Vortrag Kleist 18dez11 - FritzUdoKrause.de
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1<br />
Fritz U. Krause Dezember 2011<br />
Destruktion <strong>de</strong>r Gewohnheit<br />
Einiges zu <strong>Kleist</strong>: „Der Findling“<br />
Heinrich von <strong>Kleist</strong> 1777 - 1811<br />
Glaubt ihr, so bin ich euch, was ihr nur wollt;<br />
recht nach <strong>de</strong>r Lust Gottes.<br />
Schrecklich und lustig und weich.<br />
Zweiflern versink ich zu nichts.<br />
(Distichon)<br />
Suizi<strong>de</strong>nthusiast<br />
Narzismus<br />
Entfremdung von <strong>de</strong>r Schwester Ulrike<br />
Verlust sämtlicher Subsistenzmittel<br />
Geringe Erträge seiner literarischen Arbeit<br />
Von Verwandten erlittene Kränkungen<br />
(Brief an Marie <strong>Kleist</strong> 10.11.1811)<br />
Wür<strong>de</strong>loses Vaterlan<strong>de</strong>s<br />
Tief empfun<strong>de</strong>ne „Gebrechlichkeit <strong>de</strong>r Welt“<br />
To<strong>de</strong>sgefährtin<br />
Henriette Vogel (1780-1811)<br />
Krank, aus Berliner Freun<strong>de</strong>skreis<br />
21. November 1811. Pistole<br />
I Rezeption<br />
0I Literarische Texte müssen doppelsinnig geslesen wer<strong>de</strong>n 02<br />
02 Wirken, Wirklichkeit, Wirkung 05<br />
03 Wirkung vs. Wahrheit 07<br />
04 Lesehaltung und Weltanschauung 08<br />
05 Sprachwelt 09<br />
II Novellenaufbau<br />
01 Erzählordnung <strong>de</strong>r Novelle 10<br />
02 Teleologie <strong>de</strong>s Geschehens 12<br />
03 Keine moralische Geschichte 13<br />
04 Postkatastrophische Anomie 14<br />
05 Patchwork-Kontingenz 15<br />
06 Erratischer Findling 16<br />
07 Schweigen 17<br />
08 Schlüssel 18<br />
III Stil<br />
01 Künstlerische Sprachbehandlung 20<br />
02 Kommasetzung 24<br />
03 Gleichzeitigkeit <strong>de</strong>r Zeitabläufe 25<br />
04 Anagramm 26<br />
IV Ästhetik <strong>de</strong>r Scham<br />
01 Ästhetik <strong>de</strong>r Scham 1 27<br />
02 Ästhetik <strong>de</strong>r Scham 2 27<br />
03 Elvirens Scham 33<br />
04 Elvirens Wahn 36<br />
05 Piachis Beschämung 38
2<br />
06 Nicolos Schamlosigkeit 40<br />
V Weitere ästhetische Zugriffe<br />
01 Ästhetik <strong>de</strong>s Tausches 42<br />
02 Ästhetik <strong>de</strong>r Täuschung 43<br />
03 Ästhetik <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Begehrens 44<br />
04 Ästhetik <strong>de</strong>r antriebsunmittelbaren Handlungen 47<br />
05 Ästhetik <strong>de</strong>r Ansteckung 48<br />
06 Ästhetik <strong>de</strong>s Verlusts 49<br />
07 Undine 50<br />
Schlußbemerkung 52<br />
I REZEPTION<br />
I 01 Literarische Texte müssen doppelsinnig gesehen wer<strong>de</strong>n<br />
Gebrauchstexte sind für Leser verfaßt, die Informationen suchen. Sie<br />
i<strong>de</strong>ntifizieren die „Wahrheit“ eines Textes für realistischen Gebrauch.<br />
Literarische Texte dagegen, so die Novelle DER FINDLING von <strong>Kleist</strong>,<br />
haben wie alle Kunst keine außerkünstlerische „Funktion“. Der<br />
Funktionsbegriff ist für die Kunst ungeeignet. „Novellen“ sind keine<br />
Gebrauchstexte; sie sind für die Erfahrungswelt ungeeignet. Ihre<br />
„Wahrheit“ ist - wie bei aller Kunst - ihre „Wirkung“. Künstlerische<br />
Wirklichkeit ist vorgestellte Realität ohne Anspruch auf Wahrheit.<br />
Novellen bestehen wie je<strong>de</strong> literarische Ordnungsform aus verfaßter<br />
Ambiguität (Artefakt eines Produzenten) und wahrgenommener<br />
Ambiguität (Wirkung beim Rezipienten). Literarische Kunst muß<br />
doppelsinnig gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Für <strong>de</strong>n Umgang mit <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>chen Novelle wird eine künstlerische<br />
Einstellung angesetzt, die Konsequenzen für <strong>de</strong>n literarischen Umgang<br />
hat: Produktion und Rezeption wer<strong>de</strong>n als künstlerische Prozesse<br />
gesehen, die literarische Texte konstituieren und vollen<strong>de</strong>n. Dabei<br />
wird „Rezeption“ als eine Son<strong>de</strong>rform <strong>de</strong>r „Produktion“ angesehen. Damit<br />
sind „rivalisieren<strong>de</strong> Argumente“ (Hempel), wie die einschlägige,<br />
verstehen<strong>de</strong> Rezeption sie for<strong>de</strong>rt, aufgehoben. Statt von „Produktion 2“<br />
wird hier weiterhin von „Rezeption“ gere<strong>de</strong>t.
3<br />
Das heißt unter an<strong>de</strong>rem: Wer sich mit literarischer Kunst beschäftigt, ist<br />
entwe<strong>de</strong>r produzieren<strong>de</strong>r o<strong>de</strong>r rezipieren<strong>de</strong>r Künstler. Von Co-<br />
Produktion ist zu re<strong>de</strong>n. Der produzieren<strong>de</strong> Sprachkünstler schafft als<br />
„Artefakt“ eine relational vielfältige, mehr<strong>de</strong>utige Sprachwelt<br />
(„Wortkunst“, Herwarth Wal<strong>de</strong>n).<br />
[Die Textologie (theoretische, <strong>de</strong>skriptive und anwendungs–orientierte Textwissenschaft<br />
von Hjelmslev bis Petöfi) hat mit <strong>de</strong>m Kohärenzprinzip handwerklich aus <strong>de</strong>r textlichen<br />
Aggregation gewiesen und <strong>de</strong>r ästhetischen Textbildung erweitern<strong>de</strong> Produktionsmittel<br />
gezeigt.]<br />
Der rezipieren<strong>de</strong> Künstler i<strong>de</strong>ntifiziert die Wirkung dieses Artefakts.<br />
Dabei wird er als verläßlicher „Mitarbeiter“ <strong>de</strong>s produzieren<strong>de</strong>n Künstlers<br />
die Realität <strong>de</strong>s Textes nicht zur Relativität wer<strong>de</strong>n lassen. Die<br />
Zusammenarbeit muß soweit vorgestellt wer<strong>de</strong>n, daß ein Wechsel <strong>de</strong>r<br />
Rolle zwischen Produzent und Rezipient <strong>de</strong>nkbar wäre.<br />
Wenn auch letzteres nicht erwogen wird, ist hier eine gesamtkünstlerische<br />
Herangehensweise an „DER FINDLING“ beabsichtigt.<br />
Mit dieser Zugangseinstellung ist eine „kognitive Autorenabsicht“, die auf<br />
Erkenntnis–Verarbeitung abzielt, und eine „essentielle Interpretation“, die<br />
phänomenologisch auf verabsolutieren<strong>de</strong>s Verstehen gerichtet ist, nicht<br />
beabsichtigt und abgelöst. Dolmetscher-Begriffe wie „Hermeneutik“<br />
können hier nicht eingesetzt wer<strong>de</strong>n. (Pfarrer verstehen sich als Bibel-<br />
Dolmetscher.) Die Wirkungsermittlung geschieht hier textanalytisch,<br />
wobei <strong>de</strong>r linguistische Feldbegriff mit seinen paradigmatischen<br />
Oppositions-Beziehungen bevorzugt ist.<br />
Nur ange<strong>de</strong>utet (nach Vollers-Sauer:277) sei hier <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r „I<strong>de</strong>ntifikation“<br />
konkurrieren<strong>de</strong> „Interpretation“s-Begriff. Von Letzterem wird hier<br />
Abstand genommen. Der „Interpretations“-Begriff - nach einschlägigem<br />
Verständnis - soll neben <strong>de</strong>r genannten Dolmetscher-Funktion (1) Text<br />
und Leser hinsichtlicher historischer Differenzen angleichen; soll (2) in<br />
immanenter Auslegung klären, was das Gemeinte <strong>de</strong>r Worte, <strong>de</strong>s<br />
Textes ist; will (3) <strong>de</strong>n Autor „verstehen“ und <strong>de</strong>n Produktionsvorgang<br />
nachvollziehen. Einschlägig gilt heute (5), daß sich „...im Spannungsfeld<br />
zwischen einer auf das sprachliche >Material< <strong>de</strong>r künstlerischen Werke
4<br />
gerichteten Interpretation und <strong>de</strong>r Herausarbeitung <strong>de</strong>r psychologischen<br />
und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen, worauf die Werke als<br />
Zeichen verweisen,“ mo<strong>de</strong>rne Interpretation konstituiert.<br />
[Schüler in <strong>de</strong>r ehemaligen DDR wur<strong>de</strong>n damit beschäftigt, (6) <strong>de</strong>n<br />
politisch angemessenen „Darstellungsgegenstand“, „Erkenntnis–<br />
gegenstand“, <strong>de</strong>n „Inhalt“ und im Beson<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>n „I<strong>de</strong>engehalt“<br />
auszumachen (Zacharias:135).]<br />
Für die Textanalyse wur<strong>de</strong>n Textanalyseraster (Nussbaumer)<br />
entwickelt, in <strong>de</strong>nen „Sprachwissen , Weltwissen und Handlungswissen“<br />
semantische und pragmatische Zugriffe komplettieren. Die ästhetische<br />
Wahrnehmung wird auf die Beobachtung von „Angemessenheit“, „die<br />
Qualität (Attraktivität und Repulsivität) Sprachmittel“ und das „Wagnis“<br />
<strong>de</strong>r Sprachverwendung reduziert.<br />
Abgesetzt von solchen Interpretationsvorstellungen will <strong>de</strong>r gewählte<br />
Textzugang zu DER FINDLING die Ambiguität <strong>de</strong>r Textrelationen und<br />
die damit verbun<strong>de</strong>ne Wirkungsgerichtetheit ermitteln.<br />
Da „Langeweile“ ein Gegenwort zu „literarischer Kunst“ ist, haben sowohl<br />
<strong>de</strong>r Produzent wie <strong>de</strong>r Rezipient die künstlerische Aufgabe, die<br />
Möglichkeiten von Wirkung zu optimieren. <strong>Kleist</strong> suchte in diesem<br />
Sinne <strong>de</strong>n „schlimmstmöglichen Ausgang“ seiner Novelle. <strong>Kleist</strong> läßt seine<br />
Geschichte erst en<strong>de</strong>n, wenn keine Geschehenssteigerung mehr<br />
erwägenswert scheint. Der Mord an NICOLO, die Exkommunikation und<br />
<strong>de</strong>r Weg in die letzte aller Höllen ist dafür beispielhaft.<br />
Der Leser könnte diesen Höllengang beispielsweise dadurch ergänzen,<br />
daß er in ähnlicher Weise an<strong>de</strong>re Figurenexistenzen <strong>de</strong>r Novelle<br />
zuen<strong>de</strong>gehen sieht. So wird er vielleicht beim „Spiel <strong>de</strong>r Wirkungen“, zu<br />
<strong>de</strong>m er als Rezipient verpflichtet ist, <strong>de</strong>r Hangtäterschaft NICOLOs<br />
(52:5;56:4f) eine Hangtäterschaft ELVIREns (58:14-18) parallel stellen.<br />
Der Leser könnte die gradlinige kaufmännische Haltung PIACHIs mit <strong>de</strong>r<br />
unbeirrbaren vorteilnehmen<strong>de</strong>n Haltung XAVIEREns vergleichen und
5<br />
erstaunt sein, mit wieviel Kraft XAVIERA <strong>de</strong>n Unwägbarkeiten einer<br />
Beziehung zugleich zum Bischof und zu NICOLO standhält.<br />
I 02 Wirken, Wirklichkeit, Wirkung<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Gebrauchsbedingungen liegt es, „wirken“ auf zweierlei<br />
Weise zu verwen<strong>de</strong>n. (Deutsches Wörterbuch,Grimm. Bd 30 1960;<br />
Wörterbuch <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Gegenwartssprache. Bd 6 1977;<br />
Wörter und Wendungen 1981; Wahrig 1994)<br />
„wirken“(1) = „arbeiten“. * „ich wirke = ich arbeite“; dazu diminuierend:<br />
„werkeln“.<br />
„wirken“ (2) = „Das Medikament wirkt = das Medikament zeigt Wirkung.<br />
Der Schauspieler wirkt = <strong>de</strong>r Schauspieler macht Eindruck, übt Einfluß<br />
aus.“<br />
Weitere Verwendungsmöglichkeit von „wirken“ liegen außerhalb <strong>de</strong>r<br />
Fragestellung.<br />
„wirken“ (Grimm:551—605) ist ein „schwaches Verb“, das wie „arbeiten“<br />
(engl. work) gebraucht wird. Es ist abgeleitet von Werk (Grimm:551),<br />
verstan<strong>de</strong>n als {etwas durch Arbeit Entstan<strong>de</strong>nes}. „Wirklich“ weist somit<br />
an: {etwas gehört zu <strong>de</strong>m, was durch Arbeit sinnlich wahrnehmbar<br />
entstan<strong>de</strong>n ist und „tatsächliches sein eines dinges“o<strong>de</strong>r geschehens hat}<br />
(Grimm:578). Damit ist „Wirklichkeit“ {<strong>de</strong>r Bereich <strong>de</strong>ssen, was<br />
tatsächliches Sein hat}.<br />
„wirken“ in <strong>de</strong>r ursprünglichen Verwendung von „arbeiten“ wird vor allem<br />
im Komposita genutzt: „Handwerk“, „Werkzeug“, „Werkstoff“.<br />
Die Verwendung von „wirken“ im Sinne von „wirken auf“, „bewirken“ hat<br />
sich gehalten:<br />
Seit<strong>de</strong>m „arbeiten“ die semantische Anweisung von „wirken“<br />
übernommen hat, hat sich für „wirken“ die perspektivische Verwendung<br />
von {Einfluß ausüben, Eindruck machen}“ in <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utung von „wirken<br />
auf jmd“ und „wirken wie“ in <strong>de</strong>n Vor<strong>de</strong>rgrund geschoben:<br />
„Wirkintensität“, „wirksam“, „Wirkmächtigkeit“. Ob hier ein tatsächlich
6<br />
bestehen<strong>de</strong>s Sein o<strong>de</strong>r ein vorgegaukelter Schein zur Wirkung führt, ist<br />
nicht mehr primär im Unterscheidungsinteresse.<br />
Es soll auf Grund <strong>de</strong>r Vorüberlegungen und für weitere Unterscheidungen<br />
getrennt wer<strong>de</strong>n zwischen „Wirklichkeit“ und „Realität“.<br />
Als „Wirklichkeit“ wird das<br />
(von Gott) Geschaffene<br />
(vom Menschen) durch Arbeit Entstan<strong>de</strong>ne, Hergestellte<br />
angesehen. Das, was mit <strong>de</strong>r Wirkung <strong>de</strong>s Produziertseins, <strong>de</strong>s<br />
Geschaffenseins, empfun<strong>de</strong>n wird, wird <strong>de</strong>r „Wirklichkeit“ zugeschrieben.<br />
Diese „Wirklichkeit“ hat aber keinen Wahrheitswert. Die Akzeptanz liegt<br />
ausschließlich in <strong>de</strong>r Einschätzung <strong>de</strong>ssen, von <strong>de</strong>m etwas als „wirklich“<br />
empfun<strong>de</strong>n ist. „Wirklichkeit“ wird <strong>de</strong>m zugesprochen, das als<br />
„augenscheinlich“ wahrgenommen ist. Sie läßt also auch <strong>de</strong>n „Schein“ zu,<br />
<strong>de</strong>r eine tatsächliche Erscheinung glaubwürdig vorgaukeln kann („Die<br />
Sonne geht unter.“) o<strong>de</strong>r aber ein Geschehen (Vorgang, Zustand,<br />
Handlung, Ereignis), das offenbar, wenn auch nicht nachweisbar, etwas<br />
„bewirkt“ (Grimm:577). Die genannten Geschehensarten wer<strong>de</strong>n durch<br />
ihren Agensbezug voneinan<strong>de</strong>r unterschie<strong>de</strong>n.<br />
Der „Realität“ wird hier dagegen<br />
das methodisch durch Erfahrung Gewonnene<br />
das methodisch Nachweisbare<br />
zugeordnet. Das, was als erfahrbar im Sinne <strong>de</strong>s vorwissenschaftlichen<br />
und wissenschaftlichen Rezipiertseins ist, soll als „Realität“ betrachtet<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
„Wirklichkeit“ weist die Gesamtheit <strong>de</strong>ssen an, was ins „Werk gesetzt“<br />
wird, und so - ob wissenschaftlich existent o<strong>de</strong>r nicht-existent - auf die<br />
menschliche Vorstellung Einfluß nimmt. Diese Festlegung <strong>de</strong>r Genealogie<br />
<strong>de</strong>s Bezeichnungsgebrauchs von „wirken“ (Grimm:550-580) reicht für <strong>de</strong>n
7<br />
Erklärungswert und damit ist <strong>de</strong>r etymologischen, leitmotivischen<br />
Be<strong>de</strong>utung (Schützeichel:237) genüge getan.<br />
Das vorausgesetzt, gehört jetzt im Argumentationszusammenhang zur<br />
„fachsprachlich Konvention “, daß „Realität“ allein <strong>de</strong>n Teil einer<br />
allumfassen<strong>de</strong>n „Wirklichkeit“ anweisen soll, mit <strong>de</strong>m wissenschaftliche<br />
Überprüfbarkeit und Voraussagbarkeit verbun<strong>de</strong>n ist. Der Realitätsbegriff<br />
legt hierarchisierend auf Wissen und Nicht-Wissen fest.<br />
Die Kunst nimmt diese „Realitäts“-Festlegung nicht in Anspruch, da sie auf<br />
die Kunstkategorie „Mehr<strong>de</strong>utigkeit in <strong>de</strong>r Möglichkeit“ eingeschränkt ist.<br />
Kunst-Wirklichkeit und Wissenschafts-Realität sind komplimentär<br />
distribuiert.<br />
Bezöge die Kunst <strong>de</strong>n Reralitäts-Begriff ein, wäre „Co-produktion“ von<br />
Autor und Rezipienten abgebrochen und <strong>de</strong>m Rezipienten käme nur zu,<br />
entwe<strong>de</strong>r die „wissenschaftliche Wahrheit“ zu bestätigen o<strong>de</strong>r zu „lügen“.<br />
Für die Kunst eröffnet sich „Wirklichkeit im engeren Sinne“ als<br />
kontrolliert spekulativer Bereich, <strong>de</strong>r als „vorlogisch“ angesehen wer<strong>de</strong>n<br />
muß. Die Bezeichnung „vorlogisch“ bezieht sich dann auf die Wirklichkeit,<br />
die noch nicht rationalisert, also „irrational“ ist. Hier kann <strong>de</strong>r<br />
Be<strong>de</strong>utungsinhalt von Wirklichkeit aktualisiert wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r im Merkmal<br />
„Einflußnahme“ gegeben ist. Einflußnahme als Wirkung betrachtet kann in<br />
<strong>de</strong>r Kunst ohne Realitätszwang erlebt wer<strong>de</strong>n. Ohne Realitätszwang heißt,<br />
keinerlei existentielle Folgen sind mit <strong>de</strong>r Erfüllung von Kunstsehnsüchten<br />
verbun<strong>de</strong>n.<br />
I 03 Wirkung vs. Wahrheit<br />
Befaßt man sich mit literarischer Kunst, sollte man <strong>de</strong>n Wirklichkeits-<br />
Begriff vom „Realitäts“-Begriff (konventionalisierend) trennen.<br />
Als es noch keine begriffliche Erkenntnis gab – sagen wir in <strong>de</strong>r Steinzeit<br />
-, war das, was „wirkte“, die „Wirklichkeit“. Man gab <strong>de</strong>r durch Wirkung<br />
<strong>de</strong>limitierten Entität eine Bezeichnung, die auf Konvention beruhte. Eine<br />
Bezeichnung ist aber nicht <strong>de</strong>r Begriff <strong>de</strong>r Entität (Hayakawa).
