03.11.2013 Aufrufe

Teil 1 - refugio Stuttgart e.V.

Teil 1 - refugio Stuttgart e.V.

Teil 1 - refugio Stuttgart e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

efugio stuttgart<br />

11<br />

Arbeitsbericht<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 1 20.07.12 08:32


Inhalt<br />

Vorwort<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

02 Vorwort<br />

Harald Kretschmer<br />

03 Grußwort<br />

Gebhard Fürst<br />

04 Traumaorientierte Therapie und Frauen<br />

Thomas Soeder<br />

08 Das Schweigen der Frauen -<br />

Folge vielschichtiger Unterdrückung im<br />

Iran<br />

Anahita Schafaie<br />

10 Die Lage der Frauen in Afghanistan<br />

Nagiba Maqsudi<br />

Jama Maqsudi<br />

14 aktuell<br />

j Mitarbeitende<br />

j Nachrufe<br />

j 10 Jahre Mitarbeit im Vorstand<br />

von <strong>refugio</strong><br />

j Bericht eines Ehrenamtlichen<br />

20 Finanzberichte<br />

Bernard Nipper<br />

22 Jahresstatistik<br />

26 <strong>refugio</strong> stuttgart e.v.<br />

in ausgewählten Zahlen<br />

Elisabeth Fries<br />

27 EcclesiJaZZ und multiple joys<br />

28 Dank<br />

Helmut Scherbaum<br />

30 Fortbildungen, Seminare,<br />

Veranstaltungen<br />

Zwei große Schritte in eine gute Richtung<br />

erlebten wir zu Beginn des Jahres<br />

2012 für die von <strong>refugio</strong> stuttgart<br />

betreuten Menschen:<br />

Die Landesregierung von Baden-<br />

Württemberg lockerte die Residenzpflicht<br />

für Asylbewerber. Für einen<br />

Menschen, der brutale Verfolgung<br />

erlebt hat, ist es ein großer Wert, etwas<br />

mehr Freiheit zu erleben, also<br />

z. B. ohne Nachfrage bei Behörden<br />

Verwandte oder Landsleute in Nachbarkreisen<br />

besuchen zu können. Natürlich<br />

bleibt trotzdem noch vieles zu<br />

verbessern. So setzt sich die Landesregierung<br />

im Bundesrat und in der<br />

Innenministerkonferenz für eine neue<br />

gesetzliche, an humanitären Kriterien<br />

ausgerichtete Bleiberechtsregelung<br />

ein. Humanitäre Grundsätze, so sagt<br />

es Landesbischof Dr. July, müssen vor<br />

wirtschaftlichen Fragen Vorrang bekommen.<br />

Dies gilt insbesondere auch<br />

für Kinder und für traumatisierte, alte<br />

und kranke Menschen, die keine ausreichenden<br />

eigenen Einkünfte erzielen<br />

können. – Am Rande sei vermerkt,<br />

dass die Lockerung der Residenzpflicht<br />

in manchen Kreisen, selbst bei<br />

Integrationspolitischen Sprechern politischer<br />

Parteien, auf Kritik stößt und<br />

Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung<br />

hervorruft.<br />

Die Landesregierung von Baden-<br />

Württemberg hat in Übereinstimmung<br />

mit allen Parteien des Landtags, jedem<br />

der fünf Psychosozialen Zentren<br />

im Land für 2012 eine Unterstützung<br />

von 60.000 Euro zugesagt. Dies ist für<br />

unsere finanziell immer wieder gefährdete<br />

Arbeit ein nicht unerheblicher<br />

Betrag. Darüber hinaus sehen wir darin<br />

aber auch eine Anerkennung und<br />

ideelle Unterstützung unserer bereits<br />

jahrelangen Arbeit.<br />

<strong>refugio</strong> stuttgart e.v. ist keine kirchliche<br />

Organisation. Im Eintreten für<br />

gefolterte Flüchtlinge, für seelisch und<br />

körperlich schwer verletzte („traumatisierte“)<br />

Menschen fühlen wir uns aber<br />

nahe an Aufforderungen Jesu – der ja<br />

selbst unter Folter starb – an die, die<br />

zu seinen Lebzeiten mit ihm seinen<br />

Weg gingen.<br />

Die im Haushaltsplan der Diözese Rottenburg/<strong>Stuttgart</strong><br />

für die Jahre 2011<br />

und 2012 festgeschriebene Förderung<br />

für die Arbeit von <strong>refugio</strong> stuttgart ist<br />

ein Zeichen dafür, dass dies in kirchlichen<br />

Kreisen genauso gesehen wird.<br />

Auch das Geleitwort von Herrn Bischof<br />

Dr. Fürst, für das wir sehr dankbar<br />

sind, zeigt, dass ihm und seiner<br />

Kirche die Arbeit der Psychosozialen<br />

Zentren ein besonderes Anliegen ist.<br />

Von Herzen danken wir allen, die sich<br />

für die so notwendige Arbeit unseres<br />

Vereins zeitlich oder finanziell engagieren.<br />

Dr. med. Harald Kretschmer<br />

auch der Jahresbericht 2011 ist wieder<br />

spannend zu lesen. Mit Bewunderung<br />

für das überzeugende Engagement der<br />

vielen Ehren- und Hauptamtlichen von<br />

<strong>refugio</strong> stuttgart grüße ich Sie alle recht<br />

herzlich.<br />

Ich freue mich mit Ihnen, dass es Ihnen<br />

dank Ihres Engagements in der Beratung<br />

und Unterstützung von Flüchtlingen,<br />

dank eines großen Einsatzes von Ehrenamtlichen,<br />

einem Netzwerk von Unterstützern<br />

und Spendern überzeugend gelungen<br />

ist, auch im Jahr 2011 Menschen<br />

Rat und Beistand zu geben, die nach einer<br />

oft langen Odyssee dringend darauf<br />

angewiesen sind.<br />

Für die Kirche gilt die grundlegende Aussage<br />

des Apostel Paulus: „Es gibt nicht<br />

mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven<br />

und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr<br />

seid alle einer in Christus Jesus.“ Die Kirche<br />

ist ein Volk aus allen Völkern – ganz<br />

im Sinn auch des Epheserbriefs, der in<br />

der christlichen Gemeinde das Verbindende<br />

der Kinder Gottes vor allem sozial<br />

und politisch Trennenden hervorhebt:<br />

„Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde<br />

ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger<br />

der Heiligen und Hausgenossen Gottes.<br />

Diese Aussagen sind für die einzelnen<br />

Christen und die christlichen Gemeinden<br />

gleichzeitig Maßstab und Herausforderung<br />

für ein evangeliumsgemäßes<br />

Leben. „Deshalb ist die Situation der<br />

Ausländer ohne legalen Aufenthaltsstatus,<br />

dieser vom Recht ausgeschlossenen<br />

Personen, für die Kirche eine große Herausforderung,<br />

der sie sich stellen muss.<br />

Ihre Identität, ihr Auftrag und ihre Glaubwürdigkeit<br />

stehen hier auf dem Spiel“ 1<br />

Es ist auch eine gute Nachricht, dass zu<br />

Beginn des neuen Jahres eine politische<br />

Entscheidung die Arbeit von <strong>refugio</strong> ein<br />

wenig erleichtert hat. Ich spreche von<br />

der Lockerung der Residenzpflicht für<br />

Asylbewerber, die die Landesregierung<br />

vorgenommen hat. Diese Entscheidung<br />

hat direkt Einfluss auf die Arbeit mit von<br />

<strong>refugio</strong> stuttgart betreuten Menschen.<br />

Denn für einen Menschen, der existentielle<br />

