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Evelyn Kulhanek Die Professionalisierung der Pflege in den ...

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1<br />

<strong>Evelyn</strong> <strong>Kulhanek</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> vergangenen 100 Jahren am Beispiel Tirol<br />

<strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> zu erforschen, ist e<strong>in</strong>e fasz<strong>in</strong>ierende Reise zu <strong>den</strong> Wurzeln heutiger<br />

Strukturen. Generell unterscheidet sich die Berufsentwicklung <strong>der</strong> weltlichen <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> und<br />

<strong>in</strong>nerhalb Österreichs deutlich von <strong>der</strong> <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n, und sie erfolgte zeitlich<br />

mit beachtlicher Verzögerung. 1<br />

<strong>Die</strong> Krankenpflege <strong>in</strong> Tirol vor 1839<br />

In <strong>den</strong> Städten Nordtirols f<strong>in</strong><strong>den</strong> wir e<strong>in</strong>e Reihe kirchlicher und bürgerlicher Spitäler. Dem<br />

Spitalsverwalter stand die Hausmutter zur Seite. <strong>Die</strong>se sollte e<strong>in</strong>e gesunde, kräftige, unverheiratete<br />

Frau o<strong>der</strong> k<strong>in</strong><strong>der</strong>lose Witwe mittleren Alters se<strong>in</strong>, gut und sparsam kochen, sp<strong>in</strong>nen, stricken und<br />

nähen können. Zu ihren Aufgaben gehörte Saubermachen und Lüften <strong>der</strong> Krankenzimmer,<br />

Körperre<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> bettlägrigen Patienten, Wechseln und Waschen <strong>der</strong> Bett- und Leibwäsche,<br />

Verabreichung <strong>der</strong> Arzneien nach Anordnung des Arztes, Speisen- und Getränkeausteilen,<br />

Geschirrwaschen, Austragen und Re<strong>in</strong>igen <strong>der</strong> Leibschüsseln und Nachttöpfe. Unterstützt wurde die<br />

Hausmutter von e<strong>in</strong>er o<strong>der</strong> auch, je nach <strong>der</strong> Größe des Spitals, mehreren Mäg<strong>den</strong> bzw.<br />

Krankenwärter<strong>in</strong>nen, <strong>in</strong> Männerspitälern von Wärtern. In e<strong>in</strong>em <strong>der</strong>artigen Tiroler Spital befan<strong>den</strong><br />

sich durchschnittlich 12 bis 35 Personen <strong>in</strong> ärztlicher Behandlung. 2<br />

<strong>Die</strong> Besoldung <strong>der</strong> KrankenwärterInnen – nie taucht <strong>in</strong> <strong>den</strong> Quellen vor 1600 die Bezeichnung<br />

Krankenpfleger auf – regelte ke<strong>in</strong> Gesetz. Man paßte sie <strong>den</strong> regionalen Lebenshaltungskosten an,<br />

wobei <strong>der</strong> ausgezahlte Lohn bei gleichzeitiger freier Kost und Logis ger<strong>in</strong>g war. Bei <strong>den</strong> häufig<br />

auftreten<strong>den</strong> Epidemien wurde <strong>der</strong> erhöhte Arbeitsaufwand und die Ansteckungsgefahr f<strong>in</strong>anziell<br />

beson<strong>der</strong>s abgegolten. 3<br />

Das Knappenspital <strong>in</strong> Schwaz gilt als das älteste sehr gut dokumentierte Montan<strong>in</strong>dustriespital 4 ,<br />

dessen Krankenhausbetrieb im Schwazer Bergbuch von 1556 abgebildet ist. 5<br />

Das Stadtspital von Innsbruck 6<br />

Das Innsbrucker Stadtspital entstand 1307 und beherbergte jahrhun<strong>der</strong>telang alte und gebrechliche<br />

E<strong>in</strong>wohnerInnen. Es war also eigentlich e<strong>in</strong> Altersheim und ke<strong>in</strong> Spital im heutigen S<strong>in</strong>ne. 1817<br />

erfolgte e<strong>in</strong> Neustrukturierung nach dem Muster des Wiener Allgeme<strong>in</strong>en Krankenhauses. <strong>Die</strong><br />

Patienten wur<strong>den</strong> nun, nach ihrer Erkrankung <strong>in</strong> vier Abteilungen, e<strong>in</strong>er mediz<strong>in</strong>ischen und<br />

chirurgischen Abteilung, e<strong>in</strong>er Irrenabteilung und <strong>der</strong> Gebärabteilung, behandelt.<br />

Das <strong>Pflege</strong>personal des Stadtspitals bestand aus drei Männern und sechs Frauen, die über ke<strong>in</strong>erlei<br />

spezifische Ausbildung verfügten. Der monatliche Lohn betrug für die Krankenwärter <strong>der</strong><br />

mediz<strong>in</strong>ischen und chirurgischen Abteilung 11 fl 30 kr, <strong>der</strong> Irrenwärter erhielt 12 fl 30 kr. Der<br />

1 Elisabeth Seidl/Ilsemarie Walter, E<strong>in</strong>führung, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/Hilde Steppe (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Österreich. Krankenschwestern erzählen über die Zeit von 1920 bis 1950 (<strong>Pflege</strong>wissenschaft heute Band IV),<br />

S. 11–17, Wien 1996, hier S. 11ff; vgl. auch Hilde Steppe, Elemente <strong>der</strong> historischen Entwicklung des Berufs <strong>Pflege</strong>.<br />

Österreichische <strong>Pflege</strong>geschichte, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/Hilde Steppe (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong><br />

Österreich, S. 18–34, hier S. 19.<br />

2 Fritz Ste<strong>in</strong>egger, Aus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Krankenpflege <strong>in</strong> Tirol, <strong>in</strong>: Krankenpflegeschulen Innsbruck 1919–1989.<br />

Festschrift zum 70jährigen Bestehen <strong>der</strong> Krankenpflegeschulen <strong>in</strong> Innsbruck, S. 7–13, hier S. 8; vgl. auch Ilse Renate<br />

Sakouschegg, Spitalse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Städte Nordtirols (Innsbruck, Rattenberg, Kitzbühel, Hall und Kufste<strong>in</strong>) vor<br />

1600, phil. Diss. Innsbruck 1965, S. 242 f.<br />

3 Sakouschegg, Spitalse<strong>in</strong>richtungen, S. 75 f. o<strong>der</strong> S. 253.<br />

4 Franz Kirnbauer, Das Bru<strong>der</strong>haus zu Schwaz, <strong>in</strong>: Leobener Grüne Hefte 68 (1963).<br />

5 Erich Egg/Peter Gstre<strong>in</strong>/Hans Sternad, Stadtbuch Schwaz: Natur – Bergbau – Geschichte, Schwaz 1986, S. 127.<br />

6 Franz-He<strong>in</strong>z Hye, Innsbruck. Geschichte und Stadtbild (Tiroler Heimatblätter 2), Innsbruck 1980, S. 86.


2<br />

monatliche Lohn <strong>der</strong> Krankenwärter<strong>in</strong>nen lag bei 10 fl 30 kr, die Irrenwärter<strong>in</strong> erhielt e<strong>in</strong>en Gul<strong>den</strong><br />

mehr. 7 <strong>Die</strong> Spitalsordnung regelte ihre Pflichten.<br />

<strong>Die</strong> “Wärtersleute, <strong>der</strong> betreffen<strong>den</strong> Zimmer haben bei <strong>den</strong> Ord<strong>in</strong>ationen um 7 Uhr <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

mediz<strong>in</strong>ischen, um 9 Uhr <strong>in</strong> <strong>der</strong> chirurgischen und um 4 Uhr nachmittags zu ersche<strong>in</strong>en. [...]<br />

Der Sekundararzt muß darauf achten, daß die Wärtersleute ihre Pflicht tuen und daß<br />

beson<strong>der</strong>s schwache Kranke auf das genaueste gepflegt und ihnen die etwa sonst noch nötige<br />

Hilfe geleistet werde.” 8<br />

<strong>Die</strong> Wärter<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gebärabteilung mußte e<strong>in</strong>e Ausbildung als Hebamme besitzen:<br />

“Zur Wart und <strong>Pflege</strong> <strong>der</strong> Schwangeren und Wöchner<strong>in</strong>nen ist e<strong>in</strong>e eigene Wärter<strong>in</strong><br />

angestellt, die zugleich auch Hebamme se<strong>in</strong> muß; dieselbe ist mit eigenen Instruktionen<br />

versehen, welche folgende wesentliche Punkte enthält, als: Sie hat über die Anwesenheit <strong>der</strong><br />

zahlen<strong>den</strong> Schwangeren o<strong>der</strong> Wöchner<strong>in</strong>nen die strengste Verschwiegenheit zu beobachten,<br />

die etwaigen Besuche vorläufig anzuzeigen und dieselben nur mit ihrem Willen und nur an<br />

solchen Orten zu gestatten, wo die an<strong>der</strong>en Schwangeren und Wöchner<strong>in</strong>nen nicht gesehen<br />

wer<strong>den</strong> können. Überhaupt ist <strong>der</strong> E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Gebärabteilung ke<strong>in</strong>em Frem<strong>den</strong> und selbst<br />

<strong>den</strong> im Hause angestellten Personen nur <strong>in</strong> <strong>Die</strong>nstverrichtungen erlaubt. Es ist ihr auf das<br />

strengste verboten, von dem Unglücke <strong>der</strong> Schwangeren und Wöchner<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>en Gew<strong>in</strong>n zu<br />

ziehen, sie zu außeror<strong>den</strong>tlichen Zahlungen und sogen. [sic!] Tr<strong>in</strong>kgel<strong>der</strong>n bei <strong>der</strong> Geburt, bei<br />

