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Vortrag Kleist 18dez11 - FritzUdoKrause.de

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1<br />

Fritz U. Krause Dezember 2011<br />

Destruktion <strong>de</strong>r Gewohnheit<br />

Einiges zu <strong>Kleist</strong>: „Der Findling“<br />

Heinrich von <strong>Kleist</strong> 1777 - 1811<br />

Glaubt ihr, so bin ich euch, was ihr nur wollt;<br />

recht nach <strong>de</strong>r Lust Gottes.<br />

Schrecklich und lustig und weich.<br />

Zweiflern versink ich zu nichts.<br />

(Distichon)<br />

Suizi<strong>de</strong>nthusiast<br />

Narzismus<br />

Entfremdung von <strong>de</strong>r Schwester Ulrike<br />

Verlust sämtlicher Subsistenzmittel<br />

Geringe Erträge seiner literarischen Arbeit<br />

Von Verwandten erlittene Kränkungen<br />

(Brief an Marie <strong>Kleist</strong> 10.11.1811)<br />

Wür<strong>de</strong>loses Vaterlan<strong>de</strong>s<br />

Tief empfun<strong>de</strong>ne „Gebrechlichkeit <strong>de</strong>r Welt“<br />

To<strong>de</strong>sgefährtin<br />

Henriette Vogel (1780-1811)<br />

Krank, aus Berliner Freun<strong>de</strong>skreis<br />

21. November 1811. Pistole<br />

I Rezeption<br />

0I Literarische Texte müssen doppelsinnig geslesen wer<strong>de</strong>n 02<br />

02 Wirken, Wirklichkeit, Wirkung 05<br />

03 Wirkung vs. Wahrheit 07<br />

04 Lesehaltung und Weltanschauung 08<br />

05 Sprachwelt 09<br />

II Novellenaufbau<br />

01 Erzählordnung <strong>de</strong>r Novelle 10<br />

02 Teleologie <strong>de</strong>s Geschehens 12<br />

03 Keine moralische Geschichte 13<br />

04 Postkatastrophische Anomie 14<br />

05 Patchwork-Kontingenz 15<br />

06 Erratischer Findling 16<br />

07 Schweigen 17<br />

08 Schlüssel 18<br />

III Stil<br />

01 Künstlerische Sprachbehandlung 20<br />

02 Kommasetzung 24<br />

03 Gleichzeitigkeit <strong>de</strong>r Zeitabläufe 25<br />

04 Anagramm 26<br />

IV Ästhetik <strong>de</strong>r Scham<br />

01 Ästhetik <strong>de</strong>r Scham 1 27<br />

02 Ästhetik <strong>de</strong>r Scham 2 27<br />

03 Elvirens Scham 33<br />

04 Elvirens Wahn 36<br />

05 Piachis Beschämung 38


2<br />

06 Nicolos Schamlosigkeit 40<br />

V Weitere ästhetische Zugriffe<br />

01 Ästhetik <strong>de</strong>s Tausches 42<br />

02 Ästhetik <strong>de</strong>r Täuschung 43<br />

03 Ästhetik <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Begehrens 44<br />

04 Ästhetik <strong>de</strong>r antriebsunmittelbaren Handlungen 47<br />

05 Ästhetik <strong>de</strong>r Ansteckung 48<br />

06 Ästhetik <strong>de</strong>s Verlusts 49<br />

07 Undine 50<br />

Schlußbemerkung 52<br />

I REZEPTION<br />

I 01 Literarische Texte müssen doppelsinnig gesehen wer<strong>de</strong>n<br />

Gebrauchstexte sind für Leser verfaßt, die Informationen suchen. Sie<br />

i<strong>de</strong>ntifizieren die „Wahrheit“ eines Textes für realistischen Gebrauch.<br />

Literarische Texte dagegen, so die Novelle DER FINDLING von <strong>Kleist</strong>,<br />

haben wie alle Kunst keine außerkünstlerische „Funktion“. Der<br />

Funktionsbegriff ist für die Kunst ungeeignet. „Novellen“ sind keine<br />

Gebrauchstexte; sie sind für die Erfahrungswelt ungeeignet. Ihre<br />

„Wahrheit“ ist - wie bei aller Kunst - ihre „Wirkung“. Künstlerische<br />

Wirklichkeit ist vorgestellte Realität ohne Anspruch auf Wahrheit.<br />

Novellen bestehen wie je<strong>de</strong> literarische Ordnungsform aus verfaßter<br />

Ambiguität (Artefakt eines Produzenten) und wahrgenommener<br />

Ambiguität (Wirkung beim Rezipienten). Literarische Kunst muß<br />

doppelsinnig gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Für <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>chen Novelle wird eine künstlerische<br />

Einstellung angesetzt, die Konsequenzen für <strong>de</strong>n literarischen Umgang<br />

hat: Produktion und Rezeption wer<strong>de</strong>n als künstlerische Prozesse<br />

gesehen, die literarische Texte konstituieren und vollen<strong>de</strong>n. Dabei<br />

wird „Rezeption“ als eine Son<strong>de</strong>rform <strong>de</strong>r „Produktion“ angesehen. Damit<br />

sind „rivalisieren<strong>de</strong> Argumente“ (Hempel), wie die einschlägige,<br />

verstehen<strong>de</strong> Rezeption sie for<strong>de</strong>rt, aufgehoben. Statt von „Produktion 2“<br />

wird hier weiterhin von „Rezeption“ gere<strong>de</strong>t.


3<br />

Das heißt unter an<strong>de</strong>rem: Wer sich mit literarischer Kunst beschäftigt, ist<br />

entwe<strong>de</strong>r produzieren<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r rezipieren<strong>de</strong>r Künstler. Von Co-<br />

Produktion ist zu re<strong>de</strong>n. Der produzieren<strong>de</strong> Sprachkünstler schafft als<br />

„Artefakt“ eine relational vielfältige, mehr<strong>de</strong>utige Sprachwelt<br />

(„Wortkunst“, Herwarth Wal<strong>de</strong>n).<br />

[Die Textologie (theoretische, <strong>de</strong>skriptive und anwendungs–orientierte Textwissenschaft<br />

von Hjelmslev bis Petöfi) hat mit <strong>de</strong>m Kohärenzprinzip handwerklich aus <strong>de</strong>r textlichen<br />

Aggregation gewiesen und <strong>de</strong>r ästhetischen Textbildung erweitern<strong>de</strong> Produktionsmittel<br />

gezeigt.]<br />

Der rezipieren<strong>de</strong> Künstler i<strong>de</strong>ntifiziert die Wirkung dieses Artefakts.<br />

Dabei wird er als verläßlicher „Mitarbeiter“ <strong>de</strong>s produzieren<strong>de</strong>n Künstlers<br />

die Realität <strong>de</strong>s Textes nicht zur Relativität wer<strong>de</strong>n lassen. Die<br />

Zusammenarbeit muß soweit vorgestellt wer<strong>de</strong>n, daß ein Wechsel <strong>de</strong>r<br />

Rolle zwischen Produzent und Rezipient <strong>de</strong>nkbar wäre.<br />

Wenn auch letzteres nicht erwogen wird, ist hier eine gesamtkünstlerische<br />

Herangehensweise an „DER FINDLING“ beabsichtigt.<br />

Mit dieser Zugangseinstellung ist eine „kognitive Autorenabsicht“, die auf<br />

Erkenntnis–Verarbeitung abzielt, und eine „essentielle Interpretation“, die<br />

phänomenologisch auf verabsolutieren<strong>de</strong>s Verstehen gerichtet ist, nicht<br />

beabsichtigt und abgelöst. Dolmetscher-Begriffe wie „Hermeneutik“<br />

können hier nicht eingesetzt wer<strong>de</strong>n. (Pfarrer verstehen sich als Bibel-<br />

Dolmetscher.) Die Wirkungsermittlung geschieht hier textanalytisch,<br />

wobei <strong>de</strong>r linguistische Feldbegriff mit seinen paradigmatischen<br />

Oppositions-Beziehungen bevorzugt ist.<br />

Nur ange<strong>de</strong>utet (nach Vollers-Sauer:277) sei hier <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>ntifikation“<br />

konkurrieren<strong>de</strong> „Interpretation“s-Begriff. Von Letzterem wird hier<br />

Abstand genommen. Der „Interpretations“-Begriff - nach einschlägigem<br />

Verständnis - soll neben <strong>de</strong>r genannten Dolmetscher-Funktion (1) Text<br />

und Leser hinsichtlicher historischer Differenzen angleichen; soll (2) in<br />

immanenter Auslegung klären, was das Gemeinte <strong>de</strong>r Worte, <strong>de</strong>s<br />

Textes ist; will (3) <strong>de</strong>n Autor „verstehen“ und <strong>de</strong>n Produktionsvorgang<br />

nachvollziehen. Einschlägig gilt heute (5), daß sich „...im Spannungsfeld<br />

zwischen einer auf das sprachliche >Material< <strong>de</strong>r künstlerischen Werke


4<br />

gerichteten Interpretation und <strong>de</strong>r Herausarbeitung <strong>de</strong>r psychologischen<br />

und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen, worauf die Werke als<br />

Zeichen verweisen,“ mo<strong>de</strong>rne Interpretation konstituiert.<br />

[Schüler in <strong>de</strong>r ehemaligen DDR wur<strong>de</strong>n damit beschäftigt, (6) <strong>de</strong>n<br />

politisch angemessenen „Darstellungsgegenstand“, „Erkenntnis–<br />

gegenstand“, <strong>de</strong>n „Inhalt“ und im Beson<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n „I<strong>de</strong>engehalt“<br />

auszumachen (Zacharias:135).]<br />

Für die Textanalyse wur<strong>de</strong>n Textanalyseraster (Nussbaumer)<br />

entwickelt, in <strong>de</strong>nen „Sprachwissen , Weltwissen und Handlungswissen“<br />

semantische und pragmatische Zugriffe komplettieren. Die ästhetische<br />

Wahrnehmung wird auf die Beobachtung von „Angemessenheit“, „die<br />

Qualität (Attraktivität und Repulsivität) Sprachmittel“ und das „Wagnis“<br />

<strong>de</strong>r Sprachverwendung reduziert.<br />

Abgesetzt von solchen Interpretationsvorstellungen will <strong>de</strong>r gewählte<br />

Textzugang zu DER FINDLING die Ambiguität <strong>de</strong>r Textrelationen und<br />

die damit verbun<strong>de</strong>ne Wirkungsgerichtetheit ermitteln.<br />

Da „Langeweile“ ein Gegenwort zu „literarischer Kunst“ ist, haben sowohl<br />

<strong>de</strong>r Produzent wie <strong>de</strong>r Rezipient die künstlerische Aufgabe, die<br />

Möglichkeiten von Wirkung zu optimieren. <strong>Kleist</strong> suchte in diesem<br />

Sinne <strong>de</strong>n „schlimmstmöglichen Ausgang“ seiner Novelle. <strong>Kleist</strong> läßt seine<br />

Geschichte erst en<strong>de</strong>n, wenn keine Geschehenssteigerung mehr<br />

erwägenswert scheint. Der Mord an NICOLO, die Exkommunikation und<br />

<strong>de</strong>r Weg in die letzte aller Höllen ist dafür beispielhaft.<br />

Der Leser könnte diesen Höllengang beispielsweise dadurch ergänzen,<br />

daß er in ähnlicher Weise an<strong>de</strong>re Figurenexistenzen <strong>de</strong>r Novelle<br />

zuen<strong>de</strong>gehen sieht. So wird er vielleicht beim „Spiel <strong>de</strong>r Wirkungen“, zu<br />

<strong>de</strong>m er als Rezipient verpflichtet ist, <strong>de</strong>r Hangtäterschaft NICOLOs<br />

(52:5;56:4f) eine Hangtäterschaft ELVIREns (58:14-18) parallel stellen.<br />

Der Leser könnte die gradlinige kaufmännische Haltung PIACHIs mit <strong>de</strong>r<br />

unbeirrbaren vorteilnehmen<strong>de</strong>n Haltung XAVIEREns vergleichen und


5<br />

erstaunt sein, mit wieviel Kraft XAVIERA <strong>de</strong>n Unwägbarkeiten einer<br />

Beziehung zugleich zum Bischof und zu NICOLO standhält.<br />

I 02 Wirken, Wirklichkeit, Wirkung<br />

Innerhalb <strong>de</strong>r Gebrauchsbedingungen liegt es, „wirken“ auf zweierlei<br />

Weise zu verwen<strong>de</strong>n. (Deutsches Wörterbuch,Grimm. Bd 30 1960;<br />

Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache. Bd 6 1977;<br />

Wörter und Wendungen 1981; Wahrig 1994)<br />

„wirken“(1) = „arbeiten“. * „ich wirke = ich arbeite“; dazu diminuierend:<br />

„werkeln“.<br />

„wirken“ (2) = „Das Medikament wirkt = das Medikament zeigt Wirkung.<br />

Der Schauspieler wirkt = <strong>de</strong>r Schauspieler macht Eindruck, übt Einfluß<br />

aus.“<br />

Weitere Verwendungsmöglichkeit von „wirken“ liegen außerhalb <strong>de</strong>r<br />

Fragestellung.<br />

„wirken“ (Grimm:551—605) ist ein „schwaches Verb“, das wie „arbeiten“<br />

(engl. work) gebraucht wird. Es ist abgeleitet von Werk (Grimm:551),<br />

verstan<strong>de</strong>n als {etwas durch Arbeit Entstan<strong>de</strong>nes}. „Wirklich“ weist somit<br />

an: {etwas gehört zu <strong>de</strong>m, was durch Arbeit sinnlich wahrnehmbar<br />

entstan<strong>de</strong>n ist und „tatsächliches sein eines dinges“o<strong>de</strong>r geschehens hat}<br />

(Grimm:578). Damit ist „Wirklichkeit“ {<strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>ssen, was<br />

tatsächliches Sein hat}.<br />

„wirken“ in <strong>de</strong>r ursprünglichen Verwendung von „arbeiten“ wird vor allem<br />

im Komposita genutzt: „Handwerk“, „Werkzeug“, „Werkstoff“.<br />

Die Verwendung von „wirken“ im Sinne von „wirken auf“, „bewirken“ hat<br />

sich gehalten:<br />

Seit<strong>de</strong>m „arbeiten“ die semantische Anweisung von „wirken“<br />

übernommen hat, hat sich für „wirken“ die perspektivische Verwendung<br />

von {Einfluß ausüben, Eindruck machen}“ in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von „wirken<br />

auf jmd“ und „wirken wie“ in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund geschoben:<br />

„Wirkintensität“, „wirksam“, „Wirkmächtigkeit“. Ob hier ein tatsächlich


6<br />

bestehen<strong>de</strong>s Sein o<strong>de</strong>r ein vorgegaukelter Schein zur Wirkung führt, ist<br />

nicht mehr primär im Unterscheidungsinteresse.<br />

Es soll auf Grund <strong>de</strong>r Vorüberlegungen und für weitere Unterscheidungen<br />

getrennt wer<strong>de</strong>n zwischen „Wirklichkeit“ und „Realität“.<br />

Als „Wirklichkeit“ wird das<br />

(von Gott) Geschaffene<br />

(vom Menschen) durch Arbeit Entstan<strong>de</strong>ne, Hergestellte<br />

angesehen. Das, was mit <strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>s Produziertseins, <strong>de</strong>s<br />

Geschaffenseins, empfun<strong>de</strong>n wird, wird <strong>de</strong>r „Wirklichkeit“ zugeschrieben.<br />

Diese „Wirklichkeit“ hat aber keinen Wahrheitswert. Die Akzeptanz liegt<br />

ausschließlich in <strong>de</strong>r Einschätzung <strong>de</strong>ssen, von <strong>de</strong>m etwas als „wirklich“<br />

empfun<strong>de</strong>n ist. „Wirklichkeit“ wird <strong>de</strong>m zugesprochen, das als<br />

„augenscheinlich“ wahrgenommen ist. Sie läßt also auch <strong>de</strong>n „Schein“ zu,<br />

<strong>de</strong>r eine tatsächliche Erscheinung glaubwürdig vorgaukeln kann („Die<br />

Sonne geht unter.“) o<strong>de</strong>r aber ein Geschehen (Vorgang, Zustand,<br />

Handlung, Ereignis), das offenbar, wenn auch nicht nachweisbar, etwas<br />

„bewirkt“ (Grimm:577). Die genannten Geschehensarten wer<strong>de</strong>n durch<br />

ihren Agensbezug voneinan<strong>de</strong>r unterschie<strong>de</strong>n.<br />

Der „Realität“ wird hier dagegen<br />

das methodisch durch Erfahrung Gewonnene<br />

das methodisch Nachweisbare<br />

zugeordnet. Das, was als erfahrbar im Sinne <strong>de</strong>s vorwissenschaftlichen<br />

und wissenschaftlichen Rezipiertseins ist, soll als „Realität“ betrachtet<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

„Wirklichkeit“ weist die Gesamtheit <strong>de</strong>ssen an, was ins „Werk gesetzt“<br />

wird, und so - ob wissenschaftlich existent o<strong>de</strong>r nicht-existent - auf die<br />

menschliche Vorstellung Einfluß nimmt. Diese Festlegung <strong>de</strong>r Genealogie<br />

<strong>de</strong>s Bezeichnungsgebrauchs von „wirken“ (Grimm:550-580) reicht für <strong>de</strong>n


7<br />

Erklärungswert und damit ist <strong>de</strong>r etymologischen, leitmotivischen<br />

Be<strong>de</strong>utung (Schützeichel:237) genüge getan.<br />

Das vorausgesetzt, gehört jetzt im Argumentationszusammenhang zur<br />

„fachsprachlich Konvention “, daß „Realität“ allein <strong>de</strong>n Teil einer<br />

allumfassen<strong>de</strong>n „Wirklichkeit“ anweisen soll, mit <strong>de</strong>m wissenschaftliche<br />

Überprüfbarkeit und Voraussagbarkeit verbun<strong>de</strong>n ist. Der Realitätsbegriff<br />

legt hierarchisierend auf Wissen und Nicht-Wissen fest.<br />

Die Kunst nimmt diese „Realitäts“-Festlegung nicht in Anspruch, da sie auf<br />

die Kunstkategorie „Mehr<strong>de</strong>utigkeit in <strong>de</strong>r Möglichkeit“ eingeschränkt ist.<br />

Kunst-Wirklichkeit und Wissenschafts-Realität sind komplimentär<br />

distribuiert.<br />

Bezöge die Kunst <strong>de</strong>n Reralitäts-Begriff ein, wäre „Co-produktion“ von<br />

Autor und Rezipienten abgebrochen und <strong>de</strong>m Rezipienten käme nur zu,<br />

entwe<strong>de</strong>r die „wissenschaftliche Wahrheit“ zu bestätigen o<strong>de</strong>r zu „lügen“.<br />

Für die Kunst eröffnet sich „Wirklichkeit im engeren Sinne“ als<br />

kontrolliert spekulativer Bereich, <strong>de</strong>r als „vorlogisch“ angesehen wer<strong>de</strong>n<br />

muß. Die Bezeichnung „vorlogisch“ bezieht sich dann auf die Wirklichkeit,<br />

die noch nicht rationalisert, also „irrational“ ist. Hier kann <strong>de</strong>r<br />

Be<strong>de</strong>utungsinhalt von Wirklichkeit aktualisiert wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r im Merkmal<br />

„Einflußnahme“ gegeben ist. Einflußnahme als Wirkung betrachtet kann in<br />

<strong>de</strong>r Kunst ohne Realitätszwang erlebt wer<strong>de</strong>n. Ohne Realitätszwang heißt,<br />

keinerlei existentielle Folgen sind mit <strong>de</strong>r Erfüllung von Kunstsehnsüchten<br />

verbun<strong>de</strong>n.<br />

I 03 Wirkung vs. Wahrheit<br />

Befaßt man sich mit literarischer Kunst, sollte man <strong>de</strong>n Wirklichkeits-<br />

Begriff vom „Realitäts“-Begriff (konventionalisierend) trennen.<br />

Als es noch keine begriffliche Erkenntnis gab – sagen wir in <strong>de</strong>r Steinzeit<br />

-, war das, was „wirkte“, die „Wirklichkeit“. Man gab <strong>de</strong>r durch Wirkung<br />

<strong>de</strong>limitierten Entität eine Bezeichnung, die auf Konvention beruhte. Eine<br />

Bezeichnung ist aber nicht <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Entität (Hayakawa).


