br />

gewesen ist und in wie weit die politischen Strategien dieses Systems überhaupt noch auf marxistischen<br />

Kriterien und Erkenntnismethoden einer materialistischen Gesellschaftskritik beruhten.<br />

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Auch im Westen wird dieser Diskurs nicht geführt, sondern die Phase der Existenz sozialistischer<br />

Staaten und Systeme <strong>als</strong> historisch überholt und damit <strong>als</strong> politische Modelle und Ideen widerlegt<br />

anathematisiert. Eine differenzierte Diskussion des Krisenbegriffs in seiner unterschiedlichen<br />

Rezeption in den Transformationsländern und in den Ländern der westlichen sozioökonomischen<br />

Zentren, die die historischen Kontexte über den keynesianischen Staatsinterventionismus ebenso<br />

wenig ausblendet wie eine differenziertere Untersuchung der Krisenabläufe in den sozialistischen<br />

Ländern und den sich aus ihnen entwickelnden Transformationsregionen kann diese Blockierungen<br />

in der politisch-theoretischen Aufarbeitung der sozioökonomischen Zeitgeschichte aufzubrechen<br />

helfen.<br />

2. Veränderungen der Situation des Politischen <strong>Unterricht</strong>es<br />

2.1 Der Erfahrungshintergrund<br />

Der Verfasser gehört zu der Lehrergeneration, die bewusst und aktiv in der Reformphase in den<br />

70er Jahren versucht haben, pädagogische, das heißt sowohl fachdidaktische wie unterrichtsmethodische<br />

Alternativen und Innovationen zu entwickeln, zu erproben und sowohl auf administrativer<br />

Ebene, in Rahmenrichtlinien- und Reformkommissionen, <strong>als</strong> auch in der innerschulischen<br />

Situation <strong>als</strong> neue pädagogische Standards durchzusetzen.<br />

Die Erfahrung der vielfältigen Widerstände, der Rückschläge und gerade in den beiden letzten Jahrzehnten<br />

der tendenziellen Rückentwicklung macht eine reflektierende Analyse der zu Grunde<br />

liegenden gesellschaftlichen, politischen und schulinstitutionellen Veränderungen und Wandlungen<br />

notwendig, auch um die Intention und die Realisierbarkeit dieser reformpädagogischen Intentionen<br />

zu überprüfen. [25]<br />

Bei einem Überdenken der Erfahrungen in der konkreten <strong>Unterricht</strong>s- und Schulsituation sollte von<br />

den vor allem im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld, in den Fächern <strong>Politik</strong> oder<br />

Geographie, leitenden methodischen Innovationen ausgegangen werden, die in den 70er Jahren <strong>als</strong><br />

zentrale Elemente und Kennzeichen eines veränderten <strong>Unterricht</strong>s gesehen wurden. So sollte ein<br />

»moderner« <strong>Unterricht</strong> regelmäßig zum Beispiel durch Exkursionen und Geländearbeit, durch<br />

Betriebsbesichtigungen in Industrie, Landwirtschaft und Verkehrswesen durch regelmäßige<br />

selbständige Projektarbeitsphasen didaktisch strukturiert und methodisch gestaltet werden.<br />

Die heutigen praktischen Erfahrungen damit sind aber eher ernüchternd, ganz abgesehen davon,<br />

dass derzeit nur noch eine Minderheit der Kolleginnen und Kollegen vor allen im gymnasialen<br />

Bereich überhaupt bereit und in der Lage sind, diese <strong>Unterricht</strong>smethoden regelmäßig und intensiv<br />

zu pflegen.<br />

Erstaunlicherweise ergibt sich das Problem gerade heute zu einem Zeitpunkt, da die Fachdidaktik<br />

diese methodischen und didaktischen Schwerpunktsetzungen aus dem Ghetto einer angeblichen<br />

Reformpädagogik [26] herauszuholen versucht und ihre faktische Beschränkung auf die Didaktik der<br />

Primarstufe, wie auch der Schulen im Sekundarbereich I aufheben will und diese methodischdidaktischen<br />

Formen <strong>als</strong> selbstverständlichen Teil des Fachunterrichte zu akzeptieren beginnt, ist<br />

deren praktische Umsetzung im <strong>Unterricht</strong> durch wachsende Probleme und Inakzeptanz, gar aktive<br />

Widerstände, in der Öffentlichkeit, bei den Schülerinnen und Schülern selbst deutlich schwieriger<br />

geworden <strong>als</strong> es die Entwicklung seit den siebziger Jahren erwarten ließ. Entsprechendes gilt in der<br />

Folge auch im Rahmen der institutionellen Voraussetzung an der Schule selbst vor allem hier<br />

wiederum im Gymnasialbereich.<br />

Im Folgenden sollen dazu einige Faktoren benannt werden, die diese wachsende Schwierigkeit dem<br />

Augenschein nach bedingen, ohne an dieser Stelle die Ursachen vertieft zu diskutieren oder didaktische<br />

und schulpraktische Auswege vorzuschlagen.<br />

Nicht diskutiert werden kann in diesem Zusammenhang der subjektive Faktor, nämlich dass das<br />

Durchschnittsalter der Lehrerinnen und Lehrer in den letzten Jahren an den Schulen permanent an-<br />

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gestiegen ist, wodurch neben nachlassender persönlicher Leistungsfähigkeit auch das Risiko des<br />

Berufsüberdrusses und der Demotivation in der Lehrerschaft wächst und sich im Verhältnis zur<br />

Schülerschaft eine »Großelternperspektive« herausbildet.<br />

2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />

2.21 Phasen des Wandels der Zielparadigmen der Politischen Bildung<br />

Die Geschichte der Politischen Bildung ist durch häufige Paradigmenwechsel wie durch<br />

kontroverse Vorstellungen von ihrer Bedeutung und Funktion in der Öffentlichkeit und der Schule<br />

geprägt. Bis zur Reformphase der 70er Jahre wurde Politische Bildung bzw. die heute der<br />

Politischen Bildung zugeordneten Themen und Inhalte in den Fächern Geschichte und Erdkunde<br />

fast ausschließlich <strong>als</strong> Aufgabe für die „Erziehung zum Staatsbürger“ verstanden und dementsprechend<br />

im Sinne der jeweiligen Staatsführung bzw. auch der wechselnden politischen Mehrheiten<br />

in der Demokratie funktionalisiert.<br />

Es sollte aber betont werden, dass dies allgemein <strong>als</strong> legitim und notwendig akzeptiert wurde, und<br />

dass erst der gesellschaftswissenschaftliche Paradigmenwechsel zu Beginn der 70er Jahre, der zur<br />

zeitweiligen wissenschaftlichen Dominanz der »kritischen Theorie« führte, diesen funktionalistischen<br />

und affirmativen Kontext des <strong>Unterricht</strong>s grundsätzlich ideologiekritisch in Frage zu<br />

stellen begann und an die Stelle der so genannten »Staatsdidaktik« pädagogische Ziele wie<br />

Kritikfähigkeit, Emanzipation oder Widerständigkeit zu setzen wollte.<br />

Dass dies in der Kultuspolitik in der Bundesrepublik Deutschland durchaus noch heute umstritten<br />

und kontrovers bewertet ist, zeigt sowohl die emotional geführte Diskussion über die Schulpolitik<br />

im Zusammenhang mit Landtagswahlkämpfen, wie auch der unmittelbare Vergleich von Rahmenrichtlinien<br />

und schulpolitischen Grundsätzen zwischen den Bundesländern Süddeutschlands, vor<br />

allem Bayerns und Baden-Württembergs, mit der Schulpolitik der norddeutschen Bundesländer wie<br />

Niedersachsen, Bremen oder Hamburg. [27]<br />

Die kontroversen Paradigmen der Politischen Bildung sollten – idealtypisch – hier nebeneinander<br />

und gegeneinander gestellt werden, wobei damit auch im Prinzip eine zeitliche Abfolge der Geltung<br />

angedeutet werden kann.<br />

Eine ältere Politische Bildung sieht in der schulischen Erziehung zunächst eine Disziplinierungsund<br />

Anpassungsagentur mit dem Ziel mittelschichtenspezifischer Homogenisierung in der Staatsgesellschaft<br />

[28] ; dieses ist im engeren Sinne eine »Staatsdidaktik«;<br />

Politische Bildung bedeutet später aber auch: Schule <strong>als</strong> Ort der generationsspezifisch hierarchisierten<br />

Vermittlung und Durchsetzung von strukturstabilisierenden Wert- und Bildungsnormen:<br />

Staat, Demokratie, Westorientierung (Gagel, »Mut zur Erziehung«, »Werteerziehung« in der<br />

»Grundbildung«). Von einer rational-kritischen wissenschaftlichen <strong>Politik</strong>didaktik wird eine solche<br />

Politische Bildung aber eher skeptisch betrachtet, obwohl sie den Stimmungen in vielen Kollegien<br />

und Elternschaften durchaus entgegen kommt.<br />

Sachlich-pragmatische und schülerorientiert-kritische Ansätze treffen sich in jüngerer Zeit dort, wo<br />

Politische Bildung die Schule vorrangig <strong>als</strong> Funktionsträger der gesellschaftlichen Intellektualisierung<br />

versteht. Die gesellschaftlichen Ziele einer solchen Intellektualisierung ist unterschiedlich<br />

und politischen Kontroversen unterworfen; sie eignet unter bestimmen Bedingungen vor allem zur<br />

beruflichen Qualifikation, wobei die ökonomische Nachfrage nach höherwertigen Schulabschlüssen<br />

vorrangig ist – oft recht einseitig auch an den Interessen der Betriebe und Arbeitgeber ausgerichtet<br />

– und zu dem zum gesellschaftlichen Konsens gewordenen Postulat »Bildung ist Bürgerrecht«<br />

führen konnte; zum Funktionieren von Staat und Gesellschaft, wobei affirmative Konzepte der<br />

»Staatsbürgerkunde« neben offenen didaktischen Ansätzen für einen selbstbewussten demokratischen<br />

Umgang mit der gesellschaftlichen Realität und den politischen Zukunftsaufgaben steht; in<br />

den 70er Jahren differenzieren sich hierbei wesentliche inhaltliche Arbeitsfelder aus, die im metho-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 8


disch-didaktischen Bereich <strong>als</strong> Konfliktdidaktik oder emanzipative Pädagogik, im didaktisch-curricularen<br />

Bereich <strong>als</strong> Umweltpädagogik [29] , Friedenspädagogik [30] oder Pädagogik der »Dritten<br />

Welt« [31] wesentliche Resonanz aber auch heftige politische Auseinandersetzungen gefunden haben;<br />

zum Erreichen politischer Ziele; dies dürfte ein sehr umstrittener und mehrfach ambivalenter Ansatz<br />

sein, da er wiederum wie auch die konservativen Entwürfe nicht in erster Linie von den Lebensperspektiven<br />

der Schülerinnen und Schüler ausgeht, auch nicht einfach affirmativ herrschende<br />

staatliche Wertvorstellungen umsetzen will, sondern dezidiert politisches Handeln, nämlich das<br />

Eintreten z.B. für Reformen, für gesellschaftlichen Wandel, oder für eine »Revolution« fordert,<br />

wobei das Problem der Legitimierung dieser Ansprüche niem<strong>als</strong> hinreichen zu klären war, es sei<br />

denn, objektivistische Gesellschaftsbilder und Geschichtsmythen vermittelten dieser Art von<br />

»Gesellschaftslehre« eine Scheinrationalität.<br />

Festzustellen ist die Aufgabe und – zumindest in Kernbereichen – das offensichtliche Scheitern<br />

dieser didaktischen Konzeptionen vor dem Hintergrund des eingangs geschilderten gesellschaftlichen<br />

Wandels, das Zurückbleiben hinter den durch den »Staat« postulierten Ansprüche, die tendenziell<br />

auch <strong>als</strong> »Staatsversagen« generalisiert werden. In anderem Kontext werden sie viel grundsätzlicher<br />

<strong>als</strong> Scheitern von Nation<strong>als</strong>taatskonzepten und der mitteleuropäischen Staatsgesellschaften<br />

selbst zu verstehen.<br />

Generell hat sich die Zahl der Außer-Haus-Aktivitäten in den Fächern des gesellschaftswissenschaftlichen<br />

Aufgabenfeldes, insbesondere des Erdkundeunterrichts, in den letzten beiden<br />

Jahrzehnten deutlich erhöht, ohne dass die Zahl der lohnenden Arbeits- und Besichtigungsobjekte in<br />

entsprechendem Maße gestiegen ist. Dazu ist gerade auch bei Betrieben und Dienststellen der »Reiz<br />

des Neuen« von Besuchen durch Schülergruppen (<strong>als</strong> sogar Lokalzeitungen noch darüber berichteten!)<br />

verloren gegangen. In den Vordergrund der Wahrnehmung tritt für Lehrer und Schüler,<br />

teilweise wohl aber auch für die »Gastgeber« und Betreuer in den Betrieben der dafür notwendige<br />

Aufwand und die aufzubringende Arbeitszeit. Dies korrespondiert mit einer wachsenden<br />

Orientierung vieler Betriebe an kurzfristigen Rentabilitätsüberlegungen. Ein Ausdruck dieses<br />

Paradigmenwechsels ist das ›shareholder value‹. Besuche gelten eher <strong>als</strong> Belastung und Kostenfaktor,<br />

denn <strong>als</strong> Chance für public relations. Einige Betriebe erwarten bei Besuchen von Schülergruppen<br />

und anderen Publikumsbesichtigungen von vornherein vorliegende hohe Motivation oder gar<br />

eine finanzielle Aufwandsentschädigung, wenn dies auch bislang eher im Ausland zu beobachten<br />

ist. Der Vorbereitungsaufwand für eine Betriebsbesichtigung wird für die Lehrkräfte dadurch erheblich<br />

größer und die notwendige Langfristigkeit kann einen flexiblen Einsatz dieses <strong>Unterricht</strong>sbestandteils<br />

möglicherweise verhindern.<br />

Die teilweise schlechte Konjunkturlage (Stahlkrise, Kohlekrise, Werftkrise) veranlasst betroffene<br />

Firmen und Branchen, eine restriktive und bedeckte Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben. Die Betriebe<br />

öffnen sich dann weniger gerne Einblicken von außen, was langfristig durchaus kontraproduktiv<br />

sein kann. Zugleich wird die gezielte Ansprache von Schülerinnen und Schülern dann ›uninteressant‹,<br />

wenn in absehbarer Zukunft im Betrieb oder in der Branche Neueinstellungen und das<br />

Angebot von Ausbildungsplätzen nicht zu erwarten ist.<br />

2.22 Veränderungen in der Schülerschaft<br />

Die Schülerschaft hat sich insbesondere in den Zentren der Großstädte in den vergangenen zehn<br />

Jahren stark verändert und zwar sowohl generell in Bezug auf das ihr eigene »Generationenschicksal«<br />

<strong>als</strong> auch in Hinblick auf ihre kulturelle und herkunftsmäßige Zusammensetzung, die<br />

durch wachsende Heterogenität und Vielfalt der soziokulturellen Prägungen zu charakterisieren ist.<br />

Die biographischen Rahmenbedingungen der derzeitigen Schülergeneration haben sich durch<br />

Veränderungen der familialen Sozialisation, durch Veränderungen der politischen Kultur und der<br />

öffentlichen Diskurse und Lebenswelten und durch die Veränderungen in den schulischen Curricula<br />

wesentlich und generell geändert. In gleicher Richtung wirkte der vor allem subjektiv wahrgenom-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 9


mene, zunehmend aber auch objektiv erweisbare Bedeutungsverlust der schulischen Sozialisation<br />

für die Schülerbiographien. Schulische Erfahrung wird durch eine Multiplikation der vor allem<br />

medial vermittelten außerschulischen Erlebnis- und Erfahrungswelten zurückgesetzt. Ob sie unter<br />

diesen Bedingungen noch in eine sinnvolle Konkurrenz, zu diesen lebensweltlichen Differenzierungen<br />

und Fragmentierungen treten kann, zumindest noch <strong>als</strong> Begleitung und Ergänzung,<br />

soll im gegebenen Zusammenhang nicht weiter diskutiert werden, da diese Erfahrungsstrukturen<br />

weitaus getreuer die »Fraktionierung der politischen Kultur« widerspiegelt, <strong>als</strong> es die traditionelle<br />

Schulwelt vermag.<br />

Nachdenklichkeit erzeugt jedoch die Beobachtung, dass diese Situation durchaus nicht generell zu<br />

größeren Lebenschancen und positiven biographischen Erwartungen bei der Schülergeneration<br />

fährt, sondern vielfach Prozesse der nicht bewältigten Dissonanzerfahrungen und Psychotisierungen<br />

evoziert, die die Schule <strong>als</strong> gesellschaftlich verantwortliche Institution durchaus interessieren<br />

müsste.<br />

Bezogen auf unser Thema im Bereich der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, wobei die<br />

Geographiedidaktik einmal durch die besondere Bedeutung empirischer Verfahrensweisen,<br />

andererseits durch die verhängnisvollen Traditionen eines reflexionsarmen Empirismus besonders<br />

gefordert ist, bewirkt die veränderte Lebenssituation der heutigen Schülergeneration jedoch einige<br />

didaktische und methodische Probleme und Einengungen:<br />

Die Bereitschaft, wie auch zeitliche Fähigkeit, zusätzlichen Engagements in Schulveranstaltungen –<br />

wie Studienfahrten, Gelände- und Projektarbeit – außerhalb der üblichen <strong>Unterricht</strong>szeiten sinkt.<br />

Die Erwartung, auch aus ambitionierten schulischen Projekten und Lernsituationen neue und<br />

persönlich belangvolle, »interessante« Erfahrungen ziehen zu können, sinkt.<br />

Die Erwartung, dass sich schulische Bildungsangebote auf eine Verbesserung der Lebenschancen,<br />

Berufsperspektiven oder einsehbarer Persönlichkeitsbildung auswirken könnte, sinkt in dem Maße,<br />

<strong>als</strong> schulische Ausbildung zunehmend <strong>als</strong> Institution zum Erwerb von gesellschaftlich erforderlichen<br />

Formalqualifikationen wahrgenommen wird. [32]<br />

Die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft durch Migranten, Aussiedler und soziale<br />

Binnenmigranten bewirkt kontroverse Haltungen zur Schule, die von ausgesprochener<br />

Aufsteigermentalität z.B. bei Flüchtlingen aus den Funktionseliten des Nahen Ostens, über<br />

statusbezogene Intellektualisierungsstrategien vor allem bei jüdischen Kontingentflüchtlingen aus<br />

den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bis zur völligen Demotivierung von (unfreiwillig in der<br />

Familie mitgenommenen) Aussiedlerkindern aus Osteuropa reichen. Aber unabhängig von der<br />

Sozialmotivation oder der stärkeren oder fehlenden Aufstiegsorientierung fehlt in der Regel durch<br />

eine völlig andere schulische Primär-Enkulturation das Verständnis für die Individualisierungsforderung,<br />

die mit emanzipationsorientierten <strong>Unterricht</strong>sstrategien verbunden ist.<br />

Die – politisch eher konservative – öffentliche Fundamentalkritik an der schulischen Ausbildung,<br />

die gerade auch die informellen und »riskanten« Lernangebote trifft, verstärkt diesen Bedeutungsverlust<br />

der Schule ebenso wie die zunehmende öffentliche Abwertung der Professionalität des<br />

Lehrerberufes. Kritische anzumerken ist auch die häufig unprofessionelle öffentliche Darstellung<br />

der Lehrersituation durch die Lehrerverbände. Dieses negative Erscheinungsbild des Lehrerberufes<br />

wird vor allem durch die GEW ungewollt gefördert. Die Schülerperspektive spiegelt damit<br />

weitgehend den Stand der veröffentlichten Diskurse wider.<br />

Die – politisch eher konservative – öffentliche Fundamentalkritik an der schulischen Ausbildung,<br />

die gerade auch die informellen und »riskanten« Lernangebote betrifft, verstärkt diesen Bedeutungsverlust<br />

der Schule ebenso wie die zunehmende öffentliche Abwertung der Professionalität des<br />

Lehrerberufs. Kritisch anzumerken ist die häufig unprofessionelle oder gar dilettantische öffentliche<br />

Darstellung der Lehrersituation durch die Lehrerverbände. Dieses negative Erscheinungsbild des<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 10


Lehrerberufs wird vor allem durch die GEW ungewollt gefördert und evoziert. Die Schülerperspektive<br />

spiegelt damit weitgehend den Stand der veröffentlichten Diskurse wider.<br />

Die Gesellschafts- und Sozialordnungen sind weltweit in Bewegung geraten. Die politisch-ökonomischen<br />

Transformationsprozesse in den Ländern des ehemaligen RGW-Bereichs sind nur ein<br />

Beispiel, das korrespondiert mit tief greifenden gesellschaftlichen Umwälzungen vor allem in den<br />

Ländern der Semiperipherien.<br />

Zwar sind die Erscheinungsformen dieser Umwandlungen und Transformationen sehr unterschiedlich,<br />

das heißt, den jeweils individuellen historisch-ökonomischen Bedingungen der<br />

einzelnen Regionen und Länder entsprechend, doch stehen sie in hohem Grade in einem<br />

internationalen Kontext – <strong>als</strong> Dependenz, zentral-periphere Disparität oder im politisch-kulturellen<br />

Einflussbereich der Hegemonialmächte –, der bestimmte Entwicklungstendenzen vorzeichnet und<br />

überprägt und damit im Sinne der Globalisierung und Universalisierung vergleichbar macht.<br />

Die wirkt sich bis in die soziale Existenz des Einzelnen, d.h. auch der Schülerinnen und Schüler aus<br />

und kann skizziert werden mit folgenden Erscheinungsformen, die die gesamtgesellschaftlichen und<br />

ökonomischen Chancen von Globalisierung und Universalisierung zunächst bewusst ausblenden:<br />

Trotz Wirtschaftswachstum und positiven Einkommensentwicklungen in den Mittelschichten<br />

wächst der Anteil der Armen und derjenigen, die sich in der gegebenen Gesellschaft <strong>als</strong> arm,<br />

armselig oder chancenlos eingruppieren lassen.<br />

Traditionelle »Armut« wird durch »Verelendungsprozesse« und der Ausbreitung von »Armseligkeit«<br />

[33] abgelöst, die die Menschenwürde tangiert und katastrophale psychische Folgen der Perspektiv-<br />

und Hoffnungslosigkeit wie auch das Anwachsen der Gewaltbereitschaft und Radikalisierung<br />

nach sich zieht.<br />

Der soziale Halt traditionaler Institutionen und Sozialverbände geht verloren und mit ihr die damit<br />

verbundene soziale Kontrolle und sozialpsychologische Stabilisierung. Die Menschen werden zur<br />

Freiheit gezwungen, was nur in den ökonomisch stabilen Sozi<strong>als</strong>chichten auch tatsächlich <strong>als</strong> positiver<br />

Wert und Chance für den Erhalt des sozialen Status oder gar weitere Aufstiege wahrgenommen<br />

wird.<br />

Die Migrationsströme nehmen weltweit zu und führen zu einer Heterogenisierung und Fraktionierung<br />

[34] der Bevölkerungen einerseits und zu gegensteuernder Zunahme von staatlicher Repression<br />

andererseits; was letztlich einen sich gegenseitig verstärkenden und bedingenden Prozess darstellt.<br />

Die Schülerschaft, mit der heute die Schule im Allgemeinen und die Politische Bildung im<br />

Besonderen konfrontiert werden, ist in mehrfacher Hinsicht von den Auswirkungen der<br />

Globalisierungs- und Universalisierungsprozessen betroffen. Dabei stehen materielle und<br />

strukturelle Veränderungen, die regional und sozial zu differenzieren sind, mentalen und<br />

habitutionellen Entwicklungen und Problemen gegenüber, die vor allem kulturell und identitätsgruppenorientiert<br />

zentrifugalen Kräften unterliegen und daher in hohem Maße <strong>als</strong> »fraktioniert«<br />

erscheinen. Daraus entstehen neue, für die Schule gerade auch in den Industriestaaten ungewohnte<br />

Konfliktpotentiale und soziale Bruchlinien. Im Vordergrund steht die Beobachtung – oder auch nur<br />

die Vermutung – der sozialen und kulturellen Desintegration und mentalen Verunsicherung auch<br />

bei den Lehrerinnen und Lehrern selbst. Das mag insofern überraschen, <strong>als</strong> die Prozesse der<br />

Globalisierung und Universalisierung begrifflich und realpolitisch ja zunächst Integrationsprozesse<br />

und Angleichungsvorgänge bezeichnen sollen. Doch treten hier die schon erwähnten sozialen und<br />

kulturellen Gegenströmungen in den Vordergrund, die für die innergesellschaftliche Wahrnehmung<br />

der Folgen der Globalisierung signifikanter zu Tage treten <strong>als</strong> die ökonomisch-strukturellen<br />

Angleichungsprozesse selbst.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 11


Beginnen wir mit der schulischen Wahrnehmung materiell-struktureller Veränderungen. Von vielen<br />

Lehrerinnen und Lehrern wird ein Verlust der Homogenität der Schülerschaft wahrgenommen und<br />

<strong>als</strong> Problem für die eigene <strong>Unterricht</strong>sführung definiert. [35] Im Hintergrund stehen die regionalen<br />

und globalen Migrationsprozesse, die im Rahmen der Herausbildung hoch differenzierter »Sub-Milieus«<br />

zu einer ethnisch-kulturellen Fraktionierung der Bevölkerung und damit auch der Schülerschaft<br />

führen. Dabei spielen innerschulisch die Migrations-Bedingungen und -Ursachen ebenso<br />

wenig eine bedeutsame Rolle wie die qualitativen Unterschiede in den Lernvoraussetzungen und<br />

kulturellen Orientierungen der Schülerinnen und Schüler. Inhomogenität <strong>als</strong> solche und Fremdheit<br />

bzw. Distanz werden pauschal und weitgehend undifferenziert <strong>als</strong> Entitäten und wenig beeinflussbare<br />

Existenzvoraussetzungen wahrgenommen. Anstelle einer notwendigen Differenzierung<br />

der <strong>Unterricht</strong>sstrategien erfolgt tendenziell sogar eine Entdifferenzierung in der Wahrnehmung<br />

sozialer und ethnischer Dichotomien. [36] Es ist hier nicht der Ort, die sozialpsychologischen<br />

Grundlagen dieser inadäquaten Reaktionen zu untersuchen; die Stereotypien- und Vorurteilsforschung<br />

hat dazu ebenso wie die Didaktik der Politischen Bildung seit den klassischen Untersuchungen<br />

von Adorno et al. [37] maßgebliches ausgesagt. Die kulturelle Seite dieser Fremdheitswahrnehmung<br />

ist auch im Rahmen des tiersmondisme [38] und vor allem der französischen kritischen<br />

Ethnologie [39] aufgearbeitet worden.<br />

Untersuchen wir die Ursachen dieser innerschulischen Problemdifferenzierungen, so müssen wir,<br />

entgegen der Eigenwahrnehmung in der Schule, gerade die externen Verursachungsfaktoren in den<br />

Vordergrund rücken. Migrationswellen, die das heutige Weltsystem maßgeblich bestimmen – was<br />

an sich in der Weltgeschichte nichts Neues ist, da auf Veränderungsprozesse und Notlagen immer<br />

schon Migrationen und »Völkerwanderungen« sinnvolle und notwendige Reaktionen waren [40] –<br />

sind vor allem auch Reaktionen auf sozioökonomische Veränderungen, die durch Globalisierungsprozesse<br />

verursacht werden. Das führt nicht zu einer stärkeren regionalen Differenzierung zwischen<br />

unerwünschten Migranten und zur Binnenmobilität gezwungenen Arbeitnehmern, sondern auch zu<br />

einer Chancendifferenzierung zwischen der an Globalisierungsprozessen und internationaler<br />

Mobilität teilhabenden Oberschichten [41] und regional immer stärker staatlich festgelegten Unterschichten.<br />

So wird gleichermaßen auch die soziale Hierarchisierung verstärkt und das Spannungsniveau<br />

gesellschaftlicher Konflikte deutlich erhöht.<br />

Zweitens führt es in der Schule erfahrbar zu einer stärkeren Ausprägung sozialer Differenzen und<br />

zur Vergrößerung des Anteils Armer und Bedürftiger in der Schülerschaft. Dieses ist tendenziell<br />

ursächlich mit Globalisierungsprozessen verbunden.<br />

Gegen diese Gruppe richten sich von Seiten der traditionellen Mittelschichten verstärkt ebenso<br />

ausgrenzend-aggressive Vorurteile und Ablehnung wie gegen die Gruppe der Migranten insgesamt.<br />

So kommt die Schule in eine letztlich von ihr selbst kaum zu lösende Konfliktlage zwischen den<br />

Privilegierungsansprüchen der traditionellen Mittelschichten einerseits, die an Bilder von Schule<br />

und <strong>Unterricht</strong> appellieren, die von einer Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer vor allem in den<br />

weiterführenden Schulformen entsprechend ihrer eigenen sozialen Herkunft geteilt werden. Diese<br />

Ansprüche kollidieren mit den grundgesetzlich verankerten Bildungs-, Ausbildungs- und Qualifizierungsansprüchen<br />

einer neuen Schülerklientel hoher Differenziertheit und kulturell-ethnischer<br />

Abgrenzung, die daher oft gar nicht zu einer gemeinsamen und schon gar nicht einer identischen<br />

Interessenwahrnehmung und damit zu einer Gegenmacht zu Privilegierungsanmaßungen in der<br />

Lage sind.<br />

2.23 Lehrersituation und Schulinstitution<br />

Wesentlichen Anteil an der heutigen Erschwernis, einen projektorientierten <strong>Unterricht</strong> in den<br />

gesellschaftswissenschaftlichen Fächern, vordringlich gerade auch im Erdkundeunterricht, der von<br />

der empirischen Arbeit »im Gelände« so abhängig ist wie der <strong>Politik</strong>unterricht von der realen<br />

Erfahrung in der Gesellschaft, <strong>als</strong> »Normalangebot« der Schule durchzusetzen, liegt aber auch an<br />

zunehmend restaurativen Bildungsvorstellungen in der Schulpolitik, unabhängig von der Partei-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 12


zugehörigkeit der Kultusminister bzw. -ministerinnen, wie das Beispiel Niedersachsen sehr deutlich<br />

zeigt. [42]<br />

Primäres Ziel der Bildungspolitik scheint derzeit zu sein, konservativer Schulkritik und vor allem<br />

eher gymnasial ausgerichteter Elternvereine und -vertretungen durch politische Spannungen vermeidende<br />

und gesellschaftliche Konflikte zu unterlaufende Maßnahmen zuvorzukommen. Im Vordergrund<br />

stehen dabei Formalkriterien wie Verminderung des <strong>Unterricht</strong>sausfalls (völlig unabhängig<br />

davon, wie sinnvoll oder zwangsläufig seine Ursachen auch sein. mögen; dabei soll zudem<br />

grundsätzlich die Neueinstellung von Lehrerinnen und Lehrern restriktiv erfolgen). [43]<br />

Ein weiteres Element dieser restaurativen Bildungspolitik ist die scheinbar fortschrittliche Förderung<br />

verpflichtender Schulprogramme, die scheinbar und vorgeblich eine erhöhte Vergleichbarkeit<br />

zulassen, vordergründig Verantwortung an die Schulen delegieren, tatsächlich aber zu einem wirkungsvollen<br />

Instrument pädagogischer und didaktischer Nivellierung und Entdifferenzierung bzw.<br />

Homogenisierung [44] werden können, indem pädagogische Experimente durch Mehrheitsvoten und<br />

die Persistenz einmal getroffener Entscheidungen blockiert, didaktischer Fortschritt durch Abstimmung<br />

verhindert und scheinbar individuell auf die jeweiligen Lerngruppen und Lernsituationen<br />

eingehende <strong>Unterricht</strong>skonzeptionen zu Gunsten vorgeblicher »fachlicher Vergleichbarkeit« reduziert<br />

wird. Gleichzeitig werden solche Schulprogramme, zumindest bei der derzeitigen Zusammensetzung<br />

der Lehrerschaft, zu einem zusätzlichen Hemmnis betreffend einer engeren Verzahnung<br />

der wissenschaftlichen Didaktik mit der alltäglichen Schulpraxis. Das was der Staat<br />

insgesamt nicht mehr <strong>als</strong> Homogenisierungsleistung durchsetzen kann, soll oder will, wird im<br />

Subsidaritätsprinzip an die schulischen Instanzen delegiert und damit doppelt effizient durchgesetzt,<br />

an Stelle der eigentlich notwendigen Überlegung, Schuldidaktik prinzipiell zu dynamisieren, an den<br />

fortschreitenden gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu beteiligen und letztlich<br />

widerständig zu machen.<br />

3. Notwendiger Paradigmenwechsel der <strong>Politik</strong>didaktik<br />

3.1 Widerständigkeit statt auf Nationsmythen fixierte Affirmation<br />

Wenn das »Politische« selbst, Gegenstand der Politischen Bildung wie des <strong>Politik</strong>unterrichtes, in<br />

unserer Gesellschaft in Frage gestellt wird, ist es nur folgerichtig, von einem Bedeutungsverlust und<br />

Legitimationsdefizit der Träger der Politischen Bildung zu sprechen. Dies wird in der politischen<br />

Öffentlichkeit noch dadurch verstärkt, dass Politische Bildung generell unter inhaltliche Legitimationszwänge<br />

gesetzt wird, die an anderer Stelle zu erörtern sind und davon abhängen, dass Politische<br />

Bildung in ihrem Selbstverständnis zumeist nicht-affirmative, distanzierende und kritisch-rationale<br />

Lernprozesse zu evozieren sucht, die das Fach in Widerspruch zu Legitimationswünschen der institutionellen<br />

<strong>Politik</strong> und der Machteliten in der Gesellschaft bringt.<br />

Bildungstheoretiker sehen die genannten Bedeutungsverluste bezogen auf die Sozialisationsbedingungen<br />

des Einzelnen viel grundsätzlicher und beobachten einen Bedeutungsverlust und Legitimationsdefizit<br />

der Träger der schulischen Sozialisation. Dies liegt einmal an dem aus unserem<br />

ersten Punkt hervorgehenden Eindruck des Bedeutungsverlustes aller staatlichen (politischen) Institutionen,<br />

der real unterstützt wird durch die immer größere Distanz zwischen Entscheidungs- und<br />

Wirkungsebene im Rahmen der Globalisierungs- und Universalisierungsprozesse; zum anderen an<br />

den Veränderungen der individuellen Entwicklungsabschnitte zwischen Kindheit, Adoleszenz,<br />

Post-Adoleszenz und Erwachsensein, wobei immer mehr immer wirksamere nicht-familiale, unpersönliche<br />

und öffentliche Einflüsse immer früher auf den Sozialisationsprozess einwirken und fest<br />

gefügte Intimität und Privatheit tendenziell in Frage stellen. Die Sozialisation wird damit in hohem<br />

Maße unvorhersehbar und unsteuerbar, was den erzieherischen Einfluss von Elternhaus und Schule<br />

– und damit auch die real zu fordernde Erziehungsverantwortung – zurückdrängt und grundsätzlich<br />

immer mehr in Frage stellt. Diesen Einschränkungen ist aus denselben Gründen neben der<br />

familialen Sozialisation auch die schulische Bildung ausgeliefert, bei der der Bedeutungsverlust im<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 13


öffentlichen Bewusstsein wie in den Lebenskonzeptionen der Schülerinnen und Schüler noch viel<br />

offensichtlicher wird. [45]<br />

Politische Bildung hat sich mit der rational-distanzierten Aufarbeitung der existentiellen und<br />

mentalen Folgen dieser veränderten Sozialisationsbedingungen und Lebensperspektiven auseinanderzusetzen.<br />

In dem Maße, in dem schulisch-institutionelle und staatliche Erziehungseinrichtungen und <strong>Unterricht</strong>ssituationen<br />

fragwürdig und einer erneuten Legitimierung bedürftig werden – sowohl gegenüber<br />

den Schülerinnen und Schülern selbst, <strong>als</strong> auch gegenüber der Öffentlichkeit, die zunächst von<br />

der Elternschaft repräsentiert wird –, muss das historisch gewachsene staatliche System der<br />

Institutionen und Einrichtungen kritisch in das wissenschaftliche und didaktische Blickfeld<br />

genommen werden.<br />

Es stellt sich mit Nachdruck die Frage nach der staatlichen Kompetenz und Fähigkeit, Bildungsziele<br />

zu setzen und adäquat zu konkretisieren, schulische <strong>Unterricht</strong>e zu bestimmen. Dass in den neueren<br />

Rahmenrichtlinien des Faches <strong>Politik</strong> von den Lernzielkonzepten oder der inhaltlichen Lehrplanfestlegung<br />

zunehmend abgegangen wird zu Gunsten des Konzeptes der Schlüsselprobleme, auf<br />

das wir hier inhaltlich unsere Aufmerksamkeit konzentrieren werden, zeigt, dass zumindest an<br />

aufgeschlosseneren Kultusministerien der dargestellte aktuelle Problemkontext nicht vorbei<br />

gegangen ist.<br />

Doch sind die zu Grunde liegenden Fragestellungen damit noch nicht abschließend geklärt. Claußen<br />

(z.B. »politik unterricht aktuell«) und Voigt (1999) stellen diese Frage ganz grundsätzlich und<br />

fordern die Distanz zu den »Selbstverständlichkeiten« der Staatsgesellschaft und des Staates<br />

(„Staatsapologetik“ bei Claußen, , Bernhard, 1994: Strukturveränderungen politischer Herrschaft,<br />

Sozialisation und Politische Bildung: Prospektive Reflexionen über ihren Zusammenhang, politik<br />

unterricht aktuell, Heft 2 / 1994. - Claußen, Bernhard, 1993: Von der nationfixierten Systemapologetik<br />

zum interkulturellen Lerndiskurs. Historisch-systematisch orientierte Anmerkungen zu<br />

Paradigmatischen Wandlungstendenzen in der Politischen Bildung. In: Voigt, Gerhard, Hg., 1993:<br />

Interkulturelles Lernen. Schriftenreihe des UNESCO-Clubs für die UNESCO-Schule am Maschsee,<br />

Bismarckschule Hannover, Heft 5. Hannover. S. 55-76. ) sowie des Nationenbegriffes. Damit<br />

tendiert Politische Bildung zunächst nicht zu einer grundsätzlichen »Fundamentalablehnung« des<br />

Staates – oder gar der Demokratie, wie es ihr konservativerseits manchmal vorgeworfen wird –,<br />

sondern fordert ein widerständiges Selbstverständnis und die Erziehung zur Fähigkeit zur eigenen<br />

Widerständigkeit, d.h. damit vor allem zur Fähigkeit distanzierten und selbstdistanzierten Denkens,<br />

zu Rationalität – aber auch zu Empathie. Dieses kritisch-widerständige Denken begreift Staat und<br />

Nation nun nicht mehr <strong>als</strong> Selbstverständlichkeiten, sondern <strong>als</strong> historisch-prozessuale Entitäten<br />

und Artefakte, die verändernder und entwickelnder politischer Handlung offen stehen. Der<br />

Leitbegriff der Nation, wie die Begriffe von Volk und Ethnie werden <strong>als</strong> machtprozessual in<br />

gesellschaftlichen Figurationen verortete Legitimationsmythen begriffen, die einer kritisch-distanzierten<br />

Aufklärung bedürfen.<br />

Widerständigkeit [46] der Politischen Bildung und der <strong>Politik</strong>didaktik ist daher zuallererst gegen<br />

staatsaffirmative, nicht rational fundierte Erziehungskonzepte anzustreben, Kritik an den<br />

herrschenden Nationalitäts- und Ethnizitätsmythen, die irrationale »Zusammengehörigkeitsgefühle«<br />

<strong>als</strong> machtprozessuale Homogenisierungsstrategien und -mittel im Prozess des nation building<br />

einsetzen, ist die fachliche Grundlage dieses aufklärerischen didaktischen Konzeptes.<br />

3.2 Diskursorientierte didaktische Konzepte<br />

Der Hinweis auf die unterschiedlichen Zeitdimensionen und Zeitvorstellungen gesellschaftlicher<br />

Zielvorstellungen und gesellschaftlichen Handels ist notwendig.<br />

Sehr vordergründig ist dies bereits das zentrale Motiv der globalen Ökologiebewegung nach der<br />

MIT-Studie des »Club of Rome«.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 14


Philosophisch ist der Blick auf die theoretischen Konzepte von Braudel (»Die lange Dauer«)<br />

sinnvoll, oder die interkulturellen Zeitkonzepte bei Wendorff oder aus der Zivilisationstheorie abgeleitet<br />

bei Waldhoff (1995).<br />

Aufzugeben ist die Vorstellung, Schule und Politische Bildung könnten Agenturen der zielgerichteten<br />

Steuerung politischen und gesellschaftlichen Wandels sein. Dies ist zu vordergründig und widerspricht<br />

der Einsicht in die zugrunde liegenden Sozialisations- und Enkulturationsprozesse, die<br />

vor allem in der Entwicklung der Vorstellung der Differenz gründen. Politischer Wandel erfolgt<br />

über Dissonanz- und Differenzerfahrungen, nicht jedoch durch das Erlernen politischer Ziele.<br />

Abschließend sollten drei mögliche Wirkungsdimensionen der Politischen Bildung angesprochen,<br />

charakterisiert und diskutiert werden:<br />

Politische Bildung vermittelt die Fähigkeit zur Alternative, d.h. sie hilft bei der Entwicklung einer<br />

differenzierten Persönlichkeit; Alternativen haben hierbei sowohl eine wichtige kognitive Fundierung<br />

nötig, <strong>als</strong> auch einen affektiv-emotionalen Rahmen, der <strong>als</strong> Widerstand oder Blockierung<br />

erfahrbar und meist biographisch verortbar ist.<br />

Politische Bildung entwickelt durch die systematische Einbeziehung in reflektive schulische und<br />

gesellschaftliche Diskurse die Fähigkeit zum distanzierten und selbstdistanzierten Denken, was<br />

durchaus im Widerspruch zu traditionellen Forderungen nach emotionaler Geborgenheit und<br />

Wärme stehen kann und muss, aber in der Dialektik von Globalisierungszwängen und Individualisierungszumutung<br />

notwendige Persönlichkeitsausstattung sein muss.<br />

Politische Bildung versteht sich selbst <strong>als</strong> rekursiver und selbstreferentieller Teil umfassender<br />

gesellschaftlicher Diskurse. In diesem Sinne orientiert sich Politische Bildung nicht nur an<br />

Schlüsselproblemen der Gesellschaft, sondern trägt zu deren Entwicklung und diskursiven Erhellung<br />

bei.<br />

Politische Bildung versteht sich <strong>als</strong> Teil und Agens einer »Zweiten Zivilisation« parallel zur Forderung<br />

nach einer »Zweiten Aufklärung«.<br />

Diese Charakteristiken der Politischen Bildung in didaktische und curriculare Konzeptionen<br />

umzusetzen, verlangt inhaltliche Konzeptualisierungen, die von den üblichen Inhalts- und Problemsetzungen<br />

durch die Schulbehörde, die Schule oder die Lehrkräfte selbst grundsätzlich abweichen.<br />

Zum einen trägt der Gedanke, der Didaktik sei („handwerkliche“) Umsetzung von Wissenschaft,<br />

den „Bezugswissenschaften“, in der heutigen gesellschaftlichen und schulisch-institutionellen<br />

Realität nicht mehr. Dazu ist der dieser Vorstellung zu Grunde liegende Wissenschaftsbegriff<br />

„idyllisiert“ und mit Wahrheitsansprüchen etikettiert, die einem philosophisch und soziologisch<br />

verantworteten Wissenschaftskonzept nicht mehr entsprechen. Realitätserhellung geschieht nicht<br />

(nur) durch Wissensvermittlung, sondern durch situatives Erarbeiten adäquater Realitätsperspektiven<br />

höherer Selbstreferenzialität – auch und gerade im <strong>Unterricht</strong>. Politische Bildung ist<br />

daher potentiell immer interdisziplinär und <strong>als</strong> offener Arbeitsauftrag zur kontinuierlichen Realitätserschließung<br />

zu verstehen.<br />

Das Problem staatsaffirmativer Grundkonzepte der Politischen Bildung ist schon erörtert und<br />

zurückgewiesen worden. Widerständigkeit und gesellschaftlich adäquate Realitätsperspektiven<br />

entwickelt Politische Bildung nur durch die diskursive Einbeziehung in die gesellschaftliche<br />

Meinungs- und Willensbildungsprozesse und die kritisch-distanzierte Bezugnahme auf die<br />

herrschenden kulturellen Wert-, Verhaltens- und Symbolinventare.<br />

<strong>Unterricht</strong>sinhalte sind keine Entitäten der gesellschaftlichen Realität, sondern sie bilden<br />

gesellschaftliche Realität symbolisch ab. <strong>Unterricht</strong> ist dabei Teil einer symbolischen Interaktion [47] ,<br />

bei der wissenschaftspropädeutische Relevanz- und Realitätskriterien aus der expliziten Thematisierung<br />

der Rezeptionsvorgänge selbst im Rahmen eines reflexiv-distanzierten, tendenziell<br />

selbstreferenziellen Diskurses gewonnen werden.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 15


Diese Charakteristiken erweisen die zentrale Bedeutung eines didaktischen Ansatzes, der in den<br />

gesellschaftlichen Diskursen fundiert ist und sich selbst <strong>als</strong> integraler Bestandteil eben dieser<br />

Diskurse versteht. Der Diskursbegriff selbst müsste in seiner philosophischen und theoriegeschichtlichen<br />

Bedeutung eingehender untersucht und kritisch gewürdigt werden. Das kann an<br />

dieser Stelle nicht geschehen. Es sollte nur auf den Doppelcharakter des Begriffes hingewiesen<br />

werden, der in seiner Konsequenz über den in diesem Aufsatz zu Grunde gelegten pragmatischen<br />

Gebrauch des Diskursbegriffes hinausweist. Nach Habermas ist der Diskurs Element eines<br />

gesellschaftlich-ethischen Handlungskonzeptes, der Diskursethik. Der »herrschaftsfreie Diskurs«<br />

folgt dem anthropologischen Leitbild des freien, verantwortlichen und gleichen Bürgers, der in den<br />

selbst gestalteten Diskurs um die gesellschaftlichen Ziele und politischen Handlungsperspektiven<br />

eintritt und diese damit letztlich verantwortet. Es ist eine zutiefst demokratisch-egalitäre gesellschaftliche<br />

Zielvorstellung, in der Herrschaftsabbau und eine optimistische Anthropologie<br />

Fortschritt und Gerechtigkeit in einer Form garantieren, die mit der ökonomistischen Bezeichnung<br />

Sozialismus nur unzureichend gekennzeichnet wäre. [48] Wir nehmen die positiven gesellschaftlichethischen<br />

Konnotationen Diskursbegriffes gerne war, beschränken uns aber auf das Konzept, das im<br />

Diskurs die differenzierte und vermittelnde (auch symbolische, auch durch Medien vermittelte)<br />

Kommunikation in der Gesellschaft ins Auge fasst und sie auf der einen Seite von der Ebene einer<br />

umfassenderen, persistenteren bzw. nur begrenzt aktiven Veränderungs- und Entwicklungsstrategien<br />

ausgesetzten Politischen Kultur, in der sich die historische Erfahrung einer Gesellschaft<br />

in Wert- und Handlungsoptionen und in verfügbaren Symbolinventaren verfestigt (die dann den<br />

aktuellen Diskursen die kommunikative Basis geben), auf der anderen Seite von der Ebene der<br />

persönlichen, privaten, in abgeschlossenen intimeren Gruppen ablaufenden Kommunikations- und<br />

Interaktionsbeziehungen absetzt. Demgegenüber sind öffentliche Diskurse prinzipiell für alle offen,<br />

aber durchaus nicht allen zugänglich. Ein diskursives Konzept der Didaktik der Politischen Bildung<br />

zielt nun gerade darauf, solche Diskurse verfügbar und beeinflussbar zu machen und sie <strong>als</strong> das<br />

eigentliche Medium des Politischen zu versehen und <strong>als</strong> Ebene von politischen Handlungsoptionen<br />

zu begreifen. Da aber Schule, <strong>Unterricht</strong> und Politische Bildung nicht über unbegrenzte<br />

Diskursressourcen, sowohl was die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler <strong>als</strong> auch<br />

die formal-institutionellen Rahmenbedingungen der Schule angeht, müssen Kriterien der Auswahl,<br />

der Entwicklung, der Umsetzung und der Inwertsetzung öffentlicher Diskurse gefunden werden.<br />

Unsere These ist es, dass die Diskurse selbst Instrumentarium und Kriterien zur Auswahl und<br />

Relevanzprüfung wie zur methodischen Umsetzung bergen, dass <strong>als</strong> Didaktik einerseits sich <strong>als</strong> Teil<br />

dieser öffentlichen gesellschaftlichen Diskurse verstehen muss, andererseits aber auch gezwungen<br />

ist, sich in diesen Diskursen zu behaupten und zu legitimieren. Dieser methodische Zugang zum<br />

didaktischen Arbeiten in Diskursen konkretisiert sich derzeit im Konzept der Schlüsselprobleme.<br />

Hier wäre noch kritisch auf das jüngst veröffentlichte Gutachten des Sachverständigenrates Bildung<br />

der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung „Jugend, Bildung und Zivilgesellschaft“ zur<br />

Entwicklung der Bildung in Deutschland einzugehen. Die in diesem Gutachten aufgeführten<br />

Zielbestimmungen einer zukunftsorientierten Bildung stehen in der Tradition eines an<br />

gesellschaftlicher Verantwortung orientierten <strong>Unterricht</strong>sverständnisses und repräsentieren somit<br />

ein Menschenbild, das weitgehend auch von unserer Untersuchung geteilt werden kann und weckt<br />

die Hoffnung, dass damit die in dem Text selbst angesprochenen, aber durch den Verantwortungsbegriff<br />

eingegrenzten emanzipatorische Diskurse in der Öffentlichkeit wieder breiteren Raum<br />

gewinnen können: „Leitbild der Bildung ist der freie Mensch, der aus eigenem Interesse sein Leben<br />

in Verantwortung für sich selbst wie für andere Menschen und für die Gesellschaft gestaltet, nicht<br />

das von jeder Verpflichtung ‚emanzipierte‘ Individuum. ... Das Lehrerbild darf sich nicht nur an der<br />

individuellen <strong>Unterricht</strong>sgestaltung orientieren, sondern muss auch auf die kooperative Gestaltung<br />

des pädagogischen ‚ Gesamtkunstwerks‘ Schule ausgerichtet sein; deren Eigenverantwortung ist der<br />

Rahmen für die Arbeit der einzelnen Lehrerin, des einzelnen Lehrers...“ Es sind hier zwei bezeichnende<br />

Textstellen ausgewählt worden, die für die wenig konkrete Argumentationsstruktur des<br />

Gutachtens ebenso typisch sind wie für einige widersprüchliche Denk- und Werttraditionen der<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 16


gewerkschaftlichen Linken. Die Formulierungen bleiben ausdeutbar und sind von einer für ein<br />

Gutachten eigentlich zu großen interpretatorischen Beliebigkeit, deren Didaktisch-methodische<br />

Umsetzung nicht unmittelbar aus den Argumentationskontexten herleitbar ist. Zum weiteren ist das<br />

Bildungskonzept, das letztlich aus der Arbeiterbewegung heraus sich entwickelt hat, uneindeutig in<br />

der nur leerformelhaften Verklammerung individualistischer, emanzipatorischer Wertbestimmungen<br />

und ihrer Einbindung in das Verantwortungskonzept, das hier in der Tradition kollektivistischer<br />

Traditionen steht, die letztlich aus dem revolutionären Egalitätspostulat herzuleiten ist.<br />

Es fehlt hier ein philosophisch-methodischer Ansatz, der diese Denkpolarität dynamisiert und „zum<br />

Tanzen bringt“. Der Bildungsbegriff bleibt statisch-normativ und widerspricht damit moderneren<br />

auf (symbolische) Interaktion und (kulturelle) Kommunikation aufbauenden prozessualen Gesellschaftsvorstellungen.<br />

Die Folge wäre letztlich ein moralisierendes Bildungsverständnis, dessen<br />

Problematik wir schon erörtert haben. Hier könnte die bewusste Einbeziehung des Diskurskonzeptes,<br />

u.U. gerade in Erfüllung der deutlichen Wertdimensionen des Gewerkschaftspapiers<br />

rekurrierend auf Habermas’ Diskursethik, Missverständnisse und Folgenlosigkeit abwenden helfen.<br />

Mit diesen Charakteristiken ist das Papier des Sachverständigenrates trotz aller bedenkenswerten<br />

Überlegungen und Argumente noch keine gültige Antwort auf die Krisenanalyse, von der wir in<br />

unseren eigenen Überlegungen ausgegangen sind. Denn es widerspricht damit auch der hieraus<br />

entwickelten Vorstellung, dass Werte und gesellschaftliche Handlungsoptionen nicht postuliert,<br />

sondern in einer offenen, kulturell sich fraktionierenden postmodernen Gesellschaft nur in<br />

diskursiven Prozessen, das heißt nur vermittels Interaktion und Kommunikation in den gegebenen<br />

und sich entwickelnden gesellschaftlichen Figurationen handlungsleitend werden können; ansonsten<br />

bleiben sie, ganz im Sinne eines säkularen Laizismus Privatangelegenheit des Einzelnen.<br />

Damit wird auch deutlich, wie eine Gegenposition zu dem Gewerkschaftspapier aussehen könnte,<br />

gerade wenn dessen Intentionen zu akzeptieren sind: <strong>als</strong> diskursorientiertes didaktisches Konzept.<br />

3.3 Das traditionelle Beharrungsvermögen im Selbstverständnis von<br />

Fachlehrerinnen und Fachlehrern<br />

Sucht mach nach tiefer liegenden Ursachen der Persistenz überkommener und zunehmend obsolet<br />

gewordener pädagogischer und fachdidaktischer Strukturen und Konzepte, so sind Begründungszusammenhänge<br />

in grundlegenden Verfestigungen innerhalb der Politischen Kultur unserer<br />

Gesellschaft zu sehen, vor allem was die Verankerung der schulischen Bildung in den weitgehend<br />

unumstrittenen Wertvorstellungen angeht. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn ähnliche kritische<br />

Perspektiven nicht nur für die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer aufgezeigt werden können,<br />

sondern dass diese eigentlich in allen Sektoren unseres Bildungswesens Gültigkeit beanspruchen<br />

können.<br />

In der konkreten schulischen Situation zeigt sich das vor allem in der immer wieder zu beobachtenden<br />

Hemmnis, sich – das eigenen überkommenen Selbstverständnis infrage stellend – mit innovativen<br />

Fachkonzepten einzulassen, kritische und selbstbezügliche wissenschaftliche Entwicklungen<br />

aufzugreifen und umzusetzen und überhaupt Veränderungen der gesellschaftlichen Bedeutungskategorien<br />

auch nur anzudenken.<br />

Dafür ist das Fach Erdkunde ein besonders auffälliges Beispiel. Besonders deutlich wird diese<br />

»Scheuklappensicht« der fachlichen Perspektiven auch im Fach Geschichte. Es mangelt der<br />

Mehrzahl der <strong>als</strong> Schuldidaktiker tätigen Historikerinnen und Historiker an der Bereitschaft,<br />

tradierte Methoden des Geschichtsunterrichtes prinzipiell in Frage zu stellen. Hier nimmt z.B. das<br />

fiktive »historische Kontinuum« einen ähnlich unumstößlichen und inadäquaten Platz ein wie in der<br />

Geographie das Ideologem vom »räumlichen Kontinuum«. In beiden Fällen werden daraus<br />

didaktische Konsequenzen in Richtung auf fachliche Sequenzialität und fachintern zu bestimmenden<br />

»Vollständigkeitskonzepte« eines herkömmlichen Grundbildungsverständnisses gezogen, die<br />

sowohl einerseits die lernpsychologisch zu begründenden unterrichtlichen Rezeptionssituationen,<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 17


die <strong>als</strong> Interaktions- und Kommunikationsorte zu definieren sind, <strong>als</strong> auch andererseits die gesellschaftlichen<br />