<strong>der</strong> Taufe o<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Entlassung des K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Mutter zu bere<strong>den</strong> o<strong>der</strong> gar unter<br />

gewissen Drohungen zu verhalten.” 9<br />

Der E<strong>in</strong>zug <strong>der</strong> Barmherzigen Schwestern im Innsbrucker Stadtspital<br />

In <strong>den</strong> 30er Jahren des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts erkannten führende Innsbrucker Bürger, daß die<br />

Verwendung ungeschulter Laienkrankenwärter<strong>in</strong>nen für die Patienten unzumutbar war. 10 Beim<br />

Landes-Protomedicus Prof. Dr. Johann Nepomuk Erhart von Erhartste<strong>in</strong> drang man daher auf e<strong>in</strong>e<br />

Reform <strong>der</strong> Krankenpflege.<br />

Spitalsverwalter Honstetter setzte sich auf 18 se<strong>in</strong>er 106 Seiten starken – sehr kritischen –<br />

Beschreibung des Innsbrucker Stadtspitals mit <strong>der</strong> Frage ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, welche Vorteile für das<br />

Gesundheitswesen die Ausübung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> durch die mediz<strong>in</strong>isch fachkundigen Barmherzigen<br />

Schwestern brächten. 11<br />

Fast zur selben Zeit bekundete auch die Generalober<strong>in</strong> des Mutterhauses <strong>der</strong> Barmherzigen<br />

Schwestern <strong>in</strong> München, Schwester Ignatia Jorth, Interesse an e<strong>in</strong>er Nie<strong>der</strong>lassung ihres Or<strong>den</strong>s <strong>in</strong><br />

Innsbruck. Zwischen 1834 und 1836 wandte sie sich <strong>in</strong> dieser Angelegenheit mehrmals an <strong>den</strong><br />

Innsbrucker Stadtmagistrat. Nach vielen Diskussionen – die Stadtverwaltung fürchtete f<strong>in</strong>anzielle<br />

Mehrbelastungen – erteilte er 1836 e<strong>in</strong>e Ansiedlungsbewilligung. Im April 1839 trafen sechs<br />

ausgebildete Klosterschwestern aus München e<strong>in</strong> und traten mit 1. Mai ihren <strong>Die</strong>nst an. 12<br />

Empfand man 1839 die Übergabe <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> an die Barmherzigen Schwestern als e<strong>in</strong>en großen und<br />

richtigen Schritt vorwärts, so kritisch stand man 60 Jahre später <strong>der</strong> Situation gegenüber. <strong>Die</strong><br />

Innsbrucker Nachrichten berichten von e<strong>in</strong>em großen Mangel an ausgebildetem <strong>Pflege</strong>personal für<br />

7 Franz Honstetter, Das Stadtspital im Jahre 1839. UB Innsbruck Handschriftenabteilung Codex 1019, S. 63.<br />

8 Karl Schadelbauer, Das Stadtspital im Jahre 1839. <strong>Die</strong> Beschreibung des Spitalsverwalters Fr. X. Honstetter<br />

(Veröffentlichung aus dem Stadtarchiv Innsbruck 18), Innsbruck 1958, S. 14.<br />

9 Schadelbauer, Das Stadtspital, S. 21.<br />

10 Ste<strong>in</strong>egger, Aus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Krankenpflege <strong>in</strong> Tirol, S. 9 f.<br />

11 UB Innsbruck Handschriftenabteilung, Codex 1019, S. 63–81.<br />

12 Barmherzige Schwestern Innsbruck, o. J., Innsbruck S. 11.


3<br />

Privathaushalte, da nur zwei bis drei weltliche Rot-Kreuzschwestern und 14 Kreuzschwestern – e<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>er <strong>Pflege</strong>or<strong>den</strong> neben <strong>den</strong> Barmherzigen Schwestern – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt zur Verfügung stan<strong>den</strong>. 13<br />

Zu <strong>den</strong> Grün<strong>den</strong>, weshalb viele bürgerliche Frauen davor zurückschreckten, diesen Beruf<br />

auszuüben, gehörten die enormen Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Krankenpflege, aber auch die schlechte<br />

Bezahlung und die fehlende Altersversorgung. 14 E<strong>in</strong>e Folge <strong>der</strong> schlechten Bezahlung war e<strong>in</strong>e Art<br />

“Tr<strong>in</strong>kgeldwirtschaft”, die man von <strong>den</strong> geistlichen <strong>Pflege</strong>or<strong>den</strong> nicht kannte. 15<br />

Unter diesen Voraussetzungen konnte man von e<strong>in</strong>er “professionalisierten” weltlichen <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong><br />

Innsbruck nicht sprechen. Darüber h<strong>in</strong>aus verzögerte die Existenz <strong>der</strong> geistlichen <strong>Pflege</strong>or<strong>den</strong> – so<br />

geschätzt die Schwestern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung waren und so sehr sie als “h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong><br />

Leistungsfähigkeit und Integrität des Charakters <strong>den</strong> weltlichen überlegen” 16 bezeichnet wur<strong>den</strong> –<br />

die <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong> weltlichen <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Tirol bzw. <strong>in</strong> Österreich. 17 Durch ihre – nur gegen<br />

Kost und Logis – geleistete Arbeit war das Problem <strong>der</strong> fehlen<strong>den</strong> Privatpflege für die Stadt und das<br />

Land lange Zeit nicht deutlich sichtbar.<br />

Als <strong>Professionalisierung</strong> wird <strong>der</strong> “Prozeß <strong>der</strong> Verberuflichung handwerklicher und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

geistiger Tätigkeiten, mit <strong>der</strong> Ten<strong>den</strong>z zur Konsolidierung bereits bestehen<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Herausbildung<br />

neuer Berufe” 18 bezeichnet. Wesentlichste Kennzeichen dieser Entwicklung s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e geplante und<br />

organisierte Ausbildung und e<strong>in</strong>e mit <strong>der</strong> Ausübung <strong>der</strong> Tätigkeit verbun<strong>den</strong>e Bezahlung. 19<br />

Bezogen auf die weltliche Krankenpflege lassen sich zwei deutliche <strong>Professionalisierung</strong>sschritte<br />

ausmachen. Der erste, die Verberuflichung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>, ist am Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts anzusetzen,<br />

<strong>der</strong> zweite, die Verwissenschaftlichung, begann erst vor kurzem und dauert noch an. E<strong>in</strong> Indiz für<br />

diesen zweiten Schritt ist auch das zunehmende Interesse <strong>der</strong> Krankenpflegeberufe an <strong>der</strong> eigenen<br />

Geschichte.<br />

<strong>Die</strong> Verberuflichung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong><br />

Am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhun<strong>der</strong>t kristallisierten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen europäischen Län<strong>der</strong>n,<br />

z.B. Großbritannien, <strong>der</strong> Schweiz o<strong>der</strong> Deutschland, nahezu zeitgleich völlig neue Strukturen und<br />

Aufgaben <strong>der</strong> Krankenpflege heraus. Verantwortlich dafür waren drei unterschiedliche Faktoren.<br />

Im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t, dem Zeitalter <strong>der</strong> Aufklärung, betrachtete man <strong>den</strong> Menschen als<br />

objektivierbaren Gegenstand, <strong>der</strong> wissenschaftlich zerlegt und <strong>der</strong> Therapie zugeführt wer<strong>den</strong><br />

konnte. Gesundheit wurde zunehmend zu e<strong>in</strong>em bürgerlichen Ideal, je<strong>der</strong> war für se<strong>in</strong>en Körper<br />

selbst verantwortlich. 20 Der Staat sorgte für die normativen Grundlagen des öffentlichen<br />

Gesundheitssystems, da er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bevölkerung e<strong>in</strong> kostbares Gut sah, das es gesund zu erhalten galt.<br />

13 Innsbrucker Nachrichten, 14. März 1903.<br />

14 Der jährliche Lohn betrug <strong>in</strong> manchen Fällen nur 50 fl, was <strong>in</strong> etwa dem Gehalt e<strong>in</strong>es <strong>Die</strong>nstmädchens entsprach.<br />

Vgl. Innsbrucker Nachrichten, 14. März 1903, S. 9.<br />

15 Innsbrucker Nachrichten, 14. März 1903.<br />

16 Ebd.<br />

17 E<strong>in</strong>e Analyse <strong>der</strong> geschichtlichen Faktoren für die Entwicklung <strong>der</strong> Krankenpflege <strong>in</strong> Deutschland, Schweiz und<br />

Österreich z.B. bei Elisabeth Seidl, Zur Lage <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> und ihre Akademisierung <strong>in</strong> Österreich, <strong>in</strong>: Andreas<br />

Heller/Doris Schäffer/Elisabeth Seidl (Hrsg.), Akademisierung von <strong>Pflege</strong> und Public Health. E<strong>in</strong><br />

gesundheitswissenschaftlicher Dialog (<strong>Pflege</strong>wissenschaft heute Band III), Wien 1995, S. 13–39, hier S. 13 ff; vgl. auch<br />

Alfred Fritschi, Schwesterntum. Zur Sozialgeschichte <strong>der</strong> weiblichen Berufskrankenpflege <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz 1850–1930,<br />

Zürich 1990. Zur <strong>Professionalisierung</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA z.B. Doris Schäffer, <strong>Pflege</strong>studiengänge <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA. Lernen für die<br />

Entwicklung im deutschsprachigen Raum, <strong>in</strong>: Andreas Heller/Doris Schäffer/Elisabeth Seidl (Hrsg.), Akademisierung<br />

von <strong>Pflege</strong> und Public Health, S. 127–148.<br />

18 Sandra Beaufays, <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong> Geburtshilfe. Machtverhältnisse im gesellschaftlichen<br />

Mo<strong>der</strong>nisierungsprozeß, Wiesba<strong>den</strong> 1997, S. 3.<br />

19 Hans Albrecht Hesse, Berufe im Wandel. E<strong>in</strong> Beitrag zur Soziologie des Berufs, <strong>der</strong> Berufspolitik und des<br />

Berufsrechts, Stuttgart 1972, S. 131; vgl. auch Claudia Huerkamp, Der Aufstieg <strong>der</strong> Ärzte im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t. Vom<br />

gelehrten Stand zum professionellen Experten: das Beispiel Preußens, Gött<strong>in</strong>gen 1985, S. 17.<br />

20 Hierzu beson<strong>der</strong>s Alfons Labisch, Homo hygienicus. Gesundheit und Mediz<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neuzeit, Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 1992.