8<br />

Als sich Erkenntnis (Wissenschaft) herausbil<strong>de</strong>te, die auf begrifflicher<br />

Unterscheidung beruhte, gewöhnte man sich daran, von „Realität“ und<br />

„Wahrheit“ zu sprechen. Urteile / Aussagen konnten „wahr“ sein,<br />

entsprachen sie zum Beispiel <strong>de</strong>m Realismus im Sinne <strong>de</strong>r<br />

Korrespon<strong>de</strong>nztheorie. Man erkannte u.a. erklären<strong>de</strong> Begriffe und<br />

konstruierte (Kant: Metho<strong>de</strong>nlehre), und auch verstehen<strong>de</strong> (Dilthey)<br />

und listige Begriffe (Elkana).<br />

Die Wissenschaftsgläubigkeit ver<strong>de</strong>ckt immer wie<strong>de</strong>r die Abhängigkeit <strong>de</strong>r<br />

Erkenntnis vom begrifflich-methodischen Zugriff und ihrer<br />

Partikularität. Der Hang zu holistischen und essentiellen Vorstellungen ist<br />

nicht abzuschaffen.<br />

Heute spricht man, um <strong>de</strong>n in Kunst und Wissenschaft zweifelhaften<br />

Wahrheitsbegriff zu vermei<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>r Genauigkeit einer Aussage im<br />

Hinblick auf das Gelingen einer Situation.<br />

Ich ordne fürs Folgen<strong>de</strong> <strong>de</strong>n von Wirkung abgeleiteten<br />

Wirklichkeitsbegriff <strong>de</strong>r Kunst zu, <strong>de</strong>n auf Wahrheit bzw. auf<br />

Genauigkeit ausgerichteten Realitätsbegriff <strong>de</strong>r Wissenschaft.<br />

Daraus ergeben sich (hier ausreichen<strong>de</strong>) zwei Vorstellungen von rezipieren<strong>de</strong>rer<br />

I<strong>de</strong>ntifikation:<br />

(1) Der Leser als Sich-Informieren<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ntifiziert die Wahrheit<br />

von Texten.<br />

(2) Der Leser als rezipieren<strong>de</strong>r Künstler i<strong>de</strong>ntifiziert die Wirkung<br />

von Texten.<br />

„Wir wissen nun, daß die Kunst nicht die Wahrheit ist. Die Kunst ist eine Lüge, die uns erlaubt, uns <strong>de</strong>r<br />

Wahrheit zu nähern, zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>r Wahrheit, die uns verständlich ist (Picasso 1923)<br />

D.b.: Bei <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation von Kunst ist <strong>de</strong>r Interpretationsbegriff in<br />

beson<strong>de</strong>rer Weise zu verstehen.<br />

I 04 Lesehaltung und Weltanschauung<br />

Natürlich sind alle Fragen an eine Erzählung berechtigt, auch die, welchen<br />

Leser sich <strong>de</strong>r Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Erzählung und <strong>de</strong>s Erzählers gedacht hat. Ist<br />

<strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>s Findlings christlich sozialisiert, so wird er Abscheu


9<br />

empfin<strong>de</strong>n gegenüber <strong>de</strong>n ehrfurchtlosen Geschehnissen und <strong>de</strong>r<br />

Deka<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r kirchenstaatlichen Wirklichkeit. Ist <strong>de</strong>r Leser bürgerlichi<strong>de</strong>alistischem<br />

Humanismus verpflichtet, so wird <strong>de</strong>n erzählten<br />

moralischen Verfall jeglicher Bildungsvorstellungen beklagen. Er wird die<br />

seelische Vereinseitigung PIACHIs, die Perversität weiblicher<br />

Liebesohnmacht, die skrupellose Eigensucht NICOLOs sowie die<br />

Verlogenheit vorgeblich religiöser Interessen mit Ekel und Protest zur<br />

Kenntnis nehmen.<br />

Lebt er einen philosophisch-naturalistischen Humanismus<br />

gegenwärtiger Ausprägung, so wird er aufmerksam die Individuation aller<br />

Beteiligten verfolgen und die Konsequenzen ihres Han<strong>de</strong>lns pragmatisch<br />

für sich erwägen. Ansonsten wird er <strong>de</strong>n Abstand suchen von Menschen<br />

und Situationen, die ihn persönlich in vergleichbare Gefahren bringen.<br />

Michael Schmidt-Salomon (2006): Manifest <strong>de</strong>s evolutionären Humanismus. Aschaffenburg (Alibri)<br />

I 05 Sprach-Welt<br />

„Wenn man <strong>de</strong>r Auffassung ist, dass die Erzählung etwas ist, womit sich<br />

die Menschen ein Bild von <strong>de</strong>r Welt und von sich selber machen,..., dann<br />

rückt eben die Diskussion über die Leistung, über das Vermögen, die<br />

Feinheit o<strong>de</strong>r Grobheit, die Künstlichkeit o<strong>de</strong>r die Plausibilität, die<br />

Angemessenheit o<strong>de</strong>r Konstruiertheit o<strong>de</strong>r sagen wir ruhig: die<br />

Wahrhaftigkeit von Narrativen ins Zentrum“ (592)<br />

Ist diese Erzählung aus unserer Erfahrungswelt heraus zu verstehen? Man<br />

muß sich schon in psychopathologische To<strong>de</strong>s-Enthusiasmen, in<br />

Thanatophobien (Angst vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>) hineinversetzen wollen und <strong>de</strong>r<br />

Meinung sein, daß sei auch notwendige Maßnahme <strong>de</strong>s<br />

Weltverständnisses, um hier mitzugehen.<br />

Plausibilität, Angemessenheit und (angemessene) Konstruiertheit nach<br />

alltäglicher For<strong>de</strong>rung wird man von <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>-Novelle nicht bestätigt<br />

sehen. Es han<strong>de</strong>lt sich vielmehr um Sensations-Suche, vielleicht sogar<br />

Sentations-„hascherei“, die sich mit Monsterfiguren verbin<strong>de</strong>t.<br />

PIACHI ist ein Monster <strong>de</strong>r Konsequenz, Gradlinigkeit,<br />

NICOLO ist ein Monster <strong>de</strong>r moralischen Skrupellosigkeit.


10<br />

II NOVELLENAUFBAU<br />

II 01 Erzählordnung<br />

<strong>Kleist</strong> / 1811 / DER FINDLING / Szenische Ordnung<br />

(Reclam 8003: Seite, Zeile)<br />

01 Piachi läßt Elvire zurück, reist mit Sohn Paolo geschäftlich von Rom nach<br />

Ragusa. 49:9<br />

02 In <strong>de</strong>r Vorstadt Ragusas erfährt Piachi von <strong>de</strong>r Pest und will zurückfahren.<br />

49:18<br />

03 Wen<strong>de</strong>punkt: Piachi trifft auf <strong>de</strong>n an Pest erkrankten Nicolo und nimmt ihn in<br />

seinem Wagen mitleidig mit. 50:2<br />

04 Die Polizei verhaftet alle und bringt sie nach Ragusa. Paolo stirbt. Nicolo<br />

überlebt. 50:16<br />

05 Piachi nimmt ihn an Sohnes statt mit nach Rom. 50:34<br />

06 Nicolos Starrheit und Unzugänglichkeit. 51:13<br />

07 In Rom wird Nicolo (fremd und steif) von Elvire an Sohnes statt<br />

angenommen. Nicolo zeigt sich als gelehriger Geschäftsnachfolger und wird von<br />

Piachi und Elviren anerkannt. 51:35<br />

08 Nicolo hat schlechten Umgang mit Karmelitermönchen und mit <strong>de</strong>r<br />

Beischläferin Xaviera. Er zeigt einen Hang zur Bigotterie und zum weiblichen<br />

Geschlecht. 52:13<br />

09 Nicolo heiratet Elvirens Nichte Constanze und bekommt von Piachi das<br />

gesamte Erbe überschrieben. Es scheint alles einen guten Gang zu gehen. Elvire<br />

und Piachi ziehen sich in <strong>de</strong>n Ruhestand zurück. 52:30<br />

10 Elvirens Gemütsgenealogie wird erzählt: ihre Rettung aus Lebensgefahr durch<br />

einen jungen Genueser, wie sie ihm in Liebe verfällt und daß <strong>de</strong>r Geliebte stirbt.<br />

Seit<strong>de</strong>m liegt ein stiller Zug von Traurigkeit in ihrem Gemüt. 54:3<br />

11 Piachi heiratet Elviren, obwohl sich Elvirens Trauer zu einem überreizten<br />

Nervensystem ausprägt. 54:26<br />

12 Nicolo geht seinen Lei<strong>de</strong>nschaften und seinem Hang zu „Weibern“ weiter<br />

nach. Nach einer Karnevalveranstaltung kommt er im Kostüm eines<br />

genuesischen Ritters zurück. Elvire sieht ihn zufällig, fällt, von <strong>de</strong>r Erinnerung an<br />

Colino überreizt, in Ohnmacht. Die Angelegenheit bleibt ein Geheimnis. 55:35<br />

13 Constanze stirbt und Nicolo nimmt die Beziehung zur Beischläferin Xaviera<br />

wie<strong>de</strong>r auf. Elvire überrascht Nicolo und die Zofe Xavieras. 56:20<br />

14 Auch Piachi trifft zufällig auf die Zofe. Er nimmt ihr einen Brief Nicolos an<br />

Xaviera ab und täuscht eine Antwort von ihr an Nicolo vor. Nicolo fällt darauf<br />

herein und muß im Gewölbe <strong>de</strong>r Magdalenenkirche statt <strong>de</strong>r Begegnung mit<br />

Xaviera die Bestattung Constanzens erleben. 57:16<br />

15 Der „beschämte“ Nicolo ist voller Haß auf Elviren, gleichzeitig ist er betört<br />

durch ihre locken<strong>de</strong> Erscheinung. Seine Begier<strong>de</strong> wächst; er sieht in ihr eine<br />

Gleichgesinnte. Vor Piachi gibt er <strong>de</strong>n Reumütigen. 58:8<br />

16 Die Vermutung Nicolos scheint sich zu bestätigen, als er im Zimmer Elvirens<br />

ein geheimnisvolles Liebesgeschehen zu bemerken glaubt und <strong>de</strong>n geflüsterten<br />

Namen Colino hört. Als Elvire allein aus <strong>de</strong>m Zimmer tritt, glaubt er an<br />

Verstellung. 58:34<br />

17 Nicolo dringt in das Zimmer Elvirens ein, fin<strong>de</strong>t aber nur das „Bild eines<br />

jungen Ritters“. Nicolo ist verwirrt und verläßt unbemerkt <strong>de</strong>n Raum. 59:14<br />

18 Nicolo rätselt, wen das Bild verkörpere, zumal Elviren offenbar vor <strong>de</strong>m Bild<br />

in Liebespose verharrt hatte. 59:22


19 Nicolo berät sich mit Xavieren, die in Elviren ein Hin<strong>de</strong>rnis für ihre Beziehung<br />

zu Nicolo sieht. Xaviera ist sich sicher, <strong>de</strong>n porträtierten Mann zu i<strong>de</strong>ntifizieren.<br />

59:34<br />

20 Bei<strong>de</strong> nutzen eine Abwesenheit, in das Zimmer Elvirens einzudringen. Die<br />

Tochter Xavierens, die mit ihnen gegangen ist, glaubt in <strong>de</strong>m Porträt Nicolo zu<br />

erkennen. Nicolo ist verlegen; er beginnt zu glauben, er wer<strong>de</strong> von Elviren<br />

erotisch verehrt. Xaviera ist eifersüchtig. 60:22<br />

21 Nicolo erinnert sich <strong>de</strong>s vergangenen zufälligen Zusammentreffens mit<br />

Elviren. Ihm schmeichelt die vermutete Verliebtheit Elvirens. Damit verbin<strong>de</strong>t<br />

sich die Begier<strong>de</strong>, sich an Elvire zu entlarven und sich zugleich zu rächen. 60:33<br />

22 Nicolo ist verunsichert, weil Elvire das Porträt „Colino“ genannt hatte; aber er<br />

re<strong>de</strong>t sich Gewißheit ein. 61:9<br />

23 Elvire kommt mit einer Gastfreundin von einer kurzen Reise zurück. Sie<br />

beachtet Nicolo nicht im von ihm erwarteten Sinne und verbringt mehrere<br />

Wochen nur mit <strong>de</strong>r Freundin. Nicolo ist verärgert, zumal sich Elvire auch nach<br />

<strong>de</strong>r Abreise ihrer Freundin ihm nicht zuwen<strong>de</strong>t. 61:32<br />

24 Piachi sucht vergeblich eine Schachtel mit Lernbuchstaben. Man fin<strong>de</strong>t nur<br />

wenige Buchstaben, die zu Nicolos Verblüffung das Wort „Colino“ zulassen. Nicolo<br />

bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Namen und legt ihn sichtbar für Elvire aus. 62:24<br />

25 Die Wirkung auf Elvire tritt ein; sie wirkt „beklommen“, errötet, und Nicolo ist<br />

sich nun sicher, daß „Colino“anagrammatisch zu Nicolo gedacht ist. Elvire begibt<br />

sich verstört in ihr Zimmer. 63:6<br />

26 Piachi sucht Elvire, fin<strong>de</strong>t sie kränklich in ihrem Zimmer. Nicolo schließt<br />

daraus, das Rätsel um ihre „traurige Stimmung“ gelöst zu haben. 63:16<br />

27 Nicolos Gewißheit wird enttäuscht, als Xaviera ihm eröffnet, eine Beichte<br />

Elvirens habe ergeben, daß das Porträt in ihrem Zimmer einen „seit zwölf Jahren<br />

im Grabe schlummern<strong>de</strong>n Toten“ zeige. 63:35<br />

28 Über die Herkunft <strong>de</strong>s Porträts wird Nicolo ausführlich aufgeklärt. Er wird<br />

dringend ersucht, das offenbarte Beichtgeheimnis nicht auszuplau<strong>de</strong>rn. 64:11<br />

29 Nicolo verläßt in verwirrtem Zustand Xaviera. Er beschließt, Elviren mit einem<br />

Betrug zu verführen, wobei er auf <strong>de</strong>n überreizten Nervenzustand Elvirens setzt.<br />

64:23<br />

30 Nicolo begibt sich in Elvirens Zimmer und stellt verklei<strong>de</strong>t die genueser Figur<br />

Colino nach. Er erwartet so „Elvirens Vergötterung“. 64:36<br />

31 Elvire kommt, erkennt die Täuschung nicht, entklei<strong>de</strong>t sich, ruft ekstatisch<br />

„Colino“ an und sinkt verliebt in Ohnmacht. 65:6<br />

32 Zielbewußt macht sich Nicolo über sie her. Er ist sich sicher, daß Elvire auch<br />

bei Erwachen aus ihrer Ohnmacht „keinen Wi<strong>de</strong>rstand leisten“ wer<strong>de</strong>. 65:20<br />

33 Piachi taucht auf wie die Göttin <strong>de</strong>r vergelten<strong>de</strong>n Gerechtigkeit (Nemesis).<br />

65:27<br />

34 Piachi reagiert auf Nicolos Beschwichtigungen ruhig. Piachi nimmt eine<br />

„Peitsche von <strong>de</strong>r Wand“ und verweist Nicolo <strong>de</strong>s Raumes. Auch Elvire scheint<br />

sich rasch zu erholen. 66:2<br />

35 Überraschend dreht Nicolo pötzlich <strong>de</strong>n Spieß um und verweist Piachi mit<br />

Hinweis auf seine Besitzansprüche <strong>de</strong>s Zimmers. Piachi eilt völlig außer Sinnen<br />

zu seinem Rechtsfreund Valerio, in <strong>de</strong>ssen Zimmer er bewußtlos<br />

zusammenbricht. 66:39<br />

36 Nicolo flieht zu <strong>de</strong>n Karmelitermönchen und bittet um Schutz vor <strong>de</strong>m<br />

„Narren“ Piachi. Tatsächlich erläßt auf Einfluß <strong>de</strong>s Bischofs die Regierung ein<br />

Dekret gegen Piachi. Der verliert damit allen Besitz. 66:31<br />

37 Elvire stirbt entkräftet. Piachi stürmt in sein Haus und drückte Nicolo „das<br />

Gehirn an die Wand“, stopft Nicolo das Dekret in <strong>de</strong>n Mund. Für diese Rache wird<br />

Piachi zum To<strong>de</strong> verurteilt. 67:8<br />

11


12<br />

38 Kirchenrechtlich – zur Rettung <strong>de</strong>r Seele vor <strong>de</strong>r Hölle – muß je<strong>de</strong>r Zum-To<strong>de</strong><br />

-Verurteilte die Absolution bekommen. Piachi lehnt sie ab. Er will seine Rache in<br />

<strong>de</strong>r Hölle fortführen. Piachi stirbt ohne Absolution. 68:13<br />

II 02 Teleologie <strong>de</strong>s Geschehens<br />

<strong>Kleist</strong> erfin<strong>de</strong>t einen Erzähler: Der Erzähler <strong>de</strong>r „Findling“-Novelle ist ein<br />

auktorialer Erzähler, <strong>de</strong>r die Fakten <strong>de</strong>s Geschehens mit spontaner<br />

Wertung begleitet und bei seiner Kurzerzählung in eine Seelenhaltung /<br />

Erzählhaltung gerät, die <strong>de</strong>r ähneln mag, die ein Soldat beim Kurz-<br />

Rapport seiner Frontmeldung hat. („kurz antwortete“ 51:5; „unter einen<br />

kurzen Erzählung <strong>de</strong>s Vorfalls“ 51:14f): Um Affekt-Neutralität bemüht,<br />

mel<strong>de</strong>t er ausschließlich Fakten, nimmt sich nur die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />

Kommentierung heraus (z.B. „seiner jungen trefflichen Gemahlin“<br />

51:15). Das Erzähltempus (Präteritum) gibt <strong>de</strong>m Bericht <strong>de</strong>n<br />

Erzählcharakter, <strong>de</strong>r die Art <strong>de</strong>s Zuhörens aus <strong>de</strong>r berichttypischen<br />

Spontan-Aufmerksamkeit in eine erzähltypische Dauer-Aufmerksamkeit<br />

verwan<strong>de</strong>lt.<br />

Das Teleologische <strong>de</strong>s Geschehens: Der Tod <strong>de</strong>s Sohnes PAOLO<br />

stigmatisiert alles Folgen<strong>de</strong>. Dieser „Tod“ ist <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>punkt <strong>de</strong>s<br />

Novellengeschehens und steht bereits am Anfang <strong>de</strong>r Erzählung.<br />

Es mag sich manchmal bei <strong>de</strong>n erzählten Figuren und beim Leser<br />

Beruhigung über das Schicksalhafte einstellen: Zufrie<strong>de</strong>nheit mit ihm<br />

(Nicolo) (52:19), und damit die Hoffnung, alles wer<strong>de</strong> sich zum Guten<br />

fügen: Da ist die Gelehrigkeit NICOLOs im Geschäftsleben (51:30-35), die<br />

Verheiratung mit CONSTANZA (52:18f). Aber das sind täuschen<strong>de</strong><br />

Lichtblicke. In Wahrheit herrscht Ungeheuerlichkeit, NICOLO ist <strong>de</strong>r<br />

Albtraum je<strong>de</strong>r Familiengeschichte<br />

Die Ungeheuerlichkeit <strong>de</strong>s berichteten Geschehensablaufs steht<br />

inhaltlich nämlich im Gegensatz zu je<strong>de</strong>r normalen Bildungs-<br />

Entwicklungs–Geschichte von christlich- und bürgerlich-i<strong>de</strong>alistischer<br />

Erwartung. Sie folgt aber <strong>de</strong>r Goethe-Formel, daß ein schlechter Anfang<br />

schließlich auch ein böses En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>, mag es zwischenzeitlich auch so<br />

aussehen, als wen<strong>de</strong> sich alles zum Guten. (Falsches Zuknöpfen <strong>de</strong>s<br />

Hem<strong>de</strong>s).


