Teil 1 - refugio Stuttgart e.V.
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efugio stuttgart<br />
11<br />
Arbeitsbericht<br />
JB 11 17.Juni2012.indd 1 20.07.12 08:32
Inhalt<br />
Vorwort<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
02 Vorwort<br />
Harald Kretschmer<br />
03 Grußwort<br />
Gebhard Fürst<br />
04 Traumaorientierte Therapie und Frauen<br />
Thomas Soeder<br />
08 Das Schweigen der Frauen -<br />
Folge vielschichtiger Unterdrückung im<br />
Iran<br />
Anahita Schafaie<br />
10 Die Lage der Frauen in Afghanistan<br />
Nagiba Maqsudi<br />
Jama Maqsudi<br />
14 aktuell<br />
j Mitarbeitende<br />
j Nachrufe<br />
j 10 Jahre Mitarbeit im Vorstand<br />
von <strong>refugio</strong><br />
j Bericht eines Ehrenamtlichen<br />
20 Finanzberichte<br />
Bernard Nipper<br />
22 Jahresstatistik<br />
26 <strong>refugio</strong> stuttgart e.v.<br />
in ausgewählten Zahlen<br />
Elisabeth Fries<br />
27 EcclesiJaZZ und multiple joys<br />
28 Dank<br />
Helmut Scherbaum<br />
30 Fortbildungen, Seminare,<br />
Veranstaltungen<br />
Zwei große Schritte in eine gute Richtung<br />
erlebten wir zu Beginn des Jahres<br />
2012 für die von <strong>refugio</strong> stuttgart<br />
betreuten Menschen:<br />
Die Landesregierung von Baden-<br />
Württemberg lockerte die Residenzpflicht<br />
für Asylbewerber. Für einen<br />
Menschen, der brutale Verfolgung<br />
erlebt hat, ist es ein großer Wert, etwas<br />
mehr Freiheit zu erleben, also<br />
z. B. ohne Nachfrage bei Behörden<br />
Verwandte oder Landsleute in Nachbarkreisen<br />
besuchen zu können. Natürlich<br />
bleibt trotzdem noch vieles zu<br />
verbessern. So setzt sich die Landesregierung<br />
im Bundesrat und in der<br />
Innenministerkonferenz für eine neue<br />
gesetzliche, an humanitären Kriterien<br />
ausgerichtete Bleiberechtsregelung<br />
ein. Humanitäre Grundsätze, so sagt<br />
es Landesbischof Dr. July, müssen vor<br />
wirtschaftlichen Fragen Vorrang bekommen.<br />
Dies gilt insbesondere auch<br />
für Kinder und für traumatisierte, alte<br />
und kranke Menschen, die keine ausreichenden<br />
eigenen Einkünfte erzielen<br />
können. – Am Rande sei vermerkt,<br />
dass die Lockerung der Residenzpflicht<br />
in manchen Kreisen, selbst bei<br />
Integrationspolitischen Sprechern politischer<br />
Parteien, auf Kritik stößt und<br />
Sorge um die Sicherheit der Bevölkerung<br />
hervorruft.<br />
Die Landesregierung von Baden-<br />
Württemberg hat in Übereinstimmung<br />
mit allen Parteien des Landtags, jedem<br />
der fünf Psychosozialen Zentren<br />
im Land für 2012 eine Unterstützung<br />
von 60.000 Euro zugesagt. Dies ist für<br />
unsere finanziell immer wieder gefährdete<br />
Arbeit ein nicht unerheblicher<br />
Betrag. Darüber hinaus sehen wir darin<br />
aber auch eine Anerkennung und<br />
ideelle Unterstützung unserer bereits<br />
jahrelangen Arbeit.<br />
<strong>refugio</strong> stuttgart e.v. ist keine kirchliche<br />
Organisation. Im Eintreten für<br />
gefolterte Flüchtlinge, für seelisch und<br />
körperlich schwer verletzte („traumatisierte“)<br />
Menschen fühlen wir uns aber<br />
nahe an Aufforderungen Jesu – der ja<br />
selbst unter Folter starb – an die, die<br />
zu seinen Lebzeiten mit ihm seinen<br />
Weg gingen.<br />
Die im Haushaltsplan der Diözese Rottenburg/<strong>Stuttgart</strong><br />
für die Jahre 2011<br />
und 2012 festgeschriebene Förderung<br />
für die Arbeit von <strong>refugio</strong> stuttgart ist<br />
ein Zeichen dafür, dass dies in kirchlichen<br />
Kreisen genauso gesehen wird.<br />
Auch das Geleitwort von Herrn Bischof<br />
Dr. Fürst, für das wir sehr dankbar<br />
sind, zeigt, dass ihm und seiner<br />
Kirche die Arbeit der Psychosozialen<br />
Zentren ein besonderes Anliegen ist.<br />
Von Herzen danken wir allen, die sich<br />
für die so notwendige Arbeit unseres<br />
Vereins zeitlich oder finanziell engagieren.<br />
Dr. med. Harald Kretschmer<br />
auch der Jahresbericht 2011 ist wieder<br />
spannend zu lesen. Mit Bewunderung<br />
für das überzeugende Engagement der<br />
vielen Ehren- und Hauptamtlichen von<br />
<strong>refugio</strong> stuttgart grüße ich Sie alle recht<br />
herzlich.<br />
Ich freue mich mit Ihnen, dass es Ihnen<br />
dank Ihres Engagements in der Beratung<br />
und Unterstützung von Flüchtlingen,<br />
dank eines großen Einsatzes von Ehrenamtlichen,<br />
einem Netzwerk von Unterstützern<br />
und Spendern überzeugend gelungen<br />
ist, auch im Jahr 2011 Menschen<br />
Rat und Beistand zu geben, die nach einer<br />
oft langen Odyssee dringend darauf<br />
angewiesen sind.<br />
Für die Kirche gilt die grundlegende Aussage<br />
des Apostel Paulus: „Es gibt nicht<br />
mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven<br />
und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr<br />
seid alle einer in Christus Jesus.“ Die Kirche<br />
ist ein Volk aus allen Völkern – ganz<br />
im Sinn auch des Epheserbriefs, der in<br />
der christlichen Gemeinde das Verbindende<br />
der Kinder Gottes vor allem sozial<br />
und politisch Trennenden hervorhebt:<br />
„Ihr seid also jetzt nicht mehr Fremde<br />
ohne Bürgerrecht, sondern Mitbürger<br />
der Heiligen und Hausgenossen Gottes.<br />
Diese Aussagen sind für die einzelnen<br />
Christen und die christlichen Gemeinden<br />
gleichzeitig Maßstab und Herausforderung<br />
für ein evangeliumsgemäßes<br />
Leben. „Deshalb ist die Situation der<br />
Ausländer ohne legalen Aufenthaltsstatus,<br />
dieser vom Recht ausgeschlossenen<br />
Personen, für die Kirche eine große Herausforderung,<br />
der sie sich stellen muss.<br />
Ihre Identität, ihr Auftrag und ihre Glaubwürdigkeit<br />
stehen hier auf dem Spiel“ 1<br />
Es ist auch eine gute Nachricht, dass zu<br />
Beginn des neuen Jahres eine politische<br />
Entscheidung die Arbeit von <strong>refugio</strong> ein<br />
wenig erleichtert hat. Ich spreche von<br />
der Lockerung der Residenzpflicht für<br />
Asylbewerber, die die Landesregierung<br />
vorgenommen hat. Diese Entscheidung<br />
hat direkt Einfluss auf die Arbeit mit von<br />
<strong>refugio</strong> stuttgart betreuten Menschen.<br />
Denn für einen Menschen, der existentielle<br />
Verfolgung erlebt hat, ist es ein<br />
großer Wert, etwas mehr Freiheit leben<br />
zu dürfen, also ganz konkret z. B. ohne<br />