Verfolgung erlebt hat, ist es ein<br />

großer Wert, etwas mehr Freiheit leben<br />

zu dürfen, also ganz konkret z. B. ohne<br />

Nachfrage bei Behörden Verwandte oder<br />

Landsleute in Nachbarkreisen besuchen<br />

zu können. Dass darüber hinaus freilich<br />

noch vieles mehr zu verbessern ist, dafür<br />

steht <strong>refugio</strong> stuttgart ein. Und auch eine<br />

weitere Maßnahme der Landesregierung<br />

ist zu begrüßen: Im Bundesrat und in der<br />

Innenministerkonferenz strebt sie eine<br />

neue gesetzliche, an humanitären Kriterien<br />

ausgerichtete Bleiberechtsregelung<br />

an. Mit meinem Bruder im Bischofsamt,<br />

Landesbischof Dr. h. c. July trete ich dafür<br />

ein, dass humanitäre Grundsätze vor<br />

wirtschaftlichen Fragen stehen. Dies gilt<br />

vor allem für Kinder und für traumatisierte,<br />

alte und kranke Menschen, die keine<br />

ausreichenden eigenen Einkünfte erzielen<br />

können.<br />

Ich gratuliere Ihnen, dass es erstmalig gelungen<br />

ist, ab 2012 eine Unterstützung<br />

des Landes für die fünf Psychosozialen<br />

Zentren im Land zu erhalten. Ich verste-<br />

1 ...und der Fremdling, der in deinen Toren ist.“<br />

Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen<br />

durch Migration und Flucht (1997)<br />

he dies auch als einen Beleg für Ihre über<br />

Jahre überzeugende fachliche Arbeit. Sie<br />

stehen mit dem, was sie tun, auf der Seite<br />

Jesu. Und es ist kein Zufall, dass Gottes<br />

Sohn selbst unter der Folter starb. Damit<br />

hat er sich zutiefst solidarisiert mit allen<br />

leidenden Menschen. Eine Kirche, die<br />

diese Solidarisierung mit den auf welche<br />

Weise auch immer Gefolterten vergessen<br />

würde, würde ihren zentralen Auftrag<br />

leugnen: „Freude und Hoffnung, Trauer<br />

und Angst der Menschen von heute, besonders<br />

der Armen und Bedrängten aller<br />

Art, sind auch immer Freude und Hoffnung,<br />

Trauer und Angst der Jüngerinnen<br />

und Jünger Christi“, so erinnert uns das<br />

Zweite Vatikanische Konzil (in Gaudium et<br />

spes). Für die konkrete, oft nicht einfache<br />

Arbeit der Psychosozialen Zentren bin ich<br />

als Bischof daher von Herzen dankbar!<br />

Zu diesen ganz konkreten Orten der<br />

Angst, aber auch der Hoffnung führt<br />

uns der vorliegende Arbeitsbericht: zu<br />

traumatisierten Frauen und einer angebotenen<br />

Hilfe durch eine entsprechende<br />

Therapieform, und zu den Menschen und<br />

ihrer Situation im Iran und in Afghanistan.<br />

Mögen Ihnen allen die vorliegenden Seiten<br />

Motivation sein, an der wichtigen<br />

Arbeit von <strong>refugio</strong> stuttgart auf Ihre je eigene<br />

Weise Anteil zu nehmen oder auch<br />

mitzuwirken. Dafür danke ich Ihnen herzlich<br />

und wünsche Ihnen Gottes reichen<br />

Segen.<br />

Dr. Gebhard Fürst<br />

Bischof<br />

<br />

02<br />

03<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 2-3 20.07.12 08:32


Traumaorientierte Therapie und Frauen<br />

Einleitung r<br />

anderer wichtiger Befund: Die Men-<br />

Anteil von Frauen als von Männern in<br />

höher liegen könnte, was allerdings<br />

selbstverständlich nicht ausschließt,<br />

„Männergruppe“.<br />

schen, die sich in der Betreuung und<br />

der Folge traumatischer Lebensereig-<br />

nur im Vermutungsraum bleibt, da das<br />

dass Frauen Täterinnen sein können<br />

Aber auch wenn man vom „Verursa-<br />

Zum neuen <strong>refugio</strong>-Projekt „Pharos<br />

Begleitung schwer traumatisierter<br />

nisse den Wunsch nach Hilfe äußert,<br />

Vermeidungsverhalten bei Männern<br />

und Männer Opfer, und das Trauma-<br />

cherprinzip“ absieht, steht in der hi-<br />

– Leuchtturmprojekt für traumatisier-<br />

Menschen engagieren, sind in der<br />

das Verhältnis beträgt etwa 6:4. Dies<br />

in der Regel ausgeprägter ist. Dies<br />

folgestörungen bei Tätern wie bei<br />

storischen Betrachtung eine sowohl<br />

te Flüchtlinge mit Schwerpunkt auf<br />

Mehrzahl Frauen; der Anteil liegt in<br />

bedeutet jedoch nicht, dass es ins-<br />

hat auch zur Folge, dass psychosoma-<br />

Opfern vorkommen). Die Täterseite<br />

sozial- als auch krankheitsbedingte<br />

Frauen und Mädchen“ liegt es nahe,<br />

den mir bekannten Bereichen meist<br />

gesamt mehr schwer traumatisierte<br />

tische Störungen bzw. Erkrankungen<br />

taucht, was wenig überrascht, relativ<br />

Traumatisierung von Frauen (z. B. Ma-<br />

den für sie spezifischen Umständen<br />

über 80 Prozent (dieses Verhältnis gilt<br />

Frauen gibt; in entsprechenden Un-<br />

bei Männern häufiger als somatogen,<br />

selten im Zusammenhang mit einer<br />

ssenvergewaltigungen,Trümmerfrau<br />

hinsichtlich Krankheitsentstehung und<br />

selbstverständlich nur für die prak-<br />

tersuchungen sind die Anteile ziemlich<br />

d.h., als körperlich verursacht einge-<br />

Behandlungsindikation auf, obwohl<br />

en, Geburtskomplikationen usw.) in<br />

damit auch Krankheitsbewältigung<br />

tische Tätigkeit; hinsichtlich Publikati-<br />

gleich. Insofern stellt sich die Frage,<br />

schätzt werden, und bei Frauen eher<br />

dies mit großer Sicherheit oft sehr<br />

einem gewissen Kontrast zur Trauma-<br />

nach zu gehen. Inhaltlich stellt dies<br />

onen ist es eher ausgeglichen, wenn<br />

inwieweit die Traumaverarbeitung bei<br />

als psychogen, seelisch verursacht.<br />

erforderlich wäre; allein, hier stehen<br />

tisierung der Männer im Krieg, in der<br />

teilweise eine sinngemäße Fortset-<br />

nicht zu Gunsten der Männer verscho-<br />

Männern und Frauen unterschiedlich<br />

entweder Schuldgefühle und Selbst-<br />

rivalisierenden<br />

Auseinandersetzung<br />

zung des letzten Projektes dar, das<br />

ben).<br />

verläuft und daher auch einen unter-<br />

Unterschiedliche Schwerpunkte trau-<br />

hass oder auch fortdauernde narziss-<br />

und den daraus enstandenen Folgen<br />

sich insbesondere mit Kindern und Ju-<br />

Dabei wird allen dargestellten Beo-<br />

schiedlichen Umgang sinnvoll erschei-<br />

matischer Erfahrung<br />

tische Rechtfertigungen im Vorder-<br />

im Sinne von Verstümmelung, Sklaven-<br />

gendlichen beschäftigte. Wieder geht<br />

bachtungen die Tatsache zugrunde<br />

nen lässt.<br />

grund. Auch damit verstärkt sich das<br />

haltung oder Kriegsgefangenschaft<br />

es um eine Differenzierung, welche<br />

gelegt, dass sie allenfalls teilweise auf<br />

Ein Blick auf die Psychotherapie-For-<br />

