Die Lehren aus dem Kosovo-Krieg: "Eine knappe Sache"
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Lothar Rühl<br />
<strong>Die</strong> <strong>Lehren</strong> <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> <strong>Kosovo</strong>-<strong>Krieg</strong>: "<strong>Eine</strong> <strong>knappe</strong> Sache"<br />
<strong>Die</strong> <strong>Lehren</strong> der NATO-<strong>Krieg</strong>sführung gegen das serbische Jugoslawien sind seit <strong>dem</strong> Ende<br />
der bewaffneten Feindseligkeiten im Juni hinreichend deutlich geworden, obwohl im<br />
einzelnen noch vieles zu erhellen bleibt, vor allem die Auswahl der Ziele für die Luftangriffe<br />
und die Aufklärung, die zu dieser Auswahl beitrug.<br />
Für die internationale Sicherheitspolitik mit militärischen Mitteln, wie für die<br />
Kriseninterventionspolitik der atlantischen Allianz steht im Zentrum der vorläufigen Bilanz<br />
dieser 78 Tage im Frühjahr 1999 die Frage nach der Zweckmäßigkeit der gewählten operativen<br />
Strategie und also nach <strong>dem</strong> politischen Nutzen der militärischen Gewaltanwendung<br />
gegen einen fremden Staat in einem inneren Konflikt.<br />
Unabhängig davon, ob ein solcher Fall wie der jugoslawische in Europa sich wiederholen<br />
wird, liegt in der Antwort auf diese Frage das Kriterium der Kosten-Nutzen-Kalkulation einer<br />
auf Waffengewalt gestützten Sicherheits- und Ordnungspolitik, damit auch der instrumentalen<br />
Nützlichkeit der alliierten Streitkräfte in Europa, in deren unmittelbarer Reichweite von<br />
Ungarn, Italien und Griechenland <strong>aus</strong>, Serbien mit <strong>dem</strong> <strong>Kosovo</strong> liegt. Verbunden damit ist die<br />
weitergreifende Frage nach der politischen Bedeutung der NATO als „Stabilitätsanker“ und<br />
„Fundament der Sicherheit“ in Europa nach <strong>dem</strong> Ende der Ost-West-Konfrontation. <strong>Die</strong><br />
Antworten auf diese Fragen werden dann auch die 1992 vom amerikanischen Senator Lugar<br />
provozierend zugespitzte Alternative für die NATO „out of area or out of business“ also etwa<br />
„entweder Aktionen außerhalb des Bündnisgebietes oder Geschäftsschließung“ abdecken.<br />
Nach der Intervention in den Bosnischen <strong>Krieg</strong> im Spätsommer 1995 mit <strong>dem</strong> Erfolg,<br />
einen allgemeinen Waffenstillstand, Verhandlungsbereitschaft auf allen Seiten und schließlich<br />
über die „internationale Kontaktgruppe“ mit konzentriertem Druck auf die drei Bürgerkriegsparteien<br />
(die kroatische und die serbische, vertreten durch die Präsidenten der beiden Staaten,<br />
Milosevic und Tudjman, die sozusagen als externe Treuhänder für ihre Volksgruppen in<br />
Bosnien-Herzegowina handelten) einen Friedensschluß erzwungen zu haben, ist der NATO-<br />
Eingriff in den innerjugoslawischen <strong>Kosovo</strong>-Konflikt die zweite und radikalere bewaffnete<br />
Intervention.<br />
Deren Erfolg wurde am 2./3. Juni in Belgrad, wiederum durch eine Vermittlung, gestützt<br />