Nachfrage bei Behörden Verwandte oder<br />
Landsleute in Nachbarkreisen besuchen<br />
zu können. Dass darüber hinaus freilich<br />
noch vieles mehr zu verbessern ist, dafür<br />
steht <strong>refugio</strong> stuttgart ein. Und auch eine<br />
weitere Maßnahme der Landesregierung<br />
ist zu begrüßen: Im Bundesrat und in der<br />
Innenministerkonferenz strebt sie eine<br />
neue gesetzliche, an humanitären Kriterien<br />
ausgerichtete Bleiberechtsregelung<br />
an. Mit meinem Bruder im Bischofsamt,<br />
Landesbischof Dr. h. c. July trete ich dafür<br />
ein, dass humanitäre Grundsätze vor<br />
wirtschaftlichen Fragen stehen. Dies gilt<br />
vor allem für Kinder und für traumatisierte,<br />
alte und kranke Menschen, die keine<br />
ausreichenden eigenen Einkünfte erzielen<br />
können.<br />
Ich gratuliere Ihnen, dass es erstmalig gelungen<br />
ist, ab 2012 eine Unterstützung<br />
des Landes für die fünf Psychosozialen<br />
Zentren im Land zu erhalten. Ich verste-<br />
1 ...und der Fremdling, der in deinen Toren ist.“<br />
Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen<br />
durch Migration und Flucht (1997)<br />
he dies auch als einen Beleg für Ihre über<br />
Jahre überzeugende fachliche Arbeit. Sie<br />
stehen mit dem, was sie tun, auf der Seite<br />
Jesu. Und es ist kein Zufall, dass Gottes<br />
Sohn selbst unter der Folter starb. Damit<br />
hat er sich zutiefst solidarisiert mit allen<br />
leidenden Menschen. Eine Kirche, die<br />
diese Solidarisierung mit den auf welche<br />
Weise auch immer Gefolterten vergessen<br />
würde, würde ihren zentralen Auftrag<br />
leugnen: „Freude und Hoffnung, Trauer<br />
und Angst der Menschen von heute, besonders<br />
der Armen und Bedrängten aller<br />
Art, sind auch immer Freude und Hoffnung,<br />
Trauer und Angst der Jüngerinnen<br />
und Jünger Christi“, so erinnert uns das<br />
Zweite Vatikanische Konzil (in Gaudium et<br />
spes). Für die konkrete, oft nicht einfache<br />
Arbeit der Psychosozialen Zentren bin ich<br />
als Bischof daher von Herzen dankbar!<br />
Zu diesen ganz konkreten Orten der<br />
Angst, aber auch der Hoffnung führt<br />
uns der vorliegende Arbeitsbericht: zu<br />
traumatisierten Frauen und einer angebotenen<br />
Hilfe durch eine entsprechende<br />
Therapieform, und zu den Menschen und<br />
ihrer Situation im Iran und in Afghanistan.<br />
Mögen Ihnen allen die vorliegenden Seiten<br />
Motivation sein, an der wichtigen<br />
Arbeit von <strong>refugio</strong> stuttgart auf Ihre je eigene<br />
Weise Anteil zu nehmen oder auch<br />
mitzuwirken. Dafür danke ich Ihnen herzlich<br />
und wünsche Ihnen Gottes reichen<br />
Segen.<br />
Dr. Gebhard Fürst<br />
Bischof<br />
<br />
02<br />
03<br />
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Traumaorientierte Therapie und Frauen<br />
Einleitung r<br />
anderer wichtiger Befund: Die Men-<br />
Anteil von Frauen als von Männern in<br />
höher liegen könnte, was allerdings<br />
selbstverständlich nicht ausschließt,<br />
„Männergruppe“.<br />
schen, die sich in der Betreuung und<br />
der Folge traumatischer Lebensereig-<br />
nur im Vermutungsraum bleibt, da das<br />
dass Frauen Täterinnen sein können<br />
Aber auch wenn man vom „Verursa-<br />
Zum neuen <strong>refugio</strong>-Projekt „Pharos<br />
Begleitung schwer traumatisierter<br />
nisse den Wunsch nach Hilfe äußert,<br />
Vermeidungsverhalten bei Männern<br />
und Männer Opfer, und das Trauma-<br />
cherprinzip“ absieht, steht in der hi-<br />
– Leuchtturmprojekt für traumatisier-<br />
Menschen engagieren, sind in der<br />
das Verhältnis beträgt etwa 6:4. Dies<br />
in der Regel ausgeprägter ist. Dies<br />
folgestörungen bei Tätern wie bei<br />
storischen Betrachtung eine sowohl<br />
te Flüchtlinge mit Schwerpunkt auf<br />
Mehrzahl Frauen; der Anteil liegt in<br />
bedeutet jedoch nicht, dass es ins-<br />
hat auch zur Folge, dass psychosoma-<br />
Opfern vorkommen). Die Täterseite<br />
sozial- als auch krankheitsbedingte<br />
Frauen und Mädchen“ liegt es nahe,<br />
den mir bekannten Bereichen meist<br />
gesamt mehr schwer traumatisierte<br />
tische Störungen bzw. Erkrankungen<br />
taucht, was wenig überrascht, relativ<br />
Traumatisierung von Frauen (z. B. Ma-<br />
den für sie spezifischen Umständen<br />
über 80 Prozent (dieses Verhältnis gilt<br />
Frauen gibt; in entsprechenden Un-<br />
bei Männern häufiger als somatogen,<br />
selten im Zusammenhang mit einer<br />
ssenvergewaltigungen,Trümmerfrau<br />
hinsichtlich Krankheitsentstehung und<br />
selbstverständlich nur für die prak-<br />
tersuchungen sind die Anteile ziemlich<br />
d.h., als körperlich verursacht einge-<br />
Behandlungsindikation auf, obwohl<br />
en, Geburtskomplikationen usw.) in<br />
damit auch Krankheitsbewältigung<br />
tische Tätigkeit; hinsichtlich Publikati-<br />
gleich. Insofern stellt sich die Frage,<br />
schätzt werden, und bei Frauen eher<br />
dies mit großer Sicherheit oft sehr<br />
einem gewissen Kontrast zur Trauma-<br />
nach zu gehen. Inhaltlich stellt dies<br />
onen ist es eher ausgeglichen, wenn<br />
inwieweit die Traumaverarbeitung bei<br />
als psychogen, seelisch verursacht.<br />
erforderlich wäre; allein, hier stehen<br />
tisierung der Männer im Krieg, in der<br />
teilweise eine sinngemäße Fortset-<br />
nicht zu Gunsten der Männer verscho-<br />
Männern und Frauen unterschiedlich<br />
entweder Schuldgefühle und Selbst-<br />
rivalisierenden<br />
Auseinandersetzung<br />
zung des letzten Projektes dar, das<br />
ben).<br />
verläuft und daher auch einen unter-<br />
Unterschiedliche Schwerpunkte trau-<br />
hass oder auch fortdauernde narziss-<br />
und den daraus enstandenen Folgen<br />
sich insbesondere mit Kindern und Ju-<br />
Dabei wird allen dargestellten Beo-<br />
schiedlichen Umgang sinnvoll erschei-<br />
matischer Erfahrung<br />
tische Rechtfertigungen im Vorder-<br />
im Sinne von Verstümmelung, Sklaven-<br />
gendlichen beschäftigte. Wieder geht<br />
bachtungen die Tatsache zugrunde<br />
nen lässt.<br />
grund. Auch damit verstärkt sich das<br />
haltung oder Kriegsgefangenschaft<br />
es um eine Differenzierung, welche<br />
gelegt, dass sie allenfalls teilweise auf<br />
Ein Blick auf die Psychotherapie-For-<br />
Die Zugehörigkeit entweder zu den<br />
Bild, dass die sich eher in der Rolle der<br />