Diskurse ausblenden. Dass daraus nur herkömmlicher Vermittlungsunterricht zu entwickeln<br />

ist, dürfte klar daraus hervorgehen. [49]<br />

Gerade der Mangel an fachlicher und gesellschaftlicher Diskursorientierung ist dann auch ein<br />

Hemmnis, im Fach Geschichte die komplexeren Ansätze z.B. der historischen Soziologie, der<br />

Zivilisationsforschung oder der Ansätze der Geschichte der Politischen Kulturen aufzugreifen und<br />

umzusetzen. Das Unverständnis, mit dem auch angesehene Fachhistoriker in ihrer Rolle <strong>als</strong><br />

»gelernte Historiographen« Werken der historischen Soziologie begegnen, ist auffällig und zu<br />

bedauern. [50]<br />

In der Geographie wäre es ebenfalls an der Zeit, intensiver in die kultur- und wirtschaftsgeographischen<br />

Analysen Ansätze der Zivilisationsgeschichte und z.B. der Weltsystem-Theorie<br />

Wallersteins mit einzubeziehen, auch um die in ihrem Realitätsgehalt – nicht in Fragestellung und<br />

Motivation! –zunehmend fragwürdig werdenden Kategorien und Begriffsmuster der »Dritte-Welt«-<br />

Forschung oder der »Entwicklungstheorien« neu zu überdenken – oder wie Wallerstein formuliert:<br />

„Unthinking Social Sciences“! [51] Diese kritischen Perspektiven bleiben jedoch noch immer weitgehend<br />

im universitären Raum und dringen auch dort nur langsam zu den Didaktikern durch. Dabei<br />

wäre eine permanente fachliche Neuorientierung gerade in den Schulen dringend notwendig. Hier<br />

besteht unmittelbarer Handlungsbedarf!<br />

Ein möglicher Ansatz, diese Situation aufzubrechen, wäre, die z.T. in den gültigen Rahmenrichtlinien<br />

angeführten Ansätze der didaktischen Orientierung an »Schlüsselprobleme« [52] inhaltlich<br />

ernst zu nehmen und <strong>als</strong> Diskurs- und Dynamisierungsangebote und -potentiale zu begreifen. Dazu<br />

müsste aber eine intensive Förderung einer diesbezüglichen Lehrerfortbildung und ein Eingehen der<br />

Hochschulen auf diese Qualifikationsdefizite erfolgen. Die derzeitige Schul- und Wissenschaftspolitik<br />

steht dem, z.B. durch die zeitliche und finanzielle »Austrocknung« der Lehrerfortbildung<br />

diametral entgegen.<br />

Das Résumé dieser Thesen und Überlegungen ist somit eher pessimistisch: Ansätze zu einer<br />

grundlegenden Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine Erneuerung der Geographiedidaktik<br />

in der Schulpraxis sind m. E. gegenwärtig nicht erkennbar, es gilt aber, einen dementsprechenden<br />

öffentlichen Diskurs anzustoßen.<br />

4. »Schlüsselprobleme« <strong>als</strong> gesellschaftliche Diskursfelder<br />

4.1 Probleme der curricularen Eignung des Konzeptes der »Schlüsselprobleme«<br />

Das Konzept der »Schlüsselprobleme« geht auf Klafki [53] zurück und hat sowohl in der Fachdidaktik<br />

wie in neueren Rahmenrichtlinien vor allem des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes<br />

Resonanz gefunden. »Schlüsselprobleme« zu formulieren ist zunächst einmal ein Versuch,<br />

von der engen thematisch-inhaltlichen Formulierung von Richtlinien und Fachcurricula weg zu<br />

kommen, deren normativer Charakter einen konsensfähigen Bildungs- oder Allgemeinbildungsbegriff<br />

voraussetzen würde, der in dieser Form in unserer Gesellschaft weder in der Öffentlichkeit<br />

noch bei Schulpolitikern noch existiert. Dies gilt insbesondere, wenn in der Publizistik immer<br />

wieder methodisch recht oberflächliche und im Ergebnis untaugliche Versuche gemacht werden,<br />

solche »Bildungsstandards« in einem fiktiven Bildungskanon zu fixieren und zu behaupten. [54] Dass<br />

Klafkis Intentionen selbst eher auf eine Rettung des traditionellen Allgemeinbildungsbegriffes<br />

hinauslaufen, zeigen spätere Aufsätze (Klafki 1990).<br />

Diese öffentlichen inhaltlich fixierten Allgemeinbildungsdiskurse eignen aber letztlich nur für<br />

tagespolitische Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und politischen Strömungen und – in<br />

bedenklicher Weise – dazu, die Institution Schule in inadäquate Rechtfertigungszwänge für ihr<br />

scheinbares Ungenügen in der Wissensvermittlung zu bringen, die eine unabhängige oder gar<br />

widerständige Pädagogik zunehmend verunmöglichen und daher Teil des schon erörterten päd-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 18


agogisch-didaktischen Rückschritts sind. Das liegt nun durchaus im kurzfristigen politischen<br />

Interesse einer inhaltlich eigentlich völlig ratlosen Schul- und Bildungspolitik, die damit ihr eigenes<br />

Versagen kaschieren kann, nicht jedoch im Interesse einer zukunftsoffenen Innovation der<br />

Didaktiken und der schulischen Curricula.<br />

So ist das »Schlüsselproblemkonzept« zunächst einmal pragmatisch zu begründen und dennoch<br />

durch seine immanenten diskursiven Strukturen ein Fortschritt gegenüber älteren Lehrplänen und<br />

Rahmenrichtlinienkonzepten, ein Fortschritt, den die Fachdidaktik umso deutlicher zur Umsetzung<br />

und Realisierung einfordern kann. Der tatsächliche Wert der Formulierung von »Schlüsselproblemen«<br />

erweist sich aber erst in ihrer methodischen Herleitung und wissenschaftlichen Fundierung,<br />

die erst zeigt, ob der Anspruch, mehr und qualitativ Anderes zu sein <strong>als</strong> nur eine neue Verbrämung<br />

von verbindlichen Themenvorgaben, eingehalten werden kann.<br />

Dazu muss vor allem verhindert werden, dass diese »Schlüsselprobleme« wieder <strong>als</strong> Themata<br />

ausformuliert und administrativ festgeschrieben werden. »Schlüsselprobleme« müssen in ihrer<br />

inhaltlichen Umsetzung grundsätzlich offen sein und ein dynamisches, diskursives Vorgehen bei<br />

der Findung und Gestaltung konkreter <strong>Unterricht</strong>sprobleme und unterrichtlicher Vermittlungssituationen<br />

nicht nur ermöglichen sondern herausfordern. Gerade diese Forderung stellt sich dann aber<br />

<strong>als</strong> grundlegendes Problem bei der Aufnahme des »Schlüsselproblem-Konzeptes« der Rahmenrichtlinien<br />

in den Schulen heraus.<br />

Die ersten Erfahrungen mit den neuen Rahmenrichtlinien auf der Grundlage von »Schlüsselproblemen«<br />

– in Niedersachsen ohnehin durch die parallel verbindlich gemachten Rahmenthemen im<br />

Sinne eines administrativen Formelkompromisses in ihrer direkten Wirkungsweise konterkariert –<br />

zeigen, dass eigentlich keine dem Verfasser bekannte Schule, vor allem keine Schule des<br />

Gymnasialbereiches, ernsthaft versucht hat, diese »Schlüsselprobleme« tatsächlich und konsequent<br />

aufzunehmen und umzusetzen. Die pädagogischen Potentiale des Konzeptes sind schlichtweg nicht<br />

erkannt worden, oder werden <strong>als</strong> belastende Neuerung unterlaufen und verdrängt. Soweit Lehrerinnen<br />

und Lehrer ohnehin noch traditionellen Grundbildungsvorstellungen verhaftet sind, ist es<br />

ihnen ohnehin wohl kaum möglich, die Bedeutung des alternativen diskursiven Konzeptes der<br />

»Schlüsselprobleme« zu ermessen und zu akzeptieren. Hier wäre nun eine wichtige Aufgabe der<br />

Hochschuldidaktik, in die Öffentlichkeit und in die Schulen wirkende innovative didaktische<br />

Diskurse zu initiieren. Bislang werden »Schlüsselprobleme« vorwiegend <strong>als</strong> Rahmenthemen<br />

missverstanden und in traditioneller Weise didaktisch-methodisch umgesetzt.<br />

Um einen Einblick in die administrative Umsetzung des »Schlüsselproblemkonzeptes« zu geben,<br />

soll noch einmal auf das Beispiel Niedersachsen zurückgegangen werden. In den Rahmenrichtlinien<br />

<strong>Politik</strong> [55] für die Sekundarstufe II wird das Schlüsselproblemkonzept folgendermaßen eingeführt:<br />

„Die skizzierten Herausforderungen lassen sich in sechs Schlüsselprobleme fassen, deren Lösung<br />

für die Menschen der heutigen und der zukünftigen Generationen im Interesse ihres Überlebens und<br />

ihrer Sicherheit von herausragender Bedeutung ist:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Frieden und Gewalt<br />

Ökonomie und Umwelt<br />

Technologischer Wandel<br />

Soziale Ungleichheiten<br />

Verhältnis der Geschlechter und der Generationen<br />

Herrschaft und Politische Ordnung<br />

Der Begriff des Problems verdeutlicht, dass grundsätzlich von einer zukunftsoffenen politischen Situation<br />

ausgegangen wird.<br />

Didaktisch eignen sich diese Schlüsselprobleme <strong>als</strong> Ausgangspunkte für die Auswahl und Legitimation<br />

von <strong>Unterricht</strong>sinhalten und <strong>als</strong> Orientierung für die Strukturierung von <strong>Unterricht</strong>sthemen. Die<br />

über die Schlüsselprobleme gewonnenen Inhalte und Strukturierungen werden bei der weiteren Pla-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 19


nung des <strong>Unterricht</strong>s durch die fachwissenschaftlichen Dimensionen und <strong>Politik</strong>dimensionen ergänzt<br />

und differenziert.“ Die einzelnen Schlüsselprobleme werden dann in einzelnen Abschnitten<br />

inhaltlich und in Bezug auf ihre gesellschaftlich-politische Relevanz erläutert.<br />

Zwei argumentative Defizite, die wohl in Rahmenrichtlinien <strong>als</strong> administrativ-normativen<br />

Vorgaben (»Setzungen«) nicht zu vermeiden sind, haben aber mit zur Folge, dass ein umsetzungsfähiges<br />

Schlüsselproblemkonzept für die Schule wie für die einzelnen Kolleginnen und Kollegen<br />

nicht erkennbar und nachvollziehbar wird: Die Begründung der Schlüsselprobleme in den<br />

Rahmenrichtlinien erfolgt allein mit dem Argument der gesellschaftlichen Relevanz, die bei den<br />

genannten Schlüsselproblemen ja durchaus einsichtig, in ihrer Abgrenzung und Vollständigkeit von<br />

einer gewissen »Willkürlichkeit« behaftet ist, nicht jedoch mit Hinweis auf die diskursive Methode,<br />

in der die Besonderheit des Schlüsselproblemkonzeptes begründet liegt. Die Unterscheidung der<br />

Schlüsselprobleme von gesellschaftlichen Themenschwerpunkten wird nicht deutlich. [56] Zum<br />

andern ist die durchaus sinnvolle Erläuterung der didaktischen Eignung von Schlüsselproblemen<br />

„<strong>als</strong> Ausgangspunkte für die Auswahl und Legitimation von <strong>Unterricht</strong>sinhalten und <strong>als</strong><br />

Orientierung für die Strukturierung von <strong>Unterricht</strong>sthemen“ viel zu offen und unverbindlich, um<br />

ohne vorherige intensive Beschäftigung mit diesem didaktischen Konzept überhaupt zu sinnvollen<br />

unterrichtspraktischen Umsetzungen zu gelangen.<br />

Dies deutet wieder einmal darauf hin, die Frage zu stellen, ob es nicht Zeit ist, nach der Ersetzung<br />

von Richtlinien und Lehrplänen durch Rahmenrichtlinien in den 70er und 80er Jahren, einen<br />

weiteren Schritt zu wagen, und auch die Rahmenrichtlinien zu ersetzen durch aktuellere und<br />

angemessenere Formen der Bestimmung und inhaltlichen Ausgestaltung schulischer <strong>Unterricht</strong>ssituationen.<br />

Diese Forderung ist aber sicherlich zu verknüpfen mit grundlegenden Reformimpulsen<br />

in der Lehrerausbildung wie mit einer Neukonzeption von Lehrerfortbildung und Lehrerweiterbildung,<br />

die <strong>als</strong> permanente dienstliche Verpflichtungen verstanden werden müssen und entsprechend<br />

ihrer Bedeutung und ihrem notwendigen Zeitaufwand Eingang in die Arbeitszeitvorgaben<br />

und Stundenpläne der Lehrerinnen und Lehrer finden müssen. In diesem Falle ist ein<br />

sinnvolles Schlüsselproblemkonzept umsetzbar und kann zu einer grundlegenden Erneuerung des<br />

<strong>Unterricht</strong>s vor allem auch in der Politischen Bildung beitragen.<br />

Ohne an dieser Stelle ein positives Konzept der Entwicklung und Umsetzung von<br />

Schlüsselproblemen versuchen zu wollen, ist doch abschließend auf einige notwendigerweise zu<br />

berücksichtigende und zu diskutierende Determinanten des Schlüsselproblemkonzeptes hinzuweisen.<br />

Das Ziel, das mit einem Schlüsselproblemkonzept verfolgt wird, bedeutet, inhaltliche Entscheidungen<br />

für den Schulunterricht, vor allem in unserem Falle für den <strong>Politik</strong>unterricht, von<br />

administrativen, konventionellen und affirmativ-normativen Vorgaben und Plänen abzukoppeln,<br />

aus der Einsicht heraus, dass heute weder ein (fach-) wissenschaftliches oder (fach-) didaktisches<br />

Konzept in der Lage ist, unumstrittene und gültige Kriterien zur Auswahl von Lernstoffen<br />

anzubieten, noch dass in der (politischen) Öffentlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass<br />

auch nur ansatzweise konsensfähige und praxistaugliche Vorstellungen über Bildungsziele, Lernschwerpunkte<br />

und <strong>Unterricht</strong>sinhalte – ja noch nicht einmal über die zu unterrichtenden Fächer und<br />

ihre Stundenanteile im Gesamtcurriculum! – gefunden werden können. Curriculare Entscheidungen<br />

von dieser biographischen und gesellschaftlichen Bedeutung sind daher weitgehend von kurzfristigen<br />

politischen Setzungen der Kultusministerien und Landtage mit ihren wechselnden politischen<br />

Mehrheiten ebenso zu lösen, wie von Konsens vorspiegelnden Formalkompromissen und<br />

inhaltsleeren Zielbeschreibungen.<br />

Der Ansatz, Schlüsselproblemkonzepte zu entwickeln, liegt in der Einsicht, dass es möglich sein<br />

kann, die für die Gesellschaft überlebensnotwendigen und zukunftsoffenen Problemfelder in<br />

Diskursen zu erfahren und in der Beobachtung der öffentlichen Diskurse temporär einzugrenzen.<br />

Notwendige Voraussetzung einer solchen diskursorientierten Problemdefinition ist jedoch, den Zugang<br />

zu diesen Diskursen so weit wie möglich offen zu halten, um so kontroverse Realitätssichten<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 20


und Interessenlagen ebenso einzubeziehen können wie Fachkompetenz und wissenschaftliche Diskurse.<br />

Das setzt eine offene, liberale und in ihrem Selbstverständnis demokratische Öffentlichkeit<br />

voraus. Ein pädagogisches Schlüsselproblemkonzept kann daher auch nur unter diesen strukturellen<br />

Voraussetzungen gültig sein und ist daher wie alle pädagogischen Konzepte nicht ahistorisch und<br />

von den konkreten gesellschaftlichen Voraussetzungen abstrahierend zu verstehen. Gerade dies ist<br />

aber der erste, fundamentale Diskurs, ob diese politisch-strukturellen Voraussetzungen gegeben und<br />

<strong>als</strong> Werte zu akzeptieren sind. Daher ist es durchaus sinnvoll und im Sinne eines Diskurskonzeptes<br />

richtig, das frühere »Lernfeld <strong>Politik</strong> / bzw. Demokratie« durch das Schlüsselproblem »Herrschaft<br />

und Politische Ordnung« [57] zu ersetzen, denn politisch-strukturelle Fragen sind, so der Diskursbeitrag<br />

der politischen Wissenschaften, niem<strong>als</strong> Unabhängig von Machtprozessen und Herrschaftsformen<br />

zu verstehen und zu behandeln.<br />

Letztlich führt <strong>als</strong>o ein Schlüsselproblemkonzept zu einer permanenten Curriculumreform, in die<br />

auch die Schulen selbst und die Lehrerinnen und Lehrer direkt und aktiv einbezogen sind. Schule<br />

wird somit zu einem integralen Bestandteil und nicht nur zu einem Objekt öffentlicher und<br />

fachlicher Diskurse und »pädagogische Diskurse« sind in die allgemeinen gesellschaftlichen<br />

Diskurse zu integrieren.<br />

4.2 Zum Theorie-Praxis-Problem<br />

Die Diskussion um die »Schlüsselprobleme« in den Schulen wird oft unter dem subjektiven<br />

Eindruck geführt, dass hier durch die »praxisfremden Theoretiker« an den Hochschulen ein<br />

überzogenes »theoretisches Konstrukt« der »Schulpraxis« und den »Schulpraktikern«, nämlich den<br />

Lehrerinnen und Lehrern, aufgezwungen wird. Der Vorwurf ist dann nicht weit, dass diese Theoretiker<br />

nun mal „von den realen Problemen der Praxis keine Ahnung“ haben und „intellektuelle<br />

Spielereien“ betreiben.<br />

Diese innerschulische Problemsicht fügt sich in einige dominante Urteilsstrukturen, die nicht nur in<br />

den Schulen, sondern auch in weiten Teilen der Öffentlichkeit präsent sind, nämlich der Hochschätzung<br />

der »Praxis« und der ablehnenden Skepsis gegenüber den »lebensfremden Intellektuellen«.<br />

Diese ideologischen Topoi haben gerade in Deutschland einerseits einen ideengeschichtlichen<br />

Hintergrund, der auch von den »Intellektuellen« selbst kaum je realisiert wird, <strong>als</strong> auch einen<br />

sozialen Kontext in der staatsgesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland, die gerade in diesem<br />

Bereich deutlich anders <strong>als</strong> in Frankreich abläuft, wie es Norbert Elias in seinen Untersuchungen<br />

zur französischen Civilité im Unterschied zur deutschen Kultur sehr detailliert darstellt [58] .<br />

Die Theorie-Praxis-Dichotomie wird letztlich auch <strong>als</strong> oft berechtigter Vorwurf von denen<br />

akzeptiert, die davon sozial getroffen werden, nämlich Wissenschaftlern und Hochschulangehörigen,<br />

die, gerade wenn sie ihre eigene gesellschaftliche Funktion kritisch zu überdenken bereit<br />

sind, die angebliche „Praxisferne“ der Hochschullehre sowie der Forschung beklagen und eine<br />

stärkere „Praxisorientierung“ der universitären Ausbildung fordern. [59] In dieser positiven Sicht der<br />

Theorie-Praxis-Problematik richtet sich das Augenmerk vor allem auf Struktur- und Kommunikationsprobleme<br />

zwischen Schule und Hochschule.<br />

Die These von der Theorie-Praxis-Dichotomie sollte aber grundsätzlich viel kritischer gesehen<br />

werden. Es ist anzunehmen, dass sie zur Problembeschreibung selbst eher nicht mehr taugt. Die<br />

Behauptung und Wahrnehmung eines Theorie-Praxis-Gegensatzes ist heute eine ideologische<br />

Revitalisierung veralteter Theorie-Dichotomien, von denen die »Natur-Kultur-Dichotomie«, in den<br />

<strong>Politik</strong>wissenschaften die »Gesellschaft-Gemeinschafts-Dichotomien« repräsentativ sind (vgl.<br />

Schramke 1975 oder Filipp 1987 für die Geographiedidaktik). Die angesprochene Problematik der<br />

mangelnden Kommunikation zwischen Hochschule und Schule ist weniger unter den Stichworten<br />

»Praxisferne« und »Kontrollfurcht« zu subsumieren, <strong>als</strong> auf eine grundsätzlich andere<br />

sozialpsychologische Fundierung des <strong>Unterricht</strong>ens, nämlich aus der individuell erfahrenen, aber<br />

niem<strong>als</strong> systematisch reflektierten Situation heraus; dabei erfüllen dann Didaktik und Pädagogik<br />

bestenfalls ex post legitimatorische Funktionen. Die Sprachlosigkeit ist daher auch nicht durch eine<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 21


essere Fachdidaktik oder Gesprächsinitiativen der universitären Fachdidaktiker aufzuheben,<br />

sondern nur durch eine grundlegende Veränderung der institutionellen Situation von Schule – es<br />

wäre unter Umständen hier Ivan Illich (1971) zu folgen: durch eine »Entschulung der Gesellschaft«.<br />

Von der anderen, universitären Seite her wäre das durch die kritische Untersuchung der Situation<br />

und Motivation der Fachdidaktiker selbst zu untermauern, von denen zu vermuten ist, dass die<br />

Arbeitsmotivation primär nicht aus den inhaltlich-didaktischen Problemlagen erwächst, sondern aus<br />

der eigenen Einbindung in universitäre Diskurse, in Arbeitsplatz- und Statussorgen und den<br />

Publikationszwang. Es wäre <strong>als</strong>o notwendig, nicht Schule oder Hochschule <strong>als</strong> solche zu verändern<br />

und zu verbessern, sondern die bisher induzierten Diskurse zusammenzuführen und in der politischen<br />

Öffentlichkeit den pädagogischen Diskurs neu zu eröffnen, der die institutionellen Verengungen<br />

überwinden hilft.<br />

Die »Sprachlosigkeit« zwischen Universität und Schule ist weniger in den inhaltlichen und<br />

methodischen Defiziten der betreffenden Fachdidaktiken bzw. der Erziehungswissenschaften zu<br />

suchen, <strong>als</strong> in institutioneller Fremdheit, die sich am gesellschaftlichen Ort der Institution ebenso<br />

festmachen lässt, wie an der biographischen und funktionalen Separation von beruflichen Lebensabschnitten.<br />

Dies zu überwinden verlangt eine stärkere funktionale Verklammerung (vom Ideal des<br />

»lebenslangen Lernens« ganz zu schweigen).<br />

Für die <strong>Politik</strong>lehrerschaft können in einem auf die Biographie zentrierten Ansatz, der vor allem<br />

auch konkrete gesellschaftliche und politische Zeiterfahrungen thematisiert, Gründe für ihre heutige<br />

»Sprachlosigkeit«, um nicht zu sagen: Gedankenferne, gefunden werden. [60] Die in diesem<br />

Zusammenhang oft beklagte »Abkoppelung der Hauptschule« kann der Verfasser <strong>als</strong> Gymnasiallehrer<br />

nicht letztgültig beurteilen. Es mag auch auf die universitäre Situation bezogen sein. In der<br />

Praxis der Lehrerfortbildung ist jedoch zu sehen, dass die Bereitschaft, sich überhaupt auf<br />

Pädagogik einzulassen, überwiegend im Grund- und Hauptschulbereich, und dann folgend auch<br />

noch im Real-, Gesamtschul- wie Berufsschulbereich zu finden ist, kaum je aber im Gymnasialbereich.<br />

So genannte »pädagogische Diskussionen« gibt es im Gymnasium nur, wenn die<br />

Schülerzahlen sinken oder Mittel gekürzt werden, was ein wirkliches Einlassen auf diese Probleme<br />

jedoch nicht ermöglicht. Die Entpädagogisierung der Kultuspolitik tut ein Übriges dazu. Das neue<br />

»progressive« Instrument der Schulprogramme ist dann auch primär <strong>als</strong> schulpolitisches<br />

Druckmittel zu sehen, in den Schulen pädagogische Minderheitenpositionen mundtot zu machen,<br />

pädagogische und didaktische Diskurse zu unterbinden und notwendigen fachdidaktischen Paradigmenwandel<br />

unmöglich zu machen. Im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld könnte man<br />

sich <strong>als</strong> Ergebnis der Abstimmungen über ein Schulprogramm folgendes vorstellen: die Rückkehr<br />

im Fach <strong>Politik</strong> zur normativen Wertbindung (z.B. nach Gagel 1990 oder Sutor 1992) und zur<br />

Institutionenkunde bei Ausschluss kritischer Ansätze aus dem Bereich der Sozialpsychologie, der<br />

Zivilisationstheorie (Elias) wie auch den Konzepten der »Dritte-Welt-Theorie« und der Weltsystem-Theorie<br />

(Wallerstein). [61] Im Fach Erdkunde würden allein die Positionen der Konservativen im<br />

Schulgeographenverband dominieren. Geographie <strong>als</strong> »Politische Bildung« wäre dann tabu und die<br />

Landschaftskunde wieder Zentrum des <strong>Unterricht</strong>s. [62]<br />

Übereinstimmung besteht zwischen kritischen Lehrerinnen und Lehrern und Hochschulangehörigen<br />

jedoch sicherlich in der Forderung, dass ein didaktischer Paradigmenwandel stattfinden muss, der<br />

gerade auch Selbstverständnis und gesellschaftliche Stellung der Fachdidaktik umfassen sollte und<br />

das Wahrnehmungsproblem einer Theorie-Praxis-Dichotomie in einen größeren fach- und theoriegeschichtlichen<br />

Zusammenhang stellt.<br />

Dieser Hintergrund kann hier nur angedeutet werden und harrt einer umfassenderen zivilisationsgeschichtlichen<br />

Untersuchung und Darstellung. Die Theorie-Praxis-Dichotomie ist geschichtlich in<br />

den Rahmen der abendländischen Entwicklung dichotomer Realitätsbilder zu stellen, die zwar<br />

gesellschaftlich-politisch an die mittelalterliche Lehre von den »Zwei Reichen« anknüpfen konnte,<br />

allgemeine Bedeutung aber erst durch den Prozess der Säkularisierung erlangte, in dem der Glaube-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 22


Welt-Gegensatz sich transformierte zur These der Dichotomie von Geist und Natur. Die gesamte<br />

Staatsentstehung in der mittel- und westeuropäischen Soziogenese basiert auf der dualen Sichtweise,<br />

dass außerhalb des Menschlichen Geistes eine objektiv sinnvolle Natur existiert und wirkt.<br />

„Der Mensch ist frei geboren, doch überall ist er in Ketten“: Dieser Einleitungssatz des Contrat<br />

Social von Rousseau war das Fanal der Vorstellung von einem allgemein gültigen Naturrecht des<br />

Menschen, und leitet in seinem zweiten Satzteil den darauf aufbauende Natur-Kultur-Widerspruch<br />

ein. Im 20. Jahrhundert leitet sich aus eben diesem Widerspruch die These von der Theorie-Praxis-<br />

Dichotomie ab. Erst in der Gegenwart wird in der Philosophie mit den Thesen vom<br />

Kulturrelativismus [63] , den Konstruktivismus (Solipsismus) [64] und dem Dekonstruktivismus [65] die<br />

Gegenthese wieder größeres Gewicht erhalten. [66]<br />

Auf der anderen Seite ist, und hierin ist Elias zu folgen, [67] der soziologische Hintergrund der<br />

dichotomen Realitätsvorstellungen von wesentlicher Bedeutung. Es geht um die soziale Stellung<br />

der Intellektuellen in der Gesellschaft, um die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Rolle, die diese<br />

Wissenschaftler, Hochschullehrer und Autoren von ihrer Funktion in der Gesellschaft haben. Es<br />

wurde schon angedeutet, dass diese Wahrnehmungsperspektiven in Deutschland und in Frankreich,<br />

wo diese Schicht recht früh <strong>als</strong> Funktionsträger in die höfischen Hierarchien integriert worden sind,<br />

recht unterschiedliche Züge aufweisen. [68]<br />

Die deutsche Intelligenz verstand sich <strong>als</strong> benachteiligter Widerpart der herrschenden Adelsschicht,<br />

die selbst wenig Neigung zur eigenen Intellektualisierung zeigte, wie die bis heute auffällige<br />

Dummheit und Borniertheit des funktionslosen »Hochadels« noch jetzt zeigt, was sich entweder<br />

durch servile Affirmation oder durch meist aber in der gesellschaftlichen Praxis folgenloses »revolutionäres<br />

Bewusstsein« äußerte, jeweils aber völlig abgekoppelt von der realen gesellschaftlichen<br />

und industriegeschichtlichen Entwicklung und von dieser auch nicht verstanden. Hier schon<br />

zerbrach eine mögliche innergesellschaftliche Kommunikation und die Integration der Intelligenz in<br />

die Geschichte: die soziale Unterfütterung der Theorie-Praxis-Dichotomie.<br />

4.3 Diskurs »Gerechtigkeit, Ungleichheit, Wertewandel« [69]<br />

Ausgangspunkt der Behandlung von Themen im Bereich der »Sozialen Ungleichheit« ist die<br />

Einsicht, dass soziale Ungleichheit zunächst einmal ein wahrgenommenes und mit oft<br />

widersprüchlichen Wertvorstellungen behaftetes Problem ist. Inhalt und Vermittlung der Wahrnehmung<br />

sowie die handlungsleitenden Wertoptionen, die sich um den zentralen Wert der<br />

Gerechtigkeit gruppieren lassen, bestimmen die Verhaltensweisen des Einzelnen, seine Einstellungsoptionen<br />

und politischen Handlungspotentiale. Soziale Ungleichheit ist gleichermaßen ein<br />

materielles wie ein Vermittlungs- und Wahrnehmungsproblem. Die Situationsdefinition »Soziale<br />

Ungleichheit« impliziert ein bestimmtes Gesellschaftsbild und die daraus abzuleitenden Handlungsspielräume.<br />

Eingangs wurde schon darauf hingewiesen, wie sehr die traditionellen Schicht- und<br />

Klassenvorstellungen vom gesellschaftlichen Wandel überholt worden sind, so dass heute in den<br />

Industriestaaten weder im klassischen Sinne noch von Oberschichten noch von einer in sich auch<br />

nur ansatzweise homogenen Unterschicht gesprochen werden kann. dass damit ein scheinobjektiver<br />

antagonistischer Klassenbegriff ebenso deutlich von den Realitäten weg führt, wie die für die erste<br />

Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland so bezeichnende These von der nivellierten<br />

Mittelstandsgesellschaft, ergibt sich daraus zwangsläufig. Soziale Ungleichheit muss <strong>als</strong> Diskurs<br />

daher auf eine andere begriffliche und theoretische Grundlage gestellt werden und muss ausgehen<br />

von der Ungleichheitswahrnehmung, von den realen Machtprozessen und den historischen<br />

Kontexten, die einerseits die Gesellschaftsentwicklung zur modernen Staatsgesellschaft, andererseits<br />

die Einbindung in Globalisierungs-, internationale Interdependenz- und Universalisierungsprozesse<br />

ansprechen. [70]<br />

Es kann nicht Aufgabe einer didaktisch orientierten Überlegung sein, einen Überblick über die<br />

Theorien des sozialen Wandels zu geben. Das würde letztlich bedeuten, eine Geschichte der<br />

Soziologie schreiben zu wollen, ist doch die Frage nach dem sozialen Wandel seit Beginn des<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 23


Nachdenkens über Gesellschaft die zentrale Frage der Sozial-, <strong>Politik</strong>- und Staatswissenschaften<br />

überhaupt. In unserem Kontext kann es nur darum gehen, den Ansatz selbst zu problematisieren<br />

und damit die Urteilsperspektiven zurecht zu rücken, um diejenigen Theoreme, die derzeit zu jenen<br />

gesellschaftlichen Prozessen, die die Problemdimension der heutigen Gesellschaft bestimmen,<br />

erklärend herangezogen werden und die sich noch nicht zu umfassenderen gesellschaftlichen Theorien<br />

zusammenfügen lassen, die aber zu zentralen Elementen der heutigen Politischen Bildung<br />

geworden sind, kritisch in Frage stellen zu können. Es ist dabei zu fragen, inwieweit diese aktuellen<br />

Theoreme hilfreich sind, didaktisch aufzubereitende Perspektiven zu entwickeln.<br />

Geht das Gesellschafts- und Menschenbild der Sozialwissenschaften auch primär von relativ<br />

verfestigten Struktur- und Identitätskonzepten aus, ist die Problem- und Fragestellung der<br />

Soziologie jedoch seit jeher auf den sozialen Wandel gerichtet, der zu untersuchen und zu verstehen<br />

ist. Aus der unmittelbaren Lebenserfahrung heraus ist dieses Konzept sofort nachvollziehbar.<br />

Fragen, Aufgaben und Probleme entstehen im Alltagsleben wie in der Wissenschaft zumeist aus der<br />

Wahrnehmung von Veränderungen, im gesellschaftlichen Bereich wie aus der Wahrnehmung von<br />

Veränderungen in der sozialen Umwelt. Das gilt nun vor allem für Sozial- und <strong>Politik</strong>wissenschaftler<br />

<strong>als</strong> forschende und lehrende Personen mit jeweils individueller Wahrnehmungsperspektive.<br />

Für die Didaktik ist diese auf Veränderungen und Wandel gerichtete Aufmerksamkeit<br />

Ansatz der pädagogischen Neugier, der Motivation, die dem Fragenden zu Grunde liegt. Darauf<br />

gründet vor allem die Politische Bildung und das politische Lernen, z.B. im Sinne der Konzepte der<br />

Konfliktdidaktik und der Problemorientierung des <strong>Unterricht</strong>s, um daraus Grundlagen für die<br />

Fähigkeit zum politischen Handeln legen zu können. Doch wird auch hier wiederum die Ausgangsperspektive<br />

deutlich, dass der erwartete Normalzustand ebenso der erhoffte oder erwartete »Endzustand«<br />

einer gesellschaftlichen Entwicklung die gesellschaftliche Stabilität ist. Politisches Handeln<br />

motiviert und rechtfertigt sich durch seine Orientierung auf ein Ziel, auf eine finale Perspektive.<br />

Sehr tief liegt hier verankert und verborgen eine auf absolute Endgültigkeiten gerichtete, letztlich<br />

transzendentale Hoffnung auf ein zu erreichendes Ziel gesellschaftlicher Entwicklungen, wenn<br />

nicht eine letztlich eschatologische Perspektive.<br />

In welcher Weise nun lässt sich das Problemfeld »Soziale Ungleichheit und Gerechtigkeitsvorstellungen«<br />

<strong>als</strong> gesellschaftlichen Diskurs in das Konzept der Schlüsselprobleme einbinden und<br />

damit didaktisch in Wert setzen? Schlüsselprobleme sind Erfahrungs- und Realitätsbereiche, die das<br />

Leben und die Zukunftsplanung des einzelnen wesentlich bestimmen und die Grundlage für politisches<br />

Handeln sind. Sie sind nicht Teil eines bestimmten Faches sondern müssen interdisziplinär<br />

bedacht werden. Jede curriculare und didaktische Umsetzung bezieht sich in ihrer Konzeption im<br />

Wesentlichen auf die Einsicht, dass umfassende gesellschaftliche Diskurse in verschiedene Aspekte,<br />

Perspektiven oder <strong>Unterricht</strong>sschwerpunkte aufzugliedern sind. Damit kommen wir zu einem<br />

dynamischen Begriff der »Schlüsselprobleme«, denen eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung<br />

der Zukunft zukommen, und die unter anderem diskursiven Kontext zu Neuabgrenzungen<br />

untereinander dependenter und vernetzter »Schlüsselprobleme« geringerer zeitlicher und gesellschaftlicher<br />

Reichweiteführen können. Hier seien, nur stichwortartig, solche Problemfelder<br />

aufgeführt, die notwendigerweise einem »Schlüsselproblem ›Soziale Ungleichheiten‹« – so in den<br />

niedersächsischen Rahmenrichtlinien – oder einem »Schlüsselproblem ›Gerechtigkeit, Ungleichheit,<br />

Wertewandel‹« – wie wir es aus dem fachlichen Diskurs erweitert ablesen – zu- und<br />

unterzuordnen sind:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Gewalt und Frieden<br />

Soziale Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit<br />

Lebensformen, Selbstfindung und die Erwartungen der Gesellschaft<br />

Politische Realität und mediale Vermittlung<br />

Aus soziologischer Sicht [71] geht es bei dem Thema »Soziale Ungleichheit« um das entscheidende<br />

Problem der Soziologie schlechthin – nämlich um die „Hobbes’sche Frage“: Was hält die Gesell-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 24


schaft überhaupt zusammen? Oder: Wie werden Menschen dazu gebracht, sich so zu verhalten, dass<br />

eine dauerhafte Gesellschaft entsteht? Das Thema gewährt demgemäß Zugang zu grundlegenden<br />

Theorien der Soziologie.<br />

Die grundsätzlichen Positionen in dieser Frage haben bereits Hobbes und Rousseau bezogen. (Dazu<br />

auch: Dahrendorf, 1968, S. 164.) Die Soziologie des 20.Jahrhunderts hat mit dem »Funktionalismus«<br />

eine erste Antwort versucht, wobei Talcott Parsons – der „Mentor des Funktionalismus“ –<br />

von Rousseaus Vorstellungen eines allgemeinen Konsensus ausging.<br />

Seit Mitte der sechziger Jahre kann die funktionalistische Theorienbildung <strong>als</strong> überholt gelten zu<br />

Gunsten eines Erklärungsansatzes aus den Begriffen »Macht« und »Herrschaft« heraus, der auch<br />

über die Gedanken von Marx zur sozialen Ungleichheit hinausgeht. Die Stationen dieser Diskussion<br />

sind nachgezeichnet worden von Wiehn (1968) und, besonders in Hinblick auf das Verhältnis zum<br />

Marxismus, von Bottomore (1967).<br />

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die traditionell funktionalistische amerikanische<br />

Soziologie diesen Ansatz revidiert und nach neuen Frageansätzen sucht, wie z.B. Robert K. Merton<br />

(1957). Entwicklung und Niedergang des amerikanischen Funktionalismus stellt Heinz Hartmann<br />

(1973) in seinem Reader „Moderne amerikanische Soziologie“ dar.<br />

Aber auch ausgehend von traditionell funktionalistischen Problemstellungen gelangt soziologische<br />

Theorie in allerjüngster Zeit zu Ergebnissen, die sich denen der genannten »Herrschaftstheorie«<br />

weitgehend angenähert haben und in den Werken der »Systemtheorie« dargelegt werden. [Vgl. dazu<br />

die Ausführungen von Niklas Luhmann 1975, später auch 1986.]<br />

Besondere Bedeutung hat jetzt nicht mehr nur die Frage nach Macht und Herrschaft schlechthin,<br />

sondern nach den Bedingungen für die Durchsetzung und Aufrechterhaltung von Herrschaft – oder<br />

umgekehrt: nach den Voraussetzungen für Aufhebung von Herrschaftssystemen.<br />

Dazu scheint eine kurze Erläuterung notwendig: Der genannte theoretische Ansatz geht davon aus,<br />

dass das Handeln des Menschen weitgehend abhängig ist von der – gesellschaftlichen – Situation,<br />

in der es sich vollzieht. Da eine solche Situation aber selten unmittelbar und quasi ›objektiv‹<br />

erfahrbar ist, sondern vielmehr unterschiedlich interpretiert werden kann, ist es möglich, dass der<br />

eine der Beteiligten gegenüber den anderen Beteiligten in einem Kommunikations- und Interaktionsverhältnis<br />

seine »Definition der Situation« durchsetzen kann. [72] Er gewinnt Einfluss auf<br />

das Verhalten des anderen, indem die mit einer Situation verbundenen, unendlich vielen Handlungsmöglichkeiten<br />

reduziert und die zulässigen und unzulässigen Handlungsmöglichkeiten und<br />

Motive sowie das gemeinsame Sinnverständnis des Handelns festgelegt werden. Es zeigt sich nun,<br />

dass diese Fähigkeit zur Situationsdefinition keineswegs gleich verteilt ist, sondern dass einige<br />

Partner immer wieder in der Lage sind, die Handlungsmöglichkeiten einseitig festzulegen. Die<br />

Fähigkeit zur Situationsdefinition wird so zum Instrument für die Durchsetzung eines Herrschaftsverhältnisses<br />

und soziale Ungleichheit ist demzufolge das Ergebnis eines solchen Definitionsprozesses.<br />

Die weitere gesellschaftswissenschaftliche Diskussion im Übergang von den achtziger und den<br />

neunziger Jahren knüpft an die Erfahrung an, die schon Popitz in seinem Aufsatz „Prozesse der<br />

Machtbildung“ <strong>als</strong> „absurde Situation“ gekennzeichnet hatte. Die stringenten Kategorien des<br />

»Herrschaftsansatzes« erscheinen angesichts „absurder gesellschaftlicher Entwicklungen“ teilweise<br />

<strong>als</strong> zu formal, zu wenig inhaltlich bestimmt: Wie sehen denn die gemeinsamen Sinnverständnisse<br />

inhaltlich aus, wie werden die Situationen im Herrschaftsverband inhaltlich definiert, sind nicht<br />

formal gleichwertige Situationsdefinitionen in unterschiedlichen kulturellen Kontext unvereinbar,<br />

konflikterzeugend? Der scheinbare Rückfall in überwunden geglaubte Sinnverständnisse, die auf<br />

Gewaltbereitschaft, Irrationalität, Staatsraison, Primat militärischer Souveränität, religiösen Ordnungsvorstellungen<br />

abheben, lässt eine theoretische Wendung in historische, kultur- und sozialanthropologische<br />

Fragestellungen mit stärker vergleichenden und auf längerfristige Prozess- und<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 25


Kontinuitätsdichotomien zielende Forschungsperspektiven aktuell werden. Die ethnographische<br />

Perspektive wurde vor allem in Frankreich gesucht (Lévy-Strauss, Leiris) und wurde für die<br />

kritische Dritte-Welt-Forschung wichtig. In Deutschland wird mit dem Konzept der »Politischen<br />

Kultur« und der Rezeption des Ziviliationsbegriffes Norbert Elias ›wiederentdeckt‹ und zum Ausgangspunkt<br />

historisch-kritischer sozialwissenschaftlicher Studien. [73] Herrschaft, so zeigte es sich<br />

nun, ist stärker <strong>als</strong> bisher angenommen, an symbolische Traditionen gebunden und in staatlichen Institutionen<br />

verwurzelt. Die etatistische Vergesellschaftung Westeuropas prägt immer noch<br />

Reichweite und Grenzen von Gruppenautonomien und politischen Durchsetzungschancen, ist durch<br />

das von Westeuropa geprägte Völkerrecht zum absolutierten Ordnungsmaßstab auch für fremde<br />

Länder und Kulturen geworden – auch hier eine herrschaftserhaltende Situationsdefinition, die<br />

internationale soziale Ungleichheit verfestigt.<br />

Die Auswahl von <strong>Unterricht</strong>smaterialien zur didaktischen Umsetzung im Bereich des Schlüsselproblems<br />

»Soziale Ungleichheiten« orientiert sich sicherlich daran, die heute aktuellen und gültigen<br />

»tragenden Konzepte« der Fachwissenschaft zu vermitteln, die zu kennen erst ein kritisches<br />

Verstehen der komplexen sozialen Realität ermöglicht. Als »Tragende Konzepte« sind dabei<br />

wissenschaftliche Diskurse zu verstehen, die – in einem ersten auswählenden Ansatz – mit<br />

folgenden Stichworten zu benennen sind:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Symbolischer Interaktionismus<br />

Prozess der Zivilisation<br />

Politische Kultur<br />

Weltsystemtheorie, internationale Disparitäten und Peripherien<br />

Das Entschwinden der Realität<br />

Die Fortsetzung dieser durchaus didaktisch-unterrichtspraktisch zu verstehenden Vorschläge zum<br />

pädagogischen und wissenschaftlichen Verständnis des »Schlüsselproblems« Soziale Ungleichheit<br />

legt einen Übergang zu folgenden Konzepten nahe, die jedoch sinnvoller Weise im Zusammenhang<br />

mit den weiteren Diskursen und »Schlüsselproblemen« umzusetzen sind, was die immanenten<br />

Interdependenzen der »Schlüsselproblemdiskurse« hervorhebt:<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Strukturelle Gewalt<br />

Ethnozentrismus-Kritik<br />

Authentizitäts-Postulat<br />

Interkultureller <strong>Politik</strong>- und Kultur-Vergleich (komparative Kultur- und Sozialanthropologie)<br />

Zur Rezeption des Problembereiches Soziale Ungleichheit sind abschließend einige zusätzliche<br />

Ausführungen zu machen [74] : Soziale Ungleichheit wird in der eigenen Gesellschaft wahrgenommen<br />

<strong>als</strong> unterschiedliche Chance, soziale Positionen, materielle Güter, Einflussmöglichkeiten, Ansehen<br />

oder berufliches Fortkommen zu erhalten; zumeist wird soziale Ungleichheit <strong>als</strong> Zwang und Beschränkung,<br />

<strong>als</strong> Schicksal oder <strong>als</strong> Versagen erlebt. Daher ist bei der diskursiven Aufnahme des<br />

Schlüsselproblems Soziale Ungleichheit zunächst der Zusammenhang von Sozialer Ungleichheit<br />

und staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Macht zu thematisieren.<br />

Schon die verbreiteten, grundlegenden Definitionen von »Macht« und »Herrschaft« von Weber<br />

oder Strzelewicz [75] zeigen recht unterschiedliche Möglichkeiten, sich dem Thema »Macht und<br />

Herrschaft« zu nähern: entweder über die abstrakte Beschreibung dessen, wie Macht wirkt und an<br />

welchen Wirkungen sie zu erkennen ist und welche besondere Form der Macht durch Herrschaft<br />

charakterisiert wird, oder aber über die gesellschaftliche Funktion, die Macht und Herrschaft<br />

einnehmen und wie sie Grundlage gesellschaftlicher Differenzierung, d.h. <strong>als</strong>o Sozialer Ungleichheit<br />

sind.<br />

Dieser Ansatz führt zu der Einsicht, dass die Herrschaft darauf angewiesen ist, der Sozialen<br />

Ungleichheit einen gesellschaftlichen Sinn zu geben. Die kritisch-distanzierte Betrachtung der<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 26


gesellschaftlichen Diskurse zur Problematik der »Sozialen Ungleichheit« zeigt, dass eine erhebliche<br />

Diskrepanz besteht zwischen einer rational-angemessenen Beschreibung der Gesellschaft, in der<br />

Machtprozesse und Soziale Ungleichheiten – wenn auch, wie wir schon diskutiert haben, nicht<br />

mehr geordnet nach den Mustern eindimensionaler Schicht- und Klassenmodelle, sondern im Sinne<br />

einer zunehmenden »Fraktionierung« der gesellschaftlichen Lebensbereiche bis hin zur Individualisierung<br />

– im Mittelpunkt stehen werden, und den gesellschaftlichen Wahrnehmungsperspektiven<br />

und Realitätsdefinitionen in einer breiteren Öffentlichkeit, in der funktionalistische<br />

Ordnungsvorstellungen [76] (Leistungsideologie, Gemeinschaftsideologien und teilweise auch noch<br />

biologistische Erklärungsmodelle, z.B. was die rassistisch motivierte Diskriminierung von<br />

»Ausländern« und anderen »Fremden« angeht) vorherrschen.<br />

Wichtig ist im didaktischen Zusammenhang, dass erkannt wird, dass es für die gesellschaftliche<br />

Handlungsfähigkeit und die eigenen politischen Optionen und Ziele durchaus nicht egal ist, welche<br />

Erklärung für die Soziale Ungleichheit für zutreffend genommen wird, sondern dass mit der<br />

Entscheidung für bestimmte Gesellschaftsbilder ganze Lebenskonzepte – Aufstiegsorientierung,<br />

politische Konfliktbereitschaft, soziale Verantwortung, Gewaltakzeptanz, Toleranz oder Ausgrenzungs-<br />

und Diskriminierungsbereitschaft – verbunden sind.<br />

Inwieweit gesellschaftliche Traditionen – die »Politische Kultur« – und individuelle biographische<br />

Erfahrungen – Enkulturations- und Akkulturationsprobleme – dabei eine Rolle spielen, muss<br />

sowohl in der Diskussion der Schlüsselprobleme selbst, wie in geeigneter didaktischer Umsetzung<br />

auch mit den Schülerinnen und Schülern <strong>als</strong> den von diesen Problemen unmittelbar betroffenen<br />

erörtert werden. Hier soll abschließend auf das äußerst problematische Selbstbild unserer gegenwärtigen<br />

Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft <strong>als</strong> »Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft«<br />

im Sinne einer »funktionalistischen Schichtungstheorie« verwiesen werden. Die Vorstellung<br />

von »sozialen Schichten« und dem »Statusaufbau« unserer Gesellschaft ist längst<br />

Allgemeinplatz des öffentlichen Bewusstseins geworden und muss daher genauer und kritisch<br />

untersucht werden. Ein diskursives Aufarbeiten des Schlüsselproblems »Soziale Ungleichheit«<br />

kann dazu beitragen, diese Verengungen der Wahrnehmung und Deutung der gesellschaftlichen<br />

Realitäten aufzubrechen und bei den Schülerinnen und Schüler eine erhöhte eigene Diskursfähigkeit<br />

zu erreichen. Gerade daher ist für den <strong>Politik</strong>unterricht dieses Schlüsselproblem von entscheidender<br />

Bedeutung. [78]<br />

4.4 Diskurs »Individualisierung, Gewalt, Soziabilität«<br />

Der Diskurs »Individualisierung, Gewalt, Soziabilität« wird in der Öffentlichkeit vor allem in<br />

einem Teilaspekt, der Diskussion der Inneren Sicherheit und der Jugendgewalt wahrgenommen. In<br />

dieser Form tritt er auch in massiver Form an die Schule und an die Politische Bildung heran. Im<br />

Vordergrund steht dabei jedoch nicht Wunsch und Erwartung nach gesellschaftlicher Erhellung und<br />

Erklärung, sondern die Forderung nach affirmativen, angstreduzierenden Erziehungskonzepten.<br />

Es ist kein Zufall, dass der Diskursaspekt der »Individualisierungsprozesse« vor allem im Diskurssegment<br />

der Intellektuellen und Lehrkräfte der Politischen Bildung thematisiert und aufgegriffen<br />

wird. Der Wunsch nach Verständigungsmustern zu dem bedrückenden Problem wird dabei deutlich,<br />

aber auch die Funktionalisierung der Individualisierungshypothese zur allgemein kulturkritischen<br />

Selbstentlastung. Die soziologischen und zivilisationstheoretischen Hintergründe von erweisbaren<br />

Individualisierungsprozessen und „Individualisierungszumutungen« [79] werden dabei jedoch nicht<br />

bewusst und rational in den Diskurs eingeführt.<br />

Es sind zwar einige bemerkenswerte sozialpsychologische Studien über Jugendgewalt und<br />

Rechtsextremismus vorgelegt worden [80] , für den <strong>Unterricht</strong> auch brauchbare Materi<strong>als</strong>ammlungen<br />

und <strong>Unterricht</strong>sentwürfe [81] , doch ist es bisher nicht gelungen, umfassendere rational-analytische<br />

wissenschaftliche Ansätze für die Öffentlichkeit rezipierbar und für die <strong>Politik</strong>beratung brauchbar<br />

zu machen. In den allgemeinen öffentlichen Diskursen herrschen stereotype Ursachenvermutungen<br />

und allgemeine kultur- und politikkritische Perspektiven und Sinngebungen vor. Gerade das aber<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 27


ermöglicht es der Politischen Bildung, an die öffentlichen Diskurse anknüpfend, auf rationaldistanzierte<br />

Diskursmodelle zu insistieren und diese zur Grundlage diskursiver <strong>Unterricht</strong>ssituationen<br />

zu machen.<br />

Einige sehr interessante und reflektierte Beiträge zu diesem Diskursfeld »Individualisierung,<br />

Gewalt, Soziabilität« haben jedoch über aufgeschlossene Massenmedien wie DIE ZEIT oder die<br />

Frankfurter Rundschau [82] lassen die Hoffnung auf eine Versachlichung der öffentlichen Diskurse zu<br />

diesem zentralen Thema gesellschaftlicher Kontroversen in Deutschland aufkommen, bei denen die<br />

einzelnen Konfliktfelder überaus differenziert und »fraktioniert« wahrgenommen werden: Fragen<br />

der Bildungsmüdigkeit der Jugend, Gewalt und Ausländerfeindlichkeit, Gewalt durch Medien etc.<br />

Damit überlagert sich dieser Kurs mit zentralen Diskursfeldern aus dem Bereich »Soziale Ungleichheit«<br />

mit der zentralen Armuts- und Diskriminierungsthematik, aus dem Bereich »Globalisierung<br />

und ökonomischer Wandel« wie aus dem Bereich Staat und Staatsversagen – dem Ausgangspunkt<br />

unserer »Krisenanalyse«. Als theoretisch-analytischen Integrationsbegriff dieses Diskursfeldes<br />

wählen wir zivilisationstheoretischen Perspektiven folgend den Prozess der Individualisierung,<br />

den wir in die Prozessdichotomie von Integration und Differenzierung einordnen wollen.<br />

Prozesse der »Individualisierung« gelten <strong>als</strong> bezeichnend und prägend für die Politische Kultur der<br />

so genannten »Industrieländer« d.h. der Länder der sozioökonomischen Zentren. Die Leitvorstellungen<br />

von der Individualisierung sind – oft <strong>als</strong> Ideologeme wie »Freiheitliche Ordnung«,<br />

»Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft« formuliert – Teil heutiger Universalisierungsprozesse im<br />

Kontext der ökonomisch-politischen Globalisierung. In diesem Kontext wird die theoretische und<br />

gesellschaftliche Problematik dieses Individualisierungsprozesses besonders deutlich.<br />

Die gesellschaftlichen Konflikte in den so genannten Transformationsländern, d.h. denjenigen vor<br />

allem ost- und südosteuropäischen Ländern, die Anfang der 90er Jahre den politisch-gesellschaftlichen<br />

und sozioökonomischen Wandel vom »real existierenden Sozialismus« <strong>als</strong> Mitgliedstaaten<br />

des RGW und der Warschauer Pakt-Organisation zum kapitalistisch-marktwirtschaftlichen<br />

Staats- und Gesellschaftsmodell Westeuropas vollzogen haben, was weltpolitisch das Ende des<br />

vierzig Jahre dominierenden West-Ost-Konfliktes bedeutete, thematisieren vor allem auch den<br />

Wandel der Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft. Herkömmliche Kollektivvorstellungen der<br />

sozialistischen Gesellschaften wurden im Transformationsprozess aufgegeben; an ihre Stelle treten<br />

gerade auch in den ideologischen und kulturellen Kontexten die Forderungen und Wertvorstellungen<br />

des Individualismus.<br />

Ökonomisch wird dieser Prozess <strong>als</strong> Konsequenz des Privatisierungstheorems verstanden, das im<br />

wirtschaftlichen Strukturwandel dieser Länder eine leitmotivische Rolle einnimmt.<br />

dass diese Privatisierungsthematik volkswirtschaftlich und gesellschaftswissenschaftlich weitaus<br />

problematischer und differenzierter ist, <strong>als</strong> es das politische Postulat gelten lassen will, zeigen – hier<br />

nur ganz kurz angerissen – folgende Aspekte:<br />

Der Begriff »Privatwirtschaft« ist nicht eindeutig, sondern umfasst sowohl die firmenrechtlichen<br />

Kategorien (GmbH, AG; <strong>als</strong>o neben dem mittelständischen Selbstunternehmer alle Formen der<br />

Kapitalgesellschaften, unabhängig davon, ob die realen Eigentümer Personen, Institutionen oder<br />

auch der Staat sind), wie auch die Bezeichnung einer eigenverantwortlichen Unternehmertätigkeit,<br />

vor allem in den so genannten mittelständischen Betrieben.<br />

Die Verteilung von Staatseigentum (unabhängig von der geltenden Rechtsform), genossenschaftlichen<br />

Eigentumsverhältnissen (die staatskontrolliert wie in der DDR, staatsnah wie in der VR<br />

Ungarn oder rein privatrechtlich wie in der Bundesrepublik Deutschland sein konnten) und<br />