13<br />

<strong>Kleist</strong>s Novelle „Der Findling“ ist eine „kurz erzählte“ Novelle, die<br />

abschließend die Worte haben könnte: „So war`s! So ist`s! Wer wollte in<br />

dieser Welt leben?“<br />

II.03 Keine moralische Geschichte<br />

PIACHIs Wut steigert sich wegen <strong>de</strong>s Versagens <strong>de</strong>r Selbstbeobachtung<br />

und Selbsteinschätzung: PIACHI hatte sein Leben <strong>de</strong>r „Ehrlichkeit“, wie er<br />

sie als Kaufmann verstand, unterstellt, sieht sich aber „ent“-täuscht. War<br />

die erotische Entgleisung von NICOLO noch eine Angelegenheit, die<br />

PIACHI „still abzumachen“ (65:32f) gedachte, so sind die folgen<strong>de</strong>n<br />

wirtschaftlich rechtlichen Unverschämtheiten NICOLOS (die Besitznahme<br />

von Haus und Hof) eine to<strong>de</strong>swürdige Beschämung.<br />

PIACHI hatte sein Leben einer systematischen Kontrolle unterworfen.<br />

Er wußte nicht und konnte nicht ahnen, daß ihm mit <strong>de</strong>r Aufnahme<br />

NICOLOS in seine Kutsche alles schleichend, aber unaufhaltsam aus <strong>de</strong>r<br />

Hand genommen wird. Seine regulieren<strong>de</strong>n, ordnen<strong>de</strong>n Maßnahmen<br />

täuschen Kontrollfähigkeit vor, lenken vom Unvermeidlichen ab, bis die<br />

Katastrophe unvermeidbar wird. Hier lassen sich „Differenzen“ (Derrida)<br />

konstruieren, die höchste ästhetische Aufmerksamkeit und Erregung<br />

hervorbringen. Gera<strong>de</strong> LeserInnen, die in ähnlicher Kontingenz ihr Leben<br />

zubringen, können höchst beunruhigt aufmerken.<br />

PIACHI erkennt mit <strong>de</strong>r Verdichtung <strong>de</strong>r beschämen<strong>de</strong>n Ereignisse <strong>de</strong>n<br />

„wahren“ NICOLO. Die Täuschung wird als Selbsttäuschung sichtbar;<br />

anfänglich konnten ELVIRE und PIACHI alles von NICOLO Initiierte als<br />

„harmlos“ verdrängen; aber unerbittlich drängt alles zum Untergang und<br />

Abgrund. Die schlimmstmögliche Genealogie (Foucault) zu suchen<br />

ist <strong>Kleist</strong>s Produktionsprinzip.<br />

Das Geschehen wird aber keine moralische Geschichte, da es keine<br />

Moraldidaxe (Willems) gibt, die wahre Tugend beför<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. Alle<br />

Personen in DER FINDLING sind nicht schuldig, da sich eine ein<strong>de</strong>utige<br />

Moral nicht einstellt. Wenn zum Recht die Moral hinzukäme, wür<strong>de</strong> alles


14<br />

zum Tribunal: Hier stellt sich we<strong>de</strong>r Recht ein noch Moral, die maßgebend<br />

sein könnten. Es gibt kein Hin-Und-Hergerissen-Sein zwischen „guten“<br />

und „bösen“ Gelüsten und damit nicht die moralische Fatalität <strong>de</strong>r Existenz<br />

<strong>de</strong>s Menschen. Von allen Personen geht eine Wirkung aus, die je nach<br />

Wirkabsicht, vom Guten zum Bösen und umgekehrt gekippt wer<strong>de</strong>n<br />

kann. Das Kippmoment in <strong>de</strong>r Kunst ist ein beson<strong>de</strong>rs<br />

wirkungsträchtiges Mittel. So kann man zum Beispiel in NICOLO eine<br />

Figur mit eigenpersonaler Individuierung sehen (Blamberger).<br />

II 04 Postkatastrophische Anomie<br />

Die Wen<strong>de</strong> in PIACHIs Leben kommt nicht durch eine Katastrophe<br />

außergewöhnlicher Art, son<strong>de</strong>rn durch ein Ereignis, das zwar zur Trauer<br />

Anlaß gibt, aber doch familialer Normalität zugehört: durch <strong>de</strong>n Tod<br />

PAOLOs, seines Sohnes. Schon einmal hat PIACHI <strong>de</strong>n Tod in seiner<br />

Familie bewältigt. Er hat nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mutter PAOLOs ein zweites<br />

Mal geheiratet. Auch jetzt scheint sich PIACHI mit <strong>de</strong>r fraglosen Aufnahme<br />

<strong>de</strong>s Findlings NICOLO - an Sohnes statt - ungebrochen in sein<br />

Lebensschicksal zu fügen. Doch kaum merklich ist ein Verlust an sozialer<br />

Bin<strong>de</strong>kraft eingetreten. Der Verlust wird trotz aller<br />

Verdrängungsbemühungen nicht mehr aufzuhalten sein. Es ist das<br />

Unheimliche <strong>de</strong>s kaum bemerkten Mienenspiels: NICOLO entwickelt sich<br />

zwar als kaufmännischer Nachfolger erfolgversprechend, aber <strong>de</strong>r äußere<br />

Schein trügt. Eine bei NICOLO zu beobachten<strong>de</strong>, verstören<strong>de</strong> „Bigotterie“<br />

und <strong>de</strong>ssen „Hang zu <strong>de</strong>n Weibern“ (56:4f) wer<strong>de</strong>n zunächst durch<br />

familiäre Maßnahmen gebändigt, aber nicht getilgt. Hier ist PIACHI sogar<br />

noch „geneigt“, die Übergriffigkeit NICOLOs bei ELVIRE „still abzumachen“<br />

(65:33). Doch das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r innerfamiliären Verlaufs ist eine von PIACHI<br />

empfun<strong>de</strong>ne „postkatasthrophische Anomie“ (H.Böhme:39), die keine<br />

Besonnenheit und Mäßigung mehr zuläßt. Sie tritt endgültig ein, als<br />

NICOLO das ihm „auf gerichtliche Weise“ (52:35) zugesprochene Erbe<br />

moralisch aufs schamloseste, aber rechtlich nahezu unangreifbar gegen<br />

PIACHI einsetzt und diesen damit gesellschaftlich und in seinem


15<br />

Selbstverständnis bis zum „Garaus“ schädigt. Das „Leben“ schlägt<br />

ungebremst durch zivilisieren<strong>de</strong> Maßnahmen unbarmherzig zu.<br />

H. Böhme (41) stellt überzeugend fest:<br />

„[...], daß <strong>de</strong>r gleichzeitige Kollaps leiblicher und zivilisatorischer<br />

Abgrenzungssysteme <strong>de</strong>n Menschen sozusagen zum „reinen“ Lebewesen<br />

machen – ohne das Bewußtsein, das ihn als soziale I<strong>de</strong>ntität auszeichnet.“<br />

NICOLO, PIACHI und ELVIRE leben ohne moralische Rechenschaft<br />

gegenüber an<strong>de</strong>ren und sich selbst die Zweifelsfreiheit ihres Verhaltens<br />

und Tuns. Es ist so, als gebe ihre „Natur“ ihnen dazu das Recht: ein<br />

narzißtischer Zug. Der heutige Mensch muß sich mit dieser sozialen<br />

Erfahrung um seiner psychischen Stabilität willen auseinan<strong>de</strong>rsetzen. Der<br />

hier <strong>de</strong>utlich sichtbare Mangel an sozialer Harmonie im familiären<br />

Generationenvertrag wird beim bürgerlich sozialisierten Leser Befremdung<br />

auslösen. Die Differenz zwischen moralischer Erwartung und erzählter<br />

Wirklichkeit führt zu einem ästhetischen Wirbel, <strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>r Aufgabe<br />

jeglicher sozialen Scham sowohl bei NICOLO als auch bei PIACHI und<br />

<strong>de</strong>m Velust <strong>de</strong>r Selbstscham ELVIRENs (Schuller) für <strong>de</strong>n Leser im Ekel<br />

mün<strong>de</strong>t (Scheler:83,122).<br />

Es ist naheliegend, die Schamlosigkeit erben<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r gegenüber ihren<br />

Eltern aus persönlicher Erinnerung in die Erfahrung zu rufen. Gesteigert<br />

wird diese Empfindung durch die Belehrung, daß NICOLO rechtlich kaum<br />

etwas vorzuwerfen ist und daß in <strong>de</strong>r heutigen Zeit vertragliches Recht vor<br />

moralischem Brauchwert gilt.<br />

II 05<br />

Patchwork-Kontingenz<br />

Schaut man auf das Personenverzeichnis <strong>de</strong>r Novelle, so scheinen mit <strong>de</strong>r<br />

Kontingenz <strong>de</strong>s Familialen und <strong>de</strong>r sozialen Beziehungen überhaupt die<br />

Bindungen unheilvoll geschwächt. Die Mißverständnisse und<br />

Unvereinbarkeiten gehen so weit, daß alle Beteiligeten umkommen:<br />

PIACHIs erste Frau erlei<strong>de</strong>t einen unbekannten Tod,<br />

COLINO, <strong>de</strong>r Geliebte ELVIREns, <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>ntod,<br />

PAOLO, <strong>de</strong>r Sohn aus erster Ehe, <strong>de</strong>n Pesttod,


16<br />

CONSTANZA, die verkuppelte Ehefrau NICOLOs, <strong>de</strong>n Kindbetttod,<br />

ELVIRE, <strong>de</strong>r öffentlichen „Untreue“ überführt, <strong>de</strong>n Liebeskummertod,<br />

NICOLO, <strong>de</strong>r familienschän<strong>de</strong>rische Stiefsohn, <strong>de</strong>n Rachetod,<br />

PIACHI, <strong>de</strong>r „Ent“-täuschte, schließlich <strong>de</strong>n Rächertod.<br />

Alles zusammen ist eine soziale Exkommunizierung <strong>de</strong>s Familialen. Die<br />

Ausrottung <strong>de</strong>r sozialen Einheit – so kann man um <strong>de</strong>r aktualen Wirkung<br />

willen empfin<strong>de</strong>n - ist ein Explosivmotiv, entstammend familialer<br />

Patchwork-Kontingenz. Es darf hier nicht vergessen wer<strong>de</strong>n, daß zur<br />

Patchwork-Familie im erweiterten Sinne auch XAVIERA und <strong>de</strong>r BISCHOF<br />

gehören. NICOLO hat mit XAVIERA die Tochter KLARA, von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bischof<br />

allerdings annimmt, es sei die seine (60:15-17).<br />

Sigrid Weigel weist ausdrücklich auf <strong>Kleist</strong>s Erzählung DER FINDLING hin,<br />

wenn sie über die „explosive familiale Konstellation“ um a. 1800 schreibt:<br />

... wird die Familie „zum Schauplatz von genealogischen Unsicherheiten und von Konflikten zwischen <strong>de</strong>n<br />

Generationen und familialen Positionen. So je<strong>de</strong>nfalls läßt sich die Tatsache <strong>de</strong>uten, daß sich die dramatis<br />

personae in <strong>de</strong>r Literatur um 1800 <strong>de</strong>utlich auf das familiale Feld konzentrieren und <strong>de</strong>r Explosions- und<br />

Emotionsgehalt <strong>de</strong>r dort ausgetragenen Konflikte erheblich zunimmt. (Weigel:135f).<br />

Wen das Thema „Patchwork-Familie“ berührt, <strong>de</strong>n wird eine<br />

beängstigen<strong>de</strong> „Wirkung“ einholen, selbst wenn das erzählte „Unheil“ als<br />

„bestreitbar“ eingeschätzt wer<strong>de</strong>n muß. Hier muß allerdings in Erinnerung<br />

gerufen wer<strong>de</strong>n, daß die Ästhetik keine existentielle Aufregung kennt<br />

(Friedrich Schiller); <strong>de</strong>r Rezipient also aus <strong>de</strong>m Abstand <strong>de</strong>s Als-Ob<br />

empfin<strong>de</strong>t und er eher Einsicht gewinnt, als daß er sich gezwungen sähe,<br />

Verhaltenskonsequenzen einzuleiten. Ästhetik ist eher ein<br />

erkenntnistheoretisches Phänomen als ein ethisches.<br />

II 06 Erratischer Findling<br />

Der Titel DER FINDLING <strong>de</strong>utet bereits auf das mangeln<strong>de</strong> und nur<br />

spekulative Wissen um <strong>de</strong>n Ursprung NICOLOs.<br />

Auch <strong>Kleist</strong> kann als Findling in dieser Welt ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.<br />

FINDLING = ausgesetztes, gefun<strong>de</strong>nes Lebewesen, mit unbekannten<br />

Eltern.<br />

FINDLING = erratische Blöcke (seit 19. Jh. Grimmsches Wörterbuch)


17<br />

Sujet: Aufnahme eines Fin<strong>de</strong>lkinds.<br />

Die gesamte Problematik von Pflegekin<strong>de</strong>rn wird zum Kontext.<br />

Es geht genauer um die Aufnahme von Pflegekin<strong>de</strong>rn, die Tod und<br />

Ver<strong>de</strong>rben bringen.<br />

Der i<strong>de</strong>ale Leser: Pflegeeltern mit entsprechen<strong>de</strong>r Erfahrung.<br />

Von FINDLING wird nur im Titel gesprochen, sonst nicht im Text.<br />

Es ist ein erratischer Findling, <strong>de</strong>r anfangs am Wege liegt und<br />

mitgenommen wird, <strong>de</strong>r dann immer mehr im Wege liegt und zuhause<br />

nicht zur Familienlandschaft gehört.<br />

Es kann also nur von <strong>de</strong>m FINDLING als Hin<strong>de</strong>rnis-Motiv weitergedacht<br />

wer<strong>de</strong>n. Was ein Schmuckstück (Dekor), ein ersetzen<strong>de</strong>s Tauschsubjekt<br />

<strong>de</strong>r Familien-Landschaft sein könnte, entpuppt sich mehr und mehr als<br />

stören<strong>de</strong>s Hin<strong>de</strong>rnis. Dieses Hin<strong>de</strong>rnis wird immer übermächtiger bis es<br />

die gesamte Familienlandschaft zerstört hat. Die Darstellung <strong>de</strong>s<br />

Übermächtig-Wer<strong>de</strong>ns von Etwas, <strong>de</strong>ssen Ursprung fremd ist, streng nach<br />

teleologischem Prinzip, ist das Erzählziel. Es geht um die Verdrängung<br />

<strong>de</strong>s angestammten Familiären:<br />

Verdrängung PAOLOs<br />

Verdrängung <strong>de</strong>s Ehemannes ELVIREs<br />

Verdängung PIACHIs aus <strong>de</strong>m Hauseigentum<br />

Die unheimliche und dämonisieren<strong>de</strong> Ausweitung <strong>de</strong>s Zersetzen<strong>de</strong>n, aus<br />

<strong>de</strong>r Harmlosigkeit <strong>de</strong>r Geringheit geboren, ins Böse metaphysischen<br />

Ausmaßes sich ausweiten: NICOLO.<br />

NICOLO ein Krebsgeschwür im Familienorganismus.<br />

II 07 Ästhetik <strong>de</strong>s Schweigens<br />

Die Ästhetik <strong>de</strong>s Schweigens dient <strong>de</strong>r Hervorhebung <strong>de</strong>s Re<strong>de</strong>ns.<br />

Der Alte tat mehrere Fragen an ihn, worauf jener aber nur kurz antwortete: ungesprächig und in sich gekehrt<br />

saß er, die Hän<strong>de</strong> in die Hosen gesteckt, im Winkel da, und sah sich, mit gedankenvoll scheuen Blicken, die<br />

Gegenstän<strong>de</strong> an, die an <strong>de</strong>m Wagen vorüberflogen. 51:4


18<br />

Humanphonetische Laute, Phoneme, tauchen auf aus <strong>de</strong>m Schweigen und<br />

verlangen ungestörte Klarheit für das ausgewogene Verhältnis zwischen<br />

Assimilation und Dissimilation, bereit zur Konstituierung<br />

be<strong>de</strong>utungstragen<strong>de</strong>r Kontinua. Phonetisch-I<strong>de</strong>ntifizierbares<br />

herauszuhören aus einem „Meer von Geräuschen“ ist ein das Menschliche<br />

versprechen<strong>de</strong>r Akt. Entsprechend enttäuschend ist die Rückfahrt PIACHIs<br />

aus Ragusa.<br />

NICOLO knackt Nüsse statt auf PIACHIs Fragen zu antworten.<br />

Geräusche sind <strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>s Schweigens, <strong>de</strong>s Re<strong>de</strong>ns und Hörens. Sie<br />

beför<strong>de</strong>rn das Rauschen in <strong>de</strong>r Kommunikation. Sie symbolisieren<br />

Verletzlichkeit bis Versagen kommunikativer Anstrengungen. Ist doch von<br />

<strong>de</strong>r Hoffnung auf Kommunikation ist je<strong>de</strong> soziale Bindungsbemühung<br />

getragen; PIACHI will neu beginnen; in <strong>de</strong>r neuen Familialität ist dieser<br />

Versuch von Anfang an unfruchtbar:<br />

„Der Alte tat mehrere Fragen an ihn [Nicolo, Ks], worauf jener aber nur kurz antwortete: ungesprächig und in<br />

sich gekehrt saß er, die Hän<strong>de</strong> in die Hosen gesteckt, im Winkel da [...] und während Piachi sich die Tränen<br />

vom Auge wischte, nahm er sie [ die Nüsse, Ks] zwischen die Zähne und knackte sie auf.“ (51:4-13)<br />

NICOLO kann nur mit XAVIERA <strong>de</strong>n dunklen Austausch einer<br />

Gemeinsamkeit teilen (63:17-35). „KLARA“ (60:16) heißt ihre<br />

gemeinsamen Sprache.<br />

Privatsphären: Das Rauschen im mentalen Miteinan<strong>de</strong>r ist ausgeprägt,<br />

was sich im Aufbauen streng abgegrenzter Privatsphären zeigt: Da ist<br />

(1) ELVIREns Liebschaft zum porträtierten COLINO, einem „porträthaften“<br />

NICOLO (Schuller:20); (2) das Ausleben öffentlichkeitsscheuer<br />

Bedürfnisse: NICOLOs Liebschaften. Aber auch die Nicht-Anwesenheiten<br />

PIACHIs in <strong>de</strong>r Familie , die verhängnisvolles Geschehen anzulocken<br />

scheinen bis zur verhängnisvoll verfrühten Erbvergabe an NICOLO<br />

(52:29).<br />

Das Schweigen und Verschweigen sind an vielen Beispielen zu zeigen:<br />

Von ELVIRE heißt es, daß „niemals, so lange sie lebte, [...] ein Wort, jene<br />

Begebenheit betreffend, über ihre Lippen gekommen war.“. ELVIREns<br />

Ohnmacht nach <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>r „Maske eines genuesischen<br />

Ritters“ (54:31) blieb „in ein ewiges Geheimnis“ (55:30) gehüllt. Sogar


19<br />

über NICOLOs Übergriff soll offenbar <strong>de</strong>r „Mantel <strong>de</strong>s Schweigens“<br />

gezogen wer<strong>de</strong>n: „[...] <strong>de</strong>r Alte [war, Ks] geneigt, die Sache still<br />

abzumachen [...]“ (65:42f).<br />

II 08 Schlüssel<br />

Das „Schlüssel“-Motiv (Schuller:27-31) symbolisiert, wie alles ein<br />

„Geheimnis“ ist, wie es unter Verschluß steht und stehen will und nur aus<br />

<strong>de</strong>r Schlüsselloch-Perspektive mehr<strong>de</strong>utig und „zer<strong>de</strong>utend“ erschlossen<br />

wird.<br />

Hieraus wird auch ersichtlich, wie unzureichend die Vorstellung von einer<br />

„verstehen<strong>de</strong>n Interpretation“ ist. Mißverstan<strong>de</strong>n wird grundsätzlich alles.<br />

Wenn auch grammatologisches Nachvollziehen und kommunikativ<br />

ausgleichen<strong>de</strong>s Bemühen eine Art Verständigung herbeiführen wollen, das<br />

Mißverständnis bleibt, versucht sich durchzusetzen und „frohlockt“.<br />

Das „Rauschen“ in <strong>de</strong>n Beziehungen ist das Treibmittel für aufs Mißlingen<br />

ausgerichtete Geschehensdynamik:<br />

Es gibt Geheimnisse, einige wenige mit dazugehörigem Schlüssel.<br />

Manche Geheimnisse sind Probleme: <strong>de</strong>r Findling bleibt unerschlüsselt.<br />

Es liegt nicht im Geheimnisse aufge<strong>de</strong>ckt zu wer<strong>de</strong>n: etwa mittels<br />

Schlüssel.<br />

Man hat <strong>de</strong>n Schlüssel o<strong>de</strong>r man hat ihn nicht. Der Schlüssel ist damit ein<br />

Symbol <strong>de</strong>s Binarismus unseres Weltzugangs.<br />

PIACHI und ELVIRE haben die Schlüssel. Sie können überall einundausgehen.<br />

Sie sind <strong>de</strong>shalb mächtig, alles zu wissen und zu erfahren.<br />

Das führt zu <strong>de</strong>m Umstand, daß sie überall und je<strong>de</strong>rzeit hinzukommen<br />

können:<br />

(ELVIRE) in sein Zimmer tretend, ein Mädchen bei ihm fand (56).<br />

Der Schlüssel als Zeichen hausfraulicher Gewalt, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Abweichung <strong>de</strong>s<br />

Familären o<strong>de</strong>r im „Haushalt“ un verborgen sein wird.<br />

PIACHI hat <strong>de</strong>n Schlüssel zu ELVIREns Zimmer... .


