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Von der Musikpädagogik zur Musiktherapie - Inge Kritzer

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1<br />

<strong>Inge</strong> <strong>Kritzer</strong><br />

Quellenweg 10<br />

D-57074 Siegen<br />

www.musiktherapie-kritzer.de<br />

<strong>Von</strong> <strong>der</strong> <strong>Musikpädagogik</strong> <strong>zur</strong> <strong>Musiktherapie</strong><br />

- Ausschnitte aus <strong>der</strong> musiktherapeutischen Arbeit an einer Musikschule -<br />

Die Grundlage meiner musikpädagogischen und musiktherapeutischen Arbeit sowohl mit<br />

Kin<strong>der</strong>n als auch mit Erwachsenen ist die freie Improvisation.<br />

Die freie Improvisation, die Via Regia <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong>, die von mir in die Struktur einer<br />

Spielvorgabe eingebettet ist, ermöglicht es den Kin<strong>der</strong>n, eine meist bisher nicht erlebte<br />

Erfahrung und Begegnung mit Musik als Zugang zu den eigenen schöpferischen und kreativen<br />

Ressourcen herzustellen.<br />

.<br />

Dies möchte ich anhand <strong>der</strong> Beschreibung des Spieles „Lärmphasen“ von Lilli Friedemann<br />

verdeutlichen.<br />

Spielbeschreibung:<br />

Alle haben ein Instrument ihrer Wahl, das sie vor Beginn des Spiels genügend ausprobiert und<br />

damit experimentiert haben. Die Leiterin „dirigiert“ mit einem Beckenschlag den Beginn<br />

eines Stückes und das Ende eines Stückes. Je<strong>der</strong> kann so laut spielen, wie er möchte. Nur,<br />

wenn <strong>der</strong> zweite Beckenschlag erklingt, müssen alle sofort aufhören. Dasselbe geschieht auch<br />

mit leisen Phasen, für die eine beson<strong>der</strong>e Art von Beckenschlag ausgemacht wird. Das Ganze<br />

kann dann im Wechsel von laut und leise geschehen. Der Dirigentenstab mit Becken kann<br />

ebenfalls reihum gehen. Alle, die wollen können die Gruppe für einige Phasen dirigieren.<br />

Es ist selbstverständlich, dass beim Musizieren nicht gesprochen wird.<br />

Bei <strong>der</strong> Spielbeschreibung fällt auf, dass die Hierarchie Lehrer/Schüler aufgehoben wird.<br />

Die Spielanleitung übernimmt die Funktion des Rahmens, innerhalb dessen improvisiert wird<br />

und ist somit oberste Instanz (anstelle wie sonst üblich <strong>der</strong> Lehrerin), die bei <strong>der</strong> Einhaltung<br />

<strong>der</strong> Spielregel angerufen und gefragt werden kann.<br />

Während des Spielverlaufs können die Kin<strong>der</strong> – o<strong>der</strong> Erwachsene - innerhalb einer<br />

bestimmten Struktur differenziert mehr o<strong>der</strong> weniger laute Klänge und leise Klänge erzeugen.<br />

Jedes Kind hat die Möglichkeit, einmal im Spiel zu dirigieren, wenn es möchte.


2<br />

Musiktherapeutische Ziele:<br />

Struktur erkennen und einhalten<br />

(Anfang und Ende)<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Konzentrationsfähigkeit<br />

Einordnen in die Gruppe<br />

Hervortreten in <strong>der</strong> Gruppe, hier als<br />

Dirigent<br />

Selbstausdruck durch Musik<br />

(hyperaktive Kin<strong>der</strong>, sehr schüchterne<br />

Kin<strong>der</strong> können ohne Reglementierung<br />

mitspielen), so, wie ihnen zumute ist.<br />

Musikpädagogische Ziele:<br />

Struktur erkennen und einhalten<br />

(Anfang und Ende)<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />

Konzentrationsfähigkeit<br />

Kennenlernen von musikalischen<br />

Parametern wie laut/leise,<br />

langsam/schnell<br />

Korrektes Einsetzen musikalischer<br />

Parameter<br />

Selbständiges musikalisches Agieren,<br />

wie hier als Dirigent mit dem Ziel,<br />

Parameter zu unterscheiden.<br />

Dieses Spiel hat beson<strong>der</strong>en diagnostischen Charakter, weil abweichendes Verhalten sehr<br />

schnell erkennbar wird. (siehe musiktherapeutische Ziele).<br />

Der Schwerpunkt, selbst als Dirigent zu agieren, hat in <strong>der</strong> <strong>Musikpädagogik</strong> (Struktur), eine<br />

völlig an<strong>der</strong>e Bedeutung als in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> (Selbstausdruck).<br />