Privatunternehmungen war auch zur Zeit des West-Ost-Konfliktes nie so eindeutig den jeweiligen<br />

politischen Konkurrenten zugeordnet, wie es aus der politischen Ideologie zu erwarten gewesen<br />

wäre; so hatten Frankreich und Italien Mitte der 80er Jahre höhere staatswirtschaftliche Sektoren <strong>als</strong><br />

zu der Zeit Polen und Ungarn, wenn Industrie und Landwirtschaft zusammen gesehen werden; nach<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 28


der Privatisierung bleiben demgegenüber in Polen und Ungarn, viel mehr aber in den GUS-<br />

Ländern, weite Teile der Industrie trotz privatrechtlicher Firmenverfassung im Eigentum des<br />

Staates. Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist der Sektor wirtschaftlichen Staatseigentums<br />

noch immer erheblich. Privatisierungen sind <strong>als</strong>o nicht exklusives Thema der Transformationsländer.<br />

Überhaupt nicht thematisiert wird in diesem Zusammenhang der heute in der Volkswirtschaftslehre<br />

kritisch diskutierte Prozess, dass traditionelle persönliche Eigentumsformen weitgehend abgelöst<br />

werden durch anonyme Kapitaleigentumsverhältnisse – Holdings, Fonds, Bankenkapital,<br />

gegenseitige Kapitalverflechtungen –, dass <strong>als</strong>o eindeutige persönliche Eigner kaum noch<br />

auszumachen sind und erst recht keinen verantwortlichen Einfluss auf unternehmerische Entscheidungen<br />

nehmen. Die klassische Unternehmerfunktion wird daher zunehmend durch die Entscheidungskompetenzen<br />

eines angestellten Managements ersetzt, die unternehmerische Entscheidung<br />

vom Eigentum abgekoppelt. [83]<br />

Hier tut sich ein deutlicher Widerspruch zwischen der »kapitalistischen« Gesellschaftsutopie, die<br />

Erbe der bürgerlichen Revolution und der Aufklärung ist und die das »selbstverantwortliche<br />

Individuum« und dadurch auch die autonome Unternehmerpersönlichkeit, die auf einem freien<br />

Markt nach rationaler Überlegung die volkswirtschaftlichen Prozesse bestimmt, <strong>als</strong> Leitbild<br />

postuliert, und der Realität der tendenziell bist in die globale Dimension eingebundenen anonymen<br />

und strukturell-interdependenten, vernetzten Entscheidungs- und Machtstrukturen, die die reale<br />

Autonomie des Einzelnen immer mehr einschränken.<br />

Der reale Prozess ist durch die zivilisationstheoretischen und historisch-soziologischen Analysen<br />

aufzuhellen und verständlich zu machen. Die schon angesprochenen Verlängerungen der Interdependenzketten,<br />

in denen der Einzelne steht, [84] die kulturellen Homogenisierungsprozesse [85]<br />

bezeichnen den für die europäische Gesellschaftsentwicklung bezeichnenden Prozess der sozioökonomischen<br />

und politisch-kulturellen Integration von der Feudalgesellschaft über die bürgerlich<br />

und national orientierte Staatsgesellschaft (vgl. den Diskurs »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« in<br />

Abschnitt 4.5) der Neuzeit hinzu den schon angesprochenen Globalisierungsprozessen, deren<br />

Ergebnis noch nicht deutlich genug abzusehen ist.<br />

Die Widersprüchlichkeit dieser Gesellschaftsvorstellungen in Bezug auf die hier thematisierten<br />

Individualisierungsprozesse ergibt sich bei der Betrachtung der diesen Prozessen parallelen aber<br />

gegenläufigen Ausdifferenzierungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen und<br />

sozialen Positionen. Dies ist keine zufällige Widersprüchlichkeit, sondern sie ist funktionaler<br />

Bestandteil des zu Grunde liegenden historischen Ablaufes. Die ökonomische Differenzierung<br />

ermöglicht erst die sozioökonomisch und politische Integration und die Herausbildung immer<br />

größerer Überlebenseinheiten von der Subsistenzwirtschaft, der ›Ökumene des Ganzen Hauses‹<br />

über die städtischen Handels- und Handwerkergesellschaften in zunehmender Arbeitsteilung und<br />

beruflich-sozialer Aufgliederung und Stratigraphierung, über die Phasen der Fabrikkultur der<br />

Industriellen Revolution, die Rationalisierung und Automatisierung, die eine Industriegesellschaft<br />

repräsentiert, die auf der einen Seite maximale Spezialisierung und berufliche Differenzierung, auf<br />

der anderen Seite eine Integration der Märkte bis hin zur Globalisierung erforderlich macht.<br />

Parallel kann auch das Sektorenmodell nach Fourastié zur Beschreibung dieses Prozesses<br />

herangezogen werden, das die epochale Verschiebung von einer Wirtschaftsform, die vor allem auf<br />

dem Primären Sektor (Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischfang, Bergbau) beruht, über die<br />

Industriegesellschaften des Sekundären Sektors (produzierendes Gewerbe) hin zur Dienstleistungsgesellschaft<br />

mit Beschäftigten hauptsächlich im Tertiären Sektor postuliert. [86]<br />

Die europäische Geschichte, der so genannte »Zivilisationsprozess« ist gekennzeichnet von der<br />

Gleichzeitigkeit und funktionalen Interdependenz von Integrations- und Differenzierungsprozessen,<br />

die in den einzelnen Phase der Geschichte mit unterschiedlicher Stärke und Dominanz sichtbar<br />

werden.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 29


Für die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Umwelt des Einzelnen bedeutet das, dass mit<br />

zunehmender institutioneller und anonymer werdenden sozioökonomischer und politischer<br />

Abhängigkeit von Staat und Wirtschaft der unmittelbar erfahrbare Schutz einer gesellschaftlichen<br />

Nähe in der kleinen Gruppe oder Familie weitgehend verloren geht und dass an die Stelle äußerer<br />

Verhaltensselbstverständlichkeiten und Verhaltenssteuerungen die sich im Zivilisationsprozess<br />

entwickelnden inneren Verhaltenskontrollen und internalisierten Verhaltensstandards treten müssen.<br />

Dies hat Norbert Elias <strong>als</strong> das Hinter-die-Kulissen-Verlegen der persönlichen Lebensäußerungen,<br />

das Errichten von inneren Scham- und Peinlichkeitsschranken beschrieben. Auf der persönlichen<br />

Wahrnehmungsebene kann dies auch der Erfahrung des Auf-sich-selbst-Gestelltseins oder der<br />

Individualisierungszumutung verstanden werden, des äußersten Grades der gesellschaftlichen<br />

Differenzierung, in der Handlungsmotivationen allein in der individuellen Persönlichkeit zu suchen<br />

sind, was aber dem objektiven Eingebundensein in »lange Interdependenzketten« widerspricht.<br />

Der »real existierende Sozialismus« ist wohl auch an dem Anachronismus und dem inneren<br />

Widerspruch gescheitert, dass er einerseits die modernen Integrationsprozesse der sozioökonomischen<br />

Entwicklung bewusst vorantreiben wollte, da er sich <strong>als</strong> die fortschrittlichste Gesellschaftsund<br />

Wirtschaftsform verstand, die parallelen, der ökonomischen Basisentwicklung interdependenten<br />

kulturellen und gesellschaftlich-politischen Differenzierungsprozesse aber negierte oder<br />

abkoppeln wollte, um sie durch eine utopische Gemeinschaftsideologie unter einem emotionalisierten<br />

Solidaritätspostulat und durch kollektivistische Lebensentwürfe ersetzen wollte, die letztlich<br />

wieder auf eine historisch überholte Außensteuerung des Verhaltens hinauslaufen.<br />

Und hier werden die Absurditäten gewisser Züge der beobachteten Transformationsprozesse besser<br />

verständlich. Die kollektivistische Außenlenkung des individuellen Verhaltens wird <strong>als</strong> »Unfreiheit«,<br />

»Gängelei«, Belastung empfunden, weil sie, wie es der Einzelne eher intuitiv erfasst, einen<br />

Anachronismus in der Entwicklung der Staatsgesellschaft, in der auch der Sozialismus steht,<br />

darstellt – der zunächst in Ländern der Semiperipherien wie Russland besser durchzusetzen war <strong>als</strong><br />

in den Ländern der sozioökonomischen Zentren Mittel- und Westeuropas – und objektiv dysfunktional<br />

zur ökonomischen Entwicklung ist.<br />

dass dies verstärkt wurde durch den naiven, die gesellschaftlichen Hintergründe oft nicht<br />

verstehenden Vergleich mit den »offensichtlichen westlichen Lebensformen«, wobei diese »westlichen<br />

Leitbilder« ja oft nicht mit der realen Situation übereinstimmten, hat das Gefühl der<br />

Dissonanz und des eigenen Ungenügen nur verstärkt und zur Einleitung der Transformationsprozesse<br />

beigetragen.<br />

Nach der Systemtransformation erfährt der Einzelne nun den »Zwang zum Individualismus«, die<br />

Zumutung einer Individualisierungsforderung, auf die er nur ungenügend biographisch vorbereitet<br />

worden ist. Die Dissonanzerfahrungen erneuern sich unter umgekehrtem Vorzeichen. Dies erklärt<br />

dann die mit zeitlichem Abstand zunehmende »Kollektivismus-Nostalgie«, in der die unfreien<br />

Lebensformen nicht mehr <strong>als</strong> bedrückend und entmündigend, sondern <strong>als</strong> schützend und emotional<br />

bergend erinnert werden.<br />

Soziologisch gesehen weist das darauf hin, dass es der »westlichen Gesellschaft« nicht gelungen ist,<br />

den Menschen in den Transformationsgesellschaften ein genügendes Maß an »Ordnungssicherheit«<br />

zu vermitteln [87] , da die »westliche Ordnung« eben nicht voraussetzungslos übertragbar ist – das<br />

zeigt sich auch an den fundamentalen Problemen und Konflikten von »Verwestlichungsstrategien«<br />

in den Ländern der Semiperipherien und der »Dritten Welt« –, sondern einen im Prozess der<br />

Staatenbildung und der Herausbildung der Staatsgesellschaft historisch definierten<br />

Enkulturationstyp und die mit ihm verbundene, institutionalisierte gesellschaftliche Figuration<br />

voraussetzt, die sich durch den Eigensinn ihrer Ordnungs- und Wertvorstellungen <strong>als</strong> Politische<br />

Kultur kennzeichnen lässt.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 30


Zunehmend wird aber auch für die Menschen der »westlichen« sozioökonomischen Zentren die<br />

Dichotomie von Integration und Differenzierung, d.h. auch: die Individualisierungszumutung zum<br />

existenziellen Wahrnehmungs- und Wertproblem.<br />

Die sich verstärkende soziostrukturelle [88] und sozioökonomische Differenzierung, die Dynamisierung<br />

der Arbeitsmärkte, zerstört die Sicherheiten der biographischen Perspektiven. Die gesellschaftlich-kulturelle<br />

Fraktionierung der Gesellschaft bewirkt eine ebensolche Fraktionierung der Lebensläufe,<br />

die Zunahme der so genannten »patchwork biographies« [89] , die auch die erwartete Ordnungsund<br />

Zukunftssicherheit und damit den Investitionswert der eigenen Gesellschaft tendenziell<br />

aufheben.<br />

Das verlangt neue Sozialisations- und Enkulturationstypen, denen sich die Schule und insbesondere<br />

die Politische Bildung stellen muss: eine noch nicht in ihren Umrissen klar erkennbare Aufgabe, die<br />

viel zur derzeitigen Rollenunsicherheit in der Lehrerschaft beiträgt. Ordnungssicherheit kann<br />

zukünftig immer weniger von der äußeren, gesellschaftlichen Realität erwartet und eingefordert<br />

werden. Wie im Laufe des Zivilisationsprozesses die Verhaltenssteuerung muss in einer neuen<br />

Entwicklungsphase auch die Orientierungssicherheit internalisiert, <strong>als</strong>o hinter die gesellschaftlichen<br />

Kulissen verlegt werden. Das ist nicht unproblematisch und gemessen an den Bildungszielen auch<br />

immanent widersprüchlich. Letztlich zielt es auf eine völlig in die Person verlegte Identität, die sich<br />

immer mehr von den Realitäten abkoppelt, abkoppeln muss: ein Aspekt des »langsamen<br />

Verschwindens der Realität«. Die Identität wird im hohen Maße virtuell und damit auch beliebig.<br />

Der Individualisierungsprozess erzeugt damit den Hedonismus und die Selbstbezüglichkeiten der<br />

unverantwortlichen Ellbogengesellschaft. [90] Die Kehrseite dieses gesellschaftlichen Prozesses ist<br />

dann auch die tendenzielle Umkehr eines der Kernentwicklungen der europäischen Zivilisationsund<br />

Staatenbildungsgeschichte: der Durchsetzung des Gewaltmonopols des Staates. Das geht einher<br />

mit dem Funktionsverlust des klassischen westeuropäischen Nation<strong>als</strong>taates und den vielfältigen<br />

Erfahrungen des Staatsversagens. Damit schließt sich ein Bogen unserer Eingangs angesprochenen<br />

Krisendiagnose der Gegenwartsepoche. Das Entwicklungsziel ist noch nicht hinreichend erkennbar,<br />

die gesellschaftlichen Widersprüchlichkeiten und Risiken stehen im Vordergrund, die<br />

Individualisierung, die den Kern der bürgerlichen Freiheitsbemühungen seit dem 18. Jahrhundert<br />

und der Durchsetzung der Menschenrechte war, wird zunehmend <strong>als</strong> Individualisierungszumutung<br />

wahrgenommen; Freiheit und Menschenrechte verlieren damit ihre immanente gesellschaftlichpositive<br />

und fortschrittliche Konnotation. Dies entsprich auch der originären Wahrnehmung des<br />

freiheitlichen Kernbestandes der europäischen Politischen Kultur durch die Gesellschaften eines<br />

Teils der Länder der sozioökonomischen Semiperipherien, die darin eher europäisches Oktroi denn<br />

Modernisierungschancen für die eigene Existenz erkennen können. Doch sollte dies auch aus<br />

unserer Sicht nicht zu einem interesse- und engagementlosen Kulturrelativismus führen, der<br />

ahistorisch ist, da er für die eigene Geschichte außer Acht lässt, dass diese zentralen Rechte ja in<br />

einem langwierigen und z.T. blutigen Kampf gegen die Herrschaft und gegen überlebte Traditionen<br />

erkämpft worden sind. [91]<br />

Indem sich gesellschaftliche Verhaltensformen strukturell und funktional ausdifferenzieren,<br />

fraktionieren sich zunehmend die gesellschaftlichen Orte [92] – Orte der Kommunikation, Interaktion<br />

und der gesellschaftlichen Symbole – und die individuellen und sozialen Verhaltensformen in<br />

differenzierten sozialen Milieus, die sich durch kohärente symbolische Interaktionsformen beschreiben<br />

und bis zu einem gewissen Grade auch gegeneinander abgrenzen lassen.<br />

Dabei wird es zunehmend auch zu einer innerpsychischen und mentalen »Fraktionierung« der<br />

individuellen Persönlichkeiten kommen, die die These von der personalen Identität und ihrer<br />

zeitlichen und situativen Persistenz grundsätzlich Frage stellen kann und unsere grundlegenden<br />

psychologischen Überzeugungen und damit auch pädagogischen Konzepte tendenziell erschüttert.<br />

Der Einzelne durchläuft in seiner Biographie viel deutlicher sichtbar <strong>als</strong> früher nicht nur konsistente<br />

Entwicklungsphasen, sondern immer schneller differenzierende Situationen, die zudem im gesell-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 31


schaftlichen Kontext immer widersprüchlicher werden. Nach Ulrich Beck und Elisabeth Beck-<br />

Gernsheim (1990) ist „das Idealbild der arbeitsmarktkonformen Lebensführung der oder die vollmobile<br />

Einzelne, der ohne Rücksicht auf die sozialen Bindungen und Voraussetzungen seiner<br />

Existenz und Identität sich selbst zur fungiblen, flexiblen, leistungs- und konkurrenzbewussten<br />

Arbeitskraft macht, stylt, hin und her fliegt und zieht, wie es die Nachfrage und Nachfrager am<br />

Arbeitsmarkt wünschen“. [93]<br />

dass in der Eingebundenheit in solche »patchwork-Identitäten« von konsistenten, haltbaren Wertorientierungen<br />

und Realitätssichten nicht mehr ausgegangen werden kann, bestätigt die gesellschaftliche<br />

Analyse der medial vermittelten »virtuellen Welten«, in denen sich gerade auch<br />

Jugendliche existenziell eingebunden und geborgen fühlen und die damit zu einem Ersatz für die<br />

mangelnde Sicherheit der äußeren Realität werden, in denen Lara Croft mehr Schutz und<br />

Orientierung verspricht <strong>als</strong> Gerhard Schröder. Es sollte hier aber nicht das Missverständnis auftreten,<br />

dass diese Jugendlichen nicht mehr tatsächlich die verschiedenen Stufen von Realität und<br />

Virtualität unterscheiden könnten, das ist durchaus der Fall. Es liegt <strong>als</strong>o keine Intellektuelle<br />

Verwirrung oder Verdummung vor, sondern eine Verschiebung der kulturellen Symbolinventare<br />

und der Symbole für Verhaltensnormen, Verhaltensoptionen und Wertsichten in Bereiche, die sich<br />

zunehmend gesellschaftlicher und damit sowohl familialer wie schulisch-institutioneller Kontrolle<br />

entziehen.<br />

Dieses Thema wird hier nur <strong>als</strong> Perspektive des notwendigen Diskurses über »Individuum, Gewalt,<br />

Soziabilität« angerissen und muss in sozialisationstheoretischer, medien-(kommunikations-)wissenschaftlicher<br />

und kulturwissenschaftlicher Hinsicht vertieft und empirisch verfestigt werden. Es<br />

zeigt aber, dass das gesellschaftliche Diskursfeld »Individualisierung« sehr enge Verflochtenheiten<br />

zur Existenz und Befindlichkeit sowohl der Lehrerschaft wie der Schülerinnen und Schüler aufweist<br />

und durch den daraus hervorgehenden hohen Betroffenheits- und Emotionalitätsgrad besondere<br />

Anforderungen an die didaktische und methodische (Vor-) Arbeit für den <strong>Unterricht</strong> stellt, dafür<br />

aber auch große Chancen birgt, sich selbst auch aus der Situation der Schule heraus in die<br />

öffentlichen Diskurse einzuschalten. Die Qualifikationsanforderungen für die Lehrerausbildung und<br />

eine permanente Lehrerweiterbildung in diesem Bereich sind offensichtlich.<br />

Über den Individualisierungs- und Differenzierungsansatz eröffnen sich dabei auch weitere<br />

argumentative Möglichkeiten, über das Thema »Gewalt« <strong>als</strong> gesellschaftliche Verhaltensoption zu<br />

sprechen und die Gewaltthematik nicht ausschließlich in der Alternative des moralisierenden<br />

Diskurses oder der psychologisierenden Gewaltprophylaxe zu sehen und zu bearbeiten. Beide<br />

Ansätze greifen zu kurz, da sie den Bezug zu den übergreifenden gesellschaftlichen Prozessen und<br />

Veränderungen ausblenden und damit selbst in die »Falle der Individualisierung« argumentativ<br />

herein geraten. Gewalt muss <strong>als</strong> pädagogisch verantwortetes Thema aber weniger in seinen – dem<br />

Stand der Wissenschaft nach teilweise recht kontroversen und spekulativen – psychologischanthropologische<br />

Kontexten, dafür aber mehr im Zusammenhang der Gewalt <strong>als</strong> zentraler Topos<br />

des Zivilisierungsprozesses gesehen werden. Auch hier steht der Prozess zivilisatorischer<br />

Integration – abzulesen an dem Grad der erreichten verinnerlichten Soziabilität – den gegenläufigen<br />

desintegrativen Differenzierungs- und Individualisierungsprozessen entgegen, der potentiell eine<br />

Infragestellung des Gewaltmonopols des Staates bedeutet.<br />

Eine Fortführung dieses Diskurses wird damit die über die staatsgesellschaftlichen Urteilskategorien<br />

heraus weisenden Interdependenzen und Einwirkungen durch den Prozess der Globalisierung<br />

zu thematisieren haben, dessen universelle Integration wiederum den grundlegenden<br />

Aussonderungs- und Differenzierungsprozessen vor allem in den Ländern der globalen Peripherien<br />

und Semiperipherien entgegensteht.<br />

Hier befinden wir uns schon im nachfolgenden Diskursfeld »Zivilisation, Gesellschaft, Staat«,<br />

wenn die grundsätzlichen Widersprüchlichkeiten des Zivilisationsprozesses zwischen Integration<br />

und Desintegration in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Rücken und <strong>als</strong> zentrales Problem zu<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 32


egreifen sind, das unmittelbare Auswirkungen auf die Grundlegungen einer gesellschaftsorientierten<br />

<strong>Politik</strong>didaktik gewinnt.<br />

4.5 Diskurs »Zivilisation, Gesellschaft, Staat«<br />

4.51 Die Problematik eines »unübersichtlichen Diskurses«<br />

Der Diskurs zu »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« zeigt besonders deutlich die inneren Divergenzen<br />

und die über den Diskursgegenstand hinausweisenden Verflochtenheiten einer inhaltlich bestimmten<br />

Konzeption von »Schlüsselproblemen«, die im Gegensatz zu traditionellen Rahmenthemen für<br />

den <strong>Unterricht</strong> sich nicht im Prozess einer thematischen Reduktion, sondern nur durch die Teilnahme<br />

an den Diskursen selbst realisieren. Schlüsselprobleme tendieren daher einerseits zur thematischen<br />

Entgrenzung, andererseits zur schrittweise fortschreitenden Ausdifferenzierung von Diskussionsschwerpunkten<br />

und Problemdefinitionen.<br />

Umso wichtiger ist es einzusehen, dass nur innerhalb des Diskurses selbst Kriterien für<br />

exemplarische und für situations- und rezipientenorientierte Komplexitätsreduktion, wie sie unter<br />

didaktischen Gesichtspunkten für den Schulunterricht unabdingbar sind, gefunden werden können.<br />

Die auch in der öffentlichen Diskussion zu verfolgende Entgrenzung des in Frage stehenden<br />

Diskurses kann im Extrem dazu führen, dass letztlich das gesamte Problem- und Realitätsfeld<br />

<strong>Politik</strong> und Gesellschaft undifferenziert und amorph in den ausufernden Diskurs einbezogen wird.<br />

Gerade unter dieser mangelnden Eindeutigkeit und fehlenden Distinktivität der kommunizierten<br />

Diskussionsbeiträge leidet auch der öffentliche Meinungsaustausch über dieses »Thema« – wie wir<br />

es derzeit an Stelle einer Klassifizierung <strong>als</strong> Diskurs wohl eher bezeichnen müssen – Staat und<br />

Gesellschaft: es ist tatsächlich nicht viel mehr <strong>als</strong> ein Meinungs-Austausch oder auch eine gesellschaftlich<br />

folgenlose Meinungs-Konfrontation, die rationaler und diskursiver Strukturen mangelt.<br />

Einen solchen entgrenzten und umfassenden Realitätsbereich <strong>als</strong> notwendigen und möglichen<br />

Diskurs zu postulieren, setzt die Hoffnung auf eine wachsende Diskursfähigkeit der Gesellschaft<br />

voraus. Diese Hoffnung fällt zusammen mit den Zielen einer erneuerten <strong>Politik</strong>didaktik und ist ohne<br />

die Einbeziehung der gesellschaftswissenschaftlichen Kompetenz nicht denkbar.<br />

Dort wo dem »freien Diskurs« in der Öffentlichkeit rationalen Strukturen mangelt, wo Meinungsaustausch<br />

zu Beliebigkeit oder Banalität der Auseinandersetzungen führt, muss verstärkt Wissenschaftlichkeit<br />

eingefordert und Sach- und Fachkompetenz zur leitenden und strukturierenden<br />

Diskursintegration geführt werden.<br />

Das Diskursfeld »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« ist gerade dadurch so amorph und uneindeutig,<br />

weil die fachliche Fundierung vage, umstritten und teilweise von wissenschaftsgeschichtlichen<br />

Zufälligkeiten bestimmt ist, wie wir es für die <strong>Politik</strong>didaktik und den <strong>Politik</strong>unterricht <strong>als</strong> Teil der<br />

Beschäftigung mit dem Problemfeld ›Staat und <strong>Politik</strong>‹ eingangs schon nachgewiesen haben.<br />

An dieser Stelle kann nun der intensive wissenschaftliche Diskurs der Gegenwart nicht aufgearbeitet<br />

oder auch nur ansatzweise referiert werden. Es genügt der Hinweis auf aktuelle<br />

Forschungs- und Diskursgegenstände, die den Interdependenzcharakter der differenzierten Aspekte<br />

des Diskursfeldes »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« exemplarisch verdeutlichen. Der semantisch<br />

allgemeingebräuchliche Begriff Staat wird nicht nur in seiner konkreten Ausgestaltung einmal unter<br />

dem Problemfeld des »Staatsversagens« und zum anderen durch seine Relativierung durch<br />

allgegenwärtig wahrgenommene Globalisierungs- und Universalisierungsprozesse zunehmend in<br />

Frage gestellt sondern zunehmend auch unter historisch-soziologischer Perspektive begrifflich und<br />

<strong>als</strong> konkrete Entität auf die heutige Staatsform der »westlichen Staatsgesellschaft« reduziert. Er<br />

trennt sich damit im Sinne einer konkreten begrifflichen Ausdifferenzierung von abweichenden<br />

Herrschaftsformen und -verbänden, von nichtstaatlichen Gesellschaftsstrukturen. Das macht die<br />

Frage nach dem Entstehen des modernen Nation<strong>als</strong>taates ebenso aktuell und dringlich wie die Frage<br />

nach dem Entstehen unseres Allgemeingültigkeit beanspruchenden Staatsbegriffes und seiner histo-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 33


isch-gesellschaftlichen Funktion. Norbert Elias in seiner Zivilisationstheorie und Immanuel<br />

Wallerstein mit seiner Welt-Systemtheorie nähern sich dieser Frage in neuer und origineller Weise<br />

und werden dadurch zum Ausgangs- und Anknüpfungspunkt heutiger gesellschaftswissenschaftlicher<br />

Arbeiten, die sich dann auch mit aktuellen <strong>Politik</strong>feldern wie »Globalisierung, Migration und<br />

Multikulturalität« [94] befassen, Themen, die einer rational-diskursiven Erhellung mit den »klassischen«<br />

Theoremen der <strong>Politik</strong>wissenschaft bislang erhebliche Schwierigkeiten bereiteten. Damit<br />

wird aber die grundsätzliche Interdisziplinarität der diskursiven Arbeit mit Schlüsselproblemen<br />

wieder verdeutlicht.<br />

4.52 Die aktuelle Bedeutung des Diskurses über Zivilisation und Höflichkeit<br />

4.521 Zivilisation und Alltagsverhalten – Das Alltägliche und das Besondere«<br />

Verhaltensweisen unseres Alltags, die uns selbstverständlich erscheinen, sind einem auffälligen historischen<br />

Wandel unterworfen. dass man im Mittelalter anders lebte, aß, trank, spuckte, liebte,<br />

kämpfte... <strong>als</strong> heute, ist nun keineswegs ein »kurioser Zufall«, sondern Ergebnis eines nachvollziehbaren<br />

gesellschaftlichen Wandels, den wir <strong>als</strong> Zivilisationsprozess bezeichnen. Die zivilisatorischen<br />

Normen sind durch Erziehung, Sozialisation und ›Enkulturation‹ tief in der eigenen<br />

Persönlichkeit verankert, habitualisiert, was dadurch erkennbar wird, dass eigene oder fremde<br />

Verstöße gegen das ›zivilisierte Verhalten‹ mehr oder weniger ausgeprägt mit Ekel, Unbehagen,<br />

Scham oder Peinlichkeitsgefühlen abgewehrt oder mit einem »moralischen Verdikt« belegt werden.<br />

Dabei ist die eigene Zivilisation im Bewusstsein der Menschen immer die richtige, die selbstverständliche<br />

Zivilisationsform, obwohl sie weder historisch unveränderbar und sicher ist, noch von<br />

den Nachbarvölkern geteilt wird. Gerade dieser aktuelle Problembezug macht den Diskurs über die<br />

Zivilisation so aktuell und auch exemplarisch für den Umgang mit dem Konzept der<br />

Schlüsselprobleme. Einige differenzierte Ausführungen sollen dabei zeigen, dass zentrale Diskurse<br />

in den öffentlichen Bereichen durchaus differenziert und oft sehr eingeschränkt wahrgenommen<br />

werden. Eine analytische Rationalisierung belegt, dass der Diskurs über gesellschaftliche Schlüsselprobleme<br />

auf verschiedenen Ebenen geführt wird, so z.B. der Ebene der unmittelbaren gesellschaftlichen<br />

Alltagswahrnehmung, die dann didaktischer Ausgangspunkt sein wird, der Ebene der<br />

interessengeleiteten Deutungen und Realitätssichten, die vor allem politisches Verhalten begründen<br />

und strukturieren, sowie die wissenschaftliche Diskursebene, die durchaus nicht naiv mit größerer<br />

»Wahrheit« oder Realitätshaltigkeit gleichgesetzt werden darf – obwohl sie am ehesten über das<br />

distanzierend-rationale Instrumentarium einer sachlichen Realitätsnäherung verfügen –, sondern oft<br />

eher die personalen und institutionellen Probleme, Strukturen und Konflikte im Wissenschaftsbetrieb<br />

nachzeichnen.<br />

Die Ebene der unmittelbaren Erfahrung spiegelt sich in der Wahrnehmung des Alltagsverhaltens,<br />

vor allem der Formen der „Höflichkeit“. Dabei spielt nicht nur die innergesellschaftliche Perspektive<br />

eine Rolle, sondern die interkulturelle Perspektive tritt zunehmend in den Wahrnehmungsvordergrund.<br />

Viele Alltagsverhaltensweisen weichen sogar in so eng verwandten und historisch<br />

verknüpften Nachbarvölkern wie Frankreich, England, Polen oder Ungarn, von unserem deutschen<br />

Verhalten ab: Quell für Missverständnisse, Peinlichkeiten und Vorurteile.<br />

Es ist faszinierend und auch didaktisch ergiebig, den historischen Erfahrungen der anderen Völker<br />

[95] nachzugehen, um damit die unterschiedlichen Verläufe des Zivilisationsprozesses erkennen<br />

und erklären zu können.<br />

In diesem Zusammenhang lässt sich der ›Zivilisations-Prozess‹ eines Volkes erkennen und erklären<br />

<strong>als</strong> verarbeitete und mit gesellschaftlichem Sinn versehene Erfahrung in der Begegnung mit dem<br />

›Fremden‹ – Freund oder Feind – und dem ›Eigenen‹ – in Schutz oder Herrschaft –. Verallgemeinernd<br />

lässt das Fragen nach der Bedeutung von Kulturkontakten für den Zivilisationsprozess.<br />

Soziologische und sozialpsychologische Erklärungsansätze helfen zum Verständnis von<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 34


Enkulturations- und Akkulturationsprozessen, die Voraussetzung der gesellschaftlichen Verarbeitung<br />

der Fülle individueller Erfahrungen und Biographien sind.<br />

Der Zivilisationsprozess muss damit immer eine Balance zwischen dem durch den gesellschaftlichen<br />

Wandel und den technisch-ökonomischen Fortschritt forcierten Individualisierungsprozess<br />

und der Universalisierung und Globalisierung der materiellen gesellschaftlichen Lebens- und<br />

Herrschaftsbedingungen finden – Weltökonomie, Universalitätsanspruch des wissenschaftlichen<br />

Weltbildes, Globalisierung der Kommunikation und der medial vermittelten Leitbilder, Entdifferenzierung<br />

des Sprachgebrauchs, Internationalisierung der Herrschaftszentren erzwingen Normierungen<br />

und Einschränkungen der individuellen und gruppenbezogenen Differenzen, die im krassen<br />

Widerspruch zur Zumutung der individuellen Freiheit und Verantwortlichkeit erlebt werden; oder<br />

reduziert sich die humane Freiheit auf die Freiheit der Konsumentscheidung, ersetzen materielle<br />

Komfortversprechungen den »psychischen Reichtum« von Kreativität und sozialer Kompetenz?<br />

Das deutet auch die Notwendigkeit an, Diskurse und Schlüsselprobleme grundsätzlich nicht abgeschlossen<br />

und primär distinktiv, sondern interdependent verwoben und <strong>als</strong> Näherungen an eine<br />

komplexe gesellschaftliche Realität zu verstehen. Aufgabe der Didaktik ist dabei gerade, die der<br />

Lernsituation, der Lerngruppe und der Altersstufe entsprechende Komplexitätsreduktion zu entwickeln,<br />

die ein Höchstmaß der gesellschaftlichen Komplexität zu vermitteln sucht, ohne dass diese<br />

Komplexität zum unüberwindlichen Motivations- und Rezeptionshemmnis wird. Schülerinnen und<br />

Schüler sind im Lernprozess schrittweise an diese gesellschaftliche Komplexität und Verflochtenheit<br />

heranzuführen, wobei Distanz und Differenzierungsfähigkeit neben motivationaler Nähe<br />

unabdingbare pädagogische Leitlinien sein müssen. Dabei ist die gesellschaftliche Erfahrung der<br />

Schülerinnen und Schüler und ihre außerschulische Eingebundenheit in öffentliche und private<br />

Kommunikationsprozesse Ausgangspunkt der didaktischen Problemstrukturierung, wie das nachfolgend<br />

noch angedeutet werden soll.<br />

Als Krisensymptome erlebt unsere Gesellschaft den offensichtlichen Verfall der alltäglichen Selbstverständlichkeiten,<br />

wie Gewaltfreiheit, höflicher Umgang, Respekt vor dem Fremden und seinem<br />

Eigentum... Doch es verstoßen immer nur die Anderen, der Jugendliche, der Ausländer, dagegen,<br />

nie die eigene Gesellschaft, die eigenen Bekannten und Kolleginnen und Kollegen ...<br />

Ob die westliche Zivilisation diesen Spagat zwischen individualisiertem Menschenbild, Individualisierung<br />

<strong>als</strong> Vereinsamung in der Massengesellschaft und den wachsenden Vereinheitlichungszwängen<br />

bewältigen kann, soll mit der Frage erörtert werden: Wie viel Zivilisation braucht der<br />

Mensch, welche Zivilisationsstandards sollen unserer Gesellschaft erhalten bleiben?<br />

4.522 Didaktische Zwischenbemerkungen<br />

Nachfolgend sollten in einer tabellarischen didaktischen Aufbereitung wesentliche Arbeitsschwerpunkte<br />

in Form einer thematischen Gliederung vorgestellt werden, die eine erste unterrichtlichdidaktische<br />

Umsetzung bedeuten könnte und auf die eigene <strong>Unterricht</strong>spraxis des Verfassers<br />

zurückgeht:<br />

Begegnung mit der fremden Alltagskultur: Das Bazargespräch [96]<br />

Der Zivilisationsprozess in Europa<br />

Textarbeit (Norbert Elias: Zivilisationstheorie)<br />

Rollenspiele und Berichte: Essen, Schlafen, Spucken, Kämpfen im Wandel der Zeit<br />

Das ›Eigene‹ und das ›Fremde‹ (Leiris)<br />

Texte zum Kulturkontakt<br />

Referate über die Alltagskultur der europäischen Nachbarländer: Wie verhält man sich<br />

in verschiedenen Situationen gegenüber dem Fremden und gegenüber dem Freund?<br />

Ist unsere Zivilisation gefährdet?<br />

Individualisierungsprozesse in der Massengesellschaft und Universalisierung von<br />

Kommunikation und Problemsituationen<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 35


Diskussion: Ist unsere Schule noch in der Lage, Zivilisationsprozesse zu fördern, zu<br />

fordern und zu ermöglichen?<br />

Die Auseinandersetzung mit Zivilisationsprozessen ist immer auch eine Auseinandersetzung mit<br />

der eigenen Identität und mit den eigenen Selbstverständlichkeiten, die nur durch Distanz und<br />

Verfremdung, durch den Blick in den Spiegel des Fremden, rational bewältigt werden kann.<br />

Deshalb müssen im <strong>Unterricht</strong> bezogen auf die jeweils konkrete Lerngruppe ganz unterschiedliche<br />

Arbeitsformen von verschiedener Seite her ein differenziertes Problembewusstsein ermöglichen.<br />

Einiges Gewicht wird in der gymnasialen Sekundarstufe II z.B. in den Fächern <strong>Politik</strong>, Geschichte<br />

oder den so genannten »Wertefächern« sicherlich die Textarbeit z.B. mit Quellentexten des<br />

»Klassikers der Zivilisationstheorie«, Norbert Elias, haben. Daneben treten aber mehrere Phasen<br />

selbständigen Arbeitens. Schon am Anfang eines Kurses im Bereich des Diskursfeldes Zivilisation<br />

sollte die Geschichte von Elementen des Alltags zwischen Mittelalter und Moderne entdeckt und in<br />

Berichten und Rollenspielen verdeutlicht werden. Wie wir uns grüßen, wie wir essen, wie wir<br />

lieben, wie wir hassen und unsere Aggressionen verarbeiten wird kaum durch die »Zehn Gebote«,<br />

sehr wohl aber durch die Zivilisationsnormen bestimmt, ist daher auch zwischen den Völkern und<br />

den Zeitaltern sehr unterschiedlich geregelt: die wichtigste Voraussetzung für ein »Interkulturelles<br />

Lernen«!<br />

Einerseits stellen die ökonomisch mächtigen Nationen des »Westens« des Anspruch, ihre<br />

Alltagswerte <strong>als</strong> verbindlichen und unbezweifelbaren Lebensstil zu »universalisieren«, d.h. global<br />

durchzusetzen – und rufen damit oft Verachtung, Entrüstung und Hass bei den abhängigen Völkern<br />

der Peripherien hervor (der so genannte »Krieg der Kulturen« nach Huntington) –, andererseits<br />

zerfällt die Verbindlichkeit dieser zivilisatorischen Regeln in den Industriestaaten selbst im<br />

dominanten Prozess der ökonomisch begründeten und durch Medien durchgesetzten Tendenz zur<br />

Individualisierung. Diese Widersprüchlichkeiten des Zivilisationsprozesses besser begreifen zu<br />

können und Folgerungen für unsere eigenen Verhaltensnormen zu ziehen, wird Aufgabe dieses<br />

<strong>Unterricht</strong>s sein.<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

Geschichte des Essens und der Tafelsitten<br />

Geschichte des Bades und der Körperpflege<br />

Geschichte des Arbeitstages<br />

Geschichte des Schnäuzens, Spuckens und Rülpsens...<br />

Geschichte der Angriffslust und der Alltagsgewalt<br />

Geschichte der Liebe und der Sexualität<br />

Der interkulturelle Kontakt verlangt nicht nur den historischen Blick und die zeitliche<br />

Verfremdung, sondern auch die Begegnung mit dem Alltag des Fremden. Dazu könnten im zweiten<br />

Teil eines solchen Kurses [97] Referate gehalten werden über die Selbstverständlichkeiten unserer<br />

europäischen Nachbarn. Vielleicht können hier auch eigene Erfahrungen und Erlebnisse mit<br />

eingebracht werden?<br />

Höflichkeit, Alltag und Gesellschaft in Frankreich<br />

Höflichkeit, Alltag und Gesellschaft in England<br />

Höflichkeit, Alltag und Gesellschaft in Polen<br />

Höflichkeit, Alltag und Gesellschaft in Russland<br />

Höflichkeit, Alltag und Gesellschaft in ... ... ...<br />

Die Frage nach der Zukunft der Zivilisation führt zu der Frage nach der Zukunft der Schule <strong>als</strong> Instanz<br />

der Wertevermittlung und der Enkulturation, der Einführung in die zivilisatorischen<br />

Standards... Wie ist dann dieses – pessimistische? – Statement zu beurteilen: »Die Zivilisation ist<br />

nicht gefährdet, die Zivilisation ist schon beendet!« Stimmt das mit dem eigenen Gesellschaftsbild<br />

überein? Diese Selbstbezüglichkeit ist bei der Behandlung von »Wertethemen« und in den eigent-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 36


lichen »Wertefächern«, die wesentliche Wirkungen im Bereich der Politischen Bildung evozieren,<br />

besonders wichtig.<br />

Zu erkennen ist im <strong>Unterricht</strong> zunächst einmal, dass »Zivilisation« die Summe der »selbstverständlichen«<br />

Verhaltensregeln, Sichtweisen und Realitätsdefinitionen des Alltags ist, die ein Zusammenleben<br />

der Menschen ermöglichen sollen, fernab der hohen Werte, der religiösen, moralischen<br />

und philosophischen Normen. Zivilisation ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Produkt der<br />

Geschichte des gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Konflikte und kollektiven Erfahrungen, vor<br />

allem aber auch der Prozesse der Machdurchsetzung und der Herrschaftsansprüche, die über<br />

Sprache, Höflichkeit, Umgangsformen und Tabus bestimmen wollen.<br />

4.523 Die Zivilisation im Staatenbildungsprozess: Ein problematisches Wahrnehmungsfeld<br />

„Der Staat“ (<strong>als</strong> nicht besonders zutreffende Übersetzung auch für das altgriechische Gebilde<br />

„Polis“ ebenso gebraucht wie für antike und mittelalterliche „Reiche“ oder ethnische Stammesverbände<br />

oder die modernen „Nation<strong>als</strong>taaten“) ist eine gedankliche Kategorie, die eine Vielheit historisch<br />

differenzierter Formen organisierten oder institutionalisierten, machtgeordneten menschlichen<br />

Zusammenlebens subsumiert. Staatstheorien sind daher viel weniger Erklärungen zum Verständnis<br />

vorfindbarer Realitäten – diese werden von den historischen Sozialwissenschaften erarbeitet – <strong>als</strong><br />

Versuche, offensichtliche Probleme und Defizite im gesellschaftlichen Zusammenleben durch ordnende<br />

gedankliche Konzepte zu begreifen und politisch handhabbar zu machen. Die Inhalte dieser<br />

Konzepte, Kategorien oder Utopien, sind daher unmittelbar abhängig von den anthropologischen<br />

Grundannahmen und Überzeugungen – z.B. über die Befähigung des Menschen zum Zusammenleben<br />

und die Ursachen der Sozialen Ungleichheit – der Gesellschaft bzw. der Philosophie, <strong>als</strong> auch<br />

von den ethischen Prämissen und Wertvorstellungen, von denen das ordnende Denken des Philosophen<br />

ausgeht – Gerechtigkeitspostulat, Freiheitspostulat, Individualitätspostulat etc. – .<br />

An exemplarischen Beispielen – Platon, Rousseau/Hobbes, Staatsgesellschaftstheorien/Communitarismus<br />

– können im Bereich der Diskurse zum Schlüsselproblemfeld »Zivilisation, Gesellschaft,<br />

Staat« einmal philosophisch-geschichtliche Marksteine für die anthropologische und ethische<br />

Fundierung des Staatsgedankens im historisch-gesellschaftlichen Wandel gesetzt werden,<br />

andererseits sind mit diesem Vorgehen grundsätzliche Einsichten in die historisch-sozialen<br />

Bedingtheiten des Denkens zu vermitteln. [98]<br />

4.53 Zur heutigen sozialgeschichtlichen Problematik der Soziogenese der „Höflichkeit“<br />

Norbert Elias hat mit Blick auf die mitteleuropäische Geschichte die Interdependenz der Entwicklung<br />

der „Staatsgesellschaft“ in den entstehenden europäischen Nation<strong>als</strong>taaten mit der fundamentalen<br />

Habitusentwicklung vom „mittelalterlichen Menschen“, der vom Leben in der Feudalgesellschaft<br />

bestimmt war, zur „modernen Zivilisation“ <strong>als</strong> komplexen und an Verschiebungen von<br />

gesellschaftlichen Machtbalancen geknüpften Prozess dargestellt und historisch belegt. Die innere<br />

Differenzierung und Spannweite dieses Prozesses konnte er durch den Vergleich der unterschiedlichen<br />

Entwicklungen in Frankreich und Deutschland, den Vergleich französischer „civilté“ und<br />

deutscher „Kultur“ darstellen.<br />

Die nachfolgenden Ausführungen sollen deutlich machen, dass der wissenschaftliche Diskurs zum<br />

Schlüsselproblem »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« zunächst einen anderen Charakter zeigt <strong>als</strong> die<br />

unmittelbare gesellschaftliche Wahrnehmung z.B. des »höflichen Verhaltens« und der interkulturellen<br />

Wahrnehmungsdifferenzen der Alltagskultur. So ist zum einen die innere, gesellschaftliche<br />

Einheit dieses Diskurses zu erweisen und dann zu erarbeiten, dass dieser Diskurs grundsätzlich<br />

interdisziplinär zu führen ist und im Ergebnis offen ist. Es ist nicht von einem abgeschlossenen<br />

Ergebnis der zivilisationstheoretischen Realitätserschließungen auszugehen, sondern wesentliche<br />

neue, gerade auch diskursfeldübergreifende Fragestellungen ergeben sich gerade im Rahmen der<br />

Rezeption der bahnbrechenden Arbeiten von Elias und Wallerstein. Diese Diskurse sollen hier nicht<br />

inhaltlich weitergeführt werden; es genügt in einem Aufsatz über die Konsequenzen der Krise der<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 37


<strong>Politik</strong> und der Krise der Politischen Bildung mit seiner deutlichen didaktischen Akzentuierung,<br />

diese offenen Frageperspektiven anzudeuten, um damit die Bedeutung des öffentlichen Diskurses<br />

für den notwendigen Paradigmenwechsel in <strong>Politik</strong> und Politischer Bildung zu verdeutlichen und<br />

damit auch die Notwendigkeit der inhaltlichen Offenheit von Schlüsselproblemen im geforderten<br />

Prozess der permanenten curricularen Revision zu betonen. Es erscheint aber dennoch sinnvoll,<br />

noch einmal eine Zusammenfassung der wichtigsten Elemente zivilisationstheoretischer Fragestellungen<br />

zu formulieren, soweit sie Grundlage für eine didaktische Umsetzung sind, wie wir sie<br />

vorstehend, von der unmittelbaren gesellschaftlichen Wahrnehmung ausgehend, versucht haben zu<br />

formulieren.<br />

Im Zentrum der Habitusentwicklung steht eine grundlegende Verhaltensänderung und eine Änderung<br />

der gesellschaftlichen und individuellen Realitätssichten und Wertorientierungen, die<br />

zunächst gekennzeichnet sind durch die zunehmende Zentralisierung und Orientierung auf den<br />

„Hof“ hin, welcher Anerkennung und Praktizierung von „höfischen Verhaltensstandards“ verlangt,<br />

ein Prozess, der und am Vorabend der Französischen Revolution seinen Höhepunkt erreicht hat,<br />

dann aber in einem lang andauernden Internalisierungsprozess und einer sozialhierarchischen<br />

Durchsetzung von „Zivilisationsstandards“ und „Habitusformen“ genereller und allgemein verbindlicher<br />

durchgesetzt wird. Dies geschieht auch im Sinne einer machtbezogenen kulturellen „Homogenisierung“,<br />

die eng verknüpft ist mit der Entstehung und Durchsetzung des Bildes der Nation, des<br />

Volkes und der Ethnie. Diese Durchsetzung erfolgt in einem asymmetrischen Prozess „von oben<br />

nach unten“, vom Hof über das aufsteigende Bürgertum hin letztlich auch in die Arbeiterschaft und<br />

die Arbeiterbewegung. [99]<br />

Elias erklärt damit ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Entwicklung Europas und der<br />

Habitusunterschiedes des „mittelalterlichen Menschen“ und des „modernen Staatsbürgers“. Das entspricht<br />

wissenschaftsgeschichtlich der historisch-soziologischen Forschungsmotivation, bei der die<br />

Biographie von Elias und anderen bedeutenden Sozialwissenschaftlern sicher erhellend herangezogen<br />

werden kann, vor dem Hintergrund des traumatischen Erlebnisses des Zusammenbruchs<br />

der <strong>als</strong> gültig geglaubten Zivilisationsstandards in der Zeit des Nation<strong>als</strong>ozialismus in Deutschland<br />

und im Zweiten Weltkrieg, die bisherige „Selbstverständlichkeiten“ fragwürdig und erneut erklärungsbedürftig<br />

werden ließen.<br />

Es wäre aber ein Missverständnis, diesen Forschungsansatz einfach „umdrehen“ zu wollen und <strong>als</strong><br />

allgemeine Beantwortung der Frage nach der gesellschaftlich-historischen Entstehung von „höflichen<br />

Habitusformen“ verstehen zu wollen. Gerade in einem heute über Deutschland und Europa<br />

hinausblickenden Forschungsinteresse ist deutlich zu machen, dass das, was wir in Mitteleuropa <strong>als</strong><br />

„höfliches Verhalten“, <strong>als</strong> Internalisierung, Habitualisierung und Ritualisierung von sozialen „befriedenden“<br />

Umgangsformen verstehen, auch in anderen Kulturen und unter abweichenden soziogenetischen<br />

und psychogenetischen Bedingungen seinen Platz hat und für Erhalt und Selbstverständnis<br />

dieser Kulturen eine zentrale Bedeutung einnimmt.<br />

Gerade der unter Heranziehung der Ansätze der „Weltsystemtheorie“ nach Immanuel Wallerstein<br />

aktuell gewordenen Forschungsrichtung, die sich auf das Entstehen regionaler und globaler zentralperipherer<br />

Disparitäten konzentriert und dabei die „schillernde und ambivalente“ gesellschaftliche<br />

und sozioökonomische Situation in den „Semiperipherien“ in den Vordergrund rückt, zeigt nur zu<br />

deutlich, dass hier ein auf die europäische Geschichte reduzierter Habitusbegriff der „Höflichkeit“<br />

nicht ausreicht. „Höflichkeit“, bleiben wir trotz semantischer Bedenken bei diesem Begriff, spielt<br />

nicht nur eine psychogenetische Schlüsselrolle in der Herausbildung der modernen Staatsgesellschaft,<br />

sondern kann geradezu in gegenteiliger Funktion zur Stabilisierung von machtschwachen<br />

Gruppen beitragen. Gerade das Fehlen des institutionalisierten Nation<strong>als</strong>taates macht die<br />

stabilisierende Funktion von internalisierten kollektiven Wertbegriffen und ritualisierten Alltagsverhaltensweisen,<br />

die uns in hohem Maße <strong>als</strong> „zivilisiert“ und „höflich“ erscheinen wollen,<br />

notwendig.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 38


Solche Begriffe, die auch in der europäischen Gesellschaft vor der Herausbildung der Staatsgesellschaften<br />

eine wichtige Rolle spielten, sind z.B. der zentrale Begriff der „Ehre“, im engeren<br />

Sinne vor allem der „Familienehre“, aus dem das Verhalten der Blutrache, der „Vendetta“,<br />

abzuleiten ist – das dann wieder vor dem Hintergrund der modernen europäischen Durchsetzung<br />

des „Gewaltmonopols“ des Staates <strong>als</strong> „unzivilisiert“ und „anachronistisch“, gar <strong>als</strong> Verstoß gegen<br />

die „Menschenrechte“ erscheint und wahrgenommen wird –, oder das Rechtsgebot der „Gastfreundschaft“,<br />

das durchaus nicht aus religiösen Geboten abzuleiten ist, sondern der Pazifizierung und<br />

Stabilisierung einer nicht staatsgeordneten Gesellschaft dient.<br />

Gerade Staaten, die durch innere und äußere historische Faktoren erst spät eine Transformation zur<br />

modernen Staatsgesellschaft eingeleitet haben, die z.T. bis heute nicht widerspruchsfrei abgeschlossen<br />

ist, wie z.B. Polen oder die Türkei, die beide den schillernden Begriff der „Semiperipherien“<br />

und der „Transformationsgesellschaft“ illustrieren, zeigen bis heute nichtstaatsgesellschaftliche<br />

Höflichkeitsformen und habitualisierte Verankerungen in traditionellen Verhaltens- und Wertstrukturen.<br />

Dies sollte der Ansatz sein, über Elias hinausgehend, den Zivilisationsbegriff in<br />

historisch-kultureller Hinsicht zu erweitern und neu zu reflektieren.<br />

Es wird nicht leichter, dass auch in diesen Semiperipherien über gewisse historische Zeiträume<br />

echte höfische Kulturen entstanden sind, wie der Sultanshof des Osmanischen Reiches oder die<br />

Magnatenhöfe der Szlachta-Gesellschaft in Polen, deren nostalgisch-romantisierende Reminiszenz<br />

im 19. Jahrhundert sich noch im so genannten Sarmatismus wieder fand. Doch waren diese<br />

Perioden keineswegs Auftakt zur Herausbildung nationaler Staatsgesellschaften wie in Westeuropa.<br />

Der Sarmatismus <strong>als</strong> „anachronistische“ Bewegung, der sich Vertreter des alten, entmachteten<br />

Szlachta-Adels ebenso zuordneten wie national-romantische Dichter und Intellektuelle, die in<br />

überkommenen Lebensstilen und Habitusorientierungen Halt und Sinngebung gegen die allgemeine<br />

Entwicklung der Gesellschaft suchten, ist eine ebenso typische und für Polen und Länder der<br />

Semiperipherien in der Neuzeit bezeichnende Funktionalisierung des „höflichen Habitus“, der jetzt<br />

aber nicht vom Machtzentrum, vom „Hof“ ausgeht, sondern <strong>als</strong> gegenläufiger Prozess den eingeleiteten<br />

Verschiebungen der innergesellschaftlichen Machtbalancen entgegengesetzt wird. Das<br />

Festhalten an einem längst nicht mehr real existenten Macht- und Kulturzentrum des „Hofes“, seine<br />

völlige Internalisierung in der Alltagskultur, ist der unbewusste Versuch, notwendige gesellschaftliche<br />

Modernisierungsschübe aufzuhalten, ist Ausdruck einer „Angst vor der Moderne“.<br />

dass diese anachronistische Habitusorientierung sehr häufig religiös motiviert und legitimiert wird,<br />

basiert auf dem Unvermögen, sich bewusst Antimodernismus oder, in einer polemischeren Auseinandersetzung<br />

„reaktionäre Gesinnung“ einzugestehen und zuschreiben zu lassen. Religion wird<br />

in diesem Sinne gesellschaftlich funktionalisiert. Das geschah im Sarmatismus in Polen mit dem<br />

Katholizismus, der erst <strong>als</strong> „Bollwerk gegen die Moderne“, später im 20. Jahrhundert aber auch <strong>als</strong><br />

„Gegenmacht“ gegen den <strong>als</strong> Oktroi wahrgenommenen (vor allem den sozialistischen) Staat<br />

funktionalisiert wurde.<br />

Im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts formierte sich in ähnlicher Weise eine sich religiös<br />

definierende antimodernistische Bewegung, in der sich die ihren Einfluss verlierenden Hodschas<br />

(türk. hoca, ländlichen Religionslehrer [100] ) und die nicht zur geistigen Elite zählenden Ulemas<br />

(islamische Theologen) mit traditionalistischen Großgrundbesitzern (Feudalherren, Aǧas) und<br />

ländlich-regionalen Funktionsträgern und Honoratioren der Feudalgesellschaft gegen die von<br />

westlichen Intellektuellen vor allem in der Hauptstadt İstanbul eingeforderte grundlegende<br />

Modernisierung der Türkei formierten. In halbherziger Form schloss sich der Sultanshof zeitweise<br />

der Einsicht in diese Modernisierungsnotwendigkeit an und leitete die Phase der tanzimat-Reformen<br />

ein; vor allem aber das Militär, geschockt durch eine Reihe von Niederlagen, wurde zum<br />

Bannerträger eines westlich orientierten Modernismus, wie es sich vor allem seit der Zeit der<br />

Jungtürkischen Revolution zeigte, und wurde damit zum entschiedenen Gegner religiöser, regionalistischer<br />

und ländlicher traditionalistischer separatistischer Bewegungen. Die heutige Situation<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 39


und Machtverteilung in der Türkischen Republik schließt sich nahezu bruchlos an die dam<strong>als</strong><br />

herausgebildeten Gruppierungen und Machtrivalitäten in der Gesellschaft an.<br />