20<br />

NICOLO hat die Schlüssel nicht, muß sie sich stets besorgen. Er weiß nicht<br />

alles, täuscht sich bei seinen Annahmen gründlich.<br />

NICOLO lebt ständig mit Fehlvorstellungen. Diese Fehlvorstellungen sind<br />

die sich einstellen<strong>de</strong>n Gewohnheiten aufgrund seiner lie<strong>de</strong>rlichen<br />

Lebensneigungen. Nichts erschließt sich ihm.<br />

Da NICOLO kaum Zugang hat zur Offenheit, ist er stets voller Neugier<br />

und Mißtrauen<br />

Der Schlüssel als phallisches Privileg?<br />

Elvire: einen Bund Schlüssel an <strong>de</strong>r Hüfte<br />

ELVIREs Verschlossenheit; sie hält vieles geheim.<br />

Wer etwas verschließt, hat etwas zu verbergen.<br />

III STIL<br />

III 01 Künstlerische Sprachbehandlung<br />

Ein Ausgleich <strong>de</strong>s historischen Abstands zwischen Text, <strong>de</strong>r Textsprache<br />

und gegenwärtigem Leser ist kaum nötig, wohl aber ein sozialgesell–<br />

schaftlicher Hinweis zum Stil.<br />

<strong>Kleist</strong> kennt kein Hin-Und-Her-Gerissensein, vielmehr ein geistige<br />

Marschbewegung. Die Sprache muß stramm stehen und sich die Worte<br />

sparen. Die raum-zeitlichen Konturen sind klar. Wie ein Soldat macht er<br />

Meldung <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r „Soldatenrealität“ wichtig ist:<br />

Antonio Piachi, ein wohlhabewn<strong>de</strong>r Güterhändler in Rom, war genötigt, in seinen Han<strong>de</strong>lsgeschäften zuweilen<br />

große Reisen zu machen [...] (49:1-3)<br />

[...] In Rom stellte ihn Piachi, unter einer kurzen Erzählung <strong>de</strong>s Vorfalls, Elviren, seiner jungen trefflichen<br />

Gemahlin vor [...] (51:14)<br />

Von „Soldatenstil“, kurz und bündig berichtend, kann man sprechen,<br />

wenn „in <strong>de</strong>r Geste <strong>de</strong>r Aufklärung“ über <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r Familie (Kraß<br />

2010) berichtet wird. Der teleologischen Dynamik <strong>de</strong>s Novellistischen<br />

kommt das entgegen.<br />

Die Differenz <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>schen Sprache zum Sachtextstil besteht darin, daß<br />

im fiktionalen Text Assertion (klare Versicherung) und Mehr<strong>de</strong>utigkeit<br />

zusammenfin<strong>de</strong>n müssen.<br />

„Illokutiv han<strong>de</strong>lt es sich [beim Sach-Bericht, Ks] um eine Verkettung von Assertionen. Der Zweck <strong>de</strong>s<br />

BERICHTENS besteht darin, ein Geschehen nach <strong>de</strong>r Vorgabe [...] externer Relevanzmaßstäbe so


21<br />

zusammenzufassen, daß [...] für je<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rgegebenen Sachverhalt ein Wahrheitsanspruch erhoben wer<strong>de</strong>n<br />

kann.“ (Zifonun 1:127)<br />

<strong>Kleist</strong> transformiert <strong>de</strong>n Bericht-Stil für seine Novelle mit sozialer<br />

Thematik und künstlerischer Viel<strong>de</strong>utigkeit angemessen.<br />

Es bleibt aber die soldatische Sprachgeste. Hierzu einige Hinweise:<br />

<strong>Kleist</strong> reizt für die Wirkungserzeugung <strong>de</strong>n Eindruck aus, <strong>de</strong>n<br />

soldatischer Bericht als „wahrheitliche“ Wie<strong>de</strong>rgabe auszulösen pflegt.<br />

Die Knappheit <strong>de</strong>r Soldatensprache hat in sich <strong>de</strong>n Grund, daß in<br />

militärischen Kreisen keine Argumentation und beim militärischen<br />

Einsatz kein „Erzählen“ brauchbar und damit üblich ist. Hier wer<strong>de</strong>n<br />

Weisungs-Hierarchien gewahrt, nicht zuletzt auch aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Zeitersparnis und Ein<strong>de</strong>utigkeit. Der heiße militärische Einsatz führt zur<br />

Sprachlosigkeit. Ereignisbedingt treffen das Kollabieren <strong>de</strong>r<br />

Sprachfähigkeit und das „Ungenügen <strong>de</strong>r Sprache“ zusammen.<br />

<strong>Kleist</strong> kennt diesen Zustand auch bei <strong>de</strong>r sprachlichen Bewältigung<br />

eigener Innenseitigkeit :<br />

„Die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen [Hervorhebung Ks], und was sie uns gibt, sind<br />

nur zerrissene Bruchstücke [...] Daher habe ich je<strong>de</strong>smal eine Empfindung wie ein Grauen. Wenn ich jeman<strong>de</strong>m<br />

mein Innerstes auf<strong>de</strong>cken soll; nicht eben weil es sich vor <strong>de</strong>r Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen<br />

kann und daher fürchten muß, aus Bruchstücken falsch verstan<strong>de</strong>n zu sein.“ (nach Wulf:91).<br />

Das Bruchstückhafte <strong>de</strong>r Sprache wird sprachwissenschaftlich an<strong>de</strong>rs<br />

beurteilt. Hier geht es bei „Äußerungen“ um die Präzisierung <strong>de</strong>s Inhalt-<br />

Umfang-Verhältnisses. Sprache „malt“ nicht, wie <strong>Kleist</strong> beklagt (Vielleicht<br />

mit Blick auf Lessing). Die Vagheit <strong>de</strong>r Sprache ist erfor<strong>de</strong>rlich im Sinne<br />

von Plastizität, wie wir sie beim Gehirn kennen, und alle semantischen<br />

Grundmorpheme können durch Attribuierungen, <strong>de</strong>m Gebrauchszweck<br />

angemessen, präzisiert wer<strong>de</strong>n. Infinitiv- und Partizipialsätze sind die von<br />

ihm bevorzugten Mittel <strong>de</strong>r Äußerungskon<strong>de</strong>nsierung.<br />

Zu seinem Kon<strong>de</strong>nsierungsstil in <strong>de</strong>r „Kunst“, <strong>de</strong>r eher tilgt als wuchern<br />

läßt, sagt <strong>Kleist</strong> in seinem „Brief eines Dichters an einen an<strong>de</strong>ren“<br />

(II 515):<br />

„[...] und die Kunst kann, in bezug auf sie [die Sprache, Ks] auf nichts gehen, als sie möglichst verschwin<strong>de</strong>n<br />

zu machen. Ich bemühe mich aus meinen besten Kräften, <strong>de</strong>m Ausdruck Klarheit [...] zu geben: aber bloß,<br />

damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein <strong>de</strong>r Gedanke, <strong>de</strong>n sie einschließen, erscheine.“<br />

Höchste Kunst <strong>de</strong>s Sprachkünstlers ist somit, die Sprache für einen<br />

Darstellungsgegenstand so gelungen zu verwen<strong>de</strong>n, daß sie verschwin<strong>de</strong>t,


22<br />

ähnlich wie Gesundheit <strong>de</strong>n Körper verschwin<strong>de</strong>n läßt. Christoph Wulf<br />

schreibt mit <strong>de</strong>m Hinweis auf <strong>Kleist</strong>:<br />

„Die Qualität eines Dichters zeigt sich nicht darin, daß er die Sprache souverän handhabt, son<strong>de</strong>rn darin, daß er<br />

sie vergessen macht. Kunst hat die Aufgabe, die sprachlichen Fesseln <strong>de</strong>s menschlichen geistes zu überwin<strong>de</strong>n<br />

[...]“. (Wulf:1124)<br />

Die von <strong>Kleist</strong> gemeinte Trennung von Sprache und Geist betont die<br />

Mittelhaftigkeit <strong>de</strong>r Sprache.<br />

„Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen und mit Hän<strong>de</strong>n, ohne weitere<br />

Zutat, in <strong>de</strong>n Deinigen legen könnte: so wäre, die Wahrheit zu gestehn, die ganze innere For<strong>de</strong>rung meiner<br />

Seele erfüllt.“<br />

<strong>Kleist</strong> wür<strong>de</strong> man heute entgegnen, die Sprache habe nicht die Funktion<br />

einer „Schale“ (II 515), in <strong>de</strong>r man Gedachtes transportieren könne.<br />

Vielmehr seien die Gedanken sprachlich erzeugte Be<strong>de</strong>utungs- und<br />

Sinn-Kontinua. Ihre Vorstellung komme allein durch die ihr zukommen<strong>de</strong>n<br />

konventionalisierten Gebrauchsbedingungen zur Anschauung. Die<br />

Gesamtheit dieser Gebrauchsbedingungen ergibt die Be<strong>de</strong>utung eines<br />

Be<strong>de</strong>utungsträgers; keinerlei gegenständliche Anschauung kommt solchen<br />

abstrakten Gedanken zur Hilfe. Zur geschichtlichen Sprachdynamik gehört<br />

das Ringen <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungsträger, ihre normhaften Gebrauchs–<br />

bedingungen auszuweiten und zu wan<strong>de</strong>ln. Die standardsprachliche<br />

Sanktionierung solcher Versuche hängt von <strong>de</strong>r Systemanlage <strong>de</strong>s<br />

Sprachinventars ab und <strong>de</strong>m sich mehr o<strong>de</strong>r weniger einstellen<strong>de</strong>n<br />

normhaften Gebrauch (Coseriu).<br />

Da die Dichter nur auf Wirkung gerichtet schreiben, können sie ihr<br />

Sprachmaterial oft in kreativ wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Weise <strong>de</strong>n standsprachlichen<br />

Gebrauchsbedingungen entziehen und damit neue Sprachwelt aufbauen.<br />

Während <strong>Kleist</strong> also die Sprache um <strong>de</strong>r Reinheit <strong>de</strong>s Gedankens willen<br />

möglichst „verschwin<strong>de</strong>n“ lassen will bis zur Unmittelbarkeit <strong>de</strong>r<br />

Gedankenübertragung, betont die hier referierte wissenschaftliche<br />

Sprachauffassung die Notwendigkeit und Unveräußerlichkeit sprachlicher<br />

„Anwesenheit“. Gedanken ohne Sprache existieren nicht.<br />

<strong>Kleist</strong>s I<strong>de</strong>al ist eine Gedankenübertragung ohne Sprache. Seine<br />

Sprachkunst ist die Überwindung <strong>de</strong>r Sprache und damit <strong>de</strong>r<br />

sprachlichen Vermittlung gerichtet. Es geht ihm um Präzisierungs- und


23<br />

Verbesserungsarbeit an <strong>de</strong>r Sprache, wenn sie schon für die<br />

Kommunikation unverzichtbar ist. Mit seiner Dichtkunst <strong>de</strong>monstriert er<br />

uns die ästhetischen Qualitäten seiner Auffassung und auch die<br />

Leichtfertigkeit <strong>de</strong>s Umgangs. Diese Leichtfertigkeit besteht darin, daß<br />

<strong>Kleist</strong> die Systematik grammatischer Entscheidungen nicht durchhält.<br />

<strong>Kleist</strong> hat bei <strong>de</strong>n Soldaten das Sprechen gelernt. Hier ist <strong>de</strong>shalb auch die<br />

Basis seiner Spracharbeit, die auf Verbesserung <strong>de</strong>r kommunikativen<br />

Unmittelbarkeit gerichtet ist. Bei <strong>de</strong>r „Soldaten–Kommunikation“ ist die<br />

Gedankenübertragung im Beson<strong>de</strong>ren ein Problem <strong>de</strong>r störungsfreien<br />

Gedankenweitergabe. Die Soldaten-Sprache hat eine spezielle dienen<strong>de</strong><br />

Aufgabe, die in zeitlicher Kürze bewältigt sein will. An sie gewöhnt,<br />

bedient er sich ihrer bei <strong>de</strong>r Entwicklung seines dichterischen, aber auch<br />

essayistischen Stils. Auf kommunikative Kurzform weist <strong>Kleist</strong> im<br />

FINDLING selbst hin (51:5-14). Hierzu sind genauere Untersuchungen<br />

erfor<strong>de</strong>rlich, die dieser Essay nur an<strong>de</strong>uten will.<br />

Die <strong>Kleist</strong>sche Sprachverwendung wird also vom Kritiker unangemessen<br />

beurteilt, wenn man in ihr „Liebe zur Sprache“ und große Könnerschaft<br />

lobt. <strong>Kleist</strong> war ein Sprachartist wi<strong>de</strong>r Willen. Das „Ungenügen <strong>de</strong>r<br />

Sprache“ zu überwin<strong>de</strong>n hat ihn zu beobachtenswerten Sprachlösungen<br />

getrieben.<br />

„Denn das ist die Eigenschaft aller echten [Sprach-, Ks] Form, daß <strong>de</strong>r Geist augenblicklich und unmittelbar<br />

[Hervorhebung, Ks] daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn,wie ein schlechter Spiegel, gebun<strong>de</strong>n hält<br />

[...]“<br />

Wenn <strong>Kleist</strong> schreibt, er wolle „<strong>de</strong>m Klang <strong>de</strong>r Worte Anmut und Leben“<br />

geben, so geschieht das nicht im Vertrauen auf die sprachliche Potenz und<br />

Perfektionierung, son<strong>de</strong>rn im Unwillen darüber, daß <strong>de</strong>r gewöhnliche<br />

Sprachgebrauch mit viel gedankenübertragungs-bedingten Verlusten<br />

verbun<strong>de</strong>n ist, was heute gedankliches „Rauschen“ genannt wer<strong>de</strong>n<br />

könnte. Das mag für „Sprachliebhaber“ eine Verunglimpfung <strong>Kleist</strong>schen<br />

Stils sein, es ist aber eine pragmatischen Gebrauchseinschätzung sehr viel<br />

näher kommt.


24<br />

Das Paradoxe <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>schen Sprachleistung ist somit, daß <strong>Kleist</strong> <strong>de</strong>m<br />

Ungenügen <strong>de</strong>r Sprache damit begegnet, daß er ihre „Form“ solange<br />

verbessert, bis er sie abgeschafft hat. Die Wahl <strong>de</strong>r „Soldaten-Sprache“,<br />

wie ich es hier nennen will, ist dafür ein Schritt.<br />

<strong>Kleist</strong>s Kampf gegen das „Ungenügen <strong>de</strong>r Sprache“ (Freud wür<strong>de</strong><br />

formulieren: Das Unbehagen in <strong>de</strong>r Sprache.) for<strong>de</strong>rt heraus, genauer<br />

hinzuschauen, was dabei herauskommt, wenn er seinen Stil <strong>de</strong>r<br />

Sprachüberwindungs-Artistik einsetzt.<br />

(1) Die Sprachverwendung kann bei <strong>Kleist</strong> bis zur grammatischen<br />

Leichtfertigkeit führen. Hier muß man korrigierend mithören. Im folgen<strong>de</strong>n<br />

Beispiel ist die personalen Hinweisfunktionen (Deixis) gestört:<br />

Mehrere Tage sprach Piachi kein Wort mit ihm; und da er Piachi? o<strong>de</strong>r Nicolo? gleichwohl, wegen <strong>de</strong>r<br />

Hinterlassenschaft Constanzes, seiner Geneigtheit und Gefälligkeit bedurfte: so sah er sich genötigt [...]<br />

(57:21-24)<br />

(2) Die syntaktische Wohlgeformheit (Behaghel) wird aufgehoben.<br />

Einst ging er, zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> Piachi außer <strong>de</strong>m Hause war, an Elvirens Zimmer vorbei, und hörte, zu<br />

seinem Befrem<strong>de</strong>n, daß man darin sprach. (58:9-11)<br />

Grammatisch korrekt lautet <strong>de</strong>r Satz:<br />

Einst , zu einer Zeit ablaufend, da Piachi gera<strong>de</strong> außer <strong>de</strong>m Hause war, ging er (d.i. NICOLO) an Elvirens<br />

Zimmer vorbei und [er] hörte, daß man darin sprach, (was zu seinem Befrem<strong>de</strong>n Anlaß gab).<br />

Der Grammatiker spricht von Hervorhebungsstellung, wenn die<br />

syntaktische Erstposition (die Zeitangabe) durchbrochen wird.<br />

Einst (ging er), zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> Piachi außer <strong>de</strong>m Hause war, ging er<br />

(3) Häufung <strong>de</strong>r Gleichzeitigkeit: Technik <strong>de</strong>r vielfachen synchronischen<br />

Vorstellung:<br />

Einst, zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> [...]<br />

(4) Kon<strong>de</strong>nsation als soldatische Kurzformsprache<br />

Alle Satzglie<strong>de</strong>r (=Freie Angaben), die nicht durch Valenz ans Prädikat<br />

gebun<strong>de</strong>n sind, können als ehemals eigenständige Sätze gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />

Sie wer<strong>de</strong>n in paradigmatischer Beziehung in bestehen<strong>de</strong> Sätze<br />

eingebaut: zum Beispiel als Partizipialsätze. Sie wer<strong>de</strong>n in Kommata<br />

eingeschlossen. Das gilt auch, wenn das Partizip weggelassen wird.<br />

III 02 Kommasetzung<br />

Es ist zu beurteilen, ob Flüchtigkeit und Unkenntnis o<strong>de</strong>r<br />

Systementscheidungen vorliegen? Welche Wirkung ist beabsichtigt?


