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Liebhaber ohne festen Wohnsitz

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Vizepräsident Dr. Thies Gundlach<br />

Kirchenamt der EKD, Leiter der Hauptabteilung „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“<br />

„<strong>Liebhaber</strong> <strong>ohne</strong> <strong>festen</strong> <strong>Wohnsitz</strong>“ -<br />

Situative Gemeinden als zukünftige Grundform der Verkündigung?<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

der Titel meines Vortrages „<strong>Liebhaber</strong> <strong>ohne</strong> <strong>festen</strong> <strong>Wohnsitz</strong>“ ist geklaut; es ist der<br />

Titel eines Kriminalromans vom April 2010 des Autorenduos Carlo Fruttero und<br />

Franco Lucentini. Beide Autoren sagen von sich, dass sie genau die Krimis<br />

schreiben, die sie selbst gerne lesen würden. Diesen Gedanken mache ich mir zu<br />

Eigen: Ich spreche jetzt über genau die Kirche, die ich gerne erleben würde. Dabei<br />

gehe ich davon aus, dass auch in der reformierten Schweiz der reformatorische<br />

Grundsatz gilt, dass Kirche überall dort geschieht, wo „das Evangelium rein gepredigt<br />

und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium recht verwaltet werden“<br />

(Confessio augustana, Artikel 7). Das ist zwar die Formulierung des Artikels 7 aus<br />

der CA, aber dieser Grundgedanke ist auch dem Heidelberger Katechismus<br />

keineswegs fern: In Frage 54 („Was glaubst Du von der heiligen allgemeinen<br />

christlichen Kirche?“) lautet die Antwort: Die Kirche ist die von Gottes Sohn „ durch<br />

seinen Geist und Wort, in Einigkeit des wahren Glaubens von Anbeginn der Welt bis<br />

ans Ende versammelt, schützt und erhält…“, woraus trotz der Prädestinationsklänge<br />

auch deutlich wird, dass es Gottes Wort und Geist ist, der die Kirche ausmacht.<br />

Gott braucht für seine Gegenwart keine definierten Räume und keine etablierten<br />

Zeiten, sein Geist „weht, wann und wo er will“ (CA 5), er ist gebunden an Gottes<br />

Wort, an sein Evangelium, sonst an gar nichts. Gottes Liebe ist gleichsam<br />

„herzunmittelbar“ aufgespannt zwischen Wort und Seele und insofern ist Gott ein<br />

„<strong>Liebhaber</strong> <strong>ohne</strong> <strong>festen</strong> <strong>Wohnsitz</strong>“. Denn auch die Bibel selbst ist – <strong>ohne</strong> dass ich<br />

jetzt in die Tiefen eines hermeneutischen Streites einsteigen will – nur in einem<br />

spezifischen Sinne „Wohnort Gottes“. Der große Theologe Karl Barth hat in seiner<br />

Kirchlichen Dogmatik die Unterscheidung eingeführt, dass man es bei Gottes Wort<br />

mit drei Dimensionen zu tun hat: das verkündigte Wort Gottes, das geschrieben Wort<br />

Gottes und das geoffenbarte Wort Gottes. Die drei Dimensionen sind nicht zu<br />

trennen, aber auch nicht zu identifizieren.<br />

1


These 1: Gott braucht weder feste Orte noch feste Zeiten für seine Gegenwart, - er ist<br />

immer „herzunmittelbar“.<br />

Während der Zukunftswerkstatt von 24. – 26 September 2009 hat es eine Fülle von<br />

sog. „Andachten anders“ gegeben. Die Idee war, an ungewöhnlichen Orten in der<br />

Stadt Kassel Andachten Freitagsmorgen um 9 Uhr zu feiern, um den alten<br />

protestantischen Grundsatz neu zu stärken, dass das Evangelium keine <strong>festen</strong><br />

Orten, keine umbauten Räume und keine etablierten Stationen braucht. Nach<br />

evangelischem Verständnis ist Gottes Gegenwart überall und jederzeit, nämlich da,<br />

wo sein Wort laut wird und zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.<br />

Theoretisch wissen wir das zwar alle, aber praktisch gehen wir selten hinaus in die<br />

Welt, dahin, wo die Menschen tatsächlich von sich aus sind, sondern wir bitten eher<br />

darum, dass sie doch zu uns in die Kirche kommen mögen. Und richtig daran ist,<br />

dass wir diese gestalteten und über Generationen gepflegten Räume nicht<br />

vergleichgültigen wollen. Richtig und nötig ist aber auch, dass wir auch neue Orte für<br />

ein Innehalten vor Gott suchen und etablieren. In Kassel während der<br />

Zukunftswerkstatt gab es einige originelle und anregende Ideen, zum Beispiel wurde<br />

unter der Überschrift „Money, Money, Money“ eine Andacht in der Schalterhalle der<br />

Kirchenbank EKK gefeiert, wo sich plötzlich Kunden und Angestellte der Bank<br />

biblischen Aussagen zum Thema Geld ausgesetzt sahen. Oder unter dem Titel<br />

„Verborgener Tempel des Herrn“ wurde eine Andacht im Sudhaus der Martini-<br />

Brauerei in Kassel – eine Bierbrauerei - mit seinen riesigen Kupferkesseln gefeiert,<br />

eindrücklich allein schon wegen der tempelartigen Wirkung, die von diesen Kesseln<br />

ausgehen. Übrigens wurde die Andacht musikalisch nur von einem Schlagzeuger<br />

begleitet, - auch eine besondere Erfahrung. Der Bischof der evangelischen Kirche in<br />

Kurhessen, Martin Hein, hat unter der Überschrift „Salz der Erde - Licht der Welt“ im<br />

Konferenzsaal der Konzernzentrale des DAX-notierten Unternehmens Kali & Salz<br />

eine Andacht gehalten, wobei die diesjährige Imagebotschaft der Firma K+S "Kraft<br />

aus der Tiefe" aufgenommen und in den Kontext der Bergpredigt gestellt wurde. Das<br />

waren alles ungewohnte Orte, und die Erfahrungen, die mir berichtet wurden, waren<br />

durchweg positiv; allerdings gab es auch Hinweise darauf, dass nicht jeder Ort<br />

gleichermaßen geeignet sei und dass diese Andachten natürlich auch sehr viel<br />