In einer zivilisationstheoretischen Überlegung ist es dabei von besonderem Interesse, dass innerhalb<br />

der genannten Gruppen jeweils rivalisierende Machteliten herausgebildet werden, die sich in jeweils<br />

sehr ähnlicher Form gleicher psychogenetisch zu verstehender zivilisatorischer Durchsetzungsprozesse<br />

bedienen, inhaltlich dabei in gleicher Weise traditionell sind. „Höflichkeit“ <strong>als</strong> ritualisiertes<br />

und formalisiertes, der Konfliktvermeidung dienendes Alltagsverhalten, ist beiden Seiten zu eigen.<br />

Vier unterschiedliche zivilisatorische Formen und Funktionen der „Höflichkeit“ können daher<br />

zunächst einmal verglichen und nebeneinander gestellt werden. Einmal in der Form des traditionellen<br />

west-mitteleuropäischen Zivilisationsprozesses, der vom Hof ausgeht und gleicherweise<br />

eine Machtzentralisierung durch die Durchsetzung des Gewalt- und Steuermonopols, eine kulturelle<br />

„Homogenisierung“ und die Durchsetzung des Nationenbegriffes umfasst und damit die<br />

Entwicklung des modernen Nation<strong>als</strong>taates wie der „Staatsgesellschaft“ begleitet und ermöglicht.<br />

Diese von Elias vor allem untersuchte Form des Zivilisationsprozesses ist typisch für die späteren<br />

Länder der globalen sozio-ökonomischen Zentren, wobei später dazu stoßende Räume wie die USA<br />

und erst recht nach dem 2. Weltkrieg Japan noch gesondert untersucht werden müssen. In beiden<br />

Ländern sind gemessen am Maßstab westeuropäischer staatsgesellschaftlicher Zivilitätsvorstellungen<br />

auch heute noch erhebliche Defizite festzustellen. Japan hat zwar eine westlich orientierte<br />

ökonomische Funktionselite herausgebildet, doch sind vorherrschende Lebensmodelle und wichtige<br />

Züge der Politischen Kultur, die sich z.B. auch im autoritär-hierarchischen Bildungswesen ausdrücken,<br />

eher traditionalistisch und tragen gewisse Charakterzüge einer vormodernen »geschlossenen<br />

Gesellschaft«. In den USA ist auch das Gewaltmonopol des Staates weitaus weniger durchgesetzt<br />

<strong>als</strong> in Europa, was sich am verfassungsmäßigen Recht, Waffen zu tragen und einer hohen<br />

gesellschaftlichen Akzeptanz der Selbstverteidigung ablesen lässt. Auch die Zivilitätsmerkmale des<br />

europäischen Wertekanons, Egalitätsvorstellungen, soziale Verantwortung des Staates, Ablehnung<br />

der Todesstrafe, haben sich in den USA nicht in dieser Weise durchgesetzt. [101] Ob dies nun<br />

grundsätzlich <strong>als</strong> Modernitätsdefizit zu werten ist, oder ob die europäischen Zivilitätsvorstellungen<br />

relativiert werden müssten, um auch Zivilisationsmodelle der Moderne, die bewusst stärker auf<br />

Dezentralität, Subsidarität und kommunitaristische Ordnungsvorstellungen bauen, <strong>als</strong> gültige<br />

Alternativen verstehen zu können, sei dahingestellt; es berührt aber die grundsätzliche Problematik<br />

der Übertragbarkeit gesellschaftlicher Wertvorstellungen und dem alternativen Konzept des<br />

Kulturrelativismus und hat damit unmittelbare Folgen auf Wertungs- und Einordnungsmöglichkeiten<br />

auch gegenüber Kulturen außerhalb der sozio-ökonomischen Zentren, wie z.B. des Kulturkreises<br />

des Islam. Das leitet zu einem weiteren Zivilitätskonzept über, das hier angesprochen<br />

werden soll.<br />

Neben den europäischen Zivilitätsvorstellungen sollten auch hochritualisierte Zivilitätsformen mit<br />

einem ausdrücklichen „Höflichkeitshabitus“ nicht ausgespart bleiben. Elias selbst kommt z.B. beim<br />

Darstellen der Zivilisationsprozesse bei Alltagsverrichtungen wie dem Essen auf chinesische<br />

Speiserituale und -sitten <strong>als</strong> Beispiel hoch entwickelter Formen des „Hinter-die-Kulissen-Legens“<br />

des Persönlichen, Gewaltsymbolhaften, Intimen zu sprechen. Diese Höflichkeit <strong>als</strong> »Höfischkeit«,<br />

die von den Feudalhöfen ausgeht, ist bei einer interkulturellen Zivilisationsgeschichte von<br />

außerordentlicher Bedeutung, auch wenn die west-mitteleuropäische historische Komponente der<br />

Entwicklung des Nation<strong>als</strong>taates und der modernen Staatsgesellschaft hier vollständig fehlt. Der<br />

persische Hof gehört zu diesem Typus seit Jahrhunderten dazu ebenso wie das mittelalterliche<br />

islamische Kalifat von Damaskus und Baghdad; ebenso alte Hofkulturen in Indien, Südostasien,<br />

Afrika und dem vorkolumbianischen Amerika. Es ist fraglich, ob es hier historisch ausreicht, von<br />

Vormoderne oder im gesellschaftlichen Prozess „unabgeschlossenen Zivilisationsprozessen“ zu<br />

sprechen, oder ob eher der west-mitteleuropäische Weg vor dem Hintergrund der ökonomischen<br />

Modernisierung seit dem Zeitalter des Imperialismus <strong>als</strong> der weltgeschichtliche Sonderweg auch in<br />

Hinblick auf die Zivilisationsprozesse gewertet werden muss.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 40


Der dritte davon abweichende Zivilisationsprozess konzentriert sich auf das Festhalten an überkommenen<br />

Höflichkeits- und Zivilitätsvorstellungen beim drohenden Einflussverlust durch Modernisierungsprozesse<br />

und konzentriert sich auf älterer Ober- und Funktionsschichten. Die Wortführer<br />

so genannter „fundamentalistischer“ religiöser Schichten gehören in diese Gruppe.<br />

Habitualisierte „Höflichkeit“ ist aber auch ein Mittel und ein Symbol der Widerständigkeit<br />

machtarmer Schichten, die sich in ihrer Formung nicht an konkretem höfischem Verhalten, sondern<br />

an unreflektiert überkommenen Verhaltensmustern und mythischen Realitätsdeutungen orientiert.<br />

Verharrung und Abwehr gegenüber Veränderungs- und Modernisierungszumutungen sind die<br />

gesellschaftliche Funktion dieser gruppenorientierten Form traditionalistischen Verhaltens, wie es<br />

in ruralen Gesellschaften die Regel ist. Gerade diese Verhaltensrituale sind heute in Ländern der<br />

Semiperipherien wichtigste Widerstände gegen sozio-ökonomische Modernisierungsschübe und<br />

staatsgesellschaftliche Entwicklungen, wie es die Genese des Südostanatolienkonfliktes sehr<br />

deutlich zeigt. [102] Gerade hier zeigt sich aber auch die grundsätzliche Ambivalenz zivilisatorischer<br />

Prozesse, die zum einen durch Angst vor der Moderne, Widerstand gegen Veränderungs-, Homogenisierungs-<br />

und Integrationszumutungen [103] motiviert sein können, zum anderen aber auf Symbolund<br />

Kategorienrepertoires zurückgreifen (müssen?), wie der Entwicklung von nationalen und<br />

ethnischen Herkunfts- und Zusammengehörigkeitsmythen.<br />

Aus der Sicht einer interkulturell orientierten historischen Soziologie differenziert sich <strong>als</strong>o das Bild<br />

der Zivilisationsprozesse deutlich und wirft letztlich mehr Fragen auf, <strong>als</strong> die theoretischen Ansätze<br />

bislang an historischen Realitäten erklären können. Doch zeigt eine aktuelle Fortführung des historisch-soziologischen<br />

Diskurses sehr bald, dass heute auch wissenschaftlich neben die Frage nach<br />

Herkunft und Entwicklung der Zivilisation die Frage nach dem »Ende der Zivilisation« und nach<br />

den »zivilisatorischen Alternativen« tritt.<br />

4.54 Das Problem der Dezivilisierung<br />

Zivilität ist keine »Einbahnstraße«, sondern ein permanenter gesellschaftlicher Kampf um die<br />

Durchsetzung und Gültigkeit zivilisatorischer Verhaltensstandards. Diese zivilisierenden gesellschaftlichen<br />

Ziele sind aber, wir haben es angedeutet, immer in Machtprozesse eingebunden, mit<br />

Verschiebungen in den Machtbalancen verbunden und daher nicht unwidersprochen. Verhaltensmächtige<br />

gegenläufige Prozesse lernen wir im Diskurs »Individualisierung, Gewalt, Soziabilität«<br />

kennen. „Die Zivilisation, so wird man nach alldem sagen müssen, ist nicht bedroht. Sie ist<br />

schon vorbei“ schreibt Stefan Breuer 1993. Wesentliche materielle Gründe für diese wahrgenommene<br />

und beklagte Dezivilisierung finden sich in den sozio-ökonomischen Kontexten des<br />

Diskurses »Universalisierung, Globalisierung, Ökonomisierung«. Doch verlangt die Diagnose »Dezivilisierung«<br />

einer differenzierteren Sichtweise, die über den reinen Moralismus und die<br />

millenniaren Ängste hinausweist.<br />

Doch ist diese Wahrnehmung, in einer zunehmend gewalttätigen Welt zu leben, eine gültige<br />

Grundbefindlichkeit, die wesentlichen Einfluss sowohl auf das innergesellschaftliche Zusammenleben<br />

wie auf die über die nationalen Grenzen hinausblickenden Perspektiven und interkulturellen<br />

Werturteile nimmt. Louis Begley, den wir schon Eingangs zitiert haben, fasst diese<br />

Wahrnehmung in folgende Worte: „Straftaten einzelner in nie da gewesener Brutalität und<br />

Häufigkeit sind ein weiteres Symptom für die Ausbreitung des Virus Gewalt. Jack the Rippers Prostituiertenmorde<br />

in London am Ende des vorigen Jahrhunderts sind zahm im Vergleich zu den Serienmorden<br />

mit Folter und Kannibalismus, die in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten<br />

begangen wurden, dem Gemetzel von Männern, die mit automatischen Waffen in Menschenmengen<br />

feuern, der lautlosen Grausamkeit von Heckenschützen, die sich auf einem friedlichen<br />

Universitätscampus Opfer herauspicken, oder dem Giftgasanschlag in der U-Bahn von Tokio.“<br />

Unabhängig davon, ob wir der Diagnose folgen wollen, dass damit tatsächlich eine Gewaltzunahme<br />

bezeichnet werden kann, oder ob nicht verbesserte Tötungsmittel und bessere Kommunikationsmittel<br />

ein verändertes Bild der Gewalt erzeugen, ist die Wahrnehmung einer Gewaltzunahmen real<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 41


und verhaltenswirksam [104] . Gewalt interessiert in diesem diskursiven Kontext aber weniger <strong>als</strong><br />

psychologisches Problem denn <strong>als</strong> Ursache oder Folge von Dezivilisationsprozessen. Gleichmann<br />

(1995) paraphrasiert im Titel eines sehr anrührenden Aufsatzes eine Aussage von Norbert Elias,<br />

wenn er die Frage stellt: „Sind Menschen in der Lage, vom gegenseitigen Töten abzulassen?“<br />

Weit über die individuelle Gewalt zielt diese Frage auch und zuerst auf die staatliche Gewalt, auch<br />

die Gewalt der Kriege und in den Kriegen. Entsteht doch hier im west-mitteleuropäischen<br />

Zivilisationsprozess ein Verständniswiderspruch, wenn die Durchsetzung des Gewaltmonopols<br />

durch die entstehenden Nation<strong>als</strong>taaten gleichzeitig die Identität von Staatssouveränität und<br />

Staatsräson mit der Fähigkeit und Bereitschaft zur Kriegführung gleichzusetzen ist. Kulturkritische<br />

Perspektiven können hier durchaus sinnvoll die Frage nach der Gewichtung der Leidpotentiale<br />

innergesellschaftlicher individueller Gewalt zur staatlichen Gewaltausübung in Kriegen, in Diktaturen,<br />

letztlich im Holocaust stellen. Oder evoziert staatliche Gewalt letztlich sogar zusätzliche<br />

individuelle Gewalt, wenn sie zum Beispiel in Kriegssituationen im Sinne der Kriegsführungsfähigkeit<br />

die Tötungsbarrieren herabsetzt, weg erzieht durch militärische Institutionalisierung [105] ,<br />

die im zivilen Leben gültigen Zivilisationsstandards temporär und situativ außer Kraft setzt, und<br />

nicht nur dies, sondern die zivilen, <strong>als</strong> »natürlich« empfundenen Affekte und Emotionen unterdrückt<br />

oder verbietet: Mitleid, Empathie, Angst, Todesfurcht, Tötungshemmung und dagegen setzt:<br />

Entpersonalisierung, Hass, Aggression, Gehorsam. [106]<br />

Wie sehr dies Thema, dieser bedrückende Sachverhalt auch heute an gesellschaftliche Emotionen<br />

rührt, zeigt die emotionalisierte kontroverse, z.T. äußerst aggressiv geführte öffentliche und private<br />

Auseinandersetzung um die verdienstvolle Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht, die<br />

1998 in vielen deutschen Großstädten gezeigt wurde und von sehr vielen Besuchern, darunter auch<br />

vielen Schulklassen aufgesucht worden ist.<br />

Birgit Beck (1998) ist in diesem Zusammenhang der Frage nachgegangen, inwieweit ein solch<br />

»persönliches Verbrechen« wie die Vergewaltigung von Frauen im Zweiten Weltkrieg Teil einer<br />

bewussten Kriegsstrategie gewesen ist. Auch wenn dies für die Befehlsebene der Armeen nicht<br />

zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, ist doch zumindest die Duldung der Vergewaltigung von<br />

Frauen – auch Kindern und jungen Mädchen! – des Feindes <strong>als</strong> Massenphänomen, wenn nicht ein<br />

unausgesprochenes Fördern dieses Verhaltens an der rechtlichen Beurteilung und Behandlung der<br />

Täter deutlich erkennbar. Die Grenze der Gewalt, die Schamgrenze und die Tötungshemmung der<br />

Zivilisation werden sehr weit weg geschoben. „Im Hinblick auf die Verantwortung der<br />

militärischen und politischen Führung und die Einordnung von Notzuchtverbrechen <strong>als</strong> Mittel der<br />

Kriegführung bietet sich hier vor allem der Rückgriff auf interne Mitteilungen an. So wurden durch<br />

Wehrmachtstellen dem Reichssicherheitshauptamt Informationen über Ausschreitungen von SS-<br />

Angehörigen in den besetzten Ostgebieten übermittelt. In einem Schreiben des Wehrmachtamtes im<br />

Oberkommando der Wehrmacht an den SS-Obergruppenführer Wolff wurde beklagt, dass ‚die Zahl<br />

von Vergewaltigungen ... groß‘ sei. Durch die Geheime Feldpolizei konnten 18 Fälle von<br />

Notzuchtverbrechen ermittelt werden, wobei in 12 Fällen die Täter Angehörige der Waffen-SS<br />

waren und bei den übrigen Beteiligten die Gruppenzugehörigkeit nicht mehr nachgewiesen werden<br />

konnte. [107] Über die Zustände in Rogosjanka meldete der Chef des Allgemeinen Wehrmachtamtes<br />

‚Viehdiebstähle, Verprügeln der Einwohner, Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen‘. [108] Bei<br />

den meisten dieser Straftaten soll es sich um Gruppenvergewaltigungen gehandelt haben, die<br />

häufigste Art von Sexualdelikten in Kriegen, da sich die Männer zumeist in kleineren Verbänden<br />

und Gruppen aufhalten. Bei dieser Form von Vergewaltigung spielt das Motiv, vor den Mittätern<br />

seine Männlichkeit beweisen zu wollen, eine wichtige Rolle. [109] Auffällig sind die in dem Schreiben<br />

erwähnten Bestrafungen der Täter. In einem ‚besonders. krassen Fall von Vergewaltigung einer<br />

über 70 Jahre alten Frau und deren Tochter durch neun SS-Männer‘ wurden die beiden Rädelsführer<br />

lediglich ‚strafweise versetzt‘, und auch die versuchte Vergewaltigung von zwei Frauen durch einen<br />

SS-Angehörigen wurde mit drei Tagen Arrest sehr milde geahndet. [110] “<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 42


Die sozialpsychologische Dimension wird aber dann noch deutlicher, wenn die Aufmerksamkeit<br />

verstärkt nicht nur auf den Krieg und das Kriegsgeschehen selbst fällt, sondern auf die Kriegsvorbereitung.<br />

Ehe ein Feind bekämpft wird, muss er erst <strong>als</strong> Feind definiert werden. Das Themenfeld<br />

der Fremdheitswahrnehmung <strong>als</strong> zentraler Diskurs in unserer heutigen Gesellschaft wie auch<br />

<strong>als</strong> zentrales Thema der Sozialwissenschaften wurde schon angesprochen<br />

4.6 Diskurs »Universalisierung, Globalisierung, Ökonomisierung«<br />

Globalisierung ist in den Medien seit einiger Zeit ein »ubiquitäres Thema«, dessen Aussagekraft,<br />

Bedeutung und Abgrenzung immer unschärfer und ungenauer wird. Es ist in dieser Form vor allem<br />

für politisch und ökonomisch informierte und interessierte Teilnehmer an öffentlichen Diskursen<br />

ein Modethema geworden. Kein Wunder, dass sich Widerstand gegen dieses Thema sowohl in der<br />

Fachwissenschaft (z.B. beim Soziologen Michael Vester, der die Globalisierungsthese <strong>als</strong> eine<br />

„Phantomtheorie“ bezeichnet [111] ), bei ökonomischen Interessengruppen (wie den Gewerkschaften,<br />

die den Verweis auf die „Zwänge der Globalisierung“ zunehmend <strong>als</strong> unredliches »Schlagtot-<br />

Argument“ wahrnehmen) und vor allem auch bei Angehörigen vieler derjeniger Länder, die in der<br />

Globalisierung eine neue, ökonomistisch verbrämte Form des »westlichen Imperialismus« [112] sehen<br />

wollen und die hinter den ökonomischen Globalisierungsprozessen politische und kulturelle<br />

Hegemonialansprüche Europas vermuten.<br />

Diese Ambiguitäten machen den Diskurs »Universalisierung, Globalisierung, Ökonomisierung«<br />

geeignet, grundlegende Bedenken gegen das diskursive Konzept der Schlüsselprobleme zu<br />

artikulieren und zu diskutieren. Öffentliche Diskurse bilden Realitäten immer in mehreren, oft auch<br />

unüberschaubar vielen Ebenen ab. Aus einer Diskursebene heraus lassen sich zwar konkrete Diskussionsanstöße,<br />

auch in didaktischer Hinsicht, ableiten, jedoch weder ein umfassenderes,<br />

treffenderes Realitätsverständnis im Sinne des leitenden Diskurses noch eine adäquate Formulierung<br />

oder Strukturierung eines »Schlüsselproblems« herleiten.<br />

Die Konsequenz ist widersprüchlich, verlangt sie doch einen distanziert-überblickenden Zugang zu<br />

den gesellschaftlichen Problemen, die dem zu Grunde gelegten innerdiskursiven Realitätsverständnis<br />

zuwider läuft und damit »sinnvollen Umgang« mit gesellschaftlichen Schlüsselproblemen<br />

und Diskursen wiederum abhängig macht von distanzierenden Qualifikationen, die zu<br />

einer Hierarchisierung der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung und damit wieder zu einer<br />

machtorientierten Funktionalisierbarkeit führen. Dieser Widerspruch ist logisch kaum aufzuheben.<br />

Mangels sinnvoller Alternativen, auch im Sinne der erforderlichen grundsätzlichen Widerständigkeit<br />

der Politischen Bildung und ihrer Didaktik, bleibt dennoch das Insistieren auf diskursiver<br />

Realitätserschließung eine Chance, affirmative Bildungsmodelle zu überwinden und auch im<br />

Bereich der Politischen Kultur die grundlegenden Partizipationsforderungen ohne zu Grunde<br />

liegende formalistische Institutionalisierungen »auf den Weg zu bringen«.<br />

Der Diskurs »Universalisierung, Globalisierung, Ökonomisierung« sollte daher eigentlich,<br />

ausgehend von den genannten Kritikfeldern, differenzierter erörtert und aufgefächert werden. Doch<br />

kann in diesem Kontext keine umfassende Übersicht über die umfangreiche Literatur zu diesem<br />

Thema gegeben werden; die Ausführungen sind nicht nur notwendigerweise exkursorisch, sondern<br />

auch nur <strong>als</strong> Diskussionsanstöße für eine didaktisch orientierte Diskussion und Erarbeitung zu<br />

verstehen.<br />

Globalisierung ist zunächst einmal unmittelbar auf die Entwicklung der Wirtschaft und zwar<br />

zunächst auf betriebswirtschaftlicher Ebene zu beziehen und bezeichnet die zunehmende internationale<br />

und interregionale Kapitalverflechtung, die wachsende Flexibilität bei internationalen<br />

Investitionen und die zunehmende Kurzfristigkeit von Investitionsentscheidungen, die eine<br />

schnellere Anpassung auf Veränderungen der Teilmärkte auch im internationalen Kontext ermöglicht.<br />

Voraussetzungen dafür sind einmal der Abbau staatlicher Investitionshemmnisse (Zölle, Einund<br />

Ausführbeschränkungen, Investitionskontrollen, Subventionspraktiken), wie sie zunächst der<br />

GATT, heute die WTO betreibt. Voraussetzung ist aber auch der Aufbau einer geldwirtschaftlichen<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 43


internationalen Infrastruktur, die durch die Internationalisierung des Bankwesens ebenso wie durch<br />

den Aufbau der technischen Kommunikationsnetze begründet ist. Die bedrohlichen Konsequenzen<br />

sieht Horst Afheld, ehem<strong>als</strong> Wissenschaftler am Starnberger Institut zur Erforschung globaler<br />

Strukturen und Krisen, in schon heute existierenden Strukturen:<br />

In den USA leben Unterschichten bereits in Dritte-Welt-Slums, „ohne sich freilich mit tropischen<br />

Sonnenuntergängen oder Familienzusammenhalt trösten zu können“.<br />

Swissair lässt sein Buchungssystem in Indien bearbeiten, Siemens seine Informationssysteme auf<br />

den Philippinen; französische Anwälte beziehen juristische Texte von der afrikanischen Elfenbein-<br />

Küste.<br />

Auch in Deutschland haben Billiglöhne für polnische oder portugiesische Bauarbeiter zum Konflikt<br />

geführt. Und ebenso wie in den USA wachsen in Europa Wohlstandssiedlungen, durch Mauern,<br />

Wassergräben und Wachdienste abgeschottet.“ (Sagolla 1996)<br />

Afheld plädiert hier für eine deutlich wirksame politische Gegenmacht, die er derzeit noch in den<br />

existierenden Nation<strong>als</strong>taaten sieht. Schutzzölle und Regulierungen, <strong>als</strong> letztlich auch staatsinterventionistische<br />

Konzepte, sollten die Phase der bedingungslosen Deregulierung im Interesse sozialverträglicher<br />

Entwicklungsprozesse ablösen. Doch vertritt er hier, wie im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung<br />

mit Gewerkschaftlern und Europapolitikern in Hannover, politische Thesen<br />

abseits vom mainstream, die jedoch durchaus über den sozialpolitischen Ansatz hinausweisen und<br />

auf die grundsätzliche historisch-soziologische Fragestellung verweisen, wie ökonomische Ausweitung<br />

und die Inkorporation weiterer Regionen in sozioökonomische Interdependenzsysteme von<br />

einer Ausweitung gesellschaftlich-politischer Macht begleitet werden kann.<br />

Zur Beurteilung der ökonomischen Globalisierungsprozesse sind aber vor allem die über die reine<br />

ökonomische Beurteilung hinausweisenden Kontexte und Folgerungen zu untersuchen. Und erst<br />

hier wird die Globalisierungsthematik zu einem Diskurs, der wesentlich auch die Politische Bildung<br />

berührt. Ganz grundsätzlich und mit erheblicher theoretischer und politikkonzeptueller Bedeutung<br />

sind die Verschiebungen der Aktivitäts- und Einflussbalancen zwischen den traditionellen<br />

Nation<strong>als</strong>taaten und den wirtschaftenden Subjekten. Gerade hier aber setzen auch schon kritische<br />

Stimmen ein, die die öffentliche Aufmerksamkeit, die sich auf die aktuelle Fusionswelle z.B. im<br />

Automobilsektor, im Banken- und Versicherungswesen wie in den Verkehrs- und Kommunikationsmärkten<br />

richtet, <strong>als</strong> eine Verfälschung der tatsächlichen Gewichte in den ökonomischen<br />

Abläufen einschätzen, welche durch den Primat der mittelständischen und kleineren Unternehmungen,<br />

von noch immer primär auf den Binnenmarkt ausgerichteten Produktions- und Distributionssektoren<br />

auf das Entstehen der Wirtschaftsleistung und die Entwicklung der Beschäftigungssituation<br />

mehr gekennzeichnet ist <strong>als</strong> durch die sicherlich spektakulären ökonomischen Macht- und<br />

Marktgewinne der internationalen Großkonzerne und »Oligopole«. [113]<br />

Auf der anderen Seite wird die politische und soziale Auswirkung der genannten ökonomischen<br />

Globalisierung vor allem für die Länder der so genannten Semiperipherien, aber auch für die<br />

Transformationsländer Ost- und Südosteuropas in weitaus höherem Maße aktuell und brisant, da<br />

hier die in den Ländern der ökonomischen Zentren vorhandenen traditionelle, ausgewogeneren<br />

Wirtschaftsstrukturen <strong>als</strong> Gegengewichte gegen die Machtdominanz der Oligopole weitgehend<br />

fehlen.<br />

Dennoch stellt sich hier das Thema nach einer Neubestimmung und Neugewichtung des<br />

traditionellen Nation<strong>als</strong>taates nach westeuropäischem Muster ganz massiv. Außerhalb der ökonomischen<br />

Zentren finden sich zwar eine Vielzahl von Nationalismen und Ethnifizierungsprozessen,<br />

aber Prozesse des nation building im Sinne einer Entwicklung zur modernen »Staatsgesellschaft«<br />

finden sich kaum in den Ländern der Peripherien und Semiperipherien. Auch in den Transformationsländern<br />

ist diese Entwicklung trotz der ganz bewussten und auch weitgehend von der<br />

Bevölkerung getragenen ökonomischen und gesellschaftlichen Annäherung an west- und mittel-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 44


europäische Staats- und Gesellschaftsformen, oftm<strong>als</strong> verstanden <strong>als</strong> Anknüpfung an eigene<br />

autochthone Entwicklungsansätze vor der Zeit der re<strong>als</strong>ozialistischen Herrschaft, nicht problemfrei<br />

und von Strukturdisparitäten und gesellschaftlichen Konflikten begleitet. Hier ist eine eingehendere<br />

Diskussion nur im Kontext mit den Diskursfeldern »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« und<br />

»Gerechtigkeit, Ungleichheit, Wertewandel« sinnvoll zu führen. Der vorläufige und interdisziplinär<br />

fließende Charakter des Versuches, gesellschaftliche »Schlüsselprobleme« zu formulieren, wird<br />

hier sehr deutlich.<br />

Wichtig ist aber noch ein anderer Bedeutungskontext des Diskurses über die Globalisierungsprobleme.<br />

Ökonomischer Austausch und ökonomische Verflechtungen, die auch mit sich<br />

intensivierenden persönlichen und personellen Kontakten ebenso verbunden sich, wie die<br />

Erschließung internationaler Märkte mit Konsumprodukten, die zumindest ansatzweise auch die<br />

Lebensformen, Symbolwelten und Konsumgewohnheiten, das heißt <strong>als</strong> die Werte und<br />

gesellschaftlichen symbolischen Interaktionsformen des Produkt-Herkunftslandes mit transportieren<br />

und zunehmend nivellierend gegenüber regionalen und lokalen Besonderheiten und Sinnverständnissen<br />

wirken müssen, bedeutet letztlich, auch wenn es ungewollt sein sollte, kulturellen<br />

Universalismus.<br />

Dies kann sehr unterschiedlich rezipiert werden und wirkt damit politisch-gesellschaftlich in höchst<br />

unterschiedlicher Weise. Solange internationale Produkte <strong>als</strong> Erweiterung der materiellen<br />

Konsumchancen wahrgenommen werden, tritt das immanent Fremde nicht in den Vordergrund des<br />

Bewusstseins und der Wirkung. Dabei muss im Bewusstsein bleiben, dass überregionaler<br />

Warenaustausch, Fernhandel die Menschheitsgeschichte vom Kupferhandel der Bronzezeit, über<br />

den Seehandel der altorientalischen Reiche bis zur Seidenstraße und Marco Polo begleitet hat und<br />

unverzichtbares Element gesellschaftlicher Entwicklungen, Innovationen und auch kulturellen<br />

Fortschritts gewesen ist. Kaum ein Land verschließt sich heute dem internationalen Warenaustausch.<br />

Doch dann, wenn neue Konsumgewohnheiten mit traditionellen Lebensformen in Konflikt<br />

geraten, tritt ein politischer Dissens über die Folgen der Globalisierung ebenso in den Vordergrund,<br />

wie in den vielen Fällen, wo von den ökonomischen Zentren ausgehende politische Macht<br />

zur Durchsetzung von Marktöffnungen und Konsumstrategien eingesetzt wird, wenn <strong>als</strong>o nicht die<br />

üblichen Folgen des ökonomischen Wandels im Vordergrund stehen, sondern die Durchsetzung<br />

politischer Macht zum Erhalt ökonomischer Machtdifferenziale.<br />

Wie sich die Folgen der Globalisierungsprozesse im Zusammenhang mit den sozioökonomischen<br />

Transformationen und den daraus resultierenden Migrationsbewegungen auf die heutige Schülerschaft<br />

auswirken, wird schon in der einleitenden Krisenanalyse. Didaktische Ansätze in diesem<br />

Diskursfeld stehen daher zwischen der sehr konkreten Reaktion auf die Situation der eigenen<br />

Schülerschaft, in der sich die Auswirkungen der Globalisierungs- und Universalisierungsprozesse<br />

existenziell wirksam festmachen lassen und diese Prozesse und die mit ihnen verbundenen<br />

Konflikte in der Schule abbilden und <strong>als</strong> <strong>Unterricht</strong>ssituationen wahrgenommen werden, und der<br />

gesellschaftlichen Relevanz und Diskursivität in den politischen Auseinandersetzungen, wie sie uns<br />

in den Medien entgegentreten und wie sie <strong>als</strong> neue Forschungsgegenstände in ihrer tief greifenden<br />

Umstrittenheit an Breite und Aktualität gewinnen.<br />

5. Anmerkungen zu den Konsequenzen für die <strong>Unterricht</strong>spraxis<br />

Die bisherigen Überlegungen gerade auch zur Theorie-Praxis-Problematik haben gezeigt, dass<br />

»Konsequenzen für die <strong>Unterricht</strong>spraxis« nicht in erster Linie <strong>als</strong> Tipps für die »erfolgreiche«<br />

Vermittlung vorbestimmter Wissensinhalte verstanden werden dürfen, sondern sich auf die<br />

didaktischen Denk- und Herangehensweisen beziehen, die dann der unmittelbaren unterrichtlichen<br />

Umsetzung breiten Spielraum lassen.<br />

Die Diskussion des Konzepts der »Schlüsselprobleme« geht von der Vorstellung aus, dass<br />

erfolgreicher und zukunftsoffener <strong>Unterricht</strong> nicht in der »Weitergabe« von Stoffen und Inhalten<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 45


gesehen werden darf, sondern dass die Verantwortung für den <strong>Unterricht</strong> bei den Lehrern und<br />

Lehrerinnen <strong>als</strong> Gestalter der <strong>Unterricht</strong>ssituation und Bezugspersonen der Schülerinnen und<br />

Schüler liegt und liegen muss. Das erstreckt sich damit letztlich auch auf die Verantwortung für die<br />

Inhalte und ihre konkrete Legitimation. Diese Verantwortung kann aber nur dann übernommen<br />

werden, wenn einerseits die institutionellen Voraussetzungen dafür gegeben sind, andererseits die<br />

Qualifikation der Lehrerinnen und Lehrer auch diese Verantwortungskompetenz auszufüllen<br />

erlaubt. Dies hat unmittelbare und wohl auch einschneidende Konsequenzen sowohl für die<br />

Lehrerausbildung an den Hochschulen, wie auch für die Lehrerfort- und -weiterbildung in<br />

Verantwortung der Kultusministerien.<br />

Ein erster Schritt, die Einbeziehung der Schulen und der Lehrerschaft in die Verantwortung für die<br />

<strong>Unterricht</strong>sinhalte und -stoffe zu ermöglichen, ist die Neukonzeption von Rahmenrichtlinien für die<br />

einzelnen Fächer auf der Grundlage des Konzeptes der Schlüsselprobleme, die zwar ansatzweise in<br />

einzelnen Bundesländern, aber wohl noch recht ›halbherzig‹ erfolgt ist. Im curricularen und<br />

methodischen Bereich muss diese didaktische Neuorientierung verstärkt ergänzt werden um die im<br />

folgenden Abschnitt angesprochenen Ansätze von Interdisziplinarität und projektorientiertem<br />

Lernen.<br />

Doch ist dieses Konzept der Schlüsselprobleme erst die eine Seite eines zu fordernden<br />

umfassenderen Innovations- und Modernisierungsprozesses für die Schulbildung. So wie in der<br />

fachdidaktischen Diskussion die Schlüsselprobleme <strong>als</strong> Teil und Ergebnis von Diskurszusammenhängen<br />

konzipiert und verstanden werden, muss die Schule und die Lehrerschaft mehr noch <strong>als</strong><br />

die allgemeine politische Öffentlichkeit bewusst und andauernd in diese konzeptionellen Diskurse<br />

einbezogen werden, um die einzelne Lehrkraft zu befähigen, im diskursiven Kontext verantwortliche<br />

und begründbare didaktische Entscheidungen zu treffen.<br />

Schule muss sich daher wieder <strong>als</strong> Ort der pädagogischen Diskurse verstehen und auch auf dieser<br />

Ebene die viel zitierte Öffnung zur Gesellschaft vollziehen. Damit wird für das konkrete<br />

Individualcurriculum ein Kommunikations- und Interaktionszusammenhang maßgeblich, dessen<br />

primäre Protagonisten Schülerinnen und Schüler auf der einen Seite – in ihrer konkreten aktuellen<br />

und biographisch geprägten Situation – und der betreffende Fachlehrer bzw. die Fachlehrerin –<br />

eingebunden in die Gruppe der Fachkonferenz wie der Klassenlehrerschaft – auf der anderen Seite<br />

jeweils zu beziehen sind auf die gesellschaftlichen Diskurse. Damit wird die traditionelle Fachabgrenzung,<br />

die auf herkömmlichen Fachselbstverständnissen beruht, zumindest ergänzt wenn nicht<br />

langfristig abgelöst durch individuelle Fachprojektdifferenzierungen, die sowohl auf der augenblicklichen<br />

Interaktions- wie Diskurssituation <strong>als</strong> auch auf der konkreten Fachkonferenz der<br />

<strong>Unterricht</strong>enden beruht. Damit kann in verstärktem Maße Biographie im <strong>Unterricht</strong> wirksam<br />

werden. Sinnvoll sind dabei natürlich verstärkte, in der Ausbildung zu erwerbende Kompetenzen<br />

der gesamten Lehrerschaft in den Bereichen der Kulturwissenschaften, gerade unter dem Aspekt der<br />

dauernden Konfrontation mit interkulturellen Situationen, der symbolischen Interaktion, gerade um<br />

das nonverbale und situative <strong>Unterricht</strong>sgeschehen entschlüsseln und verstehen zu können, wie der<br />

Sozialisationsforschung, gerade um einen verantworteten Umgang mit Schülerbiographien zu<br />

erlernen. Interesse, Neugier und Flexibilität muss zuvörderst von der Lehrerschaft selbst erwartet<br />

werden.<br />

In diesem Konzept ist die Einbindung in Diskurse dominierendes Strukturierungsprinzip der<br />

curricularen und didaktischen Arbeit. Erst so wird aus Schlüsselproblemen <strong>Unterricht</strong>, erst so<br />

entstehen immer neu revidierte Schlüsselproblemverständnisse. Das traditionelle Konzept des<br />

exemplarischen Lernens geht in das diskursive Lernen ein und ist notwendiger Bestandteil der<br />

Arbeit an den konkreten Stoffen und Inhalten. Dabei sollte an dieser Stelle noch einmal deutlich<br />

gemacht werden, dass der Verfasser die mehrfach diskutierten Ansätze der 70er Jahre, Lernen <strong>als</strong><br />

abstrakte Struktur zu verstehen, bestenfalls methodisch <strong>als</strong> Lernen des Lernens zu verstehen, für<br />

nicht tragfähig und auch lernpsychologisch nicht hinreichend begründbar hält. Lernen ist immer<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 46


konkret, Problemlösungsvermögen setzt den Umgang mit konkreten Problemen voraus, Metalernen<br />

in Strukturen und »Mustern« setzt eine inhaltliche Wissensbasis voraus. Ohne Lerninhalte kein<br />

Lernen! Das Problem ist <strong>als</strong>o nicht, wie Reformvorstellungen zeitweilig mutmaßten, von inhaltlichem<br />

Lernen abzurücken, sondern die Frage, wer bestimmt die Inhalte, welche konkrete, situative<br />

Bedeutung, Funktion und Rechtfertigung finden die Lerninhalte und wie können über das Punktuelle<br />

Lernen hinaus Kontexte hergestellt und Verständnisse entwickelt werden. These dieses<br />

Aufsatzes ist es, dass hier der Begriff des diskursiven Lernens vorrangig eignet.<br />

Der diskursorientierte Ansatz hat grundlegende Auswirkungen auf die traditionellen Organisationsformen<br />

von <strong>Unterricht</strong> und Schule. Wenn der Diskurs über die Ziele und Inhalte von der administrativen<br />

Ebene in die Schule selbst hineingezogen wird – wenn auch in der Einbindung in die die<br />

Schule übergreifenden gesellschaftlichen Kommunikatons- und Diskursstrukturen und Vernetzungen,<br />

nicht <strong>als</strong>o im Sinne einer absoluten Autonomie der Schule –, muss eine Öffnung der<br />

curricularen Vorbestimmungen und Bindungen erfolgen, bei der die Orientierung am Konzept der<br />

Schlüsselprobleme ein erster Schritt ist, in dem dann aber die Fachdisziplinarität <strong>als</strong> Strukturierungsgrundlage<br />

des schulischen Lernens in Frage gestellt und die (wissens-) vermittelnde<br />

<strong>Unterricht</strong>sform in eine erarbeitende, projektorientierte Arbeitsform überführt werden muss.<br />

Im Gegensatz zu den Lernzielkonzepten der 70er Jahre muss festgestellt werden, dass gesellschaftliche<br />

Diskurse viel weniger formal-abstrakt, sondern im Prinzip politisch-konkret geführt<br />

werden. Es geht <strong>als</strong> durchaus um Inhalte. Hoch abstrahierte, anthropologisch fundierte Lernzieldimensionen,<br />

wie sie auch in der schon herangezogenen Denkschrift des Sachverständigenrates<br />

Bildung der Hans-Böckler-Stiftung, 1999, dominieren, sind in diesem Ansatz nicht normativ<br />

vermittel- und umsetzbar, sondern können bestenfalls <strong>als</strong> noch zu konkretisierende Diskursbeiträge<br />

verstanden und aufgegriffen werden und befürchtend auf die curricularen Auseinandersetzungen<br />

wirken.<br />

Interdisziplinarität und projektorientiertes Lernen können <strong>als</strong> solche zwar in üblicher pädagogischmethodischer<br />

Weise bestimmt und beschrieben werden. Doch auch in dieser Stufe der Überlegungen<br />

muss das diskursive Denken darauf insistieren, »Projekte« <strong>als</strong> Ergebnis des pädagogischen<br />

Agierens, <strong>als</strong> Erfahrung und Erfahrungsauswertung und nicht <strong>als</strong> normative Vorgabe zu<br />

verstehen. Die Projektorientierung ist die pragmatische Konsequenz aus diskursivem, interdisziplinärem<br />

Denken und pädagogischer Erfahrung; das Projekt selbst konkretisiert sich jedoch<br />

erst in der unterrichtlichen Situation selbst. Mit jedem Projekt sollte einerseits das Wissen darüber,<br />

was ein Projekt ist und sein kann, erweitert und vertieft werden, sollte andererseits auch die<br />

Variationsbreite des projektorientierten, interdisziplinären <strong>Unterricht</strong>shandelns erweitert werden.<br />

Ein grundsätzliches Problem tritt hier zu Tage, das in den hohen Qualifikationsanforderungen an<br />

die Lehrerschaft liegt. Das hat einerseits, auch bei einer pragmatischen Beschränkung auf den<br />

Bereich der Politischen Bildung – wenngleich unsere Überlegungen im Grundsatz die gesamte<br />

schulische Bildung betreffen –, wesentliche Auswirkungen auf die Anforderungen an die Lehrerausbildung,<br />

Lehrerfortbildung und innerschulische Supervision. Andererseits folgt daraus aber auch<br />

die notwendige Beschränkung auf realistische Reformziele, für die die konkreten Menschen in der<br />

Schule und nicht das Leitbild einer idealen oder utopischen Schule Entwicklungsmaßstab sind. Das<br />

bedeutet, dass Fachdisziplinen, in denen Lehrerinnen und Lehrer ihre Qualifikation erwerben, auch<br />

in Zukunft zumindest eine Grundlage der Organisation der schulischen Curricula bleiben werden.<br />

Dabei muss an dieser Stelle das Verständnisproblem angesprochen werden, dass Lernen grundsätzlich<br />

ein weiteres Themenfeld ist, <strong>als</strong> es im Rahmen dieser didaktischen Reflexion zur<br />

Politischen Bildung thematisiert werden kann, ohne dass dadurch eine breitere Auseinandersetzung<br />

mit den dadurch aufgeworfenen Fragen möglich erscheint. Lernen umfasst einen unüberschaubaren<br />

Komplex von letztlich genetisch fundierten Reaktionen des Menschen auf Umweltreize und die<br />

Reaktionen des Organismus darauf. Diese Fragen werden zunächst im Rahmen der Biologie,<br />

insbesondere der Verhaltensbiologie und der Gehirnforschung untersucht und in äußerst kontro-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 47


verser Weise diskutiert. Darauf baut nun die allgemeine Lernpsychologie auf. Schon in diesem<br />

Bereich, mehr noch im Bereich der Reaktion der Pädagogik auf die biologischen Befunde, vor<br />

allem bei der »IQ-Forschung«, beginnt dann die begriffliche Verwirrung, dass je nach anthropologische<br />

Option [114] auf der einen Seite die schicksalhafte Verhaftung an die »Begabung«, die <strong>als</strong><br />

genetisch vorgegeben verstanden wird, auf der anderen Seite die soziale Herkunft <strong>als</strong><br />

ausschlaggebend für die Lernchancen und den Lernerfolg angesehen werden. Dabei wird die Komplexität<br />

des Lernens und seine hohe Selbstbezüglichkeit übersehen. Lernen ist kein eindimensionaler<br />

Vorgang oder eine schlichte Konditionierung, sondern ein mit allen Lebens- und<br />

Erfahrungsbereichen interdependenter Prozess. Auf der anderen Seite sind Lernerwartungen, d.h.<br />

die ehemaligen Lernziele, immer nur analytisch bzw. ergebnisorientiert zu formulieren <strong>als</strong> erwartete<br />

Qualifikationen. Diese Lernerwartungen sind folglich nicht nur nicht identisch mit den zugrunde<br />

liegenden oder evozierten Lernprozessen, die grundsätzlich ganzheitlich, komplex, situativ und mit<br />

der Person wie ihrer Umwelt interdependent prozesshaft verbunden sind, sondern in vielen Fällen<br />

kaum noch in eine rationale, geschweige denn vorhersehbare Kausalitäts- und Begründungsbeziehung<br />

zu bringen.<br />

Auch wenn die pädagogische Wissenschaft auf lerntheoretischen Grundlagen und Erkenntnissen<br />

fußt, ist sie letztlich doch in erster Linie eine Sozialwissenschaft, die aus den gesellschaftlichen<br />

Kontexten heraus zu vermitteln hat zwischen der empirisch-analytischen Fragestellung, welche<br />

Lernprozesse in der konkreten Situation tatsächlich regelhaft oder exemplarisch vorfindlich sind,<br />

und der Prüfung und Rationalisierung bzw. Distanzierung normativer gesellschaftlicher Lernansprüche.<br />

Pädagogik ist daher im Gegensatz zur Lerntheorie inhaltlich orientiert und fragt nicht nur,<br />

wie gelernt wird, sondern vor allem auch was gelernt wird. Dies ist die kulturwissenschaftliche<br />

Dimension der Pädagogik, die ihre Stellung in den Science Wars gegen behavioristische und<br />

objektivistische philosophische Grundpositionen definiert, damit aber auch die Problematik des<br />

wissenschaftlichen Legitimitätsanspruches deutlich kennzeichnet.<br />

Lehrerinnen und Lehrer müssen sich dieses Dilemmas bewusst sein, um verantwortlich didaktischcurricular<br />

arbeiten zu können; Hilfestellung dazu hat die wissenschaftliche Pädagogik und Didaktik<br />

in der Lehrerausbildung wirre der Lehrerfortbildung zu geben. Es ist an der Zeit, Wissenschaftlichkeit<br />

der Lehrerausbildung weniger <strong>als</strong> fachwissenschaftliche Kompetenz – die ohnehin<br />

vorausgesetzt werden muss –, denn <strong>als</strong> einen höheren intellektuellen Anspruch an das Selbstverständnis<br />

der Lehrerinnen und Lehrer, höhere Reflexions- und Distanzfähigkeit, letztlich <strong>als</strong>:<br />

Diskursfähigkeit zu stellen.<br />

Ein rational-differenzierter Blick auf die tatsächlichen bestimmenden Lernprozesse in unserer<br />

Gesellschaft zeigen ein höheres Maß an Differenziertheit – und, anknüpfend an unsere gesellschaftsanalytische<br />

Einleitung: eine zunehmende »Fraktionierung« –, <strong>als</strong> es der Universalitätsanspruch<br />

der schulischen Ausbildung in seiner traditionellen Ausprägung wahrnimmt. Dies hat,<br />

um es <strong>als</strong> Résumé gleich vorweg zu nehmen, wesentliche Auswirkungen auf die Konzeption und<br />

Abgrenzung der traditionellen Schulfächer, die in keiner Weise mehr den gesellschaftlichen<br />

Strukturen und den kulturellen Entwicklungen entspricht, was sich am deutlichsten beim Konzept<br />

der so genannten Haupt- oder Zentralfächer nachweisen lässt, das derzeit vor allem in Bezug auf die<br />

sich in einer äußerst kritischen didaktischen Situation befindlichen Fächer Deutsch und Mathematik<br />

eine unerwartete Renaissance erfährt. [115]<br />

Das zentrale Problem dieser überkommenen Bildungsvorstellungen liegt darin, dass notwendige<br />

Differenzierungen und Entdifferenzierungen im Bereich der Pädagogik von der gesellschaftlichen<br />

Logik her und nicht vom Subjekt der Lernenden aus getrennt werden; gesellschaftliche Logik ist<br />

zunächst einmal die durch die kulturelle Symbolik definierte Realitätssicht nach Fächern und<br />

konventionellen und professionalisierten Differenzierungskategorien, die das Weltbild der Politischen<br />

Kultur ausmachen. Diese Differenzierung wird jedoch gelernt und anerzogen gegen die<br />

subjektiven Prozesse des Lernens selbst. Hier geht, innerhalb der Fächer, das allgemeine pädago-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 48


gische Grundverständnis von einer Einheitlichkeit des Lernens, von einem innerfachlichen Totalitätsanspruch<br />

aus, der sich in einer möglichst konsistenten Fachsystematik ausdrückt. Nur dort, wo<br />

die Fachsystematik nun wirklich nicht unmittelbare Grundlage schulischer Vermittlung sein kann,<br />

modifiziert die wissenschaftliche Fachdidaktik diese zu curricular-didaktischen Systematiken. [116]<br />

Dabei vereinen diese Fächer immanent widersprüchliche Lernanforderungen, widersprüchliche<br />

Realitätskonzepte und widersprüchliche Tätigkeitsanforderungen, ohne den Lernenden die notwendigen<br />

kritischen und realitätsorientierten Differenzierungsinstrumente an die Hand zu geben. Die<br />

These von der Einheit des Lernens ist zwar richtig, bezieht sich aber gerade nicht auf Fächer und<br />

gesellschaftliche Realitätskategorien, sondern auf Probleme und Realitäten der Wahrnehmung des<br />

Lernenden, die sich nichts weniger verstehen lassen <strong>als</strong> gerade fachgebunden zu sein. Die<br />

Einheitlichkeit des Lernens erfüllt sich gerade darin, traditionelle Fächer und Realitätskategorien zu<br />

überschreiten und interdisziplinär und projektorientiert zu lernen.<br />

Die Differenzierung des Lernens aus der Wahrnehmungsperspektive des Lernenden leitet sich nun<br />

aus den Lebens- und Erfahrungssituationen und der biographisch-psychologischen Bedeutung der<br />

mit dem Lernen verbundenen Realitätsanforderung ab. Hier ist durchaus deutlich zu unterscheiden<br />

– auch in Hinblick auf die darauf bezogenen Lernmethoden und Lernstrategien, soweit dieses<br />

Lernen überhaupt bewusst-strategisch geleitet werden muss – zwischen den verschiedenen zunächst<br />

lebensalterbestimmten Lernstufen.<br />

Grundlegend ist zunächst das Erlernen der Lebensgrundfunktionen, das mit der Geburt beginnt und<br />

zunächst noch eng einem genetischen Programm unterworfen ist, jedoch das gesellschaftliche<br />

Gegenüber in Mutter, Eltern, Familie usw. zur Ausdifferenzierung notwendig benötigt und daher<br />

bewusster Förderung durchaus offen ist. In einer nächsten Stufe folgt dann das Erlernen der<br />

kulturellen Grundfähigkeiten, die eine Orientierung und Behauptung in der eigenen Lebensumwelt<br />

ermöglicht, wobei gerade hier Defizite noch sehr deutlich <strong>als</strong> Schulprobleme auftreten, denen das<br />

traditionelle fächerorientierte moderne Schulprinzip weitaus hilfloser gegenübersteht <strong>als</strong> frühere<br />

pragmatischen und oft völlig unreflektiert-autoritären Erziehungsstrategien, bei denen Erziehungserfolg<br />

eher die Persönlichkeit und Vorbildlichkeit des Lehrers <strong>als</strong> durch bewusste Lehrfähigkeiten<br />

und -methoden garantiert war (vgl. Fußnote 120).<br />

Die Schule ist zunächst Ort des Erlernens der in unserer Gesellschaft notwendigen Kulturtechniken<br />

wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Fremdsprachen beherrschen, Umgang mit grundlegenden Alltagstechniken<br />

wie heute vor allem der Informationstechnologie usw. Dieser Bereich ist eine zentrale<br />

Aufgabe der Schule; sie wird vor allem deshalb mangelhaft bewältigt, weil die Schule und die<br />

Gesellschaft ihre Vermittlung gering achtet, ihre Beherrschung aber voraussetzt. Unter dem hier<br />

nicht adäquaten Leitbild der Einheitlichkeit des Lernens wird das Vermitteln der Kulturtechniken zu<br />

einem Nebeneffekt eines sich verwissenschaftlichen Fachunterrichts, der seine Aufgabe vor allem<br />

in den komplexeren sozial determinierten Bildungszielen sieht. Das hat unter Umständen für<br />

Schülerinnen und Schüler verhängnisvolle Folgen: mangelhafte Beherrschung von bestimmten<br />

Kulturtechniken, wie z.B. Sprach- und Schreibkompetenz bei Schülerinnen und Schüler<br />

nichtdeutscher Herkunft oder aus „bildungsfernen“ Sozi<strong>als</strong>chichten, führt zum Versagen bei den<br />

umfassenderen Bildungszielen. Umgekehrt kann wie auch immer begründetes und motiviertes<br />

Versagen gegenüber den allgemeinen Fachzielen, z.B. bei biographischen Brüchen, Akkulturationsproblemen<br />

oder schlicht auch veranlagungs- oder sozialhintergrundsbedingten Begabungsund<br />

Leistungsschwächen das Erlernen der genannten Kulturtechniken grundlegend behindern. Es<br />

scheint daher dringend notwendig zu sein, in der Schulpraxis, gerade im Prozess der verstärkten<br />

Orientierung der fachlichen und überfachlichen Bildungsziele, wie sie auch in den Postulaten der<br />

Politischen Bildung ihren Ausdruck finden, am Konzept von diskursiv sich fortentwickelnden<br />

Schlüsselproblemen, eine grundsätzliche Entkoppelung der Bildungsfächer und der verpflichtenden<br />

Lernangebote für die grundlegenden Kulturtechniken und damit eine fundamentale Neubestimmung<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 49


der Fachselbstverständnisse vorzunehmen, die die Stundentafeln des Schulunterrichts sehr stark<br />

verändern werden. [117]<br />

Wie schon Illich (1971) exemplarisch ausgeführt hat, ist unser Schulsystem denkbar ungeeignet, die<br />

Anforderungen an den Erwerb von Lebenstüchtigkeit, Lernvermögen und Kulturtechniken auch nur<br />

einigermaßen rational und erfolgreich zu erfüllen. Sein freies Lern- und Ausbildungskonzept in<br />

Cuernavaca hat modellhaft gezeigt, wie die Aufgabe von konstruierten Lerngesamtheiten der<br />

Fächer und Professionalitäten erst zu einer echten Einheitlichkeit des Lernens selbst führen kann.<br />

Doch wie schon von Hentig (1971) wohlwollend-kritisch ergänzt, hat die Schule in hoch differenzierten<br />

Industriegesellschaften umfassendere, sozial determinierte Bildungsaufgaben, die durch das<br />

strikt dezentrale Lernkonzept von Cuernavaca, durch eine „Entschulung der Gesellschaft“, nicht<br />

hinreichend erfüllt werden kann.<br />

Bildung ist mehr <strong>als</strong> der Erwerb definierter Kulturtechniken und Kenntnisse; Bildungserwerb ist<br />

soziale Praxis eines bestimmten Lebensabschnittes, der nicht nur propädeutisch definiert, sondern<br />

zunehmend in die gesellschaftlichen Interdependenzen mit einzubeziehen und in Wert gesetzt<br />

werden muss. Es muss <strong>als</strong>o ein Entschulung der Schule erfolgen. Diesem Ziel können die neuen<br />

Verklammerungen von Schule und Öffentlichkeit, die sich aus dem Schlüsselproblemkonzept<br />

zwangsläufig ergeben, dienen. Zentrale Aufgabe ist es daher, das traditionell statische Fächerprinzip<br />

der Schule mittelfristig aufzubrechen, ohne die hohen auch fachlichen Kompetenzanforderungen an<br />

die Lehrerschaft aufzugeben, und auf der einen Seite strikt erfolgsorientierte, nicht auf Auslese oder<br />

Leistungsdifferenzierung abhebende Lernangebote zu den grundlegenden Kulturtechniken während<br />

der ganzen Schulzeit zu entwickeln [118] , auf der anderen Seite anspruchsvolle, an Schlüsselproblemen<br />

orientierte und methodisch interdisziplinär-projektorientierte Bildungsangebote zur zentralen<br />

Aufgabe der Schule zu machen, in denen Schülerinnen und Schüler in identitätsstiftenden<br />

und die Soziabilität fördernden Lernsituationen in die gesellschaftlichen Diskurse eingeführt<br />

werden.<br />

6. Anmerkungen zu den Konsequenzen für die Ausbildung und<br />

Qualifikation der <strong>Politik</strong>lehrerschaft<br />

6.1 Modellvorstellungen für die universitäre Lehrerausbildung<br />

Mehrfach führten unsere bisherigen Überlegungen schon zu dem Schluss, dass eine Schlüsselrolle<br />

für eine Innovation der Politischen Bildung in den Schulen und des geforderten Paradigmenwechsels<br />

in der Didaktik des <strong>Politik</strong>unterrichts der Veränderung und Modernisierung der universitären<br />

