Druckversion (PDF) - Germanistik
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Sofioter Universität „St. Kliment Ohridski“<br />
Lehrstuhl für <strong>Germanistik</strong> und Skandinavistik<br />
Fachrichtung: <strong>Germanistik</strong><br />
Hausarbeit im Rahmen des Zyklus “Geschichte der deutschen Literatur“<br />
Leitung: Doz. Maja Razboinikova-Frateva<br />
Hauptthemen der expressionistischen Lyrik, untersucht an<br />
ausgewählten Beispielen<br />
vorgelegt von Vladimir Velikov<br />
Matrikel-Nr: 12728<br />
Sofia<br />
03.07.2006
Gliederung<br />
1. Einführung<br />
2. Die expressionistische Lyrik<br />
3. Themen der expressionistischen Lyrik<br />
3.1. Großstadt<br />
3.2. Weltende<br />
3.3. Krieg<br />
3.4. Der neue Mensch<br />
3.5. Themen als Ausdruck des Ich-Zerfalls<br />
4. Fazit
1. Einführung<br />
Der Expressionismus entstand 1905 in deutschen künstlerischen Kreisen und wurde als<br />
Sammelbegriff für die gegen den Naturalismus und Impressionismus gerichteten<br />
Stiltendenzen der daran beteiligten jungen Malern betrachtet.<br />
Zu den expressionistischen Kreisen zählten „Der Blaue Reiter“, „Die Brücke“ und „Bauhaus“.<br />
Charakteristisch für die expressionistische Malerei waren die sich verselbständigenden<br />
Farben, die großen Leinflächen, die verzerrten Konturen der Gestalten. Später wurde dieser<br />
Begriff auf die Literatur übertragen. Sowohl die Maler als auch die Schriftsteller legten<br />
großen Wert auf die Form ihrer Werke. Die Form sollte die erstarrten Rahmen und<br />
Konventionen, die prägend für die konservative Sichtweise des Bürgertums am Ende des 19.<br />
Jahrhunderts waren, sprengen und das bürgerliche Bewusstsein zu neuen Denkformen öffnen.<br />
Der in diese Form gekleidete Inhalt war stark sozial orientiert und zielte eine Erschütterung<br />
des Menschen aus seiner sicheren und verderbender Lebensweise. Das soziale Engagement<br />
der expressionistischen Schriftsteller ist das, was diese Strömung von den anderen<br />
formorientierten Strömungen wie Ästhetizismus und Symbolismus unterscheidet.<br />
Die Schriftsteller des Expressionisten glaubten, dass die korrupte und heuchlerische<br />
Gesellschaft, die rasche Technologisierung der Welt, die industrielle Entwicklung den<br />
Menschen von ihm selbst und von seinen Mitmenschen entfremden, und versuchten durch<br />
ihren Appell nach „Sturz und Schrei“ im Kampf mit der bestehenden Ordnung, nach<br />
Verbrüderung der Menschen in dieser von Maschinen regierten Welt, nach Erwecken des<br />
Herzens zum Wesentlichen (Natur und Liebe) die Menschen zu provozieren und verändern.<br />
Dabei gaben sie nicht exakt die Wirklichkeit oder nur Eindrücke von der Welt wieder,<br />
sondern erschufen aus ihrer inneren Vision heraus eine neue Welt. Sie wurden zu Seher,<br />
Visionäre.<br />
Kurz: die Expressionisten wollten eine neue Welt und eine neue Menschheit sehen.<br />
2. Expressionistische Lyrik<br />
Am Anfang war die Lyrik die dominierende Gattung des Expressionismus. Sie konnte am<br />
besten das Anliegen der Expressionisten, das von Gottfried Benn als<br />
"Wirklichkeitszertrümmerung, als rücksichtsloses An-die-Wurzel-der-Dinge-Gehen"<br />
zusammengefasst wurde, verkörpern.<br />
Als ein Meilenstein expressionistischer Lyrik gilt die von Kurt Pinthus 1920 in Berlin<br />
herausgegebene Anthologie „Menschheitsdämmerung“. An dieser beteiligten sich junge
Autoren wie Georg Heym, Franz Werfel, Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Ernst Stadler,<br />
Georg Trakl.<br />
Als Motto dieser Gedichtssammlung wurde das Gedicht „Weltende“ von Jakob van Hoddis<br />
vorangestellt. Dieses Gedicht war am 11.1.1911 erschienen und wurde mittlerweile zum<br />
Schlüsselerlebnis der Expressionisten. Es wurde unter den literarischen Kreisen der<br />