auf Gewaltanwendung, die den <strong>Krieg</strong> beendete und einen de facto von der NATO und von<br />
Moskau oktroyierten Kompromiß über eine interne Autonomie des <strong>Kosovo</strong> unter internationaler<br />
Übergangsverwaltung mit einer Sicherheitstruppe in NATO-Regie formalisierte,<br />
erreicht.<br />
<strong>Die</strong> Frage stellt sich: Wie wurde dieser Erfolg militärisch erzielt, und welche anderen<br />
Faktoren, politische und wirtschaftliche, spielten dabei mit? Strategisch formuliert: Aus<br />
welchen Gründen gab Milosevic in Belgrad seine Verweigerungshaltung nach neun Wochen –<br />
eine Woche früher als die Lufteinsatzplaner für ihre „worst case assumption“ vor Beginn der<br />
Luftangriffe kalkuliert hatten – auf und lenkte für einen Kompromiß auf der Basis des von<br />
ihm zurückgewiesenen „Rambouillet-Abkommen“ (das kein fest abgeschlossenes war) ein?<br />
<strong>Eine</strong> erste Antwort wird sich von der Überlegung ableiten, daß der Machtpolitiker in<br />
Belgrad seine persönliche Machtstellung in unmittelbare Gefahr gekommen sah, sich darum<br />
mit Hilfe der russisch-finnischen Vermittlung und des russischen Gewichtes auf der Waage,<br />
vor allem in der amerikanischen Interessenslage von Washington <strong>aus</strong> für die Weiterentwicklung<br />
der Beziehungen zu Rußland wahrgenommen, <strong>aus</strong> der Affäre zu ziehen suchte und in der<br />
Hoffnung nachgab, er würde später den Kompromiß zu seinen Gunsten nachbessern können,
wenn der massive militärische Druck erst einmal von Belgrad gewichen wäre. Der<br />
amerikanische und alliierte Oberkommandierende in Europa, General Wesley Clark, der den<br />
Oberbefehl über das Unternehmen „Allied Force“ gegen Serbien führte, hat sich diese<br />
Erklärung mit <strong>dem</strong> Urteil zu eigen gemacht: „Es war seine letzte Option, um sein Regime zu<br />
retten“. 1 Im übrigen sprach General Clark von „einer Vielzahl von Faktoren“, von denen<br />
„kein einzelner“ dieses Ergebnis bewirkt hätte.<br />
<strong>Die</strong>se allgemeine Deutung der Motive Milosevic’s und des Zusammenwirkens objektiver<br />
Zwänge oder Notwendigkeiten in dessen Entscheidung für eine späte Revision seiner eigenen<br />
<strong>Kosovo</strong>-Politik kann auf der Erfahrung mit <strong>dem</strong> serbischen Staatsführer seit <strong>dem</strong> Beginn des<br />
jugoslawischen Zerfallskonfliktes in insgesamt vier, von Belgrad provozierten und mit<br />
Gewaltanwendung begonnenen <strong>Krieg</strong>e seit 1991, gründen: In je<strong>dem</strong> einzelnen Fall gab<br />
Milosevic schließlich geschlagen nach, nach<strong>dem</strong> sein jeweiliger Versuch, die serbische<br />
Vorherrschaft und den Belgrader Zentralismus gegen regionale und nationale Widerstände in<br />
den Teilrepubliken Jugoslawiens durchzusetzen, gescheitert war – zuerst in Slowenien nach<br />
einer Woche Kämpfen, in denen die jugoslawische Bundesarmee JVA empfindliche Rückschläge<br />
erlitt und ohne eine massive Truppenkonzentration mit Verstärkungen <strong>aus</strong> Serbien<br />