Die musiktherapeutischen Ziele können in die musikpädagogischen Ziele übertragen werden,<br />

jedoch nicht in allen Punkten umgekehrt: z.B. kennen lernen und Einordnen von<br />

musikalischen Parametern hat in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> nicht den Stellenwert wie in <strong>der</strong><br />

<strong>Musikpädagogik</strong> – was sich im Verlauf einer <strong>Musiktherapie</strong> jedoch schnell än<strong>der</strong>n kann, wenn<br />

z.B. dadurch das Selbstwertgefühl gesteigert wird, dass ein Kind die Parameter zutreffend<br />

einordnen kann.<br />

Die auf dem Boden <strong>der</strong> freien Improvisation entwickelten Spiele von Lilli Friedemann können<br />

sowohl in <strong>der</strong> Gruppe als auch im Einzelsetting eingesetzt werden.<br />

„Unter dem Gesetz einer von den Kin<strong>der</strong>n verstandenen und anerkannten Spielregel trägt das<br />

gemeinsame Improvisieren Wesentliches <strong>zur</strong> Entwicklung des sozialen Verhaltens bei, und es<br />

kann eine Hilfe bedeuten auf dem Weg des Kindes aus dem ‚Paradiessein’ heraus in die reale<br />

Außenwelt.“ (L.F., Kin<strong>der</strong> spielen mit Klängen und Tönen, 1971, 9)<br />

Es liegt an <strong>der</strong> Fähigkeit <strong>der</strong> Musikpädagogin, einzuordnen und sich zu entschließen, wann<br />

eine gezielte För<strong>der</strong>ung einzelner Kin<strong>der</strong> im Sinne von <strong>Musiktherapie</strong> erfor<strong>der</strong>lich ist.


3<br />

Mit <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> an <strong>der</strong> städtischen Musikschule wurde aus dem<br />

Bedürfnis von Eltern Rechnung getragen, Kin<strong>der</strong> mit verschiedenen Störungen und<br />

Problemen gezielt musikalisch zu för<strong>der</strong>n und in ihrer Entwicklung zu unterstützen.<br />

Die Basis, bzw. <strong>der</strong> Hintergrund dieser Idee bildete meine langjährige musikpädagogische<br />

Arbeit des Faches „Musikalische Früherziehung“.<br />

Ein Kurs „Musikalische Früherziehung“ dauert zwei Jahre und findet wöchentlich 75 Min.<br />

statt. Er wird für Kin<strong>der</strong> von 4 – 6 Jahren angeboten. Es schließt sich daran ein Kurs<br />

„Musikalische Grundausbildung“, <strong>der</strong> ebenfalls 2 Jahre dauert, an.<br />

Ich habe im Anschluss an die Musikalische Früherziehung einen einjährigen Kurs mit dem<br />

Titel „Orff’sche Instrumentenspielgruppe“ angeboten.<br />

<strong>Von</strong> meinen Kolleginnen werden inzwischen für Kin<strong>der</strong> ab 1 Jahr und Eltern Basis-<br />

Musikkurse angeboten.<br />

Musikalische Früherziehung und Grundausbildung zwischen 4 – 8 Jahren ist auf die<br />

Persönlichkeitsentwicklung und –för<strong>der</strong>ung des Kindes abgestimmt.<br />

Durch musikalische Lerninhalte in <strong>der</strong> Gruppe wie Singen, Tanzen, Rhythmik,<br />

Instrumentenkunde, Erlernen von musikalischen Sachverhalten, Musikhören, möglichst<br />

Erlernen eines ersten Instrumentes wie Glockenspiel und Erlernen von Noten sollen Kin<strong>der</strong> in<br />

ihren kreativen und musikalischen Fähigkeiten geför<strong>der</strong>t werden.<br />

Bei diesen Kursen steht die Vermittlung musikpädagogischer Lernziele im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