Vorbereitungszeit bräuchten. Andere Orte für Andachten kommen uns vielleicht<br />

vertrauter vor:<br />

2


So gab es während der Zukunftswerkstatt Andachten anders im Kino, weil ja für viele<br />

ein Kinobesuch einen ähnlichen Stellenwert hat wie die Teilnahme an einem<br />

Gottesdienst (es gibt eine Liturgie, eine Epiphanie (des Films in den dunklen Raum,<br />

und eine Sendung ins Leben: die Botschaft des Filmes). Szenen eines Kinofilms<br />

werden mit Elementen christlicher Liturgie und Verkündigung verbunden, um so über<br />

die Bilder einen ganz eigenen Zugang zu einer christlichen Sinngebung des Lebens<br />

zu erschließen. Oder unter der Überschrift „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist<br />

dein Sieg?“ wurde eine Andacht im Museum für Sepulkralkultur angeboten, in der<br />

Zeugnisse eigener und fremder Todeskultur zum Thema gemacht wurden. Es wurde<br />

auch eine Andacht gefeiert vor dem Gemälde „Jakobssegen“ von Rembrandt im<br />

Museum, eine mittlerweile verbreitete und etablierte Form des Dialogs zwischen<br />

Theologie und Kunst. Und unter dem Titel „Spiel mir das Lied vom Leben“ wurde in<br />

einem Theater eine Andacht gefeiert, in dem das Musical "Heartbreak-Hotel"<br />

aufgenommen wurde, ein Stück über Elvis Presley. Mit all diesen Beispielen soll<br />

illustriert werden: Wir können mit unseren Kernauftrag, dem Feiern von<br />

Gottesdiensten, auch weit hinaus in die Welt gehen, die Inkarnation des Wortes<br />

Gottes kann immer wieder neue Orte und Gelegenheiten finden. 1<br />

Eine etwas andere Situation: Seit vielen Jahren wird in fast allen<br />

Hochschulen der Medizin in Deutschland sog. Gedenkfeiern bzw.<br />

Gedenkgottesdienst gefeiert, und zwar am Ende des Semesters mit den Beteiligte<br />

eines IN ihnen wird der sog. Körperspender gedacht, also jener anonym bleibender<br />

Menschen, die freiwillig und unendgeltlich zu Lebzeiten bestimmt haben, das ihr<br />

Körper im Todesfall der medizinischen Fakultät zur Verfügung gestellt werden kann,<br />

um jungen Medizinern einen sog. „Präparierkurs“ zu ermöglichen, also den<br />

Studierenden in die makroskopische Anatomie einzuführen. Diese Präparierkurse<br />

sind eindeutig die stärksten seelischen Erfahrungen der Studierenden, viele sehen<br />

zum ersten Mal einen toten Menschen und müssen diesen dann auch noch öffnen.<br />

Die inneren Belastungen sind erheblich, die Gedenkgottesdienste - so die<br />

Einschätzung zweier Autoren aus dem Deutschen Ärzteblatt - sind Balsam für die<br />

Seele. Sie werden zum überwiegenden Teil ökumenisch durchgeführt, die<br />

Gottesdienste werden in Kapellen gefeiert, andere gehen in den Hörsaal oder in die<br />

Anatomieräume. Die Studierenden beteiligen sich in der Regel hochengagiert, ihre<br />

innere Bewegung ist deutlich zu spüren. Oftmals werden in dieser Feier erstmals die<br />

3


Namen der Körperspender genannt und mit einer Kerzensymbolik vor Gott genannt.<br />

Die christliche Sprache der Psalmen, dem Glauben an den unzerstörbaren und<br />

unverlierbaren Namen bei Gott (vgl. Jes 43) und dem Zeugnis von der Auferstehung<br />

Jesu Christi als Überwindung allen sichtbaren Todes kann kaum einen dichteren<br />

Plausibilisierungsort finden.<br />

Ein letztes Beispiel: Ein Freund von mir ist Pastor auf Sylt. Er hat<br />

eine gut florierende Gemeinde, mit hochengagierten Ehrenamtlichen, vielen<br />

Jugendlichen und einem weitsichtigen Kirchenvorstand. Mein Freund hat eine kleine<br />

Kirche, niedlich und heimelig, sie ist sonntags in der Regel voll besetzt, schon weil es<br />

sehr viele Touristen auf Sylt gibt. Und viele dieser Touristen erleben diese Kirche und<br />

ihren Pastor in einer biographischen Ausnahmesituation, sie haben frei und haben<br />

Ferien, sind entspannt und erfrischt, sie können für eine kurze Zeit auf einer der<br />

schönsten Inseln Deutschlands verweilen, kurzum: Das Leben kann auch schön sein!<br />

In dieser Situation weitet sich oft die Seele hin zur Dankbarkeit, plötzlich fällt einem<br />

ein, dass das gesunde und muntere Kind ja noch gar nicht getauft ist, dass die Ehe<br />

zwar schon 25 Jahre hält und die Trauung doch eigentlich längst fällig ist. So kommt<br />

er zu einer beachtlichen Zahl von Amtshandlungen bei Menschen aus Herne oder<br />

Chemnitz. Unter anderem – und darauf wollte ich hinaus – tauft er Kinder, und zwar<br />

keineswegs nur am Sonntag im Gemeindegottesdienst, sondern auch im Meer. Er<br />

geht mitunter mit der ganzen Taufgemeinde an den Strand, Altar und Kerzen<br />

kommen mit, er trägt eine Albe und tauft die Kinder durch dreimaliges Untertauchen<br />

im Meer. Der Auflauf der Neugieren ist natürlich gewaltig, es bilden sich mitunter<br />

Trauben von Menschen um diese Szene, Johannes der Täufer hätte seine Freude!<br />

Und es gibt immer wieder Menschen, die aufgrund dieses Erlebnisses das Gespräch<br />

mit ihm suchen und in seiner nächsten Andacht auftauchen.<br />

Ein letztes Beispiel: ich habe vor Kurzem den Leiter der Circus- und<br />

Schaustellerseelsorge der EKD in sein Amt eingeführt, auf einem Festplatz in Herne,<br />

in einem riesigen Bierzelt mit Brathähnchengeruch. Das Zelt war voll, keineswegs nur<br />

mit Schaustellern, sondern gefüllt mit Menschen aus den Gemeinden im Umfeld, die<br />

sich über diesen besonderen Gottesdienst freuten. Im Grunde – und damit habe ich<br />

meine Zielthese erreicht – sind wir alle Touristen, also Menschen, die punktuell und<br />

situativ besondere Gottesdienste und Andachten miterleben möchten und können.<br />

4


Und wer über die spirituelle Dimension solcher Arbeit nachdenkt, der denkt über den<br />

Typus Flaneur, den zufälligen Besucher, den `Gelegenheits-Mitbeter´ nach, - und das<br />

sind auch immer mal wieder wir alle.<br />

These 2: Die Orte und Zeiten, an denen sich Gottes Gegenwart in unserer modernen<br />

Welt ereignet, sind überraschend vielfältig.<br />

Die folgenden Überlegungen versuchen daher in einem ersten, grundlegenden<br />

Anlauf, dieses besondere, eben „touristischen Teilnahmeverhalten“ an unserem<br />