und Kroation keine Erfolgschance gegen die für ihre Unabhängigkeit kämpfenden Slowenen<br />
hatte; danach in Kroatien, wo die JVA und die serbischen Milizen nach anfänglichen Erfolgen<br />
in Ostslawonien und in der dalmatischen Kraijna vier Jahre lang Stellungskrieg gegen die<br />
immer stärker werdenden Kroaten führen mußten, nur um sich in den eroberten und<br />
„gesäuberten“ Grenzgebieten zu behaupten, während Kroatien längst unabhängig geworden<br />
war wie Slowenien; dann ab 1992 in Bosnien-Hercegovina in <strong>dem</strong> mörderischen Sezessionskrieg<br />
mit der Massenvertreibung muslimischer Bosniaken und den blutigen Massakern um<br />
Szrebreniza und Tuzla bis zu den großen Gegenoffensiven der kroatischen und der bosnischen<br />
Regierungsarmee im Nordwesten Bosniens im Sommer 1995 und bis zur militärischen<br />
Intervention der NATO mit der „Alliierten Schnellen Eingreiftruppe“ bei Sarajevo und den<br />
NATO-Luftangriffen während elf Tagen auf serbische Ziele, die in der faktischen, allerdings<br />
nicht bedingungslosen, politischen Kapitulation der bosnischen Serben unter <strong>dem</strong> Druck <strong>aus</strong><br />
Belgrad endete: Milosevic suchte die Schäden für sich, sein Regime und Serbien zu<br />
begrenzen und trat deshalb für einen Verhandlungsfrieden ein. Seine eigene Vermittler- und<br />
Treuhänder-Rolle für die bosnischen Serben und der dabei mitvollzogene Friedensschluß<br />
zwischen Serbien und Kroatien kaschierten die Niederlage, die Milosevic mit seiner "großserbischen"<br />
Eroberungspolitik und das serbische Rumpf-Jugoslawien in Bosnien erlitten<br />
hatten.<br />
<strong>Die</strong>ses Muster von 1995 wiederholte sich im Übergang vom Frühjahr zum Sommer 1999<br />
in und für <strong>Kosovo</strong> nach den schweren Schlägen, die vor allem auf die industrielle Infrastruktur,<br />
die Energieversorgung und die ortsfesten militärischen Großziele in Serbien gefallen<br />
waren.<br />
Man kann den Schluß dar<strong>aus</strong> ziehen, daß Milosevic in allen Fällen solange Gewaltanwendung<br />
mit allen Mitteln versuchte, um seine Ziele zu erreichen, solange die Folgen ihn<br />
nicht in Gefahr brachten und solange er nicht gescheitert war. <strong>Die</strong> <strong>Kosovo</strong>-Krise ähnelte in<br />
der von Belgrad schon Anfang 1998 angestoßenen Eskalation nach dreijähriger Verschärfung<br />
der Repression im <strong>Kosovo</strong> gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit, die seit der Aufhebung<br />
der Autonomie zehn Jahre früher durch Milosevic systematisch diskriminiert und<br />
unterdrückt worden war, den früheren <strong>Krieg</strong>s-Spiralen, insbesondere der in Bosnien ab 1992.<br />
Auf den Vergleich mit Bosnien gründeten auch die NATO-Planer in Brüssel 1998-99 ihre<br />
Hypothesen über Milosevic’s Reaktionen auf Drohungen mit Gewalt und Anwendung von<br />
1<br />
Vgl. International Herald Tribune vom 21. Juli 1999, Conflict of Interest Clouded <strong>Kosovo</strong>, S. 1 und 4.