Avantgarde Berlins so sehr bekannt (obwohl manche Kritiker seinen literarischen Wert unter<br />
Frage stellen), da es nicht nur die Verachtung einer Welt der stumpfen Bürgerlichkeit zum<br />
Ausdruck brachte, sondern bereits die Katastrophe (1914) vorwegnahm.<br />
Die Themen und Motivkomplexe in dieser Sammlung sind vom Eindruck des Ersten<br />
Weltkrieges geprägt. Angst, Tod, Wahnsinn, Melancholie erfüllen die dichterische Welt der<br />
Autoren.<br />
Bedeutend für die expressionistischen Dichter war nicht die eigene Situation und persönliche<br />
Schwierigkeiten, also nicht die eigene Persönlichkeit, sondern die Beziehungen aller<br />
Menschen untereinander. In ihren Gedichten appellierten sie an Frieden und Humanität.<br />
Ähnlich wie in der expressionistischen Malerei, wo sich die Künstler neuer Ausdrucksmittel<br />
bedienten wie z.B vereinfachten Formen und grellen Farben, versuchten die Literaten ihre<br />
seelischen Eindrücke in einer neuen expressiven Sprache zu kleiden, oder besser ihr<br />
"innerstes Wesen mit Worten zu zerreißen" (Benn).<br />
Die Autoren gingen an die Wurzel der Sprache und versuchten eine neue, die besser für ihr<br />
Anliegen geeignet war, zu erschaffen. Sie war oft stakkatohaft, erschien in ungewohnten<br />
Rhythmen, abgerissen, voller Neubildungen, Wortschöpfungen. Die Klangmalerei hatte einen<br />
wichtigen Platz in den expressionistischen Werken. Durch Assonanz und Alliteration erfüllte<br />
sich die Welt der Gedichte durch den Lärm der Fabriken und der Straßen der Großstädte. Für<br />
den Leser entstand eine Welt, in der die Hässlichkeit der Wirklichkeit ins Extreme gezogen<br />
wurde. Die Autoren, vorwiegend Gottfried Benn („Morgue und andere Gedichte“), bedienten<br />
sich einer neuen Ästhetik des Hässlichen.<br />
Kennzeichnend für diese Gedichte waren die schockierenden Bilder, die präzise Wiedergabe<br />
grauenhafter Details, die grotesken Beschreibungen, die Verzerrung der Wirklichkeit.<br />
Die expressionistischen Dichter parodierten die Verwendung traditioneller literarischen<br />
Formen und Elemente. Ein beliebtes Verfremdungsmittel war das Paradox. Sie versuchten die<br />
vielschichtige, disparate Wirklichkeit darzustellen. Die Synästhesie als die Möglichkeit aller<br />
Sinnesbereiche zu erfassen, war ein passendes Mittel dazu.
Die Dichter experimentierten mit der Sprache auf allen möglichen Wegen, sie brachen alle<br />
grammatische und semantische Regeln während ihres Ringens um neue<br />
Ausdrucksmöglichkeiten.<br />
3.Hauptthemen der expressionistischen Lyrik<br />
Die Industrialisierung, der technische Fortschritt und die daraus resultierende<br />
Maschinisierung des Lebens am Anfang des 20. Jahrhunderts verwandelten die Großstadt in<br />
einen Ort des Ich-Zerfalls. Der Mensch entfernte sich immer mehr von der Natur und verlor<br />
sich in eine künstliche Welt, wo Entfremdung die Kommunikation ersetzte.<br />
Die neuen Wahrnehmungsweisen, die die industrielle und technische Entwicklung mit sich<br />
brachte, lösten die alten Weltbilder auf. In dieser Grenzsituation herrschten moralisches<br />
Chaos und Katastrophenstimmung. Das Letztere hatte noch als Ursache die politische und<br />
wirtschaftliche Unsicherheit vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg. Das alles bildete<br />
den Hintergrund für zivilisationskritische Tendenzen in der Literatur des Expressionismus,<br />
besonders in der Lyrik, die die Ursachen (verkrustete und egoistische Denkweise, Angst vor<br />
der Veränderung u.s.w.) für den bestehenden Chaos auffällig machte und an eine neue Welt,<br />
wo laut der Philosophie Henri Bergsons nur die Intuition und nicht der Verstand das<br />
Wesentliche erfassen kann, und an einen neuen Menschen im Nietzscheanischen Sinn<br />
appellierte.<br />
Die Themen, die am häufigsten in expressionistischen Gedichten betroffen werden, sind<br />