(etwaige tödliche Folgen bleiben hier<br />
Form der Unterstützung oder auch<br />
dem biologischen Geschlecht, über-<br />
schung im Allgemeinen zeigt, dass<br />
Frauen oder zu den Männern ist eine<br />
Geschädigten erlebenden Menschen,<br />
natürlich unberücksichtigt).<br />
Behandlung für traumatisierte Men-<br />
wiegend aber auf der soziokulturellen<br />
es, was die Geschlechterdifferenz<br />
der wesentlichsten Bestimmungsfak-<br />
und dies sind dann eben überwiegend<br />
Bei Frauen scheint die bewusste Ver-<br />
schen mit unterschiedlichen Lebens-<br />
Prägung („gender“) beruhen.<br />
angeht, noch verhältnismäßig wenig<br />
toren unserer seelischen, sozialen und<br />
Frauen, häufiger nach Behandlung su-<br />
lusterfahrung mehr im Zentrum zu<br />
voraussetzungen angemessen ist.<br />
verlässliche Orientierung gibt. Allge-<br />
körperlichen Existenz. Dies gilt sowohl<br />
chen als diejenigen, bei denen aktive<br />
stehen als dies für Männer in der Re-<br />
Die Fragestellung erweist sich jedoch<br />
Gibt es eine geschlechtsspezifische<br />
mein wird beobachtet, dass Frauen<br />
im Bereich eines zufriedenstellend<br />
Schuldvorstellungen<br />
vorherrschen;<br />
gel wahrnehmbar ist. Dabei fällt auf,<br />
als sehr viel komplexer, als dies hin-<br />
Traumaverarbeitung?<br />
ihre Krankheitserscheinungen anders<br />
gelebten Lebens, wie selbstverständ-<br />
letztere weichen auch dann einer Be-<br />
dass der Verlust wichtiger Bezugsper-<br />
sichtlich der Problematik der Bedin-<br />
wahrnehmen als Männer und dazu<br />
lich auch im Rahmen eines Lebens,<br />
handlung eher aus, wenn sie selbst in<br />
sonen (Eltern, Ehemann, Kinder) von<br />
gungen Jugendlicher auf der Hand<br />
Wenn man die Bewältigungsformen<br />
tendieren, sie deutlicher zu formulie-<br />
das von schweren Verletzungen und<br />
hohem Maße geschädigt sind.<br />
Frauen häufiger depressiv verarbeitet<br />
liegt; hier gibt es im Grunde auch<br />
traumatisierter Frauen betrachtet,<br />
ren, und auch häufiger medizinische<br />
Bedrohungen gekennzeichnet ist. Es<br />
Insgesamt erscheint es jedoch nicht,<br />
wird, während Männer solche Ereig-<br />
rechtliche Vorgaben, die für den Um-<br />
kann dies natürlich nur sinnvoll sein auf<br />
bzw. therapeutische Hilfe in Anspruch<br />
entspricht der historischen Erfahrung,<br />
dass es eine zuverlässige Spezifität<br />
nisse häufiger als eine Kränkung ihres<br />
gang mit Kindern und Jugendlichen ei-<br />
dem Hintergrund der Abgrenzung von<br />
nehmen. Das, was damit für die Psy-<br />
dass die Verletzungen, die Frauen zu-<br />
im Sinne einer „männlichen“ oder<br />
Selbstwertgefühls verarbeiten.<br />
gentlich klar sind, auch wenn sie natür-<br />
den Bewältigungsformen traumatisier-<br />
chotherapie im Allgemeinen ausge-<br />
gefügt werden bzw. von Frauen er-<br />
„weiblichen“ Verarbeitung schwe-<br />
Als zentrales Motiv des Überlebens<br />
lich nicht immer eingehalten werden.<br />
ter Männer; inwieweit es Unterschiede<br />
sagt wird, lässt sich auch im Bereich<br />
lebt werden, anders betont sind, als<br />
rer traumatischer Ereignisse gibt. Es<br />
wird bei Frauen häufig die Sorge für<br />
Glücklicherweise gibt es keine recht-<br />
in der Struktur posttraumatischer Er-<br />
der posttraumatischen Erkrankungen<br />
diejenigen Verletzungen, die Männer<br />
handelt sich vielmehr um einen Über-<br />
Kinder berichtet. Das kommt auch bei<br />
lichen Unterschiede für den Umgang<br />
krankungen bei Frauen und Männern<br />
beobachten. Die tatsächliche Inan-<br />
erfahren. Bei den Frauen steht das<br />
gangsraum, der zwar vom Geschlecht<br />
vielen Männern vor; insgesamt schei-<br />
mit traumatisierten Frauen oder Män-<br />
und damit auch in der Überlegung zu<br />
spruchnahme von Behandlungen (also<br />
mehr oder minder passive Erdulden<br />
des Betroffenen beeinflusst wird, aber<br />
nen Männer aber eher auch durch<br />
nern (auch wenn das nicht immer be-<br />
einer möglicherweise geeigneten Be-<br />
nicht nur Erstanmeldungen) dürfte<br />
im Vordergrund, bei den Männern<br />
gleichzeitig von vielen anderen Um-<br />
politisch-ideologische Motive in ihrem<br />
achtet wird). Das schließt selbstver-<br />
handlungsweise gibt, ist sicherlich ein<br />
ungefähr im Verhältnis von Frauen zu<br />
häufiger eine Kampfsituation. Hinzu<br />
ständen (Herkunft, Familienstruktur,<br />
Überleben stabilisiert zu sein.<br />
ständlich nicht aus, dass für Frauen<br />
wichtiges Gebiet, über das allerdings<br />
Männern zwei Drittel zu einem Drit-<br />
kommt, dass, wie aus Statistiken leicht<br />
soziale Gruppe, etc.) geprägt wird.<br />
andere Zusammenhänge im Vorder-<br />
noch wenig geforscht worden ist.<br />
tel betragen. Dies gilt ungeachtet der<br />
ersichtlich ist, die Männer eher auf der<br />
Dennoch gibt es, zumindest statistisch<br />
grund stehen könnten als für Männer.<br />
Aus unseren vorliegenden Daten er-<br />
Tatsache, dass die Anzahl traumatisier-<br />
Täterseite stehen, die Frauen eher<br />
betrachtet, deutlich Unterschiede zwi-<br />
Nicht vergessen sei außerdem ein<br />
gibt sich, dass ein etwas größerer<br />
ter Männer insgesamt vielleicht sogar<br />
auf der Seite der Geschädigten (was<br />
schen der „Frauengruppe“ und der<br />
04<br />
05<br />
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Unterschiedliche Krankheitsbilder<br />
dazu gezwungen“.<br />
sonen sein). Die zugrundeliegende<br />
Weise ausgeprägt, als es bei Männern<br />
Selbsthilfegruppen oder therapeutisch<br />
ten, bzw. werden je nach Konstellation<br />
Entsprechend den in manchem unterschiedlichen<br />
Entstehungsbedingungen<br />
und Verarbeitungsformen<br />
traumatischer Erfahrungen kommt<br />
es auch zu unterschiedlichen Krankheitsbildern<br />
und Diagnosen. Im Vordergrund<br />
der Symptomatik im Verlauf<br />
chronifizierter posttraumatischer<br />
Erkrankungen stehen sowohl Angststörungen<br />
wie depressive Störungen;<br />
hinzu kommen Störungen der Affekt-<br />
Modulation, Störungen der Denkfähigkeit<br />
und paranoide Entwicklungen.<br />
Zumeist überwiegen bei Frauen die<br />
Formen einer mehr oder minder depressiven<br />
Abwehr des ertragenen Leidens,<br />
verbunden mit einer Verinnerlichung<br />
der Anklagen oder Vorwürfe<br />
mit all den daraus folgenden Schamgefühlen.<br />
