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Werner Sanß: Predigten zu Kain und Abel ... - Hans Steinkamp

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ANMERKUNG DER HERAUSGEBER 2<br />

WERNER SANß - 1913 IN MÜNSTER GEBOREN. 3<br />

EINIGE ANGABEN ZUR PERSON 4<br />

TRAUM UND ERWACHEN - KAINS BRUDERMORD 1. MOSE 4, 1+2A 5<br />

HOLLÄNDISCHER GULDEN UND DEUTSCHES KOPPELSCHLOß 11<br />

HÖR AUF, MACHE HALT 12<br />

FALSCHER GOTTESDIENST 1. MOSE 4,3-4A 14<br />

DIE 50-MEGA-T-BOMBE 20<br />

GOTTESDIENST IN DANK UND FREUDE 1. MOSE 4, 4B UND 5A 22<br />

KRIEGE ENTSTEHEN NICHT VON SELBST 26<br />

DER ZORN UND DIE WARNUNG 1. MOSE 4 VERS 5B 29<br />

TRENNUNG VON GOTT UND TRENNUNG VOM BRUDER 1. MOSE 4<br />

VERS 8 A U. B (1964) 37<br />

MITSCHULD AM MORD „ER SCHLUG IHN TOT“ 1. MOSE VERS 8C 42<br />

ICH WEIß NICHT; SOLL ICH MEINES BRUDERS HÜTER SEIN? 1.<br />

MOSE 4 VERS 9B (1994) 50<br />

GOTT VERFÜGT ALLEIN ÜBER RACHE UND SÜHNE 1. MOSE 4,<br />

VERS 10-14 57<br />

DER GETREUEN GEFÄHRTIN DES LEBENS ALS NACHRUF 63


2<br />

Anmerkung der Herausgeber<br />

<strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong> hat Geburtstag, er wird 85 Jahre alt <strong>und</strong><br />

kämpft, mit der Kraft eines jüngeren, bleibt seinen Zielen<br />

treu, ringt um den Frieden, schützt Kriegsdienstverweigerer,<br />

Deserteure <strong>und</strong> Flüchtlinge, verhilft ihnen <strong>zu</strong> Recht,<br />

Unterkunft <strong>und</strong> Nahrung.<br />

Lebt selbst bescheiden, vom Nötigsten, konzentriert sich auf<br />

Bibel, Gebet <strong>und</strong> Andacht. Hat seine Kraft <strong>und</strong> seinen<br />

Lebensmut von Gott, der für ihn allmächtig ist, <strong>und</strong> sich<br />

zeigt in der Tat, in seiner Tat.<br />

<strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong> hat Geburtstag, <strong>und</strong> wir haben uns bemüht aus<br />

seinen Schriften eine kleine Veröffentlichung<br />

<strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>stellen mit <strong>Predigten</strong> <strong>zu</strong> <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> <strong>Abel</strong>, die<br />

Ihm sehr wichtig sind, mit Gedichten <strong>und</strong> Texten, die wir<br />

ausgewählt haben <strong>und</strong> einem Gruß von Präses a.D. <strong>Hans</strong>-<br />

Martin Linnemann.<br />

Es liegen uns umfangreiche Manuskripte von <strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong><br />

vor, die wir selbstverständlich nicht alle berücksichtigen<br />

konnten. Vielleicht ergeben sich weitere Möglichkeiten,<br />

Texte <strong>zu</strong> veröffentlichen, diese Zusammenstellung soll<br />

dafür Anregung sein.<br />

Für uns war die Zusammenarbeit mit, <strong>und</strong> der Kontakt <strong>zu</strong><br />

<strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong> prägen.<br />

In persönlicher, religiöser <strong>und</strong> politischer Hinsicht. <strong>Werner</strong><br />

hat uns beeinflußt, herausgefordert <strong>und</strong> provoziert. Er ist in<br />

unnachahmlicher Art Vorbild <strong>und</strong> Ansporn, bleibt<br />

unerreicht, was er großzügig verzeiht.<br />

Diese Veröffentlichung ist Dank <strong>und</strong> Geburtstagsgeschenk<br />

<strong>und</strong> soll anderen ermöglichen, an der Glaubens <strong>und</strong><br />

Gedankenwelt von <strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong> teil<strong>zu</strong>haben, ihn vielleicht<br />

neu <strong>und</strong> besser kennen<strong>zu</strong>lernen.<br />

Danke <strong>Werner</strong> !<br />

<strong>Hans</strong> <strong>Steinkamp</strong> <strong>und</strong> Peter Strube<br />

J:\STONE97\SANß\WERNER.DOC


3<br />

<strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong> - 1913 in Münster geboren.<br />

Während der Nazizeit studierte ich in Münster, Tübingen <strong>und</strong> an<br />

der Theologischen Hochschule in Bethel Theologie. Mein Examen<br />

legte ich bei der Bekennenden Kirche ab, was damals illegal war.<br />

Mein Widerstand in der Bekennenden Kirche gegen einen<br />

nationalen Mißbrauch des Christentums wuchs langsam <strong>zu</strong>m<br />

politischen Protest. Der Zugriff der Wehrmacht ersparte mir einen<br />

Prozeß wegen Heimtücke <strong>und</strong> Staatszerset<strong>zu</strong>ng. Nach der<br />

Gefangenschaft war ich zwei Jahre Hilfsprediger in Emsdetten <strong>und</strong><br />

dann 27 Jahre Gemeindepfarrer in Selm. Da<strong>zu</strong> einige Jahre<br />

Superintendent des Kirchenkreises Lünen. Ich war 11 Jahre im<br />

Krieg <strong>und</strong> in Gefangenschaft. Ich erlebte zwei durch Kriege<br />

bedingte Inflationen. Einer meiner Brüder fiel in Rußland.<br />

Aus den Katastrophen des Krieges habe ich Lehren gezogen. Den<br />

im Dritten Reich individuell begonnenen Weg setzte ich in meiner<br />

Amtszeit konsequent fort. Diesmal im Bündnis mit<br />

Gleichgesinnten. Es gibt für mich als Christ <strong>und</strong> als Demokrat kein<br />

Ausweichen <strong>und</strong> keinen Rück<strong>zu</strong>g in eine unpolitische Innerlichkeit.<br />

Man muß sich in den Fragen des Friedens <strong>und</strong> der Gerechtigkeit<br />

gegen Unrecht- <strong>und</strong> Gewaltdenken entscheiden. Vor allem meine<br />

ich, die Sache des Friedens nicht alleine den Politikern <strong>und</strong> den<br />

Militärs überlassen <strong>zu</strong> dürfen.<br />

<strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong><br />

(aus einem Flugblatt <strong>zu</strong>r Kandidatur Friedensliste )


4<br />

Einige Angaben <strong>zu</strong>r Person<br />

Mein Name ist <strong>Werner</strong> <strong>Sanß</strong>, Pfarrer <strong>und</strong> Superintendent in Ruhe,<br />

Preisträger des Aachener Friedenspreises, 12 Jahre<br />

Landessynodaler, 20 Jahre im Ausschuß für öffentliche<br />

Verantwortung der Landeskirche, nach Rückkehr aus elfjähriger<br />

Kriegs- <strong>und</strong> Gefangenschaftszeit engagierter Einsatz für Frieden,<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Bewahrung der Schöpfung, Aufsätze in diversen<br />

Zeitschriften veröffentlicht<br />

APOKALYPTISCH DIE REITER:<br />

HUNGER UND KRIEG,<br />

VERFÜHRUNG UND PEST.<br />

BEDENKE ALS CHRIST:<br />

NICHTS, WAS AUF ERDEN GESCHIEHT,<br />

GESCHIEHT OHNE GOTT.<br />

GOTTES GERICHTE<br />

SIND ALLE BEFRISTET, NUR<br />

GNADE IST FRISTLOS.


5<br />

Traum <strong>und</strong> Erwachen - <strong>Kain</strong>s Brudermord 1. Mose 4, 1+2a<br />

„Und Adam erkannte sein Weib Eva, <strong>und</strong> sie ward schwanger <strong>und</strong> gebar den <strong>Kain</strong><br />

<strong>und</strong> sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn.<br />

Danach gebar sie <strong>Abel</strong> seinen Bruder“.<br />

Liebe Gemeinde,<br />

Eva hat ihren ersten Sohn geboren. Sie ist überglücklich. Die durch Gott <strong>zu</strong>m<br />

Tode verurteilten Eltern, Adam <strong>und</strong> Eva, halten die Weitergabe des Lebens an<br />

ihren Sohn für eine Aufhebung ihrer eigenen Todesverfallenheit. Adam <strong>und</strong> Eva<br />

sind ebenso wie alle Eltern bei der Geburt ihrer Kinder über das neue Geschehnis<br />

reflektionslos in heiterer Stimmung. Doch alle Geburten einschließlich der ersten<br />

vollziehen sich außerhalb des Paradieses. „Draußen vor der Tür“ heißt Verlust der<br />

Gottes-Nähe <strong>und</strong> der Verlust des wirklichen Lebens. Das unvermittelte Gespräch<br />

mit dem Schöpfer findet nicht mehr statt. Zwischen Gott <strong>und</strong> Mensch ist eine<br />

<strong>und</strong>urchdringbare Mauer wie im Jerusalemer Tempel vor dem Allerheiligsten,<br />

dem Tempelchen im Tempel, ein Vorhang das endgültige Nein Gottes darstellte:<br />

Zutritt verboten! Gottes Ferne heißt Verlust unmittelbarer Kommunikation mit<br />

dem Geber des Lebens, heißt aber auch Einfluß durch Stimmen, die vom Zerstörer<br />

kommen. Gottes Ferne heißt befristetes Leben, Rückkehr in den Staub: „von Erde<br />

bist du genommen <strong>zu</strong> Erde sollst du wieder werden“. Das will Eva nicht<br />

wahrhaben. Sie macht sich als Mutter wie später alle Mütter <strong>und</strong> ihre Männer eine<br />

eigene Religion. Das heißt, sie sagt etwas von Gott, ohne Gott <strong>zu</strong> kennen <strong>und</strong> sie<br />

macht somit die Rechnung ohne Gott. Luther sagt, daß Eva „ihn (nämlich den<br />

Sohn) vor großer Freude <strong>und</strong> Ehrfurcht nicht hat wollen einen Sohn nennen,<br />

sondern gedacht er würde etwas Größeres sein, nämlich der Mann, der der<br />

Schlange den Kopf zertreten würde.“ Sie glaubte also den Erretter von Sünde,<br />

Tod <strong>und</strong> Teufel geboren <strong>zu</strong> haben. Das deckt sich mit der wörtlichen Überset<strong>zu</strong>ng<br />

„Ich habe einen Mann geschaffen, den Herrn <strong>und</strong> Heiland.“ Aus dem Verlust der<br />

Kommunikation mit Gott folgt der eigene erdachte Glaube, in diesem Fall die<br />

irrige Annahme, daß der Erlöser vom Mann gezeugt würde, also ein Produkt<br />

seiner selbst sei. Das verführt den Mann nun auch durch alle Zeiten <strong>zu</strong> der