8<br />
Als sich Erkenntnis (Wissenschaft) herausbil<strong>de</strong>te, die auf begrifflicher<br />
Unterscheidung beruhte, gewöhnte man sich daran, von „Realität“ und<br />
„Wahrheit“ zu sprechen. Urteile / Aussagen konnten „wahr“ sein,<br />
entsprachen sie zum Beispiel <strong>de</strong>m Realismus im Sinne <strong>de</strong>r<br />
Korrespon<strong>de</strong>nztheorie. Man erkannte u.a. erklären<strong>de</strong> Begriffe und<br />
konstruierte (Kant: Metho<strong>de</strong>nlehre), und auch verstehen<strong>de</strong> (Dilthey)<br />
und listige Begriffe (Elkana).<br />
Die Wissenschaftsgläubigkeit ver<strong>de</strong>ckt immer wie<strong>de</strong>r die Abhängigkeit <strong>de</strong>r<br />
Erkenntnis vom begrifflich-methodischen Zugriff und ihrer<br />
Partikularität. Der Hang zu holistischen und essentiellen Vorstellungen ist<br />
nicht abzuschaffen.<br />
Heute spricht man, um <strong>de</strong>n in Kunst und Wissenschaft zweifelhaften<br />
Wahrheitsbegriff zu vermei<strong>de</strong>n, von <strong>de</strong>r Genauigkeit einer Aussage im<br />
Hinblick auf das Gelingen einer Situation.<br />
Ich ordne fürs Folgen<strong>de</strong> <strong>de</strong>n von Wirkung abgeleiteten<br />
Wirklichkeitsbegriff <strong>de</strong>r Kunst zu, <strong>de</strong>n auf Wahrheit bzw. auf<br />
Genauigkeit ausgerichteten Realitätsbegriff <strong>de</strong>r Wissenschaft.<br />
Daraus ergeben sich (hier ausreichen<strong>de</strong>) zwei Vorstellungen von rezipieren<strong>de</strong>rer<br />
I<strong>de</strong>ntifikation:<br />
(1) Der Leser als Sich-Informieren<strong>de</strong>r i<strong>de</strong>ntifiziert die Wahrheit<br />
von Texten.<br />
(2) Der Leser als rezipieren<strong>de</strong>r Künstler i<strong>de</strong>ntifiziert die Wirkung<br />
von Texten.<br />
„Wir wissen nun, daß die Kunst nicht die Wahrheit ist. Die Kunst ist eine Lüge, die uns erlaubt, uns <strong>de</strong>r<br />
Wahrheit zu nähern, zumin<strong>de</strong>st <strong>de</strong>r Wahrheit, die uns verständlich ist (Picasso 1923)<br />
D.b.: Bei <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>ntifikation von Kunst ist <strong>de</strong>r Interpretationsbegriff in<br />
beson<strong>de</strong>rer Weise zu verstehen.<br />
I 04 Lesehaltung und Weltanschauung<br />
Natürlich sind alle Fragen an eine Erzählung berechtigt, auch die, welchen<br />
Leser sich <strong>de</strong>r Erfin<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Erzählung und <strong>de</strong>s Erzählers gedacht hat. Ist<br />
<strong>de</strong>r Leser <strong>de</strong>s Findlings christlich sozialisiert, so wird er Abscheu
9<br />
empfin<strong>de</strong>n gegenüber <strong>de</strong>n ehrfurchtlosen Geschehnissen und <strong>de</strong>r<br />
Deka<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r kirchenstaatlichen Wirklichkeit. Ist <strong>de</strong>r Leser bürgerlichi<strong>de</strong>alistischem<br />
Humanismus verpflichtet, so wird <strong>de</strong>n erzählten<br />
moralischen Verfall jeglicher Bildungsvorstellungen beklagen. Er wird die<br />
seelische Vereinseitigung PIACHIs, die Perversität weiblicher<br />
Liebesohnmacht, die skrupellose Eigensucht NICOLOs sowie die<br />
Verlogenheit vorgeblich religiöser Interessen mit Ekel und Protest zur<br />
Kenntnis nehmen.<br />
Lebt er einen philosophisch-naturalistischen Humanismus<br />
gegenwärtiger Ausprägung, so wird er aufmerksam die Individuation aller<br />
Beteiligten verfolgen und die Konsequenzen ihres Han<strong>de</strong>lns pragmatisch<br />
für sich erwägen. Ansonsten wird er <strong>de</strong>n Abstand suchen von Menschen<br />
und Situationen, die ihn persönlich in vergleichbare Gefahren bringen.<br />
Michael Schmidt-Salomon (2006): Manifest <strong>de</strong>s evolutionären Humanismus. Aschaffenburg (Alibri)<br />
I 05 Sprach-Welt<br />
„Wenn man <strong>de</strong>r Auffassung ist, dass die Erzählung etwas ist, womit sich<br />
die Menschen ein Bild von <strong>de</strong>r Welt und von sich selber machen,..., dann<br />
rückt eben die Diskussion über die Leistung, über das Vermögen, die<br />
Feinheit o<strong>de</strong>r Grobheit, die Künstlichkeit o<strong>de</strong>r die Plausibilität, die<br />
Angemessenheit o<strong>de</strong>r Konstruiertheit o<strong>de</strong>r sagen wir ruhig: die<br />
Wahrhaftigkeit von Narrativen ins Zentrum“ (592)<br />
Ist diese Erzählung aus unserer Erfahrungswelt heraus zu verstehen? Man<br />
muß sich schon in psychopathologische To<strong>de</strong>s-Enthusiasmen, in<br />
Thanatophobien (Angst vor <strong>de</strong>m To<strong>de</strong>) hineinversetzen wollen und <strong>de</strong>r<br />
Meinung sein, daß sei auch notwendige Maßnahme <strong>de</strong>s<br />
Weltverständnisses, um hier mitzugehen.<br />
Plausibilität, Angemessenheit und (angemessene) Konstruiertheit nach<br />
alltäglicher For<strong>de</strong>rung wird man von <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>-Novelle nicht bestätigt<br />
sehen. Es han<strong>de</strong>lt sich vielmehr um Sensations-Suche, vielleicht sogar<br />
Sentations-„hascherei“, die sich mit Monsterfiguren verbin<strong>de</strong>t.<br />
PIACHI ist ein Monster <strong>de</strong>r Konsequenz, Gradlinigkeit,<br />
NICOLO ist ein Monster <strong>de</strong>r moralischen Skrupellosigkeit.
10<br />
II NOVELLENAUFBAU<br />
II 01 Erzählordnung<br />
<strong>Kleist</strong> / 1811 / DER FINDLING / Szenische Ordnung<br />
(Reclam 8003: Seite, Zeile)<br />
01 Piachi läßt Elvire zurück, reist mit Sohn Paolo geschäftlich von Rom nach<br />
Ragusa. 49:9<br />
02 In <strong>de</strong>r Vorstadt Ragusas erfährt Piachi von <strong>de</strong>r Pest und will zurückfahren.<br />
49:18<br />
03 Wen<strong>de</strong>punkt: Piachi trifft auf <strong>de</strong>n an Pest erkrankten Nicolo und nimmt ihn in<br />
seinem Wagen mitleidig mit. 50:2<br />
04 Die Polizei verhaftet alle und bringt sie nach Ragusa. Paolo stirbt. Nicolo<br />
überlebt. 50:16<br />
05 Piachi nimmt ihn an Sohnes statt mit nach Rom. 50:34<br />
06 Nicolos Starrheit und Unzugänglichkeit. 51:13<br />
07 In Rom wird Nicolo (fremd und steif) von Elvire an Sohnes statt<br />
angenommen. Nicolo zeigt sich als gelehriger Geschäftsnachfolger und wird von<br />
Piachi und Elviren anerkannt. 51:35<br />
08 Nicolo hat schlechten Umgang mit Karmelitermönchen und mit <strong>de</strong>r<br />
Beischläferin Xaviera. Er zeigt einen Hang zur Bigotterie und zum weiblichen<br />
Geschlecht. 52:13<br />
09 Nicolo heiratet Elvirens Nichte Constanze und bekommt von Piachi das<br />
gesamte Erbe überschrieben. Es scheint alles einen guten Gang zu gehen. Elvire<br />
und Piachi ziehen sich in <strong>de</strong>n Ruhestand zurück. 52:30<br />
10 Elvirens Gemütsgenealogie wird erzählt: ihre Rettung aus Lebensgefahr durch<br />
einen jungen Genueser, wie sie ihm in Liebe verfällt und daß <strong>de</strong>r Geliebte stirbt.<br />
Seit<strong>de</strong>m liegt ein stiller Zug von Traurigkeit in ihrem Gemüt. 54:3<br />
11 Piachi heiratet Elviren, obwohl sich Elvirens Trauer zu einem überreizten<br />
Nervensystem ausprägt. 54:26<br />
12 Nicolo geht seinen Lei<strong>de</strong>nschaften und seinem Hang zu „Weibern“ weiter<br />
nach. Nach einer Karnevalveranstaltung kommt er im Kostüm eines<br />
genuesischen Ritters zurück. Elvire sieht ihn zufällig, fällt, von <strong>de</strong>r Erinnerung an<br />
Colino überreizt, in Ohnmacht. Die Angelegenheit bleibt ein Geheimnis. 55:35<br />
13 Constanze stirbt und Nicolo nimmt die Beziehung zur Beischläferin Xaviera<br />
wie<strong>de</strong>r auf. Elvire überrascht Nicolo und die Zofe Xavieras. 56:20<br />
14 Auch Piachi trifft zufällig auf die Zofe. Er nimmt ihr einen Brief Nicolos an<br />
Xaviera ab und täuscht eine Antwort von ihr an Nicolo vor. Nicolo fällt darauf<br />
herein und muß im Gewölbe <strong>de</strong>r Magdalenenkirche statt <strong>de</strong>r Begegnung mit<br />
Xaviera die Bestattung Constanzens erleben. 57:16<br />
15 Der „beschämte“ Nicolo ist voller Haß auf Elviren, gleichzeitig ist er betört<br />
durch ihre locken<strong>de</strong> Erscheinung. Seine Begier<strong>de</strong> wächst; er sieht in ihr eine<br />
Gleichgesinnte. Vor Piachi gibt er <strong>de</strong>n Reumütigen. 58:8<br />
16 Die Vermutung Nicolos scheint sich zu bestätigen, als er im Zimmer Elvirens<br />
ein geheimnisvolles Liebesgeschehen zu bemerken glaubt und <strong>de</strong>n geflüsterten<br />
Namen Colino hört. Als Elvire allein aus <strong>de</strong>m Zimmer tritt, glaubt er an<br />
Verstellung. 58:34<br />
17 Nicolo dringt in das Zimmer Elvirens ein, fin<strong>de</strong>t aber nur das „Bild eines<br />
jungen Ritters“. Nicolo ist verwirrt und verläßt unbemerkt <strong>de</strong>n Raum. 59:14<br />
18 Nicolo rätselt, wen das Bild verkörpere, zumal Elviren offenbar vor <strong>de</strong>m Bild<br />
in Liebespose verharrt hatte. 59:22
19 Nicolo berät sich mit Xavieren, die in Elviren ein Hin<strong>de</strong>rnis für ihre Beziehung<br />
zu Nicolo sieht. Xaviera ist sich sicher, <strong>de</strong>n porträtierten Mann zu i<strong>de</strong>ntifizieren.<br />
59:34<br />
20 Bei<strong>de</strong> nutzen eine Abwesenheit, in das Zimmer Elvirens einzudringen. Die<br />
Tochter Xavierens, die mit ihnen gegangen ist, glaubt in <strong>de</strong>m Porträt Nicolo zu<br />
erkennen. Nicolo ist verlegen; er beginnt zu glauben, er wer<strong>de</strong> von Elviren<br />
erotisch verehrt. Xaviera ist eifersüchtig. 60:22<br />
21 Nicolo erinnert sich <strong>de</strong>s vergangenen zufälligen Zusammentreffens mit<br />
Elviren. Ihm schmeichelt die vermutete Verliebtheit Elvirens. Damit verbin<strong>de</strong>t<br />
sich die Begier<strong>de</strong>, sich an Elvire zu entlarven und sich zugleich zu rächen. 60:33<br />
22 Nicolo ist verunsichert, weil Elvire das Porträt „Colino“ genannt hatte; aber er<br />
re<strong>de</strong>t sich Gewißheit ein. 61:9<br />
23 Elvire kommt mit einer Gastfreundin von einer kurzen Reise zurück. Sie<br />
beachtet Nicolo nicht im von ihm erwarteten Sinne und verbringt mehrere<br />
Wochen nur mit <strong>de</strong>r Freundin. Nicolo ist verärgert, zumal sich Elvire auch nach<br />
<strong>de</strong>r Abreise ihrer Freundin ihm nicht zuwen<strong>de</strong>t. 61:32<br />
24 Piachi sucht vergeblich eine Schachtel mit Lernbuchstaben. Man fin<strong>de</strong>t nur<br />
wenige Buchstaben, die zu Nicolos Verblüffung das Wort „Colino“ zulassen. Nicolo<br />
bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Namen und legt ihn sichtbar für Elvire aus. 62:24<br />
25 Die Wirkung auf Elvire tritt ein; sie wirkt „beklommen“, errötet, und Nicolo ist<br />
sich nun sicher, daß „Colino“anagrammatisch zu Nicolo gedacht ist. Elvire begibt<br />
sich verstört in ihr Zimmer. 63:6<br />
26 Piachi sucht Elvire, fin<strong>de</strong>t sie kränklich in ihrem Zimmer. Nicolo schließt<br />
daraus, das Rätsel um ihre „traurige Stimmung“ gelöst zu haben. 63:16<br />
27 Nicolos Gewißheit wird enttäuscht, als Xaviera ihm eröffnet, eine Beichte<br />
Elvirens habe ergeben, daß das Porträt in ihrem Zimmer einen „seit zwölf Jahren<br />
im Grabe schlummern<strong>de</strong>n Toten“ zeige. 63:35<br />
28 Über die Herkunft <strong>de</strong>s Porträts wird Nicolo ausführlich aufgeklärt. Er wird<br />
dringend ersucht, das offenbarte Beichtgeheimnis nicht auszuplau<strong>de</strong>rn. 64:11<br />
29 Nicolo verläßt in verwirrtem Zustand Xaviera. Er beschließt, Elviren mit einem<br />
Betrug zu verführen, wobei er auf <strong>de</strong>n überreizten Nervenzustand Elvirens setzt.<br />
64:23<br />
30 Nicolo begibt sich in Elvirens Zimmer und stellt verklei<strong>de</strong>t die genueser Figur<br />
Colino nach. Er erwartet so „Elvirens Vergötterung“. 64:36<br />
31 Elvire kommt, erkennt die Täuschung nicht, entklei<strong>de</strong>t sich, ruft ekstatisch<br />
„Colino“ an und sinkt verliebt in Ohnmacht. 65:6<br />
32 Zielbewußt macht sich Nicolo über sie her. Er ist sich sicher, daß Elvire auch<br />
bei Erwachen aus ihrer Ohnmacht „keinen Wi<strong>de</strong>rstand leisten“ wer<strong>de</strong>. 65:20<br />
33 Piachi taucht auf wie die Göttin <strong>de</strong>r vergelten<strong>de</strong>n Gerechtigkeit (Nemesis).<br />
65:27<br />
34 Piachi reagiert auf Nicolos Beschwichtigungen ruhig. Piachi nimmt eine<br />
„Peitsche von <strong>de</strong>r Wand“ und verweist Nicolo <strong>de</strong>s Raumes. Auch Elvire scheint<br />
sich rasch zu erholen. 66:2<br />
35 Überraschend dreht Nicolo pötzlich <strong>de</strong>n Spieß um und verweist Piachi mit<br />
Hinweis auf seine Besitzansprüche <strong>de</strong>s Zimmers. Piachi eilt völlig außer Sinnen<br />
zu seinem Rechtsfreund Valerio, in <strong>de</strong>ssen Zimmer er bewußtlos<br />
zusammenbricht. 66:39<br />
36 Nicolo flieht zu <strong>de</strong>n Karmelitermönchen und bittet um Schutz vor <strong>de</strong>m<br />
„Narren“ Piachi. Tatsächlich erläßt auf Einfluß <strong>de</strong>s Bischofs die Regierung ein<br />
Dekret gegen Piachi. Der verliert damit allen Besitz. 66:31<br />
37 Elvire stirbt entkräftet. Piachi stürmt in sein Haus und drückte Nicolo „das<br />
Gehirn an die Wand“, stopft Nicolo das Dekret in <strong>de</strong>n Mund. Für diese Rache wird<br />
Piachi zum To<strong>de</strong> verurteilt. 67:8<br />
11
12<br />
38 Kirchenrechtlich – zur Rettung <strong>de</strong>r Seele vor <strong>de</strong>r Hölle – muß je<strong>de</strong>r Zum-To<strong>de</strong><br />
-Verurteilte die Absolution bekommen. Piachi lehnt sie ab. Er will seine Rache in<br />
<strong>de</strong>r Hölle fortführen. Piachi stirbt ohne Absolution. 68:13<br />
II 02 Teleologie <strong>de</strong>s Geschehens<br />
<strong>Kleist</strong> erfin<strong>de</strong>t einen Erzähler: Der Erzähler <strong>de</strong>r „Findling“-Novelle ist ein<br />
auktorialer Erzähler, <strong>de</strong>r die Fakten <strong>de</strong>s Geschehens mit spontaner<br />
Wertung begleitet und bei seiner Kurzerzählung in eine Seelenhaltung /<br />
Erzählhaltung gerät, die <strong>de</strong>r ähneln mag, die ein Soldat beim Kurz-<br />
Rapport seiner Frontmeldung hat. („kurz antwortete“ 51:5; „unter einen<br />
kurzen Erzählung <strong>de</strong>s Vorfalls“ 51:14f): Um Affekt-Neutralität bemüht,<br />
mel<strong>de</strong>t er ausschließlich Fakten, nimmt sich nur die eine o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re<br />
Kommentierung heraus (z.B. „seiner jungen trefflichen Gemahlin“<br />
51:15). Das Erzähltempus (Präteritum) gibt <strong>de</strong>m Bericht <strong>de</strong>n<br />
Erzählcharakter, <strong>de</strong>r die Art <strong>de</strong>s Zuhörens aus <strong>de</strong>r berichttypischen<br />
Spontan-Aufmerksamkeit in eine erzähltypische Dauer-Aufmerksamkeit<br />
verwan<strong>de</strong>lt.<br />
Das Teleologische <strong>de</strong>s Geschehens: Der Tod <strong>de</strong>s Sohnes PAOLO<br />
stigmatisiert alles Folgen<strong>de</strong>. Dieser „Tod“ ist <strong>de</strong>r Wen<strong>de</strong>punkt <strong>de</strong>s<br />
Novellengeschehens und steht bereits am Anfang <strong>de</strong>r Erzählung.<br />
Es mag sich manchmal bei <strong>de</strong>n erzählten Figuren und beim Leser<br />
Beruhigung über das Schicksalhafte einstellen: Zufrie<strong>de</strong>nheit mit ihm<br />
(Nicolo) (52:19), und damit die Hoffnung, alles wer<strong>de</strong> sich zum Guten<br />
fügen: Da ist die Gelehrigkeit NICOLOs im Geschäftsleben (51:30-35), die<br />
Verheiratung mit CONSTANZA (52:18f). Aber das sind täuschen<strong>de</strong><br />
Lichtblicke. In Wahrheit herrscht Ungeheuerlichkeit, NICOLO ist <strong>de</strong>r<br />
Albtraum je<strong>de</strong>r Familiengeschichte<br />
Die Ungeheuerlichkeit <strong>de</strong>s berichteten Geschehensablaufs steht<br />
inhaltlich nämlich im Gegensatz zu je<strong>de</strong>r normalen Bildungs-<br />
Entwicklungs–Geschichte von christlich- und bürgerlich-i<strong>de</strong>alistischer<br />
Erwartung. Sie folgt aber <strong>de</strong>r Goethe-Formel, daß ein schlechter Anfang<br />
schließlich auch ein böses En<strong>de</strong> fin<strong>de</strong>, mag es zwischenzeitlich auch so<br />
aussehen, als wen<strong>de</strong> sich alles zum Guten. (Falsches Zuknöpfen <strong>de</strong>s<br />
Hem<strong>de</strong>s).