Die Zugehörigkeit entweder zu den<br />

Bild, dass die sich eher in der Rolle der<br />

(etwaige tödliche Folgen bleiben hier<br />

Form der Unterstützung oder auch<br />

dem biologischen Geschlecht, über-<br />

schung im Allgemeinen zeigt, dass<br />

Frauen oder zu den Männern ist eine<br />

Geschädigten erlebenden Menschen,<br />

natürlich unberücksichtigt).<br />

Behandlung für traumatisierte Men-<br />

wiegend aber auf der soziokulturellen<br />

es, was die Geschlechterdifferenz<br />

der wesentlichsten Bestimmungsfak-<br />

und dies sind dann eben überwiegend<br />

Bei Frauen scheint die bewusste Ver-<br />

schen mit unterschiedlichen Lebens-<br />

Prägung („gender“) beruhen.<br />

angeht, noch verhältnismäßig wenig<br />

toren unserer seelischen, sozialen und<br />

Frauen, häufiger nach Behandlung su-<br />

lusterfahrung mehr im Zentrum zu<br />

voraussetzungen angemessen ist.<br />

verlässliche Orientierung gibt. Allge-<br />

körperlichen Existenz. Dies gilt sowohl<br />

chen als diejenigen, bei denen aktive<br />

stehen als dies für Männer in der Re-<br />

Die Fragestellung erweist sich jedoch<br />

Gibt es eine geschlechtsspezifische<br />

mein wird beobachtet, dass Frauen<br />

im Bereich eines zufriedenstellend<br />

Schuldvorstellungen<br />

vorherrschen;<br />

gel wahrnehmbar ist. Dabei fällt auf,<br />

als sehr viel komplexer, als dies hin-<br />

Traumaverarbeitung?<br />

ihre Krankheitserscheinungen anders<br />

gelebten Lebens, wie selbstverständ-<br />

letztere weichen auch dann einer Be-<br />

dass der Verlust wichtiger Bezugsper-<br />

sichtlich der Problematik der Bedin-<br />

wahrnehmen als Männer und dazu<br />

lich auch im Rahmen eines Lebens,<br />

handlung eher aus, wenn sie selbst in<br />

sonen (Eltern, Ehemann, Kinder) von<br />

gungen Jugendlicher auf der Hand<br />

Wenn man die Bewältigungsformen<br />

tendieren, sie deutlicher zu formulie-<br />

das von schweren Verletzungen und<br />

hohem Maße geschädigt sind.<br />

Frauen häufiger depressiv verarbeitet<br />

liegt; hier gibt es im Grunde auch<br />

traumatisierter Frauen betrachtet,<br />

ren, und auch häufiger medizinische<br />

Bedrohungen gekennzeichnet ist. Es<br />

Insgesamt erscheint es jedoch nicht,<br />

wird, während Männer solche Ereig-<br />

rechtliche Vorgaben, die für den Um-<br />

kann dies natürlich nur sinnvoll sein auf<br />

bzw. therapeutische Hilfe in Anspruch<br />

entspricht der historischen Erfahrung,<br />

dass es eine zuverlässige Spezifität<br />

nisse häufiger als eine Kränkung ihres<br />

gang mit Kindern und Jugendlichen ei-<br />

dem Hintergrund der Abgrenzung von<br />

nehmen. Das, was damit für die Psy-<br />

dass die Verletzungen, die Frauen zu-<br />

im Sinne einer „männlichen“ oder<br />

Selbstwertgefühls verarbeiten.<br />

gentlich klar sind, auch wenn sie natür-<br />

den Bewältigungsformen traumatisier-<br />

chotherapie im Allgemeinen ausge-<br />

gefügt werden bzw. von Frauen er-<br />

„weiblichen“ Verarbeitung schwe-<br />

Als zentrales Motiv des Überlebens<br />

lich nicht immer eingehalten werden.<br />

ter Männer; inwieweit es Unterschiede<br />

sagt wird, lässt sich auch im Bereich<br />

lebt werden, anders betont sind, als<br />

rer traumatischer Ereignisse gibt. Es<br />

wird bei Frauen häufig die Sorge für<br />

Glücklicherweise gibt es keine recht-<br />

in der Struktur posttraumatischer Er-<br />

der posttraumatischen Erkrankungen<br />

diejenigen Verletzungen, die Männer<br />

handelt sich vielmehr um einen Über-<br />

Kinder berichtet. Das kommt auch bei<br />

lichen Unterschiede für den Umgang<br />

krankungen bei Frauen und Männern<br />

beobachten. Die tatsächliche Inan-<br />

erfahren. Bei den Frauen steht das<br />

gangsraum, der zwar vom Geschlecht<br />

vielen Männern vor; insgesamt schei-<br />

mit traumatisierten Frauen oder Män-<br />

und damit auch in der Überlegung zu<br />

spruchnahme von Behandlungen (also<br />

mehr oder minder passive Erdulden<br />

des Betroffenen beeinflusst wird, aber<br />

nen Männer aber eher auch durch<br />

nern (auch wenn das nicht immer be-<br />

einer möglicherweise geeigneten Be-<br />

nicht nur Erstanmeldungen) dürfte<br />

im Vordergrund, bei den Männern<br />

gleichzeitig von vielen anderen Um-<br />

politisch-ideologische Motive in ihrem<br />

achtet wird). Das schließt selbstver-<br />

handlungsweise gibt, ist sicherlich ein<br />

ungefähr im Verhältnis von Frauen zu<br />

häufiger eine Kampfsituation. Hinzu<br />

ständen (Herkunft, Familienstruktur,<br />

Überleben stabilisiert zu sein.<br />

ständlich nicht aus, dass für Frauen<br />

wichtiges Gebiet, über das allerdings<br />

Männern zwei Drittel zu einem Drit-<br />

kommt, dass, wie aus Statistiken leicht<br />

soziale Gruppe, etc.) geprägt wird.<br />

andere Zusammenhänge im Vorder-<br />

noch wenig geforscht worden ist.<br />

tel betragen. Dies gilt ungeachtet der<br />

ersichtlich ist, die Männer eher auf der<br />

Dennoch gibt es, zumindest statistisch<br />

grund stehen könnten als für Männer.<br />

Aus unseren vorliegenden Daten er-<br />

Tatsache, dass die Anzahl traumatisier-<br />

Täterseite stehen, die Frauen eher<br />

betrachtet, deutlich Unterschiede zwi-<br />

Nicht vergessen sei außerdem ein<br />

gibt sich, dass ein etwas größerer<br />

ter Männer insgesamt vielleicht sogar<br />

auf der Seite der Geschädigten (was<br />

schen der „Frauengruppe“ und der<br />

04<br />

05<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 4-5 20.07.12 08:32


Unterschiedliche Krankheitsbilder<br />

dazu gezwungen“.<br />

sonen sein). Die zugrundeliegende<br />

Weise ausgeprägt, als es bei Männern<br />

Selbsthilfegruppen oder therapeutisch<br />

ten, bzw. werden je nach Konstellation<br />

Entsprechend den in manchem unterschiedlichen<br />

Entstehungsbedingungen<br />

und Verarbeitungsformen<br />

traumatischer Erfahrungen kommt<br />

es auch zu unterschiedlichen Krankheitsbildern<br />

und Diagnosen. Im Vordergrund<br />

der Symptomatik im Verlauf<br />

chronifizierter posttraumatischer<br />

Erkrankungen stehen sowohl Angststörungen<br />

wie depressive Störungen;<br />

hinzu kommen Störungen der Affekt-<br />

Modulation, Störungen der Denkfähigkeit<br />

und paranoide Entwicklungen.<br />

Zumeist überwiegen bei Frauen die<br />

Formen einer mehr oder minder depressiven<br />

Abwehr des ertragenen Leidens,<br />

verbunden mit einer Verinnerlichung<br />