4<br />

Neue Ausbildungsrichtl<strong>in</strong>ien für das Sanitätspersonal forcierten e<strong>in</strong>e <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong><br />

Ärzteschaft. 21<br />

Im Laufe des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts wur<strong>den</strong> die akademisch ausgebildeten Ärzte staatlicherseits mit<br />

erweiterten Kompetenzen ausgestattet. 22 Bestimmte Sanitätspersonalgruppen durften jetzt nur mehr<br />

ganz konkrete e<strong>in</strong>geschränkte Leistungen erbr<strong>in</strong>gen. Das jeweilige Fachwissen – <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das<br />

<strong>der</strong> Ärzte – wurde exklusiv genützt.<br />

Mit <strong>der</strong> <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong> Ärzteschaft entstand gleichzeitig e<strong>in</strong>e hierarchische Abstufung<br />

aller an<strong>der</strong>en mediz<strong>in</strong>ischen Berufe. <strong>Die</strong> Ärzte übernahmen die Führungsrolle, die restlichen Berufe<br />

des Gesundheitswesens verkamen zu Hilfsdiensten <strong>der</strong> Mediz<strong>in</strong>. <strong>Die</strong>ser – stark<br />

geschlechtsspezifisch ausgerichtete – Vorgang führte zur Delegierung aller unwissenschaftlichen,<br />

körpernahen, alltäglichen Verrichtungen am Patienten an handwerklich zuarbeitende Personen –<br />

vorzugsweise Frauen – unter Aufsicht <strong>der</strong> Ärzte. Der wissenschaftlich-rationale, übergeordnete<br />

Bereich verblieb weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> Männerhand. 23<br />

Das 19. Jahrhun<strong>der</strong>t brachte aber nicht nur die <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong> Ärzteschaft, auch die<br />

mediz<strong>in</strong>ische Infrastruktur bildete sich weiter aus. Blieb <strong>der</strong> Patient früher vorzugsweise <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Heim, umsorgt von se<strong>in</strong>er Familie, so suchte er nun verstärkt das Krankenhaus auf. Dort stand er<br />

unter <strong>der</strong> Aufsicht <strong>der</strong> Ärzte, <strong>den</strong>n die vielen neuen Therapien konnten nur mehr im Spital erfolgen.<br />

Dazu wurde jetzt mehr qualifiziertes Personal, das <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage war, die ärztlichen Anordnungen<br />

auszuführen, benötigt, und <strong>der</strong> Bedarf an gut ausgebildetem <strong>Pflege</strong>personal stieg.<br />

In <strong>der</strong> 2. Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts erleben wir die Entwicklung zur mo<strong>der</strong>nen, arbeitsteiligen<br />

Gesellschaft. Außerhäusliche Arbeit verh<strong>in</strong><strong>der</strong>te die, früher private pflegerische Versorgung – je<br />

komplexer die Gesellschaft, um so professioneller die erbrachten sozialen Leistungen.<br />

<strong>Die</strong> schnell anwachsende Bevölkerung und ihr durchschnittlich schlechter Gesundheitszustand,<br />

verschlimmerte die Situation zusätzlich – immer mehr Kranke mußten im Krankenhaus versorgt<br />

wer<strong>den</strong>.<br />

E<strong>in</strong>e Begleitersche<strong>in</strong>ung <strong>der</strong> Industrialisierung, die Massenverelendung, machte die Erweiterung<br />

<strong>der</strong> staatlichen Hilfsdienste erfor<strong>der</strong>lich. E<strong>in</strong> Netz sozialer, zunächst nicht staatlicher<br />

Unterstützungse<strong>in</strong>richtungen, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf kommunaler Ebene, entstand, wobei hier <strong>der</strong><br />

Bedarf an professionellem <strong>Pflege</strong>personal anstieg. 24<br />

Durch die kriegerischen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> 2. Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts kam es <strong>in</strong><br />

Europa und <strong>den</strong> USA zu Engpässen bei <strong>der</strong> Kranken- und Verwundetenpflege. Vielen bürgerlichen<br />

Frauen bot die Tätigkeit als freiwillige <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong> erstmals die Chance e<strong>in</strong>er selbständigen<br />

Berufsausübung. Bisher war für die Frauen des kle<strong>in</strong>eren und mittleren Bürgertums ausschließlich<br />

e<strong>in</strong> Leben und Arbeiten im Kreise <strong>der</strong> Familie vorgesehen gewesen. Nun eröffneten sich neue<br />

Perspektiven e<strong>in</strong>er zudem gesellschaftlich anerkannten professionellen Tätigkeit. 25<br />

<strong>Die</strong> gemäßigte, bürgerliche Frauenbewegung for<strong>der</strong>te das Recht auf Bildung und auf außerhäusliche<br />

Betätigung vor allem <strong>in</strong> Berufen, die dem “weiblichen Wesen angepaßt” schienen. In <strong>den</strong><br />

ursprünglich häuslichen Funktionen, wie es z.B. <strong>Pflege</strong> und Erziehung waren, versuchten die<br />

Frauen, sich bestimmte Berufsfel<strong>der</strong> zu sichern. Allerd<strong>in</strong>gs verfestigten sich damit familiäre<br />

Strukturen im öffentlichen Leben. <strong>Die</strong> Ergänzung “<strong>der</strong> männlichen Kultur” durch die “weibliche<br />

Natur” sollte zur gesellschaftlichen Harmonie führen. 26<br />

21 Claudia Honegger, Frauen und mediz<strong>in</strong>ische Deutungsmacht im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, <strong>in</strong>: Alfons Labisch/Re<strong>in</strong>hard Spree<br />

(Hrsg.), Mediz<strong>in</strong>ische Deutungsmacht im sozialen Wandel, Bonn 1989, S. 181–194, hier S. 186; vgl. auch <strong>Evelyn</strong><br />

<strong>Kulhanek</strong>, <strong>Die</strong> Wundärzte, e<strong>in</strong> verdrängter Beruf. Zur Sozialgeschichte des Sanitätspersonals im Tirol des 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts, Diplomarbeit Innsbruck 1996, S. 4 ff.<br />

22 Grundsätzliches dazu bei Huerkamp, Der Aufstieg <strong>der</strong> Ärzte, S. 119–166.<br />

23 Steppe, Elemente, S. 29 f.<br />

24 Ebd., S. 22 f.<br />

25 Alfred Fritschi, Zur Prägung <strong>der</strong> sozialen Rolle <strong>der</strong> weiblichen Krankenpflege bis zum Ersten Weltkrieg <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Schweiz, <strong>in</strong>: Alfons Labisch/Re<strong>in</strong>hard Spree (Hrsg.), Mediz<strong>in</strong>ische Deutungsmacht im sozialen Wandel, S. 157–170,<br />

hier S. 158 f.<br />

26 Steppe, Elemente, S. 26.


5<br />

Wohltätigkeits- und Frauenerwerbsvere<strong>in</strong>e waren wichtige Promotoren <strong>der</strong> bürgerlichen<br />

Frauenbewegung. Sie bereiteten z.B. <strong>in</strong> Prag und Wien <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong> für die <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>. 27<br />

Krankenpflegeschulen ...<br />

1860 gründete Florence Night<strong>in</strong>gale unter dem E<strong>in</strong>druck ihrer während des Krimkrieges gemachten<br />

Erfahrungen die erste Krankenpflegeschule <strong>der</strong> Welt <strong>in</strong> London. Ihr zur Ausbildung von<br />

<strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen entwickeltes Konzept wurde zum Vorbild für ähnliche E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> ganz Europa,<br />

wobei manche ihrer Gedanken auch heute noch gültig s<strong>in</strong>d. 28<br />

... <strong>in</strong> Prag<br />

Erste Bestrebungen, Lehrveranstaltungen über Krankenpflege auf dem Gebiet <strong>der</strong> Habsburger<br />

Monarchie anzubieten, gab es schon 1786, als man <strong>in</strong> Prag e<strong>in</strong>ige öffentliche Universitätsvorträge<br />

darüber plante. “[...] Krankenpfleger, Männer wie Frauen, die sich damals aus <strong>den</strong> sozial schwachen<br />

Schichten rekrutierten [...]” 29 , aber auch Mediz<strong>in</strong>er, Stu<strong>den</strong>ten <strong>der</strong> Chirurgie und<br />

Hebammenkandidat<strong>in</strong>nen sollten dazu e<strong>in</strong>gela<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>. Nach e<strong>in</strong>er Probevorlesung stellte man<br />

dieses Vorhaben allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>. Zehn Jahre später wurde “Krankenpflege” dann wirklich – diesmal<br />

als Bestandteil des Faches Diätetik – unterrichtet. <strong>Die</strong> HörerInnen kamen aus verschie<strong>den</strong>en<br />

Gesellschaftsschichten, wobei die Vorträge von <strong>der</strong> Gesun<strong>der</strong>haltung über K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehung bis zur<br />

Krankenpflege reichten. 30<br />

<strong>Die</strong> erste Krankenpflegeschule für Frauen entstand 1874 <strong>in</strong> Prag. Träger <strong>der</strong> Ausbildung waren <strong>der</strong><br />

