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Zu Max Horkheimers Satz: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne ...

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<strong>Zu</strong> <strong>Max</strong> <strong>Horkheimers</strong> <strong>Satz</strong>:<br />

<strong>»Einen</strong> <strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong> <strong>zu</strong> <strong>retten</strong><br />

<strong>ohne</strong> Gott, ist eitel«<br />

Alfred Schmidt <strong>zu</strong>m 60. Geburtstag<br />

Die Spätphilosophie <strong>Max</strong> <strong>Horkheimers</strong> tritt - in Notizen und<br />

Aufsätzen - auf in der Gestalt von Reflexionen aus dem beschädigten<br />

Leben. Alfred Schmidt hat sie als Schattenriß einer systematischen<br />

Intention entziffert. Diesen Nachweis führt er auf<br />

indirektem Wege; er benützt <strong>Horkheimers</strong> Werkzeuge, um das<br />

Tor <strong>zu</strong> Schopenhauers Religionsphilosophie auf<strong>zu</strong>schließen.1<br />

Diese einleuchtenden Rekonstruktionen haben mich über<br />

Gründe und Motive belehrt, die Horkheimer da<strong>zu</strong> bewegten, bei<br />

Schopenhauer Rat <strong>zu</strong> suchen über Fragen einer Religion, die<br />

noch die Sehnsucht nach vollendeter Gerechtigkeit erfüllen<br />

könnte. Horkheimer nimmt nämlich ein Interesse an den Lehren<br />

des Judentums und des Christentums weniger um Gottes<br />

als um der sühnenden Kraft Gottes willen. Das Unrecht, das<br />

sich an der leidenden Kreatur vollzieht, soll nicht das letzte<br />

Wort haben dürfen. Manchmal sieht es so aus, als wolle Horkheimer<br />

das religiöse Heilsversprechen für die Moral gerade<strong>zu</strong><br />

in Dienst nehmen. Einmal erklärt er das Bilderverbot damit, daß<br />

»es in der jüdischen Religion nicht so sehr darauf ankommt, wie<br />

Gott ist, sondern wie der Mensch ist«.2 Schopenhauers Metaphysik<br />

schien die Auflösung einer Aporie in Aussicht <strong>zu</strong> stellen,<br />

in die Horkheimer durch zwei gleich starke Überzeugungen hineingeraten<br />

war. Auch für ihn besteht das kritische Geschäft der<br />

Philosophie wesentlich darin, das Wahre an der Religion im Geiste<br />

der Aufklärung <strong>zu</strong> <strong>retten</strong>; andererseits war ihm klar: »Reli-<br />

1 A. Schmidt, Die Wahrheit im Gewande der Lüge, München 1986;<br />

ders., »Religion als Trug und als metaphysisches Bedürfnis«, in: Quatuor<br />

Coronati, 1988, 87 ff.; vgl. auch A. Schmidt, »Aufklärung und Mythos<br />

im Werk <strong>Max</strong> <strong>Horkheimers</strong>«, in: A. Schmidt, N. Altwicker (Hg.),<br />

<strong>Max</strong> Horkheimer heute, Frankfurt/Main 1986, 18off.<br />

2 Gespräch mit Helmut Gumnior, Gesammelte Schriften Bd. 7, 387.<br />

I IO


gion kann man nicht säkularisieren, wenn man sie nicht aufgeben<br />

will.«3<br />

Diese Aporie hat die griechische Philosophie seit den Tagen ihrer<br />

ersten Begegnung mit der jüdischen und der christlichen Überlieferung<br />

wie ein Schatten begleitet. Bei Horkheimer verschärft sie<br />

sich noch durch eine tiefe Vernunftskepsis. Was für ihn den wesentlichen<br />

Gehalt der Religion ausmacht, eben Moral, ist nicht<br />

länger mit Vernunft verschwistert. Horkheimer rühmt die dunklen<br />

Schriftsteller des Bürgertums dafür, daß sie »die Unmöglichkeit,<br />

aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den<br />

Mord vo<strong>zu</strong>bringen, nicht vertuscht, sondern in alle Welt geschrieen<br />

... haben.«4 Ich gestehe, daß mich dieser <strong>Satz</strong> heute nicht<br />

weniger irritiert als vor fast vier Jahrzehnten, als ich ihn <strong>zu</strong>m<br />

ersten Mal gelesen habe. So habe ich mich auch von der Konsequenz<br />

dieser Vernunftskepsis, die <strong>Horkheimers</strong> zwiespältiges<br />

Verhältnis <strong>zu</strong>r Religion begründet, nie recht überzeugen können.<br />

Daß es eitel sei, einen <strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong> <strong>retten</strong> <strong>zu</strong> wollen <strong>ohne</strong><br />

Gott, verrät nicht nur ein metaphysisches Bedürfnis. Der <strong>Satz</strong><br />

selbst ist ein Stück jener Metaphysik, <strong>ohne</strong> die heute nicht nur die<br />

Philosophen, sondern selbst die Theologen auskommen müssen.<br />

Bevor ich versuche, diesen Einspruch <strong>zu</strong> begründen, will ich mich<br />

der moralischen Grundintuition vergewissern, die Horkheimer<br />

zeit seines Lebens geleitet hat; sodann möchte ich die Verwandtschaft<br />

von Religion und Philosophie, die Horkheimer nie aus den<br />

Augen verloren hat, erörtern und schließlich die Prämissen<br />

kenntlich machen, unter denen er Schopenhauers negative Metaphysik<br />

aufnimmt. Dabei stütze ich mich auf die Notizen und<br />

Aufsätze, die Alfred Schmidt der Öffentlichkeit <strong>zu</strong>gänglich gemacht5<br />

und auf deren systematische Bedeutung er als erster hingewiesen<br />

hat.6<br />

3 Gesammelte Schriften Bd. 7, 393.<br />

4 M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam<br />

1947, 142.<br />

5 M. Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969, Frankfurt/Main 1974.<br />

6 Das gilt vor allem für jene philosophischen Abhandlungen, die Schmidt<br />

bereits in den Anhang <strong>zu</strong>r deutschen Ausgabe von <strong>Zu</strong>r Kritik der instrumentellen<br />

Vernunft (Frankfurt/Main 1967, 177ff.) aufgenommen<br />

hatte.<br />

III


I.<br />

Nachdem in der säkularisierten Welt die religiös instruierte Gewissensregung<br />

der Reue nicht mehr als vernünftig gilt, nimmt das<br />

moralische Gefühl des Mitleids deren Platz ein. Wenn Horkheimer<br />

das Gute absichtsvoll tautologisch als den Versuch definiert,<br />

das Schlechte ab<strong>zu</strong>schaffen, dann hat er eine Solidarität mit dem<br />