Schlüsselangebot – dem Feiern von Andachten und Gottesdiensten – zu ergründen.<br />

Welche theologische Bedeutung hat dieser Typus „Gelegenheitsbesucher“? Was<br />

passiert geistlich, wenn Menschen nur mal so vorbeischauen in unseren<br />

Gottesdiensten, wenn sie nur punktuell erreicht werden von Gottes Wort, wenn sie<br />

situativ die Gesangbuchliedern mitsingen und gleichsam probeweise Ritus und<br />

Gestus unseres Glaubens mit vollziehen? Was geschieht, wenn Menschen situativanlassbezogen<br />

„Heimat finden in der Kirche“? 2 Ist das nur kurzfristige<br />

Schaumschlägerei und morgen schon vergessen oder der „Beginn einer<br />

wunderbaren Freundschaft“? Werfen die Gemeinden mit diesen situativen<br />

Angeboten für Gelegenheitsbesucher „Perlen vor die Säue“ (vgl. Mth 7, 6) oder<br />

gehen sie damit hinaus in alle Welt und verkündigen das Evangelium der Welt (vgl.<br />

Mth 28, 18)? Und dann auch: Welche kirchlichen Handlungsformen drängen sich auf<br />

angesichts dieser Gelegenheitsbesucher? Bauen wir mit diesen anlassbezogenen<br />

Andachten eine neue, zukunftsweisende Form von Gemeinde? 3 Sind situative<br />

Gottesdienste der Weg aus der Milieuverengung, weil in ihnen auch uns entfremdete<br />

2 Gemäß der Wiedereintrittsstudie aus Baden ist „das Bedürfnis, wieder dazu zu gehören“, der ausschlaggebende<br />

Grund für einen Wiedereintritt in die evangelische Kirche. Der häufigste Anlass ist die Erfahrung einer<br />

gelingenden Kasualie. Vgl. R. Volz, Massenhaft unbekannt - Kircheneintritte. Forschungsbericht über die<br />

Eintrittsstudie der evangelischen Landeskirche Baden, Karlsruhe 2005, 8-12.<br />

3 Die Diskussion um die sog. „situativen Gemeinden“ oder die „Passantenreligion“ ist nicht neu; die wichtigste<br />

Literatur zu diesem Thema ist in meinen Augen: Ebertz, Michael N.: Von der Pfarrkirche zur<br />

Kommunikationskirche, in: Generalvikariat Essen (Hg.): Werkstattgespräche Gemeindebilder, Essen 2000; ders.:<br />

Aufbruch in der Kirche. Anstöße für ein zukunftsfähiges Christentum, Freiburg 2003; Fechtner, Kristian: Kirche<br />

von Fall zu Fall. Kausalpraxis in der Gegenwart, Gütersloh 2003; Höhn, Hans-Joachim: Kirche <strong>ohne</strong> Gemeinde?<br />

Auf der Suche nach neuen Formen kirchlicher Präsenz in der Großstadt, in: Erich Purk (Hg.): Herausforderung<br />

Großstadt. Neue Chancen für die Christen, Frankfurt 1999, 45-66; Lindner, Herbert: Glauben in der Zeit.<br />

Verschränkung von Kasualien und Kirchenjahr, Lernort Gemeinde 18 (2000), 60-63; Nüchtern, Michael: Kirche<br />

bei Gelegenheit. Kasualien – Akademiearbeit – Erwachsenenbildung, Stuttgart 1991; Pohl-Patalong, Uta:<br />

Gemeinde. Kritische Blicke und konstruktive Perspektiven, in: Pastoraltheologie 94. Jahrgang 2005/6, 242-257;<br />

dies.: Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten. Ein Zukunftsmodell, Göttingen 2004; Tebartz-van Elst, Franz-<br />

Peter: Gemeinde in mobiler Gesellschaft, Würzburg 1999.<br />

5


Milieus auftauchen? 4 Diese Fragen zu beantworten heißt zugleich, Antwort zu geben<br />

auf die Frage, welche (auch finanzielle) Prioritäten unsere Kirche in den nächsten<br />

Jahren setzen sollte?<br />

These 3: Es gibt zunehmend ein situatives-anlassbezogenes Teilnahmeverhalten der<br />

Glaubenden in unseren Kirchen und Gemeinden.<br />

Meine Überlegungen beginnen in der Mitte der Sache: Wenn die Kirche<br />

Gottesdienste feiert, ist sie bei ihrem „Alleinstellungsmerkmal“: Die Verkündigung des<br />

Evangeliums und die rechte Verwaltung der Sakramente (CA V) bleibt in allen<br />

turbulenten Veränderungsprozessen die Mitte kirchlicher Arbeit. Das „Kerngeschäft“<br />

der Kirche ist das Feiern des Gottesdienstes; und wie auch immer im Detail<br />

Gottesdienst gefeiert wird, immer wird dabei das eine, alles tragende Wort Gottes<br />

Jesus Christus zum Leuchten gebracht. Die Verkündigung der evangelischen Kirche<br />

basiert letztlich auf dem stellvertretenden Leben, Sterben und Auferstehen Jesu<br />

Christi, wie es in der Bibel bezeugt und von den Vätern entfaltet ist. Die Christologie<br />

ist – auch wenn dies nicht immer explizit gemacht wird - die innere Mitte aller<br />

evangelischen Gottes-Feiern. Denn stellvertretend für den in sich verkrümmten und<br />

daher fern von Gott lebenden Sünder hat dieser Eine „für die Vielen“ und damit „ein<br />

für alle Mal“ ein unendliches Vertrauen zu Gott gelebt und durchgetragen durch alle<br />

Anfechtungen. Christus ist Anfänger und Vollender des Glaubens, der zugleich<br />

stellvertretend für alle die radikale Gottesferne erlitten und ertragen hat. In diesem<br />

einzigartigen Vertrauen Jesu Christi in Gottes bleibender Treue gründet gleichsam<br />

der Urknall eines neuen, geistlichen Lebens vor Gott. Dieser Urknall des neuen<br />

Lebens dehnt sich seither aus wie das kosmische Universum, wobei ähnlich wie dort<br />

selbstständige Galaxien entstehen (Kirchen und Konfessionen) und auch manche<br />

Abkühlung zu ertragen ist. Die heißeste Glut des Urknalls ist verborgen in den Texten<br />

des Alten und Neuen Testaments, dann etwas abgekühlter in den Bekenntnissen der<br />

Väter, immer mal wieder leuchtet sie auf in heutiger Verkündigung. Gottesdienste der<br />

Kirche sind so gesehen Orte der Urknallerinnerung, Antennenanlagen für die<br />

geistliche Hintergrundstrahlung, die jenes stellvertretende Leben, Sterben und<br />