“Böhmische Frauen Erwerbsvere<strong>in</strong>” und <strong>der</strong> “Vere<strong>in</strong> Böhmischer Ärzte”.<br />

Den ersten Jahrgang besuchten elf or<strong>den</strong>tliche und 30 außeror<strong>den</strong>tliche Hörer<strong>in</strong>nen, vorgetragen<br />

wur<strong>den</strong> die Fächer Anatomie, Physiologie, Hygiene, chirurgische Hilfeleistungen und<br />

Verbandslehre. <strong>Die</strong> praktischen Übungen dazu fan<strong>den</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Altersheim statt.<br />

<strong>Die</strong> außeror<strong>den</strong>tlichen Hörer<strong>in</strong>nen, die die <strong>Pflege</strong> für <strong>den</strong> persönlichen Bedarf erlernen wollten,<br />

durften nur an <strong>den</strong> theoretischen Vorlesungen teilnehmen. <strong>Die</strong>jenigen, die h<strong>in</strong>gegen <strong>den</strong> <strong>Pflege</strong>beruf<br />

ausüben wollten, mußten <strong>den</strong> gesamten Unterricht absolvieren und erhielten e<strong>in</strong> Abschlußdiplom.<br />

Tschechischsprachigen Frauen bot man Deutschkurse an, damit sie auch bei deutschsprachigen<br />

Familien arbeiten konnten.<br />

Obwohl die <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen, die diese Ausbildung durchlaufen hatten, sehr gefragt waren und sich<br />

ausgezeichnet bewährten, stellte man 1881 die Kurse e<strong>in</strong>.<br />

<strong>Die</strong> tschechischen Ärzte stan<strong>den</strong> dieser ersten Krankenpflegeschule sehr aufgeschlossen gegenüber,<br />

sie unterstützten die Ausbildung und erteilten kostenlosen Unterricht. Das war beson<strong>der</strong>s für<br />

Wiener Ärzte erstaunlich. Sie fan<strong>den</strong> e<strong>in</strong>e geregelte Ausbildung für Krankenpfleger<strong>in</strong>nen<br />

unwichtig. 31 So ist es nicht weiter verwun<strong>der</strong>lich, daß <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> ersten Krankenpflegeschule<br />

<strong>in</strong> Wien <strong>der</strong> Deutsche Theodor Billroth war, dessen von ihm <strong>in</strong>itiierte Schule am Rudolf<strong>in</strong>erhaus<br />

sich an <strong>der</strong> Prager orientierte.<br />

27 Ingrid Darmann/Christ<strong>in</strong>e Mayer/Kar<strong>in</strong> Wittneben, Krankenpflege als bürgerlicher Frauenberuf. Entwicklungsl<strong>in</strong>ien<br />

unter dem E<strong>in</strong>fluß von Wohltätigkeits- und Frauenerwerbsvere<strong>in</strong>en sowie <strong>der</strong> Freien Gewerkschaft, <strong>in</strong>: Elisabeth<br />

Seidl/Ilsemarie Walter (Hrsg.), Rückblick für die Zukunft. Beiträge zur historischen <strong>Pflege</strong>forschung<br />

(<strong>Pflege</strong>wissenschaft heute Band V), S. 70–98, hier S. 71ff; vgl. auch Veronika Kleibel, Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Schwesternschaft, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/ Hilde Steppe (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Österreich, S. 156–191,<br />

hier S. 158 f.<br />

28 Marta Stankova, <strong>Die</strong> tschechische <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/Marta Stankova (Hrsg.),<br />

Ende <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>krise? E<strong>in</strong> <strong>in</strong>terkultureller Vergleich zur Arbeitssituation im Krankenhaus (<strong>Pflege</strong>wissenschaft heute<br />

Band II), Wien 1994, S. 13–40, hier S. 18.<br />

29 Ilsemarie Walter, Entwicklungsten<strong>den</strong>zen <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>. Österreich und die Tschechoslowakei im Vergleich, <strong>in</strong>:<br />

Elisabeth Seidl/Marta Stankova (Hrsg.), Ende <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>krise? S. 75–97, hier S. 76.<br />

30 Ebd., S. 76.<br />

31 Ebd., S. 77 ff.


6<br />

... <strong>in</strong> Wien<br />

An <strong>der</strong> Universität Wien unterrichtete man Krankenpflege ab 1812 <strong>in</strong> außeror<strong>den</strong>tlichen<br />

Vorlesungen. Es wur<strong>den</strong> Sonntagsvorlesungen mit praktischen Übungen durchgeführt, die <strong>in</strong> erster<br />

L<strong>in</strong>ie für Krankenwärter und Hebammenzögl<strong>in</strong>ge gedacht waren, darüber h<strong>in</strong>aus jedoch auch von<br />

<strong>in</strong>teressierten Laien besucht wer<strong>den</strong> konnten. <strong>Die</strong>se Vorlesungen blieben bis 1848 am Lehrplan.<br />

1875 wurde <strong>der</strong> Rudolf<strong>in</strong>ervere<strong>in</strong> gegründet, <strong>der</strong> die Grundlagen für die zu errichtende Schule<br />

erarbeiten sollte. Der Vere<strong>in</strong> bestand aus acht Frauen und sieben Ärzten. E<strong>in</strong>es <strong>der</strong><br />

Gründungsmitglie<strong>der</strong> war Kath<strong>in</strong>ka von Rosen. Sie war selbst als Berufspfleger<strong>in</strong> tätig, hatte ihre<br />

Ausbildung im Augusta Viktoria-Hospital <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erhalten und später <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kriegskrankenpflege<br />

<strong>in</strong> Deutschland und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Türkei gearbeitet. Frau von Rosen, Verfasser<strong>in</strong> <strong>der</strong> Schrift Über die<br />

Organisation <strong>der</strong> bisher bestehen<strong>den</strong> Schulen zur Ausbildung von <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen für Kranke und<br />

Verwundete, engagierte sich im Rudolf<strong>in</strong>ervere<strong>in</strong>, um “durch e<strong>in</strong>e gute <strong>Pflege</strong> das Loos (sic!) <strong>der</strong><br />

Kranken zu bessern, <strong>in</strong> zweiter L<strong>in</strong>ie aber, gebildeten Frauen die Möglichkeit zu eröffnen die<br />

Krankenpflege als Beruf zu erwählen”. 32<br />

Sowohl die theoretische als auch die praktische Ausbildung sollte von e<strong>in</strong>er Frau geleitet wer<strong>den</strong>,<br />

Ärzte spielten für sie nur e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle im Unterricht. Billroth, diesbezüglich ganz<br />

an<strong>der</strong>er Ansicht, legte e<strong>in</strong> eigenes Organisationsstatut fest, worauf Kath<strong>in</strong>ka von Rosen aus dem<br />

Vere<strong>in</strong> austrat.<br />

Theodor Billroth g<strong>in</strong>g es bei <strong>der</strong> Gründung e<strong>in</strong>er <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nenschule <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie um<br />

mediz<strong>in</strong>ische Interessen. <strong>Die</strong> Wärter<strong>in</strong>nen, die er am Wiener Allgeme<strong>in</strong>en Krankenhaus erlebte,<br />

entsprachen nicht se<strong>in</strong>en Vorstellungen. Sie hatten für ihn <strong>den</strong> “nie<strong>der</strong>sten Bildungs- und oft auch<br />

lei<strong>der</strong> nie<strong>der</strong>sten Empf<strong>in</strong>dungsgrad”. 33 Er wünschte sich gebildete Krankenpfleger<strong>in</strong>nen, die<br />

fachlich unter <strong>der</strong> Leitung von Ärzten arbeiten und von ihnen auch ausgebildet wer<strong>den</strong> sollten.<br />

Billroth erwartete von <strong>den</strong> Schüler<strong>in</strong>nen selbständiges Denken, um das Gesehene und Gehörte<br />

komb<strong>in</strong>ieren zu lernen.<br />

1882 begann <strong>der</strong> Unterricht im Rudolf<strong>in</strong>erhaus, das als Mutterhaus, <strong>der</strong> “weltlichen” Kopie e<strong>in</strong>es<br />

<strong>Pflege</strong>or<strong>den</strong>s, organisiert war. <strong>Die</strong> Schüler<strong>in</strong>nen sollten hier zu “Sittlichkeit, Guttat, Fleiß und<br />

tüchtigem Streben erzogen” wer<strong>den</strong>, jedoch ohne religiösen H<strong>in</strong>tergrund. Fleiß sollte das ganze<br />

Leben <strong>der</strong> Schwester durchdr<strong>in</strong>gen. Während konfessionelle Or<strong>den</strong> die “überflüssige” Zeit mit<br />

geistlichen Übungen verbrächten, so sollte jede Stunde des Tages <strong>der</strong> weltlichen <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen im<br />

Rudolf<strong>in</strong>erhaus, ausgenommen die <strong>der</strong> vorbestimmten Freizeit, mit <strong>Die</strong>nstverpflichtungen<br />

ausgefüllt se<strong>in</strong>. 34<br />

Durch das Zusammenleben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geschlossenen Geme<strong>in</strong>schaft erhoffte sich Billroth, ungewollte<br />

E<strong>in</strong>flüsse <strong>der</strong> Umwelt von <strong>den</strong> <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen fernhalten zu können. <strong>Die</strong> absolute sittliche Korrektheit<br />

se<strong>in</strong>er Schwestern war nötig, um ihnen e<strong>in</strong> ähnlich hohes gesellschaftliches Ansehen wie <strong>den</strong><br />

katholischen <strong>Pflege</strong>or<strong>den</strong> zu ermöglichen.<br />

Wesentliches Merkmal des Mutterhaussystems war die enge Lebensgeme<strong>in</strong>schaft <strong>der</strong> Schwestern.<br />