der Anklagen oder Vorwürfe<br />

mit all den daraus folgenden Schamgefühlen.<br />

Hinsichtlich der Schuldgefühle<br />

gibt es auch eine unterschiedliche<br />

Gewichtung; bei Frauen geht es<br />

weitaus häufiger um die Bewältigung<br />

der Vorstellung, Schuld daran zu sein,<br />

Opfer (z. B. einer Misshandlung) geworden<br />

zu sein. Der Versuch einer<br />

Fantasie: „Ich bin nicht schuld an dem,<br />

was mir geschehen ist“, wird oft ein<br />

zentraler Punkt der Auseinandersetzung<br />

von Frauen mit ihrer Traumatisierung.<br />

Selbstverständlich gilt dies<br />

nicht für alle Frauen; bei nicht wenigen<br />

Wie es sich in der allgemeinen Psychotherapieforschung<br />

auch zeigt, sind<br />

die verinnerlichend-depressiven Abwehrstrukturen<br />

bei Frauen häufiger<br />

als die aggressiv nach außen gerichteten.<br />

Auch die Neigung, Spannungen<br />

dadurch zu bewältigen, indem man<br />

sich mit dem scheinbaren Recht des<br />

Angreifers identifiziert, ist bei Frauen<br />

häufiger zu beobachten. Dies hat<br />

wahrscheinlich zur Folge, dass Rachewünsche<br />

bei Frauen seltener eine<br />

Rolle spielen, stattdessen öfter Wiedergutmachungs-Erwartungen.<br />

Hinsichtlich der körperlichen Symptomatik<br />

stehen bei beiden Geschlechtern<br />

Kopfschmerzen und Rückenschmerzen<br />

im Vordergrund (etwa<br />

90%). Bei Frauen scheinen darüberhinaus<br />

Gelenkbeschwerden und Unterbauchschmerzen<br />

sowie Hyperventilationsbeschwerden<br />

eine besondere<br />

Rolle zu spielen.<br />

Bewältigungsmöglichkeiten<br />

Die spontan zu beobachtenden Bewältigungsformen<br />

bei Frauen tendieren<br />

häufig in Richtung von Selbstentwertung,<br />

wobei diese Selbstentwertung<br />

dann in Verbindung steht mit der Annahme,<br />

sich für jemand anderen zu<br />

opfern: Wenn Kinder vorhanden sind,<br />

unbewusste Fantasie ist wohl, sich<br />

selbst zu helfen, indem man einem anderen<br />

hilft („altruistische Abtretung“).<br />

Oft steht als zentrales Selbsterleben<br />

im Vordergrund, die Fähigkeit, für<br />

andere zu sorgen zu entwickeln, und<br />

die Fähigkeit, vieles zu erdulden, zu<br />

idealisieren. Nicht selten führt diese<br />

Bewältigungsform zu unerträglichen<br />

Überforderungen, die dann zu psychischer<br />

oder auch körperlicher Dekompensation<br />

führen. Die Möglichkeiten<br />

einer aggressiven, handelnden Bewältigung<br />

der traumatischen Erfahrungen<br />

tritt demgegenüber bei Frauen oft in<br />

den Hintergrund, vielleicht auch aus<br />

der oft in der Kindheit beginnenden<br />

Erfahrung heraus, damit ohnehin keinen<br />

Erfolg zu haben.<br />

Helfende Lebenserfahrungen<br />

Häufig taucht im Zusammenhang mit<br />

den Bewältigungsmöglichkeiten die<br />

Frage nach den „Ressourcen“ auf.<br />

Hierzu sind natürlich in erster Linie<br />

die persönlichen Fähigkeiten einer<br />

Persönlichkeit zu rechnen, über die<br />

sie, sei es durch Begabung, sei es im<br />

Laufe ihrer Entwicklung erworben,<br />

verfügen könnte – wenn sie es eben<br />

könnte. Das, was in neuerer Zeit als<br />

„Resilienz“ bezeichnet wird, d. h. die<br />

wahrnehmbar ist. Hier spielt es eine<br />

erhebliche Rolle, dass viele Frauen, die<br />

aus einem patriarchalisch geprägten<br />

Umfeld stammen (z. B. Kurdistan, Nigeria,<br />

aber auch vergleichbare soziale<br />

Gemeinschaften in Mitteleuropa), ihr<br />

Selbstwertgefühl nicht daraus beziehen,<br />

dass sie selbst etwas zu vollbringen<br />

imstande sind, sondern daraus, für<br />

eine andere, insbesondere männliche<br />

Bezugsperson etwas zu bewirken (sehr<br />

häufig für männliche Kinder). Dies führt<br />

dazu, dass bei den Betroffenen die Widerstandsfähigkeit<br />

so lange erhalten<br />

bleibt, wie das Bewusstsein möglich<br />

ist, für eine entsprechende wichtige<br />

Beziehung handeln zu können und dafür<br />

geschätzt zu werden. Wenn dies (z.<br />

B. durch Verlust, Krankheit, Isolation<br />

o. ä.) unmöglich wird, bricht der innere<br />

Widerstand zusammen.<br />

Therapeutische Überlegungen<br />

Aufgrund der geschilderten Unterschiede<br />

und Besonderheiten in der<br />

Verarbeitung traumatischer Erfahrungen<br />

bei Frauen ergeben sich, auch<br />

wenn dies bislang noch nicht hinreichend<br />

untersucht ist, mehrere Überlegungen,<br />

die hilfreich sein könnten.<br />

Zum einen scheint es, dass Frauen eine<br />

meist sehr viel entwickeltere Fähigkeit<br />

geleiteten Gruppen, eher und mehr<br />

profitieren, als dies für Männer gilt.<br />

Thematisch steht dabei immer wieder<br />

die Aufhebung der im Schamgefühl gegründeten<br />

Isolation im Vordergrund,<br />

was bei Männern sehr viel weniger<br />

ausgeprägt ist. Auch die Bearbeitung<br />

der Wertlosigkeitsgefühle spielt in der<br />

Regel im therapeutischen Umgang mit<br />

traumatisierten Frauen eine größere<br />

Rolle, da sie bereits aus ihrer Kindheit<br />

entsprechende Grunderfahrungen vermittelt<br />

bekommen haben (dies schließt<br />

natürlich nicht aus, dass ähnliches auch<br />

bei männlichen Kindern passiert).<br />

Insgesamt lässt sich zwar feststellen,<br />

dass die therapeutische Arbeit mit<br />

Frauen und Männern nicht grundsätzlich<br />

verschieden ist; die Schwerpunkte<br />

sind aber doch oft unterschiedlich. Die<br />

Halt gewährende Funktion der sozialen<br />

Gruppe ist in der Regel bei Frauen ausgeprägter<br />

und leichter erreichbar, und<br />

die Funktion der Beziehungsorganisation<br />

über Solidarität ausgeprägter. Der<br />

Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft<br />

aufgrund schambetonter Ereignisse<br />

wird häufiger als bei Männern<br />

fantasiert, und ist daher auch genauer<br />

zu beachten.<br />

Die sehr häufige Überlegung, ob sich<br />

jeweils männliche oder weibliche BehandlerInnen<br />

besser eignen, lässt sich<br />

unterschiedliche Bereiche leichter bearbeitbar.<br />

Dies gilt jedoch nur insoweit,<br />

als es eine freiwillige Auswahl gibt. Ich<br />

kenne sowohl Fallgeschichten, in denen<br />

eine Frau, die sich primär von ihrer<br />

Mutter geschädigt erlebt hat, nur zu<br />

einem Mann in Therapie wollte, wie den<br />

umgekehrten Fall, dass eine Frau in Erinnerung<br />

an männliche Gewalt nur nach<br />

einer Frau als Behandlerin gesucht hat.<br />

Zentral erscheint mir aber, unabhängig<br />

davon, ob Frau oder Mann eine Behandlung<br />

beginnen, dass die extreme<br />

Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit des<br />

seelischen Bereiches des betroffenen<br />

Menschen wahrgenommen wird, und<br />

das schließt die geschlechtliche Identität<br />

und ihre mögliche Verletztheit mit<br />

ein. Hier kann häufig eine Gruppe tatsächlich<br />

einen gewissen Schutz bedeuten,<br />

der auch über Identifikationsprozesse<br />

anhalten kann. Auf der anderen<br />

Seite führen Gruppenprozesse unter<br />

Umständen dazu, dass bestimmte, besonders<br />

traumatische Ereignisse nicht<br />

sprachlich ausgedrückt werden können.<br />

Gerade für Frauen aus sozial und<br />

kulturell traumatisierenden Lebensumständen<br />

kann die Möglichkeit, in dieser<br />

Hinsicht neue Erfahrungen zu machen,<br />

zu befreienden und manchmal sogar<br />

beglückenden Entwicklungen führen.<br />

kommt es auch zu der überwiegend<br />

männlichen Schuld-Problematik, „ich<br />

in der Regel für die Kinder, aber unter<br />

Umständen durchaus auch für ande-<br />

Fähigkeit, schwere Belastungen durch<br />

eine in der Lebensgeschichte entstan-<br />

zur sozialen Einbindung haben, als<br />

dies bei traumatisierten Männern der<br />

nicht eindeutig beantworten. Soweit<br />

es Untersuchungen darüber gibt, las-<br />

Dr. med. Thomas Soeder<br />

bin nicht schuld an dem, was ich ge-<br />

re Menschen (es können auch Eltern<br />

dene Widerstandskraft zu bewälti-<br />

Fall ist. Dies hat u. a. zur Folge, dass<br />

sen sich in beiden Konstellationen gün-<br />

06<br />

tan habe, die Verhältnisse haben mich<br />

oder andere wesentliche Bezugsper-<br />

gen, ist bei Frauen oft in sehr anderer<br />

Frauen in der Regel von Gruppen, ob<br />

stige und ungünstige Effekte beobach-<br />

07<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 6-7 20.07.12 08:32


Das Schweigen der Frauen –<br />

Folge vielschichtiger Unterdrückung<br />

im Iran<br />

Vor 300 Jahren galt die Folter als ebenso<br />

notwendig wie heute die Gewalt.<br />

Wie die Folter sehr bald zu den gewünschten<br />

Ergebnissen führte, so tut<br />

es heute die Gewalt.<br />

Leo N. Tolstoi<br />

Unter den „gewünschten Ergebnissen“<br />

steht im Iran das Schweigen der<br />

Frau an vorderer Stelle; dieses Ziel<br />

versucht man mit Gewalt und Folter<br />

zu erreichen.<br />

Ich möchte mit meinem Bericht die Situation<br />

der Frauen ansprechen, die im<br />

Iran misshandelt, gefoltert und hierbei<br />

körperlich als auch seelisch vergewaltigt<br />

worden sind.<br />

Frauen aus Iran, die zu <strong>refugio</strong> stuttgart<br />

kommen und Rat und Hilfe suchen,<br />

bezeugen die Unterdrückung und<br />

Diskriminierung, die sie in ihrem Herkunftsland<br />

erfahren haben. Man sieht<br />

den Opfern nicht nur die äußerlichen<br />

Wunden der Gewalt und Folter an,<br />

sondern bemerkt auch die Wunden<br />

ihres Inneren.<br />

Ungleichheit und Unterdrückung von<br />

Frauen sind sicherlich in vielen <strong>Teil</strong>en<br />

der Welt anzutreffen. Die Art dieser<br />

Menschenrechtsverletzungen und deren<br />

Umgang mit ihnen sind teilweise<br />

jedoch sehr unterschiedlich. So ist das<br />

Verlangen nach Gleichstellung geradezu<br />

aussichtslos, zumal iranische<br />

Frauen Unterdrückung oft von mehreren<br />

Seiten erfahren: aus religiöser<br />

und rechtlicher Sicht werden sie im<br />

Vergleich zu Männern – beispielsweise<br />

bei Gerichtsverhandlungen - nur als<br />

ein „halber Mensch“ angesehen. Auch<br />

wagen Frauen, die dem Herrn im Haus<br />

traditionell stets untergeordnet sind,<br />

schon aus Schamgefühl nicht, sich zu<br />

wehren. Als ein Objekt des Mannes<br />

instrumentalisiert, müssen Frauen<br />

ihm gehorsam, behutsam und schweigend<br />

„gehören“. Gerade deshalb ist<br />

sexualisierte, verbale und körperliche<br />

Gewalt so häufig und wird selten als<br />

unmoralisch wahrgenommen.<br />

Auch in öffentlicher bzw. rechtlicher<br />

Hinsicht wird die Unterdrückung<br />

der Frau im Iran deutlich. So ist dieses<br />

Land der einzige Staat der Welt,<br />

in dem die Art der Bekleidung von<br />

Frauen als Frage der „nationalen Sicherheit“<br />

betrachtet wird und mit offizieller<br />

Anordnung Frauen in der Öffentlichkeit<br />

gehängt werden.<br />

Bisher verhinderte die sklavenähnliche<br />

Lebenssituation iranischer Frauen, die<br />

einer Vielzahl unterschiedlicher Formen<br />

von Gewalt ausgesetzt sind, dass<br />

„das Fass überlief“, d.h. dass es zu einer<br />

großen Revolte der Frauen im Iran<br />

kam. Hierbei ist die Bedeutung von<br />

Einschüchterung und Erniedrigung<br />

der Bürger als Folge der sozialen, wirtschaftlichen<br />

und religiösen Unterdrückung<br />

durch die im Iran herrschende<br />

politische Macht immens. Solche Missachtungen<br />

der Menschenrechte richten<br />

sich gegen Angehörige verschiedener<br />

oppositioneller Gruppierungen,<br />

rend ihrer Flucht wurde sie zeitweise<br />

von ihrem Kind getrennt, was bei ihr<br />

zusätzliche schwere Ängste ausgelöst<br />

hatte. Bei der ersten Vorstellung in der<br />

Kontaktstelle von <strong>refugio</strong> stuttgart litt<br />

sie an einer massiven Traumafolgestörung.<br />

Seit Verlassen des Irans hatte sie<br />

zudem 25% ihres Körpergewichts verloren,<br />

weshalb sie sich kaum noch aufrecht<br />

halten konnte. Im Iran hatte sie<br />

wegen einer von extremer Gewalt geprägten<br />

Ehe, zu der sie im Alter von 14<br />

Jahren gezwungen wurde, bei Gericht<br />

mehrmals die Scheidung beantragt,<br />

was jedoch abgelehnt worden war.<br />

Als sie später außerehelich schwanger<br />

wurde und ihr Mann von der Beziehung<br />

erfuhr, wurde sowohl sie als auch<br />

das Kind von ihm misshandelt und Frau<br />

A. wegen Ehebruch angezeigt. Der offiziellen<br />

Anklage und dem möglichen<br />

Gerichtsurteil der Steinigung entzog<br />

sie sich zusammen mit dem Kind durch<br />

ihre Flucht. Als sie feststellen musste,<br />

dass ihr Ehemann auch in Deutschland<br />

nach ihr suchen ließ, verstärkten sich<br />

ihre steten Ängste. Erst die Zuerkennung<br />

eines gesicherten Aufenthalts,<br />

der Auszug aus der Flüchtlingsunterkunft<br />

und die psychotherapeutische<br />

Behandlung durch eine mit traumatisierten<br />

Frauen erfahrene Therapeutin<br />

führten zu einer ersten innerseelischen<br />

Beruhigung.<br />

Die leidvollen Erfahrungen von Frau<br />

A. sind kein Einzelfall. Immer häufiger<br />

werden in den letzten Jahren ähnliche<br />