Gewalt durch die Allianz. Zwar verschätzten sie sich mit ihrem optimistischen Urteil, er<br />
würde nach etwa acht bis zehn Tagen schwerer Luftangriffe auf Serbien und Montenegro<br />
nachgeben, um Schaden zu begrenzen und eine Verhandlungs-Chance zu wahren. Doch hatte<br />
General Clark vorsichtshalber auch einen längeren Zermürbungskrieg durch eine<br />
Luftoffensive von bis etwa zehn Wochen vorbereiten lassen und von Anfang an auch sowohl<br />
eine Besetzung des <strong>Kosovo</strong> gegen serbischen bewaffneten Widerstand mit 60 bis 70.000<br />
Soldaten der NATO als auch einen Feldzug in Serbien bis nach Belgrad mit einer alliierten<br />
Armee von 200 bis 300.000 Soldaten und einer massiven Überlegenheit an schweren Waffen<br />
bei massiver Luft-Boden-Unterstützung dieser Truppen und einer konsequenten strategischen<br />
Luftkriegsführung gegen Jugoslawien in Aussicht genommen. Beide Optionen für<br />
Bodenoperationen in größerem Umfang und von längerer Dauer konnten jedoch nicht in<br />
Operationsplänen vor Beginn der Luftkriegführung am 24. März 1999 <strong>aus</strong>gearbeitet werden,<br />
weil die alliierten Regierungen einen Landkrieg auf <strong>dem</strong> Balkan ablehnten. 2<br />
Erst im April gaben Präsident Clinton und der NATO-Generalsekretär Solana während der<br />
Washingtoner Tagung des Nordatlantikrates auf Drängen General Clarks wenigstens die<br />
Planung für Eventualfälle frei. Es dauerte danach noch fünf Wochen, bis die Alliierten die<br />
Forderung ihres Oberkommandierenden in Europa nach Bereitstellung von 45 bis 50.000<br />
Soldaten in Mazedonien und Albanien, wo bis dahin nicht mehr als etwa 18.000 standen, zum<br />
Zwecke der Sicherung beider Nachbarländer des <strong>Kosovo</strong> und für eine möglichst rasche<br />
Rückführung der Vertriebenen und Flüchtlinge in ihre Heimat unter <strong>dem</strong> Schutz der Allianz<br />
erfüllten. Zu jener Zeit waren schon sieben Wochen seit Beginn der NATO-Luftangriffe<br />
vergangen.<br />
Für eine zielgerichtete operative Strategie hatten die NATO-Partner durch den apriorischen<br />
und öffentlich erklärten Verzicht auf Bodenoperationen im <strong>Krieg</strong>, wie Besetzung des <strong>Kosovo</strong>,<br />
auch gegen bewaffneten Widerstand der Serben schon fast zwei Monate Zeit verloren und<br />
damit die Abschreckungswirkung ihrer Drohung mit Waffengewalt auf Belgrad<br />
abgeschwächt: Milosevic und die jugoslawische Armee mußten keinen Landkrieg zur<br />
Ergänzung des Luftkrieges im <strong>Kosovo</strong> fürchten. <strong>Die</strong> Truppen konnten sich in aufgelockerter<br />
Dislozierung ohne größere Ziele bietende Konzentrationen <strong>dem</strong> Impakt der Luftangriffe<br />
weithin entziehen und doch die Albaner in einem Kleinkrieg bekämpfen, soweit die UCK<br />
Widerstand leistete oder sie angriff.<br />
Solange die NATO keine militärische Alternative zum Luftkrieg vorbereitete, hatte<br />
Belgrad Zeit. Milosevic konnte annehmen, daß diese Zeit <strong>aus</strong>reichen würde, sein Ziel, die<br />
Vertreibung der Mehrheit der <strong>Kosovo</strong>-Albaner, zu erreichen und Rußland unter <strong>dem</strong> Druck<br />
der NATO-Bombar<strong>dem</strong>ents serbischer Städte zu einer politischen Parteinahme für<br />
Jugoslawien zu zwingen. Zugleich hatte die NATO-Luftkriegführung während der ersten vier<br />
Wochen nur eine punktuelle Wirkung, da die Zahl der rund 800 ortsfesten Bodenziele nicht<br />
<strong>aus</strong>reichte, um den Willen Milosevic’s zu brechen. Tatsächlich flogen die alliierten<br />
Luftstreitkräfte in den ersten 40 Tagen des Unternehmens „Allied Force“ nur etwa 10 bis 12<br />
Prozent der Zahl der 1991 im Golfkrieg im gleichen Zeitraum während „Desert Storm“<br />
<strong>aus</strong>geführten Luftangriffe gegen Irak und die irakische Armee in Kuwait. <strong>Die</strong> politischen<br />
Auflagen, vor allem zum Schutze der Zivilbevölkerung nahe den Zielen und zur Vermeidung<br />
eigener Flugzeugverluste, zwangen die alliierten Piloten häufig, auf den Abwurf ihrer Waffen<br />
zu verzichten und erfolglos zurückzukehren (wobei die Bomben zur eigenen Sicherheit in die<br />
Adria geworfen wurden). <strong>Die</strong> viel zu hohe Angriffshöhe bei 5000 Meter erlaubte zu<strong>dem</strong> keine<br />
treffsicheren Angriffe auf kleinere Ziele, geschweige denn auf bewegliche im Gelände oder<br />
getarnte in Ortschaften.<br />
2<br />
Vgl. L. Rühl, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Mai 1999, Der Nato läuft die Zeit davon, S. 11.