Auferstehen Jesu Christi eröffnet hat. Im Gottesdienst öffnet sich ein Fenster zum<br />

4 Zu dieser Kategorie siehe Kirche Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten. Kirchenbindung. Lebensstile.<br />

Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hrsg. Kirchenamt der EKD 2003.<br />

6


Urknall des neuen Lebens mit Gott. Das heißt aber: Der Gedanke der Stellvertretung<br />

gehört in die Mitte aller theologischen Reflexion über die Verkündigung des<br />

Evangeliums. Jeder noch so glaubensfeste Christenmensch lebt von diesem einen,<br />

stellvertretenden Glauben, dem er im Leben und im Sterben vertrauen und<br />

gehorchen kann. Denn es ist ja nicht mein Glaube, an den ich glaube, sondern sein<br />

Glaube, der mir allein aus Gnaden geschenkt wird. Geübte und Ungeübte, Vertraute<br />

und Distanzierte, Hochverbundene und situativ Beteiligte leben von dem Glauben,<br />

den Jesus Christus stellvertretend für alle entdeckt und freigelegt hat, den er<br />

verteidigt und durch getragen hat bis hinein in jene Nacht, da er verraten ward. Sein<br />

Glaube trägt auch die Zweifel der Hauptamtlichen, er trägt die Ironie und den<br />

Zynismus „intra muros ecclesiae“, seine Treue zu Gott tröstet auch die angestrengte<br />

Seele des Engagierten und schenkt dem zerknirschten Herzen Würde. Den<br />

stellvertretend von Jesus Christus in die Welt getragenen Glauben als Vertrauen zu<br />

Gott „leihen“ sich Große und Kleine, Nahe und Ferne, Vertraute und Distanzierte aus,<br />

„hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann<br />

noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ (Gal 3, 28)<br />

These 4: Der „Kirche bei Gelegenheit“ (Michael Nüchtern) entspricht eine „situative<br />

Frömmigkeit“, die sich Glauben, Trost und Orientierung gleichsam „ausleihen“.<br />

Was aber bedeutet dieses nur angedeutete theologische Verständnis des<br />

Gottesdienstes für die nur gelegentlich, situativ und punktuell an Gottesdiensten<br />

Teilnehmenden? Ist diese Gelegenheitsbegegnung mit dem Evangelium eine Art<br />

„situativer Glaube“, eine spontane, befristete und gleichsam probeweise gelebte<br />

Form des Einlassens auf Gottes Verheißung? Ist diese punktuelle Begegnung mit<br />

dem Evangelium eine Unterbrechung des allgemeinen Atheismus und eine kurze,<br />

aber folgelose „Verstörung“, oder entfaltet sich hier eine behutsame „religiöse<br />

Mittellage“, deren Tiefenstruktur und Anknüpfungspotenzial noch nicht wirklich<br />

erfasst ist? 5<br />

5 So Johann H. Claussen: Religion <strong>ohne</strong> Gewissheit, PastTheol. 2005; Claussen definiert dieses religiöse<br />

Phänomen so, dass es sich nur „in paradoxen Formulierung beschreiben (lässt): als Religion <strong>ohne</strong> Gewißheit,<br />

beiläufiger Glaube, unscheinbare Grenzerfahrung, interessiertes Desinteresse. Von religiöser Überzeugtheit kann<br />

hier keine Rede sein, aber auch nicht von einem dringlichen Sinnbedürfnis, einer intensiven Sehnsucht nach<br />

Religion. Selbst die Metapher des Suchens wäre noch zu forciert. Was Enzensberger vorstellt, ist die Reflexion<br />

auf eher zufällige Fundstücke, ein religiöses "Kribbeln", eine Erfahrung en passant: keine Religion, aber eben<br />

auch keine Abwesenheit von Religion, vielmehr genau das "Irgendwo" zwischen Religion und<br />

Religionslosigkeit.“(ebd.).<br />

7


Und kann man – wie Claussen im Anschluss an Adolf Harnack sagt – eine<br />

„Teleologie des Glaubensbegriffes“ entwickeln, in dem der volle, satte, ganze,<br />

geläuterte, reife Glaube ein Zielpunkt ist, den zu erreichen zwar in niemandes Hand<br />

liegt, den zu ersehnen und zu erhoffen aber selbst in allerkleinsten Begegnungen<br />

möglich ist, - wohl wissend, dass dieser Glaube immer wieder durch Zweifel,<br />

Gleichgültigkeit und Ironie weggerissen wird von jener reifen Form des Glaubens? Es<br />

ist dies jedenfalls ein Glaube für all jene, die „ungeübt“ sind, die tastend, fragend,<br />

neugierig gelegentlich in Andachten und Gottesdiensten auftauchen, weil sie<br />

Kummer haben, weil sie Sprache suchen für Unfassbares, weil sie nicht wissen,<br />

wohin mit ihrem Glück, wohin mit ihren Tränen. Es gibt diese vielen Ungeübten, die<br />

situativ und anlassbezogen die Geborgenheit des Glaubens suchen und sich die<br />

Beheimatung kurzfristig „ausleihen“. Und die Gemeinschaft der in christlichen<br />

Gottesdingen Vertrauten und Geübten stellen – in Ausübung ihres Priesteramtes<br />

aller Getauften - diesen „ungeübten Teilnehmenden“ Sprache, Bilder, Rituale,<br />

Gesten und Symbole des Glaubens und Geschichten der Hoffnung zur Verfügung,<br />

sie bieten ihnen geistliche Räume der Begegnung an mit zuversichtlich gesungenen<br />

Liedern und innigen Gebeten, damit auch die ungeübte Seele spüren kann: Hier ist<br />

mehr als Banalität, hier ist mehr als Kundenbeziehung, hier ist Glanz, Geist, Güte,<br />

hier ist jene Geborgenheit im Glauben, die zwar alle ersehnen, aber viele Menschen<br />

nicht mehr zu leben vermögen. Der von der – mitunter numerisch kleinen -<br />

Gemeinschaft der `religiös musikalischen Menschen´ lebendig gehaltene Glaube wird<br />

in einer anlassbestimmten, zumeist biographisch geprägten Situation zu einem<br />

persönlich ausprobierten Glauben. Es ist eine Art existentieller Schnupperkurs, in<br />

dem man sich dem Glauben anzunähern versucht. Oder systematisch-theologisch<br />

formuliert: Wenn alles gut geht, wird aus dem von der Gemeinschaft der Christen<br />

entfalteten Glauben in einem besonderen Moment ein „pro-me-Glaube“, ein<br />

persönlich ergriffener Glaube.<br />

These 5: Die Kirchen brauchen einen auf Wachstum und Reifung angelegten,<br />

teleologischen Glaubensbegriff.<br />

Im Grunde zielen schon sehr viele Andachten und Gottesdienste auf dieses Ereignis:<br />