Leiden verletzbarer und verlassener Kreaturen im <strong>Sinn</strong>, die durch<br />

Empörung gegen konkretes Unrecht angestachelt wird. Die versöhnende<br />

Kraft des Mitleids steht nicht im Gegensatz <strong>zu</strong>r antreibenden<br />

Kraft der Auflehnung gegen eine Welt <strong>ohne</strong> Sühne und<br />

Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht. Solidarität und Gerechtigkeit<br />

sind zwei Seiten derselben Medaille; deshalb streitet<br />

die Ethik des Mitleids der Gerechtigkeitsmoral nicht den Rang<br />

ab, sie nimmt dieser nur die gesinnungsethische Starrheit. Anders<br />

wäre das Kantische Pathos nicht <strong>zu</strong> verstehen, das sich in <strong>Horkheimers</strong><br />

Forderung ausspricht, »trotz allem in der Wüste fort<strong>zu</strong>ziehen,<br />

selbst wenn die Hoffnung verloren wäre.«7 Und unter<br />

dem Stichwort »Notwendige Eitelkeit« scheut sich Horkheimer<br />

nicht vor der beinahe protestantischen Konsequenz: »Es ist wahr,<br />

ein Einzelner kann den Weltlauf nicht ändern. Aber wenn sein<br />

ganzes Leben nicht die wilde Verzweifelung ist, die dagegen sich<br />

aufbäumt, wird er auch nicht das unendlich kleine, bedeutungslose,<br />

eitle, nichtige bißchen Gute <strong>zu</strong>stande bringen, <strong>zu</strong> dem er als<br />

Einzelner fähig ist.«8 Das gemeinsame Schicksal, der Unendlichkeit<br />

eines fühllosen Universums ausgesetzt <strong>zu</strong> sein, mag in den<br />

Menschen ein Gefühl der Solidarität wecken; aber in der Gemeinschaft<br />

der Verlassenen darf Hoffnung auf Solidarität, darf das<br />

Mitleid mit dem Nächsten die gleiche Achtung für jedermann<br />

nicht beeinträchtigen. Moralische Gefühle, denen der <strong>Sinn</strong> für<br />

Gerechtigkeit innewohnt, sind nicht bloß spontane Regungen; sie<br />

sind Intuitionen mehr als Impulse; in ihnen äußert sich eine im<br />

emphatischen <strong>Sinn</strong>e richtige Einsicht. Die Positivisten »wissen<br />

nichts davon, daß der Haß gegen einen anständigen und die Ehrfurcht<br />

vor einem niederträchtigen Menschen nicht bloß vor der<br />

Sitte, sondern vor der Wahrheit verkehrte Regungen, nicht bloß<br />

7 Notizen (1974), 93·<br />

8 Notizen (1974), 184.<br />

II2


ideologisch tadelnswerte, sondern sachlich verkehrte Erfahrungen<br />

und Reaktionen sind.«9<br />

Horkheimer ist sich seiner moralischen Grundintuition so gewiß,<br />

daß er sie nicht anders denn als »richtige Einsicht« qualifizieren<br />

kann. Dieser moralische Kognitivismus scheint ihn vollends an<br />

die Seite Kants <strong>zu</strong> rücken. Dennoch läßt er sich von der Dialektik<br />

der Aufklärung so weit beeindrucken, daß er immer wieder dementiert,<br />

was Kant der praktischen Vernunft noch <strong>zu</strong>traute. <strong>Zu</strong>rückgeblieben<br />

sei nur noch eine »formalistische Vernunft«, die<br />

keineswegs »in einem engeren <strong>Zu</strong>sammenhang mit der Moral als<br />

mit der Unmoral« stehe.10 Nur materiale Untersuchungen können<br />

den kraftlosen Formalismus überwinden, freilich auf paradoxe<br />

Weise. Ohne das Gute benennen <strong>zu</strong> können, soll eine kritische<br />

Gesellschaftstheorie das jeweils bestimmte Unrecht bezeichnen.<br />

Weil diese Theorie, vernunftskeptisch wie sie ist, kein affirmatives<br />

Verhältnis mehr unterhält <strong>zu</strong> den normativen Gehalten,<br />

die sie in der Kritik ungerechter Verhältnisse gleichwohl Schritt<br />

für Schritt entfaltet, muß sie alles Normative einer inzwischen<br />

überholten Gestalt des Geistes entlehnen: - der mit Metaphysik<br />

verschmolzenen Theologie. Diese hütet das Erbe einer inzwischen<br />

entmachteten substantiellen Vernunft.<br />

Über den Charakter dieser schwindelerregenden Aufgabe macht<br />

sich Horkheimer keine Illusionen. Die Gesellschaftstheorie »hat<br />

die Theologie abgelöst, aber keinen neuen Himmel gefunden, auf<br />

den sie weisen kann, nicht einmal einen irdischen Himmel. Aus<br />

dem <strong>Sinn</strong> schlagen kann sie ihn freilich nicht, und darum wird sie<br />

immer nach dem Weg gefragt, der hinführt. Als ob es nicht gerade<br />

ihre Entdeckung wäre, daß der Himmel, <strong>zu</strong> dem man den Weg<br />

weisen kann, keiner ist.«11 Keine Theorie könnte, bevor sie sich<br />

<strong>zu</strong>m Ästhetischwerden entschließt und in Literatur übergeht, mit<br />

dieser kafkaesken Denkfigur gut leben. Die Gedanken des alten<br />

Horkheimer kreisen deshalb um jene Theologie, die durch das<br />

kritische und selbstkritische Geschäft der Vernunft »abgelöst«<br />

werden muß, <strong>ohne</strong> doch in ihren Begründungsleistungen für den<br />

Unbedingtheitsanspruch der Moral durch Vernunft ersetzt werden<br />

<strong>zu</strong> können. <strong>Horkheimers</strong> Spätphilosophie läßt sich verstehen<br />