6<br />

überheblichen Meinung, trotz aller Wahnsinnsgeschichten doch am Ende der <strong>zu</strong><br />

sein, der den Erlöser selbst gezeugt habe. Mag der Mann <strong>und</strong> mit ihm die Frau<br />

noch so viel Unheil in die Welt bringen, mehr Geschichten, traurige, unselige,<br />

blutige, wahnwitzige, wahnsinnige Geschichten als Geschichte, mag die Welt in<br />

Elend <strong>und</strong> Not selbstverschuldeter Handlungen stöhnen <strong>und</strong> die Erde das Wasser<br />

der Getöteten in sich aufsaugen, immer steht der Mann noch wieder da als der, der<br />

sich an die Brust klopft <strong>und</strong> sich rühmt: „Hast du nicht alles selbst vollendet,<br />

heilig glühend Herz.“ Und etwas von dieser Gesinnung erfüllt den Mann wenn er<br />

den erstgeborenen Sohn in die Arme nimmt. Wie gesagt, er verfällt der<br />

Überschät<strong>zu</strong>ng seiner Möglichkeiten. Die Erlösung hat Gott nicht in den Willen<br />

<strong>und</strong> in die Macht des Mannes gelegt.<br />

Viele unserer Zeitgenossen vermögen mit dem Satz: Geboren von der Jungfrau<br />

Maria nichts an<strong>zu</strong>fangen. Ihre Hilflosigkeit führt sie dann oft <strong>zu</strong>m Spott. Für<br />

meinen Glauben wäre eine Leugnung dieses Satzes ein Preisgegebensein des<br />

Menschen an den Menschen. Ich will lieber in die Hände des allmächtigen Gottes<br />

fallen als in die Hände der Menschen. Was vom Fleisch gezeugt <strong>und</strong> geboren<br />

wird, das ist <strong>und</strong> bleibt Fleisch. Die alte Menschheit mit ihrem Mord <strong>und</strong> ihrer<br />

Geldgier, ihrem Götzendienst <strong>und</strong> in ihrem Nationalismus ist nicht <strong>zu</strong> retten. Sie<br />

alle sterben als Adams Kinder.<br />

Die neue Menschheit ist ein neuer Schöpfungsakt Gottes <strong>und</strong> nicht eine durch den<br />

Mann übermittelte Weitergabe der alten Schöpfung. Der Mann kann <strong>und</strong> soll sich<br />

nicht rühmen, sein eigener Gott <strong>und</strong> sein eigener Erlöser <strong>zu</strong> sein. Oft haben<br />

Männer, <strong>zu</strong>m Teil auch Frauen, direkt oder auf dem Umweg des Bettes, sich in<br />

der Geschichte durchsetzen wollen. Sie haben die Erlösung von Krieg <strong>und</strong> Not<br />

versprochen <strong>und</strong> sich schon vor dem Sieg als Gott feiern <strong>und</strong> anbeten lassen.<br />

Wann wird der Mensch endlich auf solche Schwindler nicht mehr hereinfallen?<br />

Der Mann, der Mensch, die Frau schaffen keine W<strong>und</strong>er. Gewalt wird nicht mit<br />

Gewalt, Not nicht durch Versprechungen gelindert <strong>und</strong> Friede nicht durch<br />

Großmannssucht erreicht.<br />

Eva glaubte, wie der Name <strong>Kain</strong> bezeugt, den Erlöser durch die Geburt gewonnen<br />

<strong>zu</strong> haben. Dieser entpuppt sich in der heutigen Geschichte <strong>und</strong> in allen weiteren<br />

folgenden Geschichten als Mörder. Allemal kommt das Erwachen. Wer sich<br />

seinen Gott selbst <strong>zu</strong>rechtlegt <strong>und</strong> macht, wird allemal die Götzendämmerung


7<br />

erleben. Der rücksichtslose Einsatz des Kapitals <strong>zu</strong>r brutalen Gewinnmaximierung<br />

wird <strong>zu</strong>m Zusammenbruch führen. Der wahnwitzige, hirnrissige Kampf jeder<br />

kleinen Volksgruppe vom eigenständigen Staat mit eigenem Heer <strong>und</strong><br />

Botschaften <strong>und</strong> UNO-Vertretern wird die Welt unregierbar machen:<br />

Nationalismus bis <strong>zu</strong>m Exzess. 1993 dreißig Kriege mit sechs Millionen Toten.<br />

Letzter Wahnsinn, Einsatz militärischer Macht um jeden Preis, Waffenexport <strong>und</strong><br />

Rüstungsindustrie, keinem in der Rüstung Beschäftigten klar <strong>zu</strong> machen weder in<br />

Frankreich, noch in Afrika, weder in Russland noch in Jugoslawien, auch nicht in<br />

Afghanistan oder in Sri Lanka. Es ist sinnvoller, in Bochum Ziegelsteine <strong>zu</strong><br />

brennen, diese nach Dortm<strong>und</strong> <strong>zu</strong> schaffen <strong>und</strong> sie dort in Sand <strong>zu</strong> zerkleinern <strong>und</strong><br />

wiederum diesen als Rohstoff nach Bochum <strong>zu</strong> transportieren in einem<br />

unendlichen Kreislauf. Das ist die Hölle. Und doch ist dieses Tun allemal besser<br />

als die Herstellung von Waffen. „Du Mann, an der Werkbank, wenn sie dir<br />

befehlen, Granaten <strong>zu</strong> drehen, sag nein.“ So die Argumentation nach 1945 bis<br />

1955. Man setzte sich darüber hinweg <strong>und</strong> setzt sich auch anderswo darüber<br />

hinweg. man wird erwachen <strong>und</strong> kann dann auch nicht die Regierungen allein, die<br />

da oben, verantwortlich machen. Würden die Arbeiter keine Waffen herstellen<br />

<strong>und</strong> die Gemusterten nicht in den Krieg ziehen, dann wäre der Krieg bald <strong>zu</strong><br />

Ende. Auch die durch Arbeitslosigkeit verursachten Zustände, die Ausgren<strong>zu</strong>ng<br />

vieler aus der Gesellschaft <strong>und</strong> deren Herabsinken unter die Armutsgrenze,<br />

treiben in die Hände von Heilsbringern. Die Wirtschafts-ideologien, Sozialismus<br />

<strong>und</strong> Kapitalismus, sind nicht gefeit vor einer Diktatur. Videla in Argentinien,<br />

Pinochet in Chile, Duvalier in Haiti, Strasser in Peru, Franco in Spanien, Hitler in<br />

Deutschland, Sygman Rhee in Südkorea, Tschiang Kaischeck in Formosa, Mao in<br />

China, Markos auf den Philippinen, Stalin in der UdSSR, Suharto in Indonesien,<br />

Georgescu in Rumänien <strong>und</strong> Pol Pot in Indonesien <strong>und</strong> zahlreiche andere<br />

verrieten ihre eigenen Gr<strong>und</strong>sätze <strong>und</strong> machten dasselbe, was sie bekämpften. Sie<br />

bezeugen die Anfälligkeit in allen Ländern. Indem man einen anderen anklagt <strong>und</strong><br />

eben dasselbe tut, klagt man sich selber an.<br />

Die Desillusionierung, die Ernüchterung der Eva ließ nicht lange auf sich warten.<br />

Sie bekommt einen zweiten Sohn, den nennt sie „Hauch“, „trostlose Lehre“ <strong>und</strong><br />

bek<strong>und</strong>et damit die Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Wir können es auch<br />

umschreiben wie es im Lied heißt:


8<br />

„Wie eine Rose blühet, wenn man die Sonne siehet,<br />

begrüßen diese Welt,<br />

die eh der Tag sich neiget, eh sich der Abend zeiget,<br />

verwelkt <strong>und</strong> unversehens fällt,<br />

so wachsen wir auf Erden <strong>und</strong> hoffen groß <strong>zu</strong> werden<br />

von Schmerz <strong>und</strong> Sorgen frei.<br />

Doch eh wir <strong>zu</strong>genommen <strong>und</strong> recht <strong>zu</strong>r Blüte kommen<br />

bricht uns des Todes Sturm entzwei.“<br />

Ganz <strong>und</strong> gar ein <strong>Abel</strong>, „Nichtigkeit“ ist jeder Adam. Psalm 39 sagt es: „Wie so<br />

garnichts sind alle Menschen, die so sicher leben.“<br />

Wer Leben erweckt, arbeitet für den Tod. Trotzig <strong>und</strong> verzagt ist das<br />

Menschenherz. Das offenbart sich in Evas Namens-wahl. Sie konnte die Namen<br />

ihrer Kinder nicht nach der neuesten Mode wählen, noch konnte sie sie mit den<br />

Namen großer Herrscher benennen. In der Verzagtheit ist sie näher an der<br />

Wahrheit als alle, die ihre Söhne Alexander oder Friedrich Wilhelm oder ihre<br />

Töchter Victoria <strong>und</strong> Gloria nennen. „Herr lehre uns bedenken, daß wir sterben<br />

müssen, auf daß wir klug werden.“ Ich vermisse diese Klugheit, die hier bei Eva<br />

in ihrer Resignation <strong>zu</strong> finden war. Ich bin auf Wohnungssuche für Asylbewerber,<br />

die unter H<strong>und</strong>ehüttenniveau leben. Die H<strong>und</strong>e-hütte muß sechs Quadratmeter<br />

haben, für Schäfer-h<strong>und</strong>e neun. Im Container zwei heranwachsende Kinder, ein<br />

Eltern-paar <strong>und</strong> ein junges Ehepaar übrigens als Christen unter lauter<br />

Mohammedanern in zwei kleinen Räumen <strong>und</strong> einer kleinen Küche. Aber alles so<br />

klein, daß sie für den schwerkranken Vater kein richtiges Bett aufstellen können.<br />

Sie können sich eine Wohnung von Amtswegen suchen. Ich will helfen. Zwei<br />

Häuser nebeneinander. Im ersten ein Laden mit Kontor <strong>und</strong> einer bewohnbaren<br />

Veranda <strong>und</strong> einer Wohnung in der ersten <strong>und</strong> eine in der zweiten Etage. Im<br />

zweiten Haus ein Geschäft, darüber eine komplette Wohnung die leer steht. Die<br />

mittlere Wohnung in dem ersten Haus bewohnt die Frau. Die zweite Wohnung<br />

will sie nicht vermieten aus Angst <strong>und</strong> aus der Sorge, bei Aufgabe des Geschäftes<br />

die Leute nicht heraus<strong>zu</strong>bekommen. Und die dritte Wohnung nebenan, in die will<br />

sie einmal ziehen, wenn sie das Geschäft nicht mehr führen kann. Drei<br />

Wohnungen für eine Person. Ich denke an ein anderes Haus mit einer


9<br />

Quadratmeterwohnfläche von 300qm. Es wird bewohnt von nur einer Frau. Der<br />

Sohn ist im fernen Osten. Während des Niederschreibens der Predigt nach einem<br />