25<br />

01 Einst ging er [Nicolo](,) zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> Piachi<br />

außer <strong>de</strong>m Hause war, an Elvires Zimmer vorbei(,) und<br />

hörte(,) zu seinem Befrem<strong>de</strong>n, daß man darin sprach.<br />

02 Von raschen, heimtückischen Hoffnungen durch–<br />

zuckt, beugte er sich mit Augen und Ohren gegen das<br />

Schloß nie<strong>de</strong>r, und – Himmel! Was erblickte er? 03 Da<br />

lag sie [Elvire](,) in <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>r Verzückung(,) zu<br />

Jeman<strong>de</strong>s Füßen, und ob er gleich die Person nicht<br />

erkennen konnte, so vernahm er doch ganz <strong>de</strong>utlich,<br />

recht mit <strong>de</strong>m Accent <strong>de</strong>r Liebe ausgesprochen, das<br />

geflüsterte Wort: Colino. 04 Er legte sich mit klopfen–<br />

<strong>de</strong>m Herzen in das Fenster <strong>de</strong>s Corridors, von wo aus<br />

er, ohne seine Absicht zu verrathen, <strong>de</strong>n Eingang <strong>de</strong>s<br />

Zimmers beobachten konnte; 05 und schon glaubte<br />

er(,) bei einem Geräusch, das sich ganz leise am Riegel<br />

erhob, <strong>de</strong>n unschätzbaren Augenblick, da er die<br />

Scheinheilige entlarven könne() gekommen: als(,) statt<br />

<strong>de</strong>s Unbekannten() <strong>de</strong>n er erwartete, Elvire selbst() ohne<br />

irgend eine Begleitung(,) mit einem ganz gleichgültigen<br />

und ruhigen Blick, <strong>de</strong>n sie aus <strong>de</strong>r Ferne auf in warf,<br />

aus <strong>de</strong>m Zimmer hervortrat. 06 Sie hatte ein Stück<br />

selbstgewebter Leinwand unter <strong>de</strong>m Arm; 07 und<br />

nach<strong>de</strong>m sie das Gemach(,) mit einem Schlüssel, <strong>de</strong>n<br />

sie sich von <strong>de</strong>r Hüfte nahm, verschlossen hatte, stieg<br />

sie ganz ruhig, die Hand ans Gelän<strong>de</strong>r gelehnt, die<br />

Treppe hinab. 08 Diese Verstellung, diese scheinbare<br />

Gleichgültigkeit, schien ihm <strong>de</strong>r Gipfel <strong>de</strong>r Frechheit<br />

und Arglist(,;) 09 und kaum war sie aus <strong>de</strong>m Gesicht,<br />

als er schon lief, einen Hauptschlüssel herbeizuholen(,)<br />

und() nach<strong>de</strong>m er die Umringung(,) mit scheuen Blicken()<br />

ein wenig geprüft hatte, heimlich die Thür <strong>de</strong>s Gemachs<br />

öffnete.<br />

Es geht nicht darum, <strong>Kleist</strong> - im lehrerhaften Sinne - Fehler nachzuweisen,<br />

son<strong>de</strong>rn zu ermitteln, welches wirkungsbezogene, sprachliche Empfin<strong>de</strong>n<br />

<strong>Kleist</strong> zu seiner Zeichensetzung veranlaßt.<br />

III 03 Gleichzeigkeit <strong>de</strong>r Zeitabläufe<br />

Auflösung <strong>de</strong>r Zeitabläufe<br />

01 Zufällig aber traf es sich, daß Piachi, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Stadt<br />

gewesen war, beim Eintritt in sein Haus <strong>de</strong>m Mädchen<br />

begegnete, und da er wohl merkte, was sie hier zu<br />

schaffen gehabt hatte, sie heftig anging und ihr halb


26<br />

mit List, halb mit Gewalt, <strong>de</strong>n Brief, <strong>de</strong>n sie bei sich<br />

trug, abgewann. 02 Er ging auf sein Zimmer, um ihn zu<br />

lesen, und fand, was er vorausgesehen hatte, eine<br />

dringen<strong>de</strong> Bitte Nicolos an Xaviera, ihm, behufs einer<br />

Zusammenkunft, nach <strong>de</strong>r er sich sehne, gefälligst Ort<br />

und Stun<strong>de</strong> zu bestimmen. 03 Piachi setzte sich nie<strong>de</strong>r<br />

und antwortete, mit verstellter Schrift, im Namen<br />

Xavieras: „gleich, noch vor <strong>de</strong>r Nacht, in <strong>de</strong>r Magda–<br />

lenenkirche.“ – siegelte diesen Zettel mit einem<br />

frem<strong>de</strong>n Wappen zu, und ließ ihn, gleich als ob er von<br />

<strong>de</strong>r Dame käme, in Nicolos Zimmer abgeben. 04 Die<br />

List glückte vollkommen; 05 Nicolo nahm augenblicklich<br />

seinen Mantel, und begab sich in Vergessenheit<br />

Constanzes, die im Sarg ausgestellt war, aus <strong>de</strong>m<br />

Hause. 06 Hierauf bestellte Piachi, tief entwürdigt, das<br />

feierliche, für <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Tag festgesetzte<br />

Leichenbegräbnis ab, ließ die Leiche, so wie sie<br />

ausgesetzt war, von einigen Trägern aufheben, und<br />

bloß von Elviren, ihm und einigen Verwandten<br />

begleitet, ganz in <strong>de</strong>r Stille in <strong>de</strong>m Gewölbe <strong>de</strong>r<br />

Magdalenenkirche, das für sie bereitet war, beisetzen.<br />

07 Nicolo, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Mantel gehüllt, unter <strong>de</strong>n Hallen<br />

<strong>de</strong>r Kirche stand, und zu seinem Erstaunen einen ihm<br />

wohlbekannten Leichenzug herannahen sah, fragte <strong>de</strong>n<br />

Alten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sarge folgte: was dies be<strong>de</strong>ute? Und<br />

wen man herantrüge? 08 Doch dieser, das Gebetbuch<br />

in <strong>de</strong>r Hand, ohne das Haupt zu erheben, antwortete<br />

bloß: Xaviera Tartini: - worauf die Leiche, als ob Nicolo<br />

gar nicht gegenwärtig wäre, noch einmal ent<strong>de</strong>ckelte,<br />

durch die Anwesen<strong>de</strong>n gesegnet, und alsdann versenkt<br />

und in <strong>de</strong>m Gewölbe verschlossen ward.<br />

III 04 Anagram<br />

Ragusa ist<br />

<strong>de</strong>r italienische Name für Dubrownik<br />

die Hauptsadt <strong>de</strong>r sizilianischen Provinz Ragusa<br />

anagrammatischer Tausch: Ragusa > garaus.<br />

eilf<br />

Das be<strong>de</strong>utet:<br />

In einer Bezeichnung, einem Namen, läuft immer noch ein an<strong>de</strong>res mit<br />

IV Ästhetik <strong>de</strong>r Scham<br />

IV 01 Ästhetik <strong>de</strong>r Scham 1<br />

Ästhetik:<br />

Gefühlte Wirkung von Opposition und Differenz,


27<br />

die bewertet wird als „schön“, „fremd“, als „erhaben“,<br />

wobei ein Mythos (=magische Wirksamkeit) entsteht.<br />

(Die Wirkung entzieht sich <strong>de</strong>r begrifflichen Begründung)<br />

Wirkungauslösen<strong>de</strong>s Verhalten<br />

Je<strong>de</strong>rmann ist stets und normalerweiser voller Scham<br />

Scham ist Schutz<br />

Scham ist Einsicht in Unzulänglichkeit.<br />

Die Gesellschaft erkennt in Scham „Schuld“, „Versagen“<br />

Deshalb ist es gesellschaftliches Ziel:<br />

Nichts an sich haben, das beschämt, das peinlich ist.<br />

Je<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>t stets an je<strong>de</strong>r neuen Beschämung.<br />

Ästhetik ist die Opposition <strong>de</strong>r Lexeme<br />

Schamlos sein entspricht nicht: ohne Scham (stark) sein<br />

Schamhaft sein steht in Opposition zu<br />

Unverschämt sein.<br />

Beschämen<br />

Beschämt sein<br />

Beschämt wer<strong>de</strong>n<br />

(einschüchtern, in <strong>de</strong>r Empfindlichkeit<br />

getroffen)<br />

Es besteht die Frage, wie geht <strong>Kleist</strong> mit <strong>de</strong>n Empfindlichkeiten <strong>de</strong>s Lesers<br />

um? Man kann auf seine soziale Intelligenz und Empathie-Fähigkeit<br />

schließen<br />

Verschämt sein<br />

(eingeschüchtert sein)<br />

Vom Ekel zur Scham<br />

Schamgefühl ausschalten: übler Lebenswan<strong>de</strong>l<br />

Der perspektivische Zugang zur Sprachfamilie „Scham“ zeigt sich<br />

folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />

Piachis Beschämung: PIACHI wird ständig neu durch Situationen,<br />

die NICOLO herbeiführt beschämt.<br />

Elvirens Scham: ELVIRE hält ihrer ersten Liebe die Treue und weiß<br />

Scham so einzusetzen, daß niemand (auch ihr Ehemann) ihr zu nahe tritt.<br />

Gegenüber <strong>de</strong>m Porträt COLINOs hat sie je<strong>de</strong> Scham aufgegeben.<br />

Nicolos Schamlosigkeit: NICOLO ist durch seinen „üblen<br />

Lebenswan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>rartig skrupelos gewor<strong>de</strong>n, daß er keine moralische<br />

Schranke mehr kennt und allein seinem Hedonismus folgt.


28<br />

III 02<br />

Ästhetik Scham 2<br />

Scham<br />

schamhaft<br />

schamlos<br />

verschämt<br />

beschämt<br />

sich schämen<br />

schamhaft sein<br />

schamlos sein<br />

verschämt sein<br />

beschämen jmd<br />

Dieser Vorfall, <strong>de</strong>r ihn (PIACHI) tief beschämte 57:17<br />

(Dazu: Veronika Immler & Antje Steinhäuser)<br />

Die Gesellschaft, in <strong>de</strong>r wir unsere Privat-Scham inszenieren müssen,<br />

will jegliche Scham ausschalten und durch Gesellschaftsfähigkeit<br />

ersetzen; <strong>de</strong>nn sich schämen <strong>de</strong>utet auf eine Unsicherheit, die peinlich ist<br />

(nicht cool, nicht souverän). „Schamlos-sein“ wird gesellschaftliche als<br />

nicht-gesellschaftsfähig verstan<strong>de</strong>n. Schamlos ist ein Kippwort.<br />

Die Gesellschaft hat schamlos zu sei, „Scham“ wird durch<br />

Gesellschaftsfähigkeit ersetzt. Diese Gesellschaftsfähigkeit ist allerdins<br />

nicht moralische, son<strong>de</strong>rn soziologisch zu verstehen.gesellschaftliche<br />

Fertigkeiten sind nachzuweisen. Dazu gehört die Fähigkeit sich privat und<br />

öffentlich zu inszenieren.<br />

Schutz durch die Familie: Fremdscham<br />

PIACHI macht „zuweilen große Reisen“ (49:4). Er läßt „seine junge Frau,<br />

unter <strong>de</strong>m Schutz ihrer Verwandten“ (49:5) zurück. Junge Frauen - so die<br />

kulturelle Ansicht - müssen vor <strong>de</strong>r Gesellschaft geschützt wer<strong>de</strong>n. Das<br />

gilt in abgeschwächter Form heute noch. Die Gesellschaft wird ihnen<br />

gefährlich. Allein die Familie bietet Schutz. (heute ist alles an<strong>de</strong>rs, außer in muslimischer<br />

Kultur). Dieser Schutz <strong>de</strong>s Körpers und <strong>de</strong>r Seele, also <strong>de</strong>s Leibes, durch die<br />

Familie ist eine Fremdscham, die abschirmt, in<strong>de</strong>m sie es bei jungen<br />

Frauen gar nicht erst zu unbedachtem Tun kommen läßt. Diese<br />

Fremdscham gilt min<strong>de</strong>stens so lange, bis die Eigenscham, also die<br />

intuitive Vorahnung von Gefahren, sicher genug einsetzt. Wann die<br />

Eigenscham <strong>de</strong>n jungen Frauen gesellschaftlich zuerkannt wird, ist in <strong>de</strong>n


29<br />

verschie<strong>de</strong>nen Kulturen unterschiedlich. Kulturen, die die Aufklärung und<br />

Menschenrechte kennen, sehen auch bei Frauen Eigenscham als<br />

Erziehungsziel. Es tritt – wie in allen Demokratien – das Problem auf, dass<br />

auch dieses Erziehungsziel so schnell wie möglich erreicht sein soll. Das<br />

gilt beson<strong>de</strong>rs in Deutschland, wo wir in einem Rechtsstaat leben und<br />

nicht in einem Moralstaat. Hier ist <strong>de</strong>r moralische Schambegriff nur noch<br />

in Son<strong>de</strong>rbereichen brauchbar; er ist durch Rechtsvorstellungen abgelöst.<br />

Die Erziehung zu Eigenscham wird in <strong>de</strong>r Prokurator-Novelle Goethes<br />

erzählt. Ein Han<strong>de</strong>lsmann läßt seine junge Frau bei einer Han<strong>de</strong>lsreise<br />

zurück. Da er weiß, daß ihre Eigenscham nicht ausreichen wird, auf einen<br />

Liebhaber zu verzichten, gesteht er ihr einen Liebhaber zu. Allerdings<br />

stellt er die Bedingung, dieser müsse es wert sein. Es stellt sich<br />

tatsächlich ein solcher Liebhaber ein; aber es geschieht das Paradoxe: Er<br />

ist es wert, ihr Liebhaber zu sein, weil er nicht ihr Liebhaber wer<strong>de</strong>n wird.<br />

Auch NICOLO sieht ELVIRE als nicht schamfähig. Er glaubt zu wissen,<br />

dass Elvire hinter einer Tugendmaske lebt, die ihr die eheliche<br />

Zugehörigkeit zu PIACHI trotz ihrer Hörigkeit gegenüber COLINO<br />

ermöglicht. Mit „ Frechheit und Arglist“ (58:34) nutze sie das aus – so<br />

schätzt es Nicolo, von bürgermoralischem Mißtrauen getrieben, ein –,<br />

wenn sie sich im Geheimen einem Liebhaber hingibt, auch wenn dieser<br />

Liebhaber ein „seit zwölf Jahren, im Grabe schlummern<strong>de</strong>r Toter“ (63:35)<br />

ist o<strong>de</strong>r, wie zuvor angenommen, die Eigenprojektion NICOLOs.<br />

Letzteres erzählt die Anagramm-spielerei Nicolo / Colino, die Zufall als<br />

Berechnung ansieht, und <strong>de</strong>r Nicolo mit niedriger Gesinnung nachgeht.<br />

Paradoxerweise vermutet NICOLO hinter <strong>de</strong>r lasterhaften Energie<br />

ELVIREns zugleich eine „reine Seele, <strong>de</strong>r nur durch einen Betrug<br />

beizukommen sei“ (64:22f). Aufgrund seines üblen Lebenswan<strong>de</strong>ls<br />

lei<strong>de</strong>t NICOLO bei <strong>de</strong>r Einschätzung jeglicher Lebenssituationen an/am<br />

Ausfall je<strong>de</strong>n Schamgefühls (Scheler:87). Dahinter steht <strong>de</strong>r Tatbetand,<br />

daß aus schäbiger Denkungsart nicht beliebig ausgestiegen wer<strong>de</strong>n


30<br />

kann. Der Handlungsvortrieb entledigt sich schließlich jeglicher<br />

ästhetischer Einsicht und je<strong>de</strong>s moralischen Verhaltens. Bertrand Russel<br />

hat die Trennung zwischen Einsicht und Verhalten zum Merkmal mo<strong>de</strong>rner<br />

Existenzweise erhoben (Russel:NN). Einsicht kann Verhalten nicht<br />

zügeln und lenken. Schäbige Denkungsart geht ganz und gar in Verhalten<br />

über. Er sieht darin einen Paradigmawechsel zur gymnasialen Vorstellung<br />

Schillers und Wilhelm von Humboldts von <strong>de</strong>r Veredlung <strong>de</strong>s Menschen<br />

durch Erziehung.<br />

Wirkungsorientierte Lebenssucht führt zu üblem Lebenswan<strong>de</strong>l. Ein<br />

Muster dafür ist die Bühnenregiearbeit in ihrer irreversiblen Verrohung.<br />

Sie geht <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Ekels und <strong>de</strong>r Obszönität. Regiearbeit ist übler<br />

Lebenswan<strong>de</strong>l, ist skrupelloser Schamverlusts um <strong>de</strong>r Wirkung willen. Das<br />

gilt auch für <strong>Kleist</strong> bei <strong>de</strong>r ständigen Suche nach schlimmstmöglichen<br />

Handlungswendungen.<br />

Das läßt NICOLO bei <strong>de</strong>r Einschätzung ELVIREns Einstellungen vermuten,<br />

die sich jeweils <strong>de</strong>m Eigenzustand Nicolos anpassen. NICOLO kann die<br />

Reinheit ELVIREns gar nicht mehr erwägen, da seine Denkungsart nur in<br />

Richtung <strong>de</strong>s Amoralischen dynamisch bleibt. Es darf aber auch nicht<br />

vergessen wer<strong>de</strong>n, ELVIREns Lebensart moralisch kritisch zu sehen.<br />

Hier sei eingeschoben: Mentale Zustän<strong>de</strong> sind psychischen und<br />

physiologischen Zustän<strong>de</strong>n synchron und zugleich arbiträr. Diese<br />

„konventionalisierten Beziehung“ ist nicht leicht aufzuheben, so lassen die<br />

Neurowissenschaften es uns verstehen.<br />

Hier ist man an einer kritischen Stelle <strong>de</strong>s Novellengeschehens: Auf<br />

NICOLOs erotisch-kriminelle Energie beim Überfall auf ELVIREn reagieren<br />

sowohl PIACHI als auch ELVIRE, an bürgerlichem Verständnis gemessen,<br />

auffallend zurückhaltend und gera<strong>de</strong>zu unbeteiligt. Was die<br />

Affektzurückhaltung bei bei<strong>de</strong>n motiviert, wird nicht erzählt. Man kann bei<br />

<strong>de</strong>r Erklärung so weit gehen, daß NICOLO ELVIRE und ihr erotisches<br />

Grenzverhalten zumin<strong>de</strong>st nicht falsch einschätzt. Ihre Perversität und<br />

PIACHIs Gleichgültigkeit sprechen ebenso für eine gestörte Scham wie die


31<br />

Handlungsdreistigkeit NICOLOs. Wie soll man es an<strong>de</strong>rs verstehen,<br />

wenn Elvire mit „einige(n)Worte(n)“ (65:33) die Einschätzung <strong>de</strong>r<br />

Übergriffe NICOLOs bei PIACHI zu dämpfen weiß und sich selbst mit eben<br />

diesen Worten von <strong>de</strong>m Vorfall „erholt“ (65:36).<br />

Hier liegt eine sehr „kurz erzählte“, vielleicht unzureichend erzählte<br />

Novellenstelle vor, die tatsächlich <strong>de</strong>r „narzisstischen Wun<strong>de</strong>“ <strong>Kleist</strong>s<br />

entstammen könnte, <strong>de</strong>r Wolfgang Schmidbauer (2011)<br />

tiefenpsychologisch nachgeht. Schmidtbauer geht hierauf allerdings nicht<br />

ein.<br />

ELVIRE gelingt es nicht, „Erfahrung“ (die Erfahrung mit COLINO) in<br />

„Erinnerung“ zu verwan<strong>de</strong>ln. „Erinnerung“ ist „Erfahrung“, <strong>de</strong>r die<br />

Lei<strong>de</strong>nschaft <strong>de</strong>s Lebens genommen ist. Die gesellschaftliche Hygiene<br />

verlangt, dass nicht mehr brauchbare Erfahrung in Erinnerung verwan<strong>de</strong>lt<br />

wird. COLINO hätte längst, spätestens seit <strong>de</strong>r Verheiratung mit PIACHI,<br />

„Erinnerung“ sein müssen; COLINO ist von ihr aber als Erfahrung<br />

gepflegt/erhalten wor<strong>de</strong>n. PIACHI hat das zugelassen, es beschämt ihn<br />

nicht, da es nicht öffentlich wird. ELVIRE genügt <strong>de</strong>r öffentlichen Norm:<br />

Sie ist verheiratet, allerdings nicht mit <strong>de</strong>m Mann, <strong>de</strong>n sie liebt; sie liebt<br />

ihr „Kind“, das allerdings nicht ihr eigenes ist. Da sie im gesellschaftlichen<br />

Sinne „funktioniert“, spricht <strong>de</strong>r Erzähler von einer „jungen trefflichen<br />

Gemahlin“ (51:15f), von <strong>de</strong>r „guten Elvire“ (51:27). Er gibt damit eine<br />

Zugehörigkeits-Affirmation, wie sie bei konservativem Sprachgebahren<br />

üblich ist. Elvire genügt gesellschaftlicher Normalität bis auf die<br />

manchmal überreizten Nerven, jenem „stillen Zug von Traurigkeit“<br />

(52:31), <strong>de</strong>r sich bis zu „son<strong>de</strong>rbare(r) Schwermut“ (55:34) steigern<br />

konnte. Derartige „Spinnertheit“ sich interessant machen<strong>de</strong>r,<br />

gesellschaftlich exponierter Frauen wird in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />

normalerweise gedul<strong>de</strong>t.<br />

ELVIREns selbstgemachtes Problem ist, dass sie das Leben mit <strong>de</strong>r<br />

seelischen Mumie Colino als ihre Wirlichkeit (nicht Realität) eingerichtet


32<br />

und eine Scham entwickelt hat, die die familiäre Realität (nicht<br />

Wirklichkeit) davon zu trennen vermag. Das mag sich für Elvire irgendwie<br />

arrangiert haben, die Gesellschaft aber empfin<strong>de</strong>t das<br />

Aufrechterhalten überlebter Erfahrung als krankhafte<br />

Erscheinung, <strong>de</strong>r sie mit „Ekel“ begegnet (Scheler 83f). ELVIRE, die<br />

ihren Ehemann PIACHI regelmäßig gegen ihren verlorenen Liebhaber<br />

COLINO austauscht, hat eine Energie entwickelt, die eine schmerzhafte<br />

Schockierung <strong>de</strong>s bürgerlichen Schamgefühls, also „obszön“ ist. Libertäre<br />

Beurteilungen sehen ELVIREs Verhalten offener, weil sie die Wichtigkeiten<br />

<strong>de</strong>s Zusammenlebens an<strong>de</strong>rs verteilen. Es gibt natürlich auch Menschen,<br />

von <strong>de</strong>nen diese „Schamverletzung äußerst lebhaft gefühlt und<br />

gleichzeitig als solche gewollt und genossen wird“ (Scheler:95). Gegen<br />

einen intellektuellen Umgang damit ist wohl auch nichts zu sagen.<br />

Zusammengefaßt:<br />

PIACHI hat wegen seiner selbstverständlichen, klaren Lebensführung<br />

warnen<strong>de</strong> und schützen<strong>de</strong> Scham nicht nötig gehabt. Er lebt das „schamlose/freie“<br />

Leben <strong>de</strong>rer, die sich „selbstverständlich“ sind und nicht die<br />

Größe haben, ihre tägliche Schamhaftigkeit um eines reflektierten<br />

Humanismus willen aufrechtzuerhalten. „Scham“ ist ihm nicht moralische<br />

Pflicht.<br />

ELVIREns mystische Abson<strong>de</strong>rlichkeit ist geschützt durch schamhafte<br />

Selbstverschließung vor <strong>de</strong>r Gefahr gesellschaftlicher Sanktionen.<br />

ELVIRE lebt das Doppelleben ihres Liebesgeheimnisses und ihrer ehelichen<br />

Öffentlichkeit, von PIACHI toleriert und behan<strong>de</strong>lt wie ein<br />

„Firmengeheimnis“.<br />

NICOLO hat seine Fähigkeit zur Scham durch seine li<strong>de</strong>rliche<br />

Lebensführung eingebüßt, in<strong>de</strong>m er sie zum Versiegen brachte. Er weiß<br />

Recht und Moral – wie wir es heute auch tun – zu seinem Nutzen zu<br />

trennen. Das fällt ihm leicht, da er nach Karmeliter-Vorbild alle<br />

Winkelzüge <strong>de</strong>r Bigotterie beherrscht.