9 Notizen (1974), 102.<br />

10 Horkheimer, Adorno (1947), 141.<br />

11 Notizen (1974), 61.<br />

ll3


als die Bearbeitung dieses Problems, die Deutung der Schopenhauerschen<br />

Metaphysik als ein Vorschlag <strong>zu</strong> seiner Lösung.<br />

In seinem Aufsatz über »Theismus-Atheismus« verfolgt Horkheimer<br />

die hellenistische Verschwisterung von Theologie und<br />

Metaphysik bis <strong>zu</strong> den großen Systemen, in denen göttliche und<br />

irdische Wissenschaft konvergieren. Vor allem interessiert ihn der<br />

kämpferische Atheismus des 18.Jahrhunderts, der »das Interesse<br />

an Religion eher <strong>zu</strong> vertiefen als aus<strong>zu</strong>löschen imstande war.«12<br />

Auch die materialistische Antithese <strong>zu</strong>m Christentum, die »Gott«<br />

durch »Natur« substituiert und nur eine Umbeset<strong>zu</strong>ng in den<br />

Grundbegriffen vornimmt, bleibt der metaphysischen Architektonik<br />

der Weltbilder noch verhaftet. Kants Metaphysikkritik öffnet<br />

dann das Tor für mystische und messianische Gehalte, die von<br />

Baader und Schelling bis <strong>zu</strong> Hegel und Marx in die Philosophie<br />

eindringen. Über den theologischen Gehalt der Marxschen Theorie<br />

war sich Horkheimer immer im klaren: die Aufklärung hatte<br />

mit der Idee einer gerechten Gesellschaft die Perspektive auf ein<br />

neues Jenseits im Diesseits eröffnet; nun sollte der Geist des<br />

Evangeliums im Geschichtsprozeß einen Weg der irdischen Erfüllung<br />

finden.<br />

Die säkularisierende Aufhebung der Ontotheologie in Geschichtsphilosophie<br />

hat ein <strong>zu</strong>tiefst zweideutiges Ergebnis. Auf<br />

der einen Seite wird die Philosophie <strong>zu</strong>r verkappten Theologie<br />

und rettet deren wesentliche Gehalte. Es ist der <strong>Sinn</strong> des Atheismus<br />

selber, der die Aktualität des Theismus bewahrt: »Nur die<br />

ihn damals als Schmähwort gebrauchten, verstanden darunter das<br />

bloße Gegenteil der Religion. Die Betroffenen, die <strong>zu</strong> ihm (dem<br />

Atheismus) sich bekannten, als die Religion noch Macht besaß,<br />

pflegten mit dem theistischen Gebot der Hingabe an den Nächsten<br />

und die Kreatur schlechthin inniger sich <strong>zu</strong> identifizieren als<br />

die meisten Anhänger und Mitläufer der Konfessionen.«13 Auf<br />

der anderen Seite kann die Philosophie den Gedanken an das<br />

Unbedingte nur im Medium einer Vernunft <strong>retten</strong>, die inzwischen<br />

das Ewige an die geschichtlichen Kontingenzen ausgeliefert<br />

und das Unbedingte verraten hatte. Denn die Vernunft, die keine<br />

andere Autorität als die der Wissenschaft mehr beanspruchen<br />

kann, ist ein naturalistisches Vermögen, ist <strong>zu</strong> Intelligenz im<br />

12 Gesammelte Schriften Bd. 7, 178.<br />

l 3 »Theismus-Atheismus«, Gesammelte Schriften Bd. 7, l 8 5 f.<br />

l 14


Dienste schierer Selbstbehauptung regrediert; sie bemißt sich an<br />

funktionalen Beiträgen, an technischen Erfolgen, aber nicht an<br />

einer Räume und Zeiten transzendierenden Geltung: »<strong>Zu</strong>gleich<br />

mit Gott stirbt auch die ewige Wahrheit.«14 Nach der Aufklärung<br />

kann das Wahre an der Religion nur mit Mitteln gerettet werden,<br />

die die Wahrheit liquidieren. In dieser unbequemen Lage befindet<br />

sich eine Kritische Theorie, die die Theologie »ablösen« soll, weil<br />

nach <strong>Horkheimers</strong> Auffassung letztlich alles, was mit Moral <strong>zu</strong>sammenhängt,<br />

auf Theologie <strong>zu</strong>rückgeht.<br />

II.<br />

Die vernünftige Aufhebung der Theologie und ihrer wesentlichen<br />

Gehalte - wie soll das heute, unter Bedingungen einer nicht mehr<br />

rückgängig <strong>zu</strong> machenden Metaphysikkritik, noch <strong>zu</strong> leisten sein,<br />

<strong>ohne</strong> entweder den <strong>Sinn</strong> der religiösen Gehalte oder die Vernunft<br />

selbst <strong>zu</strong> zerstören? Mit dieser Frage wendet sich der pessimistische<br />

Materialist Horkheimer an den pessimistischen Idealisten<br />

Schopenhauer. Nach <strong>Horkheimers</strong> überraschender Interpretation<br />

besteht die Aktualität Schopenhauers darin, daß dessen konsequenter<br />

Negativismus »den Geist des Evangeliums« rette. Schopenhauer<br />

soll das Kunststück gelungen sein, die in der Theologie<br />

gründende Moral atheistisch <strong>zu</strong> begründen - also unter Ab<strong>zu</strong>g<br />

Gottes die Religion <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>behalten.<br />

In der Welt als »Wille und Vorstellung« erkennt Horkheimer<br />

einerseits das wüste darwinistische Werk einer <strong>zu</strong>m Organ der<br />

Selbsterhaltung herabgesetzten instrumentellen Vernunft, die bis<br />

in den ringsum alles objektivierenden wissenschaftlichen Intellekt<br />

hinein von einem blinden, unstillbaren, die eine Subjektivität gegen<br />

die andere aufstachelnden Lebensdrang beherrscht ist. Auf<br />

der anderen Seite soll genau diese Reflexion auf den abgründig<br />

negativen Wesensgrund in den einander erbarmungslos überwältigenden<br />

Subjekten eine Ahnung von ihrem gemeinsamen Schicksal<br />

und das innehaltende Bewußtsein wecken, daß alle Lebensäußerungen<br />

von einem identischen Willen durchherrscht sind: »Ist<br />

das Reich der Erscheinung, die erfahrbare Wirklichkeit, nicht das<br />

Werk positiver göttlicher Macht, Ausdruck des an sich selber<br />

14 Ebd., 184.


guten, ewigen Seins, sondern des in jedem Endlichen sich bejahenden,<br />

in der Vielheit verzerrt sich spiegelnden, jedoch <strong>zu</strong>tiefst<br />

identischen Willens, dann hat ein jeder Grund, mit jedem anderen<br />

sich eins <strong>zu</strong> wissen, nicht mit seinen spezifischen Motiven, sondern<br />