<strong>Die</strong> „air campaign“ des Unternehmens „Allied Force“ mit zunächst nur 400<br />
Einsatzflugzeugen, davon nur 120 Angriffsflugzeugen, konnte sich wegen der politischen<br />
Restriktionen und der Zustimmungspflichtigkeit aller <strong>aus</strong>gewählten Zielgruppen im ständigen<br />
NATO-Rat der alliierten Botschafter in Brüssel nicht voll entfalten. Mitte April hatte sie bei<br />
langsamem Ablauf und geringer Intensität in drei Wochen ihr Optimum noch bei weitem<br />
nicht erreicht, sodaß General Short mit einem Pressegespräch in die politische Offensive ging,<br />
um seinen unerfüllten Forderungen an die alliierten Regierungen öffentlichen Nachdruck zu<br />
verleihen. Er forderte die Aufhebung der politischen Restriktionen, die Absenkung der<br />
Flughöhen, die Vermehrung der Zahl der Angriffsflugzeuge (Jagdbomber und Bomber), die<br />
Benutzung des Luftraumes von Ungarn, Rumänien und Bulgarien für Luftangriffe <strong>aus</strong><br />
verschiedenen Richtungen und die Einbeziehung „politischer“ Objekte, vor allem „ziviler<br />
Führungsziele“ und auch der Rundfunk- und Fernsehsender als „politische Propagandawaffen“<br />
in die Ziele. Nach<strong>dem</strong> diese Forderungen zum Teil erfüllt waren, das Wetter<br />
aufklarte und die Luftangriffstaktik sich verbessert hatte, kam die Luftoffensive in Schwung,<br />
der Impakt auf Serbien wurde stärker. Doch welchen politischen Effekt hatte sie im<br />
Endresultat, also Ende Mai nach neun Wochen?<br />
Der Oberbefehlshaber General Clark erklärte in der zweiten Maihälfte, als er am 18./19.<br />
Mai in seiner Lagebeurteilung in Washington, auf die Stationierung einer Eingreiftruppe von<br />
45 bis 50.000 Soldaten der NATO in Mazedonien und Albanien zur schnellen Rückführung<br />
der Vertriebenen in ihre Heimat unter NATO-Schutz und zur Stärkung der, von den <strong>aus</strong><br />
Belgrad über die Grenzen gelenkten Flüchtlingswellen erschütterten inneren Stabilität dieser<br />
beiden Länder drängte, europäischen Regierungschefs (wie Bundeskanzler Schröder), daß er<br />
seinen Luftkrieg in einem dynamischen „Parallelogramm“ mit vier Eckpunkten führen müßte:<br />
kein Flugzeugverlust – Zusammenhalt der Verbündeten – Begrenzung der zivilen Verluste –<br />
gute Trefferwirkung am Boden. Zwischen diesen vier Forderungen müßten „trade-offs“<br />
gemacht, also Kompromisse geschlossen werden, die es nicht erlaubten, jede einzelne<br />
hundertprozentig zu erfüllen.<br />
Früher hatte er amerikanischen Besuchern gesagt, ihm seien „beide Arme und ein Bein auf<br />
<strong>dem</strong> Rücken gebunden“. 3 In seinem ersten umfassenden <strong>Krieg</strong>sbericht an den NATO-Rat am<br />
19. Juli hob Clark hervor, daß die gewählte Operationsführung der exklusiven Luftkriegsstrategie<br />
„insofern richtig war, als sie <strong>dem</strong> Zusammenhalt der Allianz diente“. In einem<br />
Pressegespräch wiederholte er diese Wertung und ließ erkennen, daß die alliierten<br />