13<br />
<strong>Kleist</strong>s Novelle „Der Findling“ ist eine „kurz erzählte“ Novelle, die<br />
abschließend die Worte haben könnte: „So war`s! So ist`s! Wer wollte in<br />
dieser Welt leben?“<br />
II.03 Keine moralische Geschichte<br />
PIACHIs Wut steigert sich wegen <strong>de</strong>s Versagens <strong>de</strong>r Selbstbeobachtung<br />
und Selbsteinschätzung: PIACHI hatte sein Leben <strong>de</strong>r „Ehrlichkeit“, wie er<br />
sie als Kaufmann verstand, unterstellt, sieht sich aber „ent“-täuscht. War<br />
die erotische Entgleisung von NICOLO noch eine Angelegenheit, die<br />
PIACHI „still abzumachen“ (65:32f) gedachte, so sind die folgen<strong>de</strong>n<br />
wirtschaftlich rechtlichen Unverschämtheiten NICOLOS (die Besitznahme<br />
von Haus und Hof) eine to<strong>de</strong>swürdige Beschämung.<br />
PIACHI hatte sein Leben einer systematischen Kontrolle unterworfen.<br />
Er wußte nicht und konnte nicht ahnen, daß ihm mit <strong>de</strong>r Aufnahme<br />
NICOLOS in seine Kutsche alles schleichend, aber unaufhaltsam aus <strong>de</strong>r<br />
Hand genommen wird. Seine regulieren<strong>de</strong>n, ordnen<strong>de</strong>n Maßnahmen<br />
täuschen Kontrollfähigkeit vor, lenken vom Unvermeidlichen ab, bis die<br />
Katastrophe unvermeidbar wird. Hier lassen sich „Differenzen“ (Derrida)<br />
konstruieren, die höchste ästhetische Aufmerksamkeit und Erregung<br />
hervorbringen. Gera<strong>de</strong> LeserInnen, die in ähnlicher Kontingenz ihr Leben<br />
zubringen, können höchst beunruhigt aufmerken.<br />
PIACHI erkennt mit <strong>de</strong>r Verdichtung <strong>de</strong>r beschämen<strong>de</strong>n Ereignisse <strong>de</strong>n<br />
„wahren“ NICOLO. Die Täuschung wird als Selbsttäuschung sichtbar;<br />
anfänglich konnten ELVIRE und PIACHI alles von NICOLO Initiierte als<br />
„harmlos“ verdrängen; aber unerbittlich drängt alles zum Untergang und<br />
Abgrund. Die schlimmstmögliche Genealogie (Foucault) zu suchen<br />
ist <strong>Kleist</strong>s Produktionsprinzip.<br />
Das Geschehen wird aber keine moralische Geschichte, da es keine<br />
Moraldidaxe (Willems) gibt, die wahre Tugend beför<strong>de</strong>rn wür<strong>de</strong>. Alle<br />
Personen in DER FINDLING sind nicht schuldig, da sich eine ein<strong>de</strong>utige<br />
Moral nicht einstellt. Wenn zum Recht die Moral hinzukäme, wür<strong>de</strong> alles
14<br />
zum Tribunal: Hier stellt sich we<strong>de</strong>r Recht ein noch Moral, die maßgebend<br />
sein könnten. Es gibt kein Hin-Und-Hergerissen-Sein zwischen „guten“<br />
und „bösen“ Gelüsten und damit nicht die moralische Fatalität <strong>de</strong>r Existenz<br />
<strong>de</strong>s Menschen. Von allen Personen geht eine Wirkung aus, die je nach<br />
Wirkabsicht, vom Guten zum Bösen und umgekehrt gekippt wer<strong>de</strong>n<br />
kann. Das Kippmoment in <strong>de</strong>r Kunst ist ein beson<strong>de</strong>rs<br />
wirkungsträchtiges Mittel. So kann man zum Beispiel in NICOLO eine<br />
Figur mit eigenpersonaler Individuierung sehen (Blamberger).<br />
II 04 Postkatastrophische Anomie<br />
Die Wen<strong>de</strong> in PIACHIs Leben kommt nicht durch eine Katastrophe<br />
außergewöhnlicher Art, son<strong>de</strong>rn durch ein Ereignis, das zwar zur Trauer<br />
Anlaß gibt, aber doch familialer Normalität zugehört: durch <strong>de</strong>n Tod<br />
PAOLOs, seines Sohnes. Schon einmal hat PIACHI <strong>de</strong>n Tod in seiner<br />
Familie bewältigt. Er hat nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mutter PAOLOs ein zweites<br />
Mal geheiratet. Auch jetzt scheint sich PIACHI mit <strong>de</strong>r fraglosen Aufnahme<br />
<strong>de</strong>s Findlings NICOLO - an Sohnes statt - ungebrochen in sein<br />
Lebensschicksal zu fügen. Doch kaum merklich ist ein Verlust an sozialer<br />
Bin<strong>de</strong>kraft eingetreten. Der Verlust wird trotz aller<br />
Verdrängungsbemühungen nicht mehr aufzuhalten sein. Es ist das<br />
Unheimliche <strong>de</strong>s kaum bemerkten Mienenspiels: NICOLO entwickelt sich<br />
zwar als kaufmännischer Nachfolger erfolgversprechend, aber <strong>de</strong>r äußere<br />
Schein trügt. Eine bei NICOLO zu beobachten<strong>de</strong>, verstören<strong>de</strong> „Bigotterie“<br />
und <strong>de</strong>ssen „Hang zu <strong>de</strong>n Weibern“ (56:4f) wer<strong>de</strong>n zunächst durch<br />
familiäre Maßnahmen gebändigt, aber nicht getilgt. Hier ist PIACHI sogar<br />
noch „geneigt“, die Übergriffigkeit NICOLOs bei ELVIRE „still abzumachen“<br />
(65:33). Doch das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r innerfamiliären Verlaufs ist eine von PIACHI<br />
empfun<strong>de</strong>ne „postkatasthrophische Anomie“ (H.Böhme:39), die keine<br />
Besonnenheit und Mäßigung mehr zuläßt. Sie tritt endgültig ein, als<br />
NICOLO das ihm „auf gerichtliche Weise“ (52:35) zugesprochene Erbe<br />
moralisch aufs schamloseste, aber rechtlich nahezu unangreifbar gegen<br />
PIACHI einsetzt und diesen damit gesellschaftlich und in seinem
15<br />
Selbstverständnis bis zum „Garaus“ schädigt. Das „Leben“ schlägt<br />
ungebremst durch zivilisieren<strong>de</strong> Maßnahmen unbarmherzig zu.<br />
H. Böhme (41) stellt überzeugend fest:<br />
„[...], daß <strong>de</strong>r gleichzeitige Kollaps leiblicher und zivilisatorischer<br />
Abgrenzungssysteme <strong>de</strong>n Menschen sozusagen zum „reinen“ Lebewesen<br />
machen – ohne das Bewußtsein, das ihn als soziale I<strong>de</strong>ntität auszeichnet.“<br />
NICOLO, PIACHI und ELVIRE leben ohne moralische Rechenschaft<br />
gegenüber an<strong>de</strong>ren und sich selbst die Zweifelsfreiheit ihres Verhaltens<br />
und Tuns. Es ist so, als gebe ihre „Natur“ ihnen dazu das Recht: ein<br />
narzißtischer Zug. Der heutige Mensch muß sich mit dieser sozialen<br />
Erfahrung um seiner psychischen Stabilität willen auseinan<strong>de</strong>rsetzen. Der<br />
hier <strong>de</strong>utlich sichtbare Mangel an sozialer Harmonie im familiären<br />
Generationenvertrag wird beim bürgerlich sozialisierten Leser Befremdung<br />
auslösen. Die Differenz zwischen moralischer Erwartung und erzählter<br />
Wirklichkeit führt zu einem ästhetischen Wirbel, <strong>de</strong>r wegen <strong>de</strong>r Aufgabe<br />
jeglicher sozialen Scham sowohl bei NICOLO als auch bei PIACHI und<br />
<strong>de</strong>m Velust <strong>de</strong>r Selbstscham ELVIRENs (Schuller) für <strong>de</strong>n Leser im Ekel<br />
mün<strong>de</strong>t (Scheler:83,122).<br />
Es ist naheliegend, die Schamlosigkeit erben<strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r gegenüber ihren<br />
Eltern aus persönlicher Erinnerung in die Erfahrung zu rufen. Gesteigert<br />
wird diese Empfindung durch die Belehrung, daß NICOLO rechtlich kaum<br />
etwas vorzuwerfen ist und daß in <strong>de</strong>r heutigen Zeit vertragliches Recht vor<br />
moralischem Brauchwert gilt.<br />
II 05<br />
Patchwork-Kontingenz<br />
Schaut man auf das Personenverzeichnis <strong>de</strong>r Novelle, so scheinen mit <strong>de</strong>r<br />
Kontingenz <strong>de</strong>s Familialen und <strong>de</strong>r sozialen Beziehungen überhaupt die<br />
Bindungen unheilvoll geschwächt. Die Mißverständnisse und<br />
Unvereinbarkeiten gehen so weit, daß alle Beteiligeten umkommen:<br />
PIACHIs erste Frau erlei<strong>de</strong>t einen unbekannten Tod,<br />
COLINO, <strong>de</strong>r Geliebte ELVIREns, <strong>de</strong>n Hel<strong>de</strong>ntod,<br />
PAOLO, <strong>de</strong>r Sohn aus erster Ehe, <strong>de</strong>n Pesttod,
16<br />
CONSTANZA, die verkuppelte Ehefrau NICOLOs, <strong>de</strong>n Kindbetttod,<br />
ELVIRE, <strong>de</strong>r öffentlichen „Untreue“ überführt, <strong>de</strong>n Liebeskummertod,<br />
NICOLO, <strong>de</strong>r familienschän<strong>de</strong>rische Stiefsohn, <strong>de</strong>n Rachetod,<br />
PIACHI, <strong>de</strong>r „Ent“-täuschte, schließlich <strong>de</strong>n Rächertod.<br />
Alles zusammen ist eine soziale Exkommunizierung <strong>de</strong>s Familialen. Die<br />
Ausrottung <strong>de</strong>r sozialen Einheit – so kann man um <strong>de</strong>r aktualen Wirkung<br />
willen empfin<strong>de</strong>n - ist ein Explosivmotiv, entstammend familialer<br />
Patchwork-Kontingenz. Es darf hier nicht vergessen wer<strong>de</strong>n, daß zur<br />
Patchwork-Familie im erweiterten Sinne auch XAVIERA und <strong>de</strong>r BISCHOF<br />
gehören. NICOLO hat mit XAVIERA die Tochter KLARA, von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Bischof<br />
allerdings annimmt, es sei die seine (60:15-17).<br />
Sigrid Weigel weist ausdrücklich auf <strong>Kleist</strong>s Erzählung DER FINDLING hin,<br />
wenn sie über die „explosive familiale Konstellation“ um a. 1800 schreibt:<br />
... wird die Familie „zum Schauplatz von genealogischen Unsicherheiten und von Konflikten zwischen <strong>de</strong>n<br />
Generationen und familialen Positionen. So je<strong>de</strong>nfalls läßt sich die Tatsache <strong>de</strong>uten, daß sich die dramatis<br />
personae in <strong>de</strong>r Literatur um 1800 <strong>de</strong>utlich auf das familiale Feld konzentrieren und <strong>de</strong>r Explosions- und<br />
Emotionsgehalt <strong>de</strong>r dort ausgetragenen Konflikte erheblich zunimmt. (Weigel:135f).<br />
Wen das Thema „Patchwork-Familie“ berührt, <strong>de</strong>n wird eine<br />
beängstigen<strong>de</strong> „Wirkung“ einholen, selbst wenn das erzählte „Unheil“ als<br />
„bestreitbar“ eingeschätzt wer<strong>de</strong>n muß. Hier muß allerdings in Erinnerung<br />
gerufen wer<strong>de</strong>n, daß die Ästhetik keine existentielle Aufregung kennt<br />
(Friedrich Schiller); <strong>de</strong>r Rezipient also aus <strong>de</strong>m Abstand <strong>de</strong>s Als-Ob<br />
empfin<strong>de</strong>t und er eher Einsicht gewinnt, als daß er sich gezwungen sähe,<br />
Verhaltenskonsequenzen einzuleiten. Ästhetik ist eher ein<br />
erkenntnistheoretisches Phänomen als ein ethisches.<br />
II 06 Erratischer Findling<br />
Der Titel DER FINDLING <strong>de</strong>utet bereits auf das mangeln<strong>de</strong> und nur<br />
spekulative Wissen um <strong>de</strong>n Ursprung NICOLOs.<br />
Auch <strong>Kleist</strong> kann als Findling in dieser Welt ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n.<br />
FINDLING = ausgesetztes, gefun<strong>de</strong>nes Lebewesen, mit unbekannten<br />
Eltern.<br />
FINDLING = erratische Blöcke (seit 19. Jh. Grimmsches Wörterbuch)
17<br />
Sujet: Aufnahme eines Fin<strong>de</strong>lkinds.<br />
Die gesamte Problematik von Pflegekin<strong>de</strong>rn wird zum Kontext.<br />
Es geht genauer um die Aufnahme von Pflegekin<strong>de</strong>rn, die Tod und<br />
Ver<strong>de</strong>rben bringen.<br />
Der i<strong>de</strong>ale Leser: Pflegeeltern mit entsprechen<strong>de</strong>r Erfahrung.<br />
Von FINDLING wird nur im Titel gesprochen, sonst nicht im Text.<br />
Es ist ein erratischer Findling, <strong>de</strong>r anfangs am Wege liegt und<br />
mitgenommen wird, <strong>de</strong>r dann immer mehr im Wege liegt und zuhause<br />
nicht zur Familienlandschaft gehört.<br />
Es kann also nur von <strong>de</strong>m FINDLING als Hin<strong>de</strong>rnis-Motiv weitergedacht<br />
wer<strong>de</strong>n. Was ein Schmuckstück (Dekor), ein ersetzen<strong>de</strong>s Tauschsubjekt<br />
<strong>de</strong>r Familien-Landschaft sein könnte, entpuppt sich mehr und mehr als<br />
stören<strong>de</strong>s Hin<strong>de</strong>rnis. Dieses Hin<strong>de</strong>rnis wird immer übermächtiger bis es<br />
die gesamte Familienlandschaft zerstört hat. Die Darstellung <strong>de</strong>s<br />
Übermächtig-Wer<strong>de</strong>ns von Etwas, <strong>de</strong>ssen Ursprung fremd ist, streng nach<br />
teleologischem Prinzip, ist das Erzählziel. Es geht um die Verdrängung<br />
<strong>de</strong>s angestammten Familiären:<br />
Verdrängung PAOLOs<br />
Verdrängung <strong>de</strong>s Ehemannes ELVIREs<br />
Verdängung PIACHIs aus <strong>de</strong>m Hauseigentum<br />
Die unheimliche und dämonisieren<strong>de</strong> Ausweitung <strong>de</strong>s Zersetzen<strong>de</strong>n, aus<br />
<strong>de</strong>r Harmlosigkeit <strong>de</strong>r Geringheit geboren, ins Böse metaphysischen<br />
Ausmaßes sich ausweiten: NICOLO.<br />
NICOLO ein Krebsgeschwür im Familienorganismus.<br />
II 07 Ästhetik <strong>de</strong>s Schweigens<br />
Die Ästhetik <strong>de</strong>s Schweigens dient <strong>de</strong>r Hervorhebung <strong>de</strong>s Re<strong>de</strong>ns.<br />
Der Alte tat mehrere Fragen an ihn, worauf jener aber nur kurz antwortete: ungesprächig und in sich gekehrt<br />
saß er, die Hän<strong>de</strong> in die Hosen gesteckt, im Winkel da, und sah sich, mit gedankenvoll scheuen Blicken, die<br />
Gegenstän<strong>de</strong> an, die an <strong>de</strong>m Wagen vorüberflogen. 51:4
18<br />
Humanphonetische Laute, Phoneme, tauchen auf aus <strong>de</strong>m Schweigen und<br />
verlangen ungestörte Klarheit für das ausgewogene Verhältnis zwischen<br />
Assimilation und Dissimilation, bereit zur Konstituierung<br />
be<strong>de</strong>utungstragen<strong>de</strong>r Kontinua. Phonetisch-I<strong>de</strong>ntifizierbares<br />
herauszuhören aus einem „Meer von Geräuschen“ ist ein das Menschliche<br />
versprechen<strong>de</strong>r Akt. Entsprechend enttäuschend ist die Rückfahrt PIACHIs<br />
aus Ragusa.<br />
NICOLO knackt Nüsse statt auf PIACHIs Fragen zu antworten.<br />
Geräusche sind <strong>de</strong>r Feind <strong>de</strong>s Schweigens, <strong>de</strong>s Re<strong>de</strong>ns und Hörens. Sie<br />
beför<strong>de</strong>rn das Rauschen in <strong>de</strong>r Kommunikation. Sie symbolisieren<br />
Verletzlichkeit bis Versagen kommunikativer Anstrengungen. Ist doch von<br />
<strong>de</strong>r Hoffnung auf Kommunikation ist je<strong>de</strong> soziale Bindungsbemühung<br />
getragen; PIACHI will neu beginnen; in <strong>de</strong>r neuen Familialität ist dieser<br />
Versuch von Anfang an unfruchtbar:<br />
„Der Alte tat mehrere Fragen an ihn [Nicolo, Ks], worauf jener aber nur kurz antwortete: ungesprächig und in<br />
sich gekehrt saß er, die Hän<strong>de</strong> in die Hosen gesteckt, im Winkel da [...] und während Piachi sich die Tränen<br />
vom Auge wischte, nahm er sie [ die Nüsse, Ks] zwischen die Zähne und knackte sie auf.“ (51:4-13)<br />
NICOLO kann nur mit XAVIERA <strong>de</strong>n dunklen Austausch einer<br />
Gemeinsamkeit teilen (63:17-35). „KLARA“ (60:16) heißt ihre<br />
gemeinsamen Sprache.<br />
Privatsphären: Das Rauschen im mentalen Miteinan<strong>de</strong>r ist ausgeprägt,<br />
was sich im Aufbauen streng abgegrenzter Privatsphären zeigt: Da ist<br />
(1) ELVIREns Liebschaft zum porträtierten COLINO, einem „porträthaften“<br />
NICOLO (Schuller:20); (2) das Ausleben öffentlichkeitsscheuer<br />
Bedürfnisse: NICOLOs Liebschaften. Aber auch die Nicht-Anwesenheiten<br />
PIACHIs in <strong>de</strong>r Familie , die verhängnisvolles Geschehen anzulocken<br />
scheinen bis zur verhängnisvoll verfrühten Erbvergabe an NICOLO<br />
(52:29).<br />
Das Schweigen und Verschweigen sind an vielen Beispielen zu zeigen:<br />
Von ELVIRE heißt es, daß „niemals, so lange sie lebte, [...] ein Wort, jene<br />
Begebenheit betreffend, über ihre Lippen gekommen war.“. ELVIREns<br />
Ohnmacht nach <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>r „Maske eines genuesischen<br />
Ritters“ (54:31) blieb „in ein ewiges Geheimnis“ (55:30) gehüllt. Sogar
19<br />
über NICOLOs Übergriff soll offenbar <strong>de</strong>r „Mantel <strong>de</strong>s Schweigens“<br />
gezogen wer<strong>de</strong>n: „[...] <strong>de</strong>r Alte [war, Ks] geneigt, die Sache still<br />
abzumachen [...]“ (65:42f).<br />
II 08 Schlüssel<br />
Das „Schlüssel“-Motiv (Schuller:27-31) symbolisiert, wie alles ein<br />
„Geheimnis“ ist, wie es unter Verschluß steht und stehen will und nur aus<br />
<strong>de</strong>r Schlüsselloch-Perspektive mehr<strong>de</strong>utig und „zer<strong>de</strong>utend“ erschlossen<br />
wird.<br />
Hieraus wird auch ersichtlich, wie unzureichend die Vorstellung von einer<br />
„verstehen<strong>de</strong>n Interpretation“ ist. Mißverstan<strong>de</strong>n wird grundsätzlich alles.<br />
Wenn auch grammatologisches Nachvollziehen und kommunikativ<br />
ausgleichen<strong>de</strong>s Bemühen eine Art Verständigung herbeiführen wollen, das<br />
Mißverständnis bleibt, versucht sich durchzusetzen und „frohlockt“.<br />
Das „Rauschen“ in <strong>de</strong>n Beziehungen ist das Treibmittel für aufs Mißlingen<br />
ausgerichtete Geschehensdynamik:<br />
Es gibt Geheimnisse, einige wenige mit dazugehörigem Schlüssel.<br />
Manche Geheimnisse sind Probleme: <strong>de</strong>r Findling bleibt unerschlüsselt.<br />
Es liegt nicht im Geheimnisse aufge<strong>de</strong>ckt zu wer<strong>de</strong>n: etwa mittels<br />
Schlüssel.<br />
Man hat <strong>de</strong>n Schlüssel o<strong>de</strong>r man hat ihn nicht. Der Schlüssel ist damit ein<br />
Symbol <strong>de</strong>s Binarismus unseres Weltzugangs.<br />
PIACHI und ELVIRE haben die Schlüssel. Sie können überall einundausgehen.<br />
Sie sind <strong>de</strong>shalb mächtig, alles zu wissen und zu erfahren.<br />
Das führt zu <strong>de</strong>m Umstand, daß sie überall und je<strong>de</strong>rzeit hinzukommen<br />
können:<br />
(ELVIRE) in sein Zimmer tretend, ein Mädchen bei ihm fand (56).<br />
Der Schlüssel als Zeichen hausfraulicher Gewalt, <strong>de</strong>r je<strong>de</strong> Abweichung <strong>de</strong>s<br />
Familären o<strong>de</strong>r im „Haushalt“ un verborgen sein wird.<br />
PIACHI hat <strong>de</strong>n Schlüssel zu ELVIREns Zimmer... .