demzufolge: Großstadt (Ambivalenz der Großstadt und die Großstadt als Ort des Ich-<br />
Zerfalls); Krieg; Apokalypse; der neue Mensch (die neue Welt). Als Ausdruck des Ich-<br />
Zerfalls sind auch folgende Themen zu nennen: Wahnsinn, Selbstmord (Ophelia-Motiv),<br />
Krankheit, Tod, Verfall.<br />
3.1. Großstadt<br />
Die ambivalente Wahrnehmung der Großstadt, sowohl positiv als auch negativ, unterschied<br />
die expressionistischen Lyriker von den italienischen Futuristen, welche die positiven Seiten<br />
der Großstadt verherrlichten. In den expressionistischen Gedichten waren einerseits die<br />
Anziehungskraft der Großstadt zu verspüren und andererseits ihre verderbende Wirkung.<br />
Diese Ambivalenz findet z.B im Gedicht „De Profundis“ von Johannes Becher Ausdruck:<br />
„Singe mein trunkenstes Loblied auf euch, ihr großen, ihr/ rauschenden Städte./<br />
Trägt euer schmerzhaft verworren, unruhig Mal doch/ mein eigenes Gesicht!<br />
Zerrüttet wie ihr, rüttelnd an rasselnder Kette./Glänzende Glorie, seltsamst verwoben aus<br />
Licht und/ Nacht, die meine zerrissene Stirn umflicht!“
und weiter „Niederströmt die Masse, die Ketten/ klirren. Der irdische Dämon Hölle und<br />
Feuer schürt.../Und doch -: singe mein trunkenstes Loblied auf euch, ihr/großen, ihr<br />
rauschenden Städte!/Von euch verdorben. In euch verwirrt. Von euch verführt./Doch sterbend<br />
vom Schein himmlischen Lichtes berührt...“<br />
Diese zwei Strophen enthalten die schmerzliche Zwiespalt eines der verderbenden, sogar<br />
tödlichen Wirkung des Lieblingsgetränks bewussten Betrunkenen. Der Rausch, die teuflische<br />
Verführungskraft der Großstadt locken den Menschen wie das Kerzenlicht den Schmetterling,<br />
das seine Flügel verbrennt und ihn zum Tod führt, „doch vom Schein himmlischen Lichtes<br />
berührt“. Dem Menschen fällt unmöglich sich zu retten, er will es einfach nicht, denn es ist so<br />
süß im Rausch, von prächtigen Lichtern umringt, zu vergehen.<br />
Die Anziehungskraft der Großstadt wird im Gedicht „Großstadtvolk“ von René Schickele in<br />
ihrer paradoxalen Wirkungsweise wiedergegeben:<br />
„Hier [in der Großstadt] sollt ihr bleiben, weil die begehrenswerten Feste gefeiert werden/der<br />
Macht und die blass machenden Edikte erlassen werden/der Macht, die wie Maschinen/-ob<br />
wir wollen oder nicht - uns treiben.[...]“ Die Macht ist lockend, besonders wenn man sich in<br />
der Sklavenposition befindet und keine andere Wahl hat, außer sich treiben zu lassen.<br />
Die Macht der Großstadt wird im Gedicht „Der Gott der Stadt“ von Georg Heym mit der<br />
Macht Gottes verglichen. Dieser Gott ist aber ein falscher blutgieriger Gott, ein Abgott. Die<br />
Blindheit der Menschen besteht darin, dass sie ihn willenlos huldigen und sogar sich opfern,<br />
damit er sich beschwichtigt. Diese Metapher verdeutlicht die zeitkritischen Stellung der<br />
Expressionisten zur Großstadt auf markante Weise. Hauptkritikpunkte sind die<br />
„Vergewaltigung“ der Natur; der Lärm, der Verkehr sowie das „Massenphänomen“. Im<br />
Gedicht erzeugen die Fabriken und die Menschen mit ihren „Korybanten-Tänzen“ Lärm, die<br />
Menschen geben sich zudem äußerst uniform, was ein Verweis auf die Anonymität und<br />
Verlust von Individualität in der Großstadt ist. Nur die einzelnen Häuser (1 Strophe), welche<br />
außerhalb der Stadt gelegen sind, entziehen sich dem Machteinfluss des Abgottes, da die<br />
Natur hier noch ursprünglich und im Einklang mit dem Menschen ist. Der Abgott kann nur in<br />
der naturzerstörenden und materialistischen Großstadt seine Macht ausüben.<br />
Die „Naturvergewaltigung“ als Hauptfolge der Industrialisierung der Großstädte ist die<br />
hauptsächliche Triebfeder für die Zivilisationskritik der Expressionisten und gipfelt häufig in<br />