Lehrerausbildung sowie einer deutlichen Neuorientierung des wissenschaftlichen Selbstverständnisses<br />

zukommt.<br />

Dabei kann hier nur aus der Sicht der Schule und im Interesse des <strong>Politik</strong>unterrichtes argumentiert<br />

werden. Konkrete Umsetzungen und Veränderungen setzen eine Resonanz an den Hochschulen und<br />

einen entsprechenden Diskurs der betroffenen Fachbereiche und der in ihnen arbeitenden Kolleginnen<br />

und Kollegen voraus.<br />

In den universitären Diskursen, so sie überhaupt innovationsorientiert geführt werden, steht noch<br />

immer die Diskussion der angeblichen Praxisdefizite, bzw. die Probleme einer Theorie-Praxis-<br />

Dichotomie im Vordergrund, die wir schon grundsätzlich und ideologiegeschichtlich kritisch beleuchtet<br />

haben. Dabei wird übersehen, dass ein scheinbar „praxisorientierter“ didaktischer Ansatz,<br />

wenn er nicht platt „rezepthaft-methodisch“ verstanden wird sondern den Kriterien wissenschaftlicher<br />

Rationalität und Reflexivität folgt, oft erst die geeigneten Fragen aufwirft, nicht nur<br />

fachdidaktische, sondern auch fachwissenschaftliche Probleme neu zu überdenken, und damit neue<br />

Forschungsansätze zu erschließen.<br />

Im traditionellen dichotomen Wissens- und Arbeitsverständnis wird nur zu sehr übersehen, dass<br />

Forschung selbst ein Rezeptions- und Verständigungsvorgang und damit ganz wesentlich imma-<br />

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nenten didaktischen Problemstrukturen unterworfen ist; eine Wissenschaftssoziologie wird sich sehr<br />

weitgehend didaktischer Verständigungsmuster zu bedienen haben. So ist auch die universitäre<br />

Trennung von Fachwissenschaft und – in der Wertschätzung oft nachgeordneter – Fachdidaktik<br />

nicht sachadäquat und Ausfluss des schon kritisch benannten dichotomen Theorie-Praxis-<br />

Verständnisses. In einem zeitgerechten Problemverständnis kann hier durchaus an die spezifisch<br />

deutsche Universitätstradition der Einheit von Lehre und Forschung angeknüpft werden, wenn<br />

nicht, wie es zu häufig geschieht, in diesem Kontext Lehre nur noch <strong>als</strong> nachgeordneter<br />

Forschungsbericht verstanden, sondern wenn Forschung selbst <strong>als</strong> didaktisch konzipierter Kommunikations-,<br />

Rezeptions- und Diskursvorgang verstanden wird. [119] Das ist sicherlich aber auch ein<br />

charakterliches und habituelles Moment der Lehrenden und Forschenden selbst, das sich vordergründiger<br />

Anforderung entzieht und nur durch eine entsprechende geistige und politische Kultur,<br />

durch eine bewusste Auseinandersetzung mit der kulturellen Tradition ermöglichen lässt. [120]<br />

Die Schule erwartet Fachlehrerinnen und Fachlehrern, die in die zentralen Diskurse der Gesellschaft,<br />

wie sie schon im Zusammenhang mit dem Thema der Schlüsselprobleme erörtert worden<br />

sind, eingeführt sind und in ihnen eigenständige Positionen vertreten, erarbeiten und vermitteln<br />

können. Diese inhaltlich-diskursive Ausbildung muss von Anfang an rezeptiv-umsetzungsorientiert<br />

strukturiert sein, ohne auf eine banale »Anwendungsdidaktik« reduziert zu werden.<br />

Eine Vorlesungs- und Seminarabfolge sollte daher, parallel zu den »klassischen« Einführungsveranstaltungen<br />

in die Bezugsfächer – die Beschränkung der Politischen Bildung auf die Politologie<br />

wäre aus Sicht der Schule und des <strong>Politik</strong>unterrichts verhängnisvoll – projekt- und diskursorientierte<br />

Semesterschwerpunkte anbieten, deren methodische Ausgestaltung den Diskursstrukturen<br />

der Politischen Bildung, wie sie schon erörtert worden sind, adäquat zugeordnet werden.<br />

Ein, sicherlich hochschuldidaktisch noch nicht angemessen durchformulierter und strukturierter<br />

Vorschlag einer Folge inhaltlich-didaktisch bestimmter Semesterschwerpunkte über einen Zeitraum<br />

von zwei Jahren, soll, orientiert an den Qualifikations- und Ausbildungsbedürfnissen des Schulunterrichts<br />

nachfolgend konzipiert werden. Dabei wird, ohne sich streng an den universitären Usus<br />

zu halten, jeweils eine Kernveranstaltung formuliert, die Elemente der Vorlesung und des Seminars<br />

vereint und zur Einführung in die zu Grunde gelegten Diskurse dienen soll, der dann eine stärker<br />

auf Selbstarbeit und Projektlernen zielende Übungsveranstaltung <strong>als</strong> verpflichtende Ergänzung<br />

beizuordnen ist. Diese Gliederung ersetzt die überkommene Dichotomie von fachwissenschaftlicher<br />

Einführung und didaktischen Praxisbezügen, die dem schon eingehend problematisierten<br />

herkömmlichen Theorie-Praxis-Widerspruch verpflichtet bleibt.<br />

Sehr bewusst wird ausgehend von den beruflichen Bedürfnissen von <strong>Politik</strong>-Lehrerinnen und -<br />

Lehrern auch eine kritische Revision universitärer Vermittlungstraditionen und Lehrveranstaltungsschemata<br />

zu fordern sein, ohne dabei in das bei Schul- und Universitätskritikern verbreitete und im<br />

Motiv durchaus nachvollziehbare Lamento einer angeblichen Praxisferne des Studiums einzustimmen,<br />

in dem sich zu leicht Elemente eines idyllisierenden Antirationalismus einmischen. [121]<br />

Wissenschaftssoziologisch sind diese Zielkonflikte jedoch weitaus tief greifender, <strong>als</strong> sie äußerlich<br />

in Erscheinung treten und projizieren philosophisch sehr ernst zu nehmende Konflikte um die<br />

Bedeutung des Postulats der Wissenschaftlichkeit der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, wie<br />

sie in einem spannenden philosophischen Diskurs <strong>als</strong> »science wars« in den letzten Jahren transatlantisch<br />

thematisiert worden sind. In Deutschland hat sich die Themenseite Forum Humanwissenschaften<br />

der Frankfurter Rundschau um die Ausbreitung dieses Diskurses seit einem Jahr erhebliche<br />

Verdienste erworben. [122] Da diese Diskussion gut dokumentiert ist, soll hier auf ein Referat ihrer<br />

Ergebnisse verzichtet werden. Für uns ist es interessant zu beobachten, wie und wie weit zeittypische<br />

intellektuelle Konflikte sich zu fundamentalen Diskursen zunächst noch beschränkt auf die<br />

»science community« vertiefen und damit die Chance bekommen, über den wissenschaftlichen<br />

Disput hinaus zu einem grundlegenden diskursiven Paradigmenwechsel beizutragen. Vordergründig<br />

berührt das unser Thema auch dadurch, dass einmal unwillkürliche, unreflektierte Spiegelungen und<br />

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Referenzen in der Alltagspraxis von Forschung und Lehre aufkommen – wie die Wiederbelebung<br />

der Theorie-Praxis-Diskussion –, die bewusst aufgegriffen werden sollten, zum anderen dadurch,<br />

dass sich in der intellektuellen Referenz die Eingangs thematisierten Krisenerfahrungen unserer<br />

Politischen Kultur ausdrücken, was Ansätze einer möglichen Krisenbewältigung aufscheinen lässt.<br />

Daher muss es eine grundlegende Forderung sein, dass nicht nur der <strong>Politik</strong>unterricht in die<br />

existenziellen Diskurse durch eine Orientierung am Konzept von Schlüsselproblemen eingebunden<br />

werden muss, sondern dass sich auch die universitären Sozialwissenschaften unter Einbeziehung<br />

der Fachdidaktik ihrer selbst wieder kritisch bewusst werden und eine erhöhte Selbstreferenzialität<br />

entwickeln, um so die gesellschaftlich notwendige Schlüsselrolle in der rational-distanzierten Steuerung<br />

der gesellschaftlichen Diskurse übernehmen zu können: nur auf dieser Ebene und nicht im<br />

kurzschrittigen pragmatischen »Praxisdenken« ist auf Dauer eine sinnvolle und nachhaltige<br />

<strong>Politik</strong>beratung durch die Sozialwissenschaften und ihre Didaktik möglich.<br />

Semesterschwerpunkt »Gerechtigkeit, Ungleichheit, Wertewandel«<br />

Hauptveranstaltung: »Macht und Herrschaft«<br />

Geschichte der Herrschaftstheorien<br />

Entwicklung der Staatsgesellschaft<br />

Symbolischer Interaktionismus, medium range theories<br />

Situationsdefinitionen und Selbstkonzepte, Kultur und Wertorientierungen<br />

Übung:<br />

Projektarbeit zum Thema »Außenseiter, Randgruppen, Diskriminierungen, Stigmatisierungen«<br />

mit empirischen Arbeitsanteil (begleitend: Methodenlernen der empirischen Sozialforschung)<br />

Semesterschwerpunkt »Individualisierung, Gewalt, Soziabilität«<br />

Hauptveranstaltung: »Sozialisation und Enkulturation«<br />

Geschichte der Sozialisationsvorstellungen und ihre Bedeutung für die Pädagogik<br />

Kultur, Politische Kultur, Symbolinventare mit regionalen Beispielen (Zentrum-Peripherie-<br />

Modelle)<br />

Interaktionistische Bildungsvorstellungen, Lebenswelten, Biographie und Milieu<br />

Neuere Diskurse zum Thema Individualisierung<br />

Übung:<br />

Umgang mit der Gewalt – Ursachen der Gewalt. Entwicklung von didaktischen Vorstellungen;<br />

mit Erprobungsphase in der Schule oder der außerschulischen Bildungsarbeit<br />

Semesterschwerpunkt »Zivilisation, Gesellschaft, Staat«<br />

Hauptveranstaltung: »Die Zivilisation Mitteleuropas im Zeitalter der Globalisierung«<br />

Die Zivilisationstheorie von Norbert Elias<br />

Die These vom »Ende der Kultur« und dem »Ende der Geschichte«<br />

Krise oder Staatsversagen? Konfliktmodelle und Partizipationsvorstellungen<br />

Kommunitarismus, Entstaatlichung und sozialer Paradigmenwandel<br />

Übung:<br />

Rollenspiele mit Konzeption, Dokumentation und Auswertung: Staaten, Konflikte,<br />

Kriegsvermeidung nach dem Modell der THIMUN-Programme („The Hague Model United<br />

Nations“)<br />

Semesterschwerpunkt »Universalisierung, Globalisierung, Ökonomisierung«<br />

Hauptveranstaltung: »Die Zukunft in einer „Weltkultur“? Chancen und Bedrohungen«<br />

Einführung in die Medien- und Kommunikationswissenschaften<br />

Technischer Wandel und Bewusstseinsveränderungen mit regionalen Vergleichsbeispielen<br />

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Die kulturelle Ambivalenz des Modernismus und antimodernistische Bewegungen in den<br />

Semiperipherien<br />

»Krieg der Kulturen« oder »multikulturelle Gesellschaftsmodelle«?<br />

Übung:<br />

Forschungsaufträge zur Minderheiten- und Migrationsproblematik.<br />

6.2 Permanente Fort- und Weiterbildung<br />

Das Thema Lehrerfortbildung könnte in unseren Überlegungen zu einem Paradigmenwandel im<br />

Bereich der Politischen Bildung und im <strong>Politik</strong>unterricht eine entscheidende Rolle spielen und in<br />

einer integrativen Sichtweise im Zusammenhang mit der universitären Lehrerausbildung ein inhaltliches<br />

und didaktisches Koordinatensystem herstellen, in dem sich didaktische Innovation und<br />

diskursiv fundierte <strong>Unterricht</strong>spraxis sinnvoll einordnen können.<br />

Diese Vorstellung ist von der bedrückenden Realität so weit entfernt, dass eine ernsthafte und<br />

ausführliche inhaltliche Auseinandersetzung mit solchen positiven Perspektiven illusorisch<br />

erscheint und für die in unserem Rahmen angesprochenen Ziele eines rational-kritischen Umgangs<br />

mit politischen und didaktischen Krisensituationen oder auch Krisenwahrnehmungen unerheblich<br />

bleibt.<br />

Lehrerfortbildung und Lehrerweiterbildung wird weder von den Kultusministerien ernst genommen<br />

– sonst wäre Lehrerfortbildung nicht der erste Bereich, in dem massive Einsparungen und Programmausdünnungen<br />

durchgesetzt worden wären und Lehrerfortbildung würde nicht zunehmend<br />

<strong>als</strong> nur noch »moralisch erwünschte« Eigeninitiative der Lehrerinnen und Lehrer verstanden, für die<br />

Dienst- bzw. <strong>Unterricht</strong>szeit nur noch in Ausnahmefällen zur Verfügung gestellt werden soll und<br />

die in Folge dessen vorwiegend in den Schulferien stattfinden wird (mit entsprechend geringer<br />

Resonanz und Motivation) –, noch <strong>als</strong> besonders wichtig von den Kolleginnen und Kollegen selbst<br />

eingeschätzt wird. Deren Erwartungen im Rahmen des Angebotes an Lehrerfortbildungskursen<br />

richten sich in erster Linie<br />

auf Kurse, die der »Einübung« von Rechtsvorschriften (Rahmenrichtlinien, Abituranforderungen,<br />

Aufgaben der schulischen Funktionsträger und Koordinatoren) oder der institutionellen Abläufe<br />

(Prüfungen, Zensierungen, leistungsrelevante Pflichtarbeitsformen wie Facharbeit oder Praktika,<br />

Verkehrsunterricht etc.) dienen, deren »Wichtigkeit« vom »Dienstherren« wie von der Lehrerschaft<br />

kaum je angezweifelt wird;<br />

auf Kurse, die der Vermittlung »erprobter <strong>Unterricht</strong>smodelle« zu den in den Richtlinien vorgesehenen<br />

Pflichtthemen dienen, wobei die Erwartung vor allem den Materialien gilt, die mit nach<br />

Hause genommen werden können und dann noch unmittelbar »unterrichtstauglich« sind; [123] auf<br />

Kurse im Bereich der Lehrerweiterbildung (Vermittlung zusätzlicher fachlicher Formalqualifikationen),<br />

um in den Neuen Fächern (Werteerziehung, Informatik etc., so wie vor etwa 30 Jahren<br />

für das neue Fach <strong>Politik</strong> eine erste Fachlehrerschaft ebenfalls durch Weiterbildung von Geschichtsund<br />

Erdkundelehrern auf den Fachunterricht vorbereitet wurde) eine »kleine Fakultas« und damit<br />

die Abiturprüfungsberechtigung zu erlangen.<br />

Der Gesamtbereich der Lehrerfortbildung, meist von Landesinstituten [124] getragen, teilweise aber<br />

auch an Fremdanbieter delegiert [125] , wirkt daher mehr <strong>als</strong> sachlich notwendig und auch unter liberal-demokratischen<br />

Prämissen politisch vertretbar »systemstabilisierend« in Bezug auf schulische<br />

Institutionen und Hierarchien sowie die didaktischen Grundstrukturen und inhaltlich daher staatsaffirmativ.<br />

Eine Unterstützung und Begleitung eines notwendigen Paradigmenwandels ist hier nicht<br />

abzusehen.<br />

Drei inhaltliche Bereiche, bei denen ihr Charakter <strong>als</strong> Diskursfelder nicht eindeutig zu bestimmen<br />

sind, auch wenn die öffentliche Aufmerksamkeit ebenso wie ihre politisch-gesellschaftliche<br />

Funktionalisierbarkeit eher dafür sprechen [126] , fallen zunächst einmal in der Betrachtung der Lehrer-<br />

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fortbildungsprogramme aus dieser restriktiven Perspektive <strong>als</strong> eher überrepräsentiert heraus. Es sind<br />

kontroverse Themenbereiche unbestreitbarer sachlicher Bedeutung, die auch für die staatliche<br />

<strong>Politik</strong> relevant und handlungsbestimmend geworden sind, da sich hier durch den entsprechenden<br />

Druck artikulierter, etablierter und organisierter politischer Interessen, vor allem der politischen<br />

Parteien und großen Verbände, zunehmend die Machfrage stellt. Damit werden hier, den politischen<br />

Mehrheiten entsprechend, durchaus gesellschaftlich kontroverse Themenangebote in die Lehrerfortbildung<br />

aufgenommen, ohne dass dies aber die grundsätzliche kritische Einschätzung der<br />

Lehrerfortbildung <strong>als</strong> ihrem Charakter nach vorwiegend staatlich-affirmativ in Frage zu stellen in<br />

der Lage wäre. Diese regelmäßig in der Lehrerfortbildung auftretenden Themenfelder sind:<br />

<br />

<br />

<br />

Fragen der Umwelt und der Ökologie (auch Gesundheitserziehung und Alternative<br />

Lebenskonzepte),<br />

Frauenfragen (feministische Realitätsdeutungen und politische Konzepte),<br />

Gewalt und Interkulturalismus (auch Jugendgewalt, Drogen und politischer Radikalismus).<br />

Zu diesen Themen sind inhaltlich einige kritische Anmerkungen angebracht. Das Thema Gewalt<br />

und Interkulturalismus ist <strong>als</strong> problemorientierter Diskurs aus den Programmen fast schon wieder<br />

verschwunden. Vor allem Interkulturalismus wird mit der pauschalen Banalisierung eines »Multi-<br />

Kulti« <strong>als</strong> unseriös diskreditiert, die internationalen Perspektiven (Dritte-Welt-Pädagogik, Friedenspädagogik,<br />

Schulpartnerschaften und Schüleraustausch <strong>als</strong> zentrale Themen der 70er und 80er<br />

Jahre) gelten <strong>als</strong> überholt und auch für Schülerinnen und Schüler zunehmend uninteressant. Die<br />

interkulturellen Ansätze im Bereich der Politischen Bildung und des Schulunterrichts entstanden<br />

unter dem Eindruck weltweiter Bürgerrechtsbewegungen, des Antikolonialismus der Nachkriegszeit<br />

und der gesellschaftlichen Umwertung des Pazifismus in den 70er Jahren und gingen zunächst von<br />

den Hochschulen aus. So ist eine ganze Generation von <strong>Politik</strong>-Lehrerinnen und -Lehrern von der<br />

Auseinandersetzung mit diesen Themen geprägt, ohne das es gelang, sie <strong>als</strong> Selbstverständlichkeiten<br />

den nachfolgenden jüngeren Kolleginnen und Kollegen hinreichend nahe zu bringen gar<br />

entsprechende öffentliche Diskurse nachhaltig anzustoßen. Im Gegenteil: die Entwicklung der<br />

Politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland geht zunehmend in die entgegengesetzte<br />

Richtung: erneute Betonung der nationalen Interessen, Paradigmen der Staatlichkeit, Volk <strong>als</strong><br />

Kultur- und Wertegemeinschaft. [127] Gerade dieser Prozess ist ein Teil der Krisendefinition, von der<br />

die Argumentation in diesem Aufsatz ausgeht; die Situation und Entwicklung in der Lehrerfortbildung<br />

klang dabei <strong>als</strong> symptomatisch aufgefasst und <strong>als</strong> Indiz für verpasste Chancen eines notwendigen<br />

gesellschaftlichen Paradigmenwechsels gesehen werden.<br />

Der kulturelle mainstream in Deutschland wie auch international geht zunehmend an den Themen<br />

der interkulturellen Kontakte und Beziehungen vorbei; Abgrenzung und Identifikations- (Identitäts-<br />

) Forderungen treten in der derzeitigen Macht- und Konfliktsituation wieder in den Vordergrund.<br />

Damit wird auch Gewalt nicht mehr <strong>als</strong> universelles gesellschaftliches Problem wie in den 70er und<br />

teilweise noch in den 80er Jahren verstanden, wie es das Konzept der Strukturellen Gewalt von<br />

Johan Galtung entwickelt hat, oder wie es sich im internationalen Kontext in der Thematisierung<br />

von strukturell gewalttätigen ökonomisch-politischen Dependenzen oder in Penetrationsprozessen<br />

des Kulturimperialismus verstanden worden ist; die Gewaltdiskussion polarisiert sich zunehmend in<br />

konventionell nation<strong>als</strong>taatlicher Perspektive auf die Frage der legitimen staatlichen (oder überstaatlichen)<br />

Gewalt, die sich in erwünschtem militärischen Interventionismus ausdrücken soll, und<br />

dagegen der Frage nach der delinquenten individuellen Gewalt, die <strong>als</strong> ein Angriff auf das<br />

Gewaltmonopol des Staates verstanden wird und unter Einsatz massiver Machtmittel abgewehrt<br />

werden soll. Dieser Themenansatz determiniert heute didaktische Konzepte der Gewaltprävention<br />

bei Schülerinnen und Schülern, die im Spannungsfeld von Kriminalisierung und Psychologisierung<br />

angedacht werden [128] , sowie auf der anderen Seite die Verengung weltpolitischer Perspektiven auf<br />

multinationales (militärisches) Krisenmanagement und die (positive) Darstellung der NATO- und<br />

Bundeswehr-Aktivitäten und -Strategien.<br />

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Kaum noch Interesse finden Konzeptualisierungen von Schüleraustauschprogrammen, die <strong>als</strong><br />

praktischer Beitrag zur Völkerverständigung schon in der ersten Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

entwickelt und im Kontext westeuropäisch-integrativer <strong>Politik</strong>verständnisse (»Westbindung« [129] )<br />

erheblichen Beitrag zur Öffnung der deutschen gesellschaftlichen Perspektiven beigetragen hat.<br />

Zentrales Moment war dabei die deutsch-französische Aussöhnung, die ihren Niederschlag sehr<br />

bald in den lange Zeit pädagogisch äußerst lebendigen Impulsen des Deutsch-Französischen<br />

Jugendwerks fand. Auch die Niederlande und Großbritannien wurden recht früh schon in diese<br />

Austausch- und Begegnungskonzepte einbezogen.<br />

Erst sehr viel später, im Rahmen des außenpolitischen Paradigmenwechsels der »Neuen Ostpolitik«<br />

folgten zunächst gegen große Widerstände auf allen Seiten und eher zaghaft die Versuche, auch die<br />

Osteuropäischen Länder in den Gesprächs- und Austauschprozess einzubeziehen, zunächst vor<br />

allem Polen, wo sich die Begegnungsthematik auch aus der bewussteren pädagogischen<br />

Aufbereitung der Geschichte des Nation<strong>als</strong>ozialismus mit dem Okkupationskrieg und den<br />

deutschen Vernichtungslagern des Holocaust auf polnischem Territorium – heute Gedenkstätten –<br />

<strong>als</strong> unabdingbare pädagogische und politische Aufgabe herleiten ließ. Doch waren hier die innergesellschaftlichen<br />

Widerstände auch aus den Reihen der Vertriebenen erheblich. In dieser Zeit<br />

konnten aber die Kultusministerien [130] einiger Bundesländer, darunter auch Niedersachsens, das im<br />

deutsch-polnischen Kontakt teilweise eine Vorreiterrolle einnahm, und die Institute für Lehrerfortbildung<br />

wie die Landeszentralen für politische Bildung eine wichtige und fortschrittliche Rolle<br />

spielen. Hier wären zeitgeschichtliche Anknüpfungspunkte für eine inhaltliche Revitalisierung der<br />

Konzepte der Lehrerfortbildung in reicher Auswahl zu finden.<br />

Zur Behandlung der Frauenfrage im Rahmen der Lehrerfortbildung will der Verfasser (<strong>als</strong> Mann)<br />

hier nicht ausführlicher Stellung nehmen, bis auf die Anmerkung, dass er die Konzeptualisierung<br />

dieses politisch durchaus aktuellen und faszinierenden Themenbereiches unter den Perspektiven der<br />

»Selbstfindung«, »Abgrenzung einer eigenen Frauenrealität« oder »Selbstverwirklichung« [131] auf<br />

der Verarbeitungsstufe einer Halb-Intellektualisierung ebenso für bedenklich und einem notwendigen<br />

diskursiven Paradigmenwandel abträglich hält, wie überhaupt jedes rein handwerklichmethodische<br />

oder praxisverliebte Kursangebot. Interessant wäre es hier soziologisch und sozialpsychologisch<br />

genauer zu untersuchen, wie reale soziale und berufliche Benachteiligungen oder<br />

zumindest die Wahrnehmung einer solchen sich verfestigt zu einer Nischenintellektualität mit oft<br />

sektiererischem Charakter, der zur realen Verringerung von Benachteiligungs- und Diskriminierungsstrukturen<br />

keineswegs beiträgt. Letztlich dienen diese Selbstinszenierungen real zur Öffnung<br />

neuer und gesicherter beruflicher Perspektiven, die sich in einem Netz von Quoten, Absicherungen<br />

und Gegendiskriminierungen stabilisieren. Der Diskurs, in den in dieser Perspektive die Behandlung<br />

der Frauenfrage einmündet, ist der Diskurs der political correctness, der im universitären<br />

Milieu der USA heute schon dominierenden bewusstseinsbildenden Charakter einnimmt, aus<br />

verschiedenen Gründen in Europa aber nur sehr partiell wahrgenommen und rezipiert wird.<br />

Haselbach hat 1997 in einem grundlegenden Aufsatz die Grundlagen und sozialen Folgerungen der<br />

political correctness thematisiert. Die Aufnahme dieser kritischen Thesen könnte helfen, die<br />

Frauenfrage in der Lehrerfortbildung wie im universitären und Verwaltungsbereich zu objektivieren<br />

und <strong>als</strong> wesentlichen Bestandteil der schon erörterten Diskursfelder zu erkennen. Damit wäre seine<br />

vordergründige politische Besetzung aufgehoben und stände einer intensiveren selbstrekursiven<br />

Arbeit nicht mehr im Wege.<br />

Fragen der Umweltpädagogik treten tendenziell in der Schulpraxis ebenfalls zurück, obwohl »ökologisches<br />

Bewusstsein« und »Verantwortung für die Umwelt« zunehmend zu einem fest internalisierten<br />

Lebenskonzept einer ganzen Lehrergeneration, eng verbunden mit einem sich <strong>als</strong><br />

fortschrittlich verstehenden intellektuell-schulischen Milieu, geworden ist. dass aber daraus die<br />

Bereitschaft und das Interesse an einer gezielten Weiterbildung in diesem Problembereich erwächst,<br />

ist nur vereinzelt und individuell zu beobachten. [132]<br />

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Auf der anderen Seite gibt sich auch die Schülerschaft häufig »überfüttert« mit »Umweltthemen«.<br />

Das deutet weniger auf eine tatsächliche f<strong>als</strong>che Gewichtung der <strong>Unterricht</strong>sschwerpunkte gemessen<br />

an den Lebensrealitäten der Schülerinnen und Schüler hin, auch nicht auf eine notwendige<br />

Neubewertung der objektivierbaren gesellschaftlichen Bedeutung der Ökologie – ganz im Gegenteil<br />

–, sondern auf das f<strong>als</strong>che pädagogische Konzept einer moralisierenden »Umweltethik« <strong>als</strong> Ersatz<br />

für eine rationale und handlungsorientierte Erarbeitung der ökologischen Probleme selbst. Hier<br />

liegen <strong>als</strong>o beträchtliche Defizite im didaktischen Selbstverständnis der Lehrerschaft selbst. [133]<br />

Es wäre für die Lehrerfortbildung schon viel gewonnen, wenn zunächst diese drei letztlich öffentlich<br />

akzeptierten Themenbereiche erneut aktiv aufgegriffen und in den Kursangeboten umgesetzt<br />

und sich dazu einer bewussteren wissenschaftlichen Begleitung stellen würden. Diese permanente<br />

Evaluation könnte mittelfristig eine Brücke zu den Innovationskonzepten in der universitären<br />

Lehrerausbildung herstellen.<br />

Voraussetzung ist aber, dass die Kultusministerien sich von populären Sparvorstellungen freimachen<br />

und die Kosten des gesamten Bildungswesens einmal rational kalkulieren; das ließe sich dann<br />

abseits jeder Flickschusterei öffentlich und offensiv vertreten, auch wenn »Modelle der Sparsamkeit«<br />

die materielle Ausstattung der Bildung eventuell weiter und vielleicht noch mehr <strong>als</strong> bisher<br />

limitieren müssen. Es geht daher in erster Linie um organisatorische, curriculare und didaktische<br />

Innovationen, die sich dem geforderten Paradigmenwechsel für eine »<strong>Politik</strong> in der Krise« bewusst<br />

stellen. [134]<br />

Literatur<br />

Adorno, Theodor W., u.a., 1973: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main.<br />

Ahlers, Ingolf, 1999: Im Zeichen der Globalisierung – Weltökonomie und Neoliberalismus. Eine Einführung in den<br />

Diskussionsstand aus abweichender Perspektive. In: Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, Hg.,<br />

1999: Globalisierung, Migration und Multikulturalität Werden zwischenstaatliche Grenzen in innerstaatliche Demarkationslinien<br />

verwandelt? Wissenschaftliche Schriftenreihe: ZwischenWelten: Theorien, Prozesse und Migrationen.<br />

Hg. Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, Institut für Soziologie der Universität Hannover in<br />

Verbindung mit der Deutsch-türkischen Vereinigung zum sozial- und geisteswissenschaftlichen Austausch (DTA),<br />

Hannover. Hannover (IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation). S. 15-48<br />

Albers, Irene, 1992: „Vereinigungslust“ <strong>als</strong> „Kunst der Freiheit“. Individualisierung und Gemeinschaft VI:<br />

Kommunitaristische Anleihen bei Tocqueville. Frankfurter Rundschau, 28.01.1992. Forum Humanwissenschaften.<br />

Autorenkollektiv, 1974: Politische Ökonomie – Kapitalismus. Berlin [DDR] (Dietz Verlag).<br />

Bade, Klaus J., Hg., 1992: Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für<br />

politische Bildung, Bonn.<br />

Barlösius, Eva / Kürşat-Ahlers, Elçin / Waldhoff, Hans-Peter, Hg., 1997: Distanzierte Verstrickungen. Die ambivalente<br />

Bindung soziologisch Forschender an ihren Gegenstand. Festschrift für Peter Gleichmann. Hannover.<br />

Battmer, Gerd / Rischmüller, Werner / Voigt, Gerhard, 1979/1981: Faschismus in Deutschland und Neonazismus.<br />

Materialien für den <strong>Politik</strong>unterricht. Herausgegeben vom Landesverband Niedersachen der GEW. Neue Reihe Heft<br />

1. Hannover 1980. Nachdruck bei Pädagogische Arbeitsstelle Dortmund (pad), Dortmund 1981.<br />

Beck, Birgit, 1995: Vergewaltigung von Frauen <strong>als</strong> Kriegsstrategie im Zweiten Weltkrieg. In: Gestrich, A., Hg., 1995:<br />

Gewalt im Krieg: Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts. Jahrbuch für<br />

Historische Friedensforschung 4. Münster 1995. S. 34-50.<br />

Beck, Ulrich, 1986: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main.<br />

Beck, Ulrich / Beck-Gernsheim, Elisabeth, 1990: Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt am Main.<br />

Begley, Louis, 1995: „Ein satanisches Requiem“. Über die Bestie Mensch im 20. Jahrhundert. DER SPIEGEL, Nr.<br />

23/1995, 5.6.95: 180-186.<br />

Bitterli, Urs, 1982: Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der<br />

europäisch-überseeischen Begegnung. München [dtv 4396] {München 1976 [C.H.Beck]}.<br />

Bolte, Karl Martin / Hradil, Stefan, 1984: Soziale Ungleichheit in der Bundesrepublik Deutschland. 19845. Opladen<br />

(Leske).<br />

Bolte, Karl Martin / Kappe, Dieter / Neidhard, Friedhelm, 1974: Soziale Ungleichheit. Struktur und Wandel der Gesellschaft.<br />

Reihe B der Beiträge zur Sozialkunde, Band 4. Opladen 19743 (Leske).<br />

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Bottomore, T. B., 1967: Die sozialen Klassen in der modernen Gesellschaft. München (Nymphenburger. Sammlung<br />

Dialog Bd. 21)<br />

Breit, Gotthard, Hg., 1994: Globale Schlüsselprobleme im <strong>Politik</strong>unterricht. Stuttgart.<br />

Breuer, Stefan, 1993: Jenseits der Zivilisation. Der adlige und der bürgerliche Tugendkanon müssen auseinander<br />

gehalten werden. Frankfurter Rundschau, Nr. 255, 2. November 1993, S. 10. Forum Humanwissenschaften.<br />

Brumlik, M., 1973: Der Symbolische Interaktionismus und seine pädagogische Bedeutung. Frankfurt/M.<br />

Claußen, Bernhard / Wellie, Birgit, Hg., 1996: Umweltpädagogische Diskurse. Sozialwissenschaftliche, politische und<br />

didaktische Aspekte ökologiezentrierter Bildungsarbeit. Materialien zur sozialwissenschaftlichen Forschung<br />

(MaSoFo), Band 10. Frankfurt am Main (Haag + Herchen).<br />

Claußen, Bernhard, 1991: Risikogesellschaft und Politische Bildung. Didaktische Dimensionen des ökologischen<br />

Gesellschaftskonflikts. In: Heitmeyer, Wilhelm / Jacobi, Juliane, Hg., 1991: Politische Sozialisation und Individualisierung.<br />

Perspektiven und Chancen politischer Bildung. Weinheim/München. S. 229-248.<br />

Claußen, Bernhard, 1995: Zur Sozialgeschichte der politischen Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland:<br />

Versäumnisse der Vergangenheitsbewältigung, Pluralismus und die Grenzenlosigkeit strikter West-Orientierung. In:<br />

Claußen, Bernhard / Wellie, Birgit, Hg., 1995: Bewältigungen. <strong>Politik</strong> und Politische Bildung im vereinigten<br />

Deutschland. Sonderausgabe. Hamburg. S. 376-496.<br />

Dahrendorf, Ralf, 1967: Pfade aus Utopia. München (Pieper)<br />

Dahrendorf, Ralf, 1968: Die angewandte Aufklärung. Frankfurt (Fischer TB)<br />

Durth, Werner, 1977: Die Inszenierung der Alltagswelt. Zur Kritik der Stadtgestaltung. Bauwelt Fundamente 47. Braunschweig.<br />

Elias, Norbert, 1936: Über den Prozess der Zivilisation [1936]. Frankfurt 199015 (stw 158)<br />

Engler, Wolfgang, 1992: Die zivilisatorische Lücke. Versuche über den Staatssozialismus. Frankfurt am Main (Edition<br />

Suhrkamp 1772).<br />

Engler, Wolfgang, 1993: Rundumerneuerung des öffentlichen Lebens. Die vierfache Krise der Zivilisation erfordert<br />

neue Institutionen und Praktiken. Frankfurter Rundschau, Nr. 231, 5. Oktober 1993, S. 12. Forum<br />

Humanwissenschaften.<br />

Erman, Tahire / Turan, Neslihan, 1999: Emigration und Integration. In: Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff,<br />

Hans-Peter, Hg., 1999: Globalisierung, Migration und Multikulturalität Werden zwischenstaatliche Grenzen in innerstaatliche<br />

Demarkationslinien verwandelt? Wissenschaftliche Schriftenreihe: ZwischenWelten: Theorien,<br />

Prozesse und Migrationen. Hg. Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, Institut für Soziologie<br />

der Universität Hannover in Verbindung mit der Deutsch-türkischen Vereinigung zum sozial- und<br />

geisteswissenschaftlichen Austausch (DTA), Hannover. Hannover (IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation).<br />

S. 93-102<br />

FILIPP, Karlheinz, 1987: Kritische Didaktik der Geographie. Prolegomena zur Emanzipation einer Disziplin. Materialien<br />

zur sozialwissenschaftlichen Forschung. Band 1. Frankfurt am Main.<br />

Fohrbeck, Karla / Wiesand, Andreas J. / Zahar, Renate, 1971: Heile Welt und Dritte Welt. Medien und politischer<br />

<strong>Unterricht</strong> (I.): Schulbuchanalyse. Leske. Opladen.<br />

Fohrbeck, Karla / Wiesand, Andreas J., 1983: „Wir Eingeborenen“. Zivilisierte Wilde und exotische Europäer. Magie<br />

und Aufklärung im Kulturvergleich. Reinbek bei Hamburg.<br />

Fourastié, Jean, 1949: Le grand espoir du XXe siècle. Paris. {dt.: Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts. 19543}.<br />

Fukuyama, Francis, 1989: La fin de l’histoire. In: Commentaire, Nr. 47, 457-469.<br />

Fukuyama, Francis, 1992: Das Ende der Geschichte. München. (The End of History and the Last Man. London: Hamish<br />

Hamilton, 1992).<br />

Fuller, Graham, 1995: Der Kampf der Ideologien geht weiter. Die nächsten Konfrontationen. DIE ZEIT, Nr. 21, 19.<br />

Mai 1995: 3. <strong>Politik</strong>.<br />

Gagel, Walter, 1990: Theorie muss in der Praxis vermittelt werden. In: Cremer, Will / Commichau, Imke (Red.), 1990:<br />

Zur Theorie und Praxis der politischen Bildung. Diskussionsbeiträge zur politischen Didaktik. Schriftenreihe der<br />

Bundeszentrale für politische Bildung, Band 290. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn. S. 284-287.<br />

Galeano, Eduardo, 1990: Die Geringschätzung <strong>als</strong> Schicksal. Die Theorie vom Ende der Geschichte kommt in Mode.<br />

In: »Kommune« 10/1990, Seite 34-35. Übersetzt von Michael Bünte, Mitarbeiter beim Kinderhilfswerk terre des<br />

hommes.- Aus der chilenischen Zeitschrift »analisis« vom 20. bis 26. August 1990.<br />

Gleichmann, Peter, 1989: Zivilisierung Deutschlands. Neun Thesen [1988]. In: Aller, M. / Hoffmann-Nowotny, H.-J. /<br />

Zapf, W., Hg., 1989: Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages in Zürich 1988.<br />

Frankfurt am Main/New York. S. 392-401 (Campus Verlag).<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 57


Gleichmann, Peter, 1995: Sind Menschen in der Lage, vom gegenseitigen Töten abzulassen. In: Gestrich, A., Hg., 1995:<br />

Gewalt im Krieg: Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts. Jahrbuch für<br />

Historische Friedensforschung 4. Münster 1995.<br />

Gottschalch, Wilfried, 1977: Schülerkrisen. Entstehungsgeschichten autoritärer Persönlichkeiten. Reinbek.<br />

Habermas, Jürgen, 1991: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main.<br />

Habermas, Jürgen, 1992: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen<br />

Rechtsstaats. Frankfurt am Main.<br />

Hagner, Michael, 1999: Annäherung an die Experimentalkultur. Plädoyer für eine dynamische Betrachtung der<br />

Wissensentwicklung. Frankfurter Rundschau, Nr. 51, Dienstag, 2. März 1999, Seite 7. Forum Humanwissenschaften.<br />

Hartfiel, G., Hg., 1972: Die autoritäre Gesellschaft [= ›Kritik 1‹]. Opladen 19723 (Westdeutscher Verlag)<br />

Hartmann, Heinz, Hg., 1973: Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie. München/Stuttgart<br />

19732 (dtv 4131/Enke)<br />

Heitmeyer, Wilhelm / Jacobi, Juliane, Hg., 1991: Politische Sozialisation und Individualisierung. Perspektiven und<br />

Chancen politischer Bildung. Weinheim/München.<br />

Heitmeyer, Wilhelm / Möller, Kurt / Sünker, Hans, Hg., 1989: Jugend – Staat – Gewalt. Weinheim/München.<br />

HENTIG, Hartmut von, 1971: Cuernavaca oder: Alternativen zur Schule? Stuttgart/München.<br />

Hilligen, Wolfgang, 1992: Optionen zur politischen Bildung, neu durchdacht angesichts der Vereinigung Deutschlands.<br />

In: Gegenwartskunde 41. S. 117-139.<br />

Hobbes, Thomas, 1651: Leviathan oder: Wesen, Form und Gewalt des kirchlichen und bürgerlichen Staates [London<br />

1651]. Reinbek 1965 (Rowohlts Klassiker 1879)<br />

Hofmann, Werner, 1969: Grundelemente der Wirtschaftsgesellschaft. Reinbek bei Hamburg (rororo 1149)<br />

Hörz, Peter F. N., 1999: Großmütterchen fällt die Tür auf die Nase. Die Individualisierung der Gesellschaft hat das Ego<br />

in den Vordergrund gerückt. Frankfurter Rundschau, Nr. 61, Samstag, 13. März 1999. S. ZB 5.<br />

Huntington, Samuel P., 1996: in einem ›Frankfurter Rundschau-Interview‹: Ich bin ein Generalist. Samuel Huntington<br />

über den Zusammenprall der Zivilisationen. Frankfurter Rundschau, Nr. 303, Montag, 30. Dezember 1996: 12. Das<br />

Gespräch.<br />

Huntington, Samuel P., 1998: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Aus dem<br />

Amerikanischen von Holger Fliessbach. (Berlin und München) (Siedler Taschenbuch 75506 im Goldmann Verlag)<br />

{The Clash of Civilizations. New York 1996; dt.: München und Wien 1996}.<br />

ILLICH , Ivan, 1971: Entschulung der Gesellschaft. München.<br />

Illich, Ivan, 1982: Vom Recht auf Gemeinheit. Reinbek bei Hamburg.<br />

Karaganow, Sergej, et al., 1999: Ein Teil der Machtstrukturen ist schon außer Kontrolle geraten. Warum die russischen<br />

Eliten im Rückzug Boris Jelzins den optimalen Ausweg aus der Krise sehen. Thesen einer Tagung des Rates für Außen-<br />

und Sicherheitspolitik, Moskau, Februar 1999. Frankfurter Rundschau, Nr. 61, Samstag, 13. März 1999. S. 20.<br />

Dokumentation. {Auszüge aus: Nesawissimaja Gaseta, 16. Februar 1999}.<br />

Klafki, Wolfgang 1994: Schlüsselprobleme <strong>als</strong> inhaltlicher Kern internationaler Erziehung. In: Seibert, Norbert, Serve,<br />

Helmut J. (Hg.), Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Multidisziplinäre Aspekte, Analysen,<br />

Positionen, Perspektiven. München.<br />

Klafki, Wolfgang, 1990: Allgemeinbildung für eine fundamental-demokratisch gestaltete Gesellschaft. In: Cremer, Will<br />

/ Klein, Ansgar, Hg., 1990: Umbrüche in der Industriegesellschaft. Herausforderungen für die politische Bildung.<br />

Opladen.<br />

Krippendorff, Ekkehart, 1985: Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt am Main (es<br />

1305)<br />

Kuhlmann, Andreas, 1993: Zivilisation vor dem Zerfall. Verhaltensstandards und gesellschaftliche Erosion. Frankfurter<br />

Rundschau, Nr. 219, 21. September 1993, S. 12. Forum Humanwissenschaften.<br />

Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, 1999: Globalisierung, Migration, Multikulturalität – ein<br />

deutsch-türkischer Dialog. In: Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, Hg., 1999: Globalisierung,<br />

Migration und Multikulturalität Werden zwischenstaatliche Grenzen in innerstaatliche Demarkationslinien verwandelt?<br />

Wissenschaftliche Schriftenreihe: ZwischenWelten: Theorien, Prozesse und Migrationen. Hg. Kürşat-<br />

Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, Institut für Soziologie der Universität Hannover in Verbindung<br />

mit der Deutsch-türkischen Vereinigung zum sozial- und geisteswissenschaftlichen Austausch (DTA), Hannover.<br />

Hannover (IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation). S. 9-13<br />

Kürşat-Ahlers, Elçin, 1995: Die Brutalisierung von Gesellschaft und Kriegsführung im Osmanischen Reich während<br />

der Balkankriege (1903-1914). Brutalisierung der Gesellschaft und literarische Intelligenz. In: Gestrich, A., Hg.,<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 58


1995: Gewalt im Krieg: Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts.<br />

Jahrbuch für Historische Friedensforschung 4. Münster 1995. S. 51-74.<br />

Legendre, Pierre, 1983: L’empire de la vérité. Introductions aux espaces dogmatiques industriels. Paris (Fayard).<br />

Legendre, Pierre, 1988: Le désir politique de Dieu. Études sur les montages de l’Etat et du Droit. Paris (Fayard).<br />

Leiris, Michel, 1977: Die eigene und die fremde Kultur. Ethnologische Schriften [1938-1968]. Frankfurt am Main<br />

(Syndikat).<br />

Lévi-Strauss, Claude, 1978: Traurige Tropen. Frankfurt am Main [suhrkamp taschenbuch wissenschaft 240] {Tristes<br />

Tropiques. Paris 1955}.<br />

Luhmann, Niklas, 1975: Macht. Stuttgart (Enke)<br />

Luhmann, Niklas, 1985: Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee. Opladen (Westdeutscher Verlag)<br />

Luhmann, Niklas, 1986: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische<br />

Gefährdungen einstellen? Opladen (Westdeutscher Verlag)<br />

Lumer, Christoph, 1997: Habermas’ Diskursethik. Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 51 (1997), 1. S. 42-<br />

64.<br />

Lynch, Kevin, 1968: Das Bild der Stadt. Bauwelt Fundamente. Gütersloh.<br />

Memmi, Albert, 1980: Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts. Mit einem Vorort von Jean-Paul Sartre.<br />

Frank1977furt/M. [Syndikat] {Portrait du colonisé précédé du Portrait du colonisateur. Paris 1966}<br />

Merton, Robert K., 1957: Social Theory and Social Structure. Glencoe, Ill. (Free Press)<br />

Negt, Oskar, 1997: Das permanente Macht-Dilemma der Geistes- und Sozialwissenschaften. In: Barlösius, Eva /<br />

Kürşat-Ahlers, Elçin / Waldhoff, Hans-Peter, Hg., 1997: Distanzierte Verstrickungen. Die ambivalente Bindung<br />

soziologisch Forschender an ihren Gegenstand. Festschrift für Peter Gleichmann. Hannover. S. 43-60.<br />

Nettelmann, Lothar / Voigt, Gerhard / Plavšić, Vesna / Holm, Helena, 1999: Zur Bestimmung des Begriffes einer<br />

»Staatsgesellschaft«. Eine Einführung. In: Voigt, Gerhard, Hg., 1999: Staatsgesellschaft. Forum Politologie und<br />

Soziologie. Galda + Wilch Verlag. Glienicke/Berlin / Cambridge/Massachusetts. (In Vorbereitung.).<br />

Nettelmann, Lothar / Voigt, Gerhard, 1986: Polen – Nation ohne Ausweg? Eine Einführung in <strong>Politik</strong>, Wirtschaft,<br />

Kultur und Umwelt. Geschichte und Staat, Bd. 274. Olzog. München.<br />

Nettelmann, Lothar / Voigt, Gerhard, 1996: Reflexionen über den Begriff der Krise. In: »politik unterricht aktuell« Heft<br />

1-2/1996, S. 24-38 (Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V., Hannover)<br />

Offe, Claus, 1970: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Mechanismen der Statusverteilung in Arbeitsorganisationen<br />

der industriellen Leistungsgesellschaft (Diss.). Frankfurt .<br />

Offe, Claus, 1977: Industriegesellschaft oder Kapitalismus? Theorien der gegenwärtigen Gesellschaft. In: Furth /<br />

Greffath, 1977: Soziologische Positionen, Interviews und Kommentare. Frankfurt, S. 32 ff. (Fischer TB 1976) – Zitiert<br />

aus: K. Böttcher, Hg., 1988: Moderne Industriegesellschaft und sozialer Wandel. „Sozialwissenschaften“, herausgegeben<br />

und bearbeitet von W. Breuer, F. J. Floren u.a., H.15. Paderborn, S.165 [M=154]. (Schöningh Verlag)<br />

Opitz, Peter J., 1993: Armut, Not und Krieg verursachen die Flucht von Menschen. Rückblick auf die Wanderungen aus<br />

Europa und Ausblick auf die Wanderungen nach Europa. Frankfurter Rundschau, Nr. 172, Mi., 28. Juli 1993: 10,<br />

Dokumentation<br />

Oran, Baskin, 1999: Bedeutet Globalisierung Imperialismus? In: Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-<br />

Peter, Hg., 1999: Globalisierung, Migration und Multikulturalität Werden zwischenstaatliche Grenzen in<br />

innerstaatliche Demarkationslinien verwandelt? Wissenschaftliche Schriftenreihe: ZwischenWelten: Theorien,<br />

Prozesse und Migrationen. Hg. Kürşat-Ahlers, Elçin / Tan, Dursun / Waldhoff, Hans-Peter, Institut für Soziologie<br />

der Universität Hannover in Verbindung mit der Deutsch-türkischen Vereinigung zum sozial- und<br />

geisteswissenschaftlichen Austausch (DTA), Hannover. Hannover (IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation).<br />

S. 49-60<br />

Ostendorf, Heribert, et al., 1999: Magdeburger Erklärung. Auszüge: Eine Ellenbodengesellschaft ist eine gewalttätige<br />

Gesellschaft. Erwachsene <strong>als</strong> negative Vorbilder für Jugendliche. Die Magdeburger Initiative plädiert für eine neue<br />

Kultur zwischen den Generationen. Frankfurter Rundschau, Nr. 60, Freitag, 12. März 1999. S. 20. Dokumentation.<br />

Papcke, Sven, 1974: Wandel oder Zwangswandel? Marx und das Problem der Revolution. In: Jahrbuch<br />

Arbeiterbewegung. Band 2: Marxistische Revolutionstheorien. Fischer Taschenbuch. Frankfurt am Main<br />

Parsons, Talcott, 1953: The Social System. Glencoe, Ill. (Free Press)<br />

Renn, Ortwin / Webler, Thomas, 1996: Der kooperative Diskurs: Grundkonzeption und Fallbeispiel. Analyse & Kritik<br />

18 (1996). S. 175-207. Opladen (Westdeutscher Verlag).<br />

Roth, Gerhard, 1998: „Das Gehirn weiß wenig von der Wirklichkeit“. Jeder irrt, der zu wissen glaubt, was ein anderer<br />

denkt Interview mit Jürgen Nakott. bild der wissenschaft, Heft 10/1998, S. 71-73<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 59


Rousseau, Jean Jaques, 1762: Der Gesellschaftsvertrag oder: Die Grundsätze des Staatsrechtes (‚Du Contrat Social ou<br />

Principes du Droit Politique‘, 1762). Stuttgart 1963 (Reclam UB 1769/70)<br />

Rufin, Jean-Christophe, 1993: Das Reich und die neuen Barbaren. Berlin. (frz.: L’Empire et les nouveaux barbares.<br />

Paris 1992).<br />

Sachverständigenrat Bildung der Hans-Böckler-Stiftung, 1999: Jugend, Bildung und Zivilgesellschaft. Auszüge: Was<br />

sollen Jugendliche künftig lernen und leisten? Der Sachverständigenrat Bildung schlägt eine Veränderung der<br />

Aufgaben der Schulen vor. Frankfurter Rundschau, Nr. 57, Dienstag, 9. März 1999. S. 7. Dokumentation.<br />

Sagolla, Dieter 1996: Menschliche Arbeit „billig wie Dreck“. Horst Afhelds Thesen zur Globalisierung zu Billiglohnökonomien.<br />

Neue Presse (Hannover), September 1996.<br />

Said, Edward W., 1981: Orientalismus. Frankfurt/M. [Ullstein Materialien, Ullstein Buch 35097] {Orientalism. 1978}<br />

Scharping, Michael, 1999: Keine freie Erfindung. Der Konstruktivismus und sein Verhältnis zur Realität. Frankfurter<br />

Rundschau, Nr. 51, Dienstag, 2. März 1999, Seite 7. Forum Humanwissenschaften.<br />

Schneider, Manfred, 1998: „Es genügt nicht, Menschenfleisch herzustellen“. Ein Porträt des Rechtshistorikers und Psychoanalytikers<br />

Pierre Legendre. Frankfurter Rundschau, Nr. 229, Freitag, 2. Oktober 1998, S. ZB 3. Feuilleton.<br />

Schramke, Wolfgang, 1975: Zur Paradigmengeschichte der Geographie und ihrer Didaktik. Eine Untersuchung über<br />

Geltungsanspruch und Identitätskrise eines Faches. Geographische Hochschulmanuskripte Heft 2. Göttingen.<br />

Seyfarth, C., 1969: Zur Logik der Leistungsgesellschaft. Grundlagen der Kritik der gesellschaftlichen Geltung von Leistung<br />

(Diss.). München.<br />

Sommermeyer, Wolfgang, 1994: Die künftige Dominanz des Kleeblatts. Patchwork-Biographien werden uns eine völlig<br />

veränderte Realität bescheren. Frankfurter Rundschau, Nr. 230, Di., 4. 10. 94, S. 9, Forum Humanwissenschaften<br />

Steinert, Heinz, Hg., 1973: Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven Soziologie. Stuttgart (Klett)<br />

Steinkamp, G., 1971: Über einige Funktionen und Folgen des Leistungsprinzips in industriellen Gesellschaften. In:<br />

Ortlieb, H. D. / Molitor, B. / Krone, W., Hg., 1971: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.<br />

Tübingen<br />

Stief, Gabi, 1996: „Die Globalisierung ist eine Phantomtheorie“. Michael Vester, <strong>Politik</strong>wissenschaftler an der Universität<br />

Hannover im Gespräch. Hannoversche Allgemeine Zeitung, Nr. 191, Donnerstag, 15. August 1996, S.2. <strong>Politik</strong>.<br />

Strzelewicz, W., 1972: Herrschaft ohne Zwang? Systeme und Interpretationen der Autorität heute. In: Hartfiel, G., Hg.,<br />

1972: Die autoritäre Gesellschaft [= ›Kritik 1‹]. Opladen 19723, S. 21 ff.<br />

Sutor, Bernhard, 1992: Politische Bildung <strong>als</strong> kategoriale Bildung. In: Breit, Gotthard u.a., Hg., 1992: Grundfragen und<br />

Praxisprobleme der politischen Bildung. Ein Studienbuch. Bonn. S. 339-351.<br />

Tan, Dursun / Gomani, Corrina,1997: Zur Rolle des religiösen Diskurses in der Erziehung unter besonderer<br />

Berücksichtigung der deutschen türkisch-muslimischen Minderheit in Deutschland. politik unterricht aktuell 1-<br />

2/1997 (Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V.). Hannover. S. 14-41.<br />

Tan, Dursun, 1998: Menschenrechte – eine fixe Idee des Abendlandes? Zur Kritik der Kritik an den Menschenrechten.<br />

Internationaler Arbeitskreis Sonnenberg. Tagungsbericht Menschenrechte. Braunschweig.<br />

Thomas, William I. / Thomas, Dorothy S., 1928: The Child in America. New York (Alfred A. Knopf) {deutscher<br />

Auszug in: Thomas, W. I., 1965: Person und Sozialverhalten. Hg. von E. H. Volkart. Neuwied (Luchterhand). – in<br />

diesem Aufsatz zitiert nach: Steinert, Heinz, Hg., 1973: Symbolische Interaktion. Arbeiten zu einer reflexiven<br />

Soziologie. Stuttgart (Klett), S. 333-335.<br />

Treuheit, Werner / Otten, Hendrik, 1986: Akkulturation junger Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland. Probleme<br />

und Konzepte. Opladen.<br />

Treuheit, Werner / Otten, Hendrik, 1993: Theoretische Grundlagen der Akkulturationsdidaktik. Interaktion und Soziales<br />

Lernen. In: Gerhard Voigt, Hg: Interkulturelles Lernen. Eine Antwort der Didaktik der Gesellschaftswissenschaften<br />

auf den Realitätsverlust der politischen Kultur Mitteleuropas. politik unterricht aktuell, Sonderheft 1993<br />

(Schriftenreihe des UNESCO-Clubs für die UNESCO-Schule am Maschsee, Bismarckschule Hannover, e.V., Heft 5.<br />

Rekonstruiert / restauriert Juli 2011) S.79 ff.<br />

http://pu-aktuell.de/pua1993-s/p93S_IKU_anhang.htm<br />

Treuheit, Werner, 1993: Interkulturelles Lernen im politischen <strong>Unterricht</strong> <strong>als</strong> Akkulturationshilfe. In: Gerhard Voigt,<br />