Kasualgottesdienste, Weihnachts- oder Ostergottesdienste, Schulanfänger-<br />

Gottesdienste, Gottesdienste anlässlich von großem Glück und großen Unglücken,<br />

8


Gottesdienste an Urlaubsorten, im Freizeitbereich, auf Wanderschaft, beim Pilgern,<br />

am Strand, auf dem Berg, in der Frühe, in der Nacht, - alle diese einladenden<br />

Gottesdienste für eine „ungeübte Gemeinde auf Zeit“ bieten ein Einlassen auf solch<br />

einen „situativen Glauben“ an. Denn es kommen distanzierte Kirchenmitglieder,<br />

getaufte Konfessionslose, gänzlich Entwöhnte, es kommen Gelegenheitsbesucher,<br />

Zweifelnde und Mal-wieder-Versuchende und schauen, ob der von der Gemeinschaft<br />

der Glaubenden dargestellte und entfaltete Glaube sie hier und heute trägt und<br />

berührt, ob sie sich Geist und Lied, Predigt und Sakrament gleichsam „ausleihen“<br />

können für ihre eigene Seele. Sie kommen mit ihren Kinder und hoffen, dass Schutz<br />

und Segen, Gebet und Güte auch ihren Kindern gilt, obwohl sie diesen guten Geist<br />

des Glaubens selbst schon längst nicht mehr sicher leben oder weitergeben können.<br />

Sie bringen die verstorbene Mutter, den verstorbenen Vater und hoffen darauf, dass<br />

Ritual und Sprache, Klage und Klang ihnen helfen können, los zu lassen und zu<br />

würdigen. Sie kommen zum Gute-Nacht-Gebet an den Strand oder zum<br />

Sonnenaufgangs-Gottesdienst auf die Bergspitze und prüfen, ob nicht auch ihnen<br />

der Glaube der Christen Heimat, Halt und Hoffnung geben kann. Es ist wie das<br />

Ausleihen eines Kleides, eines Anzuges, den man mal wieder ausprobiert in der<br />

Hoffnung, dass er doch schmückt und kleidet oder dass er manchmal auch nur die<br />

Scham bedeckt. Die Menschen „betten“ ihre Seele für einen Moment in dem<br />

„Ruhekissen“ eines ausgeliehenen Glaubens in der Hoffnung, dass vielleicht auch<br />

ihnen etwas aufscheint von jenem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit,<br />

die Gott uns Menschen gönnen will (vgl. 2 Timotheus 1,7).<br />

These 6: Es gibt eine reformatorische Wendung des sog. „Köhler-Glaubens“; die<br />

Legitimität dieser Haltung sollte stärker entfaltet werden.<br />

Nun mag man sich bei diesen Überlegungen vielleicht etwas erinnert fühlen an eine<br />

im Mittelalter intensiv geführte Diskussion unter Theologen über den sog. „Köhler-<br />

Glauben“, also über jene sehr einfachen, am Rande der Zivilisation - im Wald -<br />

lebenden Holzsammler, die weder Lesen noch Schreiben konnten und die kaum<br />

Ahnung von Glaubensdingen hatten. Heute geht es zwar auch um die Tatsache,<br />

dass der Grundwasserspiegel religiöser Kenntnisse dramatisch gesunken ist, aber im<br />

Kern geht es bei jenen situativ Teilnehmenden nicht um Unwissende, sondern um<br />

Ungeübte. Im Mittelalter verfolgte man die Frage: Können Köhler trotzdem in den<br />

9


Himmel kommen, obwohl sie weder Christus noch die heilige Trinität kennen? Heute<br />

lautet die Frage: Können Ungeübte in den Himmel kommen, obwohl sie kaum noch<br />

Vater unser und Psalm 23 sprechen können? Damals einigte man sich schließlich<br />

auf einen erstaunlich barmherzigen Gedanken, der in evangelischen Ohren<br />

allerdings anstößig klingt: Es reicht, wenn der Köhler glaubt, was die Kirche glaubt!<br />

Um in den Himmel zu kommen, muss der Köhler nicht den Glauben verstehen oder<br />

gar die Bibel kennen, sondern es reicht, wenn er der Kirche glaubt, dass sie auch für<br />

ihn in rechter Weise an Gott glaubt. Die Gemeinschaft der Glaubenden glaubt<br />

stellvertretend für den Köhler, und wenn der Köhler dies glaubt, kommt er in den<br />

Himmel.<br />

Wir Evangelischen haben im Gefolge von Martin Luther, der Reformation und ihrer<br />

frühen Heirat mit den bildungsorientierten Humanisten diese Art von<br />

unselbständigem „Köhler-Glauben“ immer sehr kritisch gesehen: Jeder Mensch, ob<br />

Herr oder Knecht, Magd oder Freier, soll verstehen, was er glaubt. Deswegen die<br />

Katechismen Luthers, deswegen die Schulbildung für alle, deswegen der typisch<br />

protestantische Anspruch, einen Glauben nicht nur zu haben, sondern auch zu<br />

verstehen. Das ist ein gutes, großes, stolzes Erbe, wir sollten in unseren<br />

Bildungsbemühungen keinesfalls nachlassen. Aber jede seelsorgerlich ehrliche<br />

Erkenntnis weiß zugleich, dass in vielen gottesdienstlichen Angeboten ungeübte<br />

Menschen sind, sozusagen „spirituelle Köhler“, die den Glauben der Gemeinschaft<br />

gleichsam nur probeweise mitfeiern können. Und ist dies wirklich etwas ganz<br />

Ungebührliches? Denn richtig ist doch, dass immer schon und zu allem Zeiten die<br />

Gemeinschaft der Glaubenden Tieferes und Umfassenderes geglaubt hat als der je<br />

einzelne Christenmensch. Ein Blick auf das Glaubensbekenntnis reicht um zu<br />

wissen, dass durch die Zeiten und Generationen, durch die Regionen und<br />

Konfessionen hindurch kaum je das Ganze des Glaubens ergriffen und die Fülle des<br />

Inhalts vom einzelnen erfasst wurde. Die Glaubensaussagen der Kirche sind wie ein<br />

großes Dach, das vom einzelnen an einer Stelle mitgetragen und mitgehalten,<br />

weitergeben und bezeugt wird, das aber - Gott sei Dank - nicht ganz allein vom ihm<br />

und seinem mitunter sehr kleinen Glauben getragen werden muss.<br />

10


These 7: Die Grundgeschichte zum „stellvertretenden Glauben“ ist die von der<br />