Lebensgeschichten in der Kontaktstelle<br />

von <strong>refugio</strong> stuttgart berichtet,<br />

denen in diesem Land Inhaftierung<br />

und Folter drohen, und sie betreffen<br />

sowohl Frauen als auch Männer. Sie<br />

sind der Versuch, nicht nur die Frauen,<br />

sondern das Volk zum Schweigen zu<br />

bringen. Zur besonderen Situation der<br />

Frauen im Iran gehört jedoch, dass<br />

diese auf ihren Schultern nicht nur die<br />

Lasten der politischen Macht, sondern<br />

auch der gesellschaftlich-traditionellen<br />

Meinung und des Patriarchats<br />

zu tragen haben.<br />

Mit dem rechtlichen Zwang, gemäß<br />

dem Scharia-Gesetz leben zu müssen,<br />

erfährt die Frau im Iran massive<br />

Benachteiligung. Während Männern<br />

das Recht auf Polygamie zugesprochen<br />

wird und diese als Einzige, wann<br />

immer sie wollen, eine Scheidung einreichen<br />

dürfen, wurde für Frauen das<br />

Heiratsalter auf 13 Jahre herabgesetzt.<br />

Auf diese Weise fand auch eine<br />

Legalisierung sexuellen Missbrauchs<br />

von Mädchen statt.<br />

Die miserable rechtliche Situation der<br />

Frauen im Iran und die bestehenden<br />

sozialen Realitäten konnten den Willen<br />

vieler Frauen nicht brechen und deren<br />

Aufbegehren auf der Suche nach<br />

Freiheit nicht zunichte machen. Wie<br />

der folgende Fall jedoch verdeutlicht,<br />

vermag für einige Frauen nur noch die<br />

Flucht einen Ausweg darstellen, der<br />

massiven Unterdrückung in diesem<br />

Land zu entkommen:<br />

Die 25 jährige Frau A ist allein erziehende<br />

Mutter eines 3-jährigen Kindes.<br />

Aus Angst vor einer drohenden Todesstrafe<br />

verließ sie den Iran. Wähwo<br />

der Anteil an Klientinnen und Klienten<br />

aus dem Iran von 3,9% im Jahr<br />

2005 auf 9,9% im Vorjahr, und - nach<br />

der neuesten Statistik von Mai 2012 -<br />

auf 10,3% angestiegen ist. Während<br />

die Zahl iranischer Frauen, die auf<br />

der Flucht vor Unterdrückung nach<br />

Deutschland kommen, kontinuierlich<br />

zunimmt, wird bei vielen von ihnen<br />

eine doppelte Bedrohung deutlich:<br />

diese Frauen, die zumeist verheiratet<br />

sind, aus der Mittelschicht stammen,<br />

gut gebildet und zum <strong>Teil</strong> auch politisch<br />

aktiv sind, begehren die Anerkennung<br />

ihrer Rechte sowohl in der<br />

Familie als auch im öffentlichen Leben.<br />

In jedem dieser Bereiche sind sie massiven<br />

Repressionen ausgesetzt.<br />

Der folgende Fall verdeutlicht beispielhaft<br />

Repression und deren Folgen,<br />

die eine Frau im Iran zu erleiden<br />

hat, sollte sie nach der Anerkennung<br />

ihrer Rechte verlangen.<br />

Frau S. ist eine energische, zierliche<br />

33jährige Frau, die sich mit schweren<br />

Ängsten und psychophysischer<br />

Erschöpfung im Rahmen einer Traumafolgestörung<br />

bei <strong>refugio</strong> stuttgart<br />

vorstellte. Sie ist Musikerin und war<br />

in Teheran nach Aufführung regimekritischer<br />

Musik vor dem Publikum<br />

festgenommen und während ihrer Inhaftierung<br />

gefoltert worden. Durch<br />

gezielte Schläge ins Gesicht hatte<br />

sie unter der Folter das Sehvermögen<br />

auf ihrem rechten Auge (an dem<br />

zuvor eine deutlich bessere Sehkraft<br />

bestanden hatte) eingebüßt. Nach<br />

mehrfachen Todesdrohungen hatte<br />

sie schließlich mit ihrer Familie den<br />

Iran verlassen und war in Deutschland<br />

später vollständig erblindet. Während<br />

sie sich bei <strong>refugio</strong> stuttgart in<br />

psychotherapeutischer Behandlung<br />

befand, erhielt sie eine Aufenthaltserlaubnis.<br />

Sie bekam eine Tochter und<br />

die Familie lebt heute gut integriert in<br />

<strong>Stuttgart</strong>. Frau S. ist weiterhin künstlerisch<br />

aktiv und macht gleichzeitig eine<br />

Ausbildung in Blindengrundtechniken<br />

(EDV und Punktschrift, Kurzschrift in<br />

Deutsch und Englisch). Inzwischen erreichte<br />

sie innerseelische Beruhigung<br />

und ebnete sich mit großer Motivation<br />

und Kraft einen Weg, auf dem sie derzeit<br />

weitere Karriereschritte macht.<br />

Der Lebensweg von Frau S. weist auf<br />

wichtige Anliegen und Aufgabenbereiche<br />

von <strong>refugio</strong> <strong>Stuttgart</strong> hin, Klientinnen<br />

und Klienten professionell zu<br />

unterstützen und sie unter Nutzung<br />

ihrer eigenen Ressourcen aus dunklen<br />

Tiefphasen auf neue „ebene“ Wege zu<br />

begleiten, die sie in bessere Lebensverhältnisse<br />

mit deutlich mehr Ruhe<br />

führen.<br />

Anahita Schafaie<br />

08<br />

09<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 8-9 20.07.12 08:32


Die Lage der Frauen in<br />

Afghanistan<br />

Seit über 30 Jahren tobt Krieg in Afghanistan.<br />

Wirtschaft und Infrastruktur<br />

des Landes liegen am Boden.<br />

Schulen, Ausbildungsstätten, Krankenhäuser<br />

und Verwaltung leiden unter<br />

der Auseinandersetzung. Etwa ein<br />

Drittel der afghanischen Bevölkerung<br />

befindet sich derzeit auf der Flucht,<br />

hauptsächlich in die Anrainerstaaten<br />

Pakistan und Iran; auch in Deutschland<br />

stellt Afghanistan derzeit den größten<br />

Anteil an Flüchtlingen.<br />

Wie immer sind Frauen die Hauptverlierer<br />

des Krieges. Die Zahl der<br />

Selbstmorde bei afghanischen Frauen<br />

ist dramatisch gestiegen. Viele glauben,<br />

dass ihnen nur noch der Suizid<br />

als Fluchtmöglichkeit vor Armut oder<br />

Krieg, vor ehelichem Missbrauch oder<br />

familiärer Gewalt bleibt. Allein im Jahr<br />

2011 haben sich über 2300 Frauen das<br />

Leben genommen.<br />

Erhebliches Leid bereits im Kindesalter<br />

In Afghanistan wachsen Kinder, der<br />

UN-Organisation Unicef zufolge, unter<br />

den weltweit schlimmsten Lebensbedingungen<br />

auf. Drei Jahrzehnte<br />

Bürgerkrieg und die sich verschlechternde<br />

Sicherheitslage hätten es für<br />

Kinder immer schwerer gemacht, auch<br />

nur ihr nacktes Überleben zu sichern,<br />

sagte Unicef-Regionaldirektor Daniel<br />

Toole der Nachrichtenagentur Reuters<br />

im März 2010. Neben sexuellem<br />

Missbrauch litten Kinder häufig auch<br />

an unzureichender Ernährung. Laut<br />

aktueller Unicef-Statistiken stirbt jedes<br />

sechste afghanische Kind noch vor<br />

dem fünften Geburtstag - davon ein<br />

Großteil bereits im ersten Lebensjahr<br />

– meist als Folge armutsbedingter<br />

Krankheiten.<br />

Seit die USA 2003 begannen militärisch<br />