Hg: Interkulturelles Lernen. Eine Antwort der Didaktik der Gesellschaftswissenschaften auf den Realitätsverlust der<br />

politischen Kultur Mitteleuropas. politik unterricht aktuell, Sonderheft 1993 (Schriftenreihe des UNESCO-Clubs für<br />

die UNESCO-Schule am Maschsee, Bismarckschule Hannover, e.V., Heft 5. Rekonstruiert / restauriert Juli 2011)<br />

http://pu-aktuell.de/pua1993-s/p93s_IKU_akkulturationshilfe.htm<br />

Voigt, Gerhard, 1982: Motivation und affektive Lernhindernisse zum Thema »Dritte Welt« und ihre Bedeutung für das<br />

geographische Curriculum, Text eines Referates auf der Entwicklungspolitischen Tagung des Verbandes Deutscher<br />

Schulgeographen in Berlin 1.-3.11.82, Bonn (<strong>als</strong> Manuskript veröffentlicht).<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 60


Voigt, Gerhard, 1993: Interkulturelle Erziehung im Geographieunterricht und in der politischen Bildung. Positionen zu<br />

den Aufgaben der interkulturellen Erziehung und politischen Bildung. In: Zeitschrift für den Erdkundeunterricht 45,<br />

Berlin, 6-7/93, 254-259.<br />

Voigt, Gerhard, 1993: Rechtsextremismus und Ausländerinnen und Ausländer im <strong>Unterricht</strong>. Ausgewählte Aspekte der<br />

Methodik und Didaktik. <strong>Politik</strong>-Wissenschaft-Bildung, Heft 12, Hg. von Bernhard Claußen. Krämer Verlag.<br />

Hamburg.<br />

Voigt, Gerhard, 1995: Südostanatolien <strong>als</strong> internationaler Konfliktherd – Ursachen und Perspektiven. In: politik<br />

unterricht aktuell (Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V.). Heft 1, 1995: 14-27.<br />

Voigt, Gerhard, 1996a: Ontologisierte Geschichte: Über das Geschichtsbild des Historikers. Zu einer Rezension von<br />

Imanuel Geiss über Elçin Kürşat-Ahlers Untersuchung der frühen zentralasiatischen Staatenbildungen. Historische<br />

Mitteilungen. Ranke Gesellschaft. 9/1996, Heft 2. S. 310-314.<br />

Voigt, Gerhard, 1996b: Ökologische Fragen im <strong>Unterricht</strong>: ein integrativ-sozialwissenschaftliches Umwelt-Curriculum<br />

für Gymnasien und Gesamtschulen. In: Claußen, Bernhard / Wellie, Birgit, Hg., 1996: Umweltpädagogische<br />

Diskurse. Sozialwissenschaftliche, politische und didaktische Aspekte ökologiezentrierter Bildungsarbeit.<br />

Materialien zur sozialwissenschaftlichen Forschung (MaSoFo), Band 10. Frankfurt am Main (Haag + Herchen).<br />

Voigt, Gerhard, 1998a: Über den Zusammenhang zwischen öffentlichem <strong>Politik</strong>diskurs und Selbstbild von<br />

<strong>Politik</strong>lehrerinnen und <strong>Politik</strong>lehrern. In: Hufer, Klaus-Peter / Wellie, Birgit, Hg., 1998: Sozialwissenschaftliche und<br />

bildungstheoretische Reflexionen: fachliche und didaktische Perspektiven zur politisch-gesellschaftlichen<br />

Aufklärung. Festschrift für Bernhard Claußen. Galda + Wilch Verlag. Glienicke/Berlin / Cambridge/Massachusetts.<br />

S. 237-249.<br />

Voigt, Gerhard, 1998b: <strong>Politik</strong> in der Schule? Über den Zusammenhang zwischen öffentlichem <strong>Politik</strong>diskurs und<br />

Selbstbild von <strong>Politik</strong>lehrerinnen und <strong>Politik</strong>lehrern: Erfahrungen an der Bismarckschule Hannover. In: Kronig,<br />

Michael / Nettelmann, Lothar / Voigt, Gerhard / Wehking, Ulrich, Hg., 1998: Reform – vom Gedanken zur Praxis.<br />

Für Ulrich Bauermeister. Schriftenreihe des UNESCO-Clubs für die UNESCO-Schule am Maschsee,<br />

Bismarckschule Hannover, e.V. Heft 10. Hannover. S. 103-127.<br />

Voigt, Gerhard, 1998c: <strong>Politik</strong> in der Schule? Über den Zusammenhang zwischen öffentlichem <strong>Politik</strong>diskurs und<br />

Selbstbild von <strong>Politik</strong>lehrerinnen und <strong>Politik</strong>lehrern: Erfahrungen in der Schulpraxis. politik unterricht aktuell<br />

(Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V.) Heft 1, 1998. S. 23-35.<br />

Voigt, Gerhard, 1999a: Widerständigkeit <strong>als</strong> Gültigkeitsproblem der Politischen Bildung. Krisen und Konfliktfelder<br />

zwischen Universalisierungsanspruch und Nationfixierung.<br />

Voigt, Gerhard, 1999b: Zur Begriffsbestimmung von „Staat“ und „Staatsgesellschaft“. Anmerkungen zur begrifflichen<br />

Differenzierung. In: Voigt, Gerhard, Hrsg., 1999: »Staatsgesellschaft« : Historisch-sozialwissenschaftliche Beiträge<br />

zur Diskussion von Entwicklungen, Problemen und Perspektiven. / Gerhard Voigt. – Hannover : UNESCO-Club für<br />

die UNESCO-Schule am Maschsee, Bismarckschule Hannover, e.V. 2002 (Schriftenreihe des UNESCO-Clubs für<br />

die UNESCO-Schule am Maschsee, Bismarckschule Hannover, e.V., ISSN 0945-1536 - Materialien zur Didaktik der<br />

Interkulturellen Bildung Heft 1). 2. verbesserte Auflage. - Internet Publikation<br />

Waldhoff, Hans-Peter, 1995: Fremde und Zivilisierung. Wissenssoziologische Studien über das Verarbeiten von<br />

Gefühlen der Fremdheit. Probleme der modernen Peripherie-Zentrums-Migration am türkisch-deutschen Beispiel.<br />

Frankfurt am Main (Suhrkamp Verlag).<br />

Wallerstein, Immanuel, 1995: Die Sozialwissenschaft »kaputtdenken«. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts.<br />

{Orig. Unthinking Social Science.} Weinheim<br />

Weiss, Walter M. / Westermann, Kurt-Michael, 1994: Der Basar. Mittelpunkt des Lebens in der islamischen Welt. Geschichte<br />

und Gegenwart eines menschengerechten Stadtmodells. Wien (Edition Christian Brandstätter).<br />

Wiehn, E., 1968 : Theorien der sozialen Schichtung. München (Pieper)<br />

Wiswede, G. / Kutsch, Th., 1979: Sozialer Wandel <strong>als</strong> „Modernisierung“ – Problematik eines Konzepts.<br />

In: J. Matthes, Hg., Sozialer Wandel in Westeuropa. Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages 1979.<br />

Frankfurt/New York, S.416/420 f. (Campus) – {Zitiert aus: K. Böttcher, Hg., Moderne Industriegesellschaft und<br />

sozialer Wandel. „Sozialwissenschaften“, herausgegeben und bearbeitet von W. Breuer, F. J. Floren u.a., Heft 15.<br />

Paderborn 1988, S. 170 f. [M158]. (Schöningh Verlag)}<br />

Wolf, Jürgen / Voigt, Gerhard, 1977: Soziale Ungleichheit. Leistungskurs Soziologie. Nichtveröffentlichter<br />

Handreichungskurs. Materialdienst GEW Landesverband Niedersachsen. Hannover [Als Manuskript gedruckt:<br />

Sonderdienst 12/77].<br />

Wouters, Cas, 1994: Konformitätsdruck und Profilierungszwang. Zwischen Identifikation und Individualisierung:<br />

Ambivalenzen des Affektmanagements. Aus dem Niederländischen von Anne Fritz Middelhoek. Frankfurter Rundschau,<br />

Nr. 8, 11. Januar 1994, S. 10. Forum Humanwissenschaften.<br />

Ziehe, Thomas, 1991: Formen der Individualisierung. Unspektakuläre Zivilisationsgewinne. Auch Individualisierung<br />

kann »kommunitär« sein. Frankfurter Rundschau, Nr. 269, 19./20.11.1991, S. 25.<br />

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[8]<br />

[9]<br />

Anmerkungen<br />

dass diese Zukunftsangst in den USA erneut panikartige »Weltuntergangsbewegungen« Resonanz finden lässt, ist<br />

einerseits eine Besonderheit der US-amerikanischen Politischen Kultur und steht damit in einer alten irrationalfrömmlerischen,<br />

fundamentalistischen Tradition dieses Landes; andererseits durch die enge Medienverbundenheit<br />

Europas mit den USA verstärken diese amerikanischen Massenpsychosen auch in Europa vorfindliche Zukunftsängste,<br />

die sich nicht nur auf das durch die Medien hochstilisierte »Jahr-2000-Problem« in der Computerbranche<br />

konzentrieren. Vielleicht ist aber der, hoffentlich dann noch vorhandene, pragmatische Optimismus für Mensch,<br />

Natur und Technik auf der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover ein angemessenes Gegengewicht gegen das<br />

befürchtete Armageddon.<br />

Diese Millenniumsbefindlichkeit drückt sich in Ängsten und Hoffnungen, zumindest aber in einem Wechsel von<br />

Leitbildern und einer wachsenden Instabilität bisher gefügter politischer Optionen und Orientierungen aus.<br />

So oft dies auch von unterschiedlichen Positionen her gefordert wird, krankt die derzeitige universitäre Sozialwissenschaft<br />

zumindest in Deutschland daran, dass inhaltliche Kontroversen nicht zum Ansatz der Eröffnung<br />

innovativer Diskurse sondern oftm<strong>als</strong> <strong>als</strong> Waffen in persönlichen Rivalitäten genutzt werden. Das ist umso bedauerlicher,<br />

<strong>als</strong> gerade in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs eine wache und innovativ-kritische Sozialwissenschaft<br />

dringend zur <strong>Politik</strong>beratung und zur neuen Grundlegung der Politischen Bildung erforderlich ist. Doch<br />

wird dies wohl gerade dadurch verhindert, dass die zu untersuchenden Umbrüche in der Hochschulrealität zu einer<br />

dramatischen Verschlechterung der akademischen Berufsperspektiven und der Arbeitsmöglichkeiten geführt<br />

haben, und viele Sozialwissenschaftler und Sozialwissenschaftlerinnen nur schwer noch die Kraft finden, diese<br />

Selbstbezüglichkeit des Forschungsgegenstandes in der notwendigen Selbstdistanz wahrzunehmen und zu<br />

reflektieren.<br />

Es ist notwendig, den Gebrauch des Begriffes »Legitimation«, der in der Literatur und vor allem im philosophischen<br />

Kontext uneinheitlich ist, zu präzisieren. Im Kontext dieser Ausführungen soll »legitimieren« im Sinne von<br />

»rechtfertigen« ohne weiterführende positive Wertannotation gemeint sein. Legitimationsprozesse meinen somit<br />

Prozesse, die die Hinnahme von Machtungleichgewichten und erfolgten Entscheidungsprozessen bzw. einzelner<br />

Akte der ausgeübten Herrschaft durch die Beherrschten ermöglichen, weil sie verbunden sind mit strukturellen,<br />

erfahrbaren Vorteilen (Ordnungssicherheit, Orientierungssicherheit, Planbarkeit der eigenen Alltagszukunft, Ermöglichung<br />

von Selbstgewissheiten). Nicht gemeint ist dabei kurzfristig-opportunistisches Verhalten; ebenso<br />

wenig die Notwendigkeit einer, letztlich in transzendentale Ordnungsvorstellungen zielende affektive Zuwendung<br />

zur Herrschaftsordnung oder den Maßnahmen der Herrschaft, wie sie in religiösen oder vorstaatsgesellschaftlichen<br />

Legitimationsvorstellungen zum Ausdruck kommen. Staatlicherseits ist dies am grundsätzlichen<br />

Widerspruch zwischen den alternativen Legitimationsmodellen für unseren Staat herauszuarbeiten, in<br />

denen »Verfassungstreue« gegen »Verfassungsloyalität« zu stellen ist.<br />

„The Strongest Poison ever known, Came from Cesar’s Laurel Crown.“ William Blake: Auguries of Innocence.<br />

Vgl. Fußnote 23.<br />

Niklas Luhmann (1986) schreibt dazu: „Die Analyse der drei Funktionssysteme Wirtschaft, Recht und<br />

Wissenschaft hat ergeben, dass in allen diesen Fällen eine durch einen Code geschlossene autopoietische<br />

Selbstreproduktion Bedingung der Offenheit des Systems ist, <strong>als</strong>o Bedingung der Resonanzfähigkeit und ihrer<br />

Grenzen... Nach alter Tradition wird auch heute noch für <strong>Politik</strong> eine Ausnahmestellung beansprucht... Die<br />

Funktion der <strong>Politik</strong> wurde in der Struktur gesellschaftlicher Differenzierung an eine bestimmte, einzigartige<br />

Systemstellung geknüpft. In der Corpus-Metaphorik wurde sie mit dem Kopf oder mit der Seele identifiziert...<br />

Solche Zuordnungen hatten ihre Plausibilität aufgrund vorherrschender Formen struktureller Differenzierung des<br />

Gesellschaftssystems... In Wirklichkeit hat auch das politische System sich unter einem Spezialcode<br />

ausdifferenziert und damit die Geschlossenheit des eigenen Operationsmodus und eine Offenheit durch<br />

Umweltreferenz und Wechsel politischer Programme erreicht. Der Code ist mit der staatlichen Zentrierung politischer<br />

Macht gegeben.“ (S. 167, 168, 169.) Typisch ist die in sich stringente funktionalistisch Systemzentrierung<br />

der Darstellung des »Politischen«, in der von der subsystemübergreifenden, oft mehrdeutigen Handlungsmotivation<br />

des einzelnen Menschen und einzelner Gruppen abstrahiert wird. Diese in der Systemtheorien<br />

notwendige Komplexitäts- und Ambivalenzreduktion ist jedoch für eine didaktische Forschung wenig hilfreich,<br />

ermöglicht jedoch ein vertieftes Verständnis für die oft beklagten unvorhergesehenen und unvorhersehbaren<br />

Reaktionen in den gesellschaftlichen Teilsystemen auf einleuchtend motivierte und begründete gesellschaftliche<br />

Aktivitäten und Anstöße.<br />

An dieser Stelle genügt der Hinweis darauf, dass dieser Diskurs, ausgehend auch von der Zivilisationstheorie,<br />

selbstreferenziell-distanziert geführt wird z.B. bei Oskar Negt und in anderen Aufsätzen der betreffenden<br />

Festschrift für Peter Gleichmann mit dem für die Situation der Soziologen und der Soziologie bezeichnenden Titel<br />

»Distanzierte Verstrickungen« (Barlösius u.a. 1997), der auch die existenzielle Grundbefindlichkeit des im<br />

Bereich der Politischen Bildung <strong>Unterricht</strong>enden kennzeichnen kann.<br />

Näher zu untersuchen ist dies im Kontext mit dem Begriff der Mode wie allgemeiner mit dem Problem der<br />

Rezeption der Massenmedien. Zu den Jugendgruppen, die allein sich durch mediale Vermittlung haben<br />

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entwickeln und konstituieren können, gehören die an Musikstilen orientierten Gruppierungen, »Yuppies« und<br />

»Popper«, »Skins« und – entgegen ihrem Selbstidentifikationsmythos auch – »Punks«.<br />

Wenn eine solche begriffliche Zusammenstellung entgegen philosophischer Stringenz hier erlaubt sei!<br />

Eine auch im Folgenden weiter verwendete Begriffsbildung, die sich an den Modellen der »Weltsystemtheorie«<br />

von Immanuel Wallerstein orientiert.<br />

Diese spielen aber z.B. in Form der Leistungsideologie im öffentlichen Diskurs noch eine große Rolle; zu den<br />

Missverständnissen des Funktionalismus vgl. u.a. Bolte 1974, S. 20-22 und 96-99; diese Texte sind auch für<br />

ideologiekritisches Arbeiten im <strong>Politik</strong>unterricht gut zu verwenden und wurden daher auch aufgenommen in den<br />

<strong>Unterricht</strong>sentwurf »Soziale Ungleichheit«, Wolf / Voigt 1978.<br />

In der didaktischen Perspektive sind diese Problemdiskussionen wieder aufzugreifen bei der Erörterung der vier<br />

zentralen Diskurse, mit denen weiter unten das didaktisch-curriculare Konzept der »Schlüsselprobleme«<br />

vorgestellt werden soll.<br />

Diese Diskussion gewinnt aktuelle Bedeutung vor allem in der Diskussion über die Situation in den<br />

Transformationsländern, wo aus noch darzustellenden Gründen die fachliche Verwendung des Krisenbegriffs auf<br />

Probleme stößt. Diese Ausführungen sind auch eine ergänzende Reaktion zu einem Aufsatz von Lothar<br />

Nettelmann über die Krise in Polen 1999, in: Claußen, Bernhard / Donner, Wolfgang / Voigt, Gerhard, Hrsg.,<br />

2001: Krise der <strong>Politik</strong> – Politische Bildung in der Krise? Diskurse im Kontext von Globalisierung und Ost-West-<br />

Perspektiven. Materialien aus der Zusammenarbeit zwischen der Akademie für Wirtschaft, <strong>Politik</strong> und Kultur<br />

Mecklenburg-Vorpommern und dem Verband der <strong>Politik</strong>lehrenden. Demokratie und Aufklärung: Kritische<br />

Sozialwissenschaften und Politische Bildung im Diskurs – Materialien –, Band 1. Galda + Wilch Verlag.<br />

Glienicke/Berlin / Cambridge/Massachusetts.<br />

Zur Begrifflichkeit vgl. die Ansätze von Wallerstein, vgl. Fußnote 11. Für eine inhaltliche Neuorientierung der<br />

<strong>Politik</strong>didaktik an zentralen, diskursiv gegründeten Schlüsselproblemen ist es notwendig, vor allem die<br />

Entwicklungen in diesen Ländern der sozioökonomischen Semiperipherien (z.B. Türkei, Naher Osten, Südasien<br />

und Lateinamerika) und den so genannten Transformationsländern (z.B. die Länder der ehemaligen Sowjetunion<br />

und ehemalige Mitgliedstaaten des RGW wie Polen, Ungarn), oder Regionen, in denen sich beide Kategorien<br />

überschneiden wie in Südosteuropa (ehemaliges Jugoslawien) <strong>als</strong> »Krisenregionen« in den Vordergrund zu<br />

stellen. Gerade die Beschäftigung mit diesen semiperipheren Regionen, deren politisch-gesellschaftlichen<br />

Realitätsperspektiven und Selbstdefinitionen oft fundamental von unseren Einordnungskategorien unterscheiden,<br />

ermöglichen die Relativierung und Überprüfung unserer politiktheoretischen »Selbstverständlichkeiten« und<br />

damit auch unseres eigenen Selbstbildes, wie es sich gerade an der unterschiedlichen Rezeption des »Krisenbegriffes«<br />

deutlich machen lässt.<br />

Diese selbstreferenzielle Begriffsrezeption kann didaktisch von Bedeutung sein, wenn in schulischen Lerngruppen<br />

zunehmend Schülerinnen und Schüler aus den globalen Semiperipherien (Türkei, Naher Osten, Iran) oder den<br />

Transformationsländern des ehemaligen »Ostblocks« zu finden sind, in denen schon die Kategorisierung ihrer<br />

Herkunftsländer in dem Begriffsraster der Weltsystemtheorie in sozioökonomische und politische Zentrums-<br />

Peripherie-Vorstellungen <strong>als</strong> stigmatisierend empfunden und dementsprechend zurückgewiesen wird. Hier ist<br />

pädagogisch nach Strategien zur Erzeugung von Distanz und Selbstdistanz zu fragen, die wiederum im Rahmen<br />

zivilisationstheoretischer Konzepte zu fundieren sind.<br />

Vgl. dazu Nettelmann / Voigt 1996, S. 24-38<br />

So die heutige gesellschaftswissenschaftliche Kritik, die in der »Neuen Linken« z.B. von Papcke aufgegriffen<br />

bzw. zeitlich gesehen wohl schon vorweggenommen wurde! (Vgl. Papcke 1974, S. 11-32).<br />

Dieser wird, auch für schulische Zwecke gut verwendbar, dargestellt bei Hofmann 1969, v.a. S. 90 ff. Im<br />

zeitgeschichtlichen Zusammenhang vgl. dabei auch die <strong>Unterricht</strong>seinheit von Battmer/Rischmüller/Voigt<br />

1980/1981.<br />

Vgl. die Darstellung bei Autorenkollektiv 1974, S. 91 – Auch wiedergegeben bei Battmer/Rischmüller/Voigt 1979<br />

S. 81/83.<br />

Hofmann 1969; vgl. Fußnote 19.<br />

„Ich glaub’ ich krieg ‘ne Krise!“<br />

Vgl. dazu wieder die historisch-soziologischen Analysen von Elias und Wallerstein. Vor diesem Hintergrund<br />

spricht Waldhoff (1996) von den länger werdenden »Interdependenzketten«, in denen der Einzelne mit der<br />

Entwicklung der Moderne hineingestellt wird, und die die eigenen Abhängigkeiten unüberschaubarer und<br />

unverständlicher machen.<br />

Die sozialpsychologischen Hintergründe erörtert Engler 1992 in seinem „Versuch über den Staatssozialismus“ am<br />

Beispiel der DDR.<br />

Ein Teil der allgemeinen wie der gesellschaftswissenschaftlichen Fachdidaktik versteht diese Überprüfung und<br />

Revision auch von Seiten der Hochschule her <strong>als</strong> erste und permanente Aufgabe der wissenschaftlichen Arbeit in<br />

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pädagogischen und didaktischen Zusammenhängen. Doch sind Autoren wie von Hentig, Hilligen oder heute<br />

Bernhard Claußen im universitären Arbeitsbereich in der Minderheit geblieben, was auch Anstöße für<br />

Veränderungen in den Hochschulen aus der Sicht der Schule heraus umso dringlicher erscheinen lässt!<br />

Diese Reformpädagogik ist dann oft privaten Initiativen und Schulversuchen überlassen geblieben, z.B. den<br />

Montessori-Schulen, der Glocksee-Schule in Hannover u.a., was dann zwangsläufig die Gefahr birgt,<br />

sektiererhafte Züge anzunehmen, die einer ernsthaften Rezeption in der pädagogischen Öffentlichkeit entgegenstehen.<br />

Wobei durchaus auch hier im letzten Jahrzehnt deutliche pädagogische Rückentwicklungen zu beobachten sind;<br />

doch existiert dieses Nord-Süd-Gefälle nicht nur zwischen den unterschiedlichen politischen Mehrheiten, sondern<br />

auch in den Parteien selbst. Inwieweit das auf kultur- und zivilisationsgeschichtliche Wurzeln der<br />

unterschiedlichen Entwicklung der Staatsgesellschaft und ihrer Politischen Kultur – gekennzeichnet z.B. auch<br />

durch die unterschiedliche konfessionelle Prägung – sei zwar <strong>als</strong> Fragestellung formuliert, kann hier aber nicht<br />

weiter vertieft werden.<br />

Die Terminologie leitet sich aus der Zivilisationstheorie ab und bezieht sich auf Norbert Elias und begrifflich auf<br />

Hans-Peter Waldhoff (vgl. Fußnote 23); nur durch diese Zuordnung kann der verwendete Begriff der<br />

»Homogenisierungen« vor Missverständnissen bewahrt bleiben; er meint hier die mit der Entwicklung der<br />

modernen westlichen Staatsgesellschaft, gekennzeichnet durch die Institutionalisierung des Flächenstaates wie der<br />

zumindest weitgehenden Durchsetzung des Gewaltmonopols und der Steuerhoheit des Staates, einhergehende<br />

Reduzierung kultureller regionaler Vielfalt und Dezentralität, die Einführung einer verbindlichen Staats- und<br />

»Hoch«-Sprache wie die Durchsetzung eines egalisierenden Rechts- und Pflichtensystems in der Gesellschaft.<br />

dass dies in der europäischen Neuzeit teilweise nur unter erheblichem Zwang geschah, zeigt die französische wie<br />

die spanische Nationenwerdung (»nation building«); vgl. Ivan Illich 1982: „Vom Recht auf Gemeinheit“, wo er<br />

vor allem die Nationsbildung und Durchsetzung der kastilischen Sprache <strong>als</strong> »Spanisch« nach der Reconquista<br />

darstellt. Verallgemeinernd vgl. auch bei: Voigt 1999 (i.V.) und Nettelmann / Voigt u.a. 1999 (i.V.). Das Problem<br />

der Staatsgesellschaft auch für die Grundlagen der Didaktik zeigt besonders prägnant Gleichmann in seinen Neun<br />

Thesen zur „Zivilisierung Deutschlands“ (1989): „Wenn wir von Staatsgesellschaften sprechen, geschieht dies,<br />

um die fortschreitende Verschmelzung von »Staaten« und »Gesellschaften« besser zu kennzeichnen. Die Grenzen<br />

von »Nationen« bleiben dagegen meist unscharf oder fiktiv. Und diese besondere Durchdringung der<br />

Gesellschaften durch den Staat unterscheidet die meisten Staaten Europas auch deutlicher von anderen Gebieten<br />

der Erde. Nahezu jegliche Lebensäußerung des einzelnen Menschen ist von »staatlichen« Maßnahmen, Zwängen<br />

mitbestimmt. Es ist kaum mehr möglich, von separaten Entitäten auszugehen, wie sie den Denkern des 18. und 19.<br />

Jahrhunderts. selbstverständlich dünkten. Eine Ursache für das raschere Entstehen von Staatsgesellschaften<br />

besteht in der Tatsache, dass die Gesellschaften – wenigstens der zentralen Teile – Europas niem<strong>als</strong> über sehr<br />

lange Zeiträume unter die rücksichtsloseste Fremdherrschaft gerieten; das Vertrauen in sämtliche »staatlichen«<br />

Einrichtungen konnte hier niem<strong>als</strong> derart grundsätzlich und langfristig zerstört werden, wie es etwa in Lateinamerika<br />

oder weiten Teilen Asiens geschehen ist. Die Prozesse einer innergesellschaftlichen Zivilisierung<br />

prägen auch die seelischen Antriebs- und Empfindensmuster des einzelnen Menschen. Die Deutschen haben die<br />

Fähigkeit des Einzelnen, sich selbst steuern zu lernen, sich »individueller« zu verhalten, sicher »später« <strong>als</strong> einige<br />

benachbarte »Nationen« erworben, blickt man etwa auf die Niederlande, England oder Frankreich: ihre Staatsbildung<br />

ist auch vergleichsweise stärker von Diskontinuitäten bestimmt. Diese Vorgänge lassen sich an zentralen<br />

Zwangsinstanzen, die von vielen oder allen Menschen durchlaufen werden, gut ablesen. Sozialisation und Individuation<br />

sind zwei verschiedene Ausdrücke für diesen Vorgang des Geprägtwerdens durch bestimmte seelische<br />

Verhaltensmuster. Die Herausbildung einer staatlichen Erziehung ist einer der wichtigsten Prozesse geworden,<br />

wenn auch noch im 20. Jahrhundert mit dem Wort von der »Schule der Nation« keine Einrichtung des<br />

Schulwesens bezeichnet worden ist. Vor allem Militärdienst, Schulen, viele staatliche »Anstalten« und besonders<br />

alle Einrichtungen der Menschen zu Naturkontrollen, heute meist »technologische« genannt, prägen die<br />

Antriebsmuster des einzelnen bis in die unscheinbarsten Nuancen hinein. Veranschaulicht wird dies auch durch<br />

die Einrichtungen des »Sozi<strong>als</strong>taates« mit seinen besonderen Tendenzen zur Bürokratisierung, Monetarisierung,<br />

und Zentralisierung sämtlicher seiner Leistungen. Die »Fabrik« und gegen Ende des 20. Jahrhunderts dazu das<br />

»Büro« sind zu beinahe universalen Prägeinstanzen geworden; wobei zu den Struktureigentümlichkeiten des<br />

östlichen deutschen Staates zählt, dass hier die Staatsspitze, das Politbüro, sich darüber hinaus auch faktisch zum<br />

»zentralen Arbeitsherrn« der Gesellschaft gemacht hat. - Die Zivilisierung einer großen Zahl von Personen ist auf<br />

einigen Gebieten besonders für das 19. Jahrhundert von Geschichtsforschern unter der Bezeichnung »Sozialdisziplinierung«<br />

untersucht worden (W. Schulze). Die eigentlichen »Modernisierungsleistungen« der Zivilisierungsinstanzen,<br />

die zunehmende Fähigkeit der einzelnen, sich genauer selbst zu steuern, sind dabei weniger beachtet<br />

worden. Doch im realgeschichtlichen Verlauf des inneren gesellschaftlichen und staatlichen Ausbaus der »inneren<br />

Staatsbildung« wie die Geschichtsforscher meist sagen, gehören beide Prozesse zusammen“ (These 4, S. 395).<br />

Ein aktueller Sammelband, herausgegeben von Claußen und Wellie (1996) gibt einen guten Überblick über die<br />

Façetten und Entwicklungen dieses wichtigen didaktischen Bereiches.<br />

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Vgl. Gronemeyer in GEW – Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Niedersachsen, 1997:<br />

Zur Funktion der Politischen Bildung in Schule und Gesellschaft.<br />

Schmidt-Wulffen, Wulf D., 1979: Theorien der Unterentwicklung. In: GEW – Gewerkschaft Erziehung und<br />

Wissenschaft, Landesverband Niedersachsen, 1997 – Vgl. Fußnote 38 und 39.<br />

Diese Erklärung trifft vor allem die deutsche Durchschnittsschülerschaft und gilt in dieser Form nicht für alle<br />

Migranten. Die dort z.T. zu beobachtenden im nächsten Punkt angesprochenen Formen eines dezidierten<br />

Aufstiegsverhaltens lässt unter zivilisationstheoretischen Gesichtspunkten die Frage nach einer eventuellen<br />

Phasenverschiebung im Habitus (vergleichbar mit deutschen »Nachkriegsorientierungen« in den 50er/60er Jahren)<br />

aufkommen. Dies soll jedoch hier nicht vertieft werden.<br />

Vgl. dazu die Ausführungen von Nettelmann zur Entwicklung in Polen in: Nettelmann / Voigt 1986, S. 78 ff.<br />

Vgl. Abschnitt 1.5<br />

Ein Problem besteht sicherlich darin, dass einem Großteil der Lehrerinnen und Lehrer die Problematik sehr wohl<br />

bewusst ist, sie aber sich gegenüber der Komplexität der Problematik hilflos gegenüber sehen. Gegenüber<br />

notwendigen Lösungen sehen sie sich <strong>als</strong> überfordert.<br />

Hier ergeben sich, auch begründet in Unkenntnis und mangelnder Wahrnehmungsdistanz, in der unterrichtlichen<br />

Situation ganz erhebliche Probleme, wenn z.B. in einer Lerngruppe ›Türken‹ und ›Kurden‹ nicht unterschieden,<br />

›Ukrainer‹, aus Russland stammende Juden und Russlanddeutsche differenzlos unter die (Sprach-) Kategorie<br />

»Russen« subsumiert werden. Die soziologische Einsicht der Historizität der Ethnogenese und der<br />

Problemhaltigkeit dieser Eigenwahrnehmungen <strong>als</strong> Angehörige ethnischer Gruppen rechtfertigt es pädagogisch<br />

keinesfalls, diese von vorne herein kategorial wegzudefinieren. Dies wird subjektiv <strong>als</strong> Aggression und<br />

Geringschätzung durch die deutsche Schule wahrgenommen – mit den entsprechenden Selbstausgrenzungs- und<br />

Abwehrreaktionen dieser Schülerinnen und Schüler. Eine Aufarbeitung der Problematik dieser selbst erlebten<br />

Gruppenidentitäten und nationalen Zugehörigkeiten kann nur durch eine behutsame pädagogische Förderung der<br />

Entwicklung von Ich-Stärke und Selbstdistanzierungsfähigkeit erfolgen. Der Respekt vor mitgebrachten und biographisch<br />

verankerten Identitätsvorstellungen und Selbstbildern muss oberste Maxime pädagogischen Verhaltens<br />

sein. Vgl. Demirkan (1998): „Respekt statt Integration“!<br />

Klassische Einführungen in die Thematik z.B. bei Adorno u.a. 1973, S. 46-61, Gottschalch 1977, S. 35 ff., Battmer<br />

/ Rischmüller / Voigt 1981, S. 47-54; schulbezogene Studien und <strong>Unterricht</strong>shilfen z.B. Bade 1992, S. 9-49<br />

und Materialteil, Heitmeier 1992, insbes. S. 18-19 und Materialteil, Voigt 1993, Rechtextremismus: passim.<br />

Literatur dazu z.B. Bitterli 1982. – Fohrbeck / Wiesand / Zahar 1971. – Fohrbeck / Wiesand, 1983. – Voigt 1982.<br />

Leiris 1977, Memmi 1980, Lévi-Strauss 1978, Said 1981.<br />

Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass wahrgenommene und problematisierte Migrationen heute <strong>als</strong> Folge zweier<br />

Weltkriege durch die vorgegebene Lage staatlicher Grenzziehungen in Europa und dem Vorderen Orient definiert<br />

sind, wie Rufin 1993 sehr klar herausgearbeitet hat. So ist z.B. der Umzug eines Texaners nach Maine in den USA<br />

eine übliche, z.T. sogar erwünschte Reaktion auf Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt, die Migration des Mexikaners<br />

wenige Kilometer weiter in die USA aber eine meist illegale, kriminalisierte Grenzverletzung! Das Gleiche<br />

wird in Zukunft zunehmend zur Unterscheidung von Wanderungen in der EU und in die EU hinein beitragen.<br />

Vgl. die Ausführungen zum Schicht- und Differenzierungsbegriff im Abschnitt 1.4. Zur allgemeinen didaktischen<br />

Bedeutung des Schichtbegriffes vgl. die Ausführungen zum »Schlüsselproblem« Soziale Ungleichheit im Diskurs<br />

»Gerechtigkeit, Ungleichheit, Wertewandel« im Abschnitt 4.3. Der Begriff der Oberschicht darf in diesem<br />

Zusammenhang nicht im traditionelle Sinne gebraucht werden, auch wenn <strong>als</strong> soziale Reliktformen solche<br />

traditionellen Oberschichten vor allem in den Ländern der Semiperipherien und globalen Peripherien noch eine<br />

soziale und politische Rolle spiele, wobei ihre Funktion meist <strong>als</strong> Widerpart zu heute anstehenden<br />

Modernisierungsschüben zu beschreiben ist. Im Kontext der Globalisierung bilden sich jedoch über vorhandene<br />

Staats- und Volkstumsgrenzen hinweg »neue Oberschichten« heraus, die zunächst einmal aus den ökonomischen,<br />

kulturellen, teilweise auch militärischen und politischen Funktionseliten der einzelnen Staaten hervorgehen, deren<br />

Verhaltens-, Ziel- und Wertoptionen aber in stärkerem Maße Universalisierungstendenzen unterliegen, wie sie<br />

hier angesprochen werden. Gerade durch das zumindest graduelle Absetzen vom nation<strong>als</strong>taatlich fixierten<br />

Habitus der bisherigen Mittelschichten, aus denen sie sich zumeist heraus entwickeln, kann von einem neuen<br />

Habitustyp einer internationalen Oberschicht gesprochen werden.<br />

Zum Beispiel wurden 1976 beim Wechsel von einer SPD-geführten Landesregierung zu einem CDU-<br />

Kultusminister zwar verbal grundlegende Änderungen angekündigt, letztlich blieben aber sowohl die umstrittene<br />

Orientierungsstufe wie die bestehenden Gesamtschulen bestehen, wie auch die Struktur der Rahmenrichtlinien<br />

und ihre Erstellung in Kommissionen sich nur graduell veränderte. Nur der groß anlegte Versuch einer Reform<br />

der Sekundarstufe II (Kursstufe) musste sehr wesentliche Rückentwicklungen erfahren (gravierende<br />

Einschränkungen in den Kursangeboten, Beendigung der Arbeit an den so genannten »Handreichungen«, d.h. zur<br />

Erprobung vorgelegter Kursentwürfe [vgl. Kursentwurf »Soziale Ungleichheit« von Wolf / Voigt 1978],<br />

Einschränkung von freien Lernangeboten (Projekten, Orientierungskursen, kursunabhängigen Facharbeiten etc.).<br />

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Aber auch die Rückkehr einer SPD-Landesregierung im Jahre 1990 fand keinen Weg zurück in die Reformphase<br />

der 70er Jahre. Andererseits blieb der Interessengegensatz in der Kultusministerkonferenz mit den süddeutschen<br />

Ländern allen niedersächsischen Landesregierungen erhalten, was bis zum Streit um die bayrische Anerkennung<br />

Niedersächsischer Abiturzeugnisse zur Zeit eines CDU-Kultusministers in den 80er Jahren ging.<br />

Das Problem einen mangelhaft konzeptualisierten Schul- und Bildungspolitik wird – ohne dass sich dabei gewisse<br />

Schärfen in der politischen Beurteilung vermeiden lassen werden – am Ende dieses Aufsatzes im Zusammenhang<br />

mit der Erörterung der verpassten Chancen in der Lehrerfortbildung angesprochen werde.<br />

Zum Begriff der Homogenisierung vgl. die Ausführungen weiter oben.<br />

Die den traditionellen Erziehungsvorstellungen verhaftete <strong>Politik</strong> reagiert angesichts der immer offensichtlicher<br />

werdenden Nichtsteuerbarkeit der Wert- und Verhaltensvermittlung zwischen den Generationen und dem damit<br />

verbundenen drohenden weiteren Einflussverlust der <strong>Politik</strong> und des Staates und anderen institutionellen Trägern<br />

panisch. Es kann unter diesen Umständen nur <strong>als</strong> purer Zynismus verstanden werden, wenn Vorstellungen, die an<br />

Sippenhaftung grenzen gegenwärtig wieder diskutiert werden, wie z.B. in der von einigen gesellschaftlichen<br />

Gruppen gewünschten Ausweisung von Ausländern bei Delinquenz ihrer Kinder oder der Streichung von<br />

Sozialhilfe in einem entsprechenden Fall bei deutschen Staatsbürgern. dass diese Vorstellungen zumeist gegen<br />

ohnehin benachteiligte und ausgegrenzte machtarme Unterschichtgruppen gerichtet sind, ist bezeichnend für das<br />

Gesellschaftsbild und das Demokratieverständnis der so argumentierenden <strong>Politik</strong>er. Ein Verständnisproblem,<br />

aber kein grundsätzlicher Widerspruch zu diesen Ausführungen ist der allgemeinere Verweis auf die im<br />

mitteleuropäischen Rechtsverständnis verankerte grundsätzliche Schadenshaftung der Eltern für ihre Kinder.<br />

Diese gilt natürlich auch für Mittelschichtenangehörige <strong>als</strong> Eltern von Kindern, die z.B. durch Farbsprays Sachbeschädigungen<br />

verursacht haben. Die geforderte, geplante und praktizierte Durchsetzung finanzieller Forderungen<br />

stellen erhebliche finanzielle Belastungen dar. Doch wird diese Haltung begrenzt, wenn die Einsichtsfähigkeit der<br />

Kinder rechtlich vorausgesetzt werden kann; in diesem Falle bleibt die Schadenshaftung einer späteren<br />

Regulierung durch die erwachsen werdenden Delinquenten <strong>als</strong> Schuldtitel vorbehalten. Die Schadenshaftung ist<br />

aber sicher nicht substantiell zu vergleichen mit strafrechtlich motivierten Maßnahmen, die ansonsten nur bei<br />

eigener Straffälligkeit greifen, wie z.B. die Ausweisung. dass damit sippenrechtliche Vorstellungen der türkischen<br />

Bevölkerungsminderheit in Deutschland, die den Ehrenkodices ihres Heimatlandes entsprechen (vgl. Waldhoff<br />

1995 oder Tan / Gomani 1997), reflektiert und verstärkt werden, ist ein zusätzliches faktisches Integrationshemmnis<br />

und widerspricht den grundrechtlich orientierten Vorstellungen einer deutschen Integrationspolitik.<br />

Vgl. den entsprechenden Aufsatz von Voigt in: Claußen, Bernhard / Donner, Wolfgang / Voigt, Gerhard, Hrsg.,<br />

2001: Krise der <strong>Politik</strong> – Politische Bildung in der Krise? Diskurse im Kontext von Globalisierung und Ost-West-<br />

Perspektiven. Materialien aus der Zusammenarbeit zwischen der Akademie für Wirtschaft, <strong>Politik</strong> und Kultur<br />

Mecklenburg-Vorpommern und dem Verband der <strong>Politik</strong>lehrenden. Demokratie und Aufklärung: Kritische<br />

Sozialwissenschaften und Politische Bildung im Diskurs – Materialien –, Band 1. Galda + Wilch Verlag.<br />

Glienicke/Berlin / Cambridge/Massachusetts.<br />

Vgl. zum wissenschaftlichen Konzept des Symbolischen Interaktionismus die von Steinert 1973 herausgegebene<br />

Aufsatz-Sammlung; didaktisch in Wert gesetzt wird dieser Ansatz z.B. bei Treuheit / Otten (1986 und 1993) oder<br />

bei Brumlik (1973).<br />

Man verzeihe diese bildhaft-konkretistische Umsetzung des Konzeptes von Habermas, das weitaus abstrakter und<br />

philosophisch-formaler entwickelt wird; hier soll nur die gesellschaftliche Dimension herausgestellt werden, die<br />

<strong>als</strong> Wertoption zwar unseren Vorstellungen nicht widerspricht, aber bei unserer Verwendung des Diskursbegriffes<br />

nicht mitgedacht ist. dass in der Folge in der Philosophie der Diskursbegriff vor allem auch erkenntnistheoretischmethodisch<br />

verwendet kritisiert wird, zeigen – ohne dass dies weitere Folgen für unsere eigenen Überlegungen<br />

haben könnte – Lumer 1997 in seiner Kritik an Habermas’ Diskursethik und Renn / Webler 1996 in ihrem<br />

Konzept eines kooperativen Diskurses.<br />

Der Widerspruch zwischen lernpsychologischen Kategorien und einer immanenten Fachsystematik wird<br />

besonders deutlich, wenn „klassische“ didaktische Postulate wie das lange Zeit in der Erdkunde dominierende<br />

»Vom Nahen zum Fernen« kritisch auf ihre tatsächliche Bedeutung hinterfragt werden. In diesem Beispiel mit der<br />

Überlegung, dass in einer Gesellschaft, die zunehmend weniger von unmittelbaren Realerfahrungen geprägt wird<br />

– zumindest im Vergleich zur Menge der dem Einzelnen verfügbaren und handlungsrelevant werdenden<br />

Informationen und indirekten Realitätsvermittlungen – und deren personale Mobilität zunimmt, ist räumliche<br />

Nähe nicht gleichzusetzen mit psychologischer Erlebnisnähe. Pädagogisch ist daher Nähe nicht am Maßstab<br />

räumlicher (z.T. auch zeitlicher) Distanz sondern wurzelt zumeist in der medialen Präsenz (Kriege, Katastrophen;<br />

virtuelle Welten), biographischer Bedeutung (Herkunft, Migration; Urlaubseindrücke) oder emotionalen<br />

Affinitäten (vermittelt durch Sprache, Kultur, Religion; Literatur, Leitbilder, Moden). Ein »Anknüpfen an Nahes«<br />

bedeutet nicht mehr wie früher, intime Kenntnis des Wohnortes und der (räumlich) näheren Umgebung<br />

vorauszusetzen oder voraussetzen zu können, sondern muss situativ differenzierend die Orte und Situationen der<br />

affektiven Nähe bei den Schülerinnen und Schülern aufspüren und in allem Respekt ansprechen. Der aktuelle<br />

Wohnort ist häufig nur biographisches Intermezzo, oft sogar noch <strong>als</strong> fremd und fern und mit emotionaler Distanz<br />

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wahrgenommen. So kann es einen Hauch ungeahnter »Exotik« gewinnen, mit einer Schülergruppe den eigenen<br />

Wohn- und Schulort erkundend für sich zu »erobern«.<br />

Vgl. die unter Verständnisproblemen leidende Rezension von Immanuel Geiss (1996) über Elçin Kürşat-Ahlers<br />

Untersuchung der frühen zentralasiatischen Staatenbildungen, einer historisch-soziologischen Studie in der<br />

Tradition von Norbert Elias. Als Erwiderung hat der Verfasser ebenfalls in den Historische Mitteilungen der<br />

Ranke Gesellschaft eine Replik vorgelegt unter dem für unseren Zusammenhang interessanten Titel<br />

„Ontologisierte Geschichte: Über das Geschichtsbild des Historikers“ (Voigt 1996a).<br />

Wallerstein 1995: »Unthinking Social Science«.<br />

»Schlüsselprobleme« setzen zudem die Bereitschaft zu einem an ›exemplarischen Lernen‹ orientierten methodischen<br />

Neubestimmung und die Fähigkeit zu einem erhöht distanzierten Wissenschafts- und Didaktikverständnis.<br />

Vor allem das Defizit an letzterem scheint dem Berufsalltag immanent. Bisherige Versuche einer Kompensation<br />

durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen waren nur sehr wenig Erfolg versprechend. Es scheint, dass auch die<br />

mit der psychosozialen Situation von Lehrerinnen und Lehrern und ihren zurückliegenden Berufsentscheidungen<br />

bisher zu wenig erforschte Ursachen darstellen. Die Abwehrhaltung beamteter Fachdidaktiker darf dabei nicht<br />

unterschätzt werden. Hinzu kommen strukturelle Rahmenbedingungen, die nach wie vor Hemmung und<br />

Verweigerung begünstigen. Ein weiteres mentales Hemmnis stellt die Abwehrhaltung der ›didaktischen Praktiker‹<br />

gegenüber den ›universitäten Theoretikern‹ dar, verbunden mit Unterstellungen, dass letztere aus Profilierungsmotivationen<br />

heraus ‘exotische Neuansätze’ propagieren und deren Umsetzung seitens der ›Praktiker‹ kritiklos<br />

erwarten, die ihre Rolle subjektiv <strong>als</strong> ‘Versuchskaninchen’ von Hochschuldidaktiker/innen bzw. verbunden<br />

mit einer Rolle der Schule <strong>als</strong> Spielwiese der <strong>Politik</strong> missbraucht sehen und die daran leiden.<br />

Vgl. u.a. Klafki, Wolfgang 1994: Schlüsselprobleme <strong>als</strong> inhaltlicher Kern internationaler Erziehung. In: Seibert,<br />

Norbert, Serve, Helmut J. (Hg.), Bildung und Erziehung an der Schwelle zum dritten Jahrtausend.<br />

Multidisziplinäre Aspekte, Analysen, Positionen, Perspektiven. München: 135-161. – Klafki, Wolfgang, 1990:<br />

Allgemeinbildung für eine fundamental-demokratisch gestaltete Gesellschaft. In: Cremer, Will / Klein, Ansgar,<br />

Hg., 1990: Umbrüche in der Industriegesellschaft. Herausforderungen für die politische Bildung. Opladen. S. 297-<br />

310. – Breit, Gotthard, Hg., 1994: Globale Schlüsselprobleme im <strong>Politik</strong>unterricht. Stuttgart.<br />

In diese Kategorie fällt z.B. die ländervergleichende Wissensumfrage der Illustrierten »DER STERN« im Januar<br />

1999.<br />

Niedersächsisches Kultusministerium: Rahmenrichtlinien für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule<br />

– gymnasiale Oberstufe, das Fachgymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg. Gemeinschaftskunde<br />

(1994). Herausgegeben vom Niedersächsischen Kultusministerium im Schroedel Schulbuchverlag GmbH,<br />

Hannover 1994. – Die Umbenennung des bisherigen Oberstufenfaches Gemeinschaftskunde – in der<br />

Sekundarstufe I galt die Bezeichnung »Sozialkunde« – in »<strong>Politik</strong>«, der Bezeichnung, die jetzt durchgängig für<br />

alle Schulformen und -stufen gilt, erfolgte erst drei Jahre später in der Revision des niedersächsischen<br />

Schulgesetzes. Die Rahmenrichtlinien bleiben aber gültig.<br />

Dabei wird dieser Eindruck noch dadurch verstärkt, dass die genannten Schlüsselprobleme »ergänzt« und damit<br />

unterlaufen werden durch verbindliche Rahmenthemen im letzten Hauptabschnitt [3.] der Rahmenrichtlinien, die<br />

in der verbindlichen Abfolge der Schulhalbjahre der Klassenstufen 11 bis 13 auch noch den Schlüsselproblemen<br />

in einer Tabelle verbindlich zugeordnet werden: „Die Ziele und Dimensionen politischen Lernens werden im<br />

<strong>Unterricht</strong> in Auseinandersetzung mit Inhalten realisiert, die politisch bedeutsam für das heutige und zukünftige<br />

Leben sind. Diese werden in sechs Rahmenthemen gefasst, die durch den Bezug zu den Schlüsselproblemen und<br />

die verbindlichen Intentionen didaktisch strukturiert werden. Die Übersicht zeigt, welchem Schlüsselproblem das<br />

jeweilige Rahmenthema verbindlich zugeordnet ist. Die inhaltlichen Schwerpunkte zu den Rahmenthemen zeigen,<br />

wie sich durch Bezug auf weitere Schlüsselprobleme zusätzliche Fragestellungen für den <strong>Unterricht</strong> ergeben.<br />

Diese Schwerpunkte zeigen jeweils verschiedene Möglichkeiten der unterrichtlichen Konkretisierung sowie die<br />

Spannweite des Rahmenthemas auf. Neben Beispielen für <strong>Unterricht</strong>s- bzw. Kursthemen werden schließlich<br />

verschiedene Vorschläge zum Methodenlernen gemacht.<br />

Rahmenthemen<br />

Schlüsselprobleme<br />

Frieden und<br />

Gewalt<br />

Ökonomie und<br />

Umwelt<br />

Technologischer<br />

Wandel<br />

Soziale Ungleichheiten<br />

Verhältnis der<br />

Geschlechter<br />

und der<br />

Generationen<br />

Herrschaft und<br />

politische Ordnung<br />

1 Arbeit und Strukturwandel X<br />

2 <strong>Politik</strong> und Wirtschaft der EU X<br />

3 Demokratie in Deutschland X<br />

4 Modernisierungsprozesse in<br />

X<br />

Gesellschaften<br />

5 Internationale <strong>Politik</strong> und globale Verantwortung<br />

X<br />

6 Zukunftsentwürfe: Individuum und Gesellschaft<br />

X<br />

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x = verbindliches Schlüsselproblem“ – Auch diese Rahmenthemen werden anschließend in einzelnen Abschnitten in Hinblick auf ihre gesellschaftlichpolitische<br />

Relevanz begründet und ansatzweise didaktisch erläutert.<br />

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In unserer nachfolgenden, eher unterrichtspraktisch motivierten Konzeption von Diskursen und Schlüsselproblemen<br />

soll versucht werden, den integrativen Charakter von gesellschaftlichen Diskursen mit Einbeziehung<br />

sozialwissenschaftlicher Kriterien für Diskurskonzepte dadurch zu betonen, dass zunächst eine Reduzierung und<br />

Konzentration auf vier umfassende Diskursfelder erfolgt, die in der didaktischen Auffächerung, Konkretisierung<br />

und Umsetzung dann durchaus wieder gegliedert und unterteilt werden müssen. Das Schlüsselproblem<br />

»Herrschaft und Politische Ordnung« wird dabei in das Diskursfeld »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« einbezogen.<br />

Elias 1936/1976, ab S. 1, insbes. S. 65 ff. – Im Staatenbildungsprozess in Deutschland wird im Gegensatz zu<br />

Frankreich die »bürgerliche Intelligenzschicht« weder in die entstehende Staatskonzeption funktional einbezogen,<br />

da sie auch in der deutschen höfischen Kultur nicht oder nur am Rande präsent war, noch ökonomisch im<br />

Bürgertum integriert. Das führte zu distanzierten und distanzierenden Figurationen, bei denen teilweise auch<br />

diskriminierende zugeschriebene Minderheitenrollen z.B. der (»zersetzenden«) jüdischen Intelligenz maßgeblich<br />

auf der einen Seite Furcht vor den revolutionären Intellektuellen, auf der anderen Seite die Erfahrung des<br />

Ausgeschlossenseins vermittelten und damit auf Dauer die Distanz Deutschlands zur Intelligenz festigte (vgl.<br />

Marx, Heine).<br />

Der Verfasser folgt in seinen Gedankengängen hier einer interessanten Diskussion mit einem befreundeten<br />

Hochschullehrer, der sich intensiv gerade um eine stärkere Orientierung an der Schulpraxis in seinem Fach, der<br />

Geographiedidaktik, bemüht und der gerade auch aus der Sicht unserer <strong>Politik</strong>didaktik zu den aufgeschlossenen<br />

und gesellschaftlich verantwortungsbereiten Schulgeographen in Deutschland gehört.<br />

Vgl. die Ausführungen in: Voigt 1998a/b/c und 1999a<br />

Dabei möchte der Verfasser anfügen, dass seine eigene Praxis des <strong>Politik</strong>-<strong>Unterricht</strong>s gerade diese Ansätze in den<br />

Vordergrund stellt und interdisziplinär mit Erdkunde und Geschichte vor allem Themen aus den so genannten<br />

»Semiperipherien« (Türkei, Naher Osten) und den »Transformationsräumen« (Polen, Ungarn, Russland)<br />

behandelt und dabei auch Reisen und Studienfahrten in diese Länder anbietet (1998 z.B. nach Sankt Petersburg)<br />

oder Schulpartnerschaftsprogramme (z.B. mit der Istanbul Lisesi in der Türkei) initiiert und betreut.<br />

Ein Erlebnis aus der Erdkunde-Fachkonferenz an der Schule des Verfassers soll diesen Überlegungen noch eine<br />

gewisse anekdotisch-persönliche Note geben: Von einer Elternvertreterin ist der Verfasser kürzlich in verletzender<br />

Weise diskreditiert worden – wobei der rechtswidrige Antrag auf Ausschluss aus der Fachkonferenz und auf ein<br />

Redeverbot noch das Harmloseste war –, weil er angesichts sinkender Schülerzahlen wagte, gegen eine (jetzt erst<br />

in diesem Gymnasium erfolgte) zusätzliche Einführung eines Erdkunde-Leistungskurses zu votieren. Unterstützung<br />

bei Fachkollegen fand diese seltsame Konferenzvertreterin jedoch bei der Auffassung, stattdessen den<br />

<strong>Politik</strong>-Leistungskurs zu streichen (was nicht erfolgen wird) und das Fach Erdkunde von »fachfremder<br />

Politisierung« zu befreien (was der Verfasser <strong>als</strong> Erdkunde- und <strong>Politik</strong>lehrer jedoch verhindern wird)!<br />

Die aktuelle Menschenrechtsdebatte zeigt, dass gerade zu diesem Paradigma einfache Antworten schwer möglich<br />

sind. Zu sehr überschneiden sich hier sprachlich-semantische Probleme unterschiedlicher Realitätsdefinitionen<br />

(so, wenn im Arabischen die wörtliche Übersetzung von »Menschenrecht« eindeutig negativ konnotiert ist, weil in<br />

ihr, ebenfalls in einer dichotomen Weltsicht – wenn auch wie im Christentum mit monistischer Endzeitperspektive<br />

–, eine Polemik gegen Gottesrecht und Recht der »umma«, der Gemeinschaft der Gläubigen notwendig<br />

in das Verständnis eingeschlossen ist), Identitäts- und Integrationsforderungen wie unterschiedliche kollektive<br />

geschichtliche Erfahrungen, die in den Wertordnungen der jeweilige Politischen Kultur ihren Ausdruck finden.<br />