„Heilung eines Gelähmten“ (Markus 2, 1 – 5).<br />

Denn das individuelle Verhältnis zum Glauben atmet ja, es ist manchmal sehr nahe,<br />

manchmal distanziert es sich wieder, es wird berührt und ist dann wieder weit weg.<br />

Es gibt nicht nur „Stufen des Glaubens“ (Schweitzer), sondern auch „Phasen des<br />

Glaubens“ 6 : In der Kindheit dichter als zu Ausbildungszeiten, in Gesundheit geringer<br />

als in Krankheit, mit Kindern dichter als im Singledasein, im Alter, in Ängsten und<br />

Krankheit dichter als im Zenit eines Erfolges. Und weil dies so ist, weil der einzelne in<br />

seinem Glauben atmet und lebendig ist, deswegen brauchen auch wir Protestanten<br />

ein etwas anderes Verständnis von der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden.<br />

Nicht die autoritative Vorordnung vor den einzelnen Überzeugungen, wohl aber die<br />

helfende, haltenden, heilende Stabilität einer Gemeinschaft, die auch mein Zweifeln<br />

und Zögern, meine Sehnsucht und mein Bedürfnis nach Anonymität aushält und<br />

mitträgt, die auch anlassbezogenen Glauben mitträgt, weil die Gemeinschaft sich<br />

selbst daran erinnert, das sie vom Glauben jenes einen Mannes lebt, der für uns<br />

gelebt und geliebt, gelitten und gestorben, gesiegt und gejubelt hat. Denn ist das<br />

hochfahrende Ideal der Protestanten, den Glauben ganz und gar und mit allen<br />

Fasern des Gemütes leben zu sollen, nicht oftmals mehr Geste als Realität? Der<br />

Einzelne lebt seinen Glauben unter dem großen Dach, das ihn auch dann schützt<br />

und deckt, wenn er selbst Zweifel, Fragen, Distanzen und Anfechtungen in sich trägt.<br />

Erinnert sei an diese wunderbare Heilungsgeschichte aus dem Markusevangelium:<br />

2.1. Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass<br />

er im Hause war. 2 Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch<br />

nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. 3 Und es kamen einige zu ihm, die<br />

brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. 4. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen<br />

konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und<br />

ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. 5 Als nun Jesus ihren Glauben sah,<br />

sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Alle Glaubende<br />

sind immer mal wieder in der Rolle jenes (geistlich) Gelähmten, der nach Markus 2<br />

von vier Freunden getragen wird, die ihn durch das Dach herunterlassen zu Jesus<br />

und im Blick auf deren Glaube Jesus ihm Heilung zuspricht.<br />

6 Diese Phasen sind nicht statisch zu verstehen als seien bestimmte Lebensstationen gleichsam „verkündigungsinkompatibel“;<br />

wohl aber sind sie heuristisch zu unterscheiden und verlangen auch unterschiedliche Formen der<br />

kirchlichen Bezugnahme.<br />

11


These 8: Solche „Inseln gelingenden Glaubens“ sind die Zukunft missionarischer<br />

Aktivitäten einer volkskirchlichen Minderheitensituation.<br />

Meine These lautet nun: Dieser von der Gemeinschaft der Glaubenden<br />

stellvertretend entfaltete und situativ ausprobierte Glaube ist die Grundsituation einer<br />

einladenden, gleichsam partizipativ angelegten Missionssituation der Zukunft. Diese<br />

situative Gestalt der missionarischen Verkündigung wird zukünftig die einladende<br />

Arbeit der evangelischen Kirche entscheidend prägen. Es werden „Inseln<br />

gelingenden Glaubens“ sein, die in der volkskirchlichen Minderheitensituation die<br />

missionarisch überzeugendsten Einladungsorte zur Wiederentdeckung des Glaubens<br />

und zur Neureflexion des Verhältnisses zur Kirche anbieten können. Es ist gleichsam<br />

eine situativ-geistliche Anwendung des missionarischen Grundsatzes „belonging<br />

before believing“. Denn nicht nur die Form der Teilnahme ist gelegentlich, situativ<br />

und punktuell, sondern auch die inhaltliche Anteilnahme ist gelegentlich, situativ und<br />

punktuell. Es gibt nicht nur „Kirche bei Gelegenheit“ (M. Nüchtern) sondern auch<br />

„Glaube bei Gelegenheit“. Ich bin davon überzeugt, dass wir diesen Gedanken eines<br />

situativen Glaubens der Ungeübten theologisch und konzeptionell weiterentwickeln<br />

müssen. Denn schon rein soziologisch ist klar:<br />

Je kleiner die Schar der hochverbundenen und theologisch informierten<br />

Christen/innen wird, desto häufiger gerät die kirchliche Verkündigung in die Situation,<br />

„Kirche bei Gelegenheit“ zu sein. Immer mehr Menschen kennen Glaube und Gebet,<br />

Kreuzigung und Auferstehung, Christus und die Trinität nur noch vom Hörensagen.<br />

Und so sehr die Gemeinschaft der Christen die Aufgabe hat und annimmt, den<br />

Grundwasserspiegel der Glaubenskenntnisse zu erhöhen, so nüchtern muss<br />

wahrgenommen werden, dass die Begegnung des Evangeliums mit Ungeübten und<br />

Uninformierten zunehmend der Normalfall aller Verkündigung sein wird. Im Osten<br />

Deutschlands ist dies wohl oftmals schon so, im Westen wächst diese Situation mit<br />

jeder neuen Generation weiter. Was aber bedeutet dies?<br />

Was heißt es für das Verständnis der kirchlichen Arbeit und für die Entscheidung<br />

über kirchliche Prioritäten in den nächsten Jahren, wenn wir nicht mehr die<br />

Vertrautheit mit christlichen Traditionsbeständen als Bezugspunkt annehmen<br />

können, sondern die situative Neugier und die gelegentliche Partizipation als<br />

Grundsituation? Was ändert sich bei unserer Verkündigung, wenn man den Glauben<br />

in der Regel nur punktuell entfalten und die Menschen in der Regel nur dieses eine<br />

12


Mal mit dem Evangelium in Berührung bringen kann? Was müssen situative<br />

Gottesdienste für Ungeübte als Grundform evangelischer Verkündigung beachten.<br />

Manche Konsequenzen kann man sich leicht klarmachen, weil an deren Umsetzung<br />

schon intensiv gearbeitet wird:<br />

a) Es liegt ja auf der Hand, dass es dann in jedem anlassbezogenen Feiern mit<br />

Ungeübten einer katechumenischen Dimension bedarf. Der Glaube muss<br />

gleichsam „fortsetzungsorientiert“ entfaltet werden, die Andachten und Gottesdienste<br />

sollten immer auch die Möglichkeit bereithalten, den „Beginn einer wunderbaren<br />