Regierungen über die Strategie und Operationsführung nicht immer einig gewesen wären,<br />
sondern daß „Interessenkonflikte“ zwischen ihnen bestanden hätten. 4<br />
Immerhin hatte die <strong>Krieg</strong>slage sich im Mai allmählich zum Vorteil der NATO geändert,<br />
auch wenn Belgrad die Vertreibungsaktion nach <strong>dem</strong> Plan „Hufeisen“ nach Beginn der<br />
Luftangriffe noch einmal forciert, und in Brüssel der NATO-Sprecher Shea schon im April<br />
erklärt hatte, die Serben könnten den Rest der <strong>Kosovo</strong>-Albaner in weiteren „zehn bis zwanzig<br />
Tagen“ außer Landes jagen – zugleich das Eingeständnis, daß die NATO mit ihrer Strategie<br />
ihr erstes Ziel verfehlt hatte. Trotz dieses Rückschlages auf der Zeitachse der Strategie war<br />
nun eine eindrucksvolle Drohkulisse um Serbien aufgebaut und ein strategischer Luftkrieg in<br />
Gang gekommen, die zusammen den „traumatischen Schock“ in Belgrad bewirkten, den der<br />
alliierte Luftbefehlshaber, US-Generalleutnant Michael Short, bewirken wollte, um<br />
Milosevic´s Willen zu brechen. Als die Vermittlermission Athisaari-Tschernomyrdin am 2./3.<br />
Juni in Belgrad Milosevic die „G-8“-Position für eine politische Regelung des Konfliktes mit<br />
einer Besetzung des <strong>Kosovo</strong> durch eine internationale Sicherheitstruppe bei Rückzug aller<br />
3 Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 8./9. Mai 1999, Kritik an der NATO-Strategie im <strong>Kosovo</strong>-Konflikt.<br />
4 Vgl. International Herald Tribune vom 21. Juli 1999.
serbischen Truppen und bewaffneten Gruppen, provisorischer UNO-Verwaltung und UNO-<br />
Polizei vorlegte, sah Milosevic sich mit einer internationalen Position konfrontiert, die er<br />
weder umstürzen noch umgehen konnte. <strong>Die</strong> „Vielzahl von Faktoren“, die nach General Clark<br />
in Belgrad den Ausschlag gab, bedarf aber einer weiteren kritischen Prüfung.<br />
<strong>Die</strong> Alliierten hatten bis zum Ende nach außen hin <strong>aus</strong>schließlich auf den – spät aber noch<br />
früh genug – eingetretenen Erfolg ihrer „air campaign“ gesetzt. Sie hatten dafür den<br />
strategischen Luftkrieg mit ab Mai massiven Bombar<strong>dem</strong>ents geführt. Als Milosevic am 3.<br />
Juni in Belgrad die „G-8“-Bedingungen annahm, waren neun Wochen Luftkrieg vergangen, in<br />
denen die NATO rund 2000 feste Bodenziele mit 16.000 Waffen angegriffen hatte und<br />
insgesamt 33.000 Einsätze, davon ein gutes Drittel Luftangriffe, geflogen hatte. Es dürfte die<br />
Intensivierung der Bombar<strong>dem</strong>ents seit Ende April gewesen sein, die mit der Konzentration<br />
auf die strategischen Vorrangziele in einer breiteren Auswahl den durchschlagenden Erfolg<br />
erreichte: den politischen Willen Milosevic’s im Sinne von dessen Machterhaltungskalkül zu<br />
verändern.<br />
<strong>Die</strong> taktisch-operative Luftkriegführung der NATO zur Bekämpfung der serbischen<br />