apokalyptischen Weltuntergangsszenarien (s. 3.2.) (hier der Feuersturm- 5. Strophe).<br />
Das Ich erlebt sich nicht mehr als autonom handelnder Mensch, sondern als Opfer einer<br />
übermächtigen Umwelt, die in es eindringt und es treibt. Das führt unabdingbar zum Ich-
Zerfall. Der Mensch verliert seine Identität, seinen Willen. Er wird Eins mit der Masse, die<br />
ihn treibt und ihrerseits von etwas Größerem getrieben wird:<br />
„Die Menschen sind wie grober bunter Sand/Im linden Spiel der großen<br />
Wellenhand.“(Auszug aus Loerkes „Blauer Abend im Berlin“).<br />
Die Entfremdung unter den Menschen in der Großstadt, die Einsamkeit des Einzelnen,<br />
umringt von der Menschnmenge, wird im Gedicht „Städter“ von Alfred Wolfenstein<br />
thematisiert:<br />
„Ineinander dicht hineingehakt/ Sitzen in den Trams die zwei Fassaden/ Leute [...]<br />
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,/ Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine./Unser<br />
Flüstern, Denken ... wird Gegröle .../ - Und wie still in dick verschlossner Höhle/ Ganz<br />
unangerührt und ungeschaut/ Steht ein jeder fern und fühlt: alleine“<br />
Die große physische Nähe der Menschen in der Großstadt führt paradoxalerweise zu ihrer<br />
Entfremdung.<br />
Typisch für die Großstadtgedichte ist die Entpersonifizierung der Menschen. Im Gedicht<br />
„Städter“ z.B. werden die Meschen mit Fassaden verglichen. Die künstlichen Attribute der<br />
Stadt werden zu Metaphern für Menschen. Der Mensch wird zum einen seelenlosen<br />
künstlichen Gegenstand.<br />
Im Gedicht „Nachtcafe“ von Gottfried Benn wird diese Tendenz zur Entpersonifizierung um<br />
einen Schritt weiter gebracht. Die Menschen sind hier nicht als Gegenstände dargestellt,<br />
sondern als Körperteile, doch die Gegenstände verhalten sich als Menschen:<br />
„Das Chelo trinkt rasch Mal. Die Flöte/rülpst tief drei Takte auf: das schöne Abendbrot.<br />
Der Trommel liest den Krimminalroman zu Ende.<br />
Grüne Zähne, Pickel im Gesicht/ winkt einer Lindrandentzündung ...“<br />
Das Ersetzen eines ganzheitlichen Menschen durch einen makeligen Körperteil ist<br />
charakteristisch für die Ästhetik des Hässlichen, die in den expressionistischen Gedichten<br />
Benns zum Ausdruck kommt. In diesem Gedicht wird der Abscheu von den Großstadt-<br />
Menschen thematisiert.<br />
Die meisten Dichter lebten in den Großstädten und hegten Heimatsgefühle ihnen gegenüber.<br />
Sie kritisierten die Technisierung des Lebens, die Entfernung von der Natur, warnten vor Ich-<br />
Verlust und der daraus resultierenden Sinn-Verlust. Das alles aber tilgte nicht die Liebe zu<br />
ihren Heimatstädten. Beispiel dafür ist Alfred Lichtensteins Gedicht „Gesänge an Berlin“:<br />
„[...] In Wiesen und in frommen Winden mögen/ Friedliche heitere Menschen selig<br />
gleiten./Wir aber morsch und längst vergiftet, lögen/ Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-<br />
Schreiten./In fremden Städten treib ich ohne Ruder./Hohl sind die fremden Tage und wie
Kreide./Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder./Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was<br />
ich leide.“<br />
3.2. Weltende<br />
Die rasche Industrialisierung und Technologisierung am Anfang des Jahrhunderts versetzte<br />
viele Menschen, die dieser großen Veränderung noch nicht mental gewachsen waren, in<br />
Angst. Erfindungen wie die Eisenbahn waren für sie sehr befremdlich und sogar als gefährich<br />
empfunden. Die aus dem rasanten Zuwachs der Bevölkerung in den großen Städten<br />
resultierende Bildung von Armenghettos brachte mit sich die Gefahr vor Krankheiten z.B.<br />
wegen mangelnder Hygiene. Die „Naturvergewaltigung“ als Folge der Industrialisierung<br />
brachte mit sich die Angst vor einer Naturkatastrophe. Die Wiederentdeckung des<br />