E<strong>in</strong>er Ober<strong>in</strong> unterstan<strong>den</strong> wie <strong>der</strong> Mutter <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Familie alle “häuslichen D<strong>in</strong>ge”. <strong>Die</strong><br />

Geme<strong>in</strong>schaft bestand ähnlich wie bei e<strong>in</strong>em Or<strong>den</strong> e<strong>in</strong> Leben lang. Auch bei Krankheit o<strong>der</strong> im<br />

Alter konnten die Schwestern im Mutterhaus verbleiben. Das äußere Zeichen <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft war<br />

die eigene Tracht.<br />

Durch die Verpflichtung, im Mutterhaus zu wohnen, stan<strong>den</strong> die <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen praktisch rund um<br />

die Uhr zur Verfügung. Das Leben spielte sich hauptsächlich auf <strong>der</strong> Krankenstation ab. Dort<br />

befan<strong>den</strong> sich – gleich neben <strong>den</strong> Krankensälen – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Anfangszeit des Rudolf<strong>in</strong>ums auch die<br />

32 Kleibel, Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schwesternschaft, S. 158.<br />

33 Ebd., S. 157.<br />

34 Ebd., S. 162.


7<br />

Schlafräume <strong>der</strong> Schwestern. Privat- o<strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaftsleben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Freizeit war nicht möglich.<br />

Erst ab 1902 erhielten die Schwestern e<strong>in</strong>en eigenen Pavillon mit e<strong>in</strong>em Aufenthaltsraum. 35<br />

Das Arbeitspensum <strong>der</strong> Schwestern war enorm. 1899/1900 galt folgende <strong>Die</strong>nstordnung:<br />

“'Hauptdienst': ununterbrochener 24-Stun<strong>den</strong>-<strong>Die</strong>nst, von 12 Uhr mittags bis 12 Uhr mittags<br />

des nächsten Tages. <strong>Die</strong> 'Beidienstschwester' arbeitete von 12 Uhr mittags bis 8 Uhr abends<br />

und begann <strong>den</strong> <strong>Die</strong>nst wie<strong>der</strong> um 7 Uhr früh. Um 12 Uhr mittags löste sie die<br />

'Hauptdienstschwester' ab und setzte ihren <strong>Die</strong>nst bis zum Mittag des nächsten Tages fort. <strong>Die</strong><br />

<strong>Die</strong>nstzeit betrug also bei Absolvierung des 'Beidienstes' mit anschließendem 'Hauptdienst'<br />

<strong>in</strong>sgesamt 29 Stun<strong>den</strong>. Anschließend hatte die ‘Hauptdienstschwester’ von 12 Uhr mittags bis<br />

7 Uhr früh des nächsten Tages 'frei'.” 36<br />

<strong>Die</strong>ser Bericht <strong>der</strong> Krankenpflegeschüler<strong>in</strong> Anna Spitzer gibt e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die<br />

Ausbildungspraxis am Rudolf<strong>in</strong>erhaus. 1871 <strong>in</strong> Wien geboren, besuchte sie die Bürgerschule, ließ<br />

sich zur K<strong>in</strong><strong>der</strong>gärtner<strong>in</strong> ausbil<strong>den</strong>, als welche sie neun Jahre tätig war, und trat im Herbst 1899 mit<br />

28 Jahren <strong>in</strong>s Rudolf<strong>in</strong>um e<strong>in</strong>.<br />

Ende Jänner 1900 erkrankte sie während ihrer Ausbildung zur Krankenpfleger<strong>in</strong> an e<strong>in</strong>em<br />

Lungenspitzenkatarrh und mußte die Ausbildung abbrechen.<br />

“<strong>Die</strong> pflichtgemäße Leistung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>schüler<strong>in</strong>, welche sich auf <strong>den</strong> <strong>Die</strong>nst am<br />

Krankenbette und auf die Re<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Krankensäle und Nebenräume, sowie <strong>der</strong> zur<br />

Krankenpflege nöthigen Apparate erstreckt, ist – und dies gleich beim E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Anstalt,<br />

dieselbe wie die <strong>der</strong> geprüften bzw. diplomierten <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>, nur mit dem Unterschiede, daß<br />

die Schüler<strong>in</strong> ihre dienstlichen Obliegenheiten unter <strong>der</strong> Anleitung und Aufsicht <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Krankenschwestern versieht. Der ärztliche Unterricht zerfällt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en praktischen und e<strong>in</strong>en<br />

theoretischen Theil. Der praktische Theil wird bei <strong>der</strong> Visite besorgt, <strong>der</strong> theoretische <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em wöchentlichen zweistündigen Curs, <strong>der</strong> vom Director und <strong>in</strong> dessen Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung vom<br />

Assistenten abgehalten wird. Gegenstand dieses Curses s<strong>in</strong>d Vorträge über <strong>den</strong> <strong>in</strong> Prof.<br />

Billroth's ‘Krankenpflege im Haus und Hospital' enthaltenen Lehrstoff: Anatomie <strong>der</strong><br />

Menschen, Wundbehandlung, Anlegen von Verbän<strong>den</strong>, erste Hilfeleistung bei Unglücksfällen<br />

usw. Nach Ablauf e<strong>in</strong>es Jahres hat die <strong>Pflege</strong>schüler<strong>in</strong> über diesen Lehrstoff e<strong>in</strong>e Prüfung<br />

abzulegen.” 37<br />

<strong>Die</strong> theoretische Ausbildung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen lag, wie wir sehen konnten, ausschließlich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Hand <strong>der</strong> Ärzte. Nur beim praktischen Unterricht dienten erfahrene Schwestern zur Unterstützung.<br />

In <strong>den</strong> ersten 20 Jahren des Bestands <strong>der</strong> Schule am Rudolf<strong>in</strong>um gab es nur wenige Bewerber<strong>in</strong>nen.<br />

Billroth schreibt im Jahresbericht 1887 des Rudolf<strong>in</strong>ervere<strong>in</strong>s:<br />

“<strong>Die</strong> hohen Ansprüche, welche von uns an die Arbeitskraft und die sittliche Haltung <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen gemacht wer<strong>den</strong>, haben zur Folge, dass so manche <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong> schon nach <strong>der</strong><br />

ersten Woche wie<strong>der</strong> austritt”. 38<br />

Mit <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>schule am Rudolf<strong>in</strong>erhaus wollte Billroth e<strong>in</strong> Vorbild für ähnliche Institutionen <strong>in</strong><br />

<strong>den</strong> an<strong>der</strong>en österreichischen Län<strong>der</strong>n schaffen.<br />

35 Ebd., S. 166 f.<br />

36 Elisabeth Malleier, Jüdische Krankenpfleger<strong>in</strong>nen im Rudolf<strong>in</strong>erhaus 1882–1906. E<strong>in</strong>e In(tro)spektion, <strong>in</strong>: Elisabeth<br />

Seidl/Ilsemarie Walter (Hrsg.), Rückblick für die Zukunft, Wien 1998, S. 180–207, hier S. 193.<br />

37 Ebd., S. 192 f.<br />

38 Kleibel, Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schwesternschaft, S. 166.


8<br />

In Tirol lag – im Gegensatz zu Wien – bis zum Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts die stationäre <strong>Pflege</strong><br />

ausnahmslos <strong>in</strong> <strong>den</strong> Hän<strong>den</strong> <strong>der</strong> Barmherzigen Schwestern. Abgesehen von <strong>den</strong> schon weiter oben<br />

genannten ausgebildeten Privatpfleger<strong>in</strong>nen waren noch viele Laienkrankenwärter<strong>in</strong>nen tätig.<br />

In <strong>den</strong> Innsbrucker Nachrichten von 1906 for<strong>der</strong>te die Ärzteschaft e<strong>in</strong>e dr<strong>in</strong>gende Reform <strong>der</strong> von<br />

katholischen Or<strong>den</strong> und vom Laienwärter<strong>in</strong>nen-Wesen geprägten Krankenpflege. <strong>Die</strong><br />

Or<strong>den</strong>sschwestern<br />

“widmen sich mit H<strong>in</strong>gabe, viele wer<strong>den</strong> Opfer ihres Berufes, sterben <strong>den</strong> ‘ruhmlosen<br />

Hel<strong>den</strong>tod’. Daneben gibt es e<strong>in</strong>e Anzahl von Personen weiblichen Geschlechts, die sich<br />

mündlich und schriftlich ‘Krankenpfleger<strong>in</strong>nen’ nennen, im besten Falle mit dem gleichen<br />

Rechte wie <strong>der</strong> ‘Hauptmann von Köpenik’ sich Titel und Uniform e<strong>in</strong>es preußischen<br />

Gardehauptmannes beilegte, nur mit dem Unterschiede, daß dem letzteren Intelligenz und<br />

Humor niemand absprechen kann, was bei ersteren selbst e<strong>in</strong> sanftes Gemüt <strong>in</strong> 95% <strong>der</strong> Fälle<br />

ohne se<strong>in</strong> Gewissen zu belasten, beruhigt tun darf. Bezüglich <strong>der</strong> Frage, wo sie ihre<br />

Ausbildung zur Krankenpflege genossen, ist es ratsam, sich die Antwort selbst zu pfeifen o<strong>der</strong><br />

bei guten Stimmitteln zu s<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Gestalt des Leitmotivs aus ‘Lohengr<strong>in</strong>’: Nie sollst du mich<br />

befragen, nach Wissens Sorge tragen! <strong>Die</strong>se Personen, sieht und hört man am Krankenbett,<br />

plump und <strong>der</strong>b, grob <strong>in</strong> ihren Hantierungen, polternd bei je<strong>der</strong> Bewegung, bar jeglichen<br />

Verständnisses für <strong>den</strong> psychischen und somatischen Zustand des Kranken [...].” 39<br />

<strong>Die</strong> katholischen Or<strong>den</strong>sschwestern, so verdienstvoll ihre Arbeit auch war, wur<strong>den</strong> dagegen schon<br />