Diese im Grunde eher <strong>als</strong> skeptizistisch und agnostisch zu kennzeichnende Denktradition findet in den Naturwissenschaften<br />

zunehmen Resonanz, vor allem auch in der Biologie und der Gehirnforschung. Vgl. dazu Gerhard<br />

Roth 1998.<br />

Hier soll der Verweis auf eine kritische Weiterführung des Dekonstruktivismus und dem Versuch seiner<br />

Zusammenführung mit psychoanalytischen wie hermeneutischen Denktraditionen bei Pierre Legendre (u.a. 1983;<br />

1988). „Diese industrielle Moderne erhebt in Legendres Augen immer noch Anspruch auf Führung der gesamten<br />

Menschheit, sie operiert immer noch unter dem dogmatischen Design, das die juristischen Meisterdenker des<br />

ausgehenden Mittelalters entworfen haben: Sie ist immer noch ein System, das die Menschen an ihren unreifen<br />

Stellen packt: am sterblichen Körper, an der sozialen Abhängigkeit und am Unbewussten. Also doch auch Freud!<br />

Aber was Legendre aus dem Verdrängten der modernen Gesellschaft, nämlich aus ihren alten Akten zieht, das<br />

sind nicht Triebe, Begehren, Inzest, die nur allzu bekannten Ungeheuer der schlafenden Vernunft: Es ist das<br />

Gesetz. Die industrielle Kultur und die Wissenschaftskultur der Moderne oder Hypermoderne, wie Legendre<br />

gerne sagt, arbeiten Hand in Hand. Sie formen, bilden, steuern die Menschen nach harten, auf Selbsterhaltung<br />

ausgelegten Prinzipien. Ihre Wissenschaften beschreiben das Ergebnis dieser Dressur <strong>als</strong> Verhalten. Legendres<br />

Bücher sind daher erfüllt von Groll und Gelächter über die Social Behavioural Sciences unserer Tage. Auf sie berufen<br />

sich die Führer, <strong>Politik</strong>er, Manager, Richter. Die Menschenwissenschaften rücken in die Position der absoluten<br />

Referenz, wo doch eben unsere Referenz nur ein mythischer Name sein kann, ein Name, der das Nichts<br />

versiegelt. Das Nichts, aus dem wir kommen und wohin wir <strong>als</strong> unsterbliches Protoplasma, wie Freud sagte,<br />

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gehen. Die Wahrheit und die Wirklichkeit der sprechenden Tierchen, die wir tatsächlich sind, finden sich allein<br />

durch institutionelle Systeme organisiert. Menschen kommen in der Natur nicht vor, sondern nur in kulturellen<br />

Milieus, die sich in der Moderne selbst für Natur halten. Kann man die Seele des Löwen beim Pfötchengeben<br />

studieren? Der wahre, natürliche Mensch ist das phantastisch zurechtgestutzte Zirkustier der Aufklärung,<br />

phantastischer <strong>als</strong> der Gott, den sie stürzte.“ Schneider 1998.<br />

Ergänzend ist anzumerken, dass die erneute philosophische Problematisierung der traditionellen erkenntnistheoretischen<br />

und historischen Dichotomien nicht nur ideengeschichtliche Gründe hat, sondern dass der Übergang<br />

vom Konstruktivismus zum höchst problematischen Dekonstruktivismus und der philosophische Diskurs darüber<br />

seine realgesellschaftliche Parallele im politischen Scheitern des Marxismus – verbunden mit dem »Scheitern« der<br />

gesellschaftswissenschaftlichen wie philosophischen Dialektik – findet, wobei Fukuyamas These vom „Ende der<br />

Geschichte“ (1992) in der politischen Umbruchsituation unserer Zeit wurzelt. Der vehemente und berechtigte<br />

Protest gegen diese säkulare Endzeitthese, die mit der Eingangs angesprochenen Milleniumsbefindlichkeit<br />

korrespondiert, sollte hier mit Eduardo Galeano seinen Ausdruck finden: „Ende der Geschichte. Die Zeit geht in<br />

Rente, die Welt hört auf, sich zu drehen. Morgen ist ein anderer Name für heute. Der Tisch ist gedeckt; die westliche<br />

Welt verweigert niemandem das Recht, die Reste zu erbetteln. Ronald Reagan erwacht und sagt: ‚Der Kalte<br />

Krieg ist zu Ende. Wir haben gewonnen.‘ Und Francis Fukuyama, ein Mitarbeiter des State Departments, gelangt<br />

plötzlich zu Erfolg und Ruhm, indem er entdeckt, dass das Ende des Kalten Krieges das Ende der Geschichte ist.<br />

Der Kapitalismus, der sich liberale Demokratie nennt, ist der Ankunftshafen aller Reisen, ‚die endgültige Form<br />

der menschlichen Regierung‘. Stunde des Ruhmes. Der Klassenkampf existiert nicht mehr, und im Osten gibt es<br />

keine Feinde mehr, sondern Alliierte. Der freie Markt und die Gesellschaft des Konsums erobern die weltweite<br />

Zustimmung, die sich durch den historischen Umweg der kommunistischen Fata Morgana verzögert hatte. So wie<br />

es die Französische Revolution gewollt hat, sind wir jetzt alle frei, gleich und brüderlich. Und alle Besitzer. Königreich<br />

der Habsucht, weltliches Paradies. So wie Gott hat der Kapitalismus die beste Meinung über sich und<br />

zweifelt nicht an seiner eigenen Unvergänglichkeit.“ (1990). – Vgl. Fukuyama 1992 (in deutscher Übersetzung);<br />

<strong>als</strong> Gegenposition dazu auch Fuller 1995, aber auch die These vom „Krieg der Kulturen“ von Huntington<br />

1996/1998; im Diskurs besonders aufschlussreich das Frankfurter Rundschau-Gespräch von 1996.<br />

Vgl. Fußnote 58 / Literaturverweis.<br />

Vgl. Fußnote 58 / Anmerkungen zur Situation der Intelligenzschicht.<br />

Dieser Abschnitt folgt einleitend in überarbeiteter Fassung dem allgemein-didaktischen Teil des Soziologie-<br />

Leistungskurses „Soziale Ungleichheit“, Wolf / Voigt 1977. Der Kursentwurf „Soziale Ungleichheit“ wurde<br />

1976/77 im Auftrage des Niedersächsischen Kultusministers im Rahmen der Reform der gymnasialen Oberstufe<br />

<strong>als</strong> Leistungskurs Soziologie entwickelt, nach dem Regierungswechsel in Niedersachsen und der Auflösung der<br />

bisherigen Reformkommissionen Anfang 1977 aber nicht mehr veröffentlicht. Im Juli 1977 hat die GEW<br />

Niedersachsen das Manuskript des Kurses <strong>als</strong> „Sonderdienst 12/77. Nicht veröffentlichter Kurs für Handreichungskurse<br />

der Sekundarstufe II“ vorgelegt. Dieser <strong>Unterricht</strong>sentwurf kursiert seither in unterschiedlichen<br />

Bearbeitungen und Aktualisierungen für das Fach <strong>Politik</strong> und zeigt damit, entgegen der damaligen Behauptung<br />

des Kultusministers, der die Veröffentlichung dieses Kursentwurfs grundsätzlich ablehnte, dass sowohl das<br />

fachliche und didaktische Konzept seine Bewährungsprobe besser bestanden hat, <strong>als</strong> viele andere veröffentlichte<br />

»Handreichungskurse«, die ohnehin oftm<strong>als</strong> besser waren <strong>als</strong> die Mehrzahl der Verlagspublikationen seither, <strong>als</strong><br />

auch, dass ein fundamentales Bedürfnis, dieses Thema in der Schule zu behandeln, existiert, wie es heute ja das<br />

Kultusministerium mit der Übernahme des Schlüsselproblemkonzeptes nachträglich bewiesen hat. Es wäre Zeit,<br />

eine sorgfältig redigierte und aktualisierte Fassung dieses Kursentwurfs erneut zu publizieren.<br />

Vgl. weiter oben Ausführungen zu<br />

Diese fachlichen Überlegungen folgen weitgehend Ausführungen von Jürgen Wolf in Wolf / Voigt 1977.<br />

„Wenn die Menschen Situationen <strong>als</strong> real definieren, so sind auch ihre Folgen real.“ Thomas / Thomas 1928,<br />

zitiert nach Steinert 1973, S. 334. – Der Herausgeber des Werkes von Thomas und Thomas, E. H. Volkart, merkt<br />

dazu an: „Dieser in der Literatur häufig zitierte Satz wird neuerdings Znaniecki zugeschrieben. Vgl. Howard<br />

Becker, Interpretative Sociology Hand Constructive Typologie, in: Georges Gurvich und Wilbert E. More (Hg.),<br />

Twentieth Century Sociology. New York 1945, S. 80, Anm. 21. Die Beweise für diese Auffassung sind sehr<br />

dürftig, weil der Satz entgegen der Behauptung Beckers in The Polish Peasant nicht vorkommt“ (Steinert, ibid., S.<br />

335, Anm. 2).<br />

Bemerkenswert auch für eine didaktische Umsetzung sind dabei die Studien in Krippendorff: Staat und Krieg<br />

(1985).<br />

Vgl. Fußnote 69.<br />

Max Weber 1960, S. 42 f.; Willy Strzelewicz 19723, S. 27.<br />

Bolte u.a. 19743, S. 15 f., 20-22, 114-117. Diese Textstellen eignen sich auch für den Einsatz im <strong>Politik</strong>unterricht.<br />

– Dazu auch: Offe 1970; Seyfarth 1969; Steinkamp 1971.<br />

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Dem entspricht in der niedersächsischen Rahmenrichtlinien-Konzeption, dass in etwas modifizierter Formulierung<br />

dieses Schlüsselproblem eine zentrale Bedeutung nicht nur im Fach <strong>Politik</strong>, sondern auch in anderen<br />

Schulfächern, wie z.B. Geschichte und Erdkunde erhält, wo die fachliche Umsetzung sich jedoch vor allem auf<br />

die Erörterung regionaler Disparitäten bezieht.<br />

Ziehe 1991, Engler 1993.<br />

Zum autoritären Charakter: Gottschalch 1977; zu Individualisierung und Gewalt: Heitmeyer et al. 1989 und 1991;<br />

zur gesellschaftlichen Funktion der Individualisierung: Ulrich Beck: Individualisierte „Gesellschaft der Unselbständigen“.<br />

In: Beck, 1986, S. 157 ff. oder diverse empirische Studien wie die mehrfach erstellten SHELL-<br />

Jugendstudien; zur didaktischen Umsetzung: Claußen 1991, Voigt 1993.<br />

Bade 1992; Battmer / Rischmüller / Voigt 1981.<br />

Formen der Individualisierung. Unspektakuläre Zivilisationsgewinne. Auch Individualisierung kann „kommunitär“<br />

sein. [Ziehe 1991] – „Vereinigungslust“ <strong>als</strong> „Kunst der Freiheit“. Individualisierung und Gemeinschaft<br />

VI: Kommunitaristische Anleihen bei Tocqueville. [Albers 1992]. – „Konformitätsdruck und Profilierungszwang.<br />

Zwischen Identifikation und Individualisierung: Ambivalenzen des Affektmanagements“. [Wouters 1994]<br />

Es würde den sozialen und ökonomischen Interessen der Managementklasse und ihrer gesellschaftlichen<br />

Bedeutung aber sicher nicht gerecht werden, hier von deiner schleichenden »Selbstsozialisierung« des Kapit<strong>als</strong> zu<br />

sprechen wie es Claus Offe 1977 vorschlägt. Er sagt dabei einen wachsenden Staatsinterventionismus voraus, der<br />

den derzeitigen Deregulierungsansätzen der Globalisierung nicht entspricht.<br />

Vgl. Fußnote 23.<br />

Vgl. Fußnote 28<br />

dass dieses Modell aus der Mitte dieses Jahrhunderts für die Charakterisierung der aktuellen Situation wie für eine<br />

Übertragung auf die Länder der Peripherien und Semiperipherien nicht differenziert genug ist, zeigt die<br />

Ambivalenz der inhaltlichen Füllung des Begriffes Tertiärer Beschäftigungssektor. Dies meint, im Sinne von<br />

Fourastié, sowohl die modernen, hoch differenzierten Dienstleistungsberufe in Forschung, Lehre, Entwicklung<br />

und Produktionsüberwachung, daneben auch den spezialisierten Service und Reparaturdienstleistungen, auf denen<br />

nach Fourastié 1949 die »Hoffnung des 20. Jahrhunderts« beruht, <strong>als</strong> auch, vornehmlich in den Transformationsund<br />

den Entwicklungsländern, die Sektoren der »verdeckten Arbeitslosigkeit« (Schuhputzer, ambulante<br />

Straßendienstleistungen, unqualifizierte Aushilfstätigkeiten), wie der Sektor der »Schattenwirtschaft« (Müllwirtschaft,<br />

illegaler Handel, Kriminalität, Prostitution; aber auch unbezahlte Hauswirtschaft), bei derem ökonomischen<br />

Vorherrschen das Wachstum des Tertiären Sektors <strong>als</strong> gravierendes Krisensymptom gewertet werden kann.<br />

Entgegen den Vorstellungen des »common sense« ist auch das Vorherrschen des Tourismus in einer Region ein<br />

Indiz für sozioökonomisch-strukturelle Defizite und Entwicklungsrückstände, da dieser Bereich wenig<br />

Wachstumspotentiale, die in andere Wirtschaftsbereiche ausstrahlen, impliziert und Teile der Unternehmensgewinne<br />

ins Ausland transferieren muss.<br />

Vgl. Fußnote 4 und die Ausführungen zum Diskurs »Soziale Ungleichheit«.<br />

Im Sinne der schon erörterten »Fraktionierung« von Gesellschaft und Politischer Kultur.<br />

Sommermeyer 1994: „Patchwork-Biographien werden uns eine völlig veränderte Realität bescheren“.<br />

Ohne tiefere historisch-soziologische Fundierung beschäftigen sich gerade in letzter Zeit ernstzunehmende und für<br />

die Didaktik maßstabsetzende Diskurse mit diesem Problemkreis, wie z.B. die »Magdeburger Erklärung«<br />

[Ostendorf 1999] oder die Auseinandersetzung mit den Folgen der Individualisierung bei Peter F. N. Hörz 1999.<br />

Auch aus der Sicht der Semiperipherien ist der Rückzug auf den Kulturrelativismus nicht schlüssig und ebenfalls<br />

ahistorisch, wie die Überlegungen von Dursun Tan 1998 zur Frage der Menschenrechte in den islamischen<br />

Ländern sehr deutlich erweisen.<br />

Damit wird dieses Thema auch interessant für raumwissenschaftliche und stadtsoziologische Ansätze. Es sei hier<br />

auf grundlegende Arbeiten hingewiesen, die das Bild der Stadt wahrnehmungs-soziologisch deuten (Kevin Lynch<br />

1968) oder Stadtgeographie aus den Ansätzen des symbolischen Interaktionismus heraus neu bestimmen (Werner<br />

Durth 1977).<br />

Sommermeyer 1994 schlussfolgert aus diesem Zitat: „Der Mensch wird <strong>als</strong>o nur noch so viel wert sein, wie sein<br />

augenblicklicher Job – eine Garantie für die Zukunft wird es nicht mehr geben. Schon heute kennen wir aus den<br />

USA die Fälle der freigesetzten älteren Physiker, die ihre unzureichende Altersversorgung durch einen Job bei<br />

McDonalds aufbessern müssen. Durch das Primat der Ökonomie und des Wettbewerbs wird der Arbeitsmarkt<br />

zunehmend zu einem Ort, an dem sich ein immer rücksichtsloserer Sozialdarwinismus breit machen wird. Dies<br />

vor allem dann, wenn weiterhin soziale und rechtliche Korsettstangen unter dem Vorwand geopfert werden, die<br />

Wettbewerbsfähigkeit und die Wohlstandssicherung fördern zu wollen.“<br />

So der Titel einer von Elçin Kürşat-Ahlers, Dursun Tan und Hans-Peter Waldhoff 1999 herausgegebenen Aufsatzsammlung,<br />

die auf den Vorträgen eines internationalen soziologischen Colloquiums 1998 in Mersin/Türkei<br />

beruht.<br />

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Der Begriff Volk wird hier ohne analytische Trennschärfe pragmatisch-beschreibend gebraucht. Im weiteren<br />

Verlauf der Analyse wird gerade unter zivilisationstheoretischen und historisch-soziologischen Perspektiven der<br />

Begriff Volk in eine historische Reihe mit den Begriffen Ethnie und Nation zu stellen sein, mit denen die im<br />

Prozess des nation building zur Herstellung einer ausschließenden Gruppenidentität sich im Machtprozess<br />

entwickelnden Bewusstseinsinhalte und Selbstdefinitionen zu kennzeichnen sind.<br />

Literaturhinweis für den <strong>Unterricht</strong>: Weiss / Westermann, 1994.<br />

Auch wenn diese didaktischen Konkretisierungen exemplarisch am Beispiel von Kursmodellen der gymnasialen<br />

Oberstufe entwickelt werden, lassen sich die Grundüberlegungen leicht auf andere Schulformen und -stufen<br />

übertragen, wobei natürlich viel genauer die historischen Kenntnisvoraussetzungen und die eigenen gesellschaftlichen<br />

Lebenssituationen in der Lerngruppe berücksichtigt und thematisiert werden müssen. Als<br />

Kursabläufe sind diese Vorschläge in der Praxis erprobt.<br />

Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden sich in Voigt 1999b und Nettelmann / Voigt u.a. 1999.<br />

Die zentrale Rolle von „Arbeiterbildungsvereinen“ und einer inhaltlich sehr deutlich von den genannten Zivilisationsvorstellungen<br />

geprägten „Arbeiterkultur“ in der sozialistischen Arbeiterbewegung bis in die 20er Jahre des 20.<br />

Jahrhunderts, zeigt dies sehr deutlich. Der Versuch, eine „eigene sozialistische Kultur“ zu definieren war in<br />

größerer historischer Perspektive doch nur der Abschluss der Durchsetzung der Zivilisation der „Höflichkeit“ und<br />

des Habitus des modernen Staatsbürgers.<br />

Nasreddin Hoca ist in der Türkei eine Schelmenfigur der Volkserzählungen und Anekdoten – etwa wie in<br />

Deutschland Till Eulenspiegel –, die diesen mit Bauernschläue, Naivität und mangelnder Bildung charakterisiert<br />

und dies <strong>als</strong> Grundlagen des Witzes nimmt, darüber aber auch einiges über Ansehen und soziale Stellung dieser<br />

ländlichen Hodschas aussagt.<br />

Rechtsgutachten belegen, dass die USA nach Maßstab ihres Rechtssystems und der Einhaltung der Menschenrechte<br />

nicht Mitglied des Europarates sein könnten.<br />

Vgl. Voigt 1995<br />

Genau dies ist auch die Funktion traditionalistischer und islamistischer Entwicklungen und Selbstverständnisse<br />

unter den türkischen Migranten in Deutschland.<br />

Vgl. dazu den schon zitierten Satz: „Wenn die Menschen Situationen <strong>als</strong> real definieren, so sind auch ihre Folgen<br />

real“ mit den Ausführungen weiter oben (zur Quelle dieses Satzes vgl. Fußnote 72).<br />

Dazu ist der philosophische Ansatz interessant heranzuziehen, der die humanitas <strong>als</strong> eine unmittelbare und<br />

ausschließliche Folge des vitam instituere, der institutionalisierten Existenz begreift. In den letzten Jahren hat vor<br />

allem der Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre (1983, 1988) in seiner Kritik der Beliebigkeit<br />

des postmodernen Dekonstruktivismus diesen antiken Gedanken wieder aufgegriffen (vgl. auch Schneider 1998:<br />

„Was ist damit gesagt? Der versuchte Vatermord stellt nicht die Frage nach dem Geisteszustand des Täters. Er<br />

stellt vielmehr die Frage nach den Fundamenten der Verbote. Diese Frage wieder zu entdecken, ist die Mission<br />

Legendres. Aber um sie zu verstehen, muss man ein Projekt des Fortschritts liquidieren, nämlich die Liquidation<br />

des Gesetzes.“).<br />

Dabei stellt sich wohl kaum die anthropologische Frage nach der Geschichte dieser habitualisierten<br />

Affektausstattungen, die Kernfrage der Zivilisationstheorie ist. Wirksam ist, was gegenwärtig ist. Anknüpfen kann<br />

diese Uminstitutionalisierung des Menschen an sein ursprüngliches Bedürfnis nach »Ordnungssicherheit« (vgl.<br />

die Ausführungen zur Soziologie der »Sozialen Ungleichheit«) und an die psychischen Strukturen des<br />

»Autoritären Charakters«, den Adorno diskutiert hat; vgl. dazu u.a. die Untersuchungen von Strzelewicz 1972 und<br />

die Anmerkungen im Text; zur Literatur vgl. Fußnote 37.<br />

Zit. nach Sander/Johr (Helke Sander/Barbara Johr (Hg.): BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder,<br />

München 19922. Siehe auch die Kritik an diesem Titel von G. Koch: Blut, Spermia, Tränen. BeFreier und<br />

Befreite – ein Dokumentarfilm von H. Sander, in: Frauen und Film, Jg. 54/55, 1994, S. 3-14), S. 67, Abb. 14:<br />

Auszug aus dem Schreiben des Chefs des Allgemeinen Wehrmachtamts im OKW an SS-Obergruppenführer<br />

Wolff vom 2.8.1943. [Anm. B. Beck.]<br />

Zit. nach ebd., S. 67. [Anm. B. Beck.]<br />

Vgl. dazu Brownmiller (Susan Brownmiller: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft,<br />

Frankfurt/Main 1980 (Originalausgabe New York 1975)), S. 151, sowie Ruth Seifert, Krieg wird Vergewaltigung.<br />

Ansätze zu einer Analyse, in: Stiglmayer (A. Stiglmayer: Vergewaltigungen in Bosnien-Herzegowina, in: dies.<br />

(Hg.), Massenvergewaltigungen. Krieg gegen die Frauen, Freiburg/Breisgau 1993, S. 109-216), S. 85-107, hier S.<br />

87f. [Anm. B. Beck.]<br />

Sander/Johr (Helke Sander/Barbara Johr (Hg.): BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder,<br />

München 19922.), S. 67, Abb. 14: Auszug aus dem Schreiben des Chefs des Allgemeinen Wehrmachtamts im<br />

OKW an SS-Obergruppenführer Wolff, 2.8.1943. [Anm. B. Beck.]<br />

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In einem Gespräch mit der Hannoversche Allgemeine Zeitung. Vgl. Stief 1996: „Für Vester hat die Globalisierung<br />

weiterhin nationale Grenzen. Geklagt werde über hohe Löhne und Kosten; doch auch nach Meinung der<br />

Bundesanstalt für Arbeit kämen diesem Posten im Reigen aller Standortfaktoren gerade einmal 26 Prozent des<br />

Gewichts zu. Nach wie vor gebe es eigenständige Warenkreisläufe. Innovationen seien nicht nur in<br />

kapitalintensiven Weltmarktbranchen, sondern auch in arbeitsintensiven Branchen möglich. Sie würden jedoch<br />

blockiert. Und nicht zuletzt sei auch die Staatsverschuldung durch eine andere <strong>Politik</strong> zu korrigieren.“<br />

Vgl. Oran 1999 („Bedeutet Globalisierung Imperialismus?“); Ahlers 1999.<br />

Im übrigen ist auch hier noch eine zumindest partielle Einbeziehung der schon angesprochenen klassischen<br />

Erklärungsansätze über Wirtschaftskrisen und die »Vermachtung der Märkte« durch Hofmann 1969 möglich und<br />

auch didaktisch sinnvoll (Vgl. Fußnote 19).<br />

Die Kontroverse zwischen Milieu-Theoretikern und Behaviouristen oder Soziobiologen, den die genetische<br />

Prägung alleiniger Erklärungsrahmen für menschliches Verhalten ist, zieht sich durch die Wissenschaftsgeschichte<br />

und hat heute wieder erkenntnistheoretische Brisanz in den Science Wars erhalten, in denen die<br />

Wissenschaftlichkeit <strong>als</strong> solche zwischen Humanwissenschaften und Naturwissenschaften gegenseitig in Frage<br />

gestellt wird. dass hier teilweise Scheinkontroversen geführt werden, die in der Subjekt-Objekt-Dichotomie <strong>als</strong><br />

Teil des abendländischen dichotomen Denkens wurzeln und letztlich auf unterschiedliche begriffliche<br />

Entdifferenzierungen zurück zu führen sind, sei nur am Rande angemerkt.<br />

Wenn gesellschaftliche Prozesse nicht grundsätzlich mehrschichtig und komplex wären, würde sich sicher mit<br />

einer gewissen Berechtigung die vordergründige Erklärung aufdrängen, dass mit dem Fach Deutsch ausgrenzende,<br />

einem renationalisierten Bewusstsein verpflichtete politische Bestrebungen zu Grunde liegen und dass mit dem<br />

Fach Mathematik eine Mischung zwischen »Ehrfurcht und Schauer« vor Fähigkeiten, die in der Öffentlichkeit<br />

kaum begriffen oder nachvollzogen werden (die Legende eigener Schulerfahrungen, dass eben gute<br />

mathematische Leistung angeblich den »guten Schüler« ausmachen würden), und dem Wunsch nach elitärer<br />

Ausgrenzung gegenüber neuen Aufsteigerschichten. Die Ironie liegt daran, dass Mathematik <strong>als</strong> formalisierte<br />

Sprache oft Ausländern oder vor allem Aussiedlern aus Osteuropa, die den so genannten Ober- oder Intelligenzschichten<br />

entstammen, besondere Chancen zum Ausgleich von noch vorhandenen allgemeinen Sprachdefiziten<br />

gibt. Schichtunabhängig ist diese traditionelle Definition von »Hauptfächern« aber niem<strong>als</strong>, im<br />

Gegenteil, sie läuft dem Konzept emanzipativer und fördernder Erziehung zuwider.<br />

Diese den Lehrerinnen und Lehrern vor allem aus der Referendariatszeit wohlbekannten didaktischen Schemata<br />

brauchen hier nicht mehr eigens diskutiert zu werden, da sie für ein diskursives Konzept einer erneuerten<br />

<strong>Politik</strong>didaktik keine Bedeutung mehr haben. Sie sind heuristische und pragmatische Modelle, deren<br />

lernpsychologische Relevanz ebenso fragwürdig ist wie ihr praktischer oder fachlicher Nutzen. Schlagwörter wie<br />

„vom Nahen zum Fernen“ wurden schon ideologiekritisch angesprochen; die anthropologischen Stereotypien die<br />

hinter Leitvorstellungen wie „Sequenzialität“, „Säulen-, Spiral- oder Schichtcurriculum“, „Stufencurriculum“<br />

stehen, bedurften einer eingehenderen kritischen Würdigung. Ihr wissenschaftlicher Wert ist grundsätzlich in<br />

Frage zu stellen.<br />

In der politischen Analyse ist noch eine weitere Dimension zu berücksichtigen. Die traditionelle Einheitlichkeit<br />

des Lernens in den Fächern und die Vernachlässigung separater Lernangebote für die grundlegenden<br />

Kulturtechniken vor allem in der weiterführenden Schulausbildung bevorzugt massiv diejenigen Schülerinnen und<br />

Schüler, deren familiare Sozialisation und durchlaufene Schulbiographie dem traditionellen Mustern des<br />

„deutschen Bildungsbürgertums“ entspricht, das selbst dieses Fachprinzip im Schulwesen durchgesetzt hatte. Die<br />

Aufstiegs- und Integrationsbarrieren, die das institutionelle Gerüst der Schule vor allem weniger integrierten<br />

Sozialgruppen in den Weg legt, ist Teil des „Verdeckten Curriculum“ der Schule und Teil eine sozialen<br />

Privilegierung; ob dieses so gesellschaftlich oder politisch gewollt, hingenommen oder <strong>als</strong> grundsätzliches<br />

Problem verstanden wird, dürfte in der Gesellschaft sehr kontrovers gesehen werden. Unsere Überlegungen sollen<br />

dazu beitragen, die Folgen solcher institutioneller struktureller Barrieren abzubauen.<br />

Erfolgreiche Muster für solche Angebote finden sich heute vor allem bei Einführungs- und Fortgeschrittenenkursen<br />

im Bereich Computernutzung und Neue Medien (z.B. Internet); es wäre nicht ausgeschlossen, Rechnen,<br />

Rechtschreibung, Rhetorik und andere Techniken <strong>als</strong> verpflichtende aber zeitlich individuell zu staffelnde<br />

Kursangebote bis in die gymnasiale Oberstufe hinein ähnlich wie Instrumentalunterricht in der Musik oder<br />

leistungsdifferenzierte Sportkurse anzubieten. Das es organisatorisch und didaktisch möglich ist, ist erwiesen. Es<br />

setzt nur ein Umdenken z.B. in den Fächern Deutsch und Mathematik voraus, die einerseits wesentlich<br />

„entschlackt“ werden, andererseits aber in Bezug auf ihre angebliche Vorrangstellung in Begründungsschwierigkeiten<br />

kommen dürften. Und hier liegt das Problem der praktischen Umsetzung dieser Vorschläge.<br />

Philosophisch ist hier auf eine immanente Relativierung der Subjekt-Objekt-Beziehung zu verweisen, bei der zum<br />

einen ein erweiterter Kommunikationsbegriff zu verwenden ist, in dem jegliche Hinwendung des Erkenntnissubjekts<br />

zu seiner Außenwelt – die im Sinne der Kulturwissenschaften oder Legendres nur im Rahmen<br />

existentieller Institutionalisierungen überhaupt bewusst wahrgenommen werden kann, wobei soziale und<br />

materielle Umwelt qualitativ nicht unterscheidbar sind, sondern immer <strong>als</strong> gesellschaftlich vermittelte Entitäten<br />

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auftreten – <strong>als</strong> Kommunikation zu begreifen ist, und innerhalb der zum andern die Hinwendung des Erkenntnissubjekts<br />

zu seiner Außenwelt strukturell und notwendig Selbstbezüglichkeit voraussetzt und wiederum neu<br />

evoziert: letztlich die klassische didaktische Problemstellung.<br />

„Es gibt keine Lehrer mehr. Jene Lehrer, auf die man sich bezieht, wenn man für oder gegen ein Kunstwerk, eine<br />

wissenschaftliche Theorie, eine politische Entscheidung plädiert, sind offensichtlich zu historischen Figuren<br />

geworden. ... Bedarf es, um zu lernen, was Welt ist, nicht eines korrigierenden, eingreifenden, präsenten Lehrers<br />

oder wenigstens des geduldigen Lesens, Hörens, Begreifens von in schriftlichen Dokumenten, in Bildern und<br />

Tonaufzeichnungen festgehaltenen Ideen bereits verstorbener Lehrer? Mit Computer-Disketten, CD-ROM,<br />

Videos, Internet-Surfen wird das Wissen über die Zusammenhänge der Welt um gigantische Dimensionen<br />

erweitert. Aber wird damit der Lehrer in personam überflüssig, von dem man lernen kann oder sich durch eigene<br />

Arbeiten emanzipieren kann? Gegen den man fluchen oder für den man demonstrieren kann?“ Carl Wilhelm<br />

Macke: Nachruf auf den Lehrer. Frankfurter Rundschau<br />

Es ist zu erwarten, dass Praktiker und »Routiniers« des <strong>Politik</strong>unterrichts ebenso wie die Fachleiter der zweiten<br />

Ausbildungsphase in den Studienseminaren diesen kritischen Zustandsbeschreibungen und den geforderten<br />

didaktischen Auf- und Umbrüchen kaum zu folgen bereit sein werden, da sie sich einer scheinbar gesicherten<br />

<strong>Unterricht</strong>spraxis verpflichtet wissen, die im Sinne einer pragmatischen Methodenoptimierung die Dimension des<br />

Selbstverständnisses und der gesellschaftlich-diskursiven Grundlagen curricularen Denkens ausklammern müssen<br />

und letztlich für wenig praxisrelevant halten. Diese Summierung von Innovationshemmnissen und Blockierungen<br />

gegenüber einem notwendigen grundlegenden Paradigmenwechsel sind nur vor dem Hintergrund einer Analyse<br />

der biographischen Kontexte und Brüche der <strong>Politik</strong>-Lehrerinnen und -Lehrer zu verstehen. Vgl. zu dieser<br />

Thematik u.a. Voigt 1998a, S. 237 ff. und ders. 1998b und 1998c.<br />

Dazu u.a. Hagner 1999, Scharping 1999<br />

Dies zeigt aber auch eine tiefe Unsicherheit der Lehrerschaft gegenüber dem eigenen Rollenverständnis und<br />

gegenüber einer zunehmend <strong>als</strong> unübersichtlich wahrgenommenen sich ändernden gesellschaftlichen Realität!<br />

Z.B. das NLI in Hildesheim für Niedersachsen, das organisatorisch im Kultusministerium zusammengefasst<br />

worden ist mit der weiter bestehenden Landeszentrale für Politische Bildung in Hannover.<br />

Vor allem an Akademien in der konfessioneller Trägerschaft wie den evangelischen Akademien in Tutzing oder<br />

Loccum, oder in gemeinnützigen, daher oft thematisch spezialisierten Häusern, wie der Bildungsstätte des<br />

Internationalen Arbeitskreises Sonnenberg in St. Andreasberg im Harz. Andere Häuser werden für die staatliche<br />

Lehrerfort- und Weiterbildung angemietet oder auch organisatorisch beteiligt wie das katholische Ludwig-<br />

Windthorst-Haus in Lingen (Ems).<br />

In unserer auf die Formulierung diskursiver Schlüsselprobleme hin orientierten Auffassung von öffentlichen<br />

Diskursfeldern spielt zusätzlich und mit erheblichen Gewicht auch die Vorstellung von Mehrschichtenmodellen<br />

der Realität und der gesellschaftlichen Kommunikation eine Rolle, die eine Reduzierung auf sehr viel<br />

eingeschränktere Problemdefinitionen und Themenstichworte eigentlich ausschließt. Doch sollte der Diskursbegriff<br />

selbst ebenfalls im diskursiven Kontext konzeptualisiert werden, so dass die Grenzen zwischen realen<br />

öffentlichen Diskursen und innergesellschaftlichen Problemfelddefinitionen durchaus fließen sein können und<br />

unter einer breiteren sozialen Einbeziehung sich auch zu Diskursen in unserem Sinne ausweiten lassen. Die drei<br />

nachfolgend kurz erörterten gesellschaftlichen Problemfelder »Ökologie«, »Feminismus« und »Gewalt und<br />

Interkulturalismus« weichen durch ihre sehr stark eingeengte und tagespolitisch fest gruppenspezifisch<br />

zugeordnete Bedeutungswahrnehmung, die die Aufmerksamkeit eher auf das Problem ihrer Funktionalisierbarkeit<br />

im Prozess der Machtauseinandersetzungen lenken <strong>als</strong> auf ihren diskursiv erschließbaren gesellschaftlichen<br />

Problemgehalt, von den umfassenden und offenen Diskursvorstellungen ab, die Distanz und Rationalität erfordern<br />

und erst so ihre didaktische und curriculare Relevanz zur Begründung von gültigen Schlüsselproblemen erfahren.<br />

Die Peinlichkeiten der Auseinandersetzungen um ein dringend erforderliches neues Staatsbürgerschaftsrecht für<br />

die Bundesrepublik Deutschland Ende 1998 / Anfang 1999, eine populistische und von verfälschenden und<br />

unangemessenen Argumenten gestützte, aber in der unaufgeklärten und angstgeleiteten Bevölkerung äußerst<br />

erfolgreiche Unterschriftendaktion der CDU/CSU gegen den so genannten »Doppelpass«, d.h. gegen die (auch<br />

heute in gewissen Fällen ja schon durchaus mögliche) doppelte Staatsangehörigkeit, und der schließlich von der<br />

Koalition und Teilen der FDP getragene und verabschiedete, jedoch inkonsistente und völlig unzureichende<br />

»Kompromiss« zeigen, dass sich in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland eine Übereinstimmung der<br />

Volks- und Nationsvorstellungen des politisch konservativen Teils der politischen Eliten unabhängig von der<br />

konkreten Parteizugehörigkeit und eines großen Teils der Öffentlichkeit gibt, dass es sich <strong>als</strong>o um herrschende<br />

Vorstellungen handelt. Das dürfte wiederum eines der Krisensymptome unserer Thematik sein, die der Krise auch<br />

der Politischen Bildung zu Grunde liegt.<br />

Lehrerfortbildungskurse in diesem Bereich verengen sich zunehmend auf den Versuch, Rezepte zum Umgang mit<br />

»gewalttätigen« Schülerinnen und Schülern vorzustellen und die psychologische und rechtliche Bedeutung von<br />

Disziplinarmaßnahmen zu erörtern. Gesamtgesellschaftliche Perspektiven werden hier nicht entwickelt.<br />

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In den 50er Jahren für die Bundesrepublik Deutschland sicherlich legitim und <strong>als</strong> Reaktion auf noch nicht<br />

verarbeitete zeitgeschichtliche Erfahrungen sinnvoll und gesellschaftlich fortschrittlich, wirkt das Konzept einer<br />

»Westorientierung« und Wertbindung an eine westliche Wertegemeinschaft <strong>als</strong> didaktische Leitidee der<br />

Politischen Bildung z.B. bei Gagel heute merkwürdig anachronistisch und letztlich obsolet. Das Notwendige ist<br />

bei Claußen 1997 gesagt worden, auch wenn Gagels Replik (1998) ehrenhaft und durchaus nachvollziehbar<br />

erscheint.<br />

Konnten in den 70er und 80er Jahren besonders motivierte Schulen z.B. im Rahmen der UNESCO-Projekt-Schul-<br />

Arbeit ein wichtiges internationales »Netzwerk« der Begegnungen und des Austausches aufbauen, das Dritte-<br />

Welt-Paten- und Partnerschaften ebenso umfasste wie aktiv betriebene Schulpartnerschaften mit Ländern,<br />

gegenüber denen in der deutschen Öffentlichkeit besonders verhängnisvolle Negativstereotypen vorherrschten und<br />

wohl auch noch heute vorhanden sind, wie z.B. mit Polen oder der Türkei (vgl. die Berichte von Nettelmann und<br />

Voigt zu diesen Programmen – hier am Beispiel der UNESCO-Projekt-Schule am Maschsee, Bismarckschule<br />

Hannover – im Literaturverzeichnis), finden sich heute kaum noch Lehrkräfte oder wirklich motivierte<br />

Schülerinnen und Schüler, die dieses Konzept inhaltlich nachvollziehen und aktiv tragen wollen. Sogar schrecken<br />

heute Schulleitungen davor zurück, Polen- und Türkei-Kontakte öffentlich werbend einzusetzen aus sehr<br />

ängstlichen Befürchtungen, gewisse Elternkreise damit vor einer Entscheidung für den Schulbesuch ihrer Kinder<br />

in diesen Schulen abzuschrecken. Einmal werden im Bezug auf die genannten Vorurteilshaltungen damit in der<br />

Öffentlichkeit Prozesse der self-fulfilling prophecy evoziert, zum anderen dürfte diese Art der vorurteilsaffirmativen<br />

Ängstlichkeit ein verhängnisvolles Signal für das pädagogische Selbstverständnis einer UNESCO-Schule<br />

sein (oder auch generell eines Schulwesens in einer weltoffenen und liberalen Demokratie, die auf die Zivilcourage<br />

ihre Bürgerinnen und Bürger angewiesen ist).<br />

Dies würde der Verfasser spiegelbildlich auch unter »männlichen Vorzeichen« genauso kritisieren, da er in ihnen<br />

die notwendige Distanzfähigkeit und philosophische Rationalität einer interpersonalen Vermittelbarkeit<br />

grundsätzlich vermisst und diese Arbeitsansätze nicht für Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für zulässig hält.<br />

Deutliche sozialpsychologische Hemmschwellen sind hier auszumachen, da dieses »Umweltbewusstsein« zu<br />

einem moralisierten und moralisierenden Lebenskonzept gehört, das einer rational-distanzierten Infragestellung<br />

nicht offen ist. Generell ist hier das Problem des »Moralismus« anzusprechen, der eine denkbar schlechte<br />

Grundlage für ein pädagogisches Selbstverständnis abgibt. Das ist jedoch nicht misszuverstehen mit einer<br />

Ablehnung einer ethischen Bindung der eigenen Lebensführung, die sich mit rationalen, distanzierten und auf<br />

Empathie und Toleranz ausgerichteten pädagogischen Leitvorstellungen im Gegensatz zu einer moralistischen<br />

Perspektivverengung durchaus vereinbaren lässt.<br />

Es soll darauf hingewiesen werden, dass die unterrichtlichen Probleme vieler Kolleginnen und Kollegen mit »Umweltthemen«<br />

nicht auf mangelnde Verfügbarkeit von geeigneten <strong>Unterricht</strong>skonzepten zurückzuführen ist, die die<br />

genannten Voraussetzungsprobleme erkennen und bewältigen helfen könnten; auch die Lehrerfortbildung hat hier<br />

durchaus positive und aufklärerische Leistungen erbracht, auch wenn davon heute nur noch wenig nachgeblieben<br />

ist. Dabei soll auf den umfangreichen Sammelband zur Umweltpädagogik von Claußen und Wellie 1996<br />

hingewiesen werden, in dem auch der Verfasser mit einem didaktischen Konzept für die Sekundarstufen vertreten<br />

ist.<br />

Die stereotype »Lehrerbeschimpfung« durch führende <strong>Politik</strong>er führt sicherlich im Bildungsbereich – vice versa –<br />

zu einer ebenso stereotypen und irrationalen »<strong>Politik</strong>verdrossenheit«, die letztlich das Ende einer innovativen<br />

Politischen Bildung sein kann. Inhaltlich ist sie genaues haltbar und interessant wie eine Schornsteinfegerverdrossenheit...<br />

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Gerhard Voigt / Lothar Nettelmann:<br />

Gleichheit – Freiheit<br />

Zur politischen und didaktischen Problematik kategorialer<br />

Scheingegensätze<br />

Anlass dieser grundsätzlichen kritischen Überlegungen war das Erscheinen von neuen „<strong>Unterricht</strong>sblättern der BPB [1[ “,<br />

die uns typisch erscheinen für die Entwicklung politikdidaktischer Diskurse der Gegenwart. Auch wenn die<br />

Überlegungen auf einem Skript vom Januar 2005 kurz nach Erscheinen der „<strong>Unterricht</strong>sblätter“ basieren, ist die<br />

grundsätzliche Bedeutung der Überlegungen heute, Dezember 2009, nicht geringer geworden, eher im Gegenteil.<br />

Eine Grundsatzkritik soll am Anfang stehen. Die von der Bundeszentrale für Politische Bildung angestrebte <strong>Unterricht</strong>skonzeption<br />

dient nicht der politischen Einsicht, sondern bildet Stereotype, die in der Machtkonkurrenz zu politisch<br />

affirmativen Situations- und Eigendefinitionen direkt verwendet werden können.<br />

„Freiheit“ und „Gleichheit“ <strong>als</strong> begrifflichen Widerspruch gegenüber zu stellen – wie es die „<strong>Unterricht</strong>sblätter“ tun –<br />

ist nicht aufklärerisch, sondern ein holzschnittartiges Mittel den Anschein von Verstehen und Originalität zu evozieren,<br />

ohne tatsächliche analytische – auch begriffskritische – Aufklärung leisten zu müssen. Dichotome Begriffspaare sind in<br />

der „Alltagsphilosophie“ und <strong>Politik</strong> beliebt, weil sie eine einengende Komplexitätsreduktion der Realität darstellen, die<br />

fälschlicherweise leichte Verstehbarkeit und praktische Handlungsbegründung suggerieren. Damit sind diese <strong>als</strong><br />

Ideologeme einzuordnen, die zudem für beliebige Interessen und Funktionen abrufbar sind. In der reduzierten<br />

„Studienseminardidaktik“ basiert ein großer Teil der didaktischen Konzepte auf solchen pädagogischen oder inhaltlichen<br />

„Gegenüberstellungen“, zum Beispiel „vom Nahen zum Fernen“ [2[ , „Heimat und Fremde“, „Natur und Kultur“<br />

… aber hier kommen wir schon zu einer hochbrisanten philosophiegeschichtlichen Kontroverse... Auch das beliebte<br />

didaktische Mittel des „Vergleichens“ fällt in diese oberflächliche Dichotomisierung der Realitätswahrnehmung. Am<br />

Beispiel des geographischen Vergleichens (hier zwischen England und Algerien) hat dies der Verfasser vor einiger Zeit<br />

in der Fachzeitschrift »Praxis Geographie« einer kritischen Analyse unterzogen. [3]<br />

Es ist kein Zufall, dass eine zunehmend auf Affirmation zielende Bildungspolitik zunehmend solcher Denkmuster<br />

bedarf, die darauf gerichtet sind, entsprechende Inhalte zu begründen und kritische Problembereiche zu anathematisieren.<br />

Damit ist auch das beliebte aber auf Beliebigkeit zeichnende Didaktikmodell der „Pro und Contra“-Gegenüberstellung<br />

im Ansatz in Frage zu stellen, weil die Mehrzahl der gesellschaftlichen Probleme mit diesem Muster nicht zu fassen<br />

sind. Es ist letztlich ein klassisches rhetorisches Mittel, das auch <strong>als</strong> zur Gedanken- und Einsichtsentwicklung <strong>als</strong><br />

solches einzusetzen und entsprechend zu moderieren ist. Die Funktionalisierung ist offenkundig. Das Ziel ist eigentlich<br />

nicht die inhaltliche Gegenüberstellung, sondern die Erfahrung disziplinierter Verbalisierung und Klärung von<br />

Positionen – und das Aushalten von Widersprüchen.<br />

Um jetzt zum Inhalt der in Frage stehenden „<strong>Unterricht</strong>sblätter“ überzuleiten: „Freiheit“ und „Gleichheit“ liegen auf<br />

verschiedenen begrifflichen Ebenen. Ihre Gegenüberstellung impliziert eine gemeinsame ethische oder politische Ebene<br />

und impliziert die Gedanken daran, die Begriffsbedeutung ohne weitere Bestimmungen oder Attribute <strong>als</strong> „selbstverständliche“<br />

verstehen zu können, bzw. dass es eine gültige interpersonell gültige Begriffsdefinition gebe.<br />

Dass tagespolitisch gesehen, gerade diese Diskussion zur heute gängigen Kritik am „Sozi<strong>als</strong>taatspostulat“ (Art. 20 GG)<br />

<strong>als</strong> „Widerspruch“ zu den „Freiheitsrechten“ des GG instrumentalisiert werden kann und wird, sollte bei der Diskussion<br />

im Gedächtnis behalten werden – es begründet wohl auch ein politisches Motiv für diese Publikation der Bundeszentrale.<br />

Alle „Selbstverständlichkeiten“ sind Ergebnis eines Prozesses zur Konsensfindung, der die politische und zivilisatorische<br />

Entwicklungen (Interessen) voraussetzt. Sie sind immer neue Augenblicksaufnahmen eines gesellschaftlichen<br />

Diskurses in einer konkreten gesellschaftlichen Situation. Es ist Aufgabe der Politischen Bildung, diese „Selbstverständlichkeiten“<br />

<strong>als</strong> historische Artefakte aufzudecken und sie konstruktiv verfügbar und weiterdenkbar zu machen,<br />

um einer Funktionalisierung „von oben“ zu widerstehen. [4] Im Gegensatz zur banalen Gegenüberstellung von <strong>als</strong><br />

dichotom verstandenen Begriffspaaren ist anzustreben, die gesellschaftlichen Diskurse selbst in den Fokus zu rücken<br />

und sie einerseits distanziert zu objektivieren und andererseits <strong>als</strong> Medium eigener politischer Beteiligung – und<br />

Veränderungsmotivation – zu verstehen. Damit wäre der „Diskurs“ zu einer zentralen didaktischen Kategorie auch für<br />

den Schulunterricht zu entwickeln.<br />

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„Gleichheit“ und „Freiheit“ <strong>als</strong> Widersetzlichkeiten zu verstehen suggeriert ihre Geschichte schon zum Zeitpunkt, <strong>als</strong><br />

sie in die bürgerliche Gesellschaft <strong>als</strong> gleichrangige Zielvorstellungen einbezogen wurden; [Rousseau; Französische<br />

Revolution]. Sie wurde gerade ihrer nicht <strong>als</strong> Gegenseite, sondern <strong>als</strong> Bedingung der Gesellschaft verstanden, nicht<br />

jedoch <strong>als</strong> Attribut einer konkreten Gesellschaft.<br />

Gleichheit<br />

Gleichheit ist <strong>als</strong> Metapher aus dem qualitativen Denken generaliter nur verständlich zu machen mit der Frage nach<br />

dem „was ist, kann oder soll gleich sein“ auch mit der Frage nach dem Rahmen, in dem die Anwendung von<br />

„bestimmten Rechten oder ökonomisch von Einkommen und Vermögen“ nach dem „Gleichheitspostulat“ gewährleistet<br />

werden soll. Es handelt sich um politisch-ethische Zielvorgaben, vermutlich auch um Realutopien.<br />

Die Konsequenz aus der unterschiedlichen Beantwortung dieser Fragen kann an ganz konkreten politischen Fällen<br />

exemplarisch verdeutlicht werden, von denen wir hier zwei Beispiele aus dem schulpolitischen Bereich benennen<br />

wollen:<br />

1978 wurde ein in einer Arbeitsgruppe des niedersächsischen Kultusministeriums entwickelter Kursentwurf mit dem<br />

Thema „Soziale Ungleichheit“ [5] nach einem politischen Wechsel in der Landesregierung abgelehnt, was mit einem<br />

Gutachten begründet wurden, in dem expressis verbis bestritten wurde, dass es „Soziale Ungleichheit“ in der<br />

Bundesrepublik Deutschland überhaupt gebe und dass das Postulat einer „Sozialen Ungleichheit“ in der Schule „nicht<br />

auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ stehe (dass den Verfassern dennoch nicht mit<br />

disziplinarischen Maßnahmen gedroht wurde, aber im Landtag eine heftige Debatte um dieses „Skandalon“ geführt<br />

wurde ist eine der Absurditäten dieses bildungspolitischen Satyrspiels). Wenig später wurde bei gleichen politischen<br />

Konstellationen das Konzept der „Schlüsselprobleme“ nach Klafki für die Rahmenrichtlinienarbeit verbindlich eingeführt<br />

(leider heute wieder weitgehend in Vergessenheit geraten), bei dem ein zentrales, fächerübergreifendes<br />

„Schlüsselproblem“ die „Soziale Ungleichheit“ ist.<br />

Die zweite auch persönlich erfahrene Kontroverse beleuchtet die grundlegende Problematik, die wir zum<br />

„Gleichheitspostulat“ aufgezeigt haben, ebenso deutlich. In den niedersächsischen Studienseminaren für die<br />

Lehrerausbildung wurde von Seiten konservativer Fachleiter heftig gegen die pädagogisch-soziale Forderung nach<br />

„Chancengleichheit“ polemisiert mit dem Diktum, dass Menschen nun einmal von ihrer Veranlagung und Herkunft her<br />

„nicht gleich“ seien. Dass dies in Bezug auf die Forderung nach „Chancengleichheit“ ein inadäquates und von der<br />

Bedeutungsebene (semantisch) unrichtiges Argument ist, konnte nicht verständlich gemacht werden, was den Charakter<br />

der Kritik <strong>als</strong> Ideologem verdeutlicht. Als Gegenbegriff wurde die angeblich erzielbare „Chancengerechtigkeit“ gesetzt,<br />

wobei unter keinen Umständen diskutiert werden sollte, wer nun den Begriff der „Gerechtigkeit“ zu bestimmen hätte.<br />

Dass diese Begrifflichkeit durchweg herrschaftsaffinen Charakter trägt, ist evident. Genau diese Diskussion lebt heute<br />

wieder in der Diskussion um die „Integrationspolitik“ auf, was hier aber nicht weiter auszuführen ist. Es ist wiederum<br />

zu konstatieren, dass im Wesentlichen diesbezügliche Entscheidungsprozesse auf der Machtebene erfolgen.<br />

Andererseits ist Gleichheit eine ethische Kategorie, die sich in der Vorstellung des gleichen Wertes aller Menschen<br />

äußert. (Die Würde des Menschen ist unantastbar) [6] . Diese Gleichheit wird von Rousseau in Verbindung gebracht mit<br />

der Freiheit in seinem Satz: „Der Mensch ist frei geboren, aber überall liegt er in Ketten.“<br />

Freiheit<br />

Freiheit ist entweder ein subjektiver Befriedungsakt in einer konkreten Situation frei von unerwünschten<br />

(unlegitimierten) Zwängen über Gewaltdrohungen zu sein und handeln zu können oder ein philosophisch-moralischer –<br />

bei anderen Autoren eher ethischer – Grundbegriff der modernen „westlichen“ Wertordnung. Eine Verbindung<br />

zwischen beidem zu finden ist schwer, wenn nicht aus historisch-zivilisatorischen Gründen unmöglich. Der ethische<br />

Gehalt steht im Kontext mit dem politischen-moralischen Grundbegriff „Weltfrieden“ und ist nur im Rahmen einer<br />

kritischen Gegenüberstellung philosophischer „Utopien“ beziehungsweise ethisch-moralischer Setzungen (vgl. Kant)<br />

und der unüberwindlich erscheinenden Probleme, diese Normen in praktische (Welt-)<strong>Politik</strong> umzusetzen, zu<br />

erschließen, In der politischen Praxis findet die Widersprüchlichkeit dieses Freiheitsbegriffes keine praxisbegründende<br />

Kohäsion.<br />

Dies ist exemplarisch darzustellen an der Ideengeschichte des mitteleuropäischen Liberalismus. In aller Kürze ergeben<br />

sich hier folgende Aspekte. Vom Anfang im 19. Jahrhundert an teilt sich der Liberalismus – hervorgehend aus dem<br />

Kampf gegen den Feudalismus und die Adelsherrschaft, gestützt auf die Klasseninteressen des aufstrebenden<br />

(städtischen) Bürgertums – in divergierende Strömungen, deren gemeinsame Wurzel eigentlich nur in der sozioökonomischen<br />

und herrschaftspolitischen Situation des 19. Jahrhunderts zu verstehen ist –, die jeweils um unterschiedlich<br />

zentrale politische Leitbegriffe gruppiert sind. Der „Bürgerrechtsliberalismus“ steht in der Tradition des<br />

Kampfes um Menschen- und Grundrechte – aus dem sich auch der Charakter des ersten Teils des GG, philosophisch<br />

fußend auf dem Art. 1 GG und dem Begriff der Menschenwürde bestimmt –, die wiederum rechtsgeschichtlich auf der<br />

Entwicklung des Völkerrechts und philosophisch auf dem Gedanken des Gesellschaftsvertrages (Rousseau u.a.)<br />

basieren, und konkretisiert sich in der Nationalversammlung in der Paulskirche 1848 in der Forderung nach einer<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 76


deutschen Verfassung. Der „Nationalliberalismus“ konnte im 19. Jahrhundert in der Nation, und damit im modernen<br />

Staat mit der darin entstehenden Staatsgesellschaft, das moderne Gegenbild zum Feud<strong>als</strong>taat, dessen Legitimation<br />

letztlich mittelalterlichen Mustern folgte, mit enormer revolutionärer Sprengkraft sehen, in der sich die bürgerlichen<br />

Freiheiten erst realisieren könnten; dass der Nation<strong>als</strong>taat im weiteren Verlauf von der restaurierten Fürstenherrschaft<br />

usurpiert und umgedeutet werden konnte, ist die Tragik Europas, in der der daraus entstandene Nationalismus die<br />

Katastrophen des 20. Jahrhunderts verursachte. Damit ist heute der „Nationalliberalismus“ obsolet und anachronistisch<br />

geworden und tendiert, wo noch formal vorhanden, an das äußerste rechte Lager des politischen Spektrums, wie zum<br />

Beispiel in der FPÖ in Österreich. Der „Wirtschaftsliberalismus“ bringt noch am deutlichsten die schon angesprochenen<br />

eigentlichen Klasseninteressen der in der Französischen Revolution noch „revolutionären“ Bourgeoisie zum<br />

Ausdruck, indem Verfügung über das Eigentum einmal Machtgarant gegenüber der Adelsherrschaft („Steuerprivileg“,<br />

vgl. Norbert Elias) war und zum anderen Wurzel eigener Selbstbestimmungs- und Freiheitsräume.<br />