Jahr ist das Haus jetzt endlich verkauft. Hoffentlich wohnt jetzt mehr als einer in<br />

dem Haus. Das weiß ich nicht. Ersparen sie mir die Aufzählung freier<br />

Wohnungen. Dreißig <strong>und</strong> das Vielfache werde ich leicht in Selm<br />

<strong>zu</strong>sammenbringen. Darunter auch Spekulationsobjekte, die zwei, drei bis sechs<br />

Jahre frei stehen. Wo bleibt die Sozialverpflichtung, wenn im Container zahllose<br />

Familien wohnen, mit durchschnittlich fünf oder vier Quadratmetern Raum pro<br />

Person.<br />

Die Sozialverpflichtung des Eigentums ist im Gr<strong>und</strong>gesetz verankert. Die<br />

Stadtverwaltung müßte den Mut haben, sich beim Kapital durch<strong>zu</strong>setzen <strong>und</strong> die<br />

Besitzer <strong>zu</strong>r Miete <strong>zu</strong> zwingen, <strong>und</strong> die Regierung müßte ein Gesetz<br />

verabschieden <strong>zu</strong>r Versteuerung leerstehenden Wohnraums. Die evangelisch<br />

Kirche hat eine Protestschrift <strong>zu</strong>r Diskussion gestellt. In dieser Woche war unter<br />

anderem davon die Rede, daß es ein Recht auf Arbeit geben müsse. Einige haben<br />

sich schon <strong>zu</strong> Wort gemeldet. Ein Herr von der CDU sieht die freie<br />

Marktwirtschaft in Gefahr, doch die freie Marktwirtschaft ist nicht im<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz verankert, wohl aber die Sozialverpflichtung des Eigentums.<br />

Ich habe in all den Jahren nie mit der Hölle gedroht <strong>und</strong> die Hölle gepredigt, auch<br />

nicht über das Fegefeuer. Gott ist kein Sadist. Barmherzig <strong>und</strong> gnädig ist der Herr,<br />

geduldig <strong>und</strong> von großer Güte. „Er war in Christus <strong>und</strong> versöhnte die Welt mit<br />

sich selber <strong>und</strong> rechnete ihnen ihre Sünde nicht <strong>zu</strong>“. Doch von Gottes Endurteil<br />

einmal abgesehen. Auf dieser Welt gilt auch das Gesetz von Saat <strong>und</strong> Ernte. Was<br />

der Mensch sät, das wird er ernten, unabhängig von dem was Gott am Ende <strong>zu</strong><br />

unserem Leben sagt. Ich könnte mir aber auch denken, daß Gott die Argumente<br />

<strong>zu</strong>m Umdenken liefert. Möglicherweise sagt er <strong>zu</strong> den ganz Hartgesottenen mit<br />

vielen <strong>und</strong> großen Häusern: Ich gebe den Unbarmherzigen eine Lehrzeit, sagen<br />

wir eine Lehrzeit von vierzig Jahren. Und er läßt sie in großräumigen Wohnungen<br />

leben, wo sie alles haben, aber wo sie mit sich allein sind Das ist eine harte<br />

Drohung, die ja auch auf h<strong>und</strong>ert Jahre erweitert werden kann. Was ich jetzt<br />

sagte, steht nicht in der Bibel. Ganz ohne Drohung ist die Bibel allerdings nicht.<br />

Der Apostel Jacobus in seiner kurzen Schrift, ziemlich am Ende des Neuen<br />

Testamentes schreibt:


10<br />

„Und nun ihr Reichen, weint <strong>und</strong> heult über das Elend, das über euch kommen<br />

wird. Euer Reichtum ist verrottet, eure Kleider von Motten zerfressen, euer Gold<br />

<strong>und</strong> Silber ist verrostet <strong>und</strong> ihr Wertverfall wird gegen euch Zeugnis geben <strong>und</strong><br />

wird euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt euch Schätze gesammelt in diesen<br />

letzten Tagen. Siehe, der Lohn der Arbeiter die euer Land abgeerntet haben, den<br />

ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit <strong>und</strong> das Rufen der Schnitter ist vor die<br />

Ohren des Herrn Zebaoths gekommen.“ (Jacobus 5, Vers 1-3)<br />

In der Person <strong>Abel</strong>s liegt der Hinweis auf Christus. <strong>Abel</strong> wie Christus widmen<br />

sich den Schafen, den Hilflosen, den Opfertieren <strong>und</strong> sind selbst Opfer geworden.<br />

Opfer der Starken <strong>und</strong> Stolzen in Kirche <strong>und</strong> Welt. „Ihr habt den Gerechten<br />

verurteilt <strong>und</strong> getötet <strong>und</strong> er hat nicht widerstanden“. <strong>Abel</strong> ist ein Vorbild der<br />

Gemeinde Christi. Zwar sind alle Menschen Hauch (<strong>Abel</strong>); alle Großköpfigkeit,<br />

aber auch alle Demut endet im Tode. Die glaubende Gemeinde Gottes weiß um<br />

die Vergänglichkeit aller: Wir haben hier keine bleibende Stadt. Weil die Starken<br />

des Arztes nicht bedürfen, sollte eine größere Zuneigung <strong>und</strong> Hinneigung den<br />

Schwachen gewidmet sein. Paulus mahnt: „Haltet euch herunter <strong>zu</strong> den<br />

Schwachen.“ Setzt die Gemeinde auf die Reichen <strong>und</strong> Starken, auf die Mächtigen<br />

<strong>und</strong> Gewitzten, die andere auspowern, dann dient sie der vergehenden Welt<br />

anstatt dem kommenden Christus, der die Zukunft eröffnet hat. Notfalls sollte die<br />

Gemeinde lieber Opfer, statt Henker sein.


11<br />

Holländischer Gulden <strong>und</strong> deutsches Koppelschloß<br />

Schau doch her, sieh dirs an:<br />

„God met ons“, gut gestanzt<br />

in Den Haag in den Rand<br />

Geld der Welt.<br />

Schau doch her, sieh dirs an:<br />

„Gott mit uns“, auf dem Schloß, führt den Mann in den Kampf<br />

um die Welt.<br />

Dieser meint, nun gefeit<br />

sei sein Leib wie sein Geld<br />

gegen Feind, gegen Tod,<br />

gegen Welt.<br />

Hochgelobt, treuer Mann,<br />

für den Mut vor dem Feind,<br />

für die Frau <strong>und</strong> das Kind.<br />

Trug der Welt.<br />

Denn du irrst, denn dein Gott,<br />

dem du glaubst, stellt sich nicht<br />

in den Dienst für den Streit:<br />

Job der Welt.<br />

In dem Kampf <strong>und</strong> im Mord<br />

für ein Reich <strong>und</strong> das Gold<br />

steht der Mann gegen Gott<br />

vor der Welt.<br />

Gott verfälscht, Gott in Zwang,


12<br />

für das Heer <strong>und</strong> das Geld,<br />

für die Wahl <strong>und</strong> den Trost<br />

dieser Welt.<br />

Christi Amt in der Zeit<br />

paßt sich an, fügt sich ein:<br />

Geb ich dir, gibst du mir<br />

von der Welt.<br />

Gottes Reich wird verkannt,<br />

wird mißbraucht, leidet Not.<br />

Doch es lebt <strong>und</strong> es siegt<br />

in der Welt.<br />

Hör auf, mache Halt<br />

Höre auf, menschlicher Unmensch,mache Halt, unmenschlicher Mensch,<br />

sofort <strong>und</strong> noch heute,laß sinken die Hände,verweigere den Geist,<br />

sperr jeden Handschlag <strong>und</strong> jeden Dienst an der Bombe,<br />

hack dir notfalls die Hand ab, die rechte, wenn man dich zwingt.<br />

Der Countdown ist in Gang.Verlier die Zeit nicht, noch hast du die Zeit.<br />

Wirf dich entgegen jedem <strong>und</strong> allen,die hier, noch gefangen im Sachzwang<br />

selbstverschuldeter Wege,das Uhrwerk bedienen.<br />

Gut vorprogrammiert ist das Unheil, die Untat des Wahnsinns<br />

vom Ungott <strong>und</strong> Unmensch,unvorstellbar das Ende.<br />

Nichtiges im Dienste des Nichts <strong>und</strong> der Leere!<br />

Geist <strong>und</strong> Erfahrung, Empfindung <strong>und</strong> Handeln von allen guten Geistern<br />

entleert <strong>und</strong> verlassen, kaum <strong>zu</strong> fassen, doch unbestreitbar in action.<br />

Beende sofort <strong>und</strong> allein <strong>und</strong> <strong>zu</strong>gleich mit den anderen <strong>und</strong> allen<br />

den Pakt mit dem Satan, Satan dem Allesvernichter.


13<br />

Verdammt sei der Zweifel, der immer ein Körnlein an Wahrheit, ein Fünklein an<br />

Sinn in dem Wahnsinn der Hölle vermutet.<br />

H-Bombe, kobaltummantelt, letzte Erpressung der Menschheit,<br />

böser als alle Folter in zehntausend Jahren.<br />

Erpressung <strong>und</strong> Selbsterpressung <strong>zu</strong>gleich, Mord mit Selbstmord gekoppelt.<br />

Spiel nicht mehr mit,du Oberst, du Feldarzt, du Schütze, du Funker!<br />

Hör auf die Botschaft von Einstein an italienische Forscher:<br />

„Am Ende des Weges zeichnet sich immer deutlicher das Gespenst der<br />

allgemeinen Vernichtung“.<br />

Am Tage der ersten Explosion wird die Dimension der Geschichte mit<br />

explodieren, beschwört Stefan Anders. Der Schrei verhallt ohne ein Echo.<br />

Apokalyptische Blindheit hat die Menschheit befallen.<br />

Mit sehenden Augen übersieht sie das tosende Unheil.<br />

Über Angst sprechen viele, kaum einer hat Angst.