20<br />
NICOLO hat die Schlüssel nicht, muß sie sich stets besorgen. Er weiß nicht<br />
alles, täuscht sich bei seinen Annahmen gründlich.<br />
NICOLO lebt ständig mit Fehlvorstellungen. Diese Fehlvorstellungen sind<br />
die sich einstellen<strong>de</strong>n Gewohnheiten aufgrund seiner lie<strong>de</strong>rlichen<br />
Lebensneigungen. Nichts erschließt sich ihm.<br />
Da NICOLO kaum Zugang hat zur Offenheit, ist er stets voller Neugier<br />
und Mißtrauen<br />
Der Schlüssel als phallisches Privileg?<br />
Elvire: einen Bund Schlüssel an <strong>de</strong>r Hüfte<br />
ELVIREs Verschlossenheit; sie hält vieles geheim.<br />
Wer etwas verschließt, hat etwas zu verbergen.<br />
III STIL<br />
III 01 Künstlerische Sprachbehandlung<br />
Ein Ausgleich <strong>de</strong>s historischen Abstands zwischen Text, <strong>de</strong>r Textsprache<br />
und gegenwärtigem Leser ist kaum nötig, wohl aber ein sozialgesell–<br />
schaftlicher Hinweis zum Stil.<br />
<strong>Kleist</strong> kennt kein Hin-Und-Her-Gerissensein, vielmehr ein geistige<br />
Marschbewegung. Die Sprache muß stramm stehen und sich die Worte<br />
sparen. Die raum-zeitlichen Konturen sind klar. Wie ein Soldat macht er<br />
Meldung <strong>de</strong>ssen, was <strong>de</strong>r „Soldatenrealität“ wichtig ist:<br />
Antonio Piachi, ein wohlhabewn<strong>de</strong>r Güterhändler in Rom, war genötigt, in seinen Han<strong>de</strong>lsgeschäften zuweilen<br />
große Reisen zu machen [...] (49:1-3)<br />
[...] In Rom stellte ihn Piachi, unter einer kurzen Erzählung <strong>de</strong>s Vorfalls, Elviren, seiner jungen trefflichen<br />
Gemahlin vor [...] (51:14)<br />
Von „Soldatenstil“, kurz und bündig berichtend, kann man sprechen,<br />
wenn „in <strong>de</strong>r Geste <strong>de</strong>r Aufklärung“ über <strong>de</strong>n Untergang <strong>de</strong>r Familie (Kraß<br />
2010) berichtet wird. Der teleologischen Dynamik <strong>de</strong>s Novellistischen<br />
kommt das entgegen.<br />
Die Differenz <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>schen Sprache zum Sachtextstil besteht darin, daß<br />
im fiktionalen Text Assertion (klare Versicherung) und Mehr<strong>de</strong>utigkeit<br />
zusammenfin<strong>de</strong>n müssen.<br />
„Illokutiv han<strong>de</strong>lt es sich [beim Sach-Bericht, Ks] um eine Verkettung von Assertionen. Der Zweck <strong>de</strong>s<br />
BERICHTENS besteht darin, ein Geschehen nach <strong>de</strong>r Vorgabe [...] externer Relevanzmaßstäbe so
21<br />
zusammenzufassen, daß [...] für je<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>rgegebenen Sachverhalt ein Wahrheitsanspruch erhoben wer<strong>de</strong>n<br />
kann.“ (Zifonun 1:127)<br />
<strong>Kleist</strong> transformiert <strong>de</strong>n Bericht-Stil für seine Novelle mit sozialer<br />
Thematik und künstlerischer Viel<strong>de</strong>utigkeit angemessen.<br />
Es bleibt aber die soldatische Sprachgeste. Hierzu einige Hinweise:<br />
<strong>Kleist</strong> reizt für die Wirkungserzeugung <strong>de</strong>n Eindruck aus, <strong>de</strong>n<br />
soldatischer Bericht als „wahrheitliche“ Wie<strong>de</strong>rgabe auszulösen pflegt.<br />
Die Knappheit <strong>de</strong>r Soldatensprache hat in sich <strong>de</strong>n Grund, daß in<br />
militärischen Kreisen keine Argumentation und beim militärischen<br />
Einsatz kein „Erzählen“ brauchbar und damit üblich ist. Hier wer<strong>de</strong>n<br />
Weisungs-Hierarchien gewahrt, nicht zuletzt auch aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />
Zeitersparnis und Ein<strong>de</strong>utigkeit. Der heiße militärische Einsatz führt zur<br />
Sprachlosigkeit. Ereignisbedingt treffen das Kollabieren <strong>de</strong>r<br />
Sprachfähigkeit und das „Ungenügen <strong>de</strong>r Sprache“ zusammen.<br />
<strong>Kleist</strong> kennt diesen Zustand auch bei <strong>de</strong>r sprachlichen Bewältigung<br />
eigener Innenseitigkeit :<br />
„Die Sprache taugt nicht dazu, sie kann die Seele nicht malen [Hervorhebung Ks], und was sie uns gibt, sind<br />
nur zerrissene Bruchstücke [...] Daher habe ich je<strong>de</strong>smal eine Empfindung wie ein Grauen. Wenn ich jeman<strong>de</strong>m<br />
mein Innerstes auf<strong>de</strong>cken soll; nicht eben weil es sich vor <strong>de</strong>r Blöße scheut, aber weil ich ihm nicht alles zeigen<br />
kann und daher fürchten muß, aus Bruchstücken falsch verstan<strong>de</strong>n zu sein.“ (nach Wulf:91).<br />
Das Bruchstückhafte <strong>de</strong>r Sprache wird sprachwissenschaftlich an<strong>de</strong>rs<br />
beurteilt. Hier geht es bei „Äußerungen“ um die Präzisierung <strong>de</strong>s Inhalt-<br />
Umfang-Verhältnisses. Sprache „malt“ nicht, wie <strong>Kleist</strong> beklagt (Vielleicht<br />
mit Blick auf Lessing). Die Vagheit <strong>de</strong>r Sprache ist erfor<strong>de</strong>rlich im Sinne<br />
von Plastizität, wie wir sie beim Gehirn kennen, und alle semantischen<br />
Grundmorpheme können durch Attribuierungen, <strong>de</strong>m Gebrauchszweck<br />
angemessen, präzisiert wer<strong>de</strong>n. Infinitiv- und Partizipialsätze sind die von<br />
ihm bevorzugten Mittel <strong>de</strong>r Äußerungskon<strong>de</strong>nsierung.<br />
Zu seinem Kon<strong>de</strong>nsierungsstil in <strong>de</strong>r „Kunst“, <strong>de</strong>r eher tilgt als wuchern<br />
läßt, sagt <strong>Kleist</strong> in seinem „Brief eines Dichters an einen an<strong>de</strong>ren“<br />
(II 515):<br />
„[...] und die Kunst kann, in bezug auf sie [die Sprache, Ks] auf nichts gehen, als sie möglichst verschwin<strong>de</strong>n<br />
zu machen. Ich bemühe mich aus meinen besten Kräften, <strong>de</strong>m Ausdruck Klarheit [...] zu geben: aber bloß,<br />
damit diese Dinge gar nicht, vielmehr einzig und allein <strong>de</strong>r Gedanke, <strong>de</strong>n sie einschließen, erscheine.“<br />
Höchste Kunst <strong>de</strong>s Sprachkünstlers ist somit, die Sprache für einen<br />
Darstellungsgegenstand so gelungen zu verwen<strong>de</strong>n, daß sie verschwin<strong>de</strong>t,
22<br />
ähnlich wie Gesundheit <strong>de</strong>n Körper verschwin<strong>de</strong>n läßt. Christoph Wulf<br />
schreibt mit <strong>de</strong>m Hinweis auf <strong>Kleist</strong>:<br />
„Die Qualität eines Dichters zeigt sich nicht darin, daß er die Sprache souverän handhabt, son<strong>de</strong>rn darin, daß er<br />
sie vergessen macht. Kunst hat die Aufgabe, die sprachlichen Fesseln <strong>de</strong>s menschlichen geistes zu überwin<strong>de</strong>n<br />
[...]“. (Wulf:1124)<br />
Die von <strong>Kleist</strong> gemeinte Trennung von Sprache und Geist betont die<br />
Mittelhaftigkeit <strong>de</strong>r Sprache.<br />
„Wenn ich beim Dichten in meinen Busen fassen, meinen Gedanken ergreifen und mit Hän<strong>de</strong>n, ohne weitere<br />
Zutat, in <strong>de</strong>n Deinigen legen könnte: so wäre, die Wahrheit zu gestehn, die ganze innere For<strong>de</strong>rung meiner<br />
Seele erfüllt.“<br />
<strong>Kleist</strong> wür<strong>de</strong> man heute entgegnen, die Sprache habe nicht die Funktion<br />
einer „Schale“ (II 515), in <strong>de</strong>r man Gedachtes transportieren könne.<br />
Vielmehr seien die Gedanken sprachlich erzeugte Be<strong>de</strong>utungs- und<br />
Sinn-Kontinua. Ihre Vorstellung komme allein durch die ihr zukommen<strong>de</strong>n<br />
konventionalisierten Gebrauchsbedingungen zur Anschauung. Die<br />
Gesamtheit dieser Gebrauchsbedingungen ergibt die Be<strong>de</strong>utung eines<br />
Be<strong>de</strong>utungsträgers; keinerlei gegenständliche Anschauung kommt solchen<br />
abstrakten Gedanken zur Hilfe. Zur geschichtlichen Sprachdynamik gehört<br />
das Ringen <strong>de</strong>r Be<strong>de</strong>utungsträger, ihre normhaften Gebrauchs–<br />
bedingungen auszuweiten und zu wan<strong>de</strong>ln. Die standardsprachliche<br />
Sanktionierung solcher Versuche hängt von <strong>de</strong>r Systemanlage <strong>de</strong>s<br />
Sprachinventars ab und <strong>de</strong>m sich mehr o<strong>de</strong>r weniger einstellen<strong>de</strong>n<br />
normhaften Gebrauch (Coseriu).<br />
Da die Dichter nur auf Wirkung gerichtet schreiben, können sie ihr<br />
Sprachmaterial oft in kreativ wan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>r Weise <strong>de</strong>n standsprachlichen<br />
Gebrauchsbedingungen entziehen und damit neue Sprachwelt aufbauen.<br />
Während <strong>Kleist</strong> also die Sprache um <strong>de</strong>r Reinheit <strong>de</strong>s Gedankens willen<br />
möglichst „verschwin<strong>de</strong>n“ lassen will bis zur Unmittelbarkeit <strong>de</strong>r<br />
Gedankenübertragung, betont die hier referierte wissenschaftliche<br />
Sprachauffassung die Notwendigkeit und Unveräußerlichkeit sprachlicher<br />
„Anwesenheit“. Gedanken ohne Sprache existieren nicht.<br />
<strong>Kleist</strong>s I<strong>de</strong>al ist eine Gedankenübertragung ohne Sprache. Seine<br />
Sprachkunst ist die Überwindung <strong>de</strong>r Sprache und damit <strong>de</strong>r<br />
sprachlichen Vermittlung gerichtet. Es geht ihm um Präzisierungs- und
23<br />
Verbesserungsarbeit an <strong>de</strong>r Sprache, wenn sie schon für die<br />
Kommunikation unverzichtbar ist. Mit seiner Dichtkunst <strong>de</strong>monstriert er<br />
uns die ästhetischen Qualitäten seiner Auffassung und auch die<br />
Leichtfertigkeit <strong>de</strong>s Umgangs. Diese Leichtfertigkeit besteht darin, daß<br />
<strong>Kleist</strong> die Systematik grammatischer Entscheidungen nicht durchhält.<br />
<strong>Kleist</strong> hat bei <strong>de</strong>n Soldaten das Sprechen gelernt. Hier ist <strong>de</strong>shalb auch die<br />
Basis seiner Spracharbeit, die auf Verbesserung <strong>de</strong>r kommunikativen<br />
Unmittelbarkeit gerichtet ist. Bei <strong>de</strong>r „Soldaten–Kommunikation“ ist die<br />
Gedankenübertragung im Beson<strong>de</strong>ren ein Problem <strong>de</strong>r störungsfreien<br />
Gedankenweitergabe. Die Soldaten-Sprache hat eine spezielle dienen<strong>de</strong><br />
Aufgabe, die in zeitlicher Kürze bewältigt sein will. An sie gewöhnt,<br />
bedient er sich ihrer bei <strong>de</strong>r Entwicklung seines dichterischen, aber auch<br />
essayistischen Stils. Auf kommunikative Kurzform weist <strong>Kleist</strong> im<br />
FINDLING selbst hin (51:5-14). Hierzu sind genauere Untersuchungen<br />
erfor<strong>de</strong>rlich, die dieser Essay nur an<strong>de</strong>uten will.<br />
Die <strong>Kleist</strong>sche Sprachverwendung wird also vom Kritiker unangemessen<br />
beurteilt, wenn man in ihr „Liebe zur Sprache“ und große Könnerschaft<br />
lobt. <strong>Kleist</strong> war ein Sprachartist wi<strong>de</strong>r Willen. Das „Ungenügen <strong>de</strong>r<br />
Sprache“ zu überwin<strong>de</strong>n hat ihn zu beobachtenswerten Sprachlösungen<br />
getrieben.<br />
„Denn das ist die Eigenschaft aller echten [Sprach-, Ks] Form, daß <strong>de</strong>r Geist augenblicklich und unmittelbar<br />
[Hervorhebung, Ks] daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn,wie ein schlechter Spiegel, gebun<strong>de</strong>n hält<br />
[...]“<br />
Wenn <strong>Kleist</strong> schreibt, er wolle „<strong>de</strong>m Klang <strong>de</strong>r Worte Anmut und Leben“<br />
geben, so geschieht das nicht im Vertrauen auf die sprachliche Potenz und<br />
Perfektionierung, son<strong>de</strong>rn im Unwillen darüber, daß <strong>de</strong>r gewöhnliche<br />
Sprachgebrauch mit viel gedankenübertragungs-bedingten Verlusten<br />
verbun<strong>de</strong>n ist, was heute gedankliches „Rauschen“ genannt wer<strong>de</strong>n<br />
könnte. Das mag für „Sprachliebhaber“ eine Verunglimpfung <strong>Kleist</strong>schen<br />
Stils sein, es ist aber eine pragmatischen Gebrauchseinschätzung sehr viel<br />
näher kommt.
24<br />
Das Paradoxe <strong>de</strong>r <strong>Kleist</strong>schen Sprachleistung ist somit, daß <strong>Kleist</strong> <strong>de</strong>m<br />
Ungenügen <strong>de</strong>r Sprache damit begegnet, daß er ihre „Form“ solange<br />
verbessert, bis er sie abgeschafft hat. Die Wahl <strong>de</strong>r „Soldaten-Sprache“,<br />
wie ich es hier nennen will, ist dafür ein Schritt.<br />
<strong>Kleist</strong>s Kampf gegen das „Ungenügen <strong>de</strong>r Sprache“ (Freud wür<strong>de</strong><br />
formulieren: Das Unbehagen in <strong>de</strong>r Sprache.) for<strong>de</strong>rt heraus, genauer<br />
hinzuschauen, was dabei herauskommt, wenn er seinen Stil <strong>de</strong>r<br />
Sprachüberwindungs-Artistik einsetzt.<br />
(1) Die Sprachverwendung kann bei <strong>Kleist</strong> bis zur grammatischen<br />
Leichtfertigkeit führen. Hier muß man korrigierend mithören. Im folgen<strong>de</strong>n<br />
Beispiel ist die personalen Hinweisfunktionen (Deixis) gestört:<br />
Mehrere Tage sprach Piachi kein Wort mit ihm; und da er Piachi? o<strong>de</strong>r Nicolo? gleichwohl, wegen <strong>de</strong>r<br />
Hinterlassenschaft Constanzes, seiner Geneigtheit und Gefälligkeit bedurfte: so sah er sich genötigt [...]<br />
(57:21-24)<br />
(2) Die syntaktische Wohlgeformheit (Behaghel) wird aufgehoben.<br />
Einst ging er, zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> Piachi außer <strong>de</strong>m Hause war, an Elvirens Zimmer vorbei, und hörte, zu<br />
seinem Befrem<strong>de</strong>n, daß man darin sprach. (58:9-11)<br />
Grammatisch korrekt lautet <strong>de</strong>r Satz:<br />
Einst , zu einer Zeit ablaufend, da Piachi gera<strong>de</strong> außer <strong>de</strong>m Hause war, ging er (d.i. NICOLO) an Elvirens<br />
Zimmer vorbei und [er] hörte, daß man darin sprach, (was zu seinem Befrem<strong>de</strong>n Anlaß gab).<br />
Der Grammatiker spricht von Hervorhebungsstellung, wenn die<br />
syntaktische Erstposition (die Zeitangabe) durchbrochen wird.<br />
Einst (ging er), zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> Piachi außer <strong>de</strong>m Hause war, ging er<br />
(3) Häufung <strong>de</strong>r Gleichzeitigkeit: Technik <strong>de</strong>r vielfachen synchronischen<br />
Vorstellung:<br />
Einst, zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> [...]<br />
(4) Kon<strong>de</strong>nsation als soldatische Kurzformsprache<br />
Alle Satzglie<strong>de</strong>r (=Freie Angaben), die nicht durch Valenz ans Prädikat<br />
gebun<strong>de</strong>n sind, können als ehemals eigenständige Sätze gesehen wer<strong>de</strong>n.<br />
Sie wer<strong>de</strong>n in paradigmatischer Beziehung in bestehen<strong>de</strong> Sätze<br />
eingebaut: zum Beispiel als Partizipialsätze. Sie wer<strong>de</strong>n in Kommata<br />
eingeschlossen. Das gilt auch, wenn das Partizip weggelassen wird.<br />
III 02 Kommasetzung<br />
Es ist zu beurteilen, ob Flüchtigkeit und Unkenntnis o<strong>de</strong>r<br />
Systementscheidungen vorliegen? Welche Wirkung ist beabsichtigt?