mit seiner Verstrickung in Wahn und Schuld, dem Getriebensein,<br />

der Freude und dem Untergang. Leben und Schicksal<br />

des Stifters des Christentums werden <strong>zu</strong>m Vorbild, nicht mehr<br />

aufgrund von Geboten, sondern von Einsicht in das Innerste der<br />

Welt.«15<br />

Was Horkheimer an Schopenhauer fasziniert, ist die Aussicht auf<br />

eine metaphysische Begründung der Moral aus Einsicht in die<br />

Verfassung der Welt im ganzen - jedoch so, daß sich diese Einsicht<br />

<strong>zu</strong>gleich gegen zentrale Annahmen der Metaphysik richtet<br />

und der nachmetaphysischen Vernunftskepsis genügt. Die negative<br />

Metaphysik hält nur unter Verkehrung der Vorzeichen an der<br />

Unterscheidung zwischen Wesen und Erscheinung fest - umgekehrter<br />

Platonismus. Darauf gründet sich dann die Erwartung,<br />

daß die Einsicht in die »unbarmherzige Struktur der Ewigkeit die<br />

Gemeinschaft der Verlassenen« erzeugen könne. Horkheimer bemerkt<br />

allerdings den Schatten jenes performativen Selbstwiderspruchs,<br />

der alle negative Metaphysik seit Schopenhauer und<br />

Nietzsche begleitet. Selbst wenn man erkenntniskritische Bedenken<br />

gegen den intuitiven, leibvermittelten <strong>Zu</strong>gang <strong>zu</strong>m Ding an<br />

sich <strong>zu</strong>rückstellt, bleibt ja unerfindlich, wie es <strong>zu</strong> jener Umkehr<br />

der Antriebsrichtung kommt, die den irrationalen Weltwillen gegen<br />

sich selber kehrt und die instrumentelle Vernunft <strong>zu</strong>r innehaltenden<br />

Reflexion verhält: »Die Metaphysik des unvernünftigen<br />

Willens als des Wesens der Welt muß <strong>zu</strong>m Gedanken der<br />

Problematik der Wahrheit führen.«16 Alfred Schmidt hat die<br />

Aporie herausgearbeitet: »Ist das Wesen der Welt irrational, so<br />

bleibt das dem Wahrheitsanspruch eben dieser These nicht äußerlich.«17<br />

Im Lichte dieser Konsequenz kann man den <strong>Satz</strong>, daß es<br />

eitel sei, einen <strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong> <strong>zu</strong> <strong>retten</strong> <strong>ohne</strong> Gott, auch als<br />

Kritik an Schopenhauer verstehen, als Kritik an dem »letzten<br />

· großen philosophischen Versuch, den Kern des Christentums <strong>zu</strong><br />

<strong>retten</strong>.«18<br />

15 »Religion und Philosophie«, in: Gesammelte Schriften Bd. 7, 193.<br />

16 »Die Aktualität Schopenhauers«, in: Gesammelte Schriften Bd. 7, 136.<br />

17 Schmidt (1986), 121.<br />

18 ·Religion und Philosophie«, Gesammelte Schriften Bd. 7, 191.<br />

II6


Am Ende pendeln <strong>Horkheimers</strong> zweideutige Formulierungen<br />

unschlüssig zwischen Schopenhauers negativ-metaphysischer Begründung<br />

der Moral und einer Rückkehr <strong>zu</strong>m Glauben der Väter.<br />

Diese ungeklärte Argumentationslage veranlaßt mich, <strong>zu</strong> jener<br />

Prämisse <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren, von der <strong>Horkheimers</strong> Spätphilosophie<br />

ausgeht: daß die »formalistische« Vernunft oder die unter Bedingungen<br />

nachmetaphysischen Denkens gleichsam übriggebliebene<br />

prozedurale Vernunft gleich weit entfernt sei von der Moral wie<br />

von der Unmoral. Soweit ich sehe, stützt sich <strong>Horkheimers</strong> skeptische<br />

Behauptung vor allem auf die zeitgenössische Erfahrung<br />

des Stalinismus und auf ein konzeptuelles Argument, das den<br />

ontologischen Wahrheitsbegriff voraussetzt.<br />

III.<br />

<strong>Horkheimers</strong> Denken ist mehr noch als das Adornos bestimmt<br />

durch die erschütternde historische Erfahrung, daß jene aus praktischer<br />

Vernunft hergeleiteten, die Französische Revolution beflügelnden,<br />

von Marx gesellschaftskritisch eingeholten Ideen von<br />

Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit nicht <strong>zu</strong>m Sozialismus,<br />

sondern, im Namen des Sozialismus, <strong>zu</strong>r Barbarei geführt haben:<br />

»Die Vision der Einrichtung der Erde in Gerechtigkeit und Freiheit,<br />

die dem Kantischen Denken <strong>zu</strong>grunde lag, hat sich in die<br />

Mobilisation der Nationen verwandelt. Mit jedem Aufstand, der<br />

der großen Revolution in Frankreich folgte, so will es scheinen,<br />

nahm die Substanz des humanistischen Inhalts ab und der Nationalismus<br />

<strong>zu</strong>. Das größte Schauspiel der Perversion des Bekenntnisses<br />

<strong>zu</strong>r Menschheit in einen intransigenten Staatskult bot in<br />

diesem Jahrhundert der Sozialismus selbst ... Was Lenin und die<br />

meisten seiner Genossen vor der Machtergreifung erstrebten, war<br />

eine freie und gerechte Gesellschaft. In der Realität bahnten sie<br />

den Weg für eine totalitäre Bürokratie, unter deren Herrschaft es<br />

nicht mehr Freiheit gab als einst im Reich der Zaren. Daß das<br />

neue China in eine Phase der Barbarei übergeht, ist offenkundig.«19<br />

Aus dieser Erfahrung hat Horkheimer Konsequenzen für<br />

einen Umbau in der Architektonik der Vernunft gezogen, der<br />

19 »Die Aktualität Schopenhauers«, in: Gesammelte Schriften Bd. 7,<br />

138 f.<br />

I 17


sich im Begriff der »instrumentellen Vernunft« anzeigt. Es gibt<br />

keine Differenz mehr zwischen einer im Dienst subjektiver<br />

Selbstbehauptung stehenden Verstandestätigkeit, die allem ihre<br />

Kategorien überstülpt und alles <strong>zu</strong>m Objekt macht, einerseits<br />