Truppen im <strong>Kosovo</strong> <strong>aus</strong> der Luft, die gleichfalls im Zuge der Wetterbesserung über <strong>dem</strong><br />
Balkan im Mai intensiviert wurde, hat dagegen allem Anschein nach in Belgrad nur einen<br />
ergänzenden politischen Effekt gezeitigt. Als die serbischen Truppen im Juni mit 47.000<br />
Mann das <strong>Kosovo</strong> verließen, führten sie etwa 520 bis 550 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge,<br />
rund 300 Feldgeschütze und um die 400 Lkws mit Gerät mit sich. <strong>Die</strong> Straßen nach Serbien<br />
waren intakt wie die meisten Brücken.<br />
<strong>Die</strong> Verluste der JVA im <strong>Kosovo</strong> waren sehr viel geringer gewesen, als die NATO es<br />
angenommen hatte: Weniger als 600 Soldaten statt der in Brüssel zunächst geschätzten<br />
10.000. 5<br />
Nach General Clarks Mitteilung waren 110 jugoslawische Kampfpanzer im <strong>Kosovo</strong> <strong>aus</strong><br />
der Luft zerstört worden – von geschätzten 400 bei <strong>Krieg</strong>sbeginn. 6 Der ehemalige<br />
Befehlshaber im <strong>Kosovo</strong>, General Nebosja Pavkovic, Kommandeur des III. Armeekorps,<br />
resümierte die Kampfhandlungen, die asymmetrisch und disproportional zwischen einer<br />
Luftmacht und einer dieser gegenüber zumeist passiven Armee am Boden, die ihrerseits ihren<br />
<strong>Krieg</strong> gegen die UCK-Guerilla führte, abliefen, mit <strong>dem</strong> Urteil, daß seine Truppen „die<br />
NATO daran gehindert“ hätten, „ihr Ziel, die Vernichtung der jugoslawischen Armee, zu<br />
erreichen“. Ihre Entschlossenheit und Vorbereitung „auf eine NATO-Invasion am Boden“<br />
hätten „beiden Seiten einen äußerst verlustreichen Kampf erspart“, in<strong>dem</strong> sie die NATO von<br />
einem Angriff mit Landstreitkräften abgeschreckt hätten. 7 Man wird diese These und<br />
Argumentation cum grano salis bewerten, dient sie doch auch der Selbstrechtfertigung und<br />
<strong>dem</strong> weiteren politischen Argument, wonach die JVA im <strong>Kosovo</strong> die jugoslawische<br />
Souveränität und territoriale Integrität mit Erfolg verteidigt hätte. Doch entspricht General<br />
Pavkovic’s Hauptpunkt über das NATO-Ziel „Vernichtung der jugoslawischen Armee“ (im<br />
<strong>Kosovo</strong>) genau der Erklärung General Shorts drei Monate früher, General Clark habe ihm den<br />
Befehl gegeben, „mit Vorrang die jugoslawische Armee im <strong>Kosovo</strong> zu vernichten“.<br />
<strong>Die</strong>ses Ziel aber erreichte die NATO offenkundig nicht. Über die Gründe läßt sich streiten:<br />
<strong>Die</strong> bis Ende April zu hohe Flughöhe, die Sorge, Zivilbevölkerung könnte getroffen werden,<br />
der Vorrang, eigene Verluste zu vermeiden und schließlich die gelungene serbische Taktik der<br />
5<br />
Vgl. International Herald Tribune vom 22. Juli 1999 nach AFP <strong>aus</strong> Belgrad: „Yugoslav Army lost 524<br />