25<br />
01 Einst ging er [Nicolo](,) zu einer Zeit, da gera<strong>de</strong> Piachi<br />
außer <strong>de</strong>m Hause war, an Elvires Zimmer vorbei(,) und<br />
hörte(,) zu seinem Befrem<strong>de</strong>n, daß man darin sprach.<br />
02 Von raschen, heimtückischen Hoffnungen durch–<br />
zuckt, beugte er sich mit Augen und Ohren gegen das<br />
Schloß nie<strong>de</strong>r, und – Himmel! Was erblickte er? 03 Da<br />
lag sie [Elvire](,) in <strong>de</strong>r Stellung <strong>de</strong>r Verzückung(,) zu<br />
Jeman<strong>de</strong>s Füßen, und ob er gleich die Person nicht<br />
erkennen konnte, so vernahm er doch ganz <strong>de</strong>utlich,<br />
recht mit <strong>de</strong>m Accent <strong>de</strong>r Liebe ausgesprochen, das<br />
geflüsterte Wort: Colino. 04 Er legte sich mit klopfen–<br />
<strong>de</strong>m Herzen in das Fenster <strong>de</strong>s Corridors, von wo aus<br />
er, ohne seine Absicht zu verrathen, <strong>de</strong>n Eingang <strong>de</strong>s<br />
Zimmers beobachten konnte; 05 und schon glaubte<br />
er(,) bei einem Geräusch, das sich ganz leise am Riegel<br />
erhob, <strong>de</strong>n unschätzbaren Augenblick, da er die<br />
Scheinheilige entlarven könne() gekommen: als(,) statt<br />
<strong>de</strong>s Unbekannten() <strong>de</strong>n er erwartete, Elvire selbst() ohne<br />
irgend eine Begleitung(,) mit einem ganz gleichgültigen<br />
und ruhigen Blick, <strong>de</strong>n sie aus <strong>de</strong>r Ferne auf in warf,<br />
aus <strong>de</strong>m Zimmer hervortrat. 06 Sie hatte ein Stück<br />
selbstgewebter Leinwand unter <strong>de</strong>m Arm; 07 und<br />
nach<strong>de</strong>m sie das Gemach(,) mit einem Schlüssel, <strong>de</strong>n<br />
sie sich von <strong>de</strong>r Hüfte nahm, verschlossen hatte, stieg<br />
sie ganz ruhig, die Hand ans Gelän<strong>de</strong>r gelehnt, die<br />
Treppe hinab. 08 Diese Verstellung, diese scheinbare<br />
Gleichgültigkeit, schien ihm <strong>de</strong>r Gipfel <strong>de</strong>r Frechheit<br />
und Arglist(,;) 09 und kaum war sie aus <strong>de</strong>m Gesicht,<br />
als er schon lief, einen Hauptschlüssel herbeizuholen(,)<br />
und() nach<strong>de</strong>m er die Umringung(,) mit scheuen Blicken()<br />
ein wenig geprüft hatte, heimlich die Thür <strong>de</strong>s Gemachs<br />
öffnete.<br />
Es geht nicht darum, <strong>Kleist</strong> - im lehrerhaften Sinne - Fehler nachzuweisen,<br />
son<strong>de</strong>rn zu ermitteln, welches wirkungsbezogene, sprachliche Empfin<strong>de</strong>n<br />
<strong>Kleist</strong> zu seiner Zeichensetzung veranlaßt.<br />
III 03 Gleichzeigkeit <strong>de</strong>r Zeitabläufe<br />
Auflösung <strong>de</strong>r Zeitabläufe<br />
01 Zufällig aber traf es sich, daß Piachi, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Stadt<br />
gewesen war, beim Eintritt in sein Haus <strong>de</strong>m Mädchen<br />
begegnete, und da er wohl merkte, was sie hier zu<br />
schaffen gehabt hatte, sie heftig anging und ihr halb
26<br />
mit List, halb mit Gewalt, <strong>de</strong>n Brief, <strong>de</strong>n sie bei sich<br />
trug, abgewann. 02 Er ging auf sein Zimmer, um ihn zu<br />
lesen, und fand, was er vorausgesehen hatte, eine<br />
dringen<strong>de</strong> Bitte Nicolos an Xaviera, ihm, behufs einer<br />
Zusammenkunft, nach <strong>de</strong>r er sich sehne, gefälligst Ort<br />
und Stun<strong>de</strong> zu bestimmen. 03 Piachi setzte sich nie<strong>de</strong>r<br />
und antwortete, mit verstellter Schrift, im Namen<br />
Xavieras: „gleich, noch vor <strong>de</strong>r Nacht, in <strong>de</strong>r Magda–<br />
lenenkirche.“ – siegelte diesen Zettel mit einem<br />
frem<strong>de</strong>n Wappen zu, und ließ ihn, gleich als ob er von<br />
<strong>de</strong>r Dame käme, in Nicolos Zimmer abgeben. 04 Die<br />
List glückte vollkommen; 05 Nicolo nahm augenblicklich<br />
seinen Mantel, und begab sich in Vergessenheit<br />
Constanzes, die im Sarg ausgestellt war, aus <strong>de</strong>m<br />
Hause. 06 Hierauf bestellte Piachi, tief entwürdigt, das<br />
feierliche, für <strong>de</strong>n kommen<strong>de</strong>n Tag festgesetzte<br />
Leichenbegräbnis ab, ließ die Leiche, so wie sie<br />
ausgesetzt war, von einigen Trägern aufheben, und<br />
bloß von Elviren, ihm und einigen Verwandten<br />
begleitet, ganz in <strong>de</strong>r Stille in <strong>de</strong>m Gewölbe <strong>de</strong>r<br />
Magdalenenkirche, das für sie bereitet war, beisetzen.<br />
07 Nicolo, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>m Mantel gehüllt, unter <strong>de</strong>n Hallen<br />
<strong>de</strong>r Kirche stand, und zu seinem Erstaunen einen ihm<br />
wohlbekannten Leichenzug herannahen sah, fragte <strong>de</strong>n<br />
Alten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Sarge folgte: was dies be<strong>de</strong>ute? Und<br />
wen man herantrüge? 08 Doch dieser, das Gebetbuch<br />
in <strong>de</strong>r Hand, ohne das Haupt zu erheben, antwortete<br />
bloß: Xaviera Tartini: - worauf die Leiche, als ob Nicolo<br />
gar nicht gegenwärtig wäre, noch einmal ent<strong>de</strong>ckelte,<br />
durch die Anwesen<strong>de</strong>n gesegnet, und alsdann versenkt<br />
und in <strong>de</strong>m Gewölbe verschlossen ward.<br />
III 04 Anagram<br />
Ragusa ist<br />
<strong>de</strong>r italienische Name für Dubrownik<br />
die Hauptsadt <strong>de</strong>r sizilianischen Provinz Ragusa<br />
anagrammatischer Tausch: Ragusa > garaus.<br />
eilf<br />
Das be<strong>de</strong>utet:<br />
In einer Bezeichnung, einem Namen, läuft immer noch ein an<strong>de</strong>res mit<br />
IV Ästhetik <strong>de</strong>r Scham<br />
IV 01 Ästhetik <strong>de</strong>r Scham 1<br />
Ästhetik:<br />
Gefühlte Wirkung von Opposition und Differenz,
27<br />
die bewertet wird als „schön“, „fremd“, als „erhaben“,<br />
wobei ein Mythos (=magische Wirksamkeit) entsteht.<br />
(Die Wirkung entzieht sich <strong>de</strong>r begrifflichen Begründung)<br />
Wirkungauslösen<strong>de</strong>s Verhalten<br />
Je<strong>de</strong>rmann ist stets und normalerweiser voller Scham<br />
Scham ist Schutz<br />
Scham ist Einsicht in Unzulänglichkeit.<br />
Die Gesellschaft erkennt in Scham „Schuld“, „Versagen“<br />
Deshalb ist es gesellschaftliches Ziel:<br />
Nichts an sich haben, das beschämt, das peinlich ist.<br />
Je<strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>t stets an je<strong>de</strong>r neuen Beschämung.<br />
Ästhetik ist die Opposition <strong>de</strong>r Lexeme<br />
Schamlos sein entspricht nicht: ohne Scham (stark) sein<br />
Schamhaft sein steht in Opposition zu<br />
Unverschämt sein.<br />
Beschämen<br />
Beschämt sein<br />
Beschämt wer<strong>de</strong>n<br />
(einschüchtern, in <strong>de</strong>r Empfindlichkeit<br />
getroffen)<br />
Es besteht die Frage, wie geht <strong>Kleist</strong> mit <strong>de</strong>n Empfindlichkeiten <strong>de</strong>s Lesers<br />
um? Man kann auf seine soziale Intelligenz und Empathie-Fähigkeit<br />
schließen<br />
Verschämt sein<br />
(eingeschüchtert sein)<br />
Vom Ekel zur Scham<br />
Schamgefühl ausschalten: übler Lebenswan<strong>de</strong>l<br />
Der perspektivische Zugang zur Sprachfamilie „Scham“ zeigt sich<br />
folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />
Piachis Beschämung: PIACHI wird ständig neu durch Situationen,<br />
die NICOLO herbeiführt beschämt.<br />
Elvirens Scham: ELVIRE hält ihrer ersten Liebe die Treue und weiß<br />
Scham so einzusetzen, daß niemand (auch ihr Ehemann) ihr zu nahe tritt.<br />
Gegenüber <strong>de</strong>m Porträt COLINOs hat sie je<strong>de</strong> Scham aufgegeben.<br />
Nicolos Schamlosigkeit: NICOLO ist durch seinen „üblen<br />
Lebenswan<strong>de</strong>l <strong>de</strong>rartig skrupelos gewor<strong>de</strong>n, daß er keine moralische<br />
Schranke mehr kennt und allein seinem Hedonismus folgt.
28<br />
III 02<br />
Ästhetik Scham 2<br />
Scham<br />
schamhaft<br />
schamlos<br />
verschämt<br />
beschämt<br />
sich schämen<br />
schamhaft sein<br />
schamlos sein<br />
verschämt sein<br />
beschämen jmd<br />
Dieser Vorfall, <strong>de</strong>r ihn (PIACHI) tief beschämte 57:17<br />
(Dazu: Veronika Immler & Antje Steinhäuser)<br />
Die Gesellschaft, in <strong>de</strong>r wir unsere Privat-Scham inszenieren müssen,<br />
will jegliche Scham ausschalten und durch Gesellschaftsfähigkeit<br />
ersetzen; <strong>de</strong>nn sich schämen <strong>de</strong>utet auf eine Unsicherheit, die peinlich ist<br />
(nicht cool, nicht souverän). „Schamlos-sein“ wird gesellschaftliche als<br />
nicht-gesellschaftsfähig verstan<strong>de</strong>n. Schamlos ist ein Kippwort.<br />
Die Gesellschaft hat schamlos zu sei, „Scham“ wird durch<br />
Gesellschaftsfähigkeit ersetzt. Diese Gesellschaftsfähigkeit ist allerdins<br />
nicht moralische, son<strong>de</strong>rn soziologisch zu verstehen.gesellschaftliche<br />
Fertigkeiten sind nachzuweisen. Dazu gehört die Fähigkeit sich privat und<br />
öffentlich zu inszenieren.<br />
Schutz durch die Familie: Fremdscham<br />
PIACHI macht „zuweilen große Reisen“ (49:4). Er läßt „seine junge Frau,<br />
unter <strong>de</strong>m Schutz ihrer Verwandten“ (49:5) zurück. Junge Frauen - so die<br />
kulturelle Ansicht - müssen vor <strong>de</strong>r Gesellschaft geschützt wer<strong>de</strong>n. Das<br />
gilt in abgeschwächter Form heute noch. Die Gesellschaft wird ihnen<br />
gefährlich. Allein die Familie bietet Schutz. (heute ist alles an<strong>de</strong>rs, außer in muslimischer<br />
Kultur). Dieser Schutz <strong>de</strong>s Körpers und <strong>de</strong>r Seele, also <strong>de</strong>s Leibes, durch die<br />
Familie ist eine Fremdscham, die abschirmt, in<strong>de</strong>m sie es bei jungen<br />
Frauen gar nicht erst zu unbedachtem Tun kommen läßt. Diese<br />
Fremdscham gilt min<strong>de</strong>stens so lange, bis die Eigenscham, also die<br />
intuitive Vorahnung von Gefahren, sicher genug einsetzt. Wann die<br />
Eigenscham <strong>de</strong>n jungen Frauen gesellschaftlich zuerkannt wird, ist in <strong>de</strong>n
29<br />
verschie<strong>de</strong>nen Kulturen unterschiedlich. Kulturen, die die Aufklärung und<br />
Menschenrechte kennen, sehen auch bei Frauen Eigenscham als<br />
Erziehungsziel. Es tritt – wie in allen Demokratien – das Problem auf, dass<br />
auch dieses Erziehungsziel so schnell wie möglich erreicht sein soll. Das<br />
gilt beson<strong>de</strong>rs in Deutschland, wo wir in einem Rechtsstaat leben und<br />
nicht in einem Moralstaat. Hier ist <strong>de</strong>r moralische Schambegriff nur noch<br />
in Son<strong>de</strong>rbereichen brauchbar; er ist durch Rechtsvorstellungen abgelöst.<br />
Die Erziehung zu Eigenscham wird in <strong>de</strong>r Prokurator-Novelle Goethes<br />
erzählt. Ein Han<strong>de</strong>lsmann läßt seine junge Frau bei einer Han<strong>de</strong>lsreise<br />
zurück. Da er weiß, daß ihre Eigenscham nicht ausreichen wird, auf einen<br />
Liebhaber zu verzichten, gesteht er ihr einen Liebhaber zu. Allerdings<br />
stellt er die Bedingung, dieser müsse es wert sein. Es stellt sich<br />
tatsächlich ein solcher Liebhaber ein; aber es geschieht das Paradoxe: Er<br />
ist es wert, ihr Liebhaber zu sein, weil er nicht ihr Liebhaber wer<strong>de</strong>n wird.<br />
Auch NICOLO sieht ELVIRE als nicht schamfähig. Er glaubt zu wissen,<br />
dass Elvire hinter einer Tugendmaske lebt, die ihr die eheliche<br />
Zugehörigkeit zu PIACHI trotz ihrer Hörigkeit gegenüber COLINO<br />
ermöglicht. Mit „ Frechheit und Arglist“ (58:34) nutze sie das aus – so<br />
schätzt es Nicolo, von bürgermoralischem Mißtrauen getrieben, ein –,<br />
wenn sie sich im Geheimen einem Liebhaber hingibt, auch wenn dieser<br />
Liebhaber ein „seit zwölf Jahren, im Grabe schlummern<strong>de</strong>r Toter“ (63:35)<br />
ist o<strong>de</strong>r, wie zuvor angenommen, die Eigenprojektion NICOLOs.<br />
Letzteres erzählt die Anagramm-spielerei Nicolo / Colino, die Zufall als<br />
Berechnung ansieht, und <strong>de</strong>r Nicolo mit niedriger Gesinnung nachgeht.<br />
Paradoxerweise vermutet NICOLO hinter <strong>de</strong>r lasterhaften Energie<br />
ELVIREns zugleich eine „reine Seele, <strong>de</strong>r nur durch einen Betrug<br />
beizukommen sei“ (64:22f). Aufgrund seines üblen Lebenswan<strong>de</strong>ls<br />
lei<strong>de</strong>t NICOLO bei <strong>de</strong>r Einschätzung jeglicher Lebenssituationen an/am<br />
Ausfall je<strong>de</strong>n Schamgefühls (Scheler:87). Dahinter steht <strong>de</strong>r Tatbetand,<br />
daß aus schäbiger Denkungsart nicht beliebig ausgestiegen wer<strong>de</strong>n
30<br />
kann. Der Handlungsvortrieb entledigt sich schließlich jeglicher<br />
ästhetischer Einsicht und je<strong>de</strong>s moralischen Verhaltens. Bertrand Russel<br />
hat die Trennung zwischen Einsicht und Verhalten zum Merkmal mo<strong>de</strong>rner<br />
Existenzweise erhoben (Russel:NN). Einsicht kann Verhalten nicht<br />
zügeln und lenken. Schäbige Denkungsart geht ganz und gar in Verhalten<br />
über. Er sieht darin einen Paradigmawechsel zur gymnasialen Vorstellung<br />
Schillers und Wilhelm von Humboldts von <strong>de</strong>r Veredlung <strong>de</strong>s Menschen<br />
durch Erziehung.<br />
Wirkungsorientierte Lebenssucht führt zu üblem Lebenswan<strong>de</strong>l. Ein<br />
Muster dafür ist die Bühnenregiearbeit in ihrer irreversiblen Verrohung.<br />
Sie geht <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Ekels und <strong>de</strong>r Obszönität. Regiearbeit ist übler<br />
Lebenswan<strong>de</strong>l, ist skrupelloser Schamverlusts um <strong>de</strong>r Wirkung willen. Das<br />
gilt auch für <strong>Kleist</strong> bei <strong>de</strong>r ständigen Suche nach schlimmstmöglichen<br />
Handlungswendungen.<br />
Das läßt NICOLO bei <strong>de</strong>r Einschätzung ELVIREns Einstellungen vermuten,<br />
die sich jeweils <strong>de</strong>m Eigenzustand Nicolos anpassen. NICOLO kann die<br />
Reinheit ELVIREns gar nicht mehr erwägen, da seine Denkungsart nur in<br />
Richtung <strong>de</strong>s Amoralischen dynamisch bleibt. Es darf aber auch nicht<br />
vergessen wer<strong>de</strong>n, ELVIREns Lebensart moralisch kritisch zu sehen.<br />
Hier sei eingeschoben: Mentale Zustän<strong>de</strong> sind psychischen und<br />
physiologischen Zustän<strong>de</strong>n synchron und zugleich arbiträr. Diese<br />
„konventionalisierten Beziehung“ ist nicht leicht aufzuheben, so lassen die<br />
Neurowissenschaften es uns verstehen.<br />
Hier ist man an einer kritischen Stelle <strong>de</strong>s Novellengeschehens: Auf<br />
NICOLOs erotisch-kriminelle Energie beim Überfall auf ELVIREn reagieren<br />
sowohl PIACHI als auch ELVIRE, an bürgerlichem Verständnis gemessen,<br />
auffallend zurückhaltend und gera<strong>de</strong>zu unbeteiligt. Was die<br />
Affektzurückhaltung bei bei<strong>de</strong>n motiviert, wird nicht erzählt. Man kann bei<br />
<strong>de</strong>r Erklärung so weit gehen, daß NICOLO ELVIRE und ihr erotisches<br />
Grenzverhalten zumin<strong>de</strong>st nicht falsch einschätzt. Ihre Perversität und<br />
PIACHIs Gleichgültigkeit sprechen ebenso für eine gestörte Scham wie die
31<br />
Handlungsdreistigkeit NICOLOs. Wie soll man es an<strong>de</strong>rs verstehen,<br />
wenn Elvire mit „einige(n)Worte(n)“ (65:33) die Einschätzung <strong>de</strong>r<br />
Übergriffe NICOLOs bei PIACHI zu dämpfen weiß und sich selbst mit eben<br />
diesen Worten von <strong>de</strong>m Vorfall „erholt“ (65:36).<br />
Hier liegt eine sehr „kurz erzählte“, vielleicht unzureichend erzählte<br />
Novellenstelle vor, die tatsächlich <strong>de</strong>r „narzisstischen Wun<strong>de</strong>“ <strong>Kleist</strong>s<br />
entstammen könnte, <strong>de</strong>r Wolfgang Schmidbauer (2011)<br />
tiefenpsychologisch nachgeht. Schmidtbauer geht hierauf allerdings nicht<br />
ein.<br />
ELVIRE gelingt es nicht, „Erfahrung“ (die Erfahrung mit COLINO) in<br />
„Erinnerung“ zu verwan<strong>de</strong>ln. „Erinnerung“ ist „Erfahrung“, <strong>de</strong>r die<br />
Lei<strong>de</strong>nschaft <strong>de</strong>s Lebens genommen ist. Die gesellschaftliche Hygiene<br />
verlangt, dass nicht mehr brauchbare Erfahrung in Erinnerung verwan<strong>de</strong>lt<br />
wird. COLINO hätte längst, spätestens seit <strong>de</strong>r Verheiratung mit PIACHI,<br />
„Erinnerung“ sein müssen; COLINO ist von ihr aber als Erfahrung<br />
gepflegt/erhalten wor<strong>de</strong>n. PIACHI hat das zugelassen, es beschämt ihn<br />
nicht, da es nicht öffentlich wird. ELVIRE genügt <strong>de</strong>r öffentlichen Norm:<br />
Sie ist verheiratet, allerdings nicht mit <strong>de</strong>m Mann, <strong>de</strong>n sie liebt; sie liebt<br />
ihr „Kind“, das allerdings nicht ihr eigenes ist. Da sie im gesellschaftlichen<br />
Sinne „funktioniert“, spricht <strong>de</strong>r Erzähler von einer „jungen trefflichen<br />
Gemahlin“ (51:15f), von <strong>de</strong>r „guten Elvire“ (51:27). Er gibt damit eine<br />
Zugehörigkeits-Affirmation, wie sie bei konservativem Sprachgebahren<br />
üblich ist. Elvire genügt gesellschaftlicher Normalität bis auf die<br />
manchmal überreizten Nerven, jenem „stillen Zug von Traurigkeit“<br />
(52:31), <strong>de</strong>r sich bis zu „son<strong>de</strong>rbare(r) Schwermut“ (55:34) steigern<br />
konnte. Derartige „Spinnertheit“ sich interessant machen<strong>de</strong>r,<br />
gesellschaftlich exponierter Frauen wird in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit<br />
normalerweise gedul<strong>de</strong>t.<br />
ELVIREns selbstgemachtes Problem ist, dass sie das Leben mit <strong>de</strong>r<br />
seelischen Mumie Colino als ihre Wirlichkeit (nicht Realität) eingerichtet
32<br />
und eine Scham entwickelt hat, die die familiäre Realität (nicht<br />
Wirklichkeit) davon zu trennen vermag. Das mag sich für Elvire irgendwie<br />
arrangiert haben, die Gesellschaft aber empfin<strong>de</strong>t das<br />
Aufrechterhalten überlebter Erfahrung als krankhafte<br />
Erscheinung, <strong>de</strong>r sie mit „Ekel“ begegnet (Scheler 83f). ELVIRE, die<br />
ihren Ehemann PIACHI regelmäßig gegen ihren verlorenen Liebhaber<br />
COLINO austauscht, hat eine Energie entwickelt, die eine schmerzhafte<br />
Schockierung <strong>de</strong>s bürgerlichen Schamgefühls, also „obszön“ ist. Libertäre<br />
Beurteilungen sehen ELVIREs Verhalten offener, weil sie die Wichtigkeiten<br />
<strong>de</strong>s Zusammenlebens an<strong>de</strong>rs verteilen. Es gibt natürlich auch Menschen,<br />
von <strong>de</strong>nen diese „Schamverletzung äußerst lebhaft gefühlt und<br />
gleichzeitig als solche gewollt und genossen wird“ (Scheler:95). Gegen<br />
einen intellektuellen Umgang damit ist wohl auch nichts zu sagen.<br />
Zusammengefaßt:<br />
PIACHI hat wegen seiner selbstverständlichen, klaren Lebensführung<br />
warnen<strong>de</strong> und schützen<strong>de</strong> Scham nicht nötig gehabt. Er lebt das „schamlose/freie“<br />
Leben <strong>de</strong>rer, die sich „selbstverständlich“ sind und nicht die<br />
Größe haben, ihre tägliche Schamhaftigkeit um eines reflektierten<br />
Humanismus willen aufrechtzuerhalten. „Scham“ ist ihm nicht moralische<br />
Pflicht.<br />
ELVIREns mystische Abson<strong>de</strong>rlichkeit ist geschützt durch schamhafte<br />
Selbstverschließung vor <strong>de</strong>r Gefahr gesellschaftlicher Sanktionen.<br />
ELVIRE lebt das Doppelleben ihres Liebesgeheimnisses und ihrer ehelichen<br />
Öffentlichkeit, von PIACHI toleriert und behan<strong>de</strong>lt wie ein<br />
„Firmengeheimnis“.<br />
NICOLO hat seine Fähigkeit zur Scham durch seine li<strong>de</strong>rliche<br />
Lebensführung eingebüßt, in<strong>de</strong>m er sie zum Versiegen brachte. Er weiß<br />
Recht und Moral – wie wir es heute auch tun – zu seinem Nutzen zu<br />
trennen. Das fällt ihm leicht, da er nach Karmeliter-Vorbild alle<br />
Winkelzüge <strong>de</strong>r Bigotterie beherrscht.
