Elisabeth List Vom Darstellen zum Herstellen - Velbrück Wissenschaft
Elisabeth List Vom Darstellen zum Herstellen - Velbrück Wissenschaft
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<strong>Elisabeth</strong> <strong>List</strong><br />
<strong>Vom</strong> <strong>Darstellen</strong> <strong>zum</strong> <strong>Herstellen</strong><br />
Eine Kulturgeschichte der Naturwissenschaften<br />
© <strong>Velbrück</strong> <strong>Wissenschaft</strong> 2007<br />
DIE ENTDECKUNGEN DER NATURWISSENSCHAFTEN und ihre technische Umsetzung<br />
haben in der Moderne die Welt grundlegend verändert. Was verleiht den Errungenschaften<br />
der Naturwissenschaften dieses transformative Potential, was erklärt ihren Erfolg als<br />
Instrument der Aneignung von Wirklichkeit? Für die Aristoteles folgende philosophische<br />
Tradition ist es ihre Wahrheits-Fähigkeit: die Fähigkeit zur wahrheitsgemäßen Erkenntnis und<br />
Darstellung von Wirklichkeit im Sinne der ursprünglichen Bedeutung von »Theorie«.<br />
SEIT FRANCIS BACON setzt sich allmählich die Ansicht durch, dass die<br />
wirklichkeitserschließende Kraft der neuen <strong>Wissenschaft</strong>en nicht – jedenfalls nicht allein – in<br />
der Dimension der Darstellung des Wirklichen liegt, sondern sich aus ihrer Fähigkeit ergibt,<br />
die Gesetzlichkeiten der Natur experimentell herzustellen und zu erproben. Das alte Ideal der<br />
adäquaten Repräsentation, an dem sich auch noch die epistemologischen Prinzipien der<br />
<strong>Wissenschaft</strong>slogik des 20. Jahrhunderts orientierten, wurde im Zuge der historischen Wende<br />
auch in der <strong>Wissenschaft</strong>stheorie als hinreichendes Kriterium wissenschaftlicher Erkenntnis<br />
problematisch.<br />
WAS SOLLTE AN SEINE STELLE TRETEN? Was ist <strong>Wissenschaft</strong>, wenn sie nicht<br />
Wahrheitssuche, ein Spiegel der Natur (Richard Rorty) ist? Sie ist, so die These des<br />
vorliegenden Essays zur Kulturgeschichte der Naturwissenschaften, der konkrete Prozess der<br />
Aneignung von Natur, mehr noch der Auseinandersetzung mit Natur als dem<br />
Gesamtzusammenhang des Lebendigen.<br />
THOMAS S. KUHN sprach von wissenschaftlichen Revolutionen als kulturellen Vorgängen.<br />
Besser als die politische Metapher der Revolution eignet sich Wittgesteins Begriff der<br />
Lebensform für eine adäquate Beschreibung des Zusammenhangs kultureller Prozesse, die<br />
<strong>List</strong>, <strong>Vom</strong> <strong>Darstellen</strong> <strong>zum</strong> <strong>Herstellen</strong> © <strong>Velbrück</strong> <strong>Wissenschaft</strong> 2007
<strong>Wissenschaft</strong> als Handlungszusammenhang verstehbar zu machen. Der Begriff der<br />
Lebensform bedarf dazu freilich einer kulturtheoretischen Systematisierung, um <strong>Wissenschaft</strong><br />
als Lebensform angemessen zu charakterisieren. Unter dieser Voraussetzung ermöglicht er,<br />
eine Reihe verschiedener, miteinander auf vielfache Weise verknüpfter Dimensionen von<br />
<strong>Wissenschaft</strong> als Lebensform zu benennen. <strong>Wissenschaft</strong> als Lebensform lässt sich dergestalt<br />
charakterisieren hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Rahmenbedingungen, hinsichtlich der<br />
sie jeweils prägenden Selbstbilder und Selbstverhältnisse, weiters als eine spezifische Form<br />
der symbolischen Repräsentation und schließlich als eine Form der konkreten technischpraktischen<br />
Aneignung von Wirklichkeit.<br />
PERSISTENZ UND WANDEL DIESER LEBENSFÖRMIGEN CHARAKTERISTIKA von<br />
<strong>Wissenschaft</strong> lassen sich kulturhistorisch illustrieren und werden in der vorliegenden Studie<br />
exemplarisch an den für die Genese der modernen Naturwissenschaften entscheidenden<br />
Perioden nachgezeichnet. Es zeigt sich, wie sich auf dem Hintergrund mentalitätshistorischer<br />
und sozioökonomischer Gegebenheiten schon in der Zeit der Entstehung der neuzeitlichen<br />
<strong>Wissenschaft</strong>en in der Renaissance die Orientierung wissenschaftlicher Praktiken von den<br />
Idealen der Darstellung von Wirklichkeit hin zu den Praktiken des <strong>Herstellen</strong>s, der<br />
experimentellen Kontrolle und der technischen Rekonstruktion verschob. Dieser Prozess der<br />
Transformation der Wissensproduktion vollzog sich im Kontext der Durchsetzung der<br />
kapitalistischen Wirtschaftsform und in der fortschreitenden Industrialisierung, die die<br />
zunehmende Verwissenschaftlichung der Produktion bedeutete.<br />
DAS ERKENNTNISMODELL DER KOGNITIVEN ANEIGNUNG durch technische<br />
Herstellung erreicht seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert und führt im Übergang <strong>zum</strong> 21.<br />
Jahrhundert mit der Entwicklung der digitalen Technologien und der Biotechnologien zur<br />
Entstehung einer neuen Technokultur, die <strong>zum</strong> global bestimmenden Moment der<br />
Spätmoderne geworden ist.<br />
ZUGLEICH TRETEN DIE LEBENSFÖRMIGEN MOMENTE DEUTLICH HERVOR, die<br />
diese neuen Wissensformen begleiten. Sie betreffen philosophisch gesprochen die Fragen der<br />
Erkennbarkeit von Wirklichkeit und Fragen ihres ontologischen Status: Erkennen wie<br />
Wirklichkeit erscheinen zunehmend als Formen des <strong>Herstellen</strong>s und des Hergestellten. Dort,<br />
<strong>List</strong>, <strong>Vom</strong> <strong>Darstellen</strong> <strong>zum</strong> <strong>Herstellen</strong> © <strong>Velbrück</strong> <strong>Wissenschaft</strong> 2007
wo Natur, einschließlich des menschlichen Körpers, als Hergestellten aufgefasst wird, stellt<br />
sich schließlich die Frage nach dem Ort des erkennenden Subjekts selbst, der zunehmend<br />
prekär erscheint. Und es stellt sich die Frage nach den moralischen Grenzen, innerhalb deren<br />
Natur, die lebendige Natur <strong>zum</strong>al, <strong>zum</strong> Objekt der Herstellung gemacht werden kann.<br />
<strong>List</strong>, <strong>Vom</strong> <strong>Darstellen</strong> <strong>zum</strong> <strong>Herstellen</strong> © <strong>Velbrück</strong> <strong>Wissenschaft</strong> 2007