und andererseits der Vernunft als dem Vermögen von Ideen, deren<br />

Platz der Verstand usurpiert hat. Ja, die Ideen selbst geraten<br />

in den Sog der Verdinglichung; sie haben, <strong>zu</strong> absoluten Zwecken<br />

hypostasiert, nur noch eine funktionale Bedeutung für andere<br />

Zwecke. Indem aber der Vorrat an Ideen derart aufgebraucht<br />

wird, verliert jeder über Zweckrationalität hinausweisende Anspruch<br />

seine transzendierende Kraft; Wahrheit und Moralität büßen<br />

ihren <strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong> ein.<br />

Ein Denken, das bis in seine Grundbegriffe hinein auf geschichtliche<br />

Veränderungen reagiert, unterwirft sich der Instanz neuer<br />

Erfahrungen. Es ist also nicht unbillig <strong>zu</strong> fragen, ob der inzwischen<br />

manifest gewordene Bankrott des Staatssozialismus nicht<br />

andere Lehren bereithält. Denn dieser Bankrott geht auch auf das<br />

Konto von Ideen, die das Regime, während es sich immer weiter<br />

von ihnen entfernte, <strong>zu</strong>r eigenen Legitimation mißbraucht hat,<br />

weil es sie, was wichtiger ist, in Anspruch nehmen mußte. Ein<br />

System, das trotz seines brutal-Orwellschen Unterdrückungsapparats<br />

einstürzt, weil der gesellschaftliche <strong>Zu</strong>stand alles, was<br />

die legitimierenden Ideen vorspiegeln, lauthals dementiert, kann<br />

über den Eigensinn dieser Ideen offensichtlich doch nicht beliebig<br />

verfügen. In den wie immer auch geschundenen Ideen einer verfassungsrechtlich<br />

verkörperten republikanischen Tradition verrät<br />

sich jenes Stück existierender Vernunft, das die »Dialektik<br />

der Aufklärung« nicht <strong>zu</strong> Wort kommen ließ, weil es sich dem<br />

nivellierenden Blick der negativen Geschichtsphilosophie entzog.<br />

Der Streit um diese These könnte nur auf dem Felde materialer<br />

Analysen ausgetragen werden. Ich beschränke mich deshalb auf<br />

das konzeptuelle Argument, das Horkheimer aus der Kritik der<br />

instrumentellen Vernunft entwickelt. <strong>Horkheimers</strong> Behauptung,<br />

daß die Differenz zwischen Vernunft und Verstand im Lauf des<br />

weltgeschichtlichen Prozesses eingezogen worden ist, setzte ja,<br />

anders als im Poststrukturalismus heute, noch voraus, daß wir<br />

uns an den emphatischen Begriff der Vernunft erinnern können.<br />

Der kritische <strong>Sinn</strong> von »instrumenteller Vernunft« hebt sich erst<br />

vor der Folie dieser Erinnerung ab. Und allein durch den ana-<br />

II8


mnetischen Rückgriff auf die substantielle Vernunft religiöser<br />

und metaphysischer Weltbilder versichern wir uns des <strong>Sinn</strong>es von<br />

Unbedingtheit, den Begriffe wie Wahrheit und Moralität einst<br />

mit sich führten, solange sie noch nicht positivistisch oder funktionalistisch<br />

zerfallen sind. Ein Absolutes oder Unbedingtes erschließt<br />

sich der Philosophie nur in eins mit der Rechtfertigung<br />

der Welt im ganzen, also durch Metaphysik. Ihren metaphysischen<br />

Anfängen bleibt aber die Philosophie nur solange treu, wie<br />

sie versucht, »es der positiven Theologie nach<strong>zu</strong>tun«, und davon<br />

ausgeht, daß sich die erkennende Vernunft in der vernünftig<br />

strukturierten Welt wiederfindet oder selber Natur und Geschichte<br />

eine vernünftige Struktur verleiht. Sobald die Welt »ihrem<br />

Wesen nach mit dem Geist dagegen nicht notwendig <strong>zu</strong>sammenhängt,<br />

schwindet das philosophische Vertrauen in das Sein<br />

von Wahrheit überhaupt. Wahrheit ist dann nirgends mehr aufgehoben<br />

als in den vergänglichen Menschen selbst und so vergänglich<br />

wie sie.«20<br />

Horkheimer hat nie in Erwägung gezogen, daß es zwischen der<br />

»instrumentellen« Vernunft und der „formalen« einen Unterschied<br />

geben könnte. Er hat auch eine prozedurale Vernunft, die<br />

die Gültigkeit ihrer Resualtate nicht mehr von den vernünftig<br />

organisierten Weltinhalten abhängig macht, sondern von der Rationalität<br />

der Verfahren, nach denen sie ihre Probleme löst, <strong>ohne</strong><br />

Zögern der instrumentellen <strong>zu</strong>geschlagen. Horkheimer geht davon<br />

aus, daß es Wahrheit <strong>ohne</strong> Absolutes nicht geben kann -<br />

nicht <strong>ohne</strong> eine die Welt im ganzen transzendierende Macht, »bei<br />

der die Wahrheit aufgehoben ist«. Ohne ontologische Verankerung,<br />

so meint er, müsse der Wahrheitsbegriff den innerwelt!ichen<br />

Kontingenzen der sterblichen Menschen und ihren wechselnden<br />

Kontexten anheim fallen; <strong>ohne</strong> sie ist Wahrheit keine<br />

Idee mehr, sondern Waffe im Lebenskampf. Die menschliche<br />

Erkenntnis, die moralische Einsicht einschließt, könne mit dem<br />

Anspruch auf Wahrheit nur auftreten, wenn sie sich an Relatio-­<br />

nen zwischen ihr und dem Seienden orientiert, wie sie sich allein<br />

dem göttlichen Auge darbieten. Gegenüber dieser eigenartig traditionellen<br />

Auffassung werde ich (im letzten Abschnitt) eine moderne<br />

Alternative <strong>zu</strong>r Geltung bringen - einen Begriff kommunikativer<br />

Vernunft, der es gestattet, den <strong>Sinn</strong> des Unbedingten <strong>ohne</strong><br />

20 Ebd., 135f.<br />

I 19


Metaphysik <strong>zu</strong> <strong>retten</strong>. <strong>Zu</strong>vor müssen wir uns aber des eigentlichen<br />