Halleyschen Kometen war ein anderer Grund für die Untergangsstimmung, da die Menschen<br />
seinen Zusammenstoß mit der Erde befürchteten.<br />
Das erste expressionistische Gedicht „Weltende“ von Jacob van Hoddis thematisierte diese<br />
Stimmung von einer ironisierenden Perspektive:<br />
„Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,/ in allen Lüften hallt es wie Geschrei.<br />
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei /und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.<br />
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen /an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.<br />
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. /Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“<br />
Die Katastrophe wird in diesem Gedicht offensichtlich durch die distanzierte<br />
Beobachterposition verharmlost: Das Tosen des Meers wird nur mit „hupfen“ verniedlicht.<br />
Die Dammbrüche werden durch die Alliteration „dicke Dämme zu zerdrücken“ verharmlost<br />
und die Parenthese in Vers 4 („liest man“) scheinen dem Leser klar zu machen, dass der<br />
Sprecher sich vom Weltuntergang gar nicht betroffen fühlt. Van Hoddis verspotet die<br />
Untergagangsstimmung seiner Zeitgenossen, indem er die Katastrophe verharmlost, doch die<br />
Menschen um so mehr in ihrer bürgerlichen Stumpfsinnigkeit (Angst vor Veränderung,<br />
Unmöglichkeit zum Erfassen des Wesentlichen, versinnbildlicht durch den Schnupfen,<br />
Kritiklosigkeit, versinnbildlicht durch den spitzen Kopf) kritisiert.<br />
Georg Heym verarbeitet die Ängste seiner Zeitgenossen verbunden mit dem Halleyschen<br />
Kometen im Gedicht „Umbra vitae“. Er kritisiert die Panik vor der Katastrophe auf eine, im<br />
Vergleich van Hoddis, latentere Weise. Sein Gedicht wirkt insgesamt viel beklemmender und<br />
überzeugender, als das thematisch gleiche Gedicht von van Hoddis.<br />
Die beiden Gedichte zeigen ganz deutlich, dass das eigentliche Problem nicht die Gefahr von<br />
Katastrophe ist, sondern die Menschen mit ihrer Willenlosigkeit, Angst, Blindheit,<br />
Kritiklosigkeit, mit ihrem Stumpfsinn allgemein. Ihre Angst vor der Katastrophe macht sie
lind für das eigentlich Gefährliche: sie selbst. Sie versuchen das Problem von innen nach<br />
außen zu verschieben, weil das der leichtere Weg ist. Diese Straußhaltung wird in den<br />
expressionistischen Weltende-Gedichten an den Pranger gestellt.<br />
3.3. Krieg<br />
Schon 1911 machte sich in einigen expressionistischen Gedichten das Thema Krieg<br />
bemerkbar. Z. B. hatte Georg Heym mit seinem Gedicht „Krieg“ aus demselben Jahr eine<br />
dunkle Vorahnung über den bevorstehenden 1. Weltkrieg. Geprägt wurde Heyms<br />
Pessimismus durch die 1. und 2. Marokkokrisen (1905 und 1910/1911), welche Deutschland<br />
außenpolitisch noch weiter isolierten, sowie durch das Wettrüsten.<br />
Der Krieg wird in diesem Gedicht personifiziert und als etwas, was bisher geschlafen ist,<br />
dargestellt; er ist ungeheuerlich groß, aber man sieht ihn nicht, will ihn nicht sehen:<br />
„Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,/ Aufgestanden unten aus Gewölben tief.<br />
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,/ Und den Mond zerdrückt er in der<br />
schwarzen Hand.“<br />
Der Krieg war also schon lange da. Seine Existenz war längst zugelassen. Die eigentlich<br />
daran schuldigen sind die Menschen, die nicht die Gefahr einsehen wollten und wollen:<br />
„[...]Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.<br />
In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht./ Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.<br />
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn /Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.“<br />
Hier werden wiederum die Bürger kritisiert. Diesmal aber auch wegen ihrer Unmoral: im<br />