1903 von Franz Thurner 40 im gleichen Blatt wegen <strong>der</strong> “Proselyten-Macherei” kritisiert. Er me<strong>in</strong>te,<br />

die Lourdes-Geschichten, das Heiligenbildwesen, <strong>der</strong> Gebetszwang, die Gelübde und die damit<br />

verbun<strong>den</strong>en Spen<strong>den</strong> und “Extravaganzen” seien für die Kranken sehr belastend. 41<br />

... <strong>in</strong> Innsbruck<br />

In Innsbruck organisierte Frau Angelica Außerer-Riccabona, e<strong>in</strong>e ehemalige “Wiener<br />

Rudolf<strong>in</strong>er<strong>in</strong>”, mit Hilfe des 1903 gegründeten Landesverbandes “Barmherzigkeit” 42 für Tirol und<br />

Vorarlberg e<strong>in</strong>e Ausbildungsmöglichkeit für weltliche <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen. 43 E<strong>in</strong>e Schule nach dem<br />

Wiener Vorbild kam zu diesem Zeitpunkt <strong>in</strong> Innsbruck aber nicht zustande.<br />

Schon 1902 h<strong>in</strong>gegen konnten die Barmherzigen Schwestern zwölftägige Krankenpflegekurse mit<br />

abschließen<strong>der</strong> Prüfung an <strong>der</strong> Innsbrucker Kl<strong>in</strong>ik belegen. 44 Ab 1913 plante <strong>der</strong> Or<strong>den</strong> die<br />

Errichtung e<strong>in</strong>er eigenen <strong>Pflege</strong>schule für weltliche und geistliche Schwestern. Der Ausbruch des 1.<br />

Weltkrieges unterbrach aber alle Überlegungen und Projekte <strong>in</strong> dieser Richtung.<br />

Endlich fand im Mai 1919 die Eröffnung <strong>der</strong> Innsbrucker Krankenpflegeschule am V<strong>in</strong>zent<strong>in</strong>um,<br />

Innra<strong>in</strong> 51, statt. <strong>Die</strong>ses Haus war nach <strong>den</strong> Wünschen <strong>der</strong> Barmherzigen Schwestern <strong>in</strong><br />

unmittelbarer Nähe des <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1880er Jahren neuerrichteten Spitals erbaut wor<strong>den</strong>. Der<br />

39 Innsbrucker Nachrichten, 1. Dezember 1906.<br />

40 Franz Thurner (1862–1917), kaiserlicher Rat; ab 1896 Geme<strong>in</strong><strong>der</strong>at <strong>in</strong> Innsbruck, Obmann des<br />

Wohlfahrtsausschusses. Er <strong>in</strong>itiierte zahlreiche Wohlfahrtsprojekte, mit Kriegsbeg<strong>in</strong>n Tätigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kriegsfürsorge<br />

und beim Roten Kreuz, vgl. Tiroler Anzeiger, 27. August 1917.<br />

41 Innsbrucker Nachrichten, 14. März 1903.<br />

42 Satzungen des Landes-Verbandes <strong>der</strong> katholischen Wohltätigkeits-Unternehmungen von Tirol “Barmherzigkeit”,<br />

Innsbruck 1903, TLM Ferd<strong>in</strong>andeum. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Sektionen dieses Verbandes war für Armen- und Krankenpflege<br />

zuständig, <strong>der</strong> Frau Angelika Außerer-Riccabona vorstand.<br />

43 Vgl. Bericht des Landes-Verbandes <strong>der</strong> katholischen Wohltätigkeits-Unternehmungen von Tirol “Barmherzigkeit”,<br />

Innsbruck 1904, S. 12. <strong>Die</strong> dr<strong>in</strong>glichste Aufgabe <strong>der</strong> Sektion für Armen- und Krankenpflege war die Ausbildung von<br />

<strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen für <strong>den</strong> ländlichen Bereich. Im Dezember 1904 lagen sechs Anmeldungen von <strong>in</strong>teressierten<br />

Bewerber<strong>in</strong>nen vor, die am 2. Jänner 1905 mit e<strong>in</strong>em sechsmonatigen Kurs am Innsbrucker Krankenhaus beg<strong>in</strong>nen<br />

sollten.<br />

44 Barmherzige Schwestern Innsbruck, S. 16.


9<br />

Krankenhausdirektor fungierte als Schulleiter, Assistenten und Oberärzte unterrichteten, und e<strong>in</strong>e<br />

barmherzige Schwester besetzte die Ober<strong>in</strong>nenstelle. 45<br />

Der erste Kurs an <strong>der</strong> Schule dauerte nur e<strong>in</strong> halbes Jahr und war für Schwestern vorgesehen, die<br />

bereits m<strong>in</strong>destens drei Jahre als <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>nen gearbeitet hatten. Im Oktober 1919 erhielten 33<br />

Schüler<strong>in</strong>nen – vorwiegend geistliche Schwestern, Barmherzige aus Innsbruck und Zams,<br />

Kreuzschwestern und drei Fürsorgeschwestern aus Innsbruck – ihr Diplom. 46<br />

Der Unterricht be<strong>in</strong>haltete Theorie und Praxis:<br />

“Im Monat Juli wohnten die Schüler<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>ischen Kl<strong>in</strong>ik <strong>den</strong> ärztlichen Visiten<br />

und <strong>den</strong> verschie<strong>den</strong>en ärztlichen E<strong>in</strong>griffen bei. Auch mußten täglich 12 des Morgens beim<br />

Bettenmachen und <strong>der</strong> Morgenre<strong>in</strong>igung <strong>der</strong> Kranken mithelfen. – Dozent Dr. Chiari trug<br />

Anatomie, Physiologie und Pathologie vor. – An Patienten, Bil<strong>der</strong>n und Präparaten wurde <strong>der</strong><br />

menschliche Körper und dessen Glie<strong>der</strong>bau betrachtet. Am 15. Juli wurde mittels <strong>der</strong><br />

Röntgenstrahlen an e<strong>in</strong>er Patient<strong>in</strong> Herz und Magen angeschaut. – <strong>Die</strong> Barmherzige<br />

Schwester Seraph<strong>in</strong>a Steger, geprüfte Lehrer<strong>in</strong> <strong>der</strong> Haushaltskunde, hat <strong>in</strong> e<strong>in</strong> paar<br />

Nachmittagen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Küche des V<strong>in</strong>zensheimes <strong>den</strong> Schüler<strong>in</strong>nen gezeigt, wie für<br />

Schwerkranke Fruchtsäfte, Getränke, Gelees, Suppen, Kompott, Chateau, Fleischspeisen,<br />

Gemüse und Biskuite hergestellt wer<strong>den</strong>. Auch Gefrorenes wurde selbst gemacht. Unter<br />

Anleitung <strong>der</strong> Schwester kochten die Schüler<strong>in</strong>nen und aßen es selbst.” 47<br />

Ab 1920 begannen reguläre zweijährige Kurse. Bis 1938 konnten 239 Schwestern ausgebildet<br />

wer<strong>den</strong>. <strong>Die</strong> geistlichen Schüler<strong>in</strong>nen wohnten <strong>in</strong> ihren Or<strong>den</strong>sgeme<strong>in</strong>schaften, die weltlichen<br />

lebten im V<strong>in</strong>zenzheim, wobei dieses nicht ausdrücklich als Mutterhaus geführt wurde.<br />

Zwischen 1938 und 1945 wurde die Schule verstaatlicht, danach kehrten die Barmherzigen<br />

Schwestern wie<strong>der</strong> zurück. <strong>Die</strong> Ausbildungsdauer verlängerte sich ab 1951 um e<strong>in</strong> weiteres auf<br />

nunmehr drei Jahre. Um <strong>den</strong> Bedarf an männlichem <strong>Pflege</strong>personal abzudecken, akzeptierte die<br />

Schule 1957 erstmals Männer – verglichen mit an<strong>der</strong>en <strong>Pflege</strong>schulen <strong>in</strong> Österreich zu e<strong>in</strong>em sehr<br />

frühen Zeitpunkt. 48<br />

Das Berufsbild <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong><br />

Von <strong>den</strong> Krankenschwestern wurde, wie wir gesehen haben, neben e<strong>in</strong>em enormen Arbeitse<strong>in</strong>satz<br />

auch e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e “sittliche” Haltung erwartet. Gleichzeitig mit <strong>der</strong> <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong> entstand e<strong>in</strong> “Idealbild” <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong>, das viele Jahrzehnte Gültigkeit hatte.<br />

Das Berufsbild <strong>der</strong> weltlichen <strong>Pflege</strong>r<strong>in</strong> war mit Entsagung, Aufopferung, Uneigennützigkeit,<br />

Mütterlichkeit und unendlicher Liebe – alles zum Wohle des Kranken – verbun<strong>den</strong>. Krankenpflege<br />

war e<strong>in</strong>e “selbstlose Liebestätigkeit”, jede Bezahlung wäre “entwürdigend” gewesen. Dem<br />

Patienten gegenüber hatte sie wie e<strong>in</strong>e “Schwester” zu se<strong>in</strong>, für <strong>den</strong> sie dachte und handelte, bevor<br />

<strong>der</strong> ihr Anvertraute auch nur e<strong>in</strong>en Wunsch äußerte. 49<br />

45 Ste<strong>in</strong>egger, Aus <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Krankenpflege <strong>in</strong> Tirol, S. 11.<br />

46 Vom alten V<strong>in</strong>zenzheim zum Internatsprojekt 1969. Aus <strong>der</strong> Chronik <strong>der</strong> Krankenpflegeschulen Innsbruck, <strong>in</strong>: 50<br />

Jahre Krankenpflegeschulen, Innsbruck 1969, S.7–9, hier S. 7. Interessant ist die Tatsache, daß <strong>in</strong> Innsbruck geistliche<br />

und weltliche Schüler<strong>in</strong>nen geme<strong>in</strong>sam unterrichtet wur<strong>den</strong>. Laut Sr. Annelies Feuerste<strong>in</strong>, langjährige Leiter<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Innsbrucker <strong>Pflege</strong>schule, war dies e<strong>in</strong>e für Österreich unübliche Praxis und nur wegen <strong>der</strong> relativ kle<strong>in</strong>en Anzahl an<br />

<strong>Pflege</strong>schüler<strong>in</strong>nen erklärbar. In Salzburg und Graz wurde die Theorie für alle geme<strong>in</strong>sam vorgetragen, die praktischen<br />

Übungen aber für jede Gruppe, teilweise für die geistlichen Schwestern sogar nach Or<strong>den</strong> getrennt, durchgeführt. Es<br />

entstand dadurch e<strong>in</strong> starker Wettbewerb untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>.<br />

47 Vom alten V<strong>in</strong>zenzheim zum Internatsprojekt 1969, S. 7.<br />

48 Ebd., S. 9.<br />

49 Claudia Bischoff, Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenpflege. Zur Entwicklung von Frauenrolle und Frauenberufstätigkeit im 19.<br />

und 20. Jahrhun<strong>der</strong>t, Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 1997, S. 86 f.