14<br />

Falscher Gottesdienst 1. Mose 4,3-4a<br />

„Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß <strong>Kain</strong> dem Herrn Opfer brachte von<br />

den Früchten des Feldes <strong>und</strong> auch <strong>Abel</strong> brachte von den Erstlingen seiner Herde<br />

<strong>und</strong> von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an <strong>Abel</strong> <strong>und</strong> sein Opfer, aber <strong>Kain</strong><br />

<strong>und</strong> sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte <strong>Kain</strong> sehr <strong>und</strong> senkte finster<br />

seinen Blick.“<br />

Die Geschichte mit <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> <strong>Abel</strong> spielt draußen vor der Tür. Der Apfel ist ab<br />

<strong>und</strong> das ewige Leben verspielt. Da<strong>zu</strong> ist die unmittelbare Kommunikation mit<br />

Gott, wie sie im Paradies stattfand, beendet. Unser Draht <strong>zu</strong> Gott erreicht Gott, er<br />

hört, was wir sagen, er sieht, was wir tun, er weiß um unsere Gedanken. Doch sein<br />

Draht erreicht uns nicht mehr. Wir haben keine Antenne mehr für Gott. Wir<br />

sprechen nicht ins Leere, weil die Verbindung <strong>zu</strong> Gott da ist. Aber wenn wir über<br />

Gott reden, reden wir ins Ungewisse. Alles Reden von Gott ist Faselei,<br />

Vermutung, Wunschdenken, Fabrikation menschlicher Götter, Religion aus<br />

eigener Hand, selbstgefertigt. In der Predigt über den vorhergehenden Vers wurde<br />

uns K<strong>und</strong>e gegeben, daß Eva mit dem Unfug eigener Gottesvorstellungen<br />

begonnen hatte: „Ich habe den Mann, den Heiland gewonnen:“ Wir haben um<br />

Evas Täuschung gehört. Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste<br />

Gottes <strong>und</strong> hat es in Denken <strong>und</strong> Fühlen, in Ekstase <strong>und</strong> Vernunft immer nur mit<br />

sich selbst <strong>zu</strong> tun. Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch, vergänglich. Wir<br />

erinnern uns, daß Eva ihren zweiten Sohn <strong>Abel</strong> nennt, was soviel heißt wie<br />

Hauch, Nichtigkeit, Leere, Vergeblichkeit. Sie ist ernüchtert. Nun kommt eine<br />

weitere große Täuschung, der erste Gottesdienst. Oder die „Erfindung“ des<br />

Menschen, die wir als Gottesdienst bezeichnen. Darum geht es in unserer<br />

Geschichte. Man nimmt von dem Alltäglichen <strong>und</strong> sondert ein Stück ab, das man<br />

als heilig bezeichnet. Diese Absonderung für Gott ist aber nur ein Zeichen der<br />

Gottesferne. Im Paradies war der Mensch bei Gott, in seiner Nähe, in der Einheit<br />

mit ihm, fragend <strong>und</strong> hörend, rastsuchend <strong>und</strong> ratannehmend, geborgen <strong>und</strong><br />

getröstet. Ein besonderer Gottesdienst, um sich hin<strong>zu</strong>wenden <strong>zu</strong> Gott, war im<br />

Paradies überflüssig. Wo<strong>zu</strong>, wenn alles menschliche Tun <strong>und</strong> Reden mit Gott <strong>und</strong>


15<br />

in Gott war? Es bedurfte keiner heiligen Handlung, denn alles Handeln war heilig.<br />

Es bedurfte keines heiligen Ortes, denn die Erde, die Wohnstadt der Menschen,<br />

war durch Gottes Gegenwart geheiligt. Draußen vor der Tür fehlt alles. Gott, seine<br />

heilige Nähe, seine schützende Hand, sein beratendes Wort. Der Kontakt ist<br />

gestört, doch die Menschen, in diesem Falle <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> <strong>Abel</strong> suchten Kontakt, die<br />

Zuwendung Gottes, seinen Segen, die Minderung des Fluches <strong>und</strong> möglicher<br />

Weise auch die Rückgängigmachung des Fluches, die Versöhnung mit Gott, die<br />

Aufhebung des Neins <strong>zu</strong>m Menschen. Das alles fehlt, darum ist auch die<br />

ungeteilte Hingabe an Gott als rechter Gottesdienst <strong>und</strong> der dankbare Gehorsam<br />

im Leben unmöglich. Außerhalb des Paradieses kann der Mensch nicht mehr<br />

leben, ohne <strong>zu</strong> sündigen. Im Paradies hat er die Möglichkeit nicht <strong>zu</strong> sündigen.<br />

Doch diese Freiheit, in Freiheit mit Gott <strong>zu</strong> handeln <strong>und</strong> in Übereinstimmung <strong>zu</strong><br />

bleiben, hat er verloren. Er kann jetzt nicht mehr, was er vorher konnte, sündlos<br />

bleiben, das Paradies ist verloren. Die Selbst-gerechten aller Zeiten, inklusive<br />

derer, die sich f<strong>und</strong>amental auf die Bibel stützen wollen, täuschen sich, wenn sie<br />

sich für sündlos halten. Alle Menschen leben ausschließlich aus der Güte Gottes,<br />

oder anders gesagt aus Gottes Gnade. Sich als Sünder wissen, heißt <strong>zu</strong> Kreuze<br />

kriechen, sich dem Urteil Gottes stellen <strong>und</strong> blitzschnell oder unendlich langsam<br />

merken, daß keiner von uns der Norm entspricht, keiner den Entwurf verwirklicht<br />

hat, den Gott in seinem Herzen trägt von ihm, der sich für gerecht hält <strong>und</strong> meint<br />

er entspräche der Norm. In einem unserer neuesten Kirchenlieder heißt es:<br />

„Ich rede, wenn ich schweigen sollte,<br />

<strong>und</strong> wenn ich etwas sagen sollte, dann bin ich plötzlich stumm.<br />

Ich schweige, wenn ich reden sollte,<br />

<strong>und</strong> wenn ich einmal hören sollte, dann kann ichs plötzlich nicht.“<br />

Immer wieder geschieht es, daß alles andere wichtiger wird als das Hören. Wenn<br />

mich Gott durch einen anderen Menschen weiterbringen will, dann werden<br />

Menschenworte <strong>zu</strong>m Wasser-fall, um auf jede Weise Gott nicht an sich ran <strong>zu</strong><br />

lassen. Der Mensch hat seinen eigenen Religionsersatz:<br />

„Ich glaube, wenn ich zweifeln sollte,<br />

<strong>und</strong> wenn mein Glaube tragen sollte, dann bin ich tatenlos.


16<br />

Ich zweifle, wenn ich glauben sollte,<br />

<strong>und</strong> wenn ich kritisch fragen sollte, dann nehm ich alles an.“<br />

Weil keine Bereitschaft für Gott da ist, geht Gottes Wort ins Leere. Es stößt auf<br />

Müdigkeit, auf Abschaltung, auf Gleich-gültigkeit. Man kann den Pfarrern viele<br />

Vorwürfe machen, die oft berechtigt sind. Doch die Ablehnung der Predigt liegt<br />

nicht bei dem Sprechenden, sondern bei dem Hörenden, der sich verschließt. Es<br />

ist ein Zeichen menschlicher Gottesferne, daß uns das Ohr sooft verschlossen ist.<br />

Gott ist uns lästig, überflüssig <strong>und</strong> der Mensch sträubt sich, ein Lernender <strong>und</strong> ein<br />

Hörender <strong>zu</strong> sein. Und wenn einer mit Menschen- <strong>und</strong> Engels<strong>zu</strong>ngen reden<br />

würde, kann der Redende gegen diese Art von Abneigung schwerlich ankommen.<br />

Dieses Ver-schlossensein gilt für uns alle. Davon sind auch die Pfarrer nicht<br />

ausgenommen. Gott hat es mit allen schwer, wie Jesus es mit seinen Jüngern<br />

schwer hatte. Sie wußten oft nichts <strong>und</strong> verstanden oft nichts. Jesus konnte sich<br />

des Seufzers nicht enthalten: „Wie lange soll ich euch ertragen.“ Das gilt auch für<br />

<strong>Kain</strong>s <strong>und</strong> <strong>Abel</strong>s Gottes-dienst. Das fehlende Wissen macht die Sache schwer. Sie<br />

bringen ein Opfer. Opfer ist ein Eingeständnis, daß der Mensch sich selbst<br />

<strong>zu</strong>rücknimmt. „Ich habe keine ganze Hingabe für dich, lieber Gott. Ich bringe dir<br />

stellvertretend für die totale Ergebenheit einen Ersatz. Diesen Ersatz nenne ich<br />

Opfer. Ich, der Mensch, will mich in der Hand behalten, darum müssen wir beten:<br />

Ach nimm mein schwaches Lob auf Erden,<br />

mein Gott, nimm es in Gnaden hin.<br />

Im Himmel soll es besser werden,<br />

wenn ich bei deinen Englein bin.<br />

Da sing ich dir im vollen Chor,<br />

viel tausend Halleluja vor.“<br />

Es kommt also beim Opfer auf die Erkenntnis an, daß wir keinen vollkommenen<br />

Gottesdienst, keine totale Hingabe an Gott leisten können. Es gehört also <strong>zu</strong>m<br />

Opfer die Demut <strong>und</strong> noch ein Zweites: die Einfalt. Es kommt darauf an, daß man<br />

keine Hintergedanken hat. Oh diese Hinterhältigkeit der Gedanken, die sich<br />

immer einstellen, wo man einfältig sein sollte. Man sollte für Gott da sein <strong>und</strong><br />

man ist plötzlich doch für sich da. Also auch im Gottesdienst sind wir im Gr<strong>und</strong>e<br />

nicht mit Gott, sondern gottlos. Das ist pervers. Noch schlimmer aber wird es,


17<br />

wenn man nun einen Handel mit Gott treibt. Im Volksm<strong>und</strong> gibt es ein<br />

Sprichwort, das besagt, man wirft mit einer Wurst nach einer Seite Speck.<br />

Übersetzt heißt das in der Alltagssprache: Ich möchte mit einem kleinen Einsatz<br />

einen größeren Gewinn erzielen. Gebe ich dir, Opfer, dann wirst du ja wohl mit<br />

mir sein. Ich beanspruche das, weil ich geopfert habe. Wie der betende Pharisäer:<br />

„Ich faste zweimal in der Woche <strong>und</strong> gebe den zehnten Teil von allem was ich<br />

habe.“ Heute würde es heißen: „Ich nehme regelmäßig an der Messe oder am<br />

Gottesdienst teil <strong>und</strong> übersehe die Kollekte nicht.“ Der Pharisäer war ein<br />

Angehöriger einer frommen Partei. Der jüdische Name besagt, daß er sich<br />

abgesondert weiß. „Ich danke dir, daß ich nicht bin, wie die anderen.“ Gott freut<br />

sich gewiß über Selbstdisziplin <strong>und</strong> er freut sich über Spenden, auch heute mehr<br />

über Papierscheine als über Groschen-stücke. Doch Gott freut sich nicht über die<br />

völlig verquerte Ansicht, man könnte mit ihm handeln. Gottes Güte ist nicht<br />

kaufbar, sie ist auch nicht erlernbar <strong>und</strong> leider auch nicht vererbbar, weder mit<br />

noch ohne Steuer. Gott verschenkt sein Reich. Da darf jeder kommen, demütig,<br />

ohne Hintergedanken, mit Beschlag kann ihn keiner belegen. Jesus macht sich<br />

<strong>zu</strong>m Knecht der menschlichen Not, aber nicht <strong>zu</strong>m Handelsobjekt. Die Bitte eines<br />

Gemeindegliedes fällt mir ein. Rührend in der Offenheit, doch in der Wurzel<br />

völlig verquert: „Herr Pastor, beten sie, daß ich im TOTO gewinne. Sie haben<br />

doch einen Draht <strong>zu</strong> Gott. Wenn das Erfolg hat, gebe ich ihnen 10% für<br />

Bedürftige.“ Ich sagte: „Auf das Geschäft lasse ich mich auch ein, aber das klappt<br />

nicht.“<br />

Das war vielleicht noch ein harmloser Vorschlag. Schlimmer ist es, wenn ganze<br />