33<br />
IV 03 Elvirens Scham<br />
Die ästhetisierung von „Scham“ umfaßt einen perspektivischen und<br />
partikularen Bereich <strong>de</strong>s Produzenten-interesses.<br />
Elvire hat ein „überreiztes Nervensystem“. So bezeichnet es <strong>de</strong>r<br />
Erzähler kommentierend. Er setzt dabei auf das Verständnis und Interesse<br />
<strong>de</strong>s Lesers.<br />
Ein junger Genueser hat ELVIRE das Wichtigste ihres Lebens bis zur<br />
hingeben<strong>de</strong>n Ohnmacht erfahren lassen: eine urgewaltige<br />
Liebesbegegnung, die unüberbietbar alles umfaßte: Symbol dafür ist die<br />
hingeben<strong>de</strong> und zugleich retten<strong>de</strong> Ohnmacht. Große Metaphorik wird<br />
von <strong>Kleist</strong> aufgeboten im Zusammenhang mit einer existentiellen<br />
Ausnahmesituation: Feuerbrunst, „entsetzliche See“, bedingungslose<br />
Überantwortung eines Menschen an einen an<strong>de</strong>ren, hel<strong>de</strong>nhafte Rettung,<br />
Tod <strong>de</strong>s sich aufopfern<strong>de</strong>n Retters und nicht zuletzt eine teilnehmen<strong>de</strong><br />
Öffentlichkeit. Je<strong>de</strong>s Geheimnis <strong>de</strong>r Liebe muß in weiblichem Sinne<br />
schließlich Öffentlichkeit fin<strong>de</strong>n. Mit ihrer Hörigkeit gegenüber diesem<br />
Ereignis geht ELVIRE dann allerdings zu weit, und sie wird sich in dieser<br />
Amoral gefähr<strong>de</strong>n.<br />
Damit sind metaphorisch Merkmale genannt, die für Maßlosigkeiten wie<br />
die lei<strong>de</strong>nschaftliche Liebe unerläßlich sind. Der Erzähler wählt für Elvirens<br />
Liebesbegegnung die Rettung ihres Lebens.<br />
...Das arme Kind wußte, zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> schwebend, gar nicht, wie es sich retten sollte;<br />
hinter ihr <strong>de</strong>r brennen<strong>de</strong> Giebel, <strong>de</strong>ssen Glut, vom Win<strong>de</strong> gepeitscht, schon <strong>de</strong>n Balken angefressen<br />
hatte, und unter ihr die weite, ö<strong>de</strong>, entsetzliche See.... (53:10-14)<br />
Wie üblich bei <strong>Kleist</strong> enthält die Erzählung <strong>de</strong>r Rettung ELVIREns<br />
schwer nachvollziehbare Einzelheiten. Darauf kommt es <strong>de</strong>m Erzähler<br />
offensichtlich auch nicht an. Es hätte sogar auch eine an<strong>de</strong>re Situation<br />
vergleichbarer Art vom Erzähler gewählt wer<strong>de</strong>n können. Wichtig ist allein<br />
die Urgewalt <strong>de</strong>r menschlichen Erfahrung, die für <strong>de</strong>n Nachvollzug im<br />
Konzentrat vermittelt wer<strong>de</strong>n soll. Die Erotik <strong>de</strong>r Szene wird von Kritikern<br />
immer wie<strong>de</strong>r herausgestellt (Schuller).<br />
Von diesem Urerlebnis <strong>de</strong>r Liebe ist ELVIRE für ihr Leben unverän<strong>de</strong>rbar<br />
und anhaltend geprägt. Sie ist damit für eine (<strong>de</strong>mokratische)<br />
Lebenshaltung offener Begegnung nicht mehr geeignet. Das Geschehen
34<br />
hat sie in beseligter Ohnmacht bedingungslos und für alle Lebenszeit an<br />
einen/<strong>de</strong>n für sie maßgeben<strong>de</strong>n Liebhaber übergeben. ELVIRE ist seit<strong>de</strong>m<br />
unfähig und augenscheinlich nicht mehr Willens, sich ernsthaft auf eine<br />
seelischen Neuorientierung einzustellen.<br />
ELVIREns Liebes-I<strong>de</strong>ierung (Scheler) ist eine für die heutige<br />
Lebensform nicht mehr beanspruchtes Lebensi<strong>de</strong>al und setzt<br />
entsprechend historisch geschulte Leser voraus. Daran zeigt sich,<br />
daß das Hervorrufen von „Wirkung“ unter Umstän<strong>de</strong>n eine<br />
romantisieren<strong>de</strong> historische Mentalitäts-Bildung voraussetzt. Solche<br />
Bildung ist <strong>de</strong>m „Gegenwarts“menschen üblicherweise ohne Wert.<br />
ELVIRE hält bei ihren zwischenmenschlichen Begegnungen seit<strong>de</strong>m nur die<br />
gesellschaftlichen Normen aufrecht: die Ehe mit Piachi, die Zieh-<br />
Mutterrolle, das maskenhafte Erscheinen in <strong>de</strong>r Öffentlichkeit. Störend ist<br />
allein <strong>de</strong>r geheimnisvolle, manchmal zur Peinlichkeit geraten<strong>de</strong> „Zug von<br />
Traurigkeit“ (52:31). Was hier so harmlos klingt, ist in Wahrheit eine<br />
psychische Abson<strong>de</strong>rlichkeit und Störung, die, allein in Privatheit<br />
ausgelebt, <strong>de</strong>r Gefahr entgeht, als Erkrankung ausgelegt zu wer<strong>de</strong>n. Bei<br />
ELVIRE geht es um eine unausgelebte Trauer.<br />
Trauer dient dazu, eine betrauerte Person in Erinnerung zu<br />
überführen. Sie wird aber von ELVIRE als andauern<strong>de</strong>r Lebensinhalt<br />
gepflegt. Das hat zur Folge, daß ELVIRE unter einer krankhaften<br />
Beziehungsstörung und unter Vitalitätsverlust lei<strong>de</strong>t.<br />
NICOLO wird sich diese Lebensschwäche zu Nutzen machen und ihr eine<br />
verhängnisvolle Deutung geben. ELVIREs mehr<strong>de</strong>utiges Verhalten lockt<br />
nämlich NICOLOs Aufmerksamkeit auf weiblich psychische Schwachheit,<br />
die von Männern nicht selten als Machtspiel mißbraucht wird. NICOLO hat<br />
einen „Hang für das weibliche Geschlecht“ (52:5f), <strong>de</strong>r durch üblen<br />
Lebenswan<strong>de</strong>l dahin verdorben ist, in weiblichem Verhalten bevorzugt eine<br />
Schwäche zu suchen, die mit Heimtücke belauert wer<strong>de</strong>n kann. „Weibliche<br />
Ohnmacht“ ist ein Kippverhalten, das je nach Situation vorteilhaft o<strong>de</strong>r<br />
nachteilig sein kann. (Anm: Wenn auch weibliche Ohnmacht eine
35<br />
weitgehen<strong>de</strong> Vielschichtigkeit hat, sie ist auch bei erzählten männlichen<br />
Figuren nicht ausgeschlossen. Auch COLINO ist „seiner Sinne nicht<br />
mächtig“ (53:28); auch PIACHI „fiel, da er sein [<strong>de</strong>s Rechtsfreunds]<br />
Zimmer erreicht hatte, bewußtlos [...] nie<strong>de</strong>r (66:13-15).<br />
Die Hochzeit mit PIACHI ist für ELVIRE eine Formalie, ihre familiäre Nähe<br />
mit Stiefsohn PAOLO und <strong>de</strong>m Findling NICOLO beruht auf zufälligem<br />
Austausch und ist von Gleichgültigkeit bestimmt. Das gesellschaftliche<br />
Auftreten ELVIREns als Händlergattin ist <strong>Kleist</strong> keiner weiteren Erwähnung<br />
wert; alles, was ELVIRE gesellschaftlich einbin<strong>de</strong>t, ist in Wahrheit ohne<br />
existentiellen Sinn, ist Schein. ELVIREns Lebensform ist ein ihr Intimleben<br />
schützen<strong>de</strong>s Schamverhalten, also ein Verhalten, das sie vor Ent<strong>de</strong>ckung /<br />
Entlarvung schützt. Sie begegnet ihren Nächsten mit Verhaltensritualen<br />
und unüberbrückbarer Anstandsnahme. Mit ihrer Scham schützt sich<br />
ELVIRE vor <strong>de</strong>m Verlust ihrer COLINO-Intimität. Je<strong>de</strong>r Schritt in eine neue<br />
Intimität kann für ELVIREn nach <strong>de</strong>r Begegnung mit <strong>de</strong>m Genueser nur<br />
Liebesverrat sein. Die Verbindung mit Ehemann PIACHI wird mit möglichst<br />
unangestrengter Unverbindlichkeit vollzogen.<br />
Das wird bei <strong>de</strong>r Erzählung <strong>de</strong>r Übergriffe NICOLOs <strong>de</strong>utlich. ELVIRE<br />
reagiert wie abwesend.Die Auf<strong>de</strong>ckung <strong>de</strong>s übergriffigen Verhaltens<br />
Nicolos wird vom Erzähler entgegen aller Lesererwartung bemerkenswert<br />
abschwächt erzählt:<br />
[Nicolo] bat ihn [...] um Vergebung. Und in <strong>de</strong>r Tat war <strong>de</strong>r Alte auch geneigt, die Sache still<br />
abzumachen; sprachlos, wie ihn einige Worte Elvirens gemacht hatte, die sich [...] erholt hatte...<br />
(65:30-36)<br />
Der Leser hätte an<strong>de</strong>res erwartet und wäre nach diesem Kurzbericht<br />
sicher interessiert, die Worte ELVIREns genauer zu wissen, die solch eine<br />
herunterspielen<strong>de</strong>, verharmlosen<strong>de</strong> Wirkung gehabt haben. Aber <strong>de</strong>r<br />
Erzähler hält sie für nicht-erwähnenswert.<br />
Die sogeartete Scham ELVIREns ist notwendig, da ELVIRE in periodischer<br />
Sehnsucht die Gegenwart <strong>de</strong>s Genueser Ritters sucht und sich ihm<br />
darbietet. Sie hat das Erleben mit <strong>de</strong>m Ritter zu ihrer täglichen<br />
Wirklichkeit gemacht und vor bloßer Erinnerung bewahrt. Sie gestaltet es
36<br />
in sublimierter Form und zugleich mit süchtiger Inbrunst immer erneut.<br />
Ihre gesellschaftliche Umgebung nimmt ELVIREs geheimnisvolle<br />
Seltsamkeiten nur in ihrer äußerlich wahr, allein PIACHI kennt die<br />
Beweggrün<strong>de</strong> für ELVIREns Abson<strong>de</strong>rlichkeit. Er hat sich „sprachlos“ damit<br />
arrangiert.<br />
Das für <strong>de</strong>n bürgerlich sittlich sozialisierten Leser Amoralische<br />
und Be<strong>de</strong>nkliche ist, daß allein ein lebensgroßes Porträt <strong>de</strong>s Genuesers<br />
in Elvirens Schlafkammer alle ihre Scham schwin<strong>de</strong>n lassen kann bis hin<br />
zur Unmittelbarkeit <strong>de</strong>s begegnen<strong>de</strong>n Aktes. Hier ist zwischen Amoralität<br />
und Immoralität zu trennen. Letztere ist eine ästhetisch aufbereitete<br />
Abweichung von <strong>de</strong>r Norm, erste Abweichung ist dagegen nur eine Form<br />
<strong>de</strong>r Unmoral.<br />
Selbstscham „für das individuelle Selbst“ (Scheler 81) ist ELVIREn so<br />
fremd wie das „Sich-für-einen-an<strong>de</strong>ren-schämen“ (Scheler 81). Mit ihrer<br />
„Schamlosigkeit“ lebt sie ihre individuelle Natürlichkeit ohne Rücksicht auf<br />
die kulturellen Maßstäbe. Daß ELVIRE ihrem Mann mit ihrer Untreue die<br />
Ehe verweigert, ist die übliche weibliche Eigensucht, <strong>de</strong>n Ehemännern die<br />
Sexualität zu verweigern, ihn aber zugleich <strong>de</strong>r Treue zu verpflichten.<br />
Elvirens Lebensplan ist mit <strong>de</strong>m Rettungserleben, das als<br />
elementarfundamentales Liebeserleben, als erotischer Sturm ge<strong>de</strong>utet<br />
wird (Schuller), an COLINO gebun<strong>de</strong>n.. Mit <strong>de</strong>m COLINO-Erlebnis ist <strong>de</strong>r<br />
Scham-Kreis für Elvire geschlossen. Einfluß von außen ist unmöglich<br />
gewor<strong>de</strong>n.<br />
„Alsdann gab es keinen Trost und keine Beruhigung für sie; sie brach, wo sie auch sein mochte, auf, und keiner<br />
folgte ihr, eil man schon erprobt hatte, daß je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>re Mittel vergeblich war...“ (54: 13-16).<br />
Das Geheimnis, das ELVIRE umgibt, kann die Übelgesinnten wie die<br />
moralischen Gutmenschen zu unmoralischen Angriffen animieren; wie es<br />
mit Nicolo auch geschieht. PIACHI sieht, wohl aus pragmatischen<br />
Grün<strong>de</strong>n, von einer Verfolgung ELVIREns Son<strong>de</strong>rlichkeit ab.<br />
IV 04 Elvirens Wahn<br />
Einiges zum Liebessturm ELVIREns und <strong>de</strong>r Entstehung ihres überreizten<br />
Nervensystems.
37<br />
Kein reales Ereignis, son<strong>de</strong>rn die symbolische (metaphorische)<br />
Anschauung eines Seelenzustan<strong>de</strong>s wird von <strong>Kleist</strong> gegeben. Die<br />
Feuer/Wasser-Katastrophe <strong>de</strong>s brennen<strong>de</strong>n Hauses ist das sexuelle<br />
Urerlebnis Elvirens. Vater und Mutter können hier keine Rettung geben.<br />
Einst, in einer unglücklichen Nacht, da Feuer das Haus ergriff, und gleich, als ob es von Pech und Schwefel<br />
erbaut wäre, zu gleicher Zeit in allen Gemächern, aus welchen es zusammengesetzt war, emporknitterte,<br />
flüchtete sich, überall von Flammen geschreckt, die dreizehnjährige Elvire von Treppe zu Treppe, und befand<br />
sich, sie wußte selbst nicht wie, auf einem dieser Balken.<br />
In Mitten <strong>de</strong>r kindlichen Ruhe geschieht <strong>de</strong>r Ausbruch eines<br />
katastrophischen Lebenserlebnisses. Die Ruhe wird so dargestellt:<br />
Elvire hatte einen stillen Zug von Traurigkeit im Gemüth, <strong>de</strong>r ihr aus einem rühren<strong>de</strong>n Vorfall, aus <strong>de</strong>r<br />
Geschichte ihrer Kindheit, zurückgeblieben war. Phillipo Parquet (= getäfelter Bo<strong>de</strong>n, Ks), ihr Vater, ein<br />
bemittelter Tuchfärber in Genua, bewohnte ein Haus, das, wie sein Handwerk erfor<strong>de</strong>rte, mit <strong>de</strong>r hinteren Seite<br />
hart an <strong>de</strong>n, mit Qua<strong>de</strong>rsteinen eingefaßten, Rand <strong>de</strong>s Meeres stieß; große, am Giebel eingefugte Balken, an<br />
welchen die gefärbten Tücher aufgehängt wur<strong>de</strong>n, liefen, mehrere Ellen weit, über die See hinaus.<br />
Es ist ein katastrophischer Fall: aus <strong>de</strong>m Innern <strong>de</strong>s Gebäu<strong>de</strong>s<br />
kommend und aus <strong>de</strong>m Innern <strong>de</strong>r Seele kommend.<br />
Das arme Kind wußte, zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> schwebend, gar nicht, wie es sich retten sollte; hinter ihr <strong>de</strong>r<br />
berennen<strong>de</strong> Giebel, <strong>de</strong>ssen Glut, vom Win<strong>de</strong> gepeitscht, schon <strong>de</strong>n Balken angefressen hatte, und unter ihr die<br />
weite, ö<strong>de</strong>, entsetzliche See. (= kosmische Symbolik geschlechtlichen Wahnsinns).<br />
Der katastrophische Fall <strong>de</strong>r Verlassenheit (von Vater und Mutter o<strong>de</strong>r<br />
sonstigen Hausbewohnern); melodramatische Inszenierung einer Figur<br />
zwischen Himmel und Er<strong>de</strong>, zwischen Feuer und Wasser <strong>de</strong>m Untergang in<br />
Kontingenz (=Zufälligkeit und Ereignishaftigkeit) ausgesetzt.<br />
Das ist kein traumatischer Fall für ELVIRE, son<strong>de</strong>rn ihre seelische,<br />
geschlechtliche Bestimmung. Es ist eine Zustandsbeschreibung<br />
ELVIREs: ein geschlechtlicher Zustand <strong>de</strong>r (Rettung) empfangen<strong>de</strong>n<br />
Ohnmacht.<br />
...als plötzlich ein junger Genueser (genus > Geschlecht <strong>de</strong>r Patrizier, Kin-d; lautlich: Genua), am Eingang<br />
erschien, seinen Mantel über <strong>de</strong>n Balken warf, sie umfaßte, und sich, mit eben so viel Muth als Gewandtheit, an<br />
einem <strong>de</strong>r feuchten Tücher, die von <strong>de</strong>m Balken nie<strong>de</strong>rhingen, in die See mit ihr herabließ.<br />
Dieser Vereinigungswahn, <strong>de</strong>r „ihr schönes und empfindliches Gemüt<br />
auf das heftigste bewegte“ war wie herbeibeschworen und Teil ihres<br />
intimsten Erlebens. Er verbin<strong>de</strong>t sich mit <strong>de</strong>m Trauerwahn, <strong>de</strong>r im<br />
Gegensatz zur Trauerarbeit das Betrauerte nicht abbaut und auflöst,<br />
son<strong>de</strong>rn in immer erneuter Wie<strong>de</strong>rkehr beschwört.