letzten Vers wird die vom Krieg vernichtete Stadt mit Gomorrha verglichen.<br />
Dieses Gedicht ist eine Warnung vor dem Bevorstehenden. In ihm steckt der bittere Vorwurf,<br />
dass niemand diese Wahrnung ernst nehmen wird.<br />
Die meisten Dichter, die in den Krieg zogen, betrachteten ihn als die einzige Möglichkeit zur<br />
Veränderung der Welt und des Menschen. Ihre Begeisterung für den Krieg löste sich sehr<br />
schnell auf und an ihre Stelle kam die bittere Konsequenz, dass er umsonst ist.<br />
Die Enttäuschung und Desillusionierung nach dem Krieg sind im Gedicht „Die Wortemacher<br />
des Krieges“ von Franz Werfel sehr deutlich zum Ausdruck gebracht:<br />
„Die große Zeit! Des Geistes Haus zerschossen/ Mit spitzem Jammer in die Lüfte stricht.<br />
Doch aus den Rinnen, Ritzen, Kellern, Gossen/Befreit und jauchzend das Geziefer bricht.<br />
(...) Die Dummheit hat sich der Gewalt geliehen, /Die Bestie darf hassen und sie singt.<br />
Ach der Geruch der Lüge ist gediehen,/Dass er den Duft des Blutes überstinkt.<br />
Das alte Lied! Die Unschuld muss verbluten, /Indes die Frechheit einen Sinn erschwitzt.<br />
Und eh nicht die Gericht-Posaunen tuten,/Ist nur Verzweiflung, was der Mensch besitzt.“
Die Dummheit der Menschen, die als verachtungswürdiges Geziefer dargestellt werden, wird<br />
auch hier sehr stark kritisiert. Die Lüge, die Frechheit haben zu Gunsten des Verblutens, der<br />
Unschuld überlebt.<br />
3.4. Der neue Mensch<br />
Die Expressionisten glaubten, einen neuen Menschen zu erschaffen und appellierten daran in<br />
ihren „messianischen“ Gedichten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts war eine Veränderung des<br />
Menschen dringend. Die verkrustete Denkweise bildete die eigentliche Gefahr für den<br />
Menschen: seine Unmöglichkeit zum Erfassen des Wesentlichen. Ernst Stadler thematisiert<br />
diese Gefahr im Gedicht „Der Spruch“. Dieses Gedicht stellt das offene Appell dar: „Mensch,<br />
werde wesentlich!“ Dieser Satz ist ein alter vergessener Spruch, den das lyrische Ich in einem<br />
alten Buch findet. Die Situationen, in denen das lyrische Ich an seinen Merksatz erinnert wird,<br />
sind Alltag für den damaligen Leser. Er kann sich deshalb leicht mit dem lyrischen Ich<br />
identifizieren und so den Appell unmittelbarer wahrnehmen.<br />
Der Ruf nach dem neuen Menschen wurde besonders nach dem Ersten Weltkrieg sehr laut. So<br />
z.B. das Gedicht „Der neue Mensch“ von Johannes Becher beinhaltet alle Charakteristika, die<br />
er besitzen muss: „[...] Mit Strieman tätowiert; zernagt von Pest. [...] Mit Hebel-Armen.Brust:<br />
Turm. Stirnen Schild.“ Er wird auch mehrmals mit Gott verglichen. Der neue Mensch ist ein<br />
Übermensch (Nietzsche), ein Gott, dem alle gleichen müssen, denn nur die übermenschliche<br />
Kraft, die einem Gott innewohnt, ist im Stande eine neue Welt aus den Trümmen des Krieges<br />
zu schaffen. Für die Erschaffung der neuen Welt müssen sich die Menschen vereinigen,<br />
deshalb lautet die andere Forderung zum neuen Menschen:<br />
„Menschen, Menschen alle, streckt die Hände/Über Meere, Wälder in die Welt zur Einigkeit!<br />
Dass sich Herz zu Herzen sende:/ Neue Zeit!<br />
[...] Menschen! Alle! Drängt zur Herbstbereitschaft! /Drängt zur Krönung euer und der Erde!<br />
Einiggroße Menschheitsfreunde, Welt-und/ Gottgemeinschaft/Werde!“ (Auszug aus „Mensch<br />
zu Mensch“ von Gerrit Engelke)<br />
Die Forderung nach dem neuen Übermenschen und nach Verbrüderung und Vereinigung der<br />
Menschen zur Erschaffung einer neuen, besseren und friedlichen Welt ist mehr oder weniger<br />
utopischer Natur. Sie ist aber, wenn man die damalige Trümmer-Welt berücksichtigt,<br />
gerechtfertigt.<br />
3.5. Themen als Folge des Ich-Zerfalls<br />
Wenn eine junge Dichtergeneration ihre Gesellschaft als hinfällig, morbide und als vom<br />