33<br />

IV 03 Elvirens Scham<br />

Die ästhetisierung von „Scham“ umfaßt einen perspektivischen und<br />

partikularen Bereich <strong>de</strong>s Produzenten-interesses.<br />

Elvire hat ein „überreiztes Nervensystem“. So bezeichnet es <strong>de</strong>r<br />

Erzähler kommentierend. Er setzt dabei auf das Verständnis und Interesse<br />

<strong>de</strong>s Lesers.<br />

Ein junger Genueser hat ELVIRE das Wichtigste ihres Lebens bis zur<br />

hingeben<strong>de</strong>n Ohnmacht erfahren lassen: eine urgewaltige<br />

Liebesbegegnung, die unüberbietbar alles umfaßte: Symbol dafür ist die<br />

hingeben<strong>de</strong> und zugleich retten<strong>de</strong> Ohnmacht. Große Metaphorik wird<br />

von <strong>Kleist</strong> aufgeboten im Zusammenhang mit einer existentiellen<br />

Ausnahmesituation: Feuerbrunst, „entsetzliche See“, bedingungslose<br />

Überantwortung eines Menschen an einen an<strong>de</strong>ren, hel<strong>de</strong>nhafte Rettung,<br />

Tod <strong>de</strong>s sich aufopfern<strong>de</strong>n Retters und nicht zuletzt eine teilnehmen<strong>de</strong><br />

Öffentlichkeit. Je<strong>de</strong>s Geheimnis <strong>de</strong>r Liebe muß in weiblichem Sinne<br />

schließlich Öffentlichkeit fin<strong>de</strong>n. Mit ihrer Hörigkeit gegenüber diesem<br />

Ereignis geht ELVIRE dann allerdings zu weit, und sie wird sich in dieser<br />

Amoral gefähr<strong>de</strong>n.<br />

Damit sind metaphorisch Merkmale genannt, die für Maßlosigkeiten wie<br />

die lei<strong>de</strong>nschaftliche Liebe unerläßlich sind. Der Erzähler wählt für Elvirens<br />

Liebesbegegnung die Rettung ihres Lebens.<br />

...Das arme Kind wußte, zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> schwebend, gar nicht, wie es sich retten sollte;<br />

hinter ihr <strong>de</strong>r brennen<strong>de</strong> Giebel, <strong>de</strong>ssen Glut, vom Win<strong>de</strong> gepeitscht, schon <strong>de</strong>n Balken angefressen<br />

hatte, und unter ihr die weite, ö<strong>de</strong>, entsetzliche See.... (53:10-14)<br />

Wie üblich bei <strong>Kleist</strong> enthält die Erzählung <strong>de</strong>r Rettung ELVIREns<br />

schwer nachvollziehbare Einzelheiten. Darauf kommt es <strong>de</strong>m Erzähler<br />

offensichtlich auch nicht an. Es hätte sogar auch eine an<strong>de</strong>re Situation<br />

vergleichbarer Art vom Erzähler gewählt wer<strong>de</strong>n können. Wichtig ist allein<br />

die Urgewalt <strong>de</strong>r menschlichen Erfahrung, die für <strong>de</strong>n Nachvollzug im<br />

Konzentrat vermittelt wer<strong>de</strong>n soll. Die Erotik <strong>de</strong>r Szene wird von Kritikern<br />

immer wie<strong>de</strong>r herausgestellt (Schuller).<br />

Von diesem Urerlebnis <strong>de</strong>r Liebe ist ELVIRE für ihr Leben unverän<strong>de</strong>rbar<br />

und anhaltend geprägt. Sie ist damit für eine (<strong>de</strong>mokratische)<br />

Lebenshaltung offener Begegnung nicht mehr geeignet. Das Geschehen


34<br />

hat sie in beseligter Ohnmacht bedingungslos und für alle Lebenszeit an<br />

einen/<strong>de</strong>n für sie maßgeben<strong>de</strong>n Liebhaber übergeben. ELVIRE ist seit<strong>de</strong>m<br />

unfähig und augenscheinlich nicht mehr Willens, sich ernsthaft auf eine<br />

seelischen Neuorientierung einzustellen.<br />

ELVIREns Liebes-I<strong>de</strong>ierung (Scheler) ist eine für die heutige<br />

Lebensform nicht mehr beanspruchtes Lebensi<strong>de</strong>al und setzt<br />

entsprechend historisch geschulte Leser voraus. Daran zeigt sich,<br />

daß das Hervorrufen von „Wirkung“ unter Umstän<strong>de</strong>n eine<br />

romantisieren<strong>de</strong> historische Mentalitäts-Bildung voraussetzt. Solche<br />

Bildung ist <strong>de</strong>m „Gegenwarts“menschen üblicherweise ohne Wert.<br />

ELVIRE hält bei ihren zwischenmenschlichen Begegnungen seit<strong>de</strong>m nur die<br />

gesellschaftlichen Normen aufrecht: die Ehe mit Piachi, die Zieh-<br />

Mutterrolle, das maskenhafte Erscheinen in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. Störend ist<br />

allein <strong>de</strong>r geheimnisvolle, manchmal zur Peinlichkeit geraten<strong>de</strong> „Zug von<br />

Traurigkeit“ (52:31). Was hier so harmlos klingt, ist in Wahrheit eine<br />

psychische Abson<strong>de</strong>rlichkeit und Störung, die, allein in Privatheit<br />

ausgelebt, <strong>de</strong>r Gefahr entgeht, als Erkrankung ausgelegt zu wer<strong>de</strong>n. Bei<br />

ELVIRE geht es um eine unausgelebte Trauer.<br />

Trauer dient dazu, eine betrauerte Person in Erinnerung zu<br />

überführen. Sie wird aber von ELVIRE als andauern<strong>de</strong>r Lebensinhalt<br />

gepflegt. Das hat zur Folge, daß ELVIRE unter einer krankhaften<br />

Beziehungsstörung und unter Vitalitätsverlust lei<strong>de</strong>t.<br />

NICOLO wird sich diese Lebensschwäche zu Nutzen machen und ihr eine<br />

verhängnisvolle Deutung geben. ELVIREs mehr<strong>de</strong>utiges Verhalten lockt<br />

nämlich NICOLOs Aufmerksamkeit auf weiblich psychische Schwachheit,<br />

die von Männern nicht selten als Machtspiel mißbraucht wird. NICOLO hat<br />

einen „Hang für das weibliche Geschlecht“ (52:5f), <strong>de</strong>r durch üblen<br />

Lebenswan<strong>de</strong>l dahin verdorben ist, in weiblichem Verhalten bevorzugt eine<br />

Schwäche zu suchen, die mit Heimtücke belauert wer<strong>de</strong>n kann. „Weibliche<br />

Ohnmacht“ ist ein Kippverhalten, das je nach Situation vorteilhaft o<strong>de</strong>r<br />

nachteilig sein kann. (Anm: Wenn auch weibliche Ohnmacht eine


35<br />

weitgehen<strong>de</strong> Vielschichtigkeit hat, sie ist auch bei erzählten männlichen<br />

Figuren nicht ausgeschlossen. Auch COLINO ist „seiner Sinne nicht<br />

mächtig“ (53:28); auch PIACHI „fiel, da er sein [<strong>de</strong>s Rechtsfreunds]<br />

Zimmer erreicht hatte, bewußtlos [...] nie<strong>de</strong>r (66:13-15).<br />

Die Hochzeit mit PIACHI ist für ELVIRE eine Formalie, ihre familiäre Nähe<br />

mit Stiefsohn PAOLO und <strong>de</strong>m Findling NICOLO beruht auf zufälligem<br />

Austausch und ist von Gleichgültigkeit bestimmt. Das gesellschaftliche<br />

Auftreten ELVIREns als Händlergattin ist <strong>Kleist</strong> keiner weiteren Erwähnung<br />

wert; alles, was ELVIRE gesellschaftlich einbin<strong>de</strong>t, ist in Wahrheit ohne<br />

existentiellen Sinn, ist Schein. ELVIREns Lebensform ist ein ihr Intimleben<br />

schützen<strong>de</strong>s Schamverhalten, also ein Verhalten, das sie vor Ent<strong>de</strong>ckung /<br />

Entlarvung schützt. Sie begegnet ihren Nächsten mit Verhaltensritualen<br />

und unüberbrückbarer Anstandsnahme. Mit ihrer Scham schützt sich<br />

ELVIRE vor <strong>de</strong>m Verlust ihrer COLINO-Intimität. Je<strong>de</strong>r Schritt in eine neue<br />

Intimität kann für ELVIREn nach <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>m Genueser nur<br />

Liebesverrat sein. Die Verbindung mit Ehemann PIACHI wird mit möglichst<br />

unangestrengter Unverbindlichkeit vollzogen.<br />

Das wird bei <strong>de</strong>r Erzählung <strong>de</strong>r Übergriffe NICOLOs <strong>de</strong>utlich. ELVIRE<br />

reagiert wie abwesend.Die Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s übergriffigen Verhaltens<br />

Nicolos wird vom Erzähler entgegen aller Lesererwartung bemerkenswert<br />

abschwächt erzählt:<br />

[Nicolo] bat ihn [...] um Vergebung. Und in <strong>de</strong>r Tat war <strong>de</strong>r Alte auch geneigt, die Sache still<br />

abzumachen; sprachlos, wie ihn einige Worte Elvirens gemacht hatte, die sich [...] erholt hatte...<br />

(65:30-36)<br />

Der Leser hätte an<strong>de</strong>res erwartet und wäre nach diesem Kurzbericht<br />

sicher interessiert, die Worte ELVIREns genauer zu wissen, die solch eine<br />

herunterspielen<strong>de</strong>, verharmlosen<strong>de</strong> Wirkung gehabt haben. Aber <strong>de</strong>r<br />

Erzähler hält sie für nicht-erwähnenswert.<br />

Die sogeartete Scham ELVIREns ist notwendig, da ELVIRE in periodischer<br />

Sehnsucht die Gegenwart <strong>de</strong>s Genueser Ritters sucht und sich ihm<br />

darbietet. Sie hat das Erleben mit <strong>de</strong>m Ritter zu ihrer täglichen<br />

Wirklichkeit gemacht und vor bloßer Erinnerung bewahrt. Sie gestaltet es


36<br />

in sublimierter Form und zugleich mit süchtiger Inbrunst immer erneut.<br />

Ihre gesellschaftliche Umgebung nimmt ELVIREs geheimnisvolle<br />

Seltsamkeiten nur in ihrer äußerlich wahr, allein PIACHI kennt die<br />

Beweggrün<strong>de</strong> für ELVIREns Abson<strong>de</strong>rlichkeit. Er hat sich „sprachlos“ damit<br />

arrangiert.<br />

Das für <strong>de</strong>n bürgerlich sittlich sozialisierten Leser Amoralische<br />

und Be<strong>de</strong>nkliche ist, daß allein ein lebensgroßes Porträt <strong>de</strong>s Genuesers<br />

in Elvirens Schlafkammer alle ihre Scham schwin<strong>de</strong>n lassen kann bis hin<br />

zur Unmittelbarkeit <strong>de</strong>s begegnen<strong>de</strong>n Aktes. Hier ist zwischen Amoralität<br />

und Immoralität zu trennen. Letztere ist eine ästhetisch aufbereitete<br />

Abweichung von <strong>de</strong>r Norm, erste Abweichung ist dagegen nur eine Form<br />

<strong>de</strong>r Unmoral.<br />

Selbstscham „für das individuelle Selbst“ (Scheler 81) ist ELVIREn so<br />

fremd wie das „Sich-für-einen-an<strong>de</strong>ren-schämen“ (Scheler 81). Mit ihrer<br />

„Schamlosigkeit“ lebt sie ihre individuelle Natürlichkeit ohne Rücksicht auf<br />

die kulturellen Maßstäbe. Daß ELVIRE ihrem Mann mit ihrer Untreue die<br />

Ehe verweigert, ist die übliche weibliche Eigensucht, <strong>de</strong>n Ehemännern die<br />

Sexualität zu verweigern, ihn aber zugleich <strong>de</strong>r Treue zu verpflichten.<br />

Elvirens Lebensplan ist mit <strong>de</strong>m Rettungserleben, das als<br />

elementarfundamentales Liebeserleben, als erotischer Sturm ge<strong>de</strong>utet<br />

wird (Schuller), an COLINO gebun<strong>de</strong>n.. Mit <strong>de</strong>m COLINO-Erlebnis ist <strong>de</strong>r<br />

Scham-Kreis für Elvire geschlossen. Einfluß von außen ist unmöglich<br />

gewor<strong>de</strong>n.<br />

„Alsdann gab es keinen Trost und keine Beruhigung für sie; sie brach, wo sie auch sein mochte, auf, und keiner<br />

folgte ihr, eil man schon erprobt hatte, daß je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Mittel vergeblich war...“ (54: 13-16).<br />

Das Geheimnis, das ELVIRE umgibt, kann die Übelgesinnten wie die<br />

moralischen Gutmenschen zu unmoralischen Angriffen animieren; wie es<br />

mit Nicolo auch geschieht. PIACHI sieht, wohl aus pragmatischen<br />

Grün<strong>de</strong>n, von einer Verfolgung ELVIREns Son<strong>de</strong>rlichkeit ab.<br />

IV 04 Elvirens Wahn<br />

Einiges zum Liebessturm ELVIREns und <strong>de</strong>r Entstehung ihres überreizten<br />

Nervensystems.


37<br />

Kein reales Ereignis, son<strong>de</strong>rn die symbolische (metaphorische)<br />

Anschauung eines Seelenzustan<strong>de</strong>s wird von <strong>Kleist</strong> gegeben. Die<br />

Feuer/Wasser-Katastrophe <strong>de</strong>s brennen<strong>de</strong>n Hauses ist das sexuelle<br />

Urerlebnis Elvirens. Vater und Mutter können hier keine Rettung geben.<br />

Einst, in einer unglücklichen Nacht, da Feuer das Haus ergriff, und gleich, als ob es von Pech und Schwefel<br />

erbaut wäre, zu gleicher Zeit in allen Gemächern, aus welchen es zusammengesetzt war, emporknitterte,<br />

flüchtete sich, überall von Flammen geschreckt, die dreizehnjährige Elvire von Treppe zu Treppe, und befand<br />

sich, sie wußte selbst nicht wie, auf einem dieser Balken.<br />

In Mitten <strong>de</strong>r kindlichen Ruhe geschieht <strong>de</strong>r Ausbruch eines<br />

katastrophischen Lebenserlebnisses. Die Ruhe wird so dargestellt:<br />

Elvire hatte einen stillen Zug von Traurigkeit im Gemüth, <strong>de</strong>r ihr aus einem rühren<strong>de</strong>n Vorfall, aus <strong>de</strong>r<br />

Geschichte ihrer Kindheit, zurückgeblieben war. Phillipo Parquet (= getäfelter Bo<strong>de</strong>n, Ks), ihr Vater, ein<br />

bemittelter Tuchfärber in Genua, bewohnte ein Haus, das, wie sein Handwerk erfor<strong>de</strong>rte, mit <strong>de</strong>r hinteren Seite<br />

hart an <strong>de</strong>n, mit Qua<strong>de</strong>rsteinen eingefaßten, Rand <strong>de</strong>s Meeres stieß; große, am Giebel eingefugte Balken, an<br />

welchen die gefärbten Tücher aufgehängt wur<strong>de</strong>n, liefen, mehrere Ellen weit, über die See hinaus.<br />

Es ist ein katastrophischer Fall: aus <strong>de</strong>m Innern <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s<br />

kommend und aus <strong>de</strong>m Innern <strong>de</strong>r Seele kommend.<br />

Das arme Kind wußte, zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> schwebend, gar nicht, wie es sich retten sollte; hinter ihr <strong>de</strong>r<br />

berennen<strong>de</strong> Giebel, <strong>de</strong>ssen Glut, vom Win<strong>de</strong> gepeitscht, schon <strong>de</strong>n Balken angefressen hatte, und unter ihr die<br />

weite, ö<strong>de</strong>, entsetzliche See. (= kosmische Symbolik geschlechtlichen Wahnsinns).<br />

Der katastrophische Fall <strong>de</strong>r Verlassenheit (von Vater und Mutter o<strong>de</strong>r<br />

sonstigen Hausbewohnern); melodramatische Inszenierung einer Figur<br />

zwischen Himmel und Er<strong>de</strong>, zwischen Feuer und Wasser <strong>de</strong>m Untergang in<br />

Kontingenz (=Zufälligkeit und Ereignishaftigkeit) ausgesetzt.<br />

Das ist kein traumatischer Fall für ELVIRE, son<strong>de</strong>rn ihre seelische,<br />

geschlechtliche Bestimmung. Es ist eine Zustandsbeschreibung<br />

ELVIREs: ein geschlechtlicher Zustand <strong>de</strong>r (Rettung) empfangen<strong>de</strong>n<br />

Ohnmacht.<br />

...als plötzlich ein junger Genueser (genus > Geschlecht <strong>de</strong>r Patrizier, Kin-d; lautlich: Genua), am Eingang<br />

erschien, seinen Mantel über <strong>de</strong>n Balken warf, sie umfaßte, und sich, mit eben so viel Muth als Gewandtheit, an<br />

einem <strong>de</strong>r feuchten Tücher, die von <strong>de</strong>m Balken nie<strong>de</strong>rhingen, in die See mit ihr herabließ.<br />

Dieser Vereinigungswahn, <strong>de</strong>r „ihr schönes und empfindliches Gemüt<br />

auf das heftigste bewegte“ war wie herbeibeschworen und Teil ihres<br />

intimsten Erlebens. Er verbin<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m Trauerwahn, <strong>de</strong>r im<br />

Gegensatz zur Trauerarbeit das Betrauerte nicht abbaut und auflöst,<br />

son<strong>de</strong>rn in immer erneuter Wie<strong>de</strong>rkehr beschwört.