In dem Moment, in dem sich ein Kind nicht mehr auf das musikalische Geschehen einlassen<br />

kann, setzt die <strong>Musiktherapie</strong> an. Sie ist indiziert, wo die Erziehung bei <strong>der</strong> Entwicklung<br />

gesun<strong>der</strong> vorhandener Anlagen versagt, und Bereiche des Kindes speziell geför<strong>der</strong>t o<strong>der</strong> neu<br />

entwickelt werden müssen.<br />

Als es diese Möglichkeit noch nicht gegeben hat, mussten die Kin<strong>der</strong> aus den<br />

Früherziehungsgruppen abgemeldet werden, weil massive Störungen Einzelner in einer<br />

Kin<strong>der</strong>gruppe von 10 – 12 Kin<strong>der</strong>n nicht aufgefangen werden können.


4<br />

Musiktherapeutische Ziele:<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wahrnehmung<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kommunikation<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Erlebnisfähigkeit<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kreativität<br />

Training sozialen Verhaltens<br />

Ausbildung schöpferischen<br />

Gestaltens<br />

För<strong>der</strong>ung von innerer Ordnung<br />

und Selbständigkeit<br />

Ausbau des Selbstwertgefühls<br />

Verarbeitung von Gefühlen,<br />

Träumen, Situationen aus dem<br />

Alltag<br />

Einglie<strong>der</strong>ung in die Umwelt<br />

Musikpädagogische Ziele:<br />

Frühe ästhetische Erziehung<br />

durch Anregung, Orientierung und<br />

Ausbildung von musikalischen<br />

Interessen<br />

Elementares Instrumentalspiel<br />

Singen und Sprechen<br />

Musikhören<br />

Instrumenteninformation<br />

Erfahrungen mit Inhalten <strong>der</strong><br />

Musiklehre<br />

Bewegung und Tanz<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ausdrucksfähigkeit<br />

För<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Spiellust,<br />

Phantasie, Gefühlswelt des<br />

Kindes, Lernbereitschaft,<br />

Wahrnehmungsfähigkeit<br />

För<strong>der</strong>ung des Sozialverhaltens<br />

Fallbeispiel:<br />

Steve, 5 J., Diagnose: Hyperaktivität, Destruktivität, Wahrnehmungstörungen.<br />

Steve kommt aus <strong>der</strong> Musikalischen Früherziehung in die <strong>Musiktherapie</strong>. Er ist nicht<br />

gruppenfähig, attackiert an<strong>der</strong>e Kin<strong>der</strong>, will ständig alle Gegenstände und Instrumente<br />

kaputt schlagen. Die Eltern haben große Erziehungsprobleme.<br />

In <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> will er am Anfang die Pauken und Djemben kaputtschlagen.


5<br />

Das von mir am häufigsten gebrauchte Wort – wie so oft in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> mit<br />

hyperaktiven Kin<strong>der</strong>n – ist „Nein !“. Er weiß genau, an welcher Stelle das Wort von mir<br />

kommt, und es gelingt ihm, nach und nach Strukturen zu akzeptieren.<br />

Nach <strong>der</strong> Möglichkeit, mit den Trommeln zu experimentieren, biete ich ihm aus dem<br />

reichhaltigen Repertoire von Lilli Friedemann Trommelspiele an, auch Spiele wie<br />

„Lärmphasen“, u.a..<br />

Wichtig ist es, kurz vor Ende <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong>stunde eine Ruhepause einzubauen.<br />

Becken am Ohr rechts und links anzuspielen, dem Klang einer Klangschale lauschen., einen<br />

Klang davon mit nachhause nehmen.<br />

Nach einigen Stunden beginnt er, von seinen Problemen im Elternhaus zu erzählen. Nach wie<br />

vor hat er das Bedürfnis, Instrumente kaputt schlagen o<strong>der</strong> sie zu beschädigen.<br />

Er erlebt in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong>, dass er bei seinen Affekt-Durchbrüchen nicht abgelehnt wird,<br />

son<strong>der</strong>n weiterhin zuverlässig – souverän Grenzen und Struktur angeboten bekommt.<br />

Seiner Destruktivität steht die Suche nach Nähe gegenüber.<br />

Das Bedürfnis nach Nähe drückt er über die Klangschale aus. Nachdem ich sie ihm<br />

angeboten habe, indem er übt, dem Klang so lange zu lauschen, bis er verklungen ist, willigt<br />

er ein, sie auf seiner Hand zu spüren-, wenn ich sie anschlage. Er fragt mich, ob das auch am<br />