Hinsichtlich der Schuldgefühle<br />
gibt es auch eine unterschiedliche<br />
Gewichtung; bei Frauen geht es<br />
weitaus häufiger um die Bewältigung<br />
der Vorstellung, Schuld daran zu sein,<br />
Opfer (z. B. einer Misshandlung) geworden<br />
zu sein. Der Versuch einer<br />
Fantasie: „Ich bin nicht schuld an dem,<br />
was mir geschehen ist“, wird oft ein<br />
zentraler Punkt der Auseinandersetzung<br />
von Frauen mit ihrer Traumatisierung.<br />
Selbstverständlich gilt dies<br />
nicht für alle Frauen; bei nicht wenigen<br />
Wie es sich in der allgemeinen Psychotherapieforschung<br />
auch zeigt, sind<br />
die verinnerlichend-depressiven Abwehrstrukturen<br />
bei Frauen häufiger<br />
als die aggressiv nach außen gerichteten.<br />
Auch die Neigung, Spannungen<br />
dadurch zu bewältigen, indem man<br />
sich mit dem scheinbaren Recht des<br />
Angreifers identifiziert, ist bei Frauen<br />
häufiger zu beobachten. Dies hat<br />
wahrscheinlich zur Folge, dass Rachewünsche<br />
bei Frauen seltener eine<br />
Rolle spielen, stattdessen öfter Wiedergutmachungs-Erwartungen.<br />
Hinsichtlich der körperlichen Symptomatik<br />
stehen bei beiden Geschlechtern<br />
Kopfschmerzen und Rückenschmerzen<br />
im Vordergrund (etwa<br />
90%). Bei Frauen scheinen darüberhinaus<br />
Gelenkbeschwerden und Unterbauchschmerzen<br />
sowie Hyperventilationsbeschwerden<br />
eine besondere<br />
Rolle zu spielen.<br />
Bewältigungsmöglichkeiten<br />
Die spontan zu beobachtenden Bewältigungsformen<br />
bei Frauen tendieren<br />
häufig in Richtung von Selbstentwertung,<br />
wobei diese Selbstentwertung<br />
dann in Verbindung steht mit der Annahme,<br />
sich für jemand anderen zu<br />
opfern: Wenn Kinder vorhanden sind,<br />
unbewusste Fantasie ist wohl, sich<br />
selbst zu helfen, indem man einem anderen<br />
hilft („altruistische Abtretung“).<br />
Oft steht als zentrales Selbsterleben<br />
im Vordergrund, die Fähigkeit, für<br />
andere zu sorgen zu entwickeln, und<br />
die Fähigkeit, vieles zu erdulden, zu<br />
idealisieren. Nicht selten führt diese<br />
Bewältigungsform zu unerträglichen<br />
Überforderungen, die dann zu psychischer<br />
oder auch körperlicher Dekompensation<br />
führen. Die Möglichkeiten<br />
einer aggressiven, handelnden Bewältigung<br />
der traumatischen Erfahrungen<br />
tritt demgegenüber bei Frauen oft in<br />
den Hintergrund, vielleicht auch aus<br />
der oft in der Kindheit beginnenden<br />
Erfahrung heraus, damit ohnehin keinen<br />
Erfolg zu haben.<br />
Helfende Lebenserfahrungen<br />
Häufig taucht im Zusammenhang mit<br />
den Bewältigungsmöglichkeiten die<br />
Frage nach den „Ressourcen“ auf.<br />
Hierzu sind natürlich in erster Linie<br />
die persönlichen Fähigkeiten einer<br />
Persönlichkeit zu rechnen, über die<br />
sie, sei es durch Begabung, sei es im<br />
Laufe ihrer Entwicklung erworben,<br />
verfügen könnte – wenn sie es eben<br />
könnte. Das, was in neuerer Zeit als<br />
„Resilienz“ bezeichnet wird, d. h. die<br />
wahrnehmbar ist. Hier spielt es eine<br />
erhebliche Rolle, dass viele Frauen, die<br />
aus einem patriarchalisch geprägten<br />
Umfeld stammen (z. B. Kurdistan, Nigeria,<br />
aber auch vergleichbare soziale<br />
Gemeinschaften in Mitteleuropa), ihr<br />
Selbstwertgefühl nicht daraus beziehen,<br />
dass sie selbst etwas zu vollbringen<br />
imstande sind, sondern daraus, für<br />
eine andere, insbesondere männliche<br />
Bezugsperson etwas zu bewirken (sehr<br />
häufig für männliche Kinder). Dies führt<br />
dazu, dass bei den Betroffenen die Widerstandsfähigkeit<br />
so lange erhalten<br />
bleibt, wie das Bewusstsein möglich<br />
ist, für eine entsprechende wichtige<br />
Beziehung handeln zu können und dafür<br />
geschätzt zu werden. Wenn dies (z.<br />
B. durch Verlust, Krankheit, Isolation<br />
o. ä.) unmöglich wird, bricht der innere<br />
Widerstand zusammen.<br />
Therapeutische Überlegungen<br />
Aufgrund der geschilderten Unterschiede<br />
und Besonderheiten in der<br />
Verarbeitung traumatischer Erfahrungen<br />
bei Frauen ergeben sich, auch<br />
wenn dies bislang noch nicht hinreichend<br />
untersucht ist, mehrere Überlegungen,<br />
die hilfreich sein könnten.<br />
Zum einen scheint es, dass Frauen eine<br />
meist sehr viel entwickeltere Fähigkeit<br />
geleiteten Gruppen, eher und mehr<br />
profitieren, als dies für Männer gilt.<br />
Thematisch steht dabei immer wieder<br />
die Aufhebung der im Schamgefühl gegründeten<br />
Isolation im Vordergrund,<br />
was bei Männern sehr viel weniger<br />
ausgeprägt ist. Auch die Bearbeitung<br />
der Wertlosigkeitsgefühle spielt in der<br />
Regel im therapeutischen Umgang mit<br />
traumatisierten Frauen eine größere<br />
Rolle, da sie bereits aus ihrer Kindheit<br />
entsprechende Grunderfahrungen vermittelt<br />
bekommen haben (dies schließt<br />
natürlich nicht aus, dass ähnliches auch<br />
bei männlichen Kindern passiert).<br />
Insgesamt lässt sich zwar feststellen,<br />
dass die therapeutische Arbeit mit<br />
Frauen und Männern nicht grundsätzlich<br />
verschieden ist; die Schwerpunkte<br />
sind aber doch oft unterschiedlich. Die<br />
Halt gewährende Funktion der sozialen<br />
Gruppe ist in der Regel bei Frauen ausgeprägter<br />
und leichter erreichbar, und<br />
die Funktion der Beziehungsorganisation<br />
über Solidarität ausgeprägter. Der<br />
Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft<br />
aufgrund schambetonter Ereignisse<br />
wird häufiger als bei Männern<br />
fantasiert, und ist daher auch genauer<br />
zu beachten.<br />
Die sehr häufige Überlegung, ob sich<br />
jeweils männliche oder weibliche BehandlerInnen<br />
besser eignen, lässt sich<br />
unterschiedliche Bereiche leichter bearbeitbar.<br />
Dies gilt jedoch nur insoweit,<br />
als es eine freiwillige Auswahl gibt. Ich<br />
kenne sowohl Fallgeschichten, in denen<br />
eine Frau, die sich primär von ihrer<br />
Mutter geschädigt erlebt hat, nur zu<br />
einem Mann in Therapie wollte, wie den<br />
umgekehrten Fall, dass eine Frau in Erinnerung<br />
an männliche Gewalt nur nach<br />
einer Frau als Behandlerin gesucht hat.<br />
Zentral erscheint mir aber, unabhängig<br />
davon, ob Frau oder Mann eine Behandlung<br />
beginnen, dass die extreme<br />
Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit des<br />