Freundschaft“ (Casablanca) zu markieren. Kann man sich also einen Gottesdienst<br />

<strong>ohne</strong> anschließende Begegnungsmöglichkeit der Teilnehmenden vorstellen? Kann<br />

man anlassbezogene Gottesdienste gestalten <strong>ohne</strong> Informationen über Kontakt- und<br />

Gesprächsmöglichkeiten? Oder missionarischer formuliert: Weil die Zahl der<br />

„situativen Katechumenen“ ständig zunehmen wird, braucht die evangelische Kirche<br />

verstärkt Modelle und Angebote, wie sie die Sehnsucht nach der Wahrheit und<br />

Schönheit des Glaubens auch dann einpflanzt, wenn sie nur einmal im Jahr oder zu<br />

herausgehobenen Gelegenheiten die Chance dazu bekommt.<br />

b) Für einen situativ orientierten Gottesdienst mit Ungeübten wird die<br />

anlassbezogene Einzelsituation einer Glaubensbegegnung (von der Kasualie bis<br />

zur touristischen Arbeit) immer bedeutsamer. Deswegen ist das Ringen um mehr<br />

Qualität und Originalität in allem kirchlichen Handeln eine sinnvolle Reaktion. Die<br />

Qualitätsdebatten in unserer Kirche haben mit dem Wachsen der „Kirche bei<br />

Gelegenheit“ zu tun. Denn das Grundsätzliche heißt doch: Wenn der einzelne<br />

Gottesdienst für viele Menschen oftmals auch die einzige Begegnung mit dem<br />

Evangelium ist, dann ruhen auf dieser Begegnung viele Erwartungen. Deswegen<br />

sind missglückte Weihnachtsgottesdienste oder verfehlte Beerdigungen ein großer<br />

Schaden: Man sieht die Betroffenen eben nicht so schnell wieder, sie bleiben auf<br />

lange Zeit verstimmt.<br />

c) Zugleich gilt: Für einen situativ orientierten Gottesdienst mit Ungeübten<br />

muss die konkrete Einzelsituation das Ganze des Glaubens anklingen lassen, es<br />

soll in nuce das Ganze des Glaubens sich spiegeln. Deswegen ist einerseits die<br />

Suche nach Kernliedern, Kerntexten und Kernagenden eine sinnvolle Reaktion.<br />

Deswegen aber ist andererseits wichtig, in jedem anlassbezogenen Gottesdienst den<br />

ganzen Geist des Glaubens anklingen zu lassen, also nicht nur theologische Details<br />

13


und textliche Spitzfindigkeiten auszubreiten, sondern den Glauben als<br />

„Lebenshaltung“ zu entfalten. Jeder anlassbezogene Gottesdienst ist in, mit und<br />

unter der Homilie auch Themenpredigt.<br />

d) Für einen situativ orientierten Gottesdienst mit Ungeübten muss die<br />

konkrete Einzelsituation spannend und einladend sein, sie sollte Lust machen auf<br />

mehr, kurzum: sie soll auch berührende Erlebnisse eröffnen. Deswegen sind die<br />

Überlegungen zur Stärkung der Erfahrungsintensität eine sinnvolle Reaktion. Man<br />

muss auch etwas erleben können in der Kirche! Als Beispiel sei ein heikles Thema<br />

explizit angesprochen: Weithin werden Taufen nur im sog. Hauptgottesdienst<br />

vorgenommen, weil ja die Tauffamilie die Gemeinde und umgekehrt kennenlernen<br />

sollen. Aber wir setzen damit unsere Logik der Zugehörigkeit absolut, wir zwingen<br />

Familien in eine Gemeindezugehörigkeit, die laut Kirchenmitgliedschaftsanalyse nur<br />

die hochverbundenen Mitglieder kennen. Und um wie viel mehr kann man<br />

Tauffamilien berühren und erreichen, wenn man ihnen einen eigenen<br />

Taufgottesdienst gestaltet? Eine gute Erfahrung zu machen mit der Kirche ist ein<br />

sinnvolles und legitimes Ziel, denn eine positive Erfahrung mit der Kirche kann<br />

vorhandene Vorurteile unterlaufen und neue Offenheit für ein ernsthaftes Bedenken<br />

freisetzen.<br />

e) Im Blick auf die wachsende Zahl der situativ orientierten Gottesdienste mit<br />

Ungeübten drängt sich die Frage auf, wer denn diese Gottesdienste gestaltet und<br />

anbietet, wenn es immer mehr Ungeübte gibt? Die Konzentration der Kräfte und<br />

Ressourcen auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung der haupt- und nebenberuflich<br />

Tätigen und der ehrenamtliche Engagierten ist auch vor diesem Hintergrund eine<br />

überaus sinnvolle Option. Nur hochmotivierte und gut ausgebildete haupt- und<br />

ehrenamtliche Menschen werden Kraft und Lust haben, den Glauben für die<br />

Ungeübten und Gelegentlichen zu entfalten und darzustellen. Als „Hüter der<br />

Motivationen“ muss die Kirche insgesamt intensive Bildungsarbeit betreiben, um<br />

diesen Herausforderungen begegnen zu können.<br />

f) Im Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit. Perspektiven für<br />

die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ stand folgende Zielangabe: „Geht man<br />

davon aus, dass gegenwärtig etwa 80 % der Gemeinden rein parochialer Struktur<br />

sind, dass es etwa 15 % Profilgemeinden (z.B. City-, Jugend- oder Kulturkirchen) gibt<br />

und nur etwa 5 % der Gemeinden auf netzwerkorientierten Angeboten beruhen (z.B.<br />

Akademiegemeinden, Tourismuskirchen oder Passantengemeinden), dann sollte es<br />

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ein Ziel sein, diese Proportion zu einem Verhältnis von 50 % : 25 % : 25 %<br />

weiterzuentwickeln.“ (Kirche der Freiheit, S. ). Diesen Satz konnte man so<br />

missverstehen, als sollten statt der Parochiegemeinden nun Profil- und<br />

Netzwerkgemeinden entstehen, die Parochien also um 30 % gekürzt werden. Das<br />

war nicht gemeint! Es geht vielmehr darum, dass sich die Parochien als<br />

Parochiegemeinden zu solchen Profil- oder Netzwerkgemeinde entwickeln. Und eben<br />

dies gibt es ja auch schon längst: Ortsgemeinden, die sich als hochverbundene<br />