10<br />

Man erwartete von <strong>den</strong> Krankenschwestern e<strong>in</strong> zölibatäres Leben, da sie e<strong>in</strong>e “Ehe” mit dem<br />

“<strong>Die</strong>nst” und dem “Arzt” e<strong>in</strong>g<strong>in</strong>gen. Sichtbares Symbol dieser “Verb<strong>in</strong>dung” war die Haube, für<br />

verheiratete Frauen seit langer Zeit das Zeichen <strong>der</strong> Schlüsselgewalt im eigenen Haus. Für die<br />

Krankenschwester bedeutete das Tragen <strong>der</strong> Haube, daß auch sie “verheiratet” war und sich<br />

dadurch vor möglichen sexuellen Übergriffen männlicher Patienten schützen konnte. 50<br />

Viele Krankenschwestern verstan<strong>den</strong> ihre Arbeit als e<strong>in</strong>e Lebenss<strong>in</strong>n stiftende Berufung. Sie sahen<br />

sich selbst als “Träger<strong>in</strong>nen <strong>der</strong> Menschlichkeit”. Der Schwesternberuf wurde zu e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> höchsten<br />

weiblichen Berufungen verklärt, versehen mit e<strong>in</strong>em gesellschaftlichen Son<strong>der</strong>status. Nur vor<br />

diesem H<strong>in</strong>tergrund ist e<strong>in</strong>e “Schwestern-Ideologie” verständlich, die <strong>der</strong> Krankenschwester<br />

permanenten Dauere<strong>in</strong>satz und universelle Verfügbarkeit abverlangte. 51<br />

<strong>Die</strong> bürgerliche Gesellschaft teilte seit dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t die Arbeit <strong>in</strong> die häusliche – Arbeiten<br />

für die Familie, <strong>in</strong>nerhalb des Hauses geleistet von Frauen – und die berufliche e<strong>in</strong>. Zweitere war<br />

ganz allgeme<strong>in</strong> jede bezahlte außerhäusliche Arbeit, die normalerweise von <strong>den</strong> Männern erbracht<br />

wurde.<br />

Mit <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Krankenhäuser kam es zu e<strong>in</strong>er ähnlichen Art von Arbeitsteilung.<br />

Der Arzt leistete vorwiegend <strong>den</strong> Anteil <strong>der</strong> Berufsarbeit, <strong>der</strong> Krankenschwester wurde die<br />

hausarbeitsnahe Sorge für se<strong>in</strong>e Patienten anvertraut.<br />

Wie stark diese Hausarbeit <strong>in</strong> die <strong>Pflege</strong>arbeit <strong>in</strong>tegriert war, ist vielfach belegt. 52 Der Begriff “gute<br />

<strong>Pflege</strong>” war lange Zeit mit pe<strong>in</strong>licher Sauberkeit gleichgesetzt. <strong>Pflege</strong>schüler<strong>in</strong>nen teilte man, trotz<br />

Klagen, zum Bo<strong>den</strong>scheuern, zur Wäschepflege und zur Küchenarbeit e<strong>in</strong>. 53 Für die<br />

Krankenhausverwaltungen reduzierten sich durch <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Schüler<strong>in</strong>nen die Personalkosten.<br />

Deutsche und österreichische Schüler<strong>in</strong>nen mußten – im Unterschied zu <strong>den</strong> angelsächsischen – die<br />

niedrigsten und entwürdigendsten Arbeiten leisten, beson<strong>der</strong>s wenn sie aus reichen Familien<br />

stammten. 54<br />

Trotz warnen<strong>der</strong> Stimmen, die me<strong>in</strong>ten, gut geschulte Kräfte wie diplomierte Schwestern sollten zu<br />

S<strong>in</strong>nvollerem als zu Putzarbeiten e<strong>in</strong>gesetzt wer<strong>den</strong>, konnte man noch 1951 lesen:<br />

“Mit großer Umsicht leitete sie [die diplomierte Oberschwester, A.d.V.] die Abteilung als<br />

Oberschwester und scheute sich dabei nicht, bei <strong>den</strong> niedrigsten Putzarbeiten anzugreifen. [...]<br />

<strong>Die</strong> Patienten liebten und verehrten sie.” 55<br />

<strong>Die</strong> Krankenpflege litt jahrzehntelang unter e<strong>in</strong>em unklaren Berufsbild, entstan<strong>den</strong> aus <strong>den</strong><br />

unterschiedlichsten Abhängigkeiten.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Professionalisierung</strong> <strong>der</strong> Ärzte machte <strong>den</strong> <strong>Pflege</strong>beruf zur mediz<strong>in</strong>ischen Hilfstätigkeit. <strong>Die</strong><br />

Schwester, als Gehilf<strong>in</strong> des Arztes, mußte <strong>in</strong>telligent und gut ausgebildet se<strong>in</strong>, um se<strong>in</strong>e<br />

Anordnungen zuverlässig und diszipl<strong>in</strong>iert ausführen zu können, durfte aber se<strong>in</strong>e Kompetenz nie <strong>in</strong><br />

Frage stellen. 56<br />

<strong>Die</strong> Ausbildung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>schüler<strong>in</strong>nen erfolgte durch die Ärzteschaft, nur im praktischen<br />

Unterricht halfen diplomierte Schwestern.<br />

50 Elisabeth Seidl, <strong>Pflege</strong> im Wandel. Das soziale Umfeld <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> und se<strong>in</strong>e historischen Wurzeln dargestellt anhand<br />

e<strong>in</strong>er empirischen Untersuchung, Wien 1993, S. 63.<br />

51 Fritschi, Zur Prägung <strong>der</strong> sozialen Rolle, S. 166; vgl. zum gleichen Thema auch Ilsemarie Walter, <strong>Die</strong> Wahl <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong> von Kranken als Beruf, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/Hilde Steppe (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Österreich,<br />

S. 81–99.<br />

52 Vgl. etwa Bischoff, Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenpflege, S. 47 ff; Seidl, <strong>Pflege</strong> im Wandel, S. 57 ff.<br />

53 Seidl, <strong>Pflege</strong> im Wandel, S. 66 ff.<br />

54 Bischoff, Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenpflege, S. 88f; vgl. Ilsemarie Walter, Initiation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schwesternschaft?, <strong>in</strong>:<br />

Elisabeth Seidl/Hilde Steppe (Hrsg.), Zur Sozialgeschichte <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Österreich, hier S. 149.<br />

55 Seidl, <strong>Pflege</strong> im Wandel, S. 67.<br />

56 Bischoff, Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenpflege, S. 99.


11<br />

Zudem mußte sich die <strong>Pflege</strong> dem Krankenhausbetrieb anpassen. <strong>Die</strong> E<strong>in</strong>teilung <strong>der</strong> Arbeit gibt<br />

zum e<strong>in</strong>en die Mediz<strong>in</strong> vor, zum an<strong>der</strong>en die Krankenhausorganisation. 57 Das <strong>Pflege</strong>personal steht<br />

häufig unter physischen und psychischem Druck. E<strong>in</strong>erseits ist die <strong>Pflege</strong>tätigkeit an sich zu<br />

bewältigen, an<strong>der</strong>erseits ist darüber h<strong>in</strong>aus auch die Konfrontation mit <strong>der</strong> eigenen Hilflosigkeit<br />

dem Kranken o<strong>der</strong> Sterben<strong>den</strong> gegenüber zu berücksichtigen. <strong>Pflege</strong> ist nicht nur <strong>Die</strong>nstleistung,<br />

son<strong>der</strong>n erfor<strong>der</strong>t e<strong>in</strong>en hohen Grad an persönlichem und menschlichem E<strong>in</strong>satz. 58<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus schaffte es die österreichische Gesundheitspolitik nicht, dem seit Beg<strong>in</strong>n des 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts bestehen<strong>den</strong> Mangel an qualifiziertem <strong>Pflege</strong>personal entgegenzuwirken, viele<br />

Maßnahmen waren sogar kontraproduktiv. 59<br />

<strong>Die</strong> Verwissenschaftlichung <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong><br />

Seit ungefähr zehn Jahren bemüht sich e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er InteressentInnenkreis – die meisten waren/s<strong>in</strong>d<br />

selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenpflege tätig – um e<strong>in</strong>e Verwissenschaftlichung und Akademisierung <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>, dem nächsten, längst überfälligen <strong>Professionalisierung</strong>sschritt. Ansätze dazu gab es<br />

allerd<strong>in</strong>gs schon <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahrzehnten davor. 60<br />