Völker Gott <strong>zu</strong> solch einem Kuhhandel zwingen möchten. Manchmal merken sie<br />

es nicht. Als wir Soldaten waren, trugen wir einen breiten Ledergürtel <strong>zu</strong>r<br />

Befestigung von Feldflasche, Feldbeutel, Spaten, Pistolen-halter etc, ein<br />

Koppelschloß <strong>und</strong> darauf stand <strong>zu</strong> Kaisers Zeiten <strong>und</strong> Hitlers Zeiten: „Gott mit<br />

uns.“ Selbstverständlich war die Generalität der Meinung, daß in unseren Kriegen<br />

Gott auf unserer Seite sein müßte, daß wir ihn gewissermaßen durch solch einen<br />

Spruch oder auch durch Feldgottesdieste in den Dienst unseres Krieges stellen<br />

könnten. „God met ons“ ist seitlich in den Holländischen Gulden gestanzt. Ich<br />

fragte vor einigen Jahren einen holländischen Versicherungsangestellten in einem<br />

Gasthaus, ob er sicher sei, bei dem Umgang mit Geld ohne weiteres Gott auf


18<br />

seiner Seite <strong>zu</strong> haben. So schnell war das garnicht <strong>zu</strong> klären <strong>und</strong> ich bin darüber<br />

mit ihm im Gespräch geblieben. Auf jeder Dollar-Note der Vereinigten Staaten<br />

steht das amerikanische Glaubensbekenntnis „True to God“. Wir haben erhebliche<br />

Fragen hinsichtlich dieser Treue. Die Amerikaner nennen sich Gottes eigenes<br />

Land. Die Treue <strong>zu</strong> Gott müßte dann größer sein, als die Liebe <strong>zu</strong>m Geld. Der<br />

amerikanisch Friede, die pax amerikana gibt Frieden allen, die sich unterordnen,<br />

„gerechte“ Strafe denen, die sich widersetzen. Karl Barth, der bedeutende<br />

Schweizer Theologe gab 1952 in einem Interview in einer amerikanischen<br />

Zeitschrift <strong>zu</strong> bedenken, daß der Kommunismus nie den Versuch gemacht habe,<br />

das Christentum selbst um<strong>zu</strong>deuten <strong>und</strong> <strong>zu</strong> verfälschen, er habe sich nie in ein<br />

christliches Gewand gehüllt. Karl Barth sagte damals: Der Nationalsozialismus<br />

habe sich schuldig gemacht eines Gr<strong>und</strong>frevels, nämlich der Beseitigung des<br />

wirklichen Christus durch einen nationalen Jesus. Ich weiß nicht, ob dieses in<br />

anderer Weise auch mit der Herrschaft des Geldes geschieht. Sicherlich völlig<br />

anders als unter der bösen Herrschaft des vergangenen Dritten Reiches. Aber doch<br />

auch eine Indienstnahme Gottes, die verfälscht. Vor zehn Jahren arbeitete das<br />

amerikanische Kapital mit christlicher Verbrämung. Es sei eine Inkarnation<br />

Christi: seiner Flexibilität, seiner Effektivität, seiner Universalität, seiner<br />

Solidarität, seiner Kollegialität <strong>und</strong> seiner Sozialität wegen. Da<strong>zu</strong> habe ich an<br />

anderer Stelle etwas gesagt. Die Kirche hat in ihrer Denkschrift <strong>zu</strong>r freien<br />

Marktwirtschaft nicht so massiv geredet, doch diese auch als letzte Möglichkeit<br />

angepriesen, obwohl das GG die Anerkennung der freien Marktwirtschaft nicht<br />

als Forderung aufgestellt hat. Jeder Gottesdienst seit <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> <strong>Abel</strong> ist von diesen<br />

Gefahren begleitet. Weil der Mensch sich nicht ganz hingeben kann, bringt er ein<br />

Opfer. Weil sein Herz nicht ganz auf der Seite Gottes ist, hofft er, Gott dienstbar<br />

machen <strong>zu</strong> können. Im Gr<strong>und</strong>e gibt es keinen rechten Gottesdienst. Es geht nicht<br />

um unseren Gottesdienst, es geht um Gottes Dienst an uns, um sein<br />

wortgewordenes Wort oder deutlicher gesagt um die Einnistung seiner Gedanken<br />

in das Wort der Propheten <strong>und</strong> um das fleischgewordene Wort, um das Eingehen<br />

seines Geistes in die menschliche Existenz des Jesus von Nazareth. Opfern ist nur<br />

dann sinnvoll, wenn es im demütigen Wissen geschieht, daß wir Gott nichts<br />

bringen können, als was ihm schon gehört. Es muß vor allem geschehen in der


19<br />

demütigen Unterwerfung, unsere Schuldverfallenheit durch Gott selbst in<br />

Ordnung bringen <strong>zu</strong> lassen.


20<br />

Die 50-Mega-T-Bombe<br />

H-Bombe, zwecks längerer Strahlung kobaltummantelt,<br />

harmlos, sprachlich entschärft als 50-Megatonnen-Bombe.<br />

Im Klartext: Eine Milliarde mal 50 Kilo an Sprengkraft,<br />

Dynamit oder Trinitrotoluol.<br />

Reicht allemal entgültig für alle.<br />

Von uns 6 Milliarden<br />

werden je 6 mit jeweils 50 Kilo bedacht.<br />

Ende des Lebens von Menschen, Pflanze <strong>und</strong> Tier.<br />

Der Mensch im Dienste des Satans hält sich für Gott.<br />

Er sagt, er drohe ja nur im Dienste des Friedens,<br />

um Frieden <strong>zu</strong> halten. Das bläst der Satan ihm ein.<br />

Signum des Satans ist atomares Feuer vom Himmel,<br />

getarnt als göttliche Stärke in menschlicher Hand.<br />

Die Allmacht der Menschen hat einen Defekt:<br />

Es fehlt an der Macht, sich der Macht <strong>zu</strong> enthalten.<br />

Das noch gefesselte Feuer atomarer Gewalt in menschlicher Hand,<br />

frevelhaft wägend, wann der Einsatz erlaubt oder geboten,<br />

oftmals erprobt <strong>und</strong> schon zweimal im Ernstfall geworfen,<br />

verhökert in zahlreiche Hände, läßt menschlich gesehen keiner Hoffnung mehr<br />

Raum<br />

<strong>zu</strong>m Verzicht auf Allmacht.


21<br />

Es täusche sich keiner: Das Ende der Schöpfung ist allen bekannt.<br />

Keiner rede sich raus. Jeder weiß, was geschieht.<br />

Wird eine kobaltummantelte 50-Mega-T-Bombe geworfen,<br />

werden alle Bomben verpulvern im letzten Gefecht.<br />

Es tötet, zerstört, verbrennt <strong>und</strong> vernichtet. Löscht aus <strong>und</strong> verglüht.<br />

Und verdampft alles Leben: Pflanze, Tier, Mensch <strong>und</strong> Gestein.<br />

Häuser <strong>und</strong> Brücken, Bauten aus Marmor <strong>und</strong> Stahl,<br />

verwandelt in Gas <strong>und</strong> glühende Lava.<br />

Das Chaos am Anfang bildet das Chaos am Ende.


22<br />

Gottesdienst in Dank <strong>und</strong> Freude 1. Mose 4, 4b <strong>und</strong> 5a<br />

1 „Und der Herr sah gnädig an <strong>Abel</strong> <strong>und</strong> sein Opfer. Aber <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> sein Opfer<br />

sah er nicht gnädig an.“<br />

Gottes Reaktion lehnt <strong>Kain</strong>s Opfer ab. <strong>Abel</strong>s Opfer nimmt er an. An dieser Stelle<br />

geht schon die Diskussion los, die meint, sich ein Urteil über Gott bilden <strong>zu</strong><br />

können. Sie klagen Gott der Ungerechtigkeit an, der Bevor<strong>zu</strong>gung des einen<br />

Bruders vor dem anderen. Doch diese unterschiedliche Bewertung durch Gott<br />

geht nicht auf ein Vorurteil Gottes <strong>zu</strong>rück, sie liegt in der verschiedenen<br />

Einstellung der beiden Brüder. Der Hebräerbrief im Neuen Testament gibt<br />

Auskunft: „Durch den Glauben hat <strong>Abel</strong> Gott ein besseres Opfer dargebracht als<br />

<strong>Kain</strong>; deshalb wurde ihm bezeugt, daß er gerecht sei, da es Gott selbst über seinen<br />

Gaben bezeugte; <strong>und</strong> durch den Glauben redet er noch, obwohl er gestorben ist.“<br />

Im Gr<strong>und</strong>e ist es keine Benotung des Menschen, erst recht keine falsche. Gott<br />

erkennt den Glauben des <strong>Abel</strong>s an. <strong>Abel</strong> war als armer Hirt gegenüber dem<br />

reichen Landwirt <strong>Kain</strong> der wirtschaftlich Schwächere. Er war in den Augen <strong>Kain</strong>s<br />

ein Hungerleider. Er konnte Gott nichts anderes bieten, als ein kleines Lämmlein.<br />

Es nahm sich mickrig aus gegenüber den reichen Erntegaben des <strong>Kain</strong>. <strong>Abel</strong><br />

wollte mit seinem Opfer nur seine Dankbarkeit bezeugen. Er kam auch nicht auf<br />

den Gedanken, daß Gott ihm etwas schuldig sei, oder daß er von ihm etwas<br />

erzwingen könnte. Er war einfältig <strong>und</strong> demütig <strong>und</strong> feierte einen fröhlichen<br />

Dankgottesdienst, ohne Hintergedanken. In seinem Herzen schwang ein<br />

tausendfaches Halleluja mit, nicht als traurige Pflicht, sondern als Freude. <strong>Kain</strong><br />

war anscheinend all <strong>zu</strong> sicher <strong>und</strong> pochte auf sein reiches Opfer. Das ging ohne<br />

Demut vor sich, aber nicht ohne Berechnung. Wir sehen aus seiner finsteren<br />

Miene, daß er mit seiner Gabe Gott zwingen wollte, ihn <strong>zu</strong> beachten, ihn <strong>zu</strong><br />

segnen, seinen Bruder vor<strong>zu</strong>ordnen <strong>und</strong> in all diesen Dingen ihm, <strong>Kain</strong> dienstbar<br />

<strong>zu</strong> sein. Er domestizierte Gott, als ob dieser sein Diener sei. Und das geht allemal<br />

daneben. Um so mehr verdroß ihn die offensichtliche Hintenanstellung <strong>und</strong> die<br />

beachtliche Zuneigung Gottes <strong>zu</strong> seinem Bruder. Sie machten ihm <strong>zu</strong> schaffen.<br />

Nicht der Ärmere beneidet den Reicheren, sondern der Reichere ärgert sich über


23<br />

den Schwächeren. Man hätte gerade das Umgekehrte erwarten sollen. Der<br />

Hungerleider, der unter Mühsal des Lebens Leidende, bringt doch den sozialen<br />