38<br />

ELVIRE mit ihrem ins Hysterische gehen<strong>de</strong>n reinen Vereinigungswahn und<br />

NICOLO als gierig unmoralischer Hangtäter lösen <strong>de</strong>n Untergang von<br />

PIACHI aus. Es sind ELVIREns symbolische Liebeszustän<strong>de</strong> und die<br />

semantische Täuschung bei <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s Porträt-Fetichismus<br />

ELVIREs durch NICOLO. ELVIRE scheint entlarvt und moralisch erledigt.<br />

IV 05 Piachis Beschämung<br />

Eines Tages macht PIACHI eine Reise von Rom nach Ragusa, von Rom<br />

ins „Garaus“.„Garaus“ <strong>de</strong>shalb, weil das En<strong>de</strong> dieser Reise und ihrer<br />

Folgen für Piachi das En<strong>de</strong> seiner bürgerlichen und seelischen Existenz<br />

sind. Völlig verarmt, ohne Familie, gesellschaftlich geächtet, rechtlich<br />

vogelfrei, exkommuniziert, wird er nur noch seiner Rache nachgehen bis<br />

in die Hölle und darüber hinaus.<br />

Der Wille zu nicht-en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Rache bei PIACHI erinnert an <strong>Kleist</strong>s<br />

Streben nach nicht-en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Vervollkommnung über die irdische Existenz<br />

hinaus von Stern zu Stern sich erhebend. Der äußere irdische Tod ist nur<br />

<strong>de</strong>r Schritt zur nächsten Existenz; zum inneren Tod führen<br />

Beschämungen. Die Tatsache <strong>de</strong>r Beschämung zeigt, daß die<br />

vorhan<strong>de</strong>ne Scham falsch ansetzte. Beschämung besagt, daß die<br />

vorhan<strong>de</strong>ne Scham versagt hat, daß sie nicht schützte, wo sie schützen<br />

sollte.<br />

PIACHI war durch seine Erziehung so sicher gewor<strong>de</strong>n, daß er vor<br />

Schamtäuschungen aller Art gefeit schien. Als Han<strong>de</strong>lsmann wird ihm<br />

vom Erzähler fraglose Seriosität bescheinigt. Er sorgt für Frau und Sohn,<br />

wenn er sie im Schutze <strong>de</strong>r Verwandten zurückläßt, ihn vor <strong>de</strong>r Pest durch<br />

Umkehr von <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>lsreise zu bewahren sucht. Daß Letzteres nicht<br />

gelingt, ist vor<strong>de</strong>rgründig nicht Piachi zuzurechnen, hintergründig aber<br />

eben doch, weil PIACHI offenbar <strong>de</strong>m Zufall in seinem Leben nicht die<br />

nötige Aufmerksamkeit und Achtung schenkt. Die Sicherheit seines<br />

Lebensentwurfs, auf die PIACHI, von keinem Zweifel angekränkelt, setzt,<br />

durchkreuzt <strong>de</strong>r Zufall. Lebenssituationen weiß PIACHI aus seiner<br />

existentiellen Substanz heraus normalerweise zu meistern: (a) <strong>de</strong>n Tod


39<br />

seiner ersten Frau, (b) <strong>de</strong>n Tod seines Sohnes PAOLO, (c) die<br />

Überreiztheit seiner zweiten Frau (54:7-10), (d) ihren Mangel an ehelicher<br />

Seelenpflicht und Zuwendung, (e) die Seelenstarr- und fremdheit <strong>de</strong>s<br />

Findlings, (f) seine Bigotterie und seinen unmoralischen Hang zu Weibern<br />

(56:4f), - ja sogar bei <strong>de</strong>r (g) Übergriffigkeit auf ELVIREn „war <strong>de</strong>r Alte<br />

auch geneigt, die Sache still abzumachen“ (65:32f).<br />

Doch immer wie<strong>de</strong>r hakt neuer Zufall nach und erschüttert die Stabilität<br />

PIACHIs Seelenzustan<strong>de</strong>s durch Beschämungen. Beschämt wer<strong>de</strong>n die<br />

täglichen Notwendigkeiten, die ihn leiten. Immer wie<strong>de</strong>r wird<br />

Notwendigkeit durch Zufall hintergangen: PIACHI bricht seine Reise nach<br />

Ragusa ab, als dort zufälligerweise die Pest ausgebrochen ist; zufällig ist<br />

die Begegnung mit <strong>de</strong>m pesterkrankten NICOLO; zufällig sind <strong>de</strong>r Tod<br />

PAOLOs und die Gesundung NICOLOs; zufällig ist die Mitnahme NICOLOs<br />

nach Rom. PIACHIs Entscheidung kommt allerdings aus <strong>de</strong>m gemischten<br />

Charakter von Mitleid und Überlegung. Zufällig fängt PIACHI NICOLOs<br />

Brief an XAVIERA ab. Der Erzähler betont diese Unvorhersehbarkeit durch<br />

einleiten<strong>de</strong> Sätze wie: „Zufällig aber traf es sich, daß...“ (56:20f). „Es traf<br />

sich, daß...“ (61:32).<br />

Die Zufälligkeiten, die ELVIREns und NICOLOs Leben betreffen, wer<strong>de</strong>n<br />

ebenfalls vom Erzähler betont:<br />

PIACHI ist gewohnt, seinen Lebensplan durchzusetzen. Der Lebensplan<br />

ist seine kaufmännische Lebensführung. Eine Scham-Aktivierung wird von<br />

PIACHI nicht mehr gefor<strong>de</strong>rt, da er als aufrechter Kaufmann die<br />

Belastungen übler Lebensführung zwar erfahren haben mag, aber zu<br />

mei<strong>de</strong>n gelernt hat. Sein kaufmännisches Verhalten kennt nur<br />

Notwendigkeiten, die von ihm mit Selbstverständlichkeit verfolgt<br />

wer<strong>de</strong>n. (Monod: Zufall und Notwendigkeit). Zufälliges wird von Piachi im<br />

Rahmen seines Normverhaltens bewältigt. Da aber <strong>de</strong>r Zufall häufig und<br />

immer in kritischen Situationen auftritt, so stellt er die Lebensplanung vor<br />

eine auch für <strong>de</strong>n starken PIACHI schließlich nicht zu bewältigen<strong>de</strong><br />

Anstrengung. Bei Piachi kommt es durch die Zufälle immer mehr zum


40<br />

„Garaus“. Es ist erreicht, als er sein ganzes kaufmännisches Eigentum und<br />

seinen gesellschaftlichen Einfluß verloren hat. Der Zufall hat je<strong>de</strong><br />

Selbstverständlichkeit genommen. PIACHI läßt mit <strong>de</strong>r Gewißheit <strong>de</strong>s<br />

„Garaus“ einen To<strong>de</strong>splan als Rächer in Kraft treten. Er kann wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />

Notwendigkeiten <strong>de</strong>s Rachevollzugs folgen. PIACHI verfolgt NICOLO bis in<br />

die letzte Hölle.<br />

Vom fremdbestimmen<strong>de</strong>n Schicksal hin zur selbstbestimmten Planung<br />

geht die Lebenslinie PIACHIs.<br />

Auch NICOLO vermutet (hierin PIACHI gleich) Planvolles, nämlich<br />

ELVIREs absichtsvolles Anagramm: „Die Übereinstimmung, die sich<br />

zwischen bei<strong>de</strong>n Wörtern angeordnet fand [Colino >< Nicolo, Ks], schien<br />

ihm mehr als bloßer Zufall“ (62:18-20). Genau gesehen, ist das<br />

Anagramm eine Erzählstrategie <strong>de</strong>s Erzählers; aus <strong>de</strong>r Sichts Elvirens und<br />

Nicolos müßte die Übereinstimmung nur als bloßer Zufall verstan<strong>de</strong>n<br />

wer<strong>de</strong>n.<br />

IV 06 Nicolos Schamlosigkeit<br />

Zunächst zwar mil<strong>de</strong>rt Mitleid mit <strong>de</strong>m Zustand NICOLOs und christlichbürgerliche<br />

Betrachtungart sowohl PIACHI als auch <strong>de</strong>n Leser, „<strong>de</strong>n<br />

Jungen weit von sich zu schleu<strong>de</strong>rn“ (49:30f), aber von Beginn an spürt<br />

man eine Erzählhaltung, die wenig Sympathien für NICOLO ahnen und<br />

aufkommen läßt. Als nämlich PIACHI wie auch <strong>de</strong>r Leser einen genaueren<br />

Blick auf <strong>de</strong>n Findling werfen, spüren sie eine beunruhigen<strong>de</strong> Starrheit und<br />

eine mangeln<strong>de</strong> Geprächsbereitschaft bei NICOLO, die durch die Art und<br />

Weise seines Nüsseknackens (51:10-13) zu<strong>de</strong>m in Züge von kalter<br />

Gleichgültigkeit und vielleicht sogar Rücksichtslosigkeit übergehen.<br />

Angesichts dieses Verhaltens schließt man bei <strong>de</strong>m „heftigen Schluchzen“<br />

(50:26) NICOLOs auf vorteilsuchen<strong>de</strong> Krokodilstränen.<br />

Auch vor ELVIRE erscheint NICOLO „fremd und steif“ (51:19). Doch<br />

sowohl PIACHI als auch ELVIRE sehen über diese Verhaltens-Symptome


41<br />

hinweg, zumal sich NICOLO <strong>de</strong>n Erziehungsfor<strong>de</strong>rungen allgemein beugt<br />

und geschäftliche Talente zeigt.<br />

Bei <strong>de</strong>r Entfaltung seiner personalen Erscheinung wer<strong>de</strong>n aber auch zwei<br />

charakterliche Züge sichtbar, die allen Erziehungsbemühungen trotzen<br />

und die PIACHI und ELVIRE entsprechend beunruhigen sowie <strong>de</strong>n normal<br />

sozialisierten und moralisierten Leser moralisch provozieren. Diese<br />

Charakterzüge wer<strong>de</strong>n von „auf Fortschritt ausgerichteten“ Lesern<br />

allerdings auch als rebellische Individuation (Blamberger:291) verstan<strong>de</strong>n.<br />

Nicolo neigt nämlich zu Bigotterie um seiner persönlichen Vorteile wegen.<br />

Die ihrem öffentlichen Bild nach in Armut leben<strong>de</strong>n Mönche, bei <strong>de</strong>nen<br />

sich NICOLO sehr häufig aufhält, frönen nämlich ein äußerst materielles<br />

und libertines Leben, das <strong>de</strong>m „sich regen<strong>de</strong>n Hang für das weibliche<br />

Geschlecht“ (52:5f) entgegenkommt und das (nicht „aufgeklärt“ und<br />

„weltoffen“ ist, son<strong>de</strong>rn) eher kriminelle Züge aufweist. Mit<br />

beschwichtigen<strong>de</strong>m Verhalten weiß NICOLO diese Entwicklungszüge zu<br />

verschleiern, so daß Piachi und schließlich auch ELVIRE die<br />

Unvorsichtigkeit begehen, ihrem Findling nahezu absolute<br />

Verfügungsgewalt über die familiären Angelegenheiten zu überschreiben.<br />

NICOLOs Stiefeltern stellen sich gera<strong>de</strong>zu blind gegenüber <strong>de</strong>r Gefahr, die<br />

vom Verhalten NICOLOs ausgeht. Daß es sie irgendwann ernsthaft<br />

beschämen könnte, sehen sie nicht o<strong>de</strong>r wollen sie solange nicht<br />

glauben, bis sie es spüren müssen. Die bei<strong>de</strong>n familienfeindlichen<br />

Eigentümlichkeiten Nicolos weiten sich nämlich <strong>de</strong>rartig aus, daß sich bei<br />

Nicolo keine Scham mehr einstellt und die andauern<strong>de</strong> Schamlosigkeit ihm<br />

jeglichen Skrupel nimmt.<br />

NICOLO ohne Reue<br />

Zeigte NICOLO Reue, gäbe das <strong>de</strong>r Geschichte eine Wen<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>n Sinn<br />

<strong>de</strong>s Erzählten aufheben wür<strong>de</strong>. Zurücknahme <strong>de</strong>ssen, was vorgefallen ist,<br />

„Wie<strong>de</strong>r-gut-machung“ liegt nicht im Lebensanlage NICOLOs.<br />

Er holt sich, was seine hedonistische Empfindungsweise for<strong>de</strong>rt. Man gibt<br />

es ihm, o<strong>de</strong>r erholt es sich in vergewaltigen<strong>de</strong>r Manier. Denn alles<br />

hedonistisch Ausgeschaute ist ihm notwendig, unterliegt niemals <strong>de</strong>r


42<br />

Möglichkeit und ist schon gar nicht verzichtbar. NICOLO nimmt, was er<br />

will, „zwischen die Zähne“ und „knackt“ es „auf“.<br />

NICOLO als Hangtäter<br />

NICOLOS Hangtäterschaft entspringt folgen<strong>de</strong>m Verhalten und<br />

Verfahren, Zeichen bzw. Anzeichen, nach algebraischem Muster berechnet<br />

und syntagmatisiert (Kalkül), dabei wird auf begriffliche und anschauliche<br />

Vorstellungen zu referiert. Das steigert sich und hat <strong>de</strong>rartige psychische<br />

Folgen, daß er sie nur in rücksichtsloser Hangbefriedigung ausleben kann.<br />

In <strong>de</strong>r Brust <strong>de</strong>sselben sich regen<strong>de</strong>n Hang für das weibliche Geschlecht<br />

Hier hat NICOLO nun seine Erfahrungen gemacht. PIACHI und ELVIRE<br />

können ihm in Liebesdingen kein Vorbild und keine Korrektur mehr sein.<br />

So ist sein Umgang mit <strong>de</strong>r libertinen Mönchswelt und im Beson<strong>de</strong>rn mit<br />

XAVIERA TARTINI entschei<strong>de</strong>nd für seine Handlungsprägung. Die<br />

Karmelitermönche, Tartini und <strong>de</strong>r sexuelle Hangtäter, <strong>de</strong>r Bischof, haben<br />

NICOLOs Zeichen<strong>de</strong>utungsmöglichkeiten aufs Unmoralische festgelegt.<br />

Das Unmoralische ist ihm das Normale, so daß er empört / entrüstet ist,<br />

als er bei ELVIRE bigottes Täuschungsverhalten festzustellen glaubt.<br />

Er wäre nicht empört, wenn ELVIRE und PIACHI öffentlich unmoralisch<br />

gelebt hätten.<br />

Hang Elvirens zu COLINO, Piachis zu <strong>de</strong>n Reisen.<br />

V Weitere Ästhetische Zugriffe<br />

Im Folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n ausgewählte Zugriffe auf die Novelle skizziert, die<br />

als ästhetisierte Themen zu ausbaubaren Wirkziele wer<strong>de</strong>n können.<br />

Weitere Wirkziele sollten rezipienten- und interessenbezogen gefun<strong>de</strong>n<br />

und erfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Dabei sollten die Themen in <strong>de</strong>r Novelle eine<br />

<strong>de</strong>utliche Konsistenz zeigen.<br />

V 01 Ästhetik <strong>de</strong>s Tausches<br />

Konsistenz zeigt beispielsweise das Thema „Tausch“. Sie könnte von<br />

Rezipeienten bevorzugt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen „ENT-Täschung“ als „En<strong>de</strong>“ einer<br />

Täuschung reizvoll ist.<br />

Die Präfigierung wird substituiert:


43<br />

Tauschen<br />

(1) Elvire tauscht Paolo mit Nicolo.<br />

AUS-Tauschen:<br />

(1) Piachi tauscht seine Ehefrau gegen seine zweite Frau Elvire aus.<br />

Seine erste Frau ist gestorben.<br />

(2) Piachi tauscht seinen Sohn Paolo gegen <strong>de</strong>n Findling aus. Paolo<br />

ist gestorben.<br />

(3) ELvire tauscht Colino gegen Piachi aus. Colino ist gestorben.<br />

(4) Xaviera tauscht die Liebhaber aus. Nicolo gegen <strong>de</strong>n Bischof <strong>de</strong>r<br />

Karmeliter.<br />

(5) Paolo tauscht seine Eltern gegen seine Adoptiveltern aus. Seine<br />

Eltern sind gestorben.<br />

(6) Vater-Mutter-Kind wer<strong>de</strong>n ausgetauscht: Ehefrau-Elvira; Paolo-<br />

Nicolo; Piachi (Vater)-Piachi (Adoptivvater).<br />

EIN-Tauschen<br />

(1) Elvire tauscht <strong>de</strong>n gestorbenen Colino für ein lebensgroßes Bild<br />

von Colino ein.<br />

VER-Tauschen<br />

(1) Piachi vertauscht bei <strong>de</strong>r Beerdigung Xaviera und Constanza.<br />

(2) Nicolo vertauscht sich selbst mit Colino.<br />

Tausch <strong>de</strong>r Schauplätze<br />

Die Stadt Rom wird mit Ragusa getauscht<br />

Tausch <strong>de</strong>r Werte<br />

Reichtum und Zugewinn zu Armut und Verlust<br />

Was mit Tausch beginnt, wird zunehmend Täuschung<br />

>In welcher Beziehung stehen Tauschen und Täuschen?<br />

>Was bringt das Tauschen an Zugewinn und an Verlust?<br />

Die Opposition und Differenz <strong>de</strong>r Präfixe ist auf Wirkung hin abzuhören.<br />

V 02 Ästhetik <strong>de</strong>r Täuschung


44<br />

Bei einem nachgewiesenen Han<strong>de</strong>lsmann bestimmen „Tausch“ und<br />

„Gewinn“ und „Verzicht“ in Gradlinigkeit das normale Verhalten.<br />

Ein Han<strong>de</strong>lsmann, <strong>de</strong>n man so nennen kann, kennt kein intimes<br />

Begehren. Er verliert nicht <strong>de</strong>n Verstand aus Begier<strong>de</strong>. Er rechnet, ob<br />

etwas aufgeht o<strong>de</strong>r nicht in unaufgeregter Gradlinigkeit. Das ist<br />

PIACHIs Lebensform.<br />

Wird sein unangestrengtes Freisein von Begier<strong>de</strong> allerdings zur<br />

prinzipienhaften Überzeugung, kann die überraschen<strong>de</strong> Erfahrung <strong>de</strong>s<br />

Getäuschtseins zu bösartiger Verstan<strong>de</strong>sschärfung führen. ENTtäuschung<br />

(!) be<strong>de</strong>utet das En<strong>de</strong> einer Täuschung, die nicht geahnt<br />

wur<strong>de</strong>. Die einsetzen<strong>de</strong> Verstan<strong>de</strong>sschärfe kann sich wie bei PIACHI<br />

unheilvoll auf Rache einrichten und einengen. Hin<strong>de</strong>rt ihn dann nicht<br />

christliche Barmherzigkeit, ist alles verloren. Da PIACHI von allgemeiner<br />

Menschenliebe bestimmt ist, (zu <strong>de</strong>r christliche Barmherzigkeit nicht<br />

gehört), nimmt bei Beleidigung durch Täuschung entsprechen<strong>de</strong> Rache<br />

ihren Lauf. Diese Rache ist nicht aufhaltbar. PIACHIs Weg in die Hölle<br />

steht bevor, <strong>de</strong>nn in seiner Seele zählt allein das Bewahren <strong>de</strong>r<br />

Racheempfindung.<br />

Säkulare Humanität ist nur begrenzt belastbar; sie fin<strong>de</strong>t bei<br />

Überfor<strong>de</strong>rung ihr abruptes En<strong>de</strong>, schlägt um ins Gegenteil. Enttäuschter<br />

Humanismus sucht die Hölle als neue Grundlage. (Christlicher<br />

Humanismus, besser: Christentum, ist nicht enttäuschbar.)<br />

Bei <strong>de</strong>m unnachweisbaren FINDLING ist das Verhalten nicht von Tausch<br />

und Offenheit wie beim nachweisbaren Han<strong>de</strong>lsmann bestimmt, son<strong>de</strong>rn<br />

unreflektiert gelenkt von Täuschung und Infamie. Diese bil<strong>de</strong>n ein<br />

unverän<strong>de</strong>rbares Zwischen bei allen Beziehungen NICOLOs, auf die sich<br />

seine Begier<strong>de</strong> richtet.<br />

Die Grenzerfahrung löst Begehren aus.<br />

V 03 Ästhetik <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Begehrens


45<br />

Dem FINDLING NICOLO ist durch <strong>de</strong>n Verlust seiner Angestammtheit<br />

Begier<strong>de</strong> eingewachsen. Begier<strong>de</strong> treibt, peitscht voran und kann sich<br />

nicht auf gera<strong>de</strong> Wege beschränken. Bei NICOLO ist das Verhalten nicht<br />

von Tausch und Offenheit wie beim ehrbaren Han<strong>de</strong>lsmann PIACHI<br />

bestimmt, son<strong>de</strong>rn das Verhalten ist unreflektiert, gelenkt von Täuschung<br />

und Infamie. Diese bil<strong>de</strong>n ein unverän<strong>de</strong>rbares „Zwischen“ (Hei<strong>de</strong>gger)<br />

bei allen Beziehungen NICOLOs. Dieses „Zwischen“ erzwingt bei NICOLO<br />

einen oktroyieren<strong>de</strong>n Bezug zu ELVIRE. Die nie<strong>de</strong>re Annahme, daß ELVIRE<br />

hierin unausweichlich ihm gleich gesinnt sein wer<strong>de</strong>, treibt ihn an.<br />

Die Begier<strong>de</strong> NICOLOs richtet sich auf ein bei ELVIRE vermutetes und<br />

tatsächlich bestehen<strong>de</strong>s Begehren; NICOLO ahnt und will es herauslocken.<br />

NICOLO ist dazu angereizt, da ELVIRE aus ihrer Seelenstimmung ein<br />

Geheimnis zu machen pflegt. Ein-Geheimnis-machen von etwas birgt auch<br />

etwas an<strong>de</strong>res: Das ist ELVIREs Begehren: COLINO, sie „ent-schämt“ sich<br />

für ihn in ihrem Zimmer. Da diese Hingabe angesichts <strong>de</strong>s Portraits von<br />

COLINO geschieht, muß man von einen Erinnerungsfetichismus<br />

sprechen. Das ist, tiefenpsychologisch argumentiert, ein nicht bewältigter<br />

Verlust und damit ein Zustand mit suchtartigem Charakter. Echte<br />

Trauerarbeit hätte <strong>de</strong>n Verlust „getötet“ und zur Normalität <strong>de</strong>s<br />

Empfin<strong>de</strong>ns übergehen lassen. Unter Normalität versteht man die<br />

pschische Unauffälligkeit in einer gesellschaftlichen Gruppierung.<br />

ELVIRE ist in ihrem Verhalten durchaus psychisch labil. Diese Labilität<br />

spürt COLINO und verfällt sofort darein, sie seinem Interesse gemäß<br />

einzuschätzen. Dabei sucht er <strong>de</strong>n Triumph <strong>de</strong>r Herabwürdigung. Das<br />

Böse in ihm ist <strong>de</strong>r Moralneid.<br />

NICOLOs Ver<strong>de</strong>rbtheit bewegt sich auf <strong>de</strong>m Niveau <strong>de</strong>r pejorisieren<strong>de</strong>n<br />

Vermischung von Begehren und Begier<strong>de</strong>. Die Dunklen gehören sich<br />

selbst: NICOLO sucht eine solche Vereinigung bei ELVIRE. Seine Bigotterie<br />

ermöglicht und verstärkt die Hinterhältigkeit <strong>de</strong>s Vorgehens.