Arm gehe, und so entwickelt sich in einigen Stunden eine Klangmassage von ca. 5 Min., was<br />

er sehr genießt. Er kommt <strong>zur</strong> Ruhe.<br />

Nach wie vor kommt er ständig an seine Grenzen und testet aus, wo sie in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong><br />

sind und will sie nicht akzeptieren.<br />

In Gesprächen mit <strong>der</strong> Mutter wird deutlich, dass sie Steve für ihre schwankenden<br />

Stimmungen missbraucht, so dass er nicht fröhlich sein darf, wenn sie schlechte Laune hat<br />

usw. Durch ihr eigenes Lebens-Chaos verhin<strong>der</strong>t sie oft, dass er pünktlich in die<br />

<strong>Musiktherapie</strong> kommen kann.<br />

Nach einem Jahr <strong>Musiktherapie</strong> konnte er Strukturen wie Anfang und Ende, Konzentration<br />

auf Klänge und Spiele wie z.B. Lärmphasen, Uhrenspiel, annehmen und umsetzen. Es war<br />

möglich, sich in <strong>der</strong> letzten Stunde, die kurz vor seinem Schuleintritt stattgefunden hat, den<br />

Abschied musikalisch zu gestalten.<br />

Zusammenfassung:<br />

Ziel in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> ist, dass Steve <strong>zur</strong> Ruhe kommt, und dazu in <strong>der</strong> Lage ist, mit<br />

seinem psychosozialen Hintergrund auseinan<strong>der</strong>zusetzen. Er spricht über seine Probleme und<br />

sucht Orientierung.<br />

Dies kann durch die Erfahrung <strong>der</strong> Klänge <strong>der</strong> Klangschale erreicht werden. Erst danach<br />

öffnet er sich und thematisiert seine Probleme.<br />

In Zentrum steht das Phänomen <strong>der</strong> Klangerfahrung, was bei den an<strong>der</strong>en Fallbeispielen<br />

ebenso deutlich wird.


6<br />

Musiktherapeutischer Prozess – Zusammenfassung<br />

Anamnese – Diagnose Problem- und Zielformulierung<br />

Drei Phasen des musiktherapeutischen Prozesses:<br />

- Experimentieren, absichtslos<br />

- Beziehungsbildung, zu Instrumenten, zu<br />

Therapeutin<br />

- Coming out: Übertragung des Erlebten auf den<br />

Alltag (hier: Ruhephasen, Orientierung)<br />

Zentrales Erleben ist das Phänomen <strong>der</strong> Klangerfahrung; kann<br />

sie zugelassen werden, öffnet sich <strong>der</strong> Weg zum Hintergrund<br />

<strong>der</strong> Krankheit und <strong>der</strong>en Behandlung mit Klängen.<br />

.<br />

„Beim kreativen gemeinsamen Musizieren in Kin<strong>der</strong>- und Jugendgruppen offenbart sich mehr<br />

als rein musikalische und intellektuelle Fähigkeit. Die Gesamtpersönlichkeit jedes<br />

Gruppenmitgliedes wird aktiver im menschlichen Verhalten <strong>der</strong> Gruppe gegenüber, in <strong>der</strong><br />

Vitalität, Phantasieentfaltung und Darstellungskraft beim musikalischen Spiel, in <strong>der</strong><br />

Beobachtungsgabe, dem Bewußtseinsgrad, <strong>der</strong> inneren Selbständigkeit bei Führungsaufgaben.


7<br />

In all diesen Punkten kann jedes Gruppenmitglied beobachtet, geför<strong>der</strong>t und entwickelt<br />

werden.“ (L.F., einstiege in neue klangbereiche durch gruppenimprovisation 1973,4)<br />

Lilli Friedemann betont, dass diese Spiele sowohl in musikpädagogischen Gruppen als auch<br />

in Gruppen „psychisch Gestörter“, in Son<strong>der</strong>schulen, Heilpädagogik und vielen an<strong>der</strong>en<br />

Bereichen angeboten werden können.<br />

Mein Kollege Hartmut Kapteina stellt dies in seinem jüngsten Aufsatz/Vortrag,“Klang und<br />