Zündstoff in die Welt. Der landlose Bauer, der durch hohe Abgaben<br />

Niedergedrückte, drängt oft <strong>zu</strong>m Aufruhr. Das hat die Geschichte bewiesen.<br />

Befreiungsbewegungen, Revolten <strong>und</strong> Aufruhr leiten sich von ungerechten, <strong>zu</strong>m<br />

himmelschreienden Zuständen ab. Ich komme in dieser Woche von Aachen. Der<br />

Aachener Friedenspreis wurde einem Inder Kailash Satyarthi, dem<br />

Generalsekretär der südasiatischen Koalition gegen Kinder-sklaverei (SACCCS),<br />

<strong>zu</strong>gesprochen. Im Ausland wurde dieser in den Medien viel beachtet <strong>und</strong> im<br />

Inland hatte er Erfolg. 1989 hatte er in New Delhi h<strong>und</strong>ert Gewerkschaften <strong>und</strong><br />

Menschen-rechtsorganisationen einer Vereinigung <strong>zu</strong>sammengefaßt. Der indische<br />

Ministerpräsident wurde auf dieses Problem aufmerksam <strong>und</strong> versprach Abhilfe.<br />

Offiziell sind 20 Millionen Kinder in der Teppichproduktion beschäftigt. Sie<br />

knüpfen schon mit sechs Jahren mit ihren zarten Händen die Knoten, verderben<br />

durch den Staub ihre Lungen <strong>und</strong> durch das Sitzen ziehen sie sich unheilbare<br />

Wirbelsäulenschäden <strong>zu</strong>. 40% sterben vor Erreichung des 12. Lebensjahres. Die<br />

Kinder kennen keine Freude, keine Ferien, schlafen <strong>zu</strong>m Teil am Arbeitsplatz,<br />

sind losgelöst von der Familie. Die inoffizielle Zahl der beschäftigten Kleinkinder<br />

beläuft sich auf 44 Millionen. Ebenso viel ältere Erwachsene finden keine Arbeit<br />

<strong>und</strong> würden gerne diese Kinderarbeit übernehmen. Doch die Profitgier will sich<br />

nicht <strong>zu</strong>frieden geben. Sie müßten höhere Löhne bezahlen, wenn die Väter<br />

eingestellt werden. Die Verhältnisse der Kinder sind oft schlechter als die der<br />

Tiere. Kalash Satyarthi hat tausende von den Kindersklaven schon befreit. Die<br />

Organisation mobilisiert die Regierungen, aber auch die Konsumenten in<br />

Westeuropa. Trotz starker Bedenken der deutschen Orientexperten drängt die<br />

Initiative auf Einführung eines Siegels, daß bescheinigt, daß die Teppiche ohne<br />

Kinder-arbeit hergestellt wurden. Das internationale Kapital hat kein Vaterland<br />

<strong>und</strong> keinen Gott. Die Gottesdienste, an denen es sich beteiligt, sind falsche<br />

Gottesdienste <strong>und</strong> stehen unter Gottes Urteil. Winfried Wessolleck schrieb in der<br />

ersten Septemberausgabe der Berliner Wochenzeitschrift „Der Freitag“ von dem<br />

neokonservativen Angriff auf die Arbeit. Die Krisendynamik im Arbeitsbereich<br />

sei völlig entgleist. Er stellte einen totalen Zerfall des gesellschaftlichen Vertrages<br />

von Produktion, Arbeit (Gewerkschaft) <strong>und</strong> sozialstaatlicher Regulation fest. Die


24<br />

Entsolidarisierung der Arbeit, die Atomisierung, die abrupte oder<br />

sozialverträglich gedämpfte Entlassung von Arbeitskräften, ungewisse<br />

Arbeitsbiographien, ungesicherte Teilzeitbeschäftigungen, zeitlich befristete<br />

Arbeitsverträge als Dauertrauma <strong>und</strong> Angst<strong>zu</strong>stand der Lohnabhängigen fest.<br />

Keine Einkommenssicherung bei einer Sockelarbeitslosigkeit von 6 Millionen.<br />

Eine völlig unordentliche Selbstauflösung aller Ordnung. Vom Kapital würde das<br />

„flexible Arbeitswelt“ genannt. Völlig preisgegeben der Willkür der Arbeitgeber<br />

wie <strong>zu</strong>r Zeit des Manchestertums, als ob 150 Jahre Kampf der Gewerkschaften<br />

um gerechten Lohn, um Soziale Absicherung, bezahlte Ferien <strong>und</strong><br />

Arbeitszeitverkür<strong>zu</strong>ng nie gewesen sei. Das alles geschehe als schweigende<br />

Revolution der neokonservativen Parteien sozialexplosiv <strong>und</strong> ökologie-blind, um<br />

die privatkapitalistische Herrschaft über menschliche Arbeit <strong>und</strong> Produktion <strong>zu</strong><br />

verewigen. Längst Überholtes wird wieder gut geheißen <strong>und</strong> als politisch sinnvoll<br />

verkauft, damit einige auf dem Weltmarkt Monopoly spielen können. Wieviel<br />

h<strong>und</strong>erte von Millionen umkommen, kümmert die Spieler nicht. Durchgesetzt<br />

wird das Ganze als ökologische Elite-, Macht- <strong>und</strong> Leistungsmentalität. Das<br />

Infame ist, diese Negativa, dieses Versagen einer totalen Verantwortung, das<br />

Mafiaverhalten wird als freie Marktwirtschaft verkauft <strong>und</strong> die entstehende<br />

Misere wird nicht den Machteliten angekreuzt, sondern den Arbeitern angelastet,<br />

weil sie in ihrem Verhalten individuellbedingte Anpassungs-probleme <strong>und</strong><br />

Versagensmomente hätten. So treibt man Konkurrenz <strong>und</strong> Entfremdung unter die<br />

lohn-abhängigen Arbeiter/Innen <strong>und</strong> Angestellten, zwischen die Arbeitsplatzbesitzenden<br />

<strong>und</strong> die Arbeitslosen. Die es geschafft haben, reden im Jargon des<br />

Kapitals. Mir ist das kürzlich deutlich geworden bei einer Angestellten eines ganz<br />

bekannten Betriebes. Reiner Faschismus im Denken der Arbeiter/Innen. Ich kann<br />

gar nicht so viel essen, wie ich erbrechen muß. Gentechnisch reiht man das<br />

möglichst unter den neuen Begriff „biologische Arbeitsökonomie“ im Klartext<br />

bedeutet es völligen Zugriff auf den genetischen „Bauplan“, mit dem man<br />

angeblich voraussagbare Krankheiten <strong>und</strong> physische Manipulation der<br />

Arbeitenden feststellen kann. Es geht um Verfügbarkeit <strong>und</strong> Unterbezahlung der<br />

weiblichen Arbeitskraft sowie der ausländischen Arbeitskräfte durch transnational<br />

agierende Großkonzerne, unter dem Stichwort „Globalisierung der ökonomischen<br />

Billiglohnländer <strong>und</strong> um Standortkonkurrenz. Die Steuer-, Finanz- <strong>und</strong>


25<br />

Haushaltspolitik geht zielsicher auf ein Schulden- <strong>und</strong> Umverteilungschaos <strong>zu</strong>.<br />

Arbeitnehmerhaus-halte werden steuerlich überfordert, Sozialeinkommen gekürzt,<br />

befristet oder ganz gestrichen. Kohl, Waigel, Rexrodt <strong>und</strong> Kompanie wollen die<br />

Kür<strong>zu</strong>ng verfügbarer Lohn-, Sozial- <strong>und</strong> Sozialhilfeeinkommen der<br />

Arbeitnehmerhaushalte <strong>und</strong> der sozial randständigen Bevölkerungsschicht. Wir<br />

bekommen eine staatlich gesteuerte Destabilisierung der gesell-schaftlichen<br />

Sozialstruktur. Man spricht von schichtspezifischer Verarmungsmobilität. Schon<br />

jetzt sind in Ostdeutschland irreversible Spuren der persönlichen wie kollektiven<br />

Verun-sicherung, Existenzkrisen <strong>und</strong> Ohnmacht. Es wäre gegen<strong>zu</strong>-steuern, doch<br />

man spielt Vorsehung <strong>und</strong> Gott <strong>und</strong> Turmbau <strong>zu</strong> Babel. Darum hat der Theologe<br />

mit<strong>zu</strong>reden. Luther verlangt gerade<strong>zu</strong> von der Kanzel die Anprangerung des<br />

asozialen Verhaltens. Das ist reines Evangelium, wenn wir die freie<br />

Marktwirtschaft mit ihren Folgen aufdecken. Wir nennen das heute kontextuelle<br />

Auslegung. Wo ist der <strong>Kain</strong> heute, dessen Gesicht sich verstellt <strong>und</strong> finster seinen<br />

Blick senkt? Kapital <strong>Kain</strong>! Gott sieht den Mißbrauch nicht gnädig an, geschweige<br />

denn den von dir da<strong>zu</strong> mißbrauchten Gottesdienst: „Sie achten kein Recht spricht<br />

der Herr. Sie sammeln Schätze von Frevel <strong>und</strong> Raub in ihren Palästen... Er<br />

wartete auf Rechtsspruch, siehe da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe da<br />

war Geschrei über Schlechtigkeit (Jesaja 5,7).


26<br />

Kriege entstehen nicht von selbst<br />

„Kriege entstehen nicht von selbst“. Menschen sind es, die den Krieg beginnen.<br />

Diese Verlautbarung der EKiD-Synode von Berlin-Weißensee aus dem Jahre<br />

1950 kann uns <strong>zu</strong> einer richtigen Beurteilung des 40. Jahrestages der Befreiung<br />

vom Faschismus, dieser destruktivsten Erscheinung der Menschheitsgeschichte<br />

anleiten.<br />

Es geht um ein eindeutiges Eingeständnis der deutschen Schuld unbeschadet des<br />

unsere Hochachtung verdienenden deutschen antifaschistischen Widerstandes.<br />

Dieser war vor allem von der „Roten Kapelle“ geleistet <strong>und</strong> dann auch von<br />

vereinzelten Gruppen von Einzelkämpfern sozialistischer, demokratischer<br />

christlicher <strong>und</strong>/oder liberaler Herkunft. Die Aussöhnung mit den vom Leid<br />

betroffenen Menschen <strong>und</strong> Völkern erweist ihre Echtheit an der Verpflichtung,<br />

sich für den Frieden ein<strong>zu</strong>setzen. Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg! Von<br />

deutschem Boden darf nicht noch einmal ein Krieg ausgehen.<br />

Das erklärte Ziel des Nationalsozialismus war die Herrschaft Deutschlands über<br />

Europa oder <strong>zu</strong>mindest die Vorherrschaft in Europa verb<strong>und</strong>en mit dem<br />

beabsichtigen Genozid am jüdischen <strong>und</strong> an dem slawischen Volk polnischer <strong>und</strong><br />

russischer Nationalität.<br />

Mit brutalstem Einsatz eines Terrorregimes wurden diese Ziele verfolgt. Ca. 18<br />

Millionen Menschen aus allen europäischen Ländern wurden in<br />

Konzentrationslager <strong>und</strong> Haftanstalten verschleppt. 11 Millionen davon wurden<br />

ermordet.<br />

Japans Unternehmungen als B<strong>und</strong>esgenosse Deutschlands waren ebenfalls<br />

überaus blutig <strong>und</strong> gewalttätig. Das Fazit des 2. Weltkrieges muß immer wieder<br />

genannt werden: 50-60 Millionen Menschen wurden Opfer des 2. Weltkrieges <strong>und</strong><br />

kamen ums Leben. Über 200 Millionen Erdenbürger mußten fliehen <strong>und</strong> ihre<br />

Heimat verlassen.