46<br />

Das Begehren NICOLOs wird ausgelöst durch das „Zwischen“ <strong>de</strong>r<br />

Beziehung. Dieses Zwischen ist das Dasein und gleichzeitige Nicht-Dasein.<br />

(M.Schuller). Das „Zwischen“ Zeigt sich im Tun und gleichzeitgen Nicht-<br />

Tun: Von Scham, jener instinktiven Vorsicht in gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Situationen<br />

geschützt, betritt (beispielsweise) ELVIRE das Zimmer NICOLOs. Als sie<br />

die komprommittieren<strong>de</strong> Situation durchschaut, verschließt sie die Augen,<br />

kehrte sich...und verließ das Zimmer.<br />

Der Drang zur Durchbrechung von Scham ist ein infames Begehren.<br />

Scham hebt sich bei Vertrauen auf ins Nicht-mehr-Vorhan<strong>de</strong>nsein. Bei<br />

ELVIRE, da sie NICOLOs Lebenswan<strong>de</strong>l mit ansehen muß, verstärkt sie<br />

sich zu einem aufreizen<strong>de</strong>n „Zwischen“, das ELVIRE in ihren Reaktionen<br />

schwächen wird.<br />

Das Ausgesetzt-sein und das Lei<strong>de</strong>n CONSTANZAs, <strong>de</strong>r Nichte ELVIREns<br />

und NICOLOs Ehefrau, verstärkt zu<strong>de</strong>m die allgemeine Distanzierung von<br />

NICOLO. Nur <strong>de</strong>r allgemeine Familienbezug,die Schonung PIACHIs<br />

familierer Ehre und sicherlich auch das eigene Geheimnis ELVIRENs lassen<br />

offene Entrüstung gegenüber NICOLO nicht aufkommen. Diese<br />

Zurückhaltung macht NICOLO wie<strong>de</strong>rum dreister bei <strong>de</strong>r Annäherung. Bei<br />

NICOLOs „Drang zu Weibern“ ist die ELVIREns Unnahbarkeit, für NICOLO<br />

das gegenteilige Verhalten zu XAVIERA, eine aufreizen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung<br />

und läßt ihn in besessene Schritten verfallen.<br />

Das Nicht-festhalten-können <strong>de</strong>r Gelegenheit schürt bösartiges Begehren.<br />

ELVIRE das Zimmer...öffnete und wie<strong>de</strong>r schloß<br />

Der Drang, Verfügungsgewalt an sich zu reißen, ist infames Begehren.<br />

Infames Begehren ergibt sich aus <strong>de</strong>m Drang, ein Gefälle werthaltigen<br />

Verhaltens zum Nie<strong>de</strong>ren hin abzubauen. Es ist die Genugtuung <strong>de</strong>r<br />

Erniedrigung. Erniedrigung betreibt NICOLO zur eigenen Rechtfertigung.<br />

Zum Begehren in <strong>de</strong>r Gesellschaft gehört die Bloßstellung.<br />

„Bloßstellen“.geschieht durch Erniedrigung. Das Bloßstellen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren


47<br />

ist nicht nur ein Anliegen öffentlicher Menschen (Politiker), um einen<br />

Machtwechsel einzuleiten; es ist ein Trieb innerhalb <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft,<br />

die Privatsphäre Teilnehmer als verlogen und unmoralisch nachzuweisen.<br />

In Gemeinschaften ist dieser Trieb noch ausgeprägter als bei liberalem<br />

Rechtsempfin<strong>de</strong>n.<br />

Begehrensauslöser sind:<br />

Schlüsselbesitz / kein Schlüsselbesitz<br />

Öffnen / Schließen<br />

Auftauchen / Verschwin<strong>de</strong>n / Wie<strong>de</strong>rkehr<br />

Aufschlagen <strong>de</strong>r Augen / Zuschlagen <strong>de</strong>r Augen<br />

Anwesenheit / Abwesenheit<br />

NICOLO hat seine Triebfe<strong>de</strong>rn in Vortäuschung (Bigotterie), Begehren, das<br />

zur Gier (Hang zur Lust) wird. kommt von : <strong>de</strong>n<br />

beurteilen<strong>de</strong>n Verstand verlieren. Bei NICOLO wird bei <strong>de</strong>r Beobachtung<br />

<strong>de</strong>s „Zwischen“ von Scham und Nicht-Scham „Begehren“ ausgelöst:<br />

ELVIRE schlug bei diesem Anblick die Augen nie<strong>de</strong>r... .<br />

V 04 Ästhetik antriebsunmittelbare Handlungen<br />

Betrachtet man die „Handlungen im Aspekt <strong>de</strong>s seelischen Aufbaus“<br />

(Philipp Lersch 1966: 481), so trifft für PIACHI und NICOLO, sicher auch<br />

für ELVIRE als kommunikative Handlung die antriebsunmittelbare<br />

Handlung zu.<br />

Was bei ELVIRE kausal erklärbarer Antrieb ist, ist bei PIACHI und<br />

NICOLO konventionalisierter Antrieb. Bei<strong>de</strong> Antriebsarten sind<br />

unmittelbar. PIACHI hat eine moralische Sozialisation bekommen, die<br />

kaufmännischem Pragmatismus entspricht. Es ist <strong>de</strong>r Pragmatismus <strong>de</strong>s<br />

Vorteils durch Tausch. NICOLO hat eine moralische Sozialisation, die<br />

hedonistischem Pragmatismus entspricht. Es ist ein Pragmatismus <strong>de</strong>s<br />

Vorteils durch Täuschung.<br />

Bei<strong>de</strong>r Verhalten ist reflexionsarm erziehungsgeprägt. Bei gleicher<br />

Sozialisierungsumgebung (kaufmännische Ausbildung) entschei<strong>de</strong>t die


48<br />

genetische Ausstattung. PIACHI ist aufrecht und verläßlich; NICOLO hat<br />

<strong>de</strong>n Hang zum unsakramentalen Ausleben <strong>de</strong>r Bedürfnisse. Die<br />

sogenannten Glück-Wunsch-Ethiken gehen heute diesem Potential nach<br />

(Ulla Wessels 2011). PIACHIs Verhalten und Han<strong>de</strong>ln ist von <strong>de</strong>r<br />

Selbstverständlichkeit konventionalisierter Pflichtmoral geebnet. Als sich<br />

die Selbstverständlichkeit dieser Bürger-Moral gegenüber NICOLOS<br />

militantem, glücksegotistischem Utilitarismus als schwach erweist und<br />

NICOLOs Übergriffe zu To<strong>de</strong> beleidigend und subjektzerstörend wirken,<br />

bleibt PIACHI nur noch die uneingeschränkte, unmittelbare Rache. Die<br />

skrupellose Beleidigung <strong>de</strong>s Moralisch-Anständigen ist unverzeihbar,<br />

psychisch unausgleichbar und nicht verhan<strong>de</strong>lbar. PIACHI ist <strong>de</strong>shalb auf<br />

<strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r nicht-überbietbaren Rache gezwungen. Das<br />

schlimmstmögliche En<strong>de</strong> ist das einzige, was ihm bleibt. Für die Novelle<br />

als Gattung ist das ebenfalls Prinzip.<br />

Ist nach Ph. Lersch noch die Verknüpfung von Einsicht und Verhalten<br />

<strong>de</strong>nkbar, die Willenshandlungen zuläßt, so wird man das heute weit<br />

zögerlich einräumen. Es wird heute mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Annahme von<br />

erzielbarer und anerziehbarer Subjektsi<strong>de</strong>ntität vielmehr die Bün<strong>de</strong>lung<br />

von Ich-Vorstellungen erwogen, die kontingent sind. Das mo<strong>de</strong>rne Ich ist<br />

nicht essentielle Substanz , son<strong>de</strong>rn eine Schwarmvereinigung von ichintendieren<strong>de</strong>n<br />

Merkmalen in jeweiligen Entscheidungs-Situationen.<br />

V 05 Ästhetik <strong>de</strong>r Ansteckung<br />

PIACHI „pflegte gewöhnlich Bestimmtes zu tun“. Selbstverständlich ist ihm<br />

die Trennung von seiner Familie zwecks Handlungsreise. Eine solche Reise<br />

ist bedacht und verläuft und bewältigt sich nach Erfahrung. Die<br />

Überwindung von Hin<strong>de</strong>rnissen aller Art ist Normalität. Diese<br />

selbstverständliche Überwindung von Hin<strong>de</strong>rnissen wird allerdings gestört,<br />

wenn eine belasten<strong>de</strong>, sogar unheilvolle Ansteckung die Kräfte <strong>de</strong>s<br />

Normalen schwächt.<br />

Den gefestigten PIACHI kann nur eine unerwartete, von ihm nicht sofort<br />

bemerkte An<strong>de</strong>rsheit von <strong>de</strong>r Normalität von Krisenbewältigung


49<br />

abbringen. Die Aufnahme von NICOLO in seine Famile ist solch eine nicht<br />

bemerkte Ansteckung mit <strong>de</strong>m Bösen o<strong>de</strong>r - mil<strong>de</strong>r gesagt - mit <strong>de</strong>m<br />

Verhängnisvollen:<br />

Er liest NICOLO von <strong>de</strong>r Straße auf.<br />

Was harmlos beginnt, wird sich zum „Garaus“ auswachsen.<br />

Der Moment <strong>de</strong>r Ansteckung ergibt sich durch eine an sich „normale“<br />

Reaktion auf die Bitte eines Flehen<strong>de</strong>n. PIACHI ist nicht gewohnt, eine<br />

humanitäre Bitte zu versagen. Er ist seiner Entscheidung, NICOLO in<br />

seinen Wagen aufzunehmen, so reflexionslos sicher, daß er je<strong>de</strong>n<br />

Warnhinweis mißachtet. Ansteckung erfolgt zumeist in Momenten <strong>de</strong>r<br />

Sorglosigkeit, <strong>de</strong>r Unbedachtheit, <strong>de</strong>r zur Unaufmerksamkeit verführen<strong>de</strong>n<br />

Normalität, also zu einem Zeitpunkt, wo sie unerwartet ist und nichts<br />

mehr warnen kann.<br />

Obwohl PIACHI bewußt genug ist, nicht zu wissen, was er mit NICOLO<br />

anfangen soll, bleibt er langfristig unbedacht in seinem Han<strong>de</strong>ln. Die<br />

moralische Selbstverständlichkeit seines Tuns verführt ihn. Für ihn ist<br />

selbstverständlich, einem Flehen<strong>de</strong>n Hilfe zu gewähren. Diese moralische<br />

Sozialisation ist so ausgeprägt, daß ihm keine Be<strong>de</strong>nken kommen. Die<br />

Gewohnheit, <strong>de</strong>n Bitten Bitten<strong>de</strong>r zu entsprechen, ist so<br />

selbstverständlich, daß er NICOLO auch ein zweites Mal (nach <strong>de</strong>m<br />

Klinikaufenthalt) mitnimmt.<br />

Zu diesem Zeitpunkt ist die „Ansteckung“ aber schon vollzogen. Es<br />

besteht noch eine längere Weile Latenzzeit, bis unübersehbar „die<br />

Krankheit zum To<strong>de</strong> einsetzt“. Der Vernichtungsprozeß hat seinen Lauf<br />

begonnen. Anfangs sind die Symptome so harmlos, daß niemand etwas<br />

ahnt. Die moralische Sozialisation und die Erfahrung <strong>de</strong>r Selbstregelung<br />

aller Krisen ist so ausgeprägt, daß nichts vermutet, schon gar nicht<br />

gewußt wird. Es ist bereits die Verstörung <strong>de</strong>s Gewohnten eingeleitet, die<br />

Störung <strong>de</strong>s Normalen nimmt ihren Lauf, eskaladiert (=nimmt alle<br />

Hin<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Abwehr) bis zur Katastrophe. Der i<strong>de</strong>ale Leser ist<br />

<strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r erfahren hat, daß eine kleine Ursache ungeheure Folgen


50<br />

haben kann, und die Unbemerkbarkeit sich anbahnen<strong>de</strong>r Katastrophen als<br />

Horror Vacui fürchtet.<br />

V 06 Ästhetik <strong>de</strong>s Verlust<br />

Je<strong>de</strong>r kennt „Verlust“ als praktische Erfahrung. Die Ästhetik <strong>de</strong>s Verlusts<br />

ist eine ästhetische Wahrnehmung von empirischem Verlust. Ästhetische<br />

Wahrnehmung und empirische Wahrnehmung unterschei<strong>de</strong>n sich<br />

grundsätzlich.<br />

Ästhetische Wahrnehmung geschieht „aus <strong>de</strong>m Lehnstuhl“, d.i.: Sie trifft<br />

<strong>de</strong>n Wahrnehmen<strong>de</strong>n nicht existentiell. Existentielles Betroffensein besteht<br />

in <strong>de</strong>r Unmittelbarkeit (Kausalität) und <strong>de</strong>s Eibezogen-Seins in ein<br />

Geschehens; ästhetische Betroffenheit bleibt eine zur Wahrnehmung<br />

aufbereitete Als-ob-Erfahrung. Das hat Wirkungssunterschie<strong>de</strong> zur Folge.<br />

Die differenter Parallelität ist das Erkenntnisproblem.<br />

Es kann auch nicht sein, daß die reale Erfahrung eines Verlusts<br />

Voraussetzung <strong>de</strong>r Wahrnehmung eines ästhetischen Verlusts ist. Kunst<br />

ist unabhängig von einer realen Vorlage, was aber nicht heißt, daß sie sich<br />

keiner realen Vorlage bedienen dürfte. Geriete ein Kunstwerk in<br />

Abhängigkeit zu dieser realen Vorlage, könnte man ihm keine<br />

künstlerische Qualität mehr zusprechen.<br />

Die Parallelität bei<strong>de</strong>r Wahrnehmungen von Verlust besteht in einer<br />

„Bedrücktheit“, die sich auf die Vitalität auswirkt. Worin unterschei<strong>de</strong>t sich<br />

aber ästhetische Bedrücktheit und Erfahrungs-Bedrücktheit? Erfahrungs-<br />

Bedrücktheit wird zu einer Verhaltensbedingung führen, die bei je<strong>de</strong>r<br />

empirischen Handlung berücksichtigt sein will. Sie führt zur<br />

Verhaltensnorm. Ästhetische Bedrücktheit dagegen entwickelt eine<br />

intellektuale Lebensform, eine Grun<strong>de</strong>instellung, die krisenhafte Existenz<br />

zur Grundannahme macht und sich entsprechend wappnet.<br />

V 07 Undine


51<br />

ELVIRE ist ein Findling an<strong>de</strong>rer Art. Zwar sind Eltern und Wohnhaus<br />

bekannt, aber es scheint doch, als sei sie ganz an<strong>de</strong>ren Ursprungs. Ihre<br />

kulturelle Weiblichkeit (gen<strong>de</strong>r) hat <strong>de</strong>n Charakter einer Nymphe. Sie<br />

verliebt sich beim Brand <strong>de</strong>s Hauses in ihren menschlichen Retter und<br />

muß schließlich daran sterben, - da ihr als Nymphe „auf Er<strong>de</strong>n nicht zu<br />

helfen war“. (Kraß:85; er erwähnt die Verbindung ELVIREns zum Undine-<br />

Thema nicht).<br />

Ob die erzählte Figur „ELVIRE“ zum Undine-Thema gehört, ist eine<br />

Entscheidung, die von <strong>de</strong>r Einstellung <strong>de</strong>s Lesers zum Text abhängt. Wer<br />

die reziproke Beziehung zwischen Aufklärung und Romantik in ihrer<br />

Wirkung schätzt, wird seine subjektiven (persönlichen) Gedanken in diese<br />

Richtung gehen lassen. Die Hinweise im Kotext sind zwar spärlich, aber<br />

<strong>de</strong>r Kontext führt zu thematischer Annäherung: 1811 schreibt Fouqué<br />

seine „Undine“. <strong>Kleist</strong> ist mit ihm in Kontakt. 1811 veröffentlicht <strong>Kleist</strong> in<br />

<strong>de</strong>n „Berliner Abendblättern“ seinen Bericht über „Wassermänner und<br />

Sirenen“. 1811 ziehen sich Henriette Vogel und <strong>Kleist</strong> gegenseitig in <strong>de</strong>n<br />

Tod am Wasser.<br />

ELVIRE „bewohnte ein Haus, das [...] hart an <strong>de</strong>n [...] Rand <strong>de</strong>s Meeres<br />

stieß“ (52:35-37). „Balken [...] liefen, mehrere Ellen weit, über die See<br />

hinaus“ (53:1-3). Als das Haus abbrennt, steht sie auf einem <strong>de</strong>r Balken,<br />

kann sich nur in „die weite, ö<strong>de</strong>, entsetzliche See“ (53:14) retten. Als sie<br />

sich scheut, kommt <strong>de</strong>r Genueser, umfaßt sie und läßt sich mit ihr in die<br />

See (53:22) hinab.<br />

Das „brennen<strong>de</strong> Haus“ ist eine Mehrfach-Allegorie: sie steht für die<br />

Liebesbegegnung mit COLINO; sie steht für <strong>de</strong>n Verlust COLINOs; sie<br />

steht für die Beschämung durch NICOLOs Auf<strong>de</strong>ckung von ELVIREns<br />

Schamgeheimnis. PIACHI kann manches verhüten und mil<strong>de</strong>rn; schließlich<br />

aber wird ELVIRE an ihrem Undine-Schicksal sterben.<br />

SCHLUßBEMERKUNG<br />

Beson<strong>de</strong>res Anliegen dieses Essays ist die ästhetische Entscheidung, <strong>de</strong>n<br />

Konsumenten abzuschaffen, <strong>de</strong>n Rezipienten als jeman<strong>de</strong>n zu betrachten,


52<br />

<strong>de</strong>r durch eine anspruchsvolle Wahrnehmung in <strong>de</strong>r Art einer Coproduktion“<br />

(Detel) das literarische Artefakts zum Kunstwerk „vollen<strong>de</strong>t“.<br />

Der „produzieren<strong>de</strong> Rezipient“ wird in perspektivischer Einseitigkeit die<br />

Wirkung <strong>de</strong>s Artefakts herausstellen, die bei ihm höchste Wirkung erzielt.<br />

Von einer kompletten Verstehensleistung im Sinne einer essentiellen<br />

Interpretation ist also nicht mehr die Re<strong>de</strong>. Auch das vom Autor Gewollte<br />

wird vom Co-produzenten nicht i<strong>de</strong>ntifizierend nachempfun<strong>de</strong>n. Der Autor<br />

selbst wird seinem Artefakt nach einiger Zeit fremd gegenüberstehen und<br />

beim Artefakt, gemäß einem Coproduzenten, neue Relationen ent<strong>de</strong>cken,<br />

die zu wirkungsträchtigen Augenblicks<strong>de</strong>utungen anregen.<br />

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