Struktur. Ästhetik <strong>der</strong> musikalischen Improvisation“, den er vor einigen Wochen in Berlin<br />

anlässlich eines Symposiums zum 100. Geburtstag von Lilli Friedemann gehalten hat, so dar:<br />

„…dass sie (L.F.) an Psychotherapie-Theorien nicht interessiert war; sie wusste, dass die<br />

entscheidenden Impulse in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> wie in <strong>der</strong> <strong>Musikpädagogik</strong> aus <strong>der</strong> erlebten<br />

Musik heraus kommen müssen…“ (2006, 2).<br />

Erfahrene Musikpädaogen und Musiktherapeuten können dieses Musik-Erleben entsprechend<br />

nach dem Bedürfnis <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zugänglich machen.<br />

Bevor ich ein Fallbeispiel mit einem autistischen Jungen darstelle, will ich auf die Bedeutung<br />

<strong>der</strong> Ergebnisse von zwei herausragenden Pionierinnen <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> mit autistischen<br />

Kin<strong>der</strong>n, Juliette Alvin und Karin Schumacher, hinweisen.<br />

Juliette Alvin war eine <strong>der</strong> ersten Pionierinnen <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> mit Kin<strong>der</strong>n.<br />

Sie benennt im Gestalten von Beziehungen in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>musiktherapie mit autistischen<br />

Kin<strong>der</strong>n drei Entwicklungsstadien:<br />

- Im ersten Stadium bezieht sich das Kind auf die Welt <strong>der</strong> Gegenstände<br />

- Im zweiten Stadium nimmt es Bezug zu sich und <strong>der</strong> Therapeutin auf<br />

- Im dritten Stadium stellt es Beziehung zu ihm wichtigen an<strong>der</strong>en Personen her.<br />

(Übertragung auf den Alltag)<br />

Karin Schumacher hat die Entwicklungsschritte, die autistische Kin<strong>der</strong> in ihrer <strong>Musiktherapie</strong><br />

machten in 7 Modi aufgeteilt, die mit <strong>der</strong> Säuglingsentwicklung korrespondieren.<br />

Daniel Stern beschrieb das Interaktions- und Kommunikationsgeschehen zwischen Säugling<br />

und Bezugsperson als musikalisches, mimisches und gestisch-motorisches Miteinan<strong>der</strong> in<br />

Beziehung sein.<br />

Diese Beziehungsqualität erleben Musiktherapeuten nicht nur bei autistischen Patienten<br />

son<strong>der</strong>n bei allen an<strong>der</strong>en Patienten und verwenden sie als Diagnose- und<br />

Evaluationsinstrument.


8<br />

<strong>Musiktherapie</strong> und Beziehungsqualität<br />

Modus 0 Ich ohne mich Kontaktlosigkeit<br />

Modus 1 Ich bemerke etwas Kontaktreaktion<br />

Modus 2 Ich verwende Personen o<strong>der</strong><br />

Instrumente für meine Bedürfnisse<br />

Funktionalsensorischer<br />

Kontakt<br />

Modus 3 Ich höre mich und bemerke, dass ich Kontakt zu sich selbst<br />

<strong>der</strong> Urheber des Spiels bin<br />

Modus 4 Ich höre mich und will wissen, ob <strong>der</strong> Kontakt zum An<strong>der</strong>en<br />

An<strong>der</strong>e mein Spiel wahrnimmt<br />

Modus 5 Ich höre dich und mich Beziehung zum<br />

An<strong>der</strong>en<br />

Modus 6 Ich höre uns und freue mich über das<br />

gemeinsame Spiel<br />

Begegnung<br />

vgl. Karin Schumacher, <strong>Musiktherapie</strong> und Säuglingsforschung, 1999, 116<br />

An dieser Stelle möchte ich Eindrücke aus <strong>Musiktherapie</strong>n mit autistischen Kin<strong>der</strong>n, die zu<br />

mir in die Musikschule kamen, beschreiben:<br />

Burkhard kommt mit 8 ½ J. in die <strong>Musiktherapie</strong> aufgrund <strong>der</strong> Intention seiner Mutter, er<br />

solle Klavier spielen lernen.<br />

In den ersten Monaten war es nicht möglich, Kontakt zu ihm aufzunehmen, er ist<br />

ausschließlich mit sich selbst beschäftigt (Modus 2).<br />

Nach einigen Monaten reagiert er auf meine musikalischen Angebot wie Begrüßungslied mit<br />