27<br />

Direkt oder indirekt waren drei Viertel der Weltbevölkerung von den<br />

Geschehnissen betroffen. Europa versank in Tod, Tyrannei, in Asche, Elend <strong>und</strong><br />

Not.<br />

Die Erkenntnis von den Bäumen, die nicht in den Himmel wachsen,<br />

bewahrheitete sich am 08. Mai 1945. Sie erfüllte jeden mit Genugtuung, der die<br />

Tiefe des Frevels durchschaute <strong>und</strong> fremden <strong>und</strong>/oder eigenem Leid gelitten hat.<br />

Hunger, Kriegsgefangenschaft, Verlust von Heimat <strong>und</strong> Haus, seelische <strong>und</strong><br />

körperliche W<strong>und</strong>en <strong>und</strong> allen voran der Schmerz über die im Krieg Getöteten<br />

dürfen nur unter der Maxime verarbeitet werden, daß dem Verursacher einer<br />

Unheilstat diese auch eine entsprechende Ernte einbringt.<br />

Diese Einsicht bewirkt eine Bewußtseinsänderung, so daß man beim Neuanfang<br />

auch wirklich ein Neues flügen muß <strong>und</strong> nicht wieder unter die Dornen säen darf.<br />

Das gefährliche die Saat behindernde Unkraut auf dem Acker geschichtlicher<br />

Gestaltung muß ausgerottet werden.<br />

Zahlreiche B<strong>und</strong>esbürger sehen auch heute noch in Hitler eine dämonische Kraft,<br />

der man ungewollt erliegen mußte. Bei dieser Selbstentschuldigung übersieht man<br />

die eigentlichen Inspiratoren des Dritten Reiches. Das Großkapital <strong>und</strong> die mit<br />

diesem verb<strong>und</strong>enen Bevölkerungsschichten bauten Hitler auf, finanzierten ihn<br />

<strong>und</strong> brachten ihn durch ihren Voll<strong>zu</strong>gsgehilfen, den Reichspräsidenten von<br />

Hindenburg, an die Macht. Diese Kreise nutzten somit den staatlichen Apparat für<br />

ihre Wirtschaftsinteressen <strong>und</strong> betrieben mit Hitler als Trommler militärisch die<br />

Neuordnung Europas. Zum zweiten Mal in unserem Jahrh<strong>und</strong>ert ließ sich die<br />

Masse unseres Volkes verführen <strong>und</strong> durch Deutschlands <strong>zu</strong>künftige Größe oder<br />

ohne namhaften Widerstand <strong>zu</strong>m Schlachtfeld führen. Politiker des Ausgleichs<br />

fanden keine Gehör. Mahnende <strong>und</strong> prophetische Stimmen von Dichtern <strong>und</strong><br />

Denkern kamen nicht an <strong>und</strong> erst recht stießen die richtigen Warnungen der<br />

Sozialisten auf Ablehnung. In der für das Kapital gefährlichen Krisensituation des<br />

Jahres 1930 setzte es trotz mancher Bedenken auf den Führer des Faschismus, der<br />

die Arbeit der Massen gewinnen sollte.


28<br />

Dabei nahmen die Verantwortlichen bewußt in Kauf, daß man es bei der<br />

nationalsozialistischen Bewegung mit vielen fragwürdigen Leuten <strong>zu</strong> tun hatte.<br />

Ein Mitverschulden trifft auch die ausländischen, kapitalistischen Kreise in<br />

England, Frankreich, in den USA <strong>und</strong> in anderen westlichen Staaten. Jeden der<br />

zahlreichen Versuche der Sowjetunion für ein kollektives Sicherheitssystem<br />

lehnten die Verantwortlichen ab. Den Franco-Überfall auf das republikanische<br />

Spanien, den Einfall Mussolinis in Äthiopien tolerierte man ebenso wie die<br />

Aggressionen der Achse Berlin/Tokio, in der Tschechoslowakei <strong>und</strong> in Korea.<br />

Man wollte bei einer Einengung der faschistischen Unternehmungen nicht ein<br />

Erstarken der Linken in Kauf nehmen. Man meinte mit der Duldung der Rechten<br />

das Aufkommen von Volksfrontregierungen unter oder mit kommunistischer<br />

Beteiligung verhindert <strong>zu</strong> können. Man war bestrebt, den faschistischen<br />

Aggressionstrieb gegen die Sowjetunion ab<strong>zu</strong>leiten. Das Münchner Abkommen<br />

von 1938 signalisierte grünes Licht für Hitlers Drang nach dem Osten. Somit war<br />

<strong>und</strong> ist der Faschismus das häßliche Antlitz des Kapitalismus. Er ist die<br />

kapitalistische Reaktion auf die russische Oktoberrevolution von 1917. Wer die<br />

von Lenin inspirierte <strong>und</strong> vom Außenminister Tschitscherin verbalisierte These<br />

von der friedlichen Koexistenz zweier unterschiedlicher Wirtschaftssysteme<br />

ablehnte, mußte sich gezwungenermaßen des Faschismus als Werkzeug gegen den<br />

Kommunismus bedienen. Der Irrtum, diese Helfershelfer zügeln <strong>zu</strong> können,<br />

rächte sich bitter. Erst die eigene äußerste Gefährdung des Westens, die Stalin den<br />

Staatsmännern vorausgesagt hatte, führte im Sommer 1939 <strong>zu</strong>r Anti-Hitler-<br />

Koalition, diesem Zusammenschluß der Vernunft, der dann im weiteren Verlauf<br />

<strong>zu</strong>r Niederringung der Achsenmächte siegreich in Aktion trat.<br />

Es darf nicht vergessen werden, daß die Sowjetunion mit einem Höchstmaß an<br />

Opfern <strong>und</strong> mit dem Einsatz letzter Kraft diesen Sieg errungen hat.


29<br />

Der Zorn <strong>und</strong> die Warnung 1. Mose 4 Vers 5b<br />

„Da ergrimmte <strong>Kain</strong> sehr <strong>und</strong> senkte seinen Blick.“ In einem Liedvers heißt es:<br />

„Laß mich mit Freuden ohn alles Neiden<br />

sehen den Segen, den du wirst legen<br />

in meines Bruders <strong>und</strong> nächsten Haus.<br />

Geiziges Brennen, unchristliches Rennen<br />

nach Gut mit Sünde, das tilge geschwinde<br />

aus meinem Herzen <strong>und</strong> wirf es hinaus.“<br />

Dieser schöne Vers von Paul Gerhardt ist dem einen oder anderen noch bekannt.<br />

Er stammt aus dem großartigen Lied: „Die güldene Sonne“. Der Vers handelt vom<br />

Neid. Der Neid entsteht offensichtlich, weil dem, der mit ihm <strong>zu</strong> tun hat, etwas<br />

fehlt, was offensichtlich ein anderer besitzt. Es gibt da mancherlei, weswegen<br />

einer den anderen beneidet: um das Auto, um die Ferienreise, um den Schmuck,<br />

um die Ehe, um die Kinder, um das Haus, um die gute Hausgehilfin, um den<br />

Garten, um die Hollywoodschaukel, um den Swimmingpool <strong>und</strong> ähnliche<br />

materielle Dinge. Anlaß <strong>zu</strong>m Neid werden aber auch die Ehre, die dem anderen<br />

widerfährt, eine Auszeichnung, das öffentliche Ansehen, die Befehlsgewalt, die<br />

Lobby, die er hinter sich hat, seine anscheinend unbeschränkte Freiheit <strong>und</strong><br />

Unabhängigkeit. Man neidet auch andere um ihre Fre<strong>und</strong>e, um ihren Reichtum,<br />

um ihre Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> um die Gunst, die ihnen in der Welt <strong>zu</strong>teil wird. Der Neid<br />

wird oft geboren aus der Besitzlosigkeit, wie gesagt aus dem Mangel, aus der<br />

Entbehrung. Vom Neid gefressen <strong>zu</strong> werden, ist für alle Menschen eine<br />

Anfechtung. Wie gesagt, es geht nicht immer um materielle Dinge. In unserer<br />

Geschichte von <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> <strong>Abel</strong> beneidet der Ältere dem anderen die Zuneigung<br />

Gottes. Der Neid um die Zuneigung Gottes wird oft <strong>zu</strong> einer Beneidung Gottes<br />

selbst. Das Versprechen der zerstörerischen Macht, die in der Bibel als Schlange<br />

angeführt wird, besteht in der Zusage: „Ihr werdet sein wie Gott“. Die äußerst<br />

schwierig <strong>zu</strong> deutende psychologische Haltung des Philosophen Nietzsches<br />

kommt <strong>zu</strong> der Aussage: „Wenn es einen Gott gäbe, wie könnte ich es ertragen<br />

nicht Gott <strong>zu</strong> sein.“ Wenn ich es anders ausdrücken wollte, wünschte er sich


30<br />

Schöpfermacht, Ewiges Leben, allumfassendes Wissen, Selbstmächtigkeit,<br />

Selbstherrlichkeit, von eigenen Gnaden <strong>zu</strong> sein, in völliger Unabhängigkeit ohne<br />

von einem himmlischen oder irdischen Forum <strong>zu</strong> Verantwortung gezogen <strong>zu</strong><br />

werden, kurz, <strong>zu</strong> tun, was beliebt, eine Freiheit <strong>zu</strong> haben, ohne jede Bindung. Das<br />

war dem Menschen <strong>zu</strong>gesagt von der Schlange: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Es ist<br />

wahrscheinlich eine tiefste Sehnsucht im Menschen, die von dem einen<br />

unterdrückt wird, die der andere nicht wahrhaben will, vor die ein dritter sich<br />

fürchtet, aber wieder ein anderer begehrt. Der Mensch will im tiefsten Verlangen<br />

die ungebändigte Macht. Das heißt, Macht ohne Liebe <strong>und</strong> Macht ohne<br />