Erst hier beginnt tatsächlich die Freiheit in der Gesellschaft, die sich im Individualismus, dem Wunsch, eigene<br />

Lebensentwürfe zu verfolgen, ausdrückt. Die Widersprüche zwischen den auseinander laufenden Zielen dieses fraktionierten<br />

Liberalismus ergeben und im 20. Jahrhundert den politischen Bedeutungsverlust gegenüber den jeweils dominierenden<br />

politischen Mächten und bewirkten den merkwürdig irisierenden politischen Charakter der FDP in<br />

Deutschland <strong>als</strong> „Mehrheitsbeschafferin“ oder „Umfallerpartei“. Doch hier käme man schon in die tagespolitische<br />

Polemik...<br />

Sehr pragmatisch unterscheidet sich die Forderung nach „Freiheit“ in durch die Frage „Freiheit wovon oder Freiheit<br />

wozu?“. Das teilweise Scheitern des Antikolonialismus, in dem die Freiheit von der Kolonialmacht überleitet in die<br />

Unfreiheit von Diktaturen und auch Terrorherrschaften ist das Musterbeispiel dafür. Dass andererseits ein Konsens<br />

(„volonté générale“ nach Rousseau) über die Frage, was die Freiheit „wozu“ inhaltlich meint, zu erzielen ist, wird nicht<br />

möglich erscheinen. Sofort wird die kritische Frage gestellt werden müssen nach den „Grenzen der Freiheit“, die in der<br />

modernen Demokratie völlig formal <strong>als</strong> Verfassungs- und Rechtsloyalität definiert werden, [7]<br />

Ein philosophisches Konzept kann hier nur konkreter werden, wenn es auf Ziele hinarbeitet, bei denen auf „frei“ das<br />

„gleich“ abhebt.<br />

Mit diesen grundsätzlichen, durch persönliche Erfahrungen angereicherten Überlegungen öffnen sich aber weiterführende<br />

Problembereiche und Perspektiven für Ergänzungen:<br />

Beispiele für unterschiedliche Sichtweisen und definitorische Ansätze des Gleichheits- wie des Freiheitsbegriffes, insbesondere<br />

unter den Bedingungen der Nachkriegspolitik und damit auch der Nachkriegsdidaktik,<br />

Abgrenzung und Differenzierung zum Beispiel der US-amerikanischen, französischen, deutschen, polnischen oder auch<br />

sowjetischen Ansätze zur Verwendung des „Freiheits-“ und des „Gleichheitspostulats“ <strong>als</strong> (tages-)politisches Legitimationsmittel<br />

in zeitgeschichtlichen Kontexten auch und insbesondere unter dem Aspekt von spezifischer Funktionalisierung.<br />

Und die Fragestellung; Gibt es spezifische Ansätze in semiperipheren Figurationen zum Beispiel türkischen,<br />

muslimischen und – aus „westlicher“ Sicht – „orientalischen“ (zum Beispiel iranischen) historischen Zusammenhängen,<br />

die jeweils auf ‚ältere‘ Kulturen rekurrieren, aber gesellschaftshistorisch beziehungsweise zivilisationstheoretisch<br />

ableitbar sind? Das vor allem auch didaktische Ziel wäre, „westliche Denkansätze“ zu relativieren und zu ergänzen<br />

bzw. in weitere Zusammenhänge zu setzen!<br />

1 Bundeszentrale für Politische Bildung<br />

Anmerkungen<br />

2 „Demgegenüber wurden, zumindest implizit, bildungspolitische Konzepte zugrunde gelegt, die schlichtweg<br />

überholt sind, wenn sie auch in einer gewissen verbalen Akrobatik „modernisiert“ und verschleiert worden sind.<br />

Dazu gehören vor allem: - das „Prinzip: vom Nahen zum Fernen“ - der unreflektierte Raumbegriff (z.B. S.2) - die<br />

Idee des „räumlichen Kontinuums“. Alle drei Ansätze sind fachlich nicht mehr haltbar. An Stelle des Prinzips<br />

„Vom Nahen zum Fernen“ kann, lern- und wahrnehmungspsychologisch, nur der (selbst auch noch problematische)<br />

Gegensatz von „selbst erfahrener“ und „medienvermittelter Realität“ treten. Hier könnte eine erfahrungsorientierte<br />

Fachdidaktik ansetzen, müßte dann aber das Subjekt des Schülers ebenso wie die notwendige<br />

Medienkritik thematisch in das <strong>Unterricht</strong>s- und Vermittlungskonzept mit einbeziehen, was in dem völlig<br />

kognitiv-gegenständlichen RRL-Entwurf auch nicht in Ansätzen geschieht.“ Neue Rahmenrichtlinien in Niedersachsen:<br />

Stellungnahme zum Entwurf der Rahmenrichtlinien für die Klassen 7-10 des Gymnasiums – hier:<br />

Erdkunde. »politik unterricht aktuell«, Heft 3/1988 „Kritik der aktuellen Bildungspolitik“.<br />

http://www.pu-aktuell.de/pua1988/RRL88-2.htm<br />

3 Voigt, Gerhard, 1986: Industrialisierung in England und Algerien. Das Vergleichen von Entwicklungen. Praxis<br />

Geographie, Jahrgang 16, Heft 11, November 1986: 19-23<br />

4 vgl.: Voigt, Gerhard, 2001: Widerständigkeit <strong>als</strong> Gültigkeitsproblem der Politischen Bildung. Krisen und<br />

Konfliktfelder zwischen Universalisierungsanspruch und Nationfixierung. In: Claußen, Bernhard / Donner,<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 77


Wolfgang / Voigt, Gerhard, Hrsg., 2001: Krise der <strong>Politik</strong> – Politische Bildung in der Krise? Diskurse im Kontext<br />

von Globalisierung und Ost-West-Perspektiven. Materialien aus der Zusammenarbeit zwischen der Akademie für<br />

Wirtschaft, <strong>Politik</strong> und Kultur Mecklenburg-Vorpommern und dem Verband der <strong>Politik</strong>lehrenden. Demokratie<br />

und Aufklärung: Kritische Sozialwissenschaften und Politische Bildung im Diskurs – Materialien –, Band 1.<br />

Galda + Wilch Verlag. Glienicke/Berlin / Cambridge/Massachusetts: 207-234<br />

5 Wolf, Jürgen / Voigt, Gerhard, 1978: Soziale Ungleichheit. Leistungskurs Soziologie. [Nichtveröffentlichter<br />

Handreichungskurs]. Materialdienst 1/78. GEW Niedersachsen, Hannover<br />

6 vgl. dazu: Voigt, Gerhard, 2002: Anmerkungen zu Art.1, GG, in »politik unterricht aktuell« Heft 1/2002: 23-28<br />

[http://www.voigt-bismarckschule.de/publikationen/Artikel_1_GG.htm<br />

7 Vgl. John Rawls, Gerechtigkeit <strong>als</strong> Fairness. Ein Neuentwurf. Frankfurt am Main 2003<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 78


Lothar Nettelmann und Gerhard Voigt:<br />

Thesen zur „Wende“<br />

Probleme der Wahrnehmung, Bewertung und Bewältigung<br />

sozio-ökonomischer Transformationsprozesse [1]<br />

Die Veränderungen der sozio-ökonomischen Strukturen, der politischen Repräsentationsformen der Herrschafts- und<br />

Machtverhältnisse sowie der von den Bewohnern selbst wahrgenommenen Alltagswelten in den Ländern, die vierzig<br />

Jahre im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, COMECON) und im militärischen Bündnis der Warschauer Pakt<br />

Organisation (WPO) im Hegemonialbereich der UdSSR integriert waren und von diesem System geprägt wurden,<br />

lassen sich <strong>als</strong> „Transformation“ charakterisieren. Ein besonderes Problem für die Gesellschaft wie für die Sozialwissenschaften<br />

ist dabei die DDR, in der Ansätze einer »autochthonen Transformation« (vgl. dazu die Leipziger<br />

„Montagsdemonstrationen“) überlagert und letztlich abgebrochen wurden durch den Beitritt zur Bundesrepublik<br />

Deutschland nach Art. 37 GG, der die Angliederung und Angleichung an das bestehende sozio-ökonomische System<br />

der BRD notwendig zur Folge hatte.<br />

Transformationsprozesse sind vielschichtige Übergänge, die weder <strong>als</strong> vollständiges Ersetzen des Vorherigen durch das<br />

Neue, noch <strong>als</strong> kontinuierlicher Wandel hinreichend beschrieben werden können. Transformationen erfolgen einerseits<br />

in der gesellschaftlichen Realität <strong>als</strong> vielschichtiger und diskontinuierlicher Prozess der Ersetzung, des Entwickelns, der<br />

Übernahme und Neufunktionalisierung und des Überlagerns. Dies hat strukturelle Ähnlichkeit mit den Prozessen des<br />

Kulturkontaktes, der Akkulturation oder Transkulturation, die heute eine große Bedeutung in der kulturwissenschaftlichen<br />

Forschung gewonnen haben. Andererseits erfolgen Transformationen auch im gesellschaftlichen Bewusstsein<br />

<strong>als</strong> Umbewertung, Neudefinition oder Anathematisierung sich wandelnder Realitäten, aber auch <strong>als</strong> Dissonanzerfahrungen<br />

und dem Erleben von Brüchen in der eigenen Biographie. Die Definition des Eigenen und des Fremden wird<br />

in Frage gestellt und wird zum existentiellen Problem.<br />

Einige wichtige Aspekte dieser komplexe Mehrebenen-Problematik sollen thesenhaft <strong>als</strong> Diskursanstöße dargestellt<br />

werden. Die Untersuchung der komplexen Problematik kann nur durch Analyse der sozial-strukturellen Gegebenheiten<br />

vor 1990 erfolgen. Es gilt die gesellschaftlichen Veränderungen bezüglich der Spannbreite von psychosozialen bis<br />

sozial-strukturellen Bezügen in Wechselwirkung zu den ökonomischen Veränderungen im politischen Rahmen abzubilden.<br />

In gesellschaftstheoretischer und philosophisch-ethischer Hinsicht lassen sich wichtige Denkanstöße aus einer<br />

intensiveren Analyse der Transformationsprozesse sowohl in Deutschland wie in anderen Ländern Ost- und<br />

Südosteuropas ableiten. Es ist daher kein Zufall, dass die Notwendigkeit, die Transformation und ihre Folgen<br />

gesellschaftlich bewerten und einordnen zu müssen, zu einer Remoralisierung der politischen Diskurse geführt hat.<br />

Dies ist durchaus nicht unproblematisch, da dadurch die Gefahr einer Dominanz irrational-moralistischer Realitätsdeutungen<br />

und Weltbilder wächst. Wechselbeziehungen wie auch tendenzieller gegenseitiger Ausschluss von Gleichheit<br />

und Freiheit lassen sich anhand der Spannungen der Transformationsphase deutlich machen und diskutieren [2] .<br />

Die Problematik dieser Transformation wird besonders deutlich, wenn man sich die Widersprüchlichkeit der<br />

öffentlichen Diskurse über Ursachen, Charakter und Folgen der Veränderungen in Ostdeutschland vor Augen hält. Die<br />

Diskussion springt undifferenziert und unvermittelt zwischen der moralisierenden Diskursebene, die vor allem auch der<br />

Vermeidung einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem politischen und gesellschaftlichen System der DDR dient,<br />

und der Betonung ökonomischer Defizite und Strukturprobleme in den „Neuen Bundesländern“ hin und her. Gerade<br />

diese Beurteilungsunsicherheit verhindert eine distanzierte und rationale Analyse der Entwicklungspotentiale in Ostdeutschland<br />

und im weiteren Sinne auch in den übrigen Transformationsländern Ost- und Südosteuropas. Dabei wird<br />

oftm<strong>als</strong> verdrängt, dass die ökonomischen Strukturprobleme in Transformationsregionen nicht nur Folge von Fehlentwicklungen<br />

in den vorherigen ökonomisch-politischen Systemen sind, sondern Steuerungs- und Entwicklungsprobleme<br />

einer sich globalisierenden kapitalistischen Weltwirtschaft deutlicher hervortreten lassen <strong>als</strong> in den traditionellen<br />

industriellen Zentren der Weltökonomie [3] . Es daher kaum weiter, nur die äußerlichen Mechanismen neuer<br />

Investitionen, die Rolle der Treuhandgesellschaft, die Überforderung von Mitarbeitern, den Missbrauch staatlicher<br />

Subventionen bis hin zu verschiedenen Formen der Vereinigungskriminalität etc. aufzuzeigen oder die in der Alltagswahrnehmung<br />

<strong>als</strong> ‚Zerschlagung‘ großer Kombinate, dem ‚Plattmachen‘ ganzer Industriezweige etc. darzustellen.<br />

Die Wende der Jahre 1989/90 in Deutschland, die das Ende der DDR bedeutete, ist in einen längerfristigen globalen<br />

Prozess einzuordnen. Sie steht im Zusammenhang mit den Transformationsprozessen und dem politischen<br />

Systemwandel in der damaligen Sowjetunion und den übrigen RGW- und WPO-Staaten. Diese Transformation ist<br />

wiederum eingebunden in grundlegende Strukturänderungen in der Weltwirtschaft, die sich mit dem Begriff der<br />

„Globalisierung“ verbinden. Dadurch ergaben sich veränderte Interessenlagen der Großmächte, die Veränderungen im<br />

Ost-West-Verhältnis bewirkten, d.h. das Ende der Konfrontation im „Kalten Krieg“, das sich bereits in den OSZE-<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 79


Vereinbarungen abzeichnete. Die Dominanz der Kategorie der „Wende“ in der Beschreibung der Transformationsprozesse<br />

in Ostdeutschland wird nur verständlich in der zeitlichen Fixierung auf eine „Bruchstelle“, <strong>als</strong> die in<br />

Deutschland der Zeitpunkt der Vereinigung von BRD und DDR wahrgenommen wird, die aber in diesem Zusammenhang<br />

inhaltlich letztlich <strong>als</strong> „fiktiv“ anzusehen ist. In historischer Perspektive gilt dieses kritische Diktum mehr<br />

oder weniger wohl auch für Wahrnehmung der Transformationsprozesse in Osteuropa, die fokussiert wird vor allem auf<br />

die erstmalige Wahl nichtkommunistischer, „bürgerlicher“ Regierungen in den mit der Sowjetunion „verbrüderten“<br />

Staaten wie auch schließlich auf die zeitlich exakt zu terminierende formale Auflösung von RGW, WPO und schließlich<br />

der UdSSR selbst.<br />

Die ursächliche Verknüpfung und Gleichzeitigkeit dieser einschneidenden politischen Entscheidungen lässt sowohl in<br />

der Eigenwahrnehmung wie in der Weltöffentlichkeit die Vorstellung einer abrupten Wende entstehen, was für die gesellschaftlichen<br />

und sozio-ökonomischen Grundstrukturen durchaus nicht in der postulierten Weise zutrifft. Es ist auch<br />

zu prüfen, ob das Bild der „Wende“ machtpolitisch funktionalisiert wurde und damit eine bestimmte Interessenperspektive<br />

repräsentiert, inwieweit <strong>als</strong>o zum Beispiel die Gewohnheit, von einer „friedlichen Revolution“ zu sprechen,<br />

frühzeitige Instrumentalisierungsversuche der westdeutschen politischen Klasse darstellt.<br />

Doch sollte dies <strong>als</strong> Selbstverständnis der aktiv werdenden DDR-Opposition 1989/90 nicht <strong>als</strong> von geringer Bedeutung<br />

angesehen werden. Ein durchaus revolutionärer Impetus zielte zunächst keineswegs auf die „nationale Einheit“ sondern<br />

auf den demokratischen inneren, gesellschaftlich-politischen Wandel.<br />

Erst in westdeutscher Perspektive wird die „friedliche Revolution“ zu einem Beschwichtigungs-Etikett für den in<br />

zentralen Bereichen ausbleibenden gesellschaftlich-politischen Wandel. Es handelt sich dabei auch um den Versuch,<br />

durch Vereinnahmung dieses – zweifellos eminent bedeutenden – Vorgangs psychische Machtmittel gegenüber der<br />

politischen Klasse in der ehemaligen DDR in die eigene Hand zu bekommen, die in den langfristigen politischen<br />

Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner eingesetzt werden können. Für die Bevölkerung, deren Stimmung<br />

bald nach der Euphorie des Herbstes 1989, kurz nach dem 9. November 1989 in die Ahnung der Depression umschlägt,<br />

scheint dieser gewollte Wandel der Realitätssicht in psychischen Stabilisierungsversuchen zu bestehen. Diese wurde<br />

umso vordringlicher, <strong>als</strong> die Bürger der DDR wahrnahmen, dass die „Wende-Anforderung“ zur Anpassung und<br />

Erneuerung und zur „fundamentalen Umstellung“ der ökonomisch-politischen Umwelt allein ihnen zugemutet wurde,<br />

nicht aber, wie erhofft und gefordert, <strong>als</strong> Erneuerungsforderung und -chance von allen Bürgern der „neuen Bundesrepublik“,<br />

<strong>als</strong>o auch der der „alten Bundesländer“, verstanden worden ist. Es geht somit auch darum, dass an die Stelle der<br />

Vereinigung, wie sie im Grundgesetz der BRD mit dem Gebot einer Verfassungsdiskussion verbunden war, der Beitritt<br />

getreten war und die Forderung nach einem „gemeinsamen Neuanfang“ von der politischen Klasse der BRD von<br />

vornherein abgeblockt wurde.<br />

Während sich die ökonomischen Daten in den Neuen Bundesländern nach dem ökonomischen Zusammenbruch 1990/91<br />

langsam aber stetig wieder verbessern, sind die psycho-sozialen Begleitwirkungen, die subjektiven Realitätssichten der<br />

Bürger dieser Bundesländer nach wie vor problematisch und eher durch negative Zukunftsperspektiven gekennzeichnet.<br />

Allein aus den objektiven ökonomischen Veränderungen heraus lässt sich dies kaum erklären und findet auch keine<br />

entsprechenden Parallelen in den benachbarten Transformationsländern wie Ungarn, Polen oder Tschechien, in denen<br />

trotz aller objektiven Probleme durchaus eine zukunftsoffene und optimistische Stimmung vorherrscht. Dabei zeigt es<br />

sich, dass die Hauptrichtung der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung in allen Transformationsländern durchaus<br />

nicht <strong>als</strong> abrupte Richtungsumkehr sondern eher <strong>als</strong> längst notwendig gewordene Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen<br />

und <strong>als</strong> Modernisierungsschub bewertet werden kann. Die typischen Probleme in den neuen Bundesländern<br />

liegen auf der Bewusstseinsebene, wo die Dissonanzerfahrung zwischen der bisherigen Realitätswahrnehmung<br />

und -deutung in der DDR und der euphemistisch-populistischen Selbstdarstellung der BRD durch die Erfahrung der<br />

Diskrepanz zwischen „westlichem Glücksversprechen“ und gesellschaftlicher Realität in der BRD vertieft und erweitert<br />

wird.<br />

Dies ist zu verstehen auch auf dem Hintergrund der permanenten Propaganda in der DDR nach der erzwungenen und<br />

nahezu hermetischen Abgrenzung gegenüber dem Westen Deutschlands nach dem 13. August 1961 – an dem einerseits<br />

der ökonomische Zusammenbruch mit physischen Gewaltmitteln zunächst verhindert, aber doch über die lange<br />

Stagnationsphase der Breschnew-Ära letztlich nur hinausgezögert wurde, andererseits aber eine notwendige und an veränderte<br />

Realitäten anpassende zivilisatorische Fortentwicklung, insbesondere die eines reflexiven gesellschaftlich-politisch<br />

wirkungsvollen Zivilisationsprozesses, wie sie der 68-er Umbruch in der BRD darstellte, verhindert wurde.<br />

Vergleichbare Modernisierungsschübe westlicher Industrie-Länder wurden in den RGW-Ländern nur in Ansätzen<br />

vollzogen. Der enge Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierungsprozessen wird<br />

gerade im Vergleich der Entwicklungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in den siebziger Jahren<br />

erkennbar. Der zivilisatorische Modernisierungsschub, der sich eher zu plakativ mit dem Etikett der 68-er Reformen<br />

kennzeichnen lässt und der zu tief greifenden und letztlich irreversiblen Erneuerungen im gesellschaftlichen<br />

Bewusstsein, dem Rechtssystem und in den Wertvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik<br />

Deutschland manifestierte, hatte auch ökonomische Ursachen in der Erfahrung, dass das die Bundesrepublik Deutschland<br />

anfänglich legitimierende „Wirtschaftswunder“ seine strukturellen Entwicklungsgrenzen erreicht hatte. Folge war<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 80


daher sowohl eine Bildungs- und Qualifikationsinitiative [4] <strong>als</strong> auch eine grundlegende ökonomische Modernisierung<br />

der westdeutschen Wirtschaft [5] .<br />

Die mangelnde Fähigkeit der DDR in den siebziger und achtziger Jahren zur grundlegenden ökonomischen Modernisierung,<br />

bei der sie tendenziell noch von Polen und Ungarn in den Schatten gestellt wurde, hat daher nicht nur<br />

wirtschaftsstrukturelle und steuerungspolitisch-systemische Ursachen, sondern ist ebenso bedingt durch die immanente<br />

gesellschaftlich-politische Unfähigkeit zur inneren Reformen und die allgemeine Stagnation des öffentlichen Lebens,<br />

auf die sich der bekannte Ausspruch Gorbatschows zum 40. Jahrestag der DDR bezog.<br />

Die Organisation der Volkswirtschaft der DDR wurde nicht nach Kriterien wie Effizienz, Rationalisierung, Knappheits-<br />

Prinzip, technischer Qualitätsoptimierung strukturiert. Daran zeigte sich auch das Unvermögen der Wirtschaftswissenschaften<br />

der DDR, über Marxistische Apologetik hinaus die internationalen empirischen und theoretischen<br />

Entwicklungen der westlichen Volks- und Betriebswirtschaftslehre zu rezipieren und, gegebenenfalls auch kritisch, zu<br />

evaluieren und umzusetzen. Ausgenommen von diesen Modernisierungsrückständen war höchstens der von der UdSSR<br />

dominierte Rüstungssektor, der aber dennoch zu wenig selbst technologisch innovativ war sondern im Rahmen intensiver<br />

‚Blaupausen‘-Spionage und nachvollziehender Orientierung an westlichen Rüstungs- und Technologiestandards<br />

mögliches Investiv- und Qualifikations-Kapital in erheblichem Maße band und von der allgemeinen wirtschaftlichen<br />

Entwicklung abzog [6] . Doch auch dieser Sektor war durch seine politische Bevorzugung und Förderung nicht in der<br />

Lage, Strategien des Umgangs mit knappen Ressourcen zu erarbeiten [7] .<br />

Der Wechsel von extensiver Ausbeutung der Arbeitskraft zur intensiven und letztlich intelligenten Ausnutzung von<br />

human capital, wurde in der DDR wie in den anderen RGW-Staaten nicht erreicht. Er war durch Zementierung<br />

geltender Staatsdoktrinen blockiert und dadurch verhindert worden. So erfolgte mit dem Ende der DDR die<br />

„Demaskierung“ einer bislang in der Rangfolge der Industrie-Länder hoch eingeordneten Volkswirtschaft. Diese auch<br />

im Westen verbreitete Fehleinschätzung der ökonomischen Potentiale der DDR war vor allem auch bewirkt worden<br />

durch die nicht vergleichbaren statistischen Bewertungsmaßstäbe, durch manipulierte Statistiken, eine verschleierte<br />

Außenverschuldung (ca. 80 Mrd. DDR-Staatsschulden) und das zwar <strong>als</strong> positiv eingeschätzte, aber nur unter den<br />

spezifischen Bedingungen (scheinbar) wirtschaftlich funktionierende Binnensystem, das, wie die Ereignisse von 1989<br />

zeigen, strukturell instabil und nicht hinreichend legitimiert war.<br />

Auch in den Neuen Bundesländern ist das Aufeinanderstoßen antagonistischer wirtschaftlicher Paradigmen zu einem<br />

Entwicklungshemmnis geworden, was eben gerade nicht eine Auseinandersetzung von Sozialismus und Kapitalismus<br />

bedeutet, sondern sich auf die Bewertung der Produktionsfaktoren – Arbeit, Produktionskapital, Flächenverbrauch –<br />

sowie auf die Verwendung und rationelle wie auch verschwenderische Nutzung von Rohstoffen und Energie bezieht<br />

und die Konsequenzen aus dem Knappheitspostulat ziehen muss.<br />

Auch die im Selbstverständnis der DDR und teilweise noch in der politischen Klasse der Neuen Bundesländer positiv<br />

bewerteten Errungenschaften des Sozialismus im sozialen und gesellschaftlichen Bereich müssen heute kritisch gesehen<br />

werden, weil sie einerseits notwendige Modernisierungsprozesse verhindert haben und andererseits <strong>als</strong> funktionalisierte<br />

Machtmittel eher zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse <strong>als</strong> zur Verbesserung der realen Lebensbedingungen der<br />

Bewohner der DDR beigetragen haben. Der dominierende Versorgungsstaat griff – gewollt – tief in die tradierten<br />

gesellschaftlichen Strukturen ein, ohne letztlich das Ziel einer „neuen Gesellschaft“ tatsächlich erreichen zu können.<br />

Ebenso wie die scheinbar positive Frauen- und Jugendpolitik diente der Versorgungsstaat letztlich <strong>als</strong> Mittel<br />

kurzfristigen psycho-sozialen Ausgleichs. Das gesellschaftlich-politische System der DDR, so wird in brutaler Deutlichkeit<br />

klar, diente insgesamt der herbeizuführenden Ruhigstellung einer psychisch-politischen Repressionen unterworfenen<br />

DDR-Bevölkerung.<br />

Hier trifft sich die Krisen-Diagnose wieder auf die schon erörterten Modernisierungsdefizite gegenüber den in anderen<br />

Industrieländern seit den 70-er Jahren wichtig werdenden emanzipatorischen Strömungen, der Herausbildung selbst<br />

organisierter Bürgerinitiativen und den Bestrebungen zu Entwicklung einer Zivilgesellschaft [8] . Auch dieses sind wieder<br />

langfristige, sich auch an globalen Prozessen orientierende Anpassungs- und Modernisierungsnotwendigkeiten gewesen.<br />

In der DDR jedoch wirkte der Entwicklung differenzierenden politischen Bewusstseins der staatsdominierte<br />

Versorgungsstaat ebenso entgegen wie die Dominanz des Block- sowie Freund-Feind-Denkens. Das politische Selbstverständnis<br />

der DDR-Führung blieb tief in den staatsgesellschaftlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verhaftet<br />

und kämpfte längst obsolet gewordene politische Konflikte aus.<br />

Die Mechanismen der staatszentrierten Herrschaft in der DDR, in der Macht abgesichert wurde sowohl durch die<br />

Steuerung der Ökonomie und zugleich die Verfügung über die individuelle wirtschaftlich-finanzielle Machtquellen der<br />

Werktätigen, d.h. die Löhne und Renten, <strong>als</strong> auch mit restriktiven und repressiven Steuerungsinstrumenten z.B. bei der<br />

Wohnungsvergabe, der Arbeits- und Ausbildungsplatz-Steuerung, bis hin zur Zuordnung der Urlaubsorte, konnten zwar<br />

im Alltag der Werktätigen entlastend, pazifizierend im Sinne des „nicht selbst entscheiden Müssens“ wirken, erweisen<br />

sich aber ökonomisch <strong>als</strong> dysfunktional, erst recht nach der „Wende“ unter den Bedingungen einer freier Leistungskonkurrenz.<br />

Politische Steuerungen, die allesamt über Versprechen, Durchführen oder Versagen entsprechender Umsetzungen<br />

wirken, sind tradierte Machtmittel von Herrschaft.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 81


Eine gewichtige Hypothek stellte die Abwanderung von leistungsbereiten und -fähigen mittelschichtenorientierten<br />

Binnenmigranten aus der SBZ/DDR seit dem Kriegsende dar. Bei der gesellschaftlichen Integration in das vereinte<br />

Deutschland stellten insbesondere die damit verbunden Defizite bei der Herausbildung einer ökonomisch oder<br />

intellektuell aktiven Mittelschicht <strong>als</strong> Träger gesellschaftlicher und ökonomischer Entwicklung ein Hemmnis und<br />

Problem dar. Dieser Prozess des „brain drain“ von Ost nach West findet unter den Bedingungen der Transformation in<br />

den Jahren nach der „Wende“ seine Fortsetzung. Ostdeutschlands erleidet nach der Vereinigung beider deutscher Staaten<br />

vor allem durch die ökonomische Sogwirkung des Einkommens- und Chancengefälles einen deutlichen Abfluss<br />

leistungsbereiter und besonders leistungsfähiger, oftm<strong>als</strong> Schlüsselfunktionen innehabender Arbeitskräfte.<br />

Das negative Gegenstück zu dieser Ost-West-(Binnen-)Migration in Deutschland ist der temporäre Zuzug von<br />

„Investoren“ – besser: Immobilienspekulanten und ‚Abschreibungs‘-Künstlern – aus wohlhabenden Kreisen Westdeutschlands<br />

und aus anderen bisher <strong>als</strong> kapitalistisch bezeichneten Ländern in die östlichen Bundesländer, die oftm<strong>als</strong><br />

vor allem an persönlichen Gewinnen durch kurzfristige Kapitalverwertung oder Vernichtung potentieller Konkurrenten<br />

interessiert waren. Das hatte gravierende ökonomische wie sozialpsychologische Wirkungen auf die – an den Traditionen<br />

der DDR-Werktätigen orientierte – Bevölkerung Ostdeutschlands, die meist mit Hilflosigkeit und Resignation<br />

reagierte. Durch diesen doppelten konfliktreichen Kontakt, der sich in den Migrationen ausdrückt, baut sich eine neue<br />

negative und aggressive Stereotypebene auf, die die alten Stereotypmuster überlagert, aber nicht restlos verdrängt, so<br />

dass wiederum intrapersonale Dissonanzerfahrungen zur Verunsicherung und zur aggressiven Abwehr des „Fremden“<br />

und „Neuen“ beitragen.<br />

Frauen haben in besonderem Maße die Folgen der Transformation getragen durch Verlust ihrer bezahlten Arbeitsplätze<br />

und der aus Erwerbstätigkeit entstandenen Identitäten. Zugleich hat die in der Transformationsphase erzwungene<br />

Modernisierung aber Kräfte freigesetzt, Chancen zu ergreifen und neue Tätigkeitsfelder zu besetzen.<br />

Die Situation – insbesondere qualifizierter Frauen in den Transformationsländern – entspricht einem tragischen Spannungsverhältnis.<br />

Viele Frauen können die Spannung zwischen ihrem ehem<strong>als</strong> hohen Leistungsanteil, ihrer Leistungsfähigkeit<br />

und -bereitschaft einerseits, verbunden mit geglaubten Emanzipationschancen durch den Sozialismus und die<br />

Einbindung in die Funktionalität von Herrschaftsausübung durch Systemstabilisierung andererseits nicht verarbeiten.<br />

Die Rolle von Frauen wurde in den RGW-Ländern niem<strong>als</strong> langfristig und prinzipiell definiert sondern erfolgte ad hoc<br />

durch propagandistisch begleitete Lenkungsentscheidungen, die sämtlich nicht verbunden waren mit originärem individuellen<br />

wie kollektiven Machtgewinn, wirklichem Machtzuwachs sowie Verfügungsgewalt über eine erhöhte<br />

finanzielle Basis durch Statussteigerung.<br />

Ihr Leistungswille kann nur in wenigen Ausnahmen in ihrer neuen ökonomisch herabgesetzten Situation umgesetzt<br />

werden und führt vielfach zu psychischen und sozialen Bewältigungsproblemen. Diese können auch nicht durch<br />

objektive Kriterien wie Einbeziehung in die Altersversorgung auf der Basis von Durchschnittseinkommen über die<br />

Arbeitslosenversicherung und andere Sozialversicherungssysteme kompensiert werden. Oftm<strong>als</strong> überlagert eine den<br />

erlernten und verinnerlichten Bewertungsmustern entstammende Alltagswahrnehmung die Transformationsproblematik<br />

und ist verbunden mit durchaus positiver Einschätzung der individuellen Entwicklung aber negativer Sicht der<br />

gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, einem Phänomen, das zunehmend auch charakteristisch wird für die Gesellschaftsbilder<br />

in den westlichen Bundesländern und <strong>als</strong> eine der Ursachen von „Entpolitisierung“ und „<strong>Politik</strong>verdrossenheit“<br />

anzusehen ist.<br />

Eine erhebliche Weichenstellung ist <strong>als</strong> politisch gewollt, nicht aber <strong>als</strong> Folge gesellschaftlicher Diskurse und<br />

parlamentarischer Entscheidungsprozesse erfolgt: die <strong>als</strong> ‚Geldumtausch‘ im Verhältnis 1 : 1 (bzw. 2 : 1) wahrgenommene,<br />

aber durch die Bundesregierung trotz erheblicher Warnungen von Wirtschafts- und Finanzexperten durchgesetzte<br />

‚Zwangs‘-aufwertung der DDR-Mark. Eine Chance auf einen längerfristigen gleitenden Übergang durch Aufrechterhaltung<br />

durchaus erfolgreicher Produktionssektoren war dadurch verhindert worden. Durch einen dem Markt überlassenen<br />

Wechselkurs hätten vermutlich erhebliche Verschwendungen von Investivkapital vermieden werden können.<br />

Diskutiert werden kann in diesem Zusammenhang die Polarität zwischen keynesianischen (nachfrageorientierten) und<br />

neoliberalen (angebotsorientierten) Ansätzen von Wirtschaftspolitik.<br />

Insgesamt reiht sich die Transformation von der DDR zum vereinigten Deutschland des Jahres 2000 ein in eine Vielzahl<br />

langfristiger und wesentlich ungesteuerter Veränderungen von Gesellschaften. Grundlegende Veränderungen der<br />

gesellschaftlichen Entwicklung sind nicht intendierten oder gezielten Entscheidungen der politischen Klasse zuzuordnen.<br />

Transformationsprozesse sind vielschichtige, z.T. diskontinuierliche, widersprüchliche, mit gegenläufigen<br />

Unterströmungen unterfütterte gesellschaftliche Phasen, die nur mit „Mehrebenenmodellen“ der Realität rational und<br />

wissenschaftlich beschrieben werden können. „Erfolge“ sind letztlich keine objektiven Entitäten, sondern Bewertungen<br />

auf der Bewusstseinsebene, die selbst dem Transformationsprozess unterworfen sind. Sie sind deshalb auch nicht<br />

personalisierbar. Als Schlüsselperson kann im konkreten Fall zwar – wenn, dann mit Einschränkungen – Michael<br />

Gorbatschow genannt werden, doch setzt diese Einschätzung eine gründlichere und differenzierte Betrachtung der<br />

Transformation der UdSSR voraus. Hier ist dann das historische Paradoxon an den Abschluss zu stellen, dass zwar Geschichte<br />

von und durch handelnde oder nicht handelnde Personen gemacht und von Personen erlitten und ertragen wird,<br />

dass aber die Reduktion auf das Handeln einzelner Personen die komplexen sozialpsychologischen Bedingtheiten, die<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 82


das Leben jeder Person bestimmen, nicht hinreichend einbezogen werden, so dass im Mittelpunkt einer Geschichtsbetrachtung,<br />

vor allem wenn es um historische Bruchstellen handelt, ein dialektisches Verhältnis personalen<br />

Handelns und Leidens und struktureller, prozessualer Bedingungen und Bedingtheiten stehen muss.<br />

Die wenn auch thesenhaft verkürzte Analyse der „Wende“ wirft somit eine Reihe von grundsätzlichen sozialwissenschaftlichen<br />

Problemen auf, die entweder <strong>als</strong> Urteils- oder <strong>als</strong> Frageperspektiven verstanden oder <strong>als</strong> Schichten<br />

eines Mehrebenenmodells die historisch-gesellschaftliche Realität in einen komplexen Zusammenhang gestellt werden<br />

können, was <strong>als</strong> Anstoß für eine vertiefende Beschäftigung mit dieser Problematik aufgefasst werden soll:<br />

Die „Wende“ ist in erster Linie ein Bewusstseinsphänomen, eine neue historiographische Kategorie [9] , die ein Bild der<br />

Realität konstruiert und repräsentiert.<br />

Transformationsprozesse sind uneindeutig und widersprüchlich; dominanten – „sichtbaren“ – Strömungen laufen<br />

„verdeckte“, aber nicht weniger wirksame, Unterströmungen zuwider; ihre Bewertung und Wahrnehmung <strong>als</strong> Realität<br />

erfolgt durch gesellschaftliche Diskurse.<br />

Die Frage einer historischen Notwendigkeit des „Wendeprozesses“ ist ein ex-post-Konstrukt, das zu einer Reorganisation<br />

des historischen Bildes der DDR wie der BRD aus der Perspektive gegenwärtiger Entwicklungen und<br />

Interessen führt.<br />

Der Topos der „verpassten Chance“ polarisiert West und Ost und auch die politische Klasse Deutschlands durch den<br />

Verweis darauf, dass die Deutsche Einheit nicht Neubeginn für alle, sondern „Wendezumutung“ nur für die einen war<br />

und der für die „Wiedervereinigung“ konzipierte Verfassungsauftrag weitgehend negiert wurde.<br />

Die Erfahrung, dass die Transformationsprozesse – in einem über die Nation hinausreichenden Kontext – materielle<br />

und kategoriale Geschichtsdeutungen auflösen, steht auch im Zusammenhang heutiger philosophischer Konzepte einer<br />

Geschichtsauffassung, die Realität in erster Linie <strong>als</strong> Bewusstseins-, Wahrnehmungs- und Diskursphänomene, daher <strong>als</strong><br />

„Konstrukt“ oder „Repräsentation“ versteht. Diese Auflösung banaler Sicherheit führt in der gesellschaftlichen Praxis<br />

zu einer Betonung des ethischen Dilemmas der „Wende“, dass die Kosten des Modernisierungsprozesses dem<br />

Gerechtigkeitspostulat zuwider laufend verteilt sind. Dies ist die nachvollziehbare Erklärung für die sozialwissenschaftlich<br />

zu beklagende „Remoralisierung“ der „Wende-Diskurse“, die einleitend schon angesprochen wurde.<br />

Anmerkungen:<br />

[1]<br />

[2]<br />

[3]<br />

[4]<br />

Eine erste Fassung dieser Thesen erscheint in »politik unterricht aktuell« Heft 1/2001, Hrsg. vom Verband der<br />

<strong>Politik</strong>lehrer (VdP).<br />

Es ist daher kein Zufall, wenn in anderen historischen Kontexten Transformationsprozesse im Zusammenhang mit<br />

der Entstehung und Herausformung der modernen Staatsgesellschaften gleichermaßen durch den Primat<br />

moralischer Diskurse zu kennzeichnen sind, was ein Beleg für die dominante gesellschaftliche Verunsicherung<br />

und den Verlust traditionaler Realitätsbewältigungsmuster zu verstehen ist. Historische Exempel finden sich in<br />

der Geschichte der Französischen Revolution (Wert-Diskussionen im „Wohlfahrtsausschuss“ wie auch die<br />

politische Legitimierung Robespierres), in den nationalistisch-moralisierenden Diskursen der „bürgerlichen<br />

Staatenbildung“ in Deutschland im 19. Jahrhundert wie auch in der Moralisierung der Öffentlichkeit in<br />

krisenhaften Schwellenländern wie der Türkei (Islamismus-Kontroverse) oder in der Islamischen Revolution in<br />

Iran. Vgl. dazu auch Voigt, Gerhard, 2002: Zur Begriffsbestimmung von „Staat“ und „Staatsgesellschaft“.<br />

Anmerkungen zur begrifflichen Differenzierung. In: Voigt, Gerhard, Hrsg., 2001: „Staatsgesellschaft“. Historischsozialwissenschaftliche<br />

Beiträge zur Diskussion von Entwicklungen, Problemen und Perspektiven. Schriftenreihe<br />

des UNESCO-Clubs für die UNESCO-Schule am Maschsee, Bismarckschule Hannover, e.V.<br />

Vgl. dazu die Diskussion über die Weltsystemtheorie nach Wallerstein [Wallerstein, Immanuel, 1974: The Modern<br />

World-System: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century.<br />

New York, und folgende Bände, wie auch Wallerstein, Immanuel, 1995: Die Sozialwissenschaft ‚kaputtdenken‘.<br />

Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts. Weinheim].<br />

Die Ergebnisse dieser Umorientierung des bundesdeutschen Bildungsumbruches werden vor dem Hintergrund<br />

neuer Transformationskrisen zum Ende des Jahrtausends zunehmend wieder in Frage gestellt. Doch was sich<br />

äußerlich <strong>als</strong> konservativer Rückschritt zu Bildungsvorstellungen der 50-er Jahre darstellen mag, ist im Kern die<br />

richtige Einsicht, dass ein erneuter bildungspolitischer Paradigmenwechsel notwendig geworden ist, der sich in<br />

den öffentlichen Diskursen noch nicht ausreichend konturiert aber in grundsätzlichen bildungspolitischen<br />

Initiativen evoziert wird. Vgl. dazu u.a. den Aufsatz von Bernhard Claußen: Problemorientierte Politische<br />

Bildung für Menschen würdiges Überleben durch materielle Demokratie, soziale Gerechtigkeit und ökologische<br />

Verantwortung: Überlegungen zu einer theoretischen Plattform, in: Claußen, Bernhard, u.a. (Hrsg.), 2001: Krise<br />

in der <strong>Politik</strong> – Politische Bildung in der Krise? Glienicke/Berlin und Cambridge/Mass: 465-504. Unter gleichem<br />

Titel auch veröffentlicht in »politik unterricht aktuell«, Heft 1/2000 / Supplement. – Weitere Überlegungen zu<br />

diesem notwendigen Paradigmenwechsel auch in Gerhard Voigt: Politische Bildung in der Gegenwartsepoche:<br />

Krisenbefunde <strong>als</strong> Grundlage und Paradigmenwechsel <strong>als</strong> Perspektive, in Claußen, ebenda: 331-462.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 83


[5]<br />

[6]<br />

[7]<br />

[8]<br />

[9]<br />

Wesentliche Elemente dabei waren eine Neubestimmung des Verhältnisses von technischer Innovation und neue<br />

Evaluierung des Humankapit<strong>als</strong>, wie es sich in neuen Gewerkschaftsstrategien ebenso wie in den Gesetzen zur<br />

erweiterten Mitbestimmung ausdrücken ließ. Erst durch diese Modernisierung wurde die westdeutsche Wirtschaft<br />

vorbereitet auf die zunehmende Integration in die heutigen Globalisierungsprozesse. Die Schritte der europäischen<br />

Integration waren dabei ein „Übungsfeld“ für weltwirtschaftliche Anpassungsprozesse, die sich zunehmend auch<br />

auf die Anpassung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse an die neuen ökonomischen Herausforderungen<br />

erstrecken mussten.<br />

Es wäre sinnvoll, hier die kritische Auseinandersetzung mit dem „militärisch-ökonomischen Komplex“ in Ost und<br />

West in den siebziger und achtziger Jahren aufzuarbeiten und für eine zeitgeschichtliche Systemkritik fruchtbar zu<br />

machen.<br />

Die katastrophale ökonomische Lage z.B. der russischen Streitkräfte, die menschliche und politische Katastrophen<br />

nach sich zieht, ist eine unmittelbare Folge dieses Bewusstseinsdefizits und der allgemeinen Unfähigkeit vieler<br />

Transformationsländer, ökonomisches Denken nicht nur technokratisch sondern grundsätzlich <strong>als</strong> gesellschaftliche<br />

Rationalität im Umgang mit ökonomischen Realitäten zu verstehen.<br />

Vgl. dazu Bernhard Claußen: Zivilgesellschaft im Kontext von <strong>Politik</strong> und Bildung. Fachliche und didaktische<br />

Konturen einer sozialwissenschaftlichen Analyse zum Demokratisierungsprozess moderner Staatswesen, in:<br />

Historisch-sozialwissenschaftliche Beiträge zur Diskussion von Entwicklungen, Problemen und Perspektiven.<br />

Forum Politologie und Soziologie Band 9. Glienicke/Berlin und Cambridge/Mass.<br />

Dieser Begriff bezieht sich auf die aktuelle Diskussion in der Geschichtswissenschaft, in wie weit grundlegende<br />

Einteilungs- und Deutungskategorien für geschichtliche Ereignisse und Zeitabschnitte (z.B. „Epochen“) eine<br />

eigene tatsächliche Realität besitzen („Entitäten“ sind), oder ob sie <strong>als</strong> Konstrukte der Historiographie oder der<br />

Geschichtsphilosophie bestimmte Auffassungen von der Realität der Geschichte repräsentieren und damit gegebenenfalls<br />

Geschichte erst ex post entstehen lassen. So wie es die Frage ist, ob die „Renaissance“ <strong>als</strong> solche<br />

überhaupt eine sinnvolle Realität repräsentiert, oder ob sie erst durch die Historiker durch die Bezeichnung selbst<br />

„erschaffen“ worden ist, so stellt sich in unserem Zusammenhang nachdrücklich die Frage, ob es tatsächlich eine<br />

zeitgeschichtliche Realität gegeben hat oder gegeben hätte, auf die die Bezeichnung „Wende“ zweifelsfrei zutrifft,<br />

oder ob die Beschreibung der Ereignisse von 1989/90 mit der Kategorie „Wende“ zunächst erst das Bewusstsein<br />

und dann durch das an dieser Realitätsdeutung evozierte gesellschaftliche Handeln im Sinne einer „self-fulfilling<br />

prophecy“ Elemente dieser „Wende-Realität“ geschaffen hat. Hier gilt die sozialpsychologische Einsicht, dass<br />

menschliches Handeln nicht von der Realität bestimmt wird, sondern von dem, was Menschen <strong>als</strong> Realität<br />

ansehen. In so fern ist heute die „Wende“ eine Realität, aber nicht im Sinne einer historischen Realität, sondern<br />

im Sinne einer gesellschaftlichen Realität, mit der eine kritische Auseinandersetzung sinnvoll und notwendig ist.<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 84


Quellen:<br />

Gerhard Voigt: Perspektiven der Politischen Bildung in der Gegenwartsepoche. Krisenbefunde und Paradigmenwechsel<br />

in der Politischen Bildung Überarbeitete und sprachlich revidierte Veröffentlichung einer Manuskriptfassung von<br />

Voigt, Gerhard, 2001: Perspektiven der Politischen Bildung in der Gegenwartsepoche: didaktische und<br />

methodische Akzente für die Praxis <strong>als</strong> Beitrag zur Krisenbewältigung der <strong>Politik</strong>. In: Claußen, Bernhard /<br />

Donner, Wolfgang / Voigt, Gerhard, Hrsg., 2001: Krise der <strong>Politik</strong> – Politische Bildung in der Krise? Diskurse im<br />

Kontext von Globalisierung und Ost-West-Perspektiven. Materialien aus der Zusammenarbeit zwischen der<br />

Akademie für Wirtschaft, <strong>Politik</strong> und Kultur Mecklenburg-Vorpommern und dem Verband der <strong>Politik</strong>lehrenden.<br />

Demokratie und Aufklärung: Kritische Sozialwissenschaften und Politische Bildung im Diskurs – Materialien –,<br />

Band 1. Galda + Wilch Verlag. Glienicke/Berlin / Cambridge/Massachusetts: 331-462. Verwendung mit<br />

Genehmigung der Rechteinhaber. - Internetausgabe 11.07.2011 auf http://www.voigt-bismarckschule.de und<br />

http://www.pu-aktuell.de.<br />

Gerhard Voigt / Lothar Nettelmann: Gleichheit – Freiheit. Zur politischen und didaktischen Problematik kategorialer<br />

Scheingegensätze. Erstfassung: Arbeitspapier vom 26.08.1997 Veröffentlicht in politik unterricht aktuell, Heft<br />

1/1991. Hannover, 1996. Herausgeber: Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V., Hannover<br />

Erweiterte Fassung eines Beitrages aus: Claußen, Bernhard / Zschieschang, Susann, Hrsg., 2002: <strong>Politik</strong> –<br />

Bildung – Gesellschaft. Studien zur exemplarischen Verhältnisbestimmung in sozialgeschichtlicher und<br />

zeitdiagnostischer Perspektive. Für Wolfgang Lobeda zum 70. Geburtstag. Demokratie und Aufklärung. Kritische<br />

Sozialwissenschaften und Politische Bildung im Diskurs – Materialien –. Band 2. Glienicke/Berlin /<br />

Cambridge/Massachusetts. Galda + Wilch Verlag: 629-646. – Verwendung mit Genehmigung der Rechteinhaber.<br />

– Internetausgabe 11.07.2011 auf http://www.voigt-bismarckschule.de<br />

Nettelmann, Lothar / Voigt, Gerhard: Thesen zur „Wende“. Probleme der Wahrnehmung, Bewertung und Bewältigung<br />

sozio-ökonomischer Transformationsprozesse. Eine erste Fassung dieser Thesen erscheint in »politik unterricht<br />

aktuell« Heft 1/2001, Hrsg. vom Verband der <strong>Politik</strong>lehrer (VdP).<br />

Neuausgabe <strong>als</strong> Sonderheft von <strong>Politik</strong> <strong>Unterricht</strong> <strong>Aktuell</strong> 2011 »Krise der <strong>Politik</strong> – Krise der Politischen<br />

Bildung«<br />

in der Internet-Version auf http://www.pu-aktuell.de<br />

Verantwortlich für diese Publikation: Gerhard Voigt, OStR i.R. (seit 2009).<br />

Veröffentlicht in politik unterricht aktuell, Sonderheft 2011. Hannover, 2012. Printausgabe für Bibliotheken –<br />

pua ISSN 0945-1544.<br />

Herausgeber: Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V., Hannover. Vorsitzender: Gerhard Voigt, OStR i.R. (seit 2009),<br />

eMail: bismarckschule.voigt@gmx.de, http://www.voigt-bismarckschule.de.<br />

Internetausgabe http://pu-aktuell.de/pua2011-Krisenbefunde/p011_inx.htm 12.07.2011<br />

durchgesehene <strong>PDF</strong>-Edition 23.01.2012<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 85


Inhalt<br />

Gerhard Voigt: Perspektiven der Politischen Bildung ..................................................................................................... 1<br />

in der Gegenwartsepoche Krisenbefunde und Paradigmenwechsel in der Politischen Bildung ....................................... 1<br />

1. Das Bewusstsein, krisenhafte Umbrüche zu erleben .................................................................................... 1<br />

1.1 Das Ende der Gegenwart ........................................................................................................................................ 1<br />

1.2 Zur Psychologie der Krisenwahrnehmung ........................................................................................................... 1<br />

1.3 Krise, Realitätsdefinition und Wertordnung ........................................................................................................ 2<br />

1.4 Zur begrifflichen Bestimmung der Wahrnehmung des »Zerfalls der Gesellschaft« und des »Zerfalls der gültigen<br />

Wertnormen« ........................................................................................................................................................... 3<br />

1.5 Anmerkungen zu den gegenwärtigen Problemen der Theorie und Rezeption des Krisenbegriffs [14] ..................... 5<br />

2. Veränderungen der Situation des Politischen <strong>Unterricht</strong>es ............................................................................ 7<br />

2.1 Der Erfahrungshintergrund ................................................................................................................................. 7<br />

2.2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen ............................................................................................................... 8<br />

2.21 Phasen des Wandels der Zielparadigmen der Politischen Bildung ........................................................................... 8<br />

2.22 Veränderungen in der Schülerschaft ....................................................................................................................... 9<br />

2.23 Lehrersituation und Schulinstitution ..................................................................................................................... 12<br />

3. Notwendiger Paradigmenwechsel der <strong>Politik</strong>didaktik ................................................................................ 13<br />

3.1 Widerständigkeit statt auf Nationsmythen fixierte Affirmation ......................................................................... 13<br />

3.2 Diskursorientierte didaktische Konzepte ........................................................................................................... 14<br />

3.3 Das traditionelle Beharrungsvermögen im Selbstverständnis von Fachlehrerinnen und Fachlehrern ................. 17<br />

4. »Schlüsselprobleme« <strong>als</strong> gesellschaftliche Diskursfelder............................................................................ 18<br />

4.1 Probleme der curricularen Eignung des Konzeptes der »Schlüsselprobleme« .................................................... 18<br />

4.2 Zum Theorie-Praxis-Problem ............................................................................................................................ 21<br />

4.3 Diskurs »Gerechtigkeit, Ungleichheit, Wertewandel« [69] ................................................................................... 23<br />

4.4 Diskurs »Individualisierung, Gewalt, Soziabilität« ............................................................................................ 27<br />

4.5 Diskurs »Zivilisation, Gesellschaft, Staat« ........................................................................................................ 33<br />

4.51 Die Problematik eines »unübersichtlichen Diskurses« ................................................................................. 33<br />

4.52 Die aktuelle Bedeutung des Diskurses über Zivilisation und Höflichkeit ..................................................... 34<br />

4.521 Zivilisation und Alltagsverhalten – Das Alltägliche und das Besondere« ................................................... 34<br />

4.522 Didaktische Zwischenbemerkungen .......................................................................................................... 35<br />

4.523 Die Zivilisation im Staatenbildungsprozess: Ein problematisches Wahrnehmungsfeld .............................. 37<br />

4.53 Zur heutigen sozialgeschichtlichen Problematik der Soziogenese der „Höflichkeit“ .................................... 37<br />

4.54 Das Problem der Dezivilisierung ................................................................................................................. 41<br />

4.6 Diskurs »Universalisierung, Globalisierung, Ökonomisierung« ........................................................................ 43<br />

5. Anmerkungen zu den Konsequenzen für die <strong>Unterricht</strong>spraxis .................................................................... 45<br />

6. Anmerkungen zu den Konsequenzen für die Ausbildung und Qualifikation der <strong>Politik</strong>lehrerschaft .................... 50<br />

6.1 Modellvorstellungen für die universitäre Lehrerausbildung ............................................................................... 50<br />

6.2 Permanente Fort- und Weiterbildung ................................................................................................................ 53<br />

Literatur..................................................................................................................................................................... 56<br />

Anmerkungen ................................................................................................................................................... 62<br />

Gerhard Voigt / Lothar Nettelmann: Gleichheit – Freiheit ............................................................................................ 75<br />

Zur politischen und didaktischen Problematik kategorialer Scheingegensätze .................................................... 75<br />

Gleichheit ............................................................................................................................................ 76<br />

Freiheit................................................................................................................................................ 76<br />

Anmerkungen ....................................................................................................................................... 77<br />

Lothar Nettelmann und Gerhard Voigt: Thesen zur „Wende“ ....................................................................................... 79<br />

Probleme der Wahrnehmung, Bewertung und Bewältigung sozio-ökonomischer Transformationsprozesse ............. 79<br />

Anmerkungen: ...................................................................................................................................... 83<br />

Quellen: ....................................................................................................................................................................... 85<br />

Inhalt ........................................................................................................................................................................... 86<br />

politik unterricht aktuell 1/2011 Seite 86


politik unterricht aktuell Heft 1/2011<br />

Herausgeber: Gerhard Voigt<br />

Redaktion: Dr. Lothar Nettelmann<br />

Mitteilungen aus dem Verband der <strong>Politik</strong>lehrer e.V.<br />

» Krise der <strong>Politik</strong> – Krise der Politischen Bildung«<br />

Beiträge:<br />

Gerhard Voigt:<br />

Perspektiven der Politischen Bildung in der<br />

Gegenwartsepoche. Krisenbefunde und<br />

Paradigmenwechsel in der Politischen Bildung.<br />

Überarbeitete und sprachlich revidierte Veröffentlichung<br />

einer Manuskriptfassung<br />

Gerhard Voigt / Lothar Nettelmann:<br />

Gleichheit – Freiheit. Zur politischen und didaktischen<br />

Problematik kategorialer Scheingegensätze. Erstfassung:<br />

Arbeitspapier vom 26.08.1997<br />

Nettelmann, Lothar / Voigt, Gerhard:<br />

Thesen zur „Wende“. Probleme der Wahrnehmung,<br />

Bewertung und Bewältigung sozio-ökonomischer<br />

Transformationsprozesse.<br />

Hannover, 2012 ISSN 0945-1544 Internetpublikation / Print on demand

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