seelischen Bereiches des betroffenen<br />
Menschen wahrgenommen wird, und<br />
das schließt die geschlechtliche Identität<br />
und ihre mögliche Verletztheit mit<br />
ein. Hier kann häufig eine Gruppe tatsächlich<br />
einen gewissen Schutz bedeuten,<br />
der auch über Identifikationsprozesse<br />
anhalten kann. Auf der anderen<br />
Seite führen Gruppenprozesse unter<br />
Umständen dazu, dass bestimmte, besonders<br />
traumatische Ereignisse nicht<br />
sprachlich ausgedrückt werden können.<br />
Gerade für Frauen aus sozial und<br />
kulturell traumatisierenden Lebensumständen<br />
kann die Möglichkeit, in dieser<br />
Hinsicht neue Erfahrungen zu machen,<br />
zu befreienden und manchmal sogar<br />
beglückenden Entwicklungen führen.<br />
kommt es auch zu der überwiegend<br />
männlichen Schuld-Problematik, „ich<br />
in der Regel für die Kinder, aber unter<br />
Umständen durchaus auch für ande-<br />
Fähigkeit, schwere Belastungen durch<br />
eine in der Lebensgeschichte entstan-<br />
zur sozialen Einbindung haben, als<br />
dies bei traumatisierten Männern der<br />
nicht eindeutig beantworten. Soweit<br />
es Untersuchungen darüber gibt, las-<br />
Dr. med. Thomas Soeder<br />
bin nicht schuld an dem, was ich ge-<br />
re Menschen (es können auch Eltern<br />
dene Widerstandskraft zu bewälti-<br />
Fall ist. Dies hat u. a. zur Folge, dass<br />
sen sich in beiden Konstellationen gün-<br />
06<br />
tan habe, die Verhältnisse haben mich<br />
oder andere wesentliche Bezugsper-<br />
gen, ist bei Frauen oft in sehr anderer<br />
Frauen in der Regel von Gruppen, ob<br />
stige und ungünstige Effekte beobach-<br />
07<br />
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Das Schweigen der Frauen –<br />
Folge vielschichtiger Unterdrückung<br />
im Iran<br />
Vor 300 Jahren galt die Folter als ebenso<br />
notwendig wie heute die Gewalt.<br />
Wie die Folter sehr bald zu den gewünschten<br />
Ergebnissen führte, so tut<br />
es heute die Gewalt.<br />
Leo N. Tolstoi<br />
Unter den „gewünschten Ergebnissen“<br />
steht im Iran das Schweigen der<br />
Frau an vorderer Stelle; dieses Ziel<br />
versucht man mit Gewalt und Folter<br />
zu erreichen.<br />
Ich möchte mit meinem Bericht die Situation<br />
der Frauen ansprechen, die im<br />
Iran misshandelt, gefoltert und hierbei<br />
körperlich als auch seelisch vergewaltigt<br />
worden sind.<br />
Frauen aus Iran, die zu <strong>refugio</strong> stuttgart<br />
kommen und Rat und Hilfe suchen,<br />
bezeugen die Unterdrückung und<br />
Diskriminierung, die sie in ihrem Herkunftsland<br />
erfahren haben. Man sieht<br />
den Opfern nicht nur die äußerlichen<br />
Wunden der Gewalt und Folter an,<br />
sondern bemerkt auch die Wunden<br />
ihres Inneren.<br />
Ungleichheit und Unterdrückung von<br />
Frauen sind sicherlich in vielen <strong>Teil</strong>en<br />
der Welt anzutreffen. Die Art dieser<br />
Menschenrechtsverletzungen und deren<br />
Umgang mit ihnen sind teilweise<br />
jedoch sehr unterschiedlich. So ist das<br />
Verlangen nach Gleichstellung geradezu<br />
aussichtslos, zumal iranische<br />
Frauen Unterdrückung oft von mehreren<br />
Seiten erfahren: aus religiöser<br />
und rechtlicher Sicht werden sie im<br />
Vergleich zu Männern – beispielsweise<br />
bei Gerichtsverhandlungen - nur als<br />
ein „halber Mensch“ angesehen. Auch<br />
wagen Frauen, die dem Herrn im Haus<br />
traditionell stets untergeordnet sind,<br />
schon aus Schamgefühl nicht, sich zu<br />
wehren. Als ein Objekt des Mannes<br />
instrumentalisiert, müssen Frauen<br />
ihm gehorsam, behutsam und schweigend<br />
„gehören“. Gerade deshalb ist<br />
sexualisierte, verbale und körperliche<br />
Gewalt so häufig und wird selten als<br />
unmoralisch wahrgenommen.<br />
Auch in öffentlicher bzw. rechtlicher<br />
Hinsicht wird die Unterdrückung<br />
der Frau im Iran deutlich. So ist dieses<br />
Land der einzige Staat der Welt,<br />
in dem die Art der Bekleidung von<br />
Frauen als Frage der „nationalen Sicherheit“<br />
betrachtet wird und mit offizieller<br />
Anordnung Frauen in der Öffentlichkeit<br />
gehängt werden.<br />
Bisher verhinderte die sklavenähnliche<br />
Lebenssituation iranischer Frauen, die<br />
einer Vielzahl unterschiedlicher Formen<br />
von Gewalt ausgesetzt sind, dass<br />
„das Fass überlief“, d.h. dass es zu einer<br />
großen Revolte der Frauen im Iran<br />
kam. Hierbei ist die Bedeutung von<br />
Einschüchterung und Erniedrigung<br />
der Bürger als Folge der sozialen, wirtschaftlichen<br />
und religiösen Unterdrückung<br />
durch die im Iran herrschende<br />
politische Macht immens. Solche Missachtungen<br />
der Menschenrechte richten<br />
sich gegen Angehörige verschiedener<br />
oppositioneller Gruppierungen,<br />
rend ihrer Flucht wurde sie zeitweise<br />
von ihrem Kind getrennt, was bei ihr<br />
zusätzliche schwere Ängste ausgelöst<br />
hatte. Bei der ersten Vorstellung in der<br />
Kontaktstelle von <strong>refugio</strong> stuttgart litt<br />
sie an einer massiven Traumafolgestörung.<br />
Seit Verlassen des Irans hatte sie<br />
zudem 25% ihres Körpergewichts verloren,<br />
weshalb sie sich kaum noch aufrecht<br />
halten konnte. Im Iran hatte sie<br />
wegen einer von extremer Gewalt geprägten<br />
Ehe, zu der sie im Alter von 14<br />
Jahren gezwungen wurde, bei Gericht<br />
mehrmals die Scheidung beantragt,<br />
was jedoch abgelehnt worden war.<br />
Als sie später außerehelich schwanger<br />
wurde und ihr Mann von der Beziehung<br />
erfuhr, wurde sowohl sie als auch<br />
das Kind von ihm misshandelt und Frau<br />
A. wegen Ehebruch angezeigt. Der offiziellen<br />
Anklage und dem möglichen<br />
Gerichtsurteil der Steinigung entzog<br />
sie sich zusammen mit dem Kind durch<br />
ihre Flucht. Als sie feststellen musste,<br />
dass ihr Ehemann auch in Deutschland<br />
nach ihr suchen ließ, verstärkten sich<br />
ihre steten Ängste. Erst die Zuerkennung<br />
eines gesicherten Aufenthalts,<br />
der Auszug aus der Flüchtlingsunterkunft<br />
und die psychotherapeutische<br />
Behandlung durch eine mit traumatisierten<br />
Frauen erfahrene Therapeutin<br />
führten zu einer ersten innerseelischen<br />
Beruhigung.<br />
Die leidvollen Erfahrungen von Frau<br />
A. sind kein Einzelfall. Immer häufiger<br />
werden in den letzten Jahren ähnliche<br />