Klavierbegleitung, gemeinsames Spielen auf <strong>der</strong> Pauke am Ende <strong>der</strong> Stunde (Modus 3).<br />

Während des ersten Jahres in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> entdeckt er einige Instrumente als<br />

Lieblingsinstrumente, die er immer wie<strong>der</strong> verwendet: Becken (Klangdusche), Klangschale<br />

(Klangbad). Modus 2.<br />

Danach kommt er in eine aggressive Phase und testet die Grenzen bei mir aus. Es ist sehr<br />

anstrengend, ihm ein Erwachsenen-Ich in seinen Aktionen gegenüberzustellen, wenn er<br />

Instrumente zerstören will, o<strong>der</strong> sich auf den Flügel stellt und darauf herumhüpft. (Modus 4)


9<br />

Meine Methode än<strong>der</strong>e ich nach intensiver Fallsupervision, indem ich nicht mehr<br />

ausschließlich auf ihn in <strong>der</strong> Stunde eingehe, son<strong>der</strong>n auch meine Bedürfnisse ausdrücke,<br />

indem ich auch mal das spiele, was mir gerade Spaß macht. Das überrascht ihn so sehr, dass<br />

er sein chaotisches Verhalten ablegte und sich dafür interessiert, was ich da spiele. Er nimmt<br />

musikalisch Kontakt auf, indem er Instrumente so hinstellt, wie er mit mir musizieren möchte<br />

(Modus 5 + 6). In dieser Phase beginnt er zu sprechen, einmal in <strong>der</strong> Musik abrupt: „Die<br />

Frau <strong>Kritzer</strong> spielt das jetzt so schön.“.<br />

Laut Auskunft seiner Mutter macht er in dieser Zeit auf allen Gebieten große Fortschritte,<br />

was sie ausschließlich auf die <strong>Musiktherapie</strong> <strong>zur</strong>ückführt.<br />

Seine Wahrnehmung bessert sich, er gibt Antwort auf Fragen und verleiht seinen Gefühlen<br />

Ausdruck.<br />

Was er in <strong>der</strong> Musik an Selbstbestätigung und Kommunikation erlebte, konnte er auf an<strong>der</strong>e<br />

Lebensbereiche übertragen. Im vorletzen Jahr <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong>, die insgesamt 4 Jahre<br />

dauerte, besuchte er den heilpädagogischen Zweig in <strong>der</strong> Waldorfschule, was sich ebenfalls<br />

sehr för<strong>der</strong>nd auswirkte.<br />

Am Ende <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> war das autistische Verhalten kaum noch vorhanden.<br />

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel ist ein autistisches und mutistisches Kind, das ich 6<br />

Jahre lang musiktherapeutisch betreute, hat nach dem Vorsingen von Obertönen zum ersten<br />

Mal gesprochen.<br />

Musik ist präverbal.<br />

Deshalb haben archaische Klänge in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> mit autistischen Kin<strong>der</strong>n eine<br />

beson<strong>der</strong>s große Bedeutung.<br />

Musiktherapeutischer Prozess – Zusammenfassung<br />

Anamnese – Diagnose<br />

Problem- und Zielformulierung<br />

Drei Phasen des musiktherapeutischen Prozesses:<br />

- Experimentieren, absichtslos


10<br />

- Beziehungsbildung, zu Instrumenten, zu Therapeutin<br />

- Coming out: Übertragung des Erlebten auf den Alltag<br />

Zentrales Erleben ist das Phänomen <strong>der</strong> Klangerfahrung; kann sie<br />

zugelassen werden, öffnet sich <strong>der</strong> Weg zum Hintergrund <strong>der</strong><br />

Krankheit und <strong>der</strong>en Behandlung mit Klängen.<br />

Beson<strong>der</strong>heit <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> mit autistischen Kin<strong>der</strong>n läuft<br />

auf zwei Ebenen:<br />

- Ermöglichen von intrauterinen Erlebnissen durch<br />

archaische Musik wie Obertongesang, Klänge von<br />

Gongs und Klangschalen, Monochord, etc.<br />

Danach erst ist möglich:<br />

- Kontaktaufnahme zu den Instrumenten und<br />

Beziehungsgestaltung damit<br />

Im Verlauf eines musiktherapeutischen Prozesses ist die Entwicklung von musikalischer<br />