Untergang gezeichnet ansieht, ist es nicht verwundernd, dass eines der Hauptthemen der<br />
Literatur der Zerfall nicht nur der Welt um das eigene Ich herum, sondern des Ich selbst
gleichermaßen ist. Der mentale Zerfall, das sich im Ich abspielt, führt unabdingbar zum<br />
körperlichen Zerfall. (Der Verfall und die Vergänglichkeit, die demzufolge in mehreren<br />
expressionistischen Gedichten thematisiert wurden, sind nicht vom Gesichtspunkt der<br />
Religion betrachtet wie das in der Barocklyrik der Fall ist).<br />
Der Zerfallsvorgang wird in vielfältigsten Variationen dargestellt. Die bekanntesten Themen<br />
sind: Krankheit (psychisch oder physich), Tod, Selbstmord, Verfall. Dabei findet jeder<br />
expressionistische Dichter seinen eigenen Zugang zu dieser Problematik.<br />
Die sogenannte „Wasserleichenpoesie“ ist z.B. eine Variation dieses Themenkomplexes und<br />
beschäftigt sich konkreter mit dem Thema: Selbstmord.<br />
Rimbauds Gedicht "Ophélie", genauer gesagt Karl Klammers Übertragung dieses Gedichtes,<br />
wurde zum Auslöser einer ganzen Welle von „Wasserleichen“-Gedichten. Die bedeutendsten<br />
Werke aus diesem Kontext sind von Georg Heym "Die Tote im Wasser" (1910), "Ophelia"<br />
(1910) und "Tod der Liebenden im Meer" (in zwei Fassungen), von Gottfried Benn "Schöne<br />
Jugend" (1912) aus dem Morgue-Zyklus, von Paul Zech "Wasserleiche", von Armin T.<br />
Wegener "Die Ertrunkenen" (1917).<br />
Die Autoren seit Rimbaud lösten das Ophelia-Motiv aus ihrem literarischen Kontext<br />
(„Hamlet“) und erweiterten ihr Bild um neue Bedeutungsaspekte. Z. B. bei Rimbaud<br />
bekommt Ophelia die Funktion einer Muse, die einersets dem Dichter aus seiner<br />
künstlerischen Krise verhilft und andererseits durch seine Kunst vom Vergessen bewahrt<br />
wird. In den expressionistischen Gedichten steht das Ophelia-Motiv im engen<br />
Zusammenhang mit dem Motiv des „gefallenen Mädchens“ – einer Jungfrau, die sich aus<br />
Naivität ihrem Geliebten hingibt und später von ihm verlassen wird, obwohl sie von ihm<br />
schwanger ist. Aus Verzweiflung und Angst, dass sie von der Gesellschaft ausgeschlossen<br />
wird und in Misere ihr Leben weiterführen muss, begeht sie Selbstmord. Die Wasserleichen-<br />
Gedichte der Expressionisten beinhalten ein sozial-kritisches Potenzial. Sie kritisieren die<br />
erstarrten Normen und die falsche Moral der Gesellschaft, die am Selbstmord des<br />
unschuldigen und reinen Mädchens die Schuld trägt. Die Kulisse, in der sich diese Tragödie<br />
abspielt, ist meistens die Großstadt. Das Geschehen wird in die Gegenwart versetzt. Im<br />
Heyms Gedicht „Die Tote im Wasser“ wird die Stadt als lebensfeindlicher zerstörerischer<br />
Raum dargestellt, die technischen Errungenschaften der Zivilisation stehen für Tod und<br />
Untergang:<br />
„Die Masten ragen an dem grauen Wall/Wie ein verbrannter Wald ins frühe Rot,<br />
So schwarz wie Schlacke. Wo das Wasser tot/Zu Speichern stiert, die morsch und im Verfall.“
Das Mädchen ist entindividualisiert, hat keinen Namen. Dies ist eine Tendenz bei der<br />
Darstellung des Ophelia-Motivs in den expressionistischen Gedichten. Am extremsten ist sie<br />
in Benns „Schöne Jugend“, wo die Ratten, die die Leiche zerfressen, im Zentrum der<br />
Darstellung sind, und nicht die Tote. Durch die Präzision der anatomischen Begriffe<br />
(„Speiseröhre“ und „Zwerchfell“) wird die Individualität der Leiche sowieso vernichtet.<br />
Bei Benn geht es nicht mehr um die Frage nach dem Grund für den Tod des Mädchens, das<br />
zur bloßen Staffage degradiert wird, sondern nur um die schonungslose Darstellung des<br />
Hässlichen als den gleichwertigen Bestandteil des Lebens. Der physische Zerfall kommt am<br />
deutlichsten in Benns Gedichten zum Ausdruck. Der Patologe beschreibt mit größter<br />