38<br />
ELVIRE mit ihrem ins Hysterische gehen<strong>de</strong>n reinen Vereinigungswahn und<br />
NICOLO als gierig unmoralischer Hangtäter lösen <strong>de</strong>n Untergang von<br />
PIACHI aus. Es sind ELVIREns symbolische Liebeszustän<strong>de</strong> und die<br />
semantische Täuschung bei <strong>de</strong>r Auslegung <strong>de</strong>s Porträt-Fetichismus<br />
ELVIREs durch NICOLO. ELVIRE scheint entlarvt und moralisch erledigt.<br />
IV 05 Piachis Beschämung<br />
Eines Tages macht PIACHI eine Reise von Rom nach Ragusa, von Rom<br />
ins „Garaus“.„Garaus“ <strong>de</strong>shalb, weil das En<strong>de</strong> dieser Reise und ihrer<br />
Folgen für Piachi das En<strong>de</strong> seiner bürgerlichen und seelischen Existenz<br />
sind. Völlig verarmt, ohne Familie, gesellschaftlich geächtet, rechtlich<br />
vogelfrei, exkommuniziert, wird er nur noch seiner Rache nachgehen bis<br />
in die Hölle und darüber hinaus.<br />
Der Wille zu nicht-en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Rache bei PIACHI erinnert an <strong>Kleist</strong>s<br />
Streben nach nicht-en<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Vervollkommnung über die irdische Existenz<br />
hinaus von Stern zu Stern sich erhebend. Der äußere irdische Tod ist nur<br />
<strong>de</strong>r Schritt zur nächsten Existenz; zum inneren Tod führen<br />
Beschämungen. Die Tatsache <strong>de</strong>r Beschämung zeigt, daß die<br />
vorhan<strong>de</strong>ne Scham falsch ansetzte. Beschämung besagt, daß die<br />
vorhan<strong>de</strong>ne Scham versagt hat, daß sie nicht schützte, wo sie schützen<br />
sollte.<br />
PIACHI war durch seine Erziehung so sicher gewor<strong>de</strong>n, daß er vor<br />
Schamtäuschungen aller Art gefeit schien. Als Han<strong>de</strong>lsmann wird ihm<br />
vom Erzähler fraglose Seriosität bescheinigt. Er sorgt für Frau und Sohn,<br />
wenn er sie im Schutze <strong>de</strong>r Verwandten zurückläßt, ihn vor <strong>de</strong>r Pest durch<br />
Umkehr von <strong>de</strong>r Han<strong>de</strong>lsreise zu bewahren sucht. Daß Letzteres nicht<br />
gelingt, ist vor<strong>de</strong>rgründig nicht Piachi zuzurechnen, hintergründig aber<br />
eben doch, weil PIACHI offenbar <strong>de</strong>m Zufall in seinem Leben nicht die<br />
nötige Aufmerksamkeit und Achtung schenkt. Die Sicherheit seines<br />
Lebensentwurfs, auf die PIACHI, von keinem Zweifel angekränkelt, setzt,<br />
durchkreuzt <strong>de</strong>r Zufall. Lebenssituationen weiß PIACHI aus seiner<br />
existentiellen Substanz heraus normalerweise zu meistern: (a) <strong>de</strong>n Tod
39<br />
seiner ersten Frau, (b) <strong>de</strong>n Tod seines Sohnes PAOLO, (c) die<br />
Überreiztheit seiner zweiten Frau (54:7-10), (d) ihren Mangel an ehelicher<br />
Seelenpflicht und Zuwendung, (e) die Seelenstarr- und fremdheit <strong>de</strong>s<br />
Findlings, (f) seine Bigotterie und seinen unmoralischen Hang zu Weibern<br />
(56:4f), - ja sogar bei <strong>de</strong>r (g) Übergriffigkeit auf ELVIREn „war <strong>de</strong>r Alte<br />
auch geneigt, die Sache still abzumachen“ (65:32f).<br />
Doch immer wie<strong>de</strong>r hakt neuer Zufall nach und erschüttert die Stabilität<br />
PIACHIs Seelenzustan<strong>de</strong>s durch Beschämungen. Beschämt wer<strong>de</strong>n die<br />
täglichen Notwendigkeiten, die ihn leiten. Immer wie<strong>de</strong>r wird<br />
Notwendigkeit durch Zufall hintergangen: PIACHI bricht seine Reise nach<br />
Ragusa ab, als dort zufälligerweise die Pest ausgebrochen ist; zufällig ist<br />
die Begegnung mit <strong>de</strong>m pesterkrankten NICOLO; zufällig sind <strong>de</strong>r Tod<br />
PAOLOs und die Gesundung NICOLOs; zufällig ist die Mitnahme NICOLOs<br />
nach Rom. PIACHIs Entscheidung kommt allerdings aus <strong>de</strong>m gemischten<br />
Charakter von Mitleid und Überlegung. Zufällig fängt PIACHI NICOLOs<br />
Brief an XAVIERA ab. Der Erzähler betont diese Unvorhersehbarkeit durch<br />
einleiten<strong>de</strong> Sätze wie: „Zufällig aber traf es sich, daß...“ (56:20f). „Es traf<br />
sich, daß...“ (61:32).<br />
Die Zufälligkeiten, die ELVIREns und NICOLOs Leben betreffen, wer<strong>de</strong>n<br />
ebenfalls vom Erzähler betont:<br />
PIACHI ist gewohnt, seinen Lebensplan durchzusetzen. Der Lebensplan<br />
ist seine kaufmännische Lebensführung. Eine Scham-Aktivierung wird von<br />
PIACHI nicht mehr gefor<strong>de</strong>rt, da er als aufrechter Kaufmann die<br />
Belastungen übler Lebensführung zwar erfahren haben mag, aber zu<br />
mei<strong>de</strong>n gelernt hat. Sein kaufmännisches Verhalten kennt nur<br />
Notwendigkeiten, die von ihm mit Selbstverständlichkeit verfolgt<br />
wer<strong>de</strong>n. (Monod: Zufall und Notwendigkeit). Zufälliges wird von Piachi im<br />
Rahmen seines Normverhaltens bewältigt. Da aber <strong>de</strong>r Zufall häufig und<br />
immer in kritischen Situationen auftritt, so stellt er die Lebensplanung vor<br />
eine auch für <strong>de</strong>n starken PIACHI schließlich nicht zu bewältigen<strong>de</strong><br />
Anstrengung. Bei Piachi kommt es durch die Zufälle immer mehr zum
40<br />
„Garaus“. Es ist erreicht, als er sein ganzes kaufmännisches Eigentum und<br />
seinen gesellschaftlichen Einfluß verloren hat. Der Zufall hat je<strong>de</strong><br />
Selbstverständlichkeit genommen. PIACHI läßt mit <strong>de</strong>r Gewißheit <strong>de</strong>s<br />
„Garaus“ einen To<strong>de</strong>splan als Rächer in Kraft treten. Er kann wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n<br />
Notwendigkeiten <strong>de</strong>s Rachevollzugs folgen. PIACHI verfolgt NICOLO bis in<br />
die letzte Hölle.<br />
Vom fremdbestimmen<strong>de</strong>n Schicksal hin zur selbstbestimmten Planung<br />
geht die Lebenslinie PIACHIs.<br />
Auch NICOLO vermutet (hierin PIACHI gleich) Planvolles, nämlich<br />
ELVIREs absichtsvolles Anagramm: „Die Übereinstimmung, die sich<br />
zwischen bei<strong>de</strong>n Wörtern angeordnet fand [Colino >< Nicolo, Ks], schien<br />
ihm mehr als bloßer Zufall“ (62:18-20). Genau gesehen, ist das<br />
Anagramm eine Erzählstrategie <strong>de</strong>s Erzählers; aus <strong>de</strong>r Sichts Elvirens und<br />
Nicolos müßte die Übereinstimmung nur als bloßer Zufall verstan<strong>de</strong>n<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
IV 06 Nicolos Schamlosigkeit<br />
Zunächst zwar mil<strong>de</strong>rt Mitleid mit <strong>de</strong>m Zustand NICOLOs und christlichbürgerliche<br />
Betrachtungart sowohl PIACHI als auch <strong>de</strong>n Leser, „<strong>de</strong>n<br />
Jungen weit von sich zu schleu<strong>de</strong>rn“ (49:30f), aber von Beginn an spürt<br />
man eine Erzählhaltung, die wenig Sympathien für NICOLO ahnen und<br />
aufkommen läßt. Als nämlich PIACHI wie auch <strong>de</strong>r Leser einen genaueren<br />
Blick auf <strong>de</strong>n Findling werfen, spüren sie eine beunruhigen<strong>de</strong> Starrheit und<br />
eine mangeln<strong>de</strong> Geprächsbereitschaft bei NICOLO, die durch die Art und<br />
Weise seines Nüsseknackens (51:10-13) zu<strong>de</strong>m in Züge von kalter<br />
Gleichgültigkeit und vielleicht sogar Rücksichtslosigkeit übergehen.<br />
Angesichts dieses Verhaltens schließt man bei <strong>de</strong>m „heftigen Schluchzen“<br />
(50:26) NICOLOs auf vorteilsuchen<strong>de</strong> Krokodilstränen.<br />
Auch vor ELVIRE erscheint NICOLO „fremd und steif“ (51:19). Doch<br />
sowohl PIACHI als auch ELVIRE sehen über diese Verhaltens-Symptome
41<br />
hinweg, zumal sich NICOLO <strong>de</strong>n Erziehungsfor<strong>de</strong>rungen allgemein beugt<br />
und geschäftliche Talente zeigt.<br />
Bei <strong>de</strong>r Entfaltung seiner personalen Erscheinung wer<strong>de</strong>n aber auch zwei<br />
charakterliche Züge sichtbar, die allen Erziehungsbemühungen trotzen<br />
und die PIACHI und ELVIRE entsprechend beunruhigen sowie <strong>de</strong>n normal<br />
sozialisierten und moralisierten Leser moralisch provozieren. Diese<br />
Charakterzüge wer<strong>de</strong>n von „auf Fortschritt ausgerichteten“ Lesern<br />
allerdings auch als rebellische Individuation (Blamberger:291) verstan<strong>de</strong>n.<br />
Nicolo neigt nämlich zu Bigotterie um seiner persönlichen Vorteile wegen.<br />
Die ihrem öffentlichen Bild nach in Armut leben<strong>de</strong>n Mönche, bei <strong>de</strong>nen<br />
sich NICOLO sehr häufig aufhält, frönen nämlich ein äußerst materielles<br />
und libertines Leben, das <strong>de</strong>m „sich regen<strong>de</strong>n Hang für das weibliche<br />
Geschlecht“ (52:5f) entgegenkommt und das (nicht „aufgeklärt“ und<br />
„weltoffen“ ist, son<strong>de</strong>rn) eher kriminelle Züge aufweist. Mit<br />
beschwichtigen<strong>de</strong>m Verhalten weiß NICOLO diese Entwicklungszüge zu<br />
verschleiern, so daß Piachi und schließlich auch ELVIRE die<br />
Unvorsichtigkeit begehen, ihrem Findling nahezu absolute<br />
Verfügungsgewalt über die familiären Angelegenheiten zu überschreiben.<br />
NICOLOs Stiefeltern stellen sich gera<strong>de</strong>zu blind gegenüber <strong>de</strong>r Gefahr, die<br />
vom Verhalten NICOLOs ausgeht. Daß es sie irgendwann ernsthaft<br />
beschämen könnte, sehen sie nicht o<strong>de</strong>r wollen sie solange nicht<br />
glauben, bis sie es spüren müssen. Die bei<strong>de</strong>n familienfeindlichen<br />
Eigentümlichkeiten Nicolos weiten sich nämlich <strong>de</strong>rartig aus, daß sich bei<br />
Nicolo keine Scham mehr einstellt und die andauern<strong>de</strong> Schamlosigkeit ihm<br />
jeglichen Skrupel nimmt.<br />
NICOLO ohne Reue<br />
Zeigte NICOLO Reue, gäbe das <strong>de</strong>r Geschichte eine Wen<strong>de</strong>, die <strong>de</strong>n Sinn<br />
<strong>de</strong>s Erzählten aufheben wür<strong>de</strong>. Zurücknahme <strong>de</strong>ssen, was vorgefallen ist,<br />
„Wie<strong>de</strong>r-gut-machung“ liegt nicht im Lebensanlage NICOLOs.<br />
Er holt sich, was seine hedonistische Empfindungsweise for<strong>de</strong>rt. Man gibt<br />
es ihm, o<strong>de</strong>r erholt es sich in vergewaltigen<strong>de</strong>r Manier. Denn alles<br />
hedonistisch Ausgeschaute ist ihm notwendig, unterliegt niemals <strong>de</strong>r
42<br />
Möglichkeit und ist schon gar nicht verzichtbar. NICOLO nimmt, was er<br />
will, „zwischen die Zähne“ und „knackt“ es „auf“.<br />
NICOLO als Hangtäter<br />
NICOLOS Hangtäterschaft entspringt folgen<strong>de</strong>m Verhalten und<br />
Verfahren, Zeichen bzw. Anzeichen, nach algebraischem Muster berechnet<br />
und syntagmatisiert (Kalkül), dabei wird auf begriffliche und anschauliche<br />
Vorstellungen zu referiert. Das steigert sich und hat <strong>de</strong>rartige psychische<br />
Folgen, daß er sie nur in rücksichtsloser Hangbefriedigung ausleben kann.<br />
In <strong>de</strong>r Brust <strong>de</strong>sselben sich regen<strong>de</strong>n Hang für das weibliche Geschlecht<br />
Hier hat NICOLO nun seine Erfahrungen gemacht. PIACHI und ELVIRE<br />
können ihm in Liebesdingen kein Vorbild und keine Korrektur mehr sein.<br />
So ist sein Umgang mit <strong>de</strong>r libertinen Mönchswelt und im Beson<strong>de</strong>rn mit<br />
XAVIERA TARTINI entschei<strong>de</strong>nd für seine Handlungsprägung. Die<br />
Karmelitermönche, Tartini und <strong>de</strong>r sexuelle Hangtäter, <strong>de</strong>r Bischof, haben<br />
NICOLOs Zeichen<strong>de</strong>utungsmöglichkeiten aufs Unmoralische festgelegt.<br />
Das Unmoralische ist ihm das Normale, so daß er empört / entrüstet ist,<br />
als er bei ELVIRE bigottes Täuschungsverhalten festzustellen glaubt.<br />
Er wäre nicht empört, wenn ELVIRE und PIACHI öffentlich unmoralisch<br />
gelebt hätten.<br />
Hang Elvirens zu COLINO, Piachis zu <strong>de</strong>n Reisen.<br />
V Weitere Ästhetische Zugriffe<br />
Im Folgen<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n ausgewählte Zugriffe auf die Novelle skizziert, die<br />
als ästhetisierte Themen zu ausbaubaren Wirkziele wer<strong>de</strong>n können.<br />
Weitere Wirkziele sollten rezipienten- und interessenbezogen gefun<strong>de</strong>n<br />
und erfun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. Dabei sollten die Themen in <strong>de</strong>r Novelle eine<br />
<strong>de</strong>utliche Konsistenz zeigen.<br />
V 01 Ästhetik <strong>de</strong>s Tausches<br />
Konsistenz zeigt beispielsweise das Thema „Tausch“. Sie könnte von<br />
Rezipeienten bevorzugt wer<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nen „ENT-Täschung“ als „En<strong>de</strong>“ einer<br />
Täuschung reizvoll ist.<br />
Die Präfigierung wird substituiert:
43<br />
Tauschen<br />
(1) Elvire tauscht Paolo mit Nicolo.<br />
AUS-Tauschen:<br />
(1) Piachi tauscht seine Ehefrau gegen seine zweite Frau Elvire aus.<br />
Seine erste Frau ist gestorben.<br />
(2) Piachi tauscht seinen Sohn Paolo gegen <strong>de</strong>n Findling aus. Paolo<br />
ist gestorben.<br />
(3) ELvire tauscht Colino gegen Piachi aus. Colino ist gestorben.<br />
(4) Xaviera tauscht die Liebhaber aus. Nicolo gegen <strong>de</strong>n Bischof <strong>de</strong>r<br />
Karmeliter.<br />
(5) Paolo tauscht seine Eltern gegen seine Adoptiveltern aus. Seine<br />
Eltern sind gestorben.<br />
(6) Vater-Mutter-Kind wer<strong>de</strong>n ausgetauscht: Ehefrau-Elvira; Paolo-<br />
Nicolo; Piachi (Vater)-Piachi (Adoptivvater).<br />
EIN-Tauschen<br />
(1) Elvire tauscht <strong>de</strong>n gestorbenen Colino für ein lebensgroßes Bild<br />
von Colino ein.<br />
VER-Tauschen<br />
(1) Piachi vertauscht bei <strong>de</strong>r Beerdigung Xaviera und Constanza.<br />
(2) Nicolo vertauscht sich selbst mit Colino.<br />
Tausch <strong>de</strong>r Schauplätze<br />
Die Stadt Rom wird mit Ragusa getauscht<br />
Tausch <strong>de</strong>r Werte<br />
Reichtum und Zugewinn zu Armut und Verlust<br />
Was mit Tausch beginnt, wird zunehmend Täuschung<br />
>In welcher Beziehung stehen Tauschen und Täuschen?<br />
>Was bringt das Tauschen an Zugewinn und an Verlust?<br />
Die Opposition und Differenz <strong>de</strong>r Präfixe ist auf Wirkung hin abzuhören.<br />
V 02 Ästhetik <strong>de</strong>r Täuschung
44<br />
Bei einem nachgewiesenen Han<strong>de</strong>lsmann bestimmen „Tausch“ und<br />
„Gewinn“ und „Verzicht“ in Gradlinigkeit das normale Verhalten.<br />
Ein Han<strong>de</strong>lsmann, <strong>de</strong>n man so nennen kann, kennt kein intimes<br />
Begehren. Er verliert nicht <strong>de</strong>n Verstand aus Begier<strong>de</strong>. Er rechnet, ob<br />
etwas aufgeht o<strong>de</strong>r nicht in unaufgeregter Gradlinigkeit. Das ist<br />
PIACHIs Lebensform.<br />
Wird sein unangestrengtes Freisein von Begier<strong>de</strong> allerdings zur<br />
prinzipienhaften Überzeugung, kann die überraschen<strong>de</strong> Erfahrung <strong>de</strong>s<br />
Getäuschtseins zu bösartiger Verstan<strong>de</strong>sschärfung führen. ENTtäuschung<br />
(!) be<strong>de</strong>utet das En<strong>de</strong> einer Täuschung, die nicht geahnt<br />
wur<strong>de</strong>. Die einsetzen<strong>de</strong> Verstan<strong>de</strong>sschärfe kann sich wie bei PIACHI<br />
unheilvoll auf Rache einrichten und einengen. Hin<strong>de</strong>rt ihn dann nicht<br />
christliche Barmherzigkeit, ist alles verloren. Da PIACHI von allgemeiner<br />
Menschenliebe bestimmt ist, (zu <strong>de</strong>r christliche Barmherzigkeit nicht<br />
gehört), nimmt bei Beleidigung durch Täuschung entsprechen<strong>de</strong> Rache<br />
ihren Lauf. Diese Rache ist nicht aufhaltbar. PIACHIs Weg in die Hölle<br />
steht bevor, <strong>de</strong>nn in seiner Seele zählt allein das Bewahren <strong>de</strong>r<br />
Racheempfindung.<br />
Säkulare Humanität ist nur begrenzt belastbar; sie fin<strong>de</strong>t bei<br />
Überfor<strong>de</strong>rung ihr abruptes En<strong>de</strong>, schlägt um ins Gegenteil. Enttäuschter<br />
Humanismus sucht die Hölle als neue Grundlage. (Christlicher<br />
Humanismus, besser: Christentum, ist nicht enttäuschbar.)<br />
Bei <strong>de</strong>m unnachweisbaren FINDLING ist das Verhalten nicht von Tausch<br />
und Offenheit wie beim nachweisbaren Han<strong>de</strong>lsmann bestimmt, son<strong>de</strong>rn<br />
unreflektiert gelenkt von Täuschung und Infamie. Diese bil<strong>de</strong>n ein<br />
unverän<strong>de</strong>rbares Zwischen bei allen Beziehungen NICOLOs, auf die sich<br />
seine Begier<strong>de</strong> richtet.<br />
Die Grenzerfahrung löst Begehren aus.<br />
V 03 Ästhetik <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong> und <strong>de</strong>s Begehrens
45<br />
Dem FINDLING NICOLO ist durch <strong>de</strong>n Verlust seiner Angestammtheit<br />
Begier<strong>de</strong> eingewachsen. Begier<strong>de</strong> treibt, peitscht voran und kann sich<br />
nicht auf gera<strong>de</strong> Wege beschränken. Bei NICOLO ist das Verhalten nicht<br />
von Tausch und Offenheit wie beim ehrbaren Han<strong>de</strong>lsmann PIACHI<br />
bestimmt, son<strong>de</strong>rn das Verhalten ist unreflektiert, gelenkt von Täuschung<br />
und Infamie. Diese bil<strong>de</strong>n ein unverän<strong>de</strong>rbares „Zwischen“ (Hei<strong>de</strong>gger)<br />
bei allen Beziehungen NICOLOs. Dieses „Zwischen“ erzwingt bei NICOLO<br />
einen oktroyieren<strong>de</strong>n Bezug zu ELVIRE. Die nie<strong>de</strong>re Annahme, daß ELVIRE<br />
hierin unausweichlich ihm gleich gesinnt sein wer<strong>de</strong>, treibt ihn an.<br />
Die Begier<strong>de</strong> NICOLOs richtet sich auf ein bei ELVIRE vermutetes und<br />
tatsächlich bestehen<strong>de</strong>s Begehren; NICOLO ahnt und will es herauslocken.<br />
NICOLO ist dazu angereizt, da ELVIRE aus ihrer Seelenstimmung ein<br />
Geheimnis zu machen pflegt. Ein-Geheimnis-machen von etwas birgt auch<br />
etwas an<strong>de</strong>res: Das ist ELVIREs Begehren: COLINO, sie „ent-schämt“ sich<br />
für ihn in ihrem Zimmer. Da diese Hingabe angesichts <strong>de</strong>s Portraits von<br />
COLINO geschieht, muß man von einen Erinnerungsfetichismus<br />
sprechen. Das ist, tiefenpsychologisch argumentiert, ein nicht bewältigter<br />
Verlust und damit ein Zustand mit suchtartigem Charakter. Echte<br />
Trauerarbeit hätte <strong>de</strong>n Verlust „getötet“ und zur Normalität <strong>de</strong>s<br />
Empfin<strong>de</strong>ns übergehen lassen. Unter Normalität versteht man die<br />
pschische Unauffälligkeit in einer gesellschaftlichen Gruppierung.<br />
ELVIRE ist in ihrem Verhalten durchaus psychisch labil. Diese Labilität<br />
spürt COLINO und verfällt sofort darein, sie seinem Interesse gemäß<br />
einzuschätzen. Dabei sucht er <strong>de</strong>n Triumph <strong>de</strong>r Herabwürdigung. Das<br />
Böse in ihm ist <strong>de</strong>r Moralneid.<br />
NICOLOs Ver<strong>de</strong>rbtheit bewegt sich auf <strong>de</strong>m Niveau <strong>de</strong>r pejorisieren<strong>de</strong>n<br />
Vermischung von Begehren und Begier<strong>de</strong>. Die Dunklen gehören sich<br />
selbst: NICOLO sucht eine solche Vereinigung bei ELVIRE. Seine Bigotterie<br />
ermöglicht und verstärkt die Hinterhältigkeit <strong>de</strong>s Vorgehens.