Lebensgeschichten in der Kontaktstelle<br />
von <strong>refugio</strong> stuttgart berichtet,<br />
denen in diesem Land Inhaftierung<br />
und Folter drohen, und sie betreffen<br />
sowohl Frauen als auch Männer. Sie<br />
sind der Versuch, nicht nur die Frauen,<br />
sondern das Volk zum Schweigen zu<br />
bringen. Zur besonderen Situation der<br />
Frauen im Iran gehört jedoch, dass<br />
diese auf ihren Schultern nicht nur die<br />
Lasten der politischen Macht, sondern<br />
auch der gesellschaftlich-traditionellen<br />
Meinung und des Patriarchats<br />
zu tragen haben.<br />
Mit dem rechtlichen Zwang, gemäß<br />
dem Scharia-Gesetz leben zu müssen,<br />
erfährt die Frau im Iran massive<br />
Benachteiligung. Während Männern<br />
das Recht auf Polygamie zugesprochen<br />
wird und diese als Einzige, wann<br />
immer sie wollen, eine Scheidung einreichen<br />
dürfen, wurde für Frauen das<br />
Heiratsalter auf 13 Jahre herabgesetzt.<br />
Auf diese Weise fand auch eine<br />
Legalisierung sexuellen Missbrauchs<br />
von Mädchen statt.<br />
Die miserable rechtliche Situation der<br />
Frauen im Iran und die bestehenden<br />
sozialen Realitäten konnten den Willen<br />
vieler Frauen nicht brechen und deren<br />
Aufbegehren auf der Suche nach<br />
Freiheit nicht zunichte machen. Wie<br />
der folgende Fall jedoch verdeutlicht,<br />
vermag für einige Frauen nur noch die<br />
Flucht einen Ausweg darstellen, der<br />
massiven Unterdrückung in diesem<br />
Land zu entkommen:<br />
Die 25 jährige Frau A ist allein erziehende<br />
Mutter eines 3-jährigen Kindes.<br />
Aus Angst vor einer drohenden Todesstrafe<br />
verließ sie den Iran. Wähwo<br />
der Anteil an Klientinnen und Klienten<br />
aus dem Iran von 3,9% im Jahr<br />
2005 auf 9,9% im Vorjahr, und - nach<br />
der neuesten Statistik von Mai 2012 -<br />
auf 10,3% angestiegen ist. Während<br />
die Zahl iranischer Frauen, die auf<br />
der Flucht vor Unterdrückung nach<br />
Deutschland kommen, kontinuierlich<br />
zunimmt, wird bei vielen von ihnen<br />
eine doppelte Bedrohung deutlich:<br />
diese Frauen, die zumeist verheiratet<br />
sind, aus der Mittelschicht stammen,<br />
gut gebildet und zum <strong>Teil</strong> auch politisch<br />
aktiv sind, begehren die Anerkennung<br />
ihrer Rechte sowohl in der<br />
Familie als auch im öffentlichen Leben.<br />
In jedem dieser Bereiche sind sie massiven<br />
Repressionen ausgesetzt.<br />
Der folgende Fall verdeutlicht beispielhaft<br />
Repression und deren Folgen,<br />
die eine Frau im Iran zu erleiden<br />
hat, sollte sie nach der Anerkennung<br />
ihrer Rechte verlangen.<br />
Frau S. ist eine energische, zierliche<br />
33jährige Frau, die sich mit schweren<br />
Ängsten und psychophysischer<br />
Erschöpfung im Rahmen einer Traumafolgestörung<br />
bei <strong>refugio</strong> stuttgart<br />
vorstellte. Sie ist Musikerin und war<br />
in Teheran nach Aufführung regimekritischer<br />
Musik vor dem Publikum<br />
festgenommen und während ihrer Inhaftierung<br />
gefoltert worden. Durch<br />
gezielte Schläge ins Gesicht hatte<br />
sie unter der Folter das Sehvermögen<br />
auf ihrem rechten Auge (an dem<br />
zuvor eine deutlich bessere Sehkraft<br />
bestanden hatte) eingebüßt. Nach<br />
mehrfachen Todesdrohungen hatte<br />
sie schließlich mit ihrer Familie den<br />
Iran verlassen und war in Deutschland<br />
später vollständig erblindet. Während<br />
sie sich bei <strong>refugio</strong> stuttgart in<br />
psychotherapeutischer Behandlung<br />
befand, erhielt sie eine Aufenthaltserlaubnis.<br />
Sie bekam eine Tochter und<br />
die Familie lebt heute gut integriert in<br />
<strong>Stuttgart</strong>. Frau S. ist weiterhin künstlerisch<br />
aktiv und macht gleichzeitig eine<br />
Ausbildung in Blindengrundtechniken<br />
(EDV und Punktschrift, Kurzschrift in<br />
Deutsch und Englisch). Inzwischen erreichte<br />
sie innerseelische Beruhigung<br />
und ebnete sich mit großer Motivation<br />
und Kraft einen Weg, auf dem sie derzeit<br />
weitere Karriereschritte macht.<br />
Der Lebensweg von Frau S. weist auf<br />
wichtige Anliegen und Aufgabenbereiche<br />
von <strong>refugio</strong> <strong>Stuttgart</strong> hin, Klientinnen<br />
und Klienten professionell zu<br />
unterstützen und sie unter Nutzung<br />
ihrer eigenen Ressourcen aus dunklen<br />
Tiefphasen auf neue „ebene“ Wege zu<br />
begleiten, die sie in bessere Lebensverhältnisse<br />
mit deutlich mehr Ruhe<br />
führen.<br />
Anahita Schafaie<br />
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Die Lage der Frauen in<br />
Afghanistan<br />
Seit über 30 Jahren tobt Krieg in Afghanistan.<br />
Wirtschaft und Infrastruktur<br />
des Landes liegen am Boden.<br />
Schulen, Ausbildungsstätten, Krankenhäuser<br />
und Verwaltung leiden unter<br />
der Auseinandersetzung. Etwa ein<br />
Drittel der afghanischen Bevölkerung<br />
befindet sich derzeit auf der Flucht,<br />
hauptsächlich in die Anrainerstaaten<br />
Pakistan und Iran; auch in Deutschland<br />
stellt Afghanistan derzeit den größten<br />
Anteil an Flüchtlingen.<br />
Wie immer sind Frauen die Hauptverlierer<br />
des Krieges. Die Zahl der<br />
Selbstmorde bei afghanischen Frauen<br />
ist dramatisch gestiegen. Viele glauben,<br />
dass ihnen nur noch der Suizid<br />
als Fluchtmöglichkeit vor Armut oder<br />
Krieg, vor ehelichem Missbrauch oder<br />
familiärer Gewalt bleibt. Allein im Jahr<br />
2011 haben sich über 2300 Frauen das<br />
Leben genommen.<br />
Erhebliches Leid bereits im Kindesalter<br />
In Afghanistan wachsen Kinder, der<br />
UN-Organisation Unicef zufolge, unter<br />
den weltweit schlimmsten Lebensbedingungen<br />
auf. Drei Jahrzehnte<br />
Bürgerkrieg und die sich verschlechternde<br />
Sicherheitslage hätten es für<br />
Kinder immer schwerer gemacht, auch<br />
nur ihr nacktes Überleben zu sichern,<br />
sagte Unicef-Regionaldirektor Daniel<br />
Toole der Nachrichtenagentur Reuters<br />
im März 2010. Neben sexuellem<br />
Missbrauch litten Kinder häufig auch<br />
an unzureichender Ernährung. Laut<br />
aktueller Unicef-Statistiken stirbt jedes<br />
sechste afghanische Kind noch vor<br />
dem fünften Geburtstag - davon ein<br />
Großteil bereits im ersten Lebensjahr<br />
– meist als Folge armutsbedingter<br />
Krankheiten.<br />
Seit die USA 2003 begannen militärisch<br />