Mäßigung. Davon träumt der Mensch. Er weiß nicht, daß mit dem Besitz der<br />

göttlichen Macht Verantwortung verb<strong>und</strong>en ist. Gott verantwortet seine Macht in<br />

sich selbst. Er selbst hat sich das Gesetz auferlegt, ein Gott der Liebe <strong>zu</strong> sein. Er<br />

macht sein Tun nicht abhängig von dem verkehrten Tun der Menschen. Der Neid<br />

im Menschen übersieht, daß der andere auf Gr<strong>und</strong> anderer Voraus-set<strong>zu</strong>ngen,<br />

andere Ausstattung <strong>und</strong> andere Vollmacht hat. Der Neid will sie totale Gleichheit,<br />

in Adams Fall die unbedingte Gleichheit mit Gott. Im Falle <strong>Kain</strong>s, die unbedingte<br />

Gleichheit mit dem Bruder. Wenn ich schon selbst kein Gott sein kann, dann muß<br />

einer wie der andere vor Gott dran sein, einer wie der andere die gleichen Gabe<br />

<strong>und</strong> die gleiche Verantwortung haben. Vielleicht denkt man im Stillen, ich muß<br />

auch noch ein bißchen besser dran sein als der Jüngere, als der Stärkere, als der,<br />

der die weiße Hautfarbe hat oder als der, der die besseren Augen oder die<br />

schnelleren Füße hat. <strong>Kain</strong> scheint sogar die Ansicht vertreten <strong>zu</strong> haben, als der<br />

erstgeborene Sohn müsse er vor Gott besser dran sein als sein Bruder <strong>Abel</strong>.<br />

Luther läßt den <strong>Kain</strong> sagen: „Ich bin ja der erste Sohn, mir gebührt vor Gott das<br />

Priestertum, da<strong>zu</strong> das Regiment, bringe auch das erste Opfer“. Wer kann das<br />

menschliche Herz ergründen? Vielleicht hat <strong>Kain</strong> auch verächtlich gedacht: <strong>Abel</strong><br />

der Schlappschwanz, der st<strong>und</strong>enlang bei seinen Schafen steht <strong>und</strong> dessen ganzes<br />

Denken nur die Schafe umfaßt. Wir können die Gedanken <strong>Kain</strong>s in etwa erraten,<br />

weil wir selbst die Art <strong>Kain</strong>s in uns haben. Das Verw<strong>und</strong>erliche ist doch wohl,<br />

daß sich der Neid bei dem einstellt, der am wenigsten Gr<strong>und</strong> hat, neidvoll <strong>zu</strong> sein.<br />

<strong>Kain</strong> steht doch als Ackermann <strong>und</strong> auf der Seite derer, die gut davongekommen<br />

sind. Warum hadert er mit dem Schicksal, mit Gott <strong>und</strong> seinem Bruder? Der<br />

Bruder, der Schwache, der Zu-kurz-gekommene hätte doch eher Gr<strong>und</strong>, den


31<br />

reichen <strong>und</strong> starken Landwirt <strong>zu</strong> beneiden <strong>und</strong> mehr Recht, über sein Schicksal <strong>zu</strong><br />

jammern. <strong>Kain</strong> pflegt die törichte Meinung, dem wirtschaftlich <strong>und</strong> körperlich<br />

Stärkeren müsse Gott selbstverständlich auch Klugheit geben <strong>und</strong> vordringlich<br />

seine Gnade <strong>zu</strong>wenden. Anscheinend kommt er gar nicht auf den Gedanken,<br />

Gnade, die Zuwendung Gottes, <strong>zu</strong> erbitten. Er steht nach wie vor fordernd vor<br />

Gott. „Da ergrimmte <strong>Kain</strong> sehr <strong>und</strong> senkte finster seinen Blick“. <strong>Kain</strong> ähnelt dem<br />

fordernden Menschen, dem Gott alles schenken müßte. Wohlbefinden, Freude <strong>und</strong><br />

deshalb auch das Geschenk des Ewigen Lebens. Wie soll Gott dem <strong>Kain</strong>, der die<br />

Antenne nicht mehr hat <strong>und</strong> der also das Reden Gottes mit ihm nicht wahrnimmt,<br />

wie soll Gott dem <strong>Kain</strong> klarmachen, daß er als Schöpfer dem Menschen in keiner<br />

Weise verpflichtet ist? Doch Gott läßt sich haftbar machen für diese Welt. Die<br />

geschaffenen Lebewesen will er <strong>zu</strong>m Leben befähigen. Was nach dem Tode<br />

kommt, ist unverdient <strong>und</strong> ungeschuldet. Gnade <strong>und</strong> Huld kann nur erbeten, aber<br />

nicht gefordert werden.<br />

Dieses alles wird nicht theoretisch abgehandelt in der Bibel, es wird real<br />

dargestellt. Der finstere Blick gilt nicht nur Gott, sondern auch seinem Bruder.<br />

Hier ist das erste Mal die unheilvolle Tatsache aufgezeigt, daß Brüder nicht wie<br />

Brüder beieinander wohnen. Das Motiv der feindlichen Brüder ist oft in der<br />

Weltliteratur behandelt worden. Es hat immer Erschrecken, aber auch Neugier<br />

hervorgerufen. Die sich am meisten lieben sollten, weil sie unter eines<br />

Mutterherzens Schlägen <strong>zu</strong>m Leben heranreiften, hassen sich am meisten <strong>und</strong> sind<br />

im verderblichen Streit. Ich denke an Kaiser Otto I., der nach seiner<br />

Kaiserkrönung den Neid seines Bruders erfuhr, dem er mehrmals verziehen hat<br />

<strong>und</strong> dessen Aufruhr <strong>und</strong> Verrat er schließlich in einer Christmette endgültig<br />

besiegt: Der aus dem Kerker geflohene Bruder Heinrich fleht im Dom <strong>zu</strong> Speier<br />

um Gnade <strong>und</strong> wird mit dem Purpur des Kaisers bekleidet <strong>und</strong> durch die<br />

großmütige Haltung des Kaisers vor der Hinrichtung bewahrt. In der griechischen<br />

Sage wird berichtet von den beiden Brüdern, von denen der eine die<br />

Bildhauerkunst des andern als den Tüchtigeren nicht erträgt <strong>und</strong> diesen erschlägt.<br />

Neid um Gotteshuld ist ein biblisches Thema. Dem heutigen Menschen <strong>und</strong><br />

vielleicht auch dem Menschen außerhalb des Judentums erscheint die Eifersucht<br />

um Gottes Zuwendung schwer verständlich. Aus der Bibel ist dieses Thema


32<br />

hinreichend bekannt, aus dem Alten Testament, aber auch aus dem Neuen<br />

Testament. Pharisäischer Hochmut weist immer auf die eigene Unfehlbarkeit hin,<br />

auf die eigene Frömmigkeit <strong>und</strong> auf die eigenen Werke. Er gerät in Clinch, wenn<br />

Gott Gnade vor Recht ergehen läßt. Auch die Jünger streiten. Sie streiten sogar<br />

nach dem Abendmahl, wer der Größte sei, wer Gott wohl am nächsten stehe,<br />

wessen Gabe, von Gott gegeben, wohl die Beste sei: Krankenheilung?,<br />

Predigtgabe?, Bekennermut?, Theologische Erkenntnis?, Seelsorgerische<br />

Tätigkeiten?, Leitungsfunktionen <strong>und</strong> der gleichen mehr? Ein jeder möchte ganz<br />

nah am Herzen Gottes sein <strong>und</strong> der Streit entfernt sie doch von Gott. Professor D.<br />

Iwand, nach dem Krieg aus Ostpreußen kommend <strong>und</strong> in Lünen ein Zeit lang im<br />

Amt, nahm in Berlin in einer riesigen Messehalle am Kirchentag der sechziger<br />

Jahre die streitenden Jünger in Schutz, weil ihre Eifersucht ein lohnenderes Ziel<br />

hatte als alle Eifersüchteleien um Geld <strong>und</strong> Gut <strong>und</strong> weltliche Ehre. Weil das<br />

Thema der Gemeinde die Huld Gottes ist, darum darf der Streit in der Gemeinde<br />

nicht dem Streit um materielle Dinge gleichgesetzt werden. Die Sehnsucht nach<br />

der Huld Gottes ist ein großes Gut. Doch der Streit um Gottes Zuneigung<br />

versperrt den Weg <strong>zu</strong> Gott, weil dieser unverdient seine Gnade schenkt, nicht dem<br />

sich Überhebenden, sondern dem Demütigen. Darum tritt Jesus den streitenden<br />

Jüngern mit einem endgültigen „Halt!“ entgegen: Ohne Umkehr <strong>zu</strong>m demütigen,<br />

anspruchslosen Kindersinn, ohne sich beschenken <strong>zu</strong> lassen,, ohne Schluß <strong>zu</strong><br />

machen mit allen Forderungen, können sie nicht in Gottes Reich gelangen,<br />

„geschweige denn, daß sie darin eine bevor<strong>zu</strong>gte Stellung“ einnehmen werden.<br />

Mit diesem „Halt!“ verbindet Jesus auch eine Forderung, die vorwärts weist. Die<br />

Erinnerung an die Demut weist hin auf den Dienemut, sich der Kleinen, der<br />

geistlich Unmündigen <strong>und</strong> Unreifen an<strong>zu</strong>nehmen. Während Jesus die Sünde des<br />

Hochmuts <strong>und</strong> des Neides bei den Jüngern während seines Lebens abwehren<br />

kann, kommt Gott bei <strong>Kain</strong> nicht <strong>zu</strong>m Ziel.<br />

Verurteilen wir <strong>Kain</strong> nicht <strong>zu</strong> sehr. Es geht bei <strong>Kain</strong> um den geistlichen Neid,<br />

dem viele Menschen später auch als reife Christen verfallen sind. Der alte Pfarrer<br />

Engels in Nümbrecht war sich der Gefahr bewußt <strong>und</strong> nach einem reichen Leben<br />

voll geistmächtiger <strong>Predigten</strong> konnte er neidlos dem jungen Amtsbruder das Feld


33<br />

räumen. Er hatte sich das Wort von Johannes des Täufer <strong>zu</strong> Herzen genommen:<br />

„Er“, nämlich Christus, „muß wachsen. Ich aber muß abnehmen“.<br />

Martin Luther hat in der Auslegung des 9. <strong>und</strong> 10. Gebotes sich mit der<br />

Begehrlichkeit auseinandergesetzt, die letztlich wie alle Sünde im Herzen ihren<br />

Platz hat <strong>und</strong> die im Fall der Begehrlickeit aus dem Neid kommt. Der englische<br />

Theologe Bell sagt von dem Neid, daß er das Eigene verringerte <strong>und</strong> das was der<br />

andere an Freude habe, vergrößere. Das er sich auf dem Antlitz zeige, wenn der<br />

andere gelobt würde <strong>und</strong> daß es für viele unerträglich sei, wenn ein anderer geehrt<br />

würde. Der Neid hielte das eigene Leben am Boden ganz fest, sowie ein<br />

gasgefüllter Ballon mit Stricken am Boden gefesselt sei. Die Schuld <strong>und</strong> Tragik<br />

beim Neid sei, daß er immer nur das sehe, was der andere habe <strong>und</strong> nicht mehr,<br />

was er selber besitze. So würde er seines Lebens <strong>und</strong> seines Besitzer nicht mehr<br