Motivs vergewissern, das Horkheimer am klassischen Begriff<br />

der Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem festhalten<br />

läßt.<br />

Den Ausschlag für ein Festhalten an einer ontologischen Verankerung<br />

der Wahrheit gibt nämlich jene ethische Überlegung, die<br />

Horkheimer Schopenhauer entlehnt. Allein die Einsicht in die<br />

Identität allen Lebens, in die Einheit eines sei's auch irrationalen<br />

Wesensgrundes, worin alle einzelnen Erscheinungen <strong>zu</strong>sammenhängen,<br />

»vermag lang vor dem Sterben Solidarität mit aller Kreatur<br />

<strong>zu</strong> begründen.«21 Das metaphysische Einheitsdenken macht<br />

plausibel, warum die Überwindung des Egoismus in der Verfassung<br />

der Welt ein Echo findet. Nur aus diesem Grunde hat für die<br />

Philosophen Einheit Vorrang vor Vielheit, tritt das Unbedingte<br />

im Singular auf, gilt für Juden und Christen der Eine Gott mehr<br />

als die vielen Gottheiten der Antike. Daß sich die Einzelnen in<br />

ihrer Besonderung verschanzen und dadurch den Individualismus<br />

<strong>zu</strong>r Lüge machen, ist insbesondere das Schicksal der bürgerlichen<br />

Kultur. Diesen gesellschaftlichen Natur<strong>zu</strong>stand der Konkurrenzgesellschaft<br />

hält Horkheimer so sehr für das moralische<br />

Grundproblem, daß für ihn Gerechtigkeit und Solidarität gleichbedeutend<br />

werden mit »der Abkehr von der Bejahung des abgeschlossenen<br />

eigenen Ichs«. Der Egoismus hat sich derart <strong>zu</strong> einem<br />

verkehrten Welt<strong>zu</strong>stand verfestigt, daß ein Übergang von der<br />

Selbstliebe <strong>zu</strong>r Hingabe an den Anderen gar nicht denkbar ist<br />

<strong>ohne</strong> die metaphysische Vorsorge für die vorgängige Einheit eines<br />

abgründigen Weltwillens, der uns <strong>zu</strong>r Einsicht in die Solidarität<br />

der Verlassenen provoziert: »Schopenhauer zog die Konsequenz:<br />

richtig ist die Einsicht in die Schlechtigkeit des eigenen Lebens,<br />

das vom Leiden anderer Kreaturen sich nicht trennen läßt, richtig<br />

ist die Einheit mit den Leidenden, mit Mensch und Tier, die<br />

Abkehr von der Eigenliebe, vom Drang <strong>zu</strong>m individuellen Wohlergehen<br />

als letztem Ziel, wünschenswert das Eingehen nach dem<br />

Tod ins Allgemeine, nicht Persönliche, ins Nichts.«22 Schlecht ist<br />

nur der individuierte Wille, der sich gegen andere wendet, gut ist<br />

er, wenn er im Mitleiden seine wahre Identität mit allen anderen<br />

Wesen realisiert.<br />

21 »Schopenhauers Denken«, in: Gesammelte Schriften Bd. 7, 252.<br />

22 »Pessimismus heute«, Gesammelte Schriften Bd. 7, 227f.<br />

120


IV.<br />

Schon in der »Dialektik der Aufklärung« schreibt Horkheimer de<br />

Sade und Nietzsche die Erkenntnis <strong>zu</strong>, »daß nach der Formalisierung<br />

der Vernunft (nur) das Mitleid gleichsam als das sinnliche<br />

Bewußtsein der Identität von Allgemeinem und Besonderem, als<br />

die naturalisierte Vermittlung noch übrig war.«23 In der Schopenhauerschen<br />

Lesart kann freilich das Mitleid die Rolle einer dialektischen<br />

Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen<br />

dem gleichen Respekt für jeden und der Solidarität eines<br />

jeden mit allen, nicht übernehmen. Hier geht es nur noch um die<br />

abstrakte Selbstaufhebung der Individualität, um das Aufgehen<br />

des Individuums im All-Einen. Damit wird genau die Idee aufgekündigt,<br />

die den moralischen Gehalt des Christentums ausmacht.<br />

Die, die am Jüngsten Tage, in Erwartung eines gerechten Urteils,<br />

einer nach dem anderen, einzeln, unvertretbar, <strong>ohne</strong> den Mantel<br />

weltlicher Güter und Würden, also als Gleiche, vor das Angesicht<br />

Gottes treten, erfahren sich als vollständig individuierte Wesen,<br />

die Rechenschaft geben über ihre verantwortlich übernommene<br />

Lebensgeschichte. Gleichzeitig mit dieser Idee müßte die tiefe<br />

Intuition verloren gehen, daß das Band zwischen Solidarität und<br />

Gerechtigkeit nicht reißen darf.<br />

Darin folgt Horkheimer Schopenhauer gewiß nicht <strong>ohne</strong> Zögern.<br />

Seine Interpretation des 9 r. Psalms verrät die Anstrengung, über<br />

eine Dissonanz hinweg<strong>zu</strong>kommen. Die Lehre von der Einzelseele,<br />

heißt es, habe im Judentum noch eine andere, von Jenseitserwartungen<br />

unverfälschte Bedeutung gehabt: »Die Idee des<br />

Fortlebens meint <strong>zu</strong>vörderst nicht das Jenseits, sondern das vom<br />

neuzeitlichen Nationalismus kraß verzerrte Verbundensein mit<br />

der Nation, das in der Bibel seine Vorgeschichte hat. Indem der<br />

Einzelne gemäß der Thora sein Leben einrichtet, im Gehorsam<br />

gegen das Gesetz Tage, Monate und Jahre verbringt, wird er,<br />

trotz individueller Differenzen, mit dem Anderen so sehr eins,<br />

daß nach dem eigenen Tod er in den Seinen weiterexistiert, in<br />

ihrer Ausübung der Tradition, der Liebe <strong>zu</strong>r Familie und <strong>zu</strong>m<br />

Stamm, in der Erwartung, daß es einmal in der Welt noch gut<br />

wird ... Der Gestalt J esu im Christentum nicht unähnlich, stand<br />

23 Horkheimer, Adorno (1947), 123.<br />

I2I


das Judentum als Ganzes für die Erlösung ein.«24 Horkheimer<br />

versucht, das Problem der Aufhebung des Individuums, der<br />

Leugnung der unveräußerlichen Individualität <strong>zu</strong> umgehen, indem<br />

er das Thema verschiebt. Die Frage ist ja nicht, ob das Reich<br />

des Messias von dieser Welt ist, sondern ob jene moralische, aus<br />

Judentum und Christentum hervorgehende Grundintuition, der<br />

Horkheimer unbeirrt folgt, überhaupt angemessen expliziert<br />

werden kann <strong>ohne</strong> Be<strong>zu</strong>gnahme auf die in universeller Bundesgenossenschaft<br />

mögliche, vorbehaltlose Individuierung.<br />

Der moralische Impuls, sich nicht abfinden <strong>zu</strong> wollen mit der<br />