In Krems, L<strong>in</strong>z und Wien entstan<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> frühen 90er Jahren Forschungs<strong>in</strong>stitute, die sich<br />

erstmals <strong>in</strong> Österreich mit <strong>Pflege</strong>- und Gesundheitssystemforschung beschäftigen. <strong>Die</strong><br />

Forschungsergebnisse – das erweiterte theoretische Wissen – sollen langfristig <strong>in</strong> die Praxis<br />

e<strong>in</strong>fließen.<br />

<strong>Die</strong> Ausbildung e<strong>in</strong>er eigenständigen, systematischen Wissensbasis ist unerläßlich für die<br />

Entwicklung e<strong>in</strong>er klaren eigenen Berufsi<strong>den</strong>tität 61 und <strong>der</strong> Ablösung aus <strong>den</strong> Abhängigkeiten <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>, wobei die <strong>in</strong>haltliche <strong>Professionalisierung</strong>, das Schaffen neuer Werte, dabei im Vor<strong>der</strong>grund<br />

stehen muß. <strong>Die</strong> “<strong>Pflege</strong> als Liebestätigkeit” zu sehen, ist endgültig überholt. <strong>Pflege</strong> soll dem<br />

Patienten die bestmögliche Bewältigung des Alltags auch im Falle von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong><br />

chronischer Krankheit gewährleisten, dabei aber auf se<strong>in</strong>e größtmögliche Autonomie achten sowie<br />

Unterstützung und Begleitung <strong>in</strong> <strong>der</strong> letzten Lebensphase se<strong>in</strong>. 62<br />

Ähnlich wie vor 100 Jahren, als sich die <strong>Pflege</strong> zu e<strong>in</strong>em Beruf entwickelte, s<strong>in</strong>d auch heute große<br />

gesellschaftliche Verän<strong>der</strong>ungen spürbar. Nicht mehr die Behandlung <strong>der</strong> Krankheit, son<strong>der</strong>n die<br />

57 Zu dieser Thematik vgl. Elisabeth Seidl, Alltagsprobleme <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> und Lösungsansätze.<br />

Untersuchungsergebnisse aus Wiener Krankenhäusern, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/Marta Stankova (Hrsg.), Ende <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>krise? S. 129–165.<br />

58 Zu dieser Thematik vgl. Andreas Heller, <strong>Pflege</strong>rische Arbeitsbelastung als ethische Konflikte? Wi<strong>der</strong> die<br />

Individualisierung struktureller Probleme, <strong>in</strong>: Elisabeth Seidl/Marta Stankova (Hrsg.), Ende <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>krise? S.187–<br />

204.<br />

59 Elisabeth Seidl, Zur Lage <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> und ihre Akademisierung <strong>in</strong> Österreich, S. 22 ff; vgl. auch S. 25:<br />

Schwesternmangel z.B. war <strong>der</strong> Grund für die E<strong>in</strong>stellung von diplomiertem <strong>Pflege</strong>personal mit nur mangeln<strong>den</strong><br />

Deutschkenntnissen. “[...] bei mir lernt e<strong>in</strong>e tschechische Schwester e<strong>in</strong>e philip<strong>in</strong>ische an [...].” <strong>Die</strong> Vorfälle <strong>in</strong> La<strong>in</strong>z,<br />

die im April 1989 aufgedeckt wur<strong>den</strong>, waren auch e<strong>in</strong> Spiegelbild politischer Versäumnisse <strong>in</strong> <strong>der</strong> Berufsentwicklung<br />

<strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>, vgl. Tiroler Tageszeitung, 10. April 1989. Angelerntes Hilfspersonal leistete die gleiche Arbeit wie<br />

diplomierte Kräfte. In La<strong>in</strong>z konnten solche Hilfskräfte ohne jede Aufsicht jahrelang unter schwierigsten<br />

Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen im Nachtdienst arbeiten. Erst Fälle von “Sterbehilfe” an e<strong>in</strong>igen <strong>der</strong> hilflosen alten Patienten<br />

führten zur Aufdeckung dieser Zustände und machten weiten Bevölkerungskreisen die Problematik zum<strong>in</strong>dest<br />

kurzfristig klar.<br />

60 Seit vielen Jahren existieren Fortbildungsveranstaltungen für leitende und lehrende <strong>Pflege</strong>kräfte. Der erste Kurs<br />

dieser Art fand, laut Sr. Annelies Feuerste<strong>in</strong>, 1965 <strong>in</strong> Innsbruck statt. Gesetzlich verankert wur<strong>den</strong> solche<br />

Veranstaltungen im Krankenpflegegesetz 1969. Vieles ist <strong>in</strong> Planung: Für Innsbruck z.B. e<strong>in</strong>e Fachhochschule für<br />

Gesundheitsberufe. Vgl. dazu z.B. Christa Them, Hochschullehrgang des Ausbildungszentrums West für<br />

Gesundheitsberufe <strong>in</strong> Innsbruck, <strong>in</strong>: Andreas Heller/Doris Schäffer/Elisabeth Seidl (Hrsg.), Akademisierung von <strong>Pflege</strong><br />

und Public Health, S. 100–107.<br />

61 Seidl, <strong>Pflege</strong> im Wandel, S. 3 ff; vgl. auch Doris Schäffer, <strong>Pflege</strong>studiengänge <strong>in</strong> <strong>den</strong> USA, S. 129 ff.<br />

62 Elisabeth Seidl, <strong>Pflege</strong> <strong>in</strong> Österreich – Gegenwart und Zukunft. Berufspolitische Konsequenzen, <strong>in</strong>: Elisabeth<br />

Seidl/Marta Stankova (Hrsg.), Ende <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>krise? S. 166–187, hier S. 181 f.


12<br />

Erhaltung <strong>der</strong> Gesundheit und die Vorsorge, die Prävention, rücken immer stärker <strong>in</strong> <strong>den</strong><br />

Vor<strong>der</strong>grund.<br />

E<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>s radikalen Wandlungsprozeß durchläuft zur Zeit das “Krankenhaus” als solches.<br />

Durch neue Operations- und Therapiemetho<strong>den</strong> verkürzt sich die Verweildauer <strong>der</strong> Patienten im<br />

Spital. In Zukunft wird es relativ kle<strong>in</strong>e “Akut-Krankenhäuser” geben, im Anschluß an <strong>den</strong><br />

Aufenthalt wird <strong>der</strong> Patient entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> die häusliche <strong>Pflege</strong> – unterstützt von <strong>der</strong><br />

Hauskrankenpflege, e<strong>in</strong>em ambulanten, “extramuralen” <strong>Pflege</strong>dienst – entlassen, o<strong>der</strong> er begibt sich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Rehabilitationsanstalt o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Altersheim. 63 <strong>Die</strong>se verän<strong>der</strong>te “Krankenhauslandschaft”<br />

verlangt von <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong> neue Leistungen. E<strong>in</strong> ganz beson<strong>der</strong>es Problem, hervorgerufen durch die<br />

steigende Lebenserwartung, ist die steigende Zahl chronisch Kranker. <strong>Die</strong> Versorgung dieser<br />

Patientengruppe muß ganzheitlich erfolgen, was nur durch e<strong>in</strong>e enge und gleichzeitig<br />

gleichberechtigte Kooperation zahlreicher Berufsgruppen möglich ist. 64 Der Aufgabenbereich <strong>der</strong><br />

<strong>Pflege</strong>personen erweitert sich durch diese Vorgaben beträchtlich und erhält an<strong>der</strong>e, neue<br />

Akzentuierungen.<br />

Im August 1997 beschloß <strong>der</strong> Nationalrat e<strong>in</strong> neues Gesundheits- und Krankenpflegegesetz 65 , das<br />

diesen neuen Anfor<strong>der</strong>ungen an die <strong>Pflege</strong> gerecht wer<strong>den</strong> soll. <strong>Die</strong> Tätigkeiten <strong>der</strong> <strong>Pflege</strong>personen<br />

s<strong>in</strong>d relativ exakt def<strong>in</strong>ierte Bereiche, die eigen- und/o<strong>der</strong> mitverantwortlich bzw. <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är<br />

se<strong>in</strong> können. In <strong>der</strong> Folge zieht dieses Gesetz neue Ausbildungsformen nach sich, wobei es so<br />

aussieht, als ob die <strong>Pflege</strong> damit nach 100 Jahren <strong>den</strong> Weg <strong>in</strong> die Eigenständigkeit geschafft hätte.<br />

Aus e<strong>in</strong>em Beruf, <strong>den</strong> man ursprünglich als “ekelhaftes und schmutziges Geschäft” 66 bezeichnete,<br />

wurde im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t die “unbezahlbare Liebestätigkeit”. Heute versteht sich die <strong>Pflege</strong> als<br />

selbständiger Gesundheitsberuf, <strong>der</strong> sich selbstbewußt von an<strong>der</strong>en Berufsgruppen abgrenzt.<br />

63 Elisabeth Wassitzky, Modell e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tegrierten Betreuung <strong>in</strong> <strong>den</strong> CS-<strong>Pflege</strong>- und Sozialzentren, <strong>in</strong>: Andreas<br />

Heller/Doris Schäffer/Elisabeth Seidl (Hrsg.), Akademisierung von <strong>Pflege</strong> und Public Health, S. 108–113, hier S. 170.<br />

64 Vgl. dazu Bernhard Badura, Public Health und <strong>Pflege</strong>, <strong>in</strong>: Andreas Heller/Doris Schäffer/Elisabeth Seidl (Hrsg.),<br />

Akademisierung von <strong>Pflege</strong> und Public Health, S. 68–80, hier S. 68 ff.<br />

65 BGBl. I – Ausgegeben am 19. August 1997, Nr. 108, S. 1285 f.<br />

66 Bischoff, Frauen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Krankenpflege, S. 80 ff.

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