Soldiers, Top General says.<br />
6 Vgl. L. Rühl, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Juli 1999, „Ein halber Sieg“.<br />
7 Vgl. International Herald Tribune vom 27. Juli 1999, Yugoslav General Faults NATO....
passiven Verteidigung durch „Tarnung und Täuschung“ nach <strong>dem</strong> Beispiel der russischen<br />
„maskirvka“ wirkten zusammen, um den Effekt der taktisch-operativen Luftkriegführung der<br />
NATO zu minimieren. Immerhin griffen die alliierten Jagdbomber im Süden des <strong>Kosovo</strong> bei<br />
Luft-Boden-Unterstützung für die UCK mit Erfolg <strong>aus</strong> geringer Flughöhe in den Bergen an<br />
und fügten den Serben empfindliche Verluste an Waffen zu.<br />
<strong>Die</strong>se Erkenntnisse führen zu den politischen Entscheidungsfaktoren. Für Milosevic gab<br />
nach allen Indizien, über die man Ende Juli 1999 verfügte, neben <strong>dem</strong> strategischen Luftkrieg<br />
und der, seit Mai entstandenen Alternative eines Eingreifens der NATO mit Bodentruppen<br />
(die General Pavkovic mit seinem Armeekorps von fünf Brigaden angeblich nicht fürchtete,<br />
sondern „abschreckte“) vor allem zweierlei den Ausschlag für den Entschluß,<br />
zurückzuweichen: Erstens die offenkundig gewordene Ausweglosigkeit seiner Lage mit der<br />
nahezu vollkommenen Isolierung Serbiens und <strong>dem</strong> drohenden Abfall Montenegros nach <strong>dem</strong><br />
Scheitern des Versuchs Mazedoniens, Albanien und Montenegro durch die Flüchtlingsmassen<br />
im Inneren zu destabilisieren und die Regierung in Podgorniza zu stürzen. Zweitens die<br />
geschlossene Position der „G-8“ mit Rußland – wie widerwillig auch immer – an der Seite der<br />
NATO-Partner.<br />
Tschernomyrdins Drängen auf Annahme der als „letzter Vorschlag“ vorgelegten Friedensbedingungen,<br />
die Belgrad immer noch die Souveränität über das <strong>Kosovo</strong> zumindest als äußere<br />
Form versprachen, die Rückkehr einiger jugoslawischer Militär- und Polizei-Verbände<br />
zusagten und das <strong>Kosovo</strong> unter die UNO-Verwaltung stellten, dürfte im Sinne der<br />
Schadensbegrenzung den Ausschlag gegeben haben. Tschernomyrdins Zusage, dafür zu<br />
sorgen, daß kein internationales Protektorat auf Dauer über <strong>Kosovo</strong> errichtet und keine<br />
Sezession des <strong>Kosovo</strong> geduldet würde, außer<strong>dem</strong>, daß die „G-8“ entgegen der öffentlichen<br />
Erklärungen und Appelle westlicher Staatsmänner den Sturz des Regimes in Belgrad nicht<br />
betrieben, und daß Rußland „keine Kapitulation Belgrads“ zulassen werde, fügte zwar keine<br />
Sicherheitsgarantie, aber eine Aussicht hinzu. <strong>Die</strong>se Zusage wurde auch vom finnischen<br />
Präsidenten Athisaari für die EU indossiert. Milosevic sah eine Chance zum politischen<br />
Überleben an der Macht – mehr konnte er nach elf Wochen <strong>Krieg</strong> und den Zerstörungen in<br />
seinem Land mit den schweren Schäden für die Volkswirtschaft nicht mehr erwarten. Er hatte<br />
eine Niederlage erlitten, die NATO einen halben Sieg erbombt: Mit den Worten des Herzogs<br />
von Wellington nach der Schlacht von Waterloo war dieser Erfolg der Allianz "a near' one<br />
thing", zu deutsch etwa "eine <strong>knappe</strong> Sache".<br />
Prof. Dr. Lothar RÜHL<br />
Staatssekretär a.D., Forschungsinstitut für politische Fragen,<br />
Sozialwissenschaftliche Fakultät, Universität Köln.