Präzesion den physischen Zerfall. In seinen Morgue-Gedichten ist dieser Zerfall eine Folge<br />
des moralischen Verfalls des Menschen.<br />
Dem zum Wahnsinn führenden mentalen Zerfall sind viele expressionistischen Gedichte<br />
gewidmet. Die Erkenntnisse der Psychoanalyse, der klinischen Psychologie und Psychiatrie<br />
um die Jahrhundertwende schufen ein neues Bild des Geisteskranken. Die Neuorientierung<br />
der Psychiatrie war auch durch ein enormes Anwachsen der Patientenzahlen notwendig<br />
geworden, da immer öfter ein in der durchrationalisierten kapitalistischen<br />
Industriegesellschaft als abnorm und störend beurteiltes Verhalten beobachtet wurde. Ein<br />
weiterer Einschnitt war das massenhafte Auftreten von Kriegspsychosen im Ersten Weltkrieg.<br />
Der Künstler identifizierte sich mit dem Irren, da die beiden wegen ihres Außenseitertums<br />
und ihrer Abnormität von der erstarrten Gesellschaft nicht als normale Menschen<br />
angenommen werden könnten. Das, was sie noch verband, war die Auffassung, dass sie den<br />
besonders befähigten Menschen angehören, die über einen durch die Zwänge der industrialen<br />
Gesellschaft noch nicht verstellten Zugang zur ursprünglichen Quelle des Schöpfertums<br />
verfügen. Der Irre war also dieser, der mit dem utopischen Potenzial aufgeladen war, die<br />
Schwächen der Welt einzusehen und eine neue zu verkünden. Da aber niemand ihm glauben<br />
würde, blieb nur die Möglichkeit, dass seine jammervolle Existenz, seine Krankheit die<br />
anderen Menschen zur Einsicht bringt, dass es Mängel in der bestehenden Ordnung gibt, die<br />
diese Krankheit zugelassen haben. Der Irre wird zur Metapher der kranken Gesellschaft. Z. B.<br />
im Gedicht „Der Nervenschwache“ von Ernst Blass wird der Irre grob von den „Normalen“<br />
misshandelt:<br />
„Verschweinet Kerle, die die Straße kehren/Verkohlen ihn; schon gröhlt er arienhaft:<br />
Ja – ja, ja – ja! Die Leute haben Kraft!/ Mir wird ja nie, ja nie ein Weib gebären!“<br />
Die jammervolle Lage des hilflosen Kranken ist in dieser Strophe mit einer gewissen Ironie<br />
dargestellt. In der letzten Strophe steckt Kritik und eine Bitterheit ersetzt die Ironie:
„Die Dirnen zügeln im geschlossenen Munde, /Die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben<br />
Ihn ängsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben,/Zuhältermesser und die großen<br />
Hunde.“<br />
Die Bitterheit, dass nichts verändert werden kann, dass es schon keine Weiber gibt, sondern<br />
nur Dirnen, dass die Männer keine Männer sind, sondern verschweinte Kerle, die ihr<br />
Vergnügen nur am Misshandeln der Schwächeren finden könnten, dass der einzig Normale,<br />
der noch nicht wie die anderen vom Verfall verdorben ist, sterben muss, müsste den Leser mit<br />
einem Drang nach Veränderung erfüllen.<br />
4.Fazit<br />
Der inbrünstige Wunsch der expressionistischen Dichter, die Welt und die Menschheit zum<br />
Besseren verändert zu sehen, verwirklichte sich nicht. Enige von ihnen wie Georg Trakl und<br />
Alfred Lichtenstein begangen Selbstmord, andere fielen im Ersten Weltkrieg. Die Lyrik<br />
erlebte demzufolge ihren Untergang. An ihrer Stelle trat das Drama.<br />
Die letzten verbliebenen Expressionisten, die nach dem Ende (1925) des Expressionismus,<br />
weiterschrieben, wurden von dem Nationalsozialismus „blockiert“ und ihre Werke – als<br />
„entartete Kunst“ bezeichnet.<br />
Der Expressionismus wurde von der Epoche der Neuen Sachlichkeit abgelöst.<br />
Bibliografie:<br />
Großstadtlyrik, hg. v. Waltraud Wende, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1999<br />
Lyrik des Expressionismus, hg. v. Hansgeorg Schmidt-Bergmann unter Mitarbeit von Sonja<br />
Hermann, Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2003<br />
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