Gewalt von Verhältnissen, die den Einzelnen vereinzeln und den<br />

einen Glück und Macht nur um den Preis des Unglücks und der<br />

Ohnmacht der anderen gewähren, dieser Impuls veranlaßt Horkheimer<br />

<strong>zu</strong> der Auffassung, daß die versöhnende Kraft der Solidarität<br />

mit dem Leiden nur eine Chance hat, wenn sich die Einzelnen<br />

als Individuen selber aufgeben. Er sieht nicht, daß die Gefahr<br />

der nationalistischen Verzerrung des Verbundenseins mit der Nation<br />

gerade in dem Augenblick entsteht, wenn eine falsche Solidarität<br />

den Einzelnen im Kollektiv aufgehen läßt. Ein - wie immer<br />

auch negativ gewendetes - metaphysisches Einheitsdenken verschiebt<br />

nämlich die Solidarität, die ihren genuinen Ort in der<br />

sprachlichen Intersubjektivität, in Verständigung und individuierender<br />

Vergesellschaftung hat, in die Identität eines <strong>zu</strong>grundeliegenden<br />

Wesens, in die differenzlose Negativität des Weltwillens.<br />

Eine ganz andere, eine dialektische Einheit stellt sich in der<br />

Kommunikation her, der die sprachliche Struktur den Abstand<br />

zwischen Ich und Du einschreibt. Mit der Struktur sprachlicher<br />

Intersubjektivität wird uns die Verschränkung von Autonomie<br />

und Hingabe <strong>zu</strong>gemutet, eine Versöhnung, die die Differenzen<br />

nicht auslöscht.<br />

Gegenüber dem in der Sprache selbst angelegten Versprechen ist<br />

Horkheimer keineswegs taub. Einmal heißt es lapidar: »Sprache,<br />

ob sie will oder nicht, muß den Anspruch erheben, wahr <strong>zu</strong><br />

sein.«25 Er erkennt auch, daß wir auf die pragmatische Dimension<br />

der Sprachverwendung rekurrieren müssen; denn aus der beschränkten<br />

Sicht der Semantik, die die Äußerungen auf Sätze<br />

reduziert, läßt sich der transzendierende Wahrheitsanspruch der<br />

24 »Psalm 91«, in: Gesammelte Schriften Bd. 7, 210.<br />

25 Notizen (1974), 12J.<br />

122


Rede nicht erklären: »Wahrheit in der Rede kommt ja nicht dem<br />

losgelösten nackten Urteil <strong>zu</strong>, gleichsam als wäre es auf einen<br />

Zettel gedruckt, sondern dem im Urteil sich ausdrückenden, an<br />

dieser Stelle sich konzentrierenden ... Verhalten des Redenden<br />

<strong>zu</strong>r Welt.«26 Horkheimer steht offensichtlich die theologische<br />

Tradition vor Augen, die von Augustin über die Logosmystik bis<br />

<strong>zu</strong>m radikalen Protestantismus anknüpft an die Anfänglichkeit<br />

des göttlichen Wortes und an die Sprache als Medium der göttlichen<br />

Botschaft: »Die theologische Metaphysik aber ist gegen den<br />

Positivismus im Recht, weil jeder <strong>Satz</strong> nicht anders kann, als den<br />

unmöglichen Anspruch nicht bloß auf eine erwartete Wirkung,<br />

auf Erfolg <strong>zu</strong> erheben, wie der Positivismus meint, sondern auf<br />

Wahrheit im eigentlichen <strong>Sinn</strong>e, gleichviel ob der Sprechende darauf<br />

reflektiert.«27 Das Gebet, in dem der Gläubige Kontakt sucht<br />

mit Gott, würde sich von Beschwörung nicht kategorial unterscheiden,<br />

müßte auf die Stufe der Magie <strong>zu</strong>rückfallen, wenn wir<br />

den illokutionären <strong>Sinn</strong> unserer Äußerungen mit deren perlokutionären<br />

Effekt so verwechselten, wie es das undurchführbare<br />

Programm des Sprachnominalismus tatsächlich tut.<br />

Aber diese Einsichten bleiben okkasionell. Horkheimer benutzt<br />

sie nicht als Spuren <strong>zu</strong> einer sprachpragmatischen Erklärung des<br />

mit unvermeidlichen Wahrheitsansprüchen verbundenen <strong>unbedingten</strong><br />

<strong>Sinn</strong>s. Seine Vernunftskepsis reicht so tief, daß er im<br />

gegenwärtigen Welt<strong>zu</strong>stand einen Platz für kommunikatives<br />

Handeln nicht mehr entdecken kann: »Heute ist die Rede schal,<br />

und die, welche nicht <strong>zu</strong>hören wollen, haben gar nicht so unrecht<br />

... Das Sprechen ist überholt. Freilich auch das Tun, soweit es auf<br />

das Sprechen einmal bezogen war.«28<br />

V.<br />

Die pessimistische Zeitdiagnose ist nicht der einzige Grund, der<br />

Horkheimer davon abhält, sich ernsthaft die Frage <strong>zu</strong> stellen, wie<br />

das, was wir täglich praktizieren, möglich ist: unser Handeln an<br />

transzendierenden Geltungsansprüchen <strong>zu</strong> orientieren. Eher ver-<br />

26 Ebd., 172.<br />

27 »Die Aktualität Schopenhauers«, in: Gesammelte Schriften Bd: 7, 138.<br />

28 Notizen (1974), 26.<br />

123


hält es sich so, daß eine profane Antwort auf diese Frage, wie sie<br />

beispielsweise Peirce vorgeschlagen hat, <strong>Horkheimers</strong> metaphysisches<br />