Fähigkeit nicht von <strong>der</strong> persönlichen Entwicklung zu trennen, son<strong>der</strong>n seismographischer<br />

Anzeiger <strong>der</strong> momentanen Lebensthemen.<br />

Das musikalische Geschehen in <strong>der</strong> Beziehungsentwicklung einer <strong>Musiktherapie</strong> in<br />

Lebensthemen zu übersetzen ist eine Kunst, die erfahrene Musikpädagogen und<br />

Musiktherapeuten erreichen sollten, um eine Szene zu schaffen, in <strong>der</strong> sich Wesentliches in<br />

und durch die Musik ereignen kann . (vgl. Kapteina, Musiktherapeutische Umschau 1991,<br />

298-307 )<br />

Zurück zu dem Spiel „Lärmphasen“: es wird von mir sowohl in Einzel- als auch in<br />

Gruppensitzungen eingesetzt.


11<br />

In einer Anfangs-Scene bietet es die Möglichkeit <strong>der</strong> Diagnose, und im Verlauf einer<br />

<strong>Musiktherapie</strong> die Beobachtung <strong>der</strong> Entwicklung von musikalischer und persönlicher<br />

Fähigkeit.<br />

Bei <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung dieser Spiele tritt deutlich hervor, dass die musikalische Entwicklung<br />

stets mit Musikerfahrung/Musikaneignung Hand in Hand geht.<br />

Die meisten Spiele, die ich den Kin<strong>der</strong>n anbiete, habe ich zum Teil noch bei Lilli Friedemann<br />

persönlich kennen gelernt. Sie betont, dass <strong>Musiktherapie</strong> mit Kin<strong>der</strong>n meist mit<br />

<strong>Musikpädagogik</strong> einhergeht – was die meisten Praktikerinnen bestätigen werden.<br />

Für sie besteht das Musikpädagogische in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> darin,<br />

„...dass die Kranken langsam und behutsam ohne jeden Leistungsdruck aber mit<br />

Bewusstmachung <strong>der</strong> Erfolgserlebnisse zu einem Hören, Reagieren und Gestalten geführt<br />

werden, dass lebendige, anregende musikalische Interaktionen in Gang setzen kann. Dazu<br />

würde dann auch die pädagogische Arbeit gehören.“<br />

Für mich sind die Stunden mit den Kin<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong> „Oasen in <strong>der</strong> Wüste“, und<br />

es ist anzustreben, diese Oasen weiter auszubauen – in Zusammenarbeit mit den Eltern,<br />

Schulen, Ärzten, Erziehungsbeauftragten, damit diese För<strong>der</strong>ung mehr als eine punktuelle<br />

Hilfe in einer Gesellschaft sein kann, die den Kin<strong>der</strong>n wenig Orientierungshilfe bietet.<br />

Lilli Friedemann hat improvisieren immer im Sinne einer Entwicklung <strong>der</strong><br />

Gesamtpersönlichkeit verstanden.<br />

Deshalb sollten MusikpädaogInnen auch musiktherapeutische Kenntnisse o<strong>der</strong> gar<br />

Fähigkeiten besitzen, und MusiktherapeutInnen vielfältige musikpädagogische Fähigkeiten,<br />

um rechtzeitig zu erkennen, wann eine gezielte musiktherapeutische För<strong>der</strong>ung angebracht ist.<br />

Siegen, Juli 2006<br />

Literatur:<br />

Alvin, Juliette:<br />

Friedemann, Lilli:<br />

dto.<br />

Kapteina, Hartmut:<br />

Schumacher, Karin:<br />

Musik und <strong>Musiktherapie</strong> für behin<strong>der</strong>te und autistische Kin<strong>der</strong><br />

Stuttgart 1988<br />

Kin<strong>der</strong> spielen mit Klängen und Tönen<br />

Wolfenbüttel und Zürich 1971<br />

einstiege in neue klangbereiche durch gruppenimprovisation<br />

Wien 1973<br />

Über das Musikpäagogische in <strong>der</strong> <strong>Musiktherapie</strong>, in:<br />

Musiktherapeutische Umschau 12, 1991<br />

<strong>Musiktherapie</strong> und Säuglingsforschung<br />

Frankfurt a.M. 1999

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