gegen die Taliban vorzugehen,<br />

habe sich die Sicherheitslage verschlechtert,<br />

so Toole. Tausende Zivilisten<br />

mussten ihre Häuser verlassen.<br />

Immer mehr Minderjährige fliehen alleine<br />

über die Grenzen Afghanistans.<br />

Manche schafften es bis nach Westeuropa.<br />

Verheiratungen mit oft doppelt so<br />

alten Männern<br />

Zwangsheirat von Kindern ist zwar<br />

gesetzlich verboten, aber keine Behörde<br />

verfolgt die Täter. So werden<br />

viele Mädchen gegen ihren Willen mit<br />

einem meist viel älteren Mann verheiratet.<br />

Wie Daniel Toole berichtete,<br />

habe er während eines Afghanistan-<br />

Besuchs in einer Frauenunterkunft ein<br />

neunjähriges Mädchen getroffen, das<br />

dazu gezwungen worden sei, einen<br />

ihr völlig fremden Mann zu heiraten.<br />

Nach Unicef-Daten von 2009 wurden<br />

43 Prozent der heute 20 bis 24 Jahre<br />

alten Frauen gegen ihren Willen vor<br />

ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Die<br />

Ehemänner seien oft doppelt so alt<br />

und würden die minderjährigen Mädchen<br />

zum Sex zwingen.<br />

Der Religionsrat will Frauenrechte<br />

einschränken<br />

«Männer sind von fundamentaler Bedeutung,<br />

Frauen sind zweitrangig»,<br />

heißt es in neuen Richtlinien des mächtigen<br />

Religionsrates (Ulema) in Afghanistan.<br />

Hiernach sollen Männer ihre<br />

Frauen schlagen dürfen, wenn es das<br />

islamische Recht (Scharia) erlaubt. Wie<br />

in der Tageszeitung «Standard» betont,<br />

seien die Richtlinien zwar rechtlich nicht<br />

verpflichtend, aber viele Menschen in<br />

Afghanistan dürften sie als bindend ansehen.<br />

Dazu trägt bei, dass Präsident Hamid<br />

Karsai die Benimmregeln auf seiner<br />

Webseite veröffentlicht und sie gegen<br />

Kritik verteidigt hat. Gleichzeitig will<br />

der Ulema-Rat, dem 150 führende muslimische<br />

Geistliche angehören, auch<br />

die Bewegungsfreiheit von Frauen einschränken.<br />

So sollen Afghaninnen nur<br />

noch in Begleitung eines männlichen<br />

Verwandten öffentliche Transportmittel<br />

benutzen und verreisen. Auf<br />

Basaren, in öffentlichen Gebäuden,<br />

an Universitäten und am Arbeitsplatz<br />

soll eine strikte Geschlechtertrennung<br />

herrschen.<br />

Widersprüche in der Verfassung<br />

Die von den Ulema-Religionsgelehrten<br />

erstellten Richtlinien verstoßen gegen<br />

die Verfassung aus dem Jahr 2003.<br />

Diese entstand als Kompromiss zwischen<br />

Fundamentalisten und Liberalen<br />

und ist entsprechend widersprüchlich.<br />

So heißt es in Artikel 22: «Die Bürger<br />

Afghanistans, sowohl Frauen als auch<br />

Männer, haben vor dem Gesetz gleiche<br />

Rechte und Pflichten.» In Artikel<br />

3 heißt es hingegen: «In Afghanistan<br />

darf kein Gesetz dem Glauben und<br />

den Bestimmungen der heiligen Religion<br />

des Islam widersprechen». Frauenrechtsaktivistinnen<br />

hatten schon damals<br />

auf die Gefahr dieses Artikels für<br />

die Rechte der Frauen hingewiesen.<br />

Westliche Regierungen schweigen<br />

Das Schweigen der westlichen Regierungen,<br />

die ihren Einsatz in Afghanistan<br />

auch mit dem Kampf für Frauenrechte<br />

begründet hatten, wurde<br />

von der Afghanistan-Expertin Heather<br />

Barr von der Menschenrechtsorganisation<br />

Human Rights Watch heftig kritisiert.<br />

Zweifellos gab es für die Frauen<br />

in Afghanistan zaghafte Fortschritte,<br />

die zu den wenigen Erfolgen des<br />

Westens seit dem Sturz der Taliban<br />

gehören: Millionen Mädchen gehen<br />

heute wieder zur Schule, Frauen sind<br />

erwerbstätig und sitzen im Parlament.<br />

Dies hat den Fundamentalisten jedoch<br />

nie gepasst; sie versuchen seit langem,<br />

die Rechte der Frauen wieder<br />

zu beschneiden. So hat beispielsweise<br />

Anfang des Jahres das Informationsministerium<br />

alle TV-Sender aufgefordert,<br />

ihre Moderatorinnen dazu<br />

anzuhalten, ein Kopftuch zu tragen<br />

und sich nicht zu stark zu schminken.<br />

Letztes Jahr hat die Regierung ihren<br />

Gesetzesentwurf zur Verstaatlichung<br />

der Frauenhäuser, die den Konservativen<br />

und islamischen Geistlichen seit<br />

langem ein Dorn im Auge sind, erst<br />

nach internationalen Protesten zurückgezogen.<br />

Zugeständnisse an die Taliban?<br />

Einige der im Lande getroffenen Maßnahmen<br />

könnten der Beginn sein, sich<br />

von der Freiheit der Medien in Afghanistan<br />

zu verabschieden, befürchtete<br />

der Nachrichtenchef des Senders TV<br />

One, Sami Mehdi. Nach seiner Einschätzung<br />

könnten diese Entscheidungen<br />

auf die Friedensgespräche<br />

mit den Taliban zurückzuführen sein.<br />

Er ist nicht der einzige, der darin erste<br />

Schritte zurück in die Vergangenheit<br />

sieht - und gleichzeitig Schritte hin zu<br />

den Taliban.<br />

So gibt es seit kurzem weitere Anzeichen<br />

für Bestrebungen, in Afghanistan<br />

die Uhren zurückzudrehen:<br />

„Wir sollten akzeptieren, dass wir in<br />

einer islamischen Gesellschaft leben.<br />

Und diese Gesellschaft unterscheidet<br />

sich von einer nicht-islamischen.<br />

Ein Leben nach den Regeln des Islam<br />

wünschen wir für uns selbst sowie für<br />

unsere Frauen und Schwestern. Diese<br />

sind ja auch muslimisch“, verkündete<br />

Maulawi Chalikdad, ein Mitglied des<br />

einflussreichen Religionsrats, im Interview<br />

mit dem ARD-Hörfunkstudio<br />

Südasien. Im selben Atemzug machte<br />

der Mullah auch deutlich, was ein vorschriftsmäßiges<br />

Leben in der praktischen<br />

Umsetzung für ihn bedeutet:<br />

„Frauen dürfen nicht ohne eine männliche,<br />

enger verwandte Begleitperson<br />

reisen. Sie dürfen sich nicht in einem<br />

Büro oder in einer Umgebung aufhalten,<br />

in der sich Männer, mit denen sie<br />

nicht verwandt sind, befinden.“ Hingegen<br />

müssen Frauen „das Recht von<br />

Männern auf mehrere Ehefrauen“, wie<br />

im Koran beschrieben, respektieren.<br />

Böse Erinnerung an die Vergangenheit<br />

Dass Präsident Hamid Karsai diese<br />

Forderungen gegenüber Kritikern<br />

verteidigt, kann aus Sicht der Frauen<br />

nichts Gutes verheißen. Hatten sie<br />

doch in den vergangenen zehn Jahren<br />

Dinge erreicht, die zwar einem<br />

Taliban die Barthaare zu Berge stehen<br />

lassen, aber auch aus Sicht des Westens<br />

zu den größten Errungenschaften<br />

des Afghanistan-Einsatzes zählen:<br />