gegen die Taliban vorzugehen,<br />
habe sich die Sicherheitslage verschlechtert,<br />
so Toole. Tausende Zivilisten<br />
mussten ihre Häuser verlassen.<br />
Immer mehr Minderjährige fliehen alleine<br />
über die Grenzen Afghanistans.<br />
Manche schafften es bis nach Westeuropa.<br />
Verheiratungen mit oft doppelt so<br />
alten Männern<br />
Zwangsheirat von Kindern ist zwar<br />
gesetzlich verboten, aber keine Behörde<br />
verfolgt die Täter. So werden<br />
viele Mädchen gegen ihren Willen mit<br />
einem meist viel älteren Mann verheiratet.<br />
Wie Daniel Toole berichtete,<br />
habe er während eines Afghanistan-<br />
Besuchs in einer Frauenunterkunft ein<br />
neunjähriges Mädchen getroffen, das<br />
dazu gezwungen worden sei, einen<br />
ihr völlig fremden Mann zu heiraten.<br />
Nach Unicef-Daten von 2009 wurden<br />
43 Prozent der heute 20 bis 24 Jahre<br />
alten Frauen gegen ihren Willen vor<br />
ihrem 18. Geburtstag verheiratet. Die<br />
Ehemänner seien oft doppelt so alt<br />
und würden die minderjährigen Mädchen<br />
zum Sex zwingen.<br />
Der Religionsrat will Frauenrechte<br />
einschränken<br />
«Männer sind von fundamentaler Bedeutung,<br />
Frauen sind zweitrangig»,<br />
heißt es in neuen Richtlinien des mächtigen<br />
Religionsrates (Ulema) in Afghanistan.<br />
Hiernach sollen Männer ihre<br />
Frauen schlagen dürfen, wenn es das<br />
islamische Recht (Scharia) erlaubt. Wie<br />
in der Tageszeitung «Standard» betont,<br />
seien die Richtlinien zwar rechtlich nicht<br />
verpflichtend, aber viele Menschen in<br />
Afghanistan dürften sie als bindend ansehen.<br />
Dazu trägt bei, dass Präsident Hamid<br />
Karsai die Benimmregeln auf seiner<br />
Webseite veröffentlicht und sie gegen<br />
Kritik verteidigt hat. Gleichzeitig will<br />
der Ulema-Rat, dem 150 führende muslimische<br />
Geistliche angehören, auch<br />
die Bewegungsfreiheit von Frauen einschränken.<br />
So sollen Afghaninnen nur<br />
noch in Begleitung eines männlichen<br />
Verwandten öffentliche Transportmittel<br />
benutzen und verreisen. Auf<br />
Basaren, in öffentlichen Gebäuden,<br />
an Universitäten und am Arbeitsplatz<br />
soll eine strikte Geschlechtertrennung<br />
herrschen.<br />
Widersprüche in der Verfassung<br />
Die von den Ulema-Religionsgelehrten<br />
erstellten Richtlinien verstoßen gegen<br />
die Verfassung aus dem Jahr 2003.<br />
Diese entstand als Kompromiss zwischen<br />
Fundamentalisten und Liberalen<br />
und ist entsprechend widersprüchlich.<br />
So heißt es in Artikel 22: «Die Bürger<br />
Afghanistans, sowohl Frauen als auch<br />
Männer, haben vor dem Gesetz gleiche<br />
Rechte und Pflichten.» In Artikel<br />
3 heißt es hingegen: «In Afghanistan<br />
darf kein Gesetz dem Glauben und<br />
den Bestimmungen der heiligen Religion<br />
des Islam widersprechen». Frauenrechtsaktivistinnen<br />
hatten schon damals<br />
auf die Gefahr dieses Artikels für<br />
die Rechte der Frauen hingewiesen.<br />
Westliche Regierungen schweigen<br />
Das Schweigen der westlichen Regierungen,<br />
die ihren Einsatz in Afghanistan<br />
auch mit dem Kampf für Frauenrechte<br />
begründet hatten, wurde<br />
von der Afghanistan-Expertin Heather<br />
Barr von der Menschenrechtsorganisation<br />
Human Rights Watch heftig kritisiert.<br />
Zweifellos gab es für die Frauen<br />
in Afghanistan zaghafte Fortschritte,<br />
die zu den wenigen Erfolgen des<br />
Westens seit dem Sturz der Taliban<br />
gehören: Millionen Mädchen gehen<br />
heute wieder zur Schule, Frauen sind<br />
erwerbstätig und sitzen im Parlament.<br />
Dies hat den Fundamentalisten jedoch<br />
nie gepasst; sie versuchen seit langem,<br />
die Rechte der Frauen wieder<br />
zu beschneiden. So hat beispielsweise<br />
Anfang des Jahres das Informationsministerium<br />
alle TV-Sender aufgefordert,<br />
ihre Moderatorinnen dazu<br />
anzuhalten, ein Kopftuch zu tragen<br />
und sich nicht zu stark zu schminken.<br />
Letztes Jahr hat die Regierung ihren<br />
Gesetzesentwurf zur Verstaatlichung<br />
der Frauenhäuser, die den Konservativen<br />
und islamischen Geistlichen seit<br />
langem ein Dorn im Auge sind, erst<br />
nach internationalen Protesten zurückgezogen.<br />
Zugeständnisse an die Taliban?<br />
Einige der im Lande getroffenen Maßnahmen<br />
könnten der Beginn sein, sich<br />
von der Freiheit der Medien in Afghanistan<br />
zu verabschieden, befürchtete<br />
der Nachrichtenchef des Senders TV<br />
One, Sami Mehdi. Nach seiner Einschätzung<br />
könnten diese Entscheidungen<br />
auf die Friedensgespräche<br />
mit den Taliban zurückzuführen sein.<br />
Er ist nicht der einzige, der darin erste<br />
Schritte zurück in die Vergangenheit<br />
sieht - und gleichzeitig Schritte hin zu<br />
den Taliban.<br />
So gibt es seit kurzem weitere Anzeichen<br />
für Bestrebungen, in Afghanistan<br />
die Uhren zurückzudrehen:<br />
„Wir sollten akzeptieren, dass wir in<br />
einer islamischen Gesellschaft leben.<br />
Und diese Gesellschaft unterscheidet<br />
sich von einer nicht-islamischen.<br />
Ein Leben nach den Regeln des Islam<br />
wünschen wir für uns selbst sowie für<br />
unsere Frauen und Schwestern. Diese<br />
sind ja auch muslimisch“, verkündete<br />
Maulawi Chalikdad, ein Mitglied des<br />
einflussreichen Religionsrats, im Interview<br />
mit dem ARD-Hörfunkstudio<br />
Südasien. Im selben Atemzug machte<br />
der Mullah auch deutlich, was ein vorschriftsmäßiges<br />
Leben in der praktischen<br />
Umsetzung für ihn bedeutet:<br />
„Frauen dürfen nicht ohne eine männliche,<br />
enger verwandte Begleitperson<br />
reisen. Sie dürfen sich nicht in einem<br />
Büro oder in einer Umgebung aufhalten,<br />
in der sich Männer, mit denen sie<br />
nicht verwandt sind, befinden.“ Hingegen<br />
müssen Frauen „das Recht von<br />
Männern auf mehrere Ehefrauen“, wie<br />
im Koran beschrieben, respektieren.<br />
Böse Erinnerung an die Vergangenheit<br />
Dass Präsident Hamid Karsai diese<br />
Forderungen gegenüber Kritikern<br />
verteidigt, kann aus Sicht der Frauen<br />
nichts Gutes verheißen. Hatten sie<br />
doch in den vergangenen zehn Jahren<br />
Dinge erreicht, die zwar einem<br />
Taliban die Barthaare zu Berge stehen<br />
lassen, aber auch aus Sicht des Westens<br />
zu den größten Errungenschaften<br />