Kerngemeinde um Touristen, Pilger, Kulturorientierte oder sozial Ermüdete usw.<br />

kümmern und ebenso ein besonderes Profil und Angebot entwickeln.<br />

These 9: Die katechetische Grundierung, die theologische Qualität, die<br />

Erlebnisdimension des Feierns u.a.m. einer „Kirche bei Gelegenheit“ sollten gestärkt<br />

werden.<br />

Zuletzt: Als Gemeinschaft der Glaubenden werden die Kirchen im Laufe der<br />

Zeit Formen finden müssen, in denen die situativ Teilnehmenden auch finanziell an<br />

den Kosten einer „Kirche bei Gelegenheit“ fair beteiligt werden. Das Instrument der<br />

Kirchensteuern kann man bei aller denkbaren Kritik gar nicht hoch genug schätzen,<br />

denn dadurch sind erhebliche geistliche und diakonische Gestaltungsmöglichkeiten<br />

gegeben. Aber es gab auch schon in früheren Zeiten situative<br />

Einnahmemöglichkeiten für die Kirche, die so langsam wiederentdeckt werden: Der<br />

Osten hat vielfältige Erfahrungen mit dem sog. „freiwilligen Kirchgeld“, die vielen<br />

Fördervereine für die Kirchen im Dorf sprechen auch eine deutliche Sprache. Und<br />

früher gab es die sog. „Stolgebühren“, also Gebühren für ein anlassbezogenes<br />

Handeln der Kirche, bei der der Geistliche seine Stola umhängte. Heute muss neu<br />

und kreativ gedacht werden und der Mut entwickelt werden, die Kosten auch<br />

realistisch zu berechnen. Und es muss die Furcht überwunden werden, die meint,<br />

eine solche situative Beteiligung an den Kosten führe dazu, dass auch alle anderen<br />

Kirchenmitglieder schnurstracks aus der Kirche austreten und diesen Weg der<br />

situativen Bezahlung einschlagen, um Kosten zu sparen. Die allermeisten<br />

Kirchenmitglieder aber finanzieren die Kirche mit, weil sie sie unterstützen möchten,<br />

nicht weil dies so kostengünstig ist.<br />

15


These 10: Die situative, anlassbezogene Verkündigungsarbeit wird perspektivisch eine<br />

der zentralen Refinanzierungsquellen der Kirchen werden.<br />

Die evangelische Kirche braucht nicht nur eine exakte Beobachtung der Entwicklung<br />

jener situativen Frömmigkeit und eine systematisch-theologische Klärung der damit<br />

gegebenen Fragen, sondern auch ein Fülle von guten Ideen, um solche situativen<br />

Begegnungsmöglichkeiten zu entwickeln; lasst viele „Andachten anders“ blühen. 7<br />

Denn im Blick auf die zukünftige Entwicklung der Zahl der evangelischen<br />

Kirchenmitglieder und der situativ-punktuell-projektorientiert lebenden nächsten<br />

Generation muss die evangelische Kirche davon ausgehen muss, dass die Zahl<br />

derjenigen, die sich jenen „Glauben bei Gelegenheit“ ausleihen und punktuell zu<br />

eigen machen, stetig steigt und wächst. Diejenigen, die in und für die<br />

Kerngemeinden arbeiten, dürfen sich nicht darüber hinweg täuschen, wie viele<br />

Menschen schon jetzt innerhalb und außerhalb der Kirche diese situativen Zugängen<br />

leben. Darum gilt, dass noch manche innovative Schritte getan werden könnten:<br />

So könnten Wiedereintrittsformate im Tourismuspfarramt, entwickelt werden oder<br />

Glaubenskurse für Pilgerwege, auch fehlt eine überzeugende Sprache für das „Lob<br />

der Kirchenmitgliedschaft“, denn noch wird Kirchenmitgliedschaft gleichgesetzt mit<br />

Gemeindemitgliedschaft und wird missionarische Arbeit der Kirche verstanden als<br />

Gemeindeaufbaukonzepte. Aber Kirche ist mehr als Gemeinde und Beheimatung<br />

gelingt auch im Ganzen der Kirche. Gelungene Erfahrungen mit einer „Kirche bei<br />

Gelegenheit“ aber zu eröffnen ist eine Mischung aus Freiheit und Geborgenheit, die<br />

die Verheißung einer neuen Kirchenbindung in sich trägt. Denn der „<strong>Liebhaber</strong> <strong>ohne</strong><br />

<strong>festen</strong> <strong>Wohnsitz</strong>“ freut sich ebenso an jenen, die ihn regelmäßig aufsuchen, wie über<br />

jene, die sich von ihm bei Gelegenheit berühren lassen. <strong>Liebhaber</strong> sind so: Sie<br />

suchen die Begegnung, denn die Liebe kennt keine Bedingungen.<br />

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!<br />

7 Vgl. Zukunftswerkstatt Kassel 2009, epd-dokumentation 46,2009, S. 25f.<br />

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Vizepräsident Dr. Thies Gundlach, Kirchenamt der EKD<br />

„<strong>Liebhaber</strong> <strong>ohne</strong> <strong>festen</strong> <strong>Wohnsitz</strong>“ -<br />

Situative Gemeinden als zukünftige Grundform der Verkündigung?<br />

These 1: Gott braucht weder feste Orte noch feste Zeiten für seine Gegenwart, - er ist immer<br />

„herzunmittelbar“.<br />

These 2: Die Orte und Zeiten, an denen sich Gottes Gegenwart in unserer modernen Welt<br />

ereignet, sind überraschend vielfältig.<br />

These 3: Es gibt zunehmend ein situatives-anlassbezogenes Teilnahmeverhalten der<br />

Glaubenden in unseren Kirchen und Gemeinden.<br />

These 4: Der „Kirche bei Gelegenheit“ (Michael Nüchtern) entspricht eine „situative<br />

Frömmigkeit“, die sich Glauben, Trost und Orientierung gleichsam „ausleihen“.<br />

These 5: Die Kirchen brauchen einen auf Wachstum und Reifung angelegten, teleologischen<br />

Glaubensbegriff.<br />

These 6: Es gibt eine reformatorische Wendung des sog. „Köhler-Glaubens“; die Legitimität<br />

dieser Haltung sollte stärker entfaltet werden.<br />

These 7: Die Grundgeschichte zum „stellvertretenden Glauben“ ist die von der „Heilung<br />

eines Gelähmten“ (Markus 2, 1 – 5).<br />

These 8: Solche „Inseln gelingenden Glaubens“ sind die Zukunft missionarischer Aktivitäten<br />

einer volkskirchlichen Minderheitensituation.<br />

These 9: Die katechetische Grundierung, die theologische Qualität, die Erlebnisdimension<br />

des Feierns u.a.m. einer „Kirche bei Gelegenheit“ sollten gestärkt werden.<br />

These 10: Die situative, anlassbezogene Verkündigungsarbeit wird perspektivisch eine der<br />

zentralen Refinanzierungsquellen der Kirchen werden.<br />

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