eine Vielzahl von Kandidatinnen trat<br />

zur letzten Parlamentswahl an; Mädchen<br />

lernen, Frauen lehren in Schulen<br />

und Universitäten. „Wir haben zehn<br />

Jahre lang gekämpft und so viel erreicht“,<br />

so die Parlamentarierin Fawzai<br />

Kofi. „Jetzt fangen sie an, einige der<br />

Grundrechte wieder zurückzunehmen:<br />

zusammen zu leben und zu arbeiten,<br />

sich frei in der Öffentlichkeit zu bewegen.“<br />

Dass sich Afghanistans Frauen<br />

um die Zukunft sorgen, ist der bösen<br />

Erinnerung an die Vergangenheit, an<br />

die Taliban-Ära geschuldet.<br />

Mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit<br />

darüber, dass Verhandlungen<br />

mit den Extremisten das einzige Mittel<br />

gegen eine erneut herannahende<br />

afghanische Katastrophe sind. Noch<br />

kann von echten Verhandlungen al-<br />

10 11<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 11 20.07.12 08:32


lerdings keine Rede sein, noch gibt<br />

es lediglich erste vorsichtige Vorgespräche.<br />

Doch afghanische Frauen befürchten<br />

schon jetzt, dass sie im Falle<br />

von Zugeständnissen an die Taliban<br />

am meisten zu leiden haben.<br />

Der Erlass des Religionsrates erinnert<br />

an die Tyrannei der radikalislamischen<br />

Taliban, Diese hatten gegen Frauen,<br />

die ihre rigiden Verbote - etwa von<br />

Musik, Film und Tanz - ignorierten,<br />

brutale Strafen verhängt und viele getötet.<br />

Nachdem US-Truppen im Jahr<br />

2001 die Herrschaft der Militanten<br />

beendet hatten, waren nach deren<br />

Vertreibung viele Frauen in Berufe zurückgekehrt.<br />

Auch konnten Mädchen<br />

- was in der Taliban-Ära verboten war<br />

- wieder zur Schule gehen.<br />

Seitdem die Taliban wieder auf dem<br />

Vormarsch sind und die westlichen<br />

Armeen ihren Rückzug angekündigt<br />

haben, kommt Präsident Karsai, der<br />

in Kabul noch erklärt hatte, der von<br />

ihm nun abgesegnete Kodex lege den<br />

Frauen „keinerlei Beschränkungen“<br />

auf, den Radikalen im Land immer weiter<br />

entgegen. .<br />

Spuren der Tortur<br />

Die heute 17-jährige Aisha zieht das<br />

große weiße Tuch, in das sie gehüllt<br />

ist, vom Kopf und zeigt Stellen, wo<br />

ihr dichtes schwarzes Haar nicht mehr<br />

wächst, weil die Kopfhaut so stark verletzt<br />

ist. Auch ihr Rücken und ihre Hände<br />

weisen Spuren der Tortur auf, die<br />

sie acht Jahre lang über sich ergehen<br />

lassen musste. Das Schlimmste scheinen<br />

indes die seelischen Wunden zu<br />

sein. Ruhig und gefasst berichtet die<br />

junge Paschtunin über das Martyrium<br />

im Hause ihres Ehemannes. Als sie<br />

von der Flucht aus dem Dorf erzählt,<br />

leuchten ihre Augen sogar kurz schelmisch<br />

auf. Dann kehren ihre Gedanken<br />

zur Mutter zurück, und Aisha kann die<br />

Tränen nicht mehr zurückhalten.<br />

Das Allerschlimmste sei gewesen, dass<br />

die Schwiegereltern ihr nicht erlaubt<br />

hätten, das Haus zu verlassen, nicht<br />

einmal, um ihre Mutter zu besuchen,<br />

erzählt sie mit erstickter Stimme. Ihre<br />

Mutter habe sie nicht verkaufen wollen.<br />

Doch sie sei machtlos gewesen<br />

gegenüber ihrem zweiten Mann und<br />

habe das Haus selbst nicht verlassen<br />

dürfen. Einmal habe die Mutter sie besucht<br />

und vergeblich versucht, ihr zur<br />

Flucht zu verhelfen. Danach sah Aisha<br />

sie nie wieder.<br />

Aishas Schicksal ist kein Einzelfall.<br />

Tausende von Frauen in Afghanistan<br />

haben ebensolche Geschichten zu erzählen.<br />

Geschichten von häuslicher<br />

Gewalt, von Vergewaltigungen, von<br />

Zwangsheiraten und vom Verkauf im<br />

Kindesalter. Aisha ist eine von wenigen,<br />

die ihren Peinigern entkommen<br />

sind. Als im Haus eine Uhr verloren<br />

gegangen sei, habe man sie des<br />

Diebstahls bezichtigt und sie fast zu<br />

Tode geprügelt, berichtet sie. In dieser<br />

Nacht habe sie Gott angefleht,<br />

sie vom Leben zu erlösen. Er habe<br />

sie nicht erhört, doch am nächsten<br />

Morgen habe das Tor zum Hof offen<br />

gestanden, und sie habe dies als Zeichen<br />

Gottes interpretiert, dass sie sich<br />

selbst helfen müsse.<br />

Die damals Zwölfjährige floh und<br />

rannte einem Dorfbewohner in die<br />

Arme, der Mitleid mit ihr hatte. Auch<br />

der lokale Polizeichef war erschüttert<br />

über das Elend des Mädchens, das<br />

aus Nase, Mund und Ohren blutete<br />

und zwei gebrochene Arme hatte. So<br />

wurde sie nicht nach Hause zurückgebracht<br />

oder ins Gefängnis geworfen ,<br />

wie es in Afghanistan in solchen Fällen<br />

üblich ist, weil die Ehre der Familie<br />

mehr zählt als das Leben einer Frau ,<br />

sondern landete in einem Spital. Von<br />

dort aus brachte sie ein Mitarbeiter<br />

der staatlichen Menschenrechtskommission<br />

nach Kabul, wo sie erst<br />

in einem Waisenhaus und später in<br />

einem Frauenhaus Unterschlupf fand.<br />

Versprechen einhalten<br />

Ein 96-seitiger Bericht von Human<br />

Rights Watch beschreibt beispielhaft<br />

Fälle von anhaltenden Menschenrechtsverletzungen<br />

in fünf Bereichen:<br />

Angriffe auf Frauen in der Öffentlichkeit,<br />

Gewalt gegen Frauen, Kinderund<br />

Zwangsheirat, fehlender Zugang<br />

zum Justizwesen und der fehlende<br />

Zugang zu höherer Schulbildung für<br />

Mädchen.<br />

„Die Lage der afghanische Frauen und<br />

Mädchen ist schrecklich und kann sich<br />

weiter verschlechtern. Während die<br />

ganze Welt momentan auf die neue Sicherheitsstrategie<br />

der Obama-Regierung<br />

blickt, ist es von großer Wichtigkeit,<br />

dass Frauen- und Mädchenrechte<br />

keine Lippenbekenntnisse bleiben und<br />

von der Regierung und den Geberländern<br />

nicht ans Ende der Prioritätenliste<br />

geschoben werden“, betont die<br />

Afghanistan-Expertin Rachel Reid in<br />

diesem Bericht.<br />

In den letzten Monaten verhandelt<br />

man mit den Taliban über einen Frieden<br />

in Afghanistan. Um den Forderungen<br />

der Taliban entgegen zu kommen<br />

werden immer mehr die Rechte<br />

der Frauen beschnitten. Die deutsche<br />

Amnesty-Generalsekretärin Monika<br />

Lüke warnt mit Recht davor, dass die<br />

Frauen nicht noch einmal Opfer der<br />

strategischen Verhandlungen werden<br />

dürfen.<br />

Najiba Maqsudi<br />

Jama Maqsudi<br />

12 13<br />

JB 11 17.Juni2012.indd 12-13 20.07.12 08:32

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!