des Afghanistan-Einsatzes zählen:<br />
eine Vielzahl von Kandidatinnen trat<br />
zur letzten Parlamentswahl an; Mädchen<br />
lernen, Frauen lehren in Schulen<br />
und Universitäten. „Wir haben zehn<br />
Jahre lang gekämpft und so viel erreicht“,<br />
so die Parlamentarierin Fawzai<br />
Kofi. „Jetzt fangen sie an, einige der<br />
Grundrechte wieder zurückzunehmen:<br />
zusammen zu leben und zu arbeiten,<br />
sich frei in der Öffentlichkeit zu bewegen.“<br />
Dass sich Afghanistans Frauen<br />
um die Zukunft sorgen, ist der bösen<br />
Erinnerung an die Vergangenheit, an<br />
die Taliban-Ära geschuldet.<br />
Mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit<br />
darüber, dass Verhandlungen<br />
mit den Extremisten das einzige Mittel<br />
gegen eine erneut herannahende<br />
afghanische Katastrophe sind. Noch<br />
kann von echten Verhandlungen al-<br />
10 11<br />
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lerdings keine Rede sein, noch gibt<br />
es lediglich erste vorsichtige Vorgespräche.<br />
Doch afghanische Frauen befürchten<br />
schon jetzt, dass sie im Falle<br />
von Zugeständnissen an die Taliban<br />
am meisten zu leiden haben.<br />
Der Erlass des Religionsrates erinnert<br />
an die Tyrannei der radikalislamischen<br />
Taliban, Diese hatten gegen Frauen,<br />
die ihre rigiden Verbote - etwa von<br />
Musik, Film und Tanz - ignorierten,<br />
brutale Strafen verhängt und viele getötet.<br />
Nachdem US-Truppen im Jahr<br />
2001 die Herrschaft der Militanten<br />
beendet hatten, waren nach deren<br />
Vertreibung viele Frauen in Berufe zurückgekehrt.<br />
Auch konnten Mädchen<br />
- was in der Taliban-Ära verboten war<br />
- wieder zur Schule gehen.<br />
Seitdem die Taliban wieder auf dem<br />
Vormarsch sind und die westlichen<br />
Armeen ihren Rückzug angekündigt<br />
haben, kommt Präsident Karsai, der<br />
in Kabul noch erklärt hatte, der von<br />
ihm nun abgesegnete Kodex lege den<br />
Frauen „keinerlei Beschränkungen“<br />
auf, den Radikalen im Land immer weiter<br />
entgegen. .<br />
Spuren der Tortur<br />
Die heute 17-jährige Aisha zieht das<br />
große weiße Tuch, in das sie gehüllt<br />
ist, vom Kopf und zeigt Stellen, wo<br />
ihr dichtes schwarzes Haar nicht mehr<br />
wächst, weil die Kopfhaut so stark verletzt<br />
ist. Auch ihr Rücken und ihre Hände<br />
weisen Spuren der Tortur auf, die<br />
sie acht Jahre lang über sich ergehen<br />
lassen musste. Das Schlimmste scheinen<br />
indes die seelischen Wunden zu<br />
sein. Ruhig und gefasst berichtet die<br />
junge Paschtunin über das Martyrium<br />
im Hause ihres Ehemannes. Als sie<br />
von der Flucht aus dem Dorf erzählt,<br />
leuchten ihre Augen sogar kurz schelmisch<br />
auf. Dann kehren ihre Gedanken<br />
zur Mutter zurück, und Aisha kann die<br />
Tränen nicht mehr zurückhalten.<br />
Das Allerschlimmste sei gewesen, dass<br />
die Schwiegereltern ihr nicht erlaubt<br />
hätten, das Haus zu verlassen, nicht<br />
einmal, um ihre Mutter zu besuchen,<br />
erzählt sie mit erstickter Stimme. Ihre<br />
Mutter habe sie nicht verkaufen wollen.<br />
Doch sie sei machtlos gewesen<br />
gegenüber ihrem zweiten Mann und<br />
habe das Haus selbst nicht verlassen<br />
dürfen. Einmal habe die Mutter sie besucht<br />
und vergeblich versucht, ihr zur<br />
Flucht zu verhelfen. Danach sah Aisha<br />
sie nie wieder.<br />
Aishas Schicksal ist kein Einzelfall.<br />
Tausende von Frauen in Afghanistan<br />
haben ebensolche Geschichten zu erzählen.<br />
Geschichten von häuslicher<br />
Gewalt, von Vergewaltigungen, von<br />
Zwangsheiraten und vom Verkauf im<br />
Kindesalter. Aisha ist eine von wenigen,<br />
die ihren Peinigern entkommen<br />
sind. Als im Haus eine Uhr verloren<br />
gegangen sei, habe man sie des<br />
Diebstahls bezichtigt und sie fast zu<br />
Tode geprügelt, berichtet sie. In dieser<br />
Nacht habe sie Gott angefleht,<br />
sie vom Leben zu erlösen. Er habe<br />
sie nicht erhört, doch am nächsten<br />
Morgen habe das Tor zum Hof offen<br />
gestanden, und sie habe dies als Zeichen<br />
Gottes interpretiert, dass sie sich<br />
selbst helfen müsse.<br />
Die damals Zwölfjährige floh und<br />
rannte einem Dorfbewohner in die<br />
Arme, der Mitleid mit ihr hatte. Auch<br />
der lokale Polizeichef war erschüttert<br />
über das Elend des Mädchens, das<br />
aus Nase, Mund und Ohren blutete<br />
und zwei gebrochene Arme hatte. So<br />
wurde sie nicht nach Hause zurückgebracht<br />
oder ins Gefängnis geworfen ,<br />
wie es in Afghanistan in solchen Fällen<br />
üblich ist, weil die Ehre der Familie<br />
mehr zählt als das Leben einer Frau ,<br />
sondern landete in einem Spital. Von<br />
dort aus brachte sie ein Mitarbeiter<br />
der staatlichen Menschenrechtskommission<br />
nach Kabul, wo sie erst<br />
in einem Waisenhaus und später in<br />
einem Frauenhaus Unterschlupf fand.<br />
Versprechen einhalten<br />
Ein 96-seitiger Bericht von Human<br />
Rights Watch beschreibt beispielhaft<br />
Fälle von anhaltenden Menschenrechtsverletzungen<br />
in fünf Bereichen:<br />
Angriffe auf Frauen in der Öffentlichkeit,<br />
Gewalt gegen Frauen, Kinderund<br />
Zwangsheirat, fehlender Zugang<br />
zum Justizwesen und der fehlende<br />
Zugang zu höherer Schulbildung für<br />
Mädchen.<br />
„Die Lage der afghanische Frauen und<br />
Mädchen ist schrecklich und kann sich<br />
weiter verschlechtern. Während die<br />
ganze Welt momentan auf die neue Sicherheitsstrategie<br />
der Obama-Regierung<br />
blickt, ist es von großer Wichtigkeit,<br />
dass Frauen- und Mädchenrechte<br />
keine Lippenbekenntnisse bleiben und<br />
von der Regierung und den Geberländern<br />
nicht ans Ende der Prioritätenliste<br />
geschoben werden“, betont die<br />
Afghanistan-Expertin Rachel Reid in<br />
diesem Bericht.<br />
In den letzten Monaten verhandelt<br />
man mit den Taliban über einen Frieden<br />
in Afghanistan. Um den Forderungen<br />
der Taliban entgegen zu kommen<br />
werden immer mehr die Rechte<br />
der Frauen beschnitten. Die deutsche<br />
Amnesty-Generalsekretärin Monika<br />
Lüke warnt mit Recht davor, dass die<br />
Frauen nicht noch einmal Opfer der<br />
strategischen Verhandlungen werden<br />
dürfen.<br />
Najiba Maqsudi<br />
Jama Maqsudi<br />
12 13<br />
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