46<br />
Das Begehren NICOLOs wird ausgelöst durch das „Zwischen“ <strong>de</strong>r<br />
Beziehung. Dieses Zwischen ist das Dasein und gleichzeitige Nicht-Dasein.<br />
(M.Schuller). Das „Zwischen“ Zeigt sich im Tun und gleichzeitgen Nicht-<br />
Tun: Von Scham, jener instinktiven Vorsicht in gefähr<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Situationen<br />
geschützt, betritt (beispielsweise) ELVIRE das Zimmer NICOLOs. Als sie<br />
die komprommittieren<strong>de</strong> Situation durchschaut, verschließt sie die Augen,<br />
kehrte sich...und verließ das Zimmer.<br />
Der Drang zur Durchbrechung von Scham ist ein infames Begehren.<br />
Scham hebt sich bei Vertrauen auf ins Nicht-mehr-Vorhan<strong>de</strong>nsein. Bei<br />
ELVIRE, da sie NICOLOs Lebenswan<strong>de</strong>l mit ansehen muß, verstärkt sie<br />
sich zu einem aufreizen<strong>de</strong>n „Zwischen“, das ELVIRE in ihren Reaktionen<br />
schwächen wird.<br />
Das Ausgesetzt-sein und das Lei<strong>de</strong>n CONSTANZAs, <strong>de</strong>r Nichte ELVIREns<br />
und NICOLOs Ehefrau, verstärkt zu<strong>de</strong>m die allgemeine Distanzierung von<br />
NICOLO. Nur <strong>de</strong>r allgemeine Familienbezug,die Schonung PIACHIs<br />
familierer Ehre und sicherlich auch das eigene Geheimnis ELVIRENs lassen<br />
offene Entrüstung gegenüber NICOLO nicht aufkommen. Diese<br />
Zurückhaltung macht NICOLO wie<strong>de</strong>rum dreister bei <strong>de</strong>r Annäherung. Bei<br />
NICOLOs „Drang zu Weibern“ ist die ELVIREns Unnahbarkeit, für NICOLO<br />
das gegenteilige Verhalten zu XAVIERA, eine aufreizen<strong>de</strong> Herausfor<strong>de</strong>rung<br />
und läßt ihn in besessene Schritten verfallen.<br />
Das Nicht-festhalten-können <strong>de</strong>r Gelegenheit schürt bösartiges Begehren.<br />
ELVIRE das Zimmer...öffnete und wie<strong>de</strong>r schloß<br />
Der Drang, Verfügungsgewalt an sich zu reißen, ist infames Begehren.<br />
Infames Begehren ergibt sich aus <strong>de</strong>m Drang, ein Gefälle werthaltigen<br />
Verhaltens zum Nie<strong>de</strong>ren hin abzubauen. Es ist die Genugtuung <strong>de</strong>r<br />
Erniedrigung. Erniedrigung betreibt NICOLO zur eigenen Rechtfertigung.<br />
Zum Begehren in <strong>de</strong>r Gesellschaft gehört die Bloßstellung.<br />
„Bloßstellen“.geschieht durch Erniedrigung. Das Bloßstellen <strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren
47<br />
ist nicht nur ein Anliegen öffentlicher Menschen (Politiker), um einen<br />
Machtwechsel einzuleiten; es ist ein Trieb innerhalb <strong>de</strong>r Zivilgesellschaft,<br />
die Privatsphäre Teilnehmer als verlogen und unmoralisch nachzuweisen.<br />
In Gemeinschaften ist dieser Trieb noch ausgeprägter als bei liberalem<br />
Rechtsempfin<strong>de</strong>n.<br />
Begehrensauslöser sind:<br />
Schlüsselbesitz / kein Schlüsselbesitz<br />
Öffnen / Schließen<br />
Auftauchen / Verschwin<strong>de</strong>n / Wie<strong>de</strong>rkehr<br />
Aufschlagen <strong>de</strong>r Augen / Zuschlagen <strong>de</strong>r Augen<br />
Anwesenheit / Abwesenheit<br />
NICOLO hat seine Triebfe<strong>de</strong>rn in Vortäuschung (Bigotterie), Begehren, das<br />
zur Gier (Hang zur Lust) wird. kommt von : <strong>de</strong>n<br />
beurteilen<strong>de</strong>n Verstand verlieren. Bei NICOLO wird bei <strong>de</strong>r Beobachtung<br />
<strong>de</strong>s „Zwischen“ von Scham und Nicht-Scham „Begehren“ ausgelöst:<br />
ELVIRE schlug bei diesem Anblick die Augen nie<strong>de</strong>r... .<br />
V 04 Ästhetik antriebsunmittelbare Handlungen<br />
Betrachtet man die „Handlungen im Aspekt <strong>de</strong>s seelischen Aufbaus“<br />
(Philipp Lersch 1966: 481), so trifft für PIACHI und NICOLO, sicher auch<br />
für ELVIRE als kommunikative Handlung die antriebsunmittelbare<br />
Handlung zu.<br />
Was bei ELVIRE kausal erklärbarer Antrieb ist, ist bei PIACHI und<br />
NICOLO konventionalisierter Antrieb. Bei<strong>de</strong> Antriebsarten sind<br />
unmittelbar. PIACHI hat eine moralische Sozialisation bekommen, die<br />
kaufmännischem Pragmatismus entspricht. Es ist <strong>de</strong>r Pragmatismus <strong>de</strong>s<br />
Vorteils durch Tausch. NICOLO hat eine moralische Sozialisation, die<br />
hedonistischem Pragmatismus entspricht. Es ist ein Pragmatismus <strong>de</strong>s<br />
Vorteils durch Täuschung.<br />
Bei<strong>de</strong>r Verhalten ist reflexionsarm erziehungsgeprägt. Bei gleicher<br />
Sozialisierungsumgebung (kaufmännische Ausbildung) entschei<strong>de</strong>t die
48<br />
genetische Ausstattung. PIACHI ist aufrecht und verläßlich; NICOLO hat<br />
<strong>de</strong>n Hang zum unsakramentalen Ausleben <strong>de</strong>r Bedürfnisse. Die<br />
sogenannten Glück-Wunsch-Ethiken gehen heute diesem Potential nach<br />
(Ulla Wessels 2011). PIACHIs Verhalten und Han<strong>de</strong>ln ist von <strong>de</strong>r<br />
Selbstverständlichkeit konventionalisierter Pflichtmoral geebnet. Als sich<br />
die Selbstverständlichkeit dieser Bürger-Moral gegenüber NICOLOS<br />
militantem, glücksegotistischem Utilitarismus als schwach erweist und<br />
NICOLOs Übergriffe zu To<strong>de</strong> beleidigend und subjektzerstörend wirken,<br />
bleibt PIACHI nur noch die uneingeschränkte, unmittelbare Rache. Die<br />
skrupellose Beleidigung <strong>de</strong>s Moralisch-Anständigen ist unverzeihbar,<br />
psychisch unausgleichbar und nicht verhan<strong>de</strong>lbar. PIACHI ist <strong>de</strong>shalb auf<br />
<strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r nicht-überbietbaren Rache gezwungen. Das<br />
schlimmstmögliche En<strong>de</strong> ist das einzige, was ihm bleibt. Für die Novelle<br />
als Gattung ist das ebenfalls Prinzip.<br />
Ist nach Ph. Lersch noch die Verknüpfung von Einsicht und Verhalten<br />
<strong>de</strong>nkbar, die Willenshandlungen zuläßt, so wird man das heute weit<br />
zögerlich einräumen. Es wird heute mit <strong>de</strong>m En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Annahme von<br />
erzielbarer und anerziehbarer Subjektsi<strong>de</strong>ntität vielmehr die Bün<strong>de</strong>lung<br />
von Ich-Vorstellungen erwogen, die kontingent sind. Das mo<strong>de</strong>rne Ich ist<br />
nicht essentielle Substanz , son<strong>de</strong>rn eine Schwarmvereinigung von ichintendieren<strong>de</strong>n<br />
Merkmalen in jeweiligen Entscheidungs-Situationen.<br />
V 05 Ästhetik <strong>de</strong>r Ansteckung<br />
PIACHI „pflegte gewöhnlich Bestimmtes zu tun“. Selbstverständlich ist ihm<br />
die Trennung von seiner Familie zwecks Handlungsreise. Eine solche Reise<br />
ist bedacht und verläuft und bewältigt sich nach Erfahrung. Die<br />
Überwindung von Hin<strong>de</strong>rnissen aller Art ist Normalität. Diese<br />
selbstverständliche Überwindung von Hin<strong>de</strong>rnissen wird allerdings gestört,<br />
wenn eine belasten<strong>de</strong>, sogar unheilvolle Ansteckung die Kräfte <strong>de</strong>s<br />
Normalen schwächt.<br />
Den gefestigten PIACHI kann nur eine unerwartete, von ihm nicht sofort<br />
bemerkte An<strong>de</strong>rsheit von <strong>de</strong>r Normalität von Krisenbewältigung
49<br />
abbringen. Die Aufnahme von NICOLO in seine Famile ist solch eine nicht<br />
bemerkte Ansteckung mit <strong>de</strong>m Bösen o<strong>de</strong>r - mil<strong>de</strong>r gesagt - mit <strong>de</strong>m<br />
Verhängnisvollen:<br />
Er liest NICOLO von <strong>de</strong>r Straße auf.<br />
Was harmlos beginnt, wird sich zum „Garaus“ auswachsen.<br />
Der Moment <strong>de</strong>r Ansteckung ergibt sich durch eine an sich „normale“<br />
Reaktion auf die Bitte eines Flehen<strong>de</strong>n. PIACHI ist nicht gewohnt, eine<br />
humanitäre Bitte zu versagen. Er ist seiner Entscheidung, NICOLO in<br />
seinen Wagen aufzunehmen, so reflexionslos sicher, daß er je<strong>de</strong>n<br />
Warnhinweis mißachtet. Ansteckung erfolgt zumeist in Momenten <strong>de</strong>r<br />
Sorglosigkeit, <strong>de</strong>r Unbedachtheit, <strong>de</strong>r zur Unaufmerksamkeit verführen<strong>de</strong>n<br />
Normalität, also zu einem Zeitpunkt, wo sie unerwartet ist und nichts<br />
mehr warnen kann.<br />
Obwohl PIACHI bewußt genug ist, nicht zu wissen, was er mit NICOLO<br />
anfangen soll, bleibt er langfristig unbedacht in seinem Han<strong>de</strong>ln. Die<br />
moralische Selbstverständlichkeit seines Tuns verführt ihn. Für ihn ist<br />
selbstverständlich, einem Flehen<strong>de</strong>n Hilfe zu gewähren. Diese moralische<br />
Sozialisation ist so ausgeprägt, daß ihm keine Be<strong>de</strong>nken kommen. Die<br />
Gewohnheit, <strong>de</strong>n Bitten Bitten<strong>de</strong>r zu entsprechen, ist so<br />
selbstverständlich, daß er NICOLO auch ein zweites Mal (nach <strong>de</strong>m<br />
Klinikaufenthalt) mitnimmt.<br />
Zu diesem Zeitpunkt ist die „Ansteckung“ aber schon vollzogen. Es<br />
besteht noch eine längere Weile Latenzzeit, bis unübersehbar „die<br />
Krankheit zum To<strong>de</strong> einsetzt“. Der Vernichtungsprozeß hat seinen Lauf<br />
begonnen. Anfangs sind die Symptome so harmlos, daß niemand etwas<br />
ahnt. Die moralische Sozialisation und die Erfahrung <strong>de</strong>r Selbstregelung<br />
aller Krisen ist so ausgeprägt, daß nichts vermutet, schon gar nicht<br />
gewußt wird. Es ist bereits die Verstörung <strong>de</strong>s Gewohnten eingeleitet, die<br />
Störung <strong>de</strong>s Normalen nimmt ihren Lauf, eskaladiert (=nimmt alle<br />
Hin<strong>de</strong>rnisse <strong>de</strong>r Abwehr) bis zur Katastrophe. Der i<strong>de</strong>ale Leser ist<br />
<strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r erfahren hat, daß eine kleine Ursache ungeheure Folgen
50<br />
haben kann, und die Unbemerkbarkeit sich anbahnen<strong>de</strong>r Katastrophen als<br />
Horror Vacui fürchtet.<br />
V 06 Ästhetik <strong>de</strong>s Verlust<br />
Je<strong>de</strong>r kennt „Verlust“ als praktische Erfahrung. Die Ästhetik <strong>de</strong>s Verlusts<br />
ist eine ästhetische Wahrnehmung von empirischem Verlust. Ästhetische<br />
Wahrnehmung und empirische Wahrnehmung unterschei<strong>de</strong>n sich<br />
grundsätzlich.<br />
Ästhetische Wahrnehmung geschieht „aus <strong>de</strong>m Lehnstuhl“, d.i.: Sie trifft<br />
<strong>de</strong>n Wahrnehmen<strong>de</strong>n nicht existentiell. Existentielles Betroffensein besteht<br />
in <strong>de</strong>r Unmittelbarkeit (Kausalität) und <strong>de</strong>s Eibezogen-Seins in ein<br />
Geschehens; ästhetische Betroffenheit bleibt eine zur Wahrnehmung<br />
aufbereitete Als-ob-Erfahrung. Das hat Wirkungssunterschie<strong>de</strong> zur Folge.<br />
Die differenter Parallelität ist das Erkenntnisproblem.<br />
Es kann auch nicht sein, daß die reale Erfahrung eines Verlusts<br />
Voraussetzung <strong>de</strong>r Wahrnehmung eines ästhetischen Verlusts ist. Kunst<br />
ist unabhängig von einer realen Vorlage, was aber nicht heißt, daß sie sich<br />
keiner realen Vorlage bedienen dürfte. Geriete ein Kunstwerk in<br />
Abhängigkeit zu dieser realen Vorlage, könnte man ihm keine<br />
künstlerische Qualität mehr zusprechen.<br />
Die Parallelität bei<strong>de</strong>r Wahrnehmungen von Verlust besteht in einer<br />
„Bedrücktheit“, die sich auf die Vitalität auswirkt. Worin unterschei<strong>de</strong>t sich<br />
aber ästhetische Bedrücktheit und Erfahrungs-Bedrücktheit? Erfahrungs-<br />
Bedrücktheit wird zu einer Verhaltensbedingung führen, die bei je<strong>de</strong>r<br />
empirischen Handlung berücksichtigt sein will. Sie führt zur<br />
Verhaltensnorm. Ästhetische Bedrücktheit dagegen entwickelt eine<br />
intellektuale Lebensform, eine Grun<strong>de</strong>instellung, die krisenhafte Existenz<br />
zur Grundannahme macht und sich entsprechend wappnet.<br />
V 07 Undine
51<br />
ELVIRE ist ein Findling an<strong>de</strong>rer Art. Zwar sind Eltern und Wohnhaus<br />
bekannt, aber es scheint doch, als sei sie ganz an<strong>de</strong>ren Ursprungs. Ihre<br />
kulturelle Weiblichkeit (gen<strong>de</strong>r) hat <strong>de</strong>n Charakter einer Nymphe. Sie<br />
verliebt sich beim Brand <strong>de</strong>s Hauses in ihren menschlichen Retter und<br />
muß schließlich daran sterben, - da ihr als Nymphe „auf Er<strong>de</strong>n nicht zu<br />
helfen war“. (Kraß:85; er erwähnt die Verbindung ELVIREns zum Undine-<br />
Thema nicht).<br />
Ob die erzählte Figur „ELVIRE“ zum Undine-Thema gehört, ist eine<br />
Entscheidung, die von <strong>de</strong>r Einstellung <strong>de</strong>s Lesers zum Text abhängt. Wer<br />
die reziproke Beziehung zwischen Aufklärung und Romantik in ihrer<br />
Wirkung schätzt, wird seine subjektiven (persönlichen) Gedanken in diese<br />
Richtung gehen lassen. Die Hinweise im Kotext sind zwar spärlich, aber<br />
<strong>de</strong>r Kontext führt zu thematischer Annäherung: 1811 schreibt Fouqué<br />
seine „Undine“. <strong>Kleist</strong> ist mit ihm in Kontakt. 1811 veröffentlicht <strong>Kleist</strong> in<br />
<strong>de</strong>n „Berliner Abendblättern“ seinen Bericht über „Wassermänner und<br />
Sirenen“. 1811 ziehen sich Henriette Vogel und <strong>Kleist</strong> gegenseitig in <strong>de</strong>n<br />
Tod am Wasser.<br />
ELVIRE „bewohnte ein Haus, das [...] hart an <strong>de</strong>n [...] Rand <strong>de</strong>s Meeres<br />
stieß“ (52:35-37). „Balken [...] liefen, mehrere Ellen weit, über die See<br />
hinaus“ (53:1-3). Als das Haus abbrennt, steht sie auf einem <strong>de</strong>r Balken,<br />
kann sich nur in „die weite, ö<strong>de</strong>, entsetzliche See“ (53:14) retten. Als sie<br />
sich scheut, kommt <strong>de</strong>r Genueser, umfaßt sie und läßt sich mit ihr in die<br />
See (53:22) hinab.<br />
Das „brennen<strong>de</strong> Haus“ ist eine Mehrfach-Allegorie: sie steht für die<br />
Liebesbegegnung mit COLINO; sie steht für <strong>de</strong>n Verlust COLINOs; sie<br />
steht für die Beschämung durch NICOLOs Auf<strong>de</strong>ckung von ELVIREns<br />
Schamgeheimnis. PIACHI kann manches verhüten und mil<strong>de</strong>rn; schließlich<br />
aber wird ELVIRE an ihrem Undine-Schicksal sterben.<br />
SCHLUßBEMERKUNG<br />
Beson<strong>de</strong>res Anliegen dieses Essays ist die ästhetische Entscheidung, <strong>de</strong>n<br />
Konsumenten abzuschaffen, <strong>de</strong>n Rezipienten als jeman<strong>de</strong>n zu betrachten,
52<br />
<strong>de</strong>r durch eine anspruchsvolle Wahrnehmung in <strong>de</strong>r Art einer Coproduktion“<br />
(Detel) das literarische Artefakts zum Kunstwerk „vollen<strong>de</strong>t“.<br />
Der „produzieren<strong>de</strong> Rezipient“ wird in perspektivischer Einseitigkeit die<br />
Wirkung <strong>de</strong>s Artefakts herausstellen, die bei ihm höchste Wirkung erzielt.<br />
Von einer kompletten Verstehensleistung im Sinne einer essentiellen<br />
Interpretation ist also nicht mehr die Re<strong>de</strong>. Auch das vom Autor Gewollte<br />
wird vom Co-produzenten nicht i<strong>de</strong>ntifizierend nachempfun<strong>de</strong>n. Der Autor<br />
selbst wird seinem Artefakt nach einiger Zeit fremd gegenüberstehen und<br />
beim Artefakt, gemäß einem Coproduzenten, neue Relationen ent<strong>de</strong>cken,<br />
die zu wirkungsträchtigen Augenblicks<strong>de</strong>utungen anregen.<br />
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