Bedürfnis nach Religion nicht hinreichend hätte befriedigen<br />

können.<br />

Horkheimer hat die formalistische Vernunft Kants mit der instrumentellen<br />

gleichgesetzt. Ch. S. Peirce aber gibt dem Kantischen<br />

Formalismus eine sprachpragmatische Wendung und begreift die<br />

Vernunft prozeduralistisch. Der Prozeß der Zeicheninterpretation<br />

gelangt auf der Stufe der Argumentation <strong>zu</strong>m Bewußtsein<br />

seiner selbst. Peirce zeigt nun, wie diese gleichsam außeralltägliche<br />

Kommunikationsform dem »<strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong>« von Wahrheit,<br />

von transzendierenden Geltungsansprüchen überhaupt, gewachsen<br />

ist. Er begreift Wahrheit als die Einlösbarkeit eines<br />

Wahrheitsanspruchs unter den Kommunikationsbedingungen einer<br />

idealen, d. h. im sozialen Raum und in der historischen Zeit<br />

ideal erweiterten Gemeinschaft von Interpreten. Die kontrafaktische<br />

Be<strong>zu</strong>gnahme auf eine solche unbegrenzte Kommunikationsgemeinschaft<br />

ersetzt das Ewigkeitsmoment oder den überzeitlichen<br />

Charakter von »Unbedingtheit« durch die Idee eines offenen,<br />

aber zielgerichteten Interpretationsprozesses, der die<br />

Grenzen des sozialen Raums und der historischen Zeit von innen,<br />

aus der Perspektive einer in der Welt verorteten Existenz heraus<br />

transzendiert. In der Zeit sollen die Lernprozesse einen Bogen<br />

bilden, der alle zeitlichen Distanzen überbrückt; in der Welt sollen<br />

sich jene Bedingungen realisieren lassen, die wir in jeder Argumentation<br />

als hinreichend erfüllt wenigstens voraussetzen. Intuitiv<br />

wissen wir nämlich, daß wir niemanden, nicht einmal uns<br />

selbst von etwas überzeugen können, wenn wir nicht gemeinsam<br />

davon ausgehen, daß alle irgend relevanten Stimmen Gehör finden,<br />

die besten beim gegenwärtigen Wissensstand verfügbaren<br />

Argumente <strong>zu</strong>r Sprache kommen und nur der zwanglose Zwang<br />

des besseren Arguments die Ja-/Nein-Stellungnahmen der Teilnehmer<br />

bestimmt.<br />

Damit verlagert sich die Spannung zwischen dem Intelligiblen<br />

und dem Reich der Phänomene in allgemeine Kommtlilikationsvorausset<strong>zu</strong>ngen,<br />

die, obgleich sie einen idealen und nur annäherungsweise<br />

erfüllbaren Gehalt haben, alle Beteiligten faktisch jedesmal<br />

dann vornehmen müssen, wenn sie einen strittigen Wahrheitsanspruch<br />

<strong>zu</strong>m Thema machen wollen. Die idealisierende<br />

Kraft dieser transzendierenden Vorgriffe dringt sogar ins Herz<br />

124


der kommunikativen Alltagspraxis ein. Denn noch das flüchtigste<br />

Sprechaktangebot, das konventionellste >Ja< und >Nein< verweisen<br />

auf potentielle Gründe - und damit auf das ideal erweiterte Auditorium,<br />

dem sie einleuchten müssen, wenn sie gültig sein sollen.<br />

Das ideale Moment der Unbedingtheit ist tief in die faktischen<br />

Verständigungsprozesse eingelassen, weil Geltungsansprüche ein<br />

Janusgesicht zeigen: als universale schießen sie über jeden gegebenen<br />

Kontext hinaus; <strong>zu</strong>gleich müssen sie hier und jetzt erhoben<br />

und aktzeptiert werden, um ein handlungskoordinierendes Einverständnis<br />

tragen <strong>zu</strong> können. Im kommunikativen Handeln orientieren<br />

wir uns an Geltungsansprüchen, die wir nur im Kontext<br />

unserer Sprache, unserer Lebensform faktisch erheben können,<br />

während die implizit mitgesetzte Einlösbarkeit <strong>zu</strong>gleich über die<br />

Provinzialität des jeweiligen historischen Kontextes hinausweist.<br />

Wer sich einer Sprache verständigungsorientiert bedient, ist einer<br />

Transzendenz von innen ausgesetzt. Darüber kann er sowenig<br />

verfügen, wie er sich durch die Intentionalität des gesprochenen<br />

Wortes <strong>zu</strong>m Herrn der Struktur der Sprache macht. Die sprachliche<br />

Intersubjektivität überschreitet die Subjekte, aber <strong>ohne</strong> sie<br />

hörig <strong>zu</strong> machen.<br />

Nachmetaphysisches Denken unterscheidet sich von Religion dadurch,<br />

daß es den <strong>Sinn</strong> des Unbedingten rettet <strong>ohne</strong> Rekurs auf<br />

Gott oder ein Absolutes. Horkheimer behielte mit seinem Diktum<br />

nur dann recht, wenn er mit dem »<strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong>« etwas<br />

anderes gemeint hätte als jenen <strong>Sinn</strong> von Unbedingtheit, der als<br />

ein Moment auch in die Bedeutung von Wahrheit eingeht. Der<br />

<strong>Sinn</strong> von Unbedingtheit ist nicht dasselbe wie ein unbedingter<br />

<strong>Sinn</strong>, der Trost spendet. Unter Bedingungen nachmetaphysischen<br />

Denkens kann die Philosophie den Trost nicht ersetzen, mit dem<br />

die Religion das unvermeidliche Leid und das nicht-gesühnte Unrecht,<br />

die Kontingenzen von Not, Einsamkeit, Krankheit und<br />

Tod in anderes Licht rückt und ertragen lehrt. Wohl kann die<br />

Philosophie auch heute noch den moralischen Gesichtspunkt erklären,<br />

unter dem wir etwas unparteilich als recht und unrecht<br />

beurteilen; insoweit ist die kommunikative Vernunft keineswegs<br />

gleich weit von der Moral wie von der Unmoral entfernt. Ein<br />

anderes ist es aber, eine motivierende Antwort auf die Frage <strong>zu</strong><br />

geben, warum wir unseren moralischen Einsichten folgen, überhaupt<br />

moralisch sein sollen. In dieser Hinsicht ließe sich vielleicht<br />

sagen: einen <strong>unbedingten</strong> <strong>Sinn</strong> <strong>zu</strong> <strong>retten</strong> <strong>ohne</strong> Gott, ist eitel.<br />

125


Denn es gehört <strong>zu</strong>r Würde der Philosophie, unnachgiebig darauf<br />

<strong>zu</strong> beharren, daß kein Geltungsanspruch kognitiv Bestand haben<br />

kann, der nicht vor dem Forum der begründenden Rede gerechtfertigt<br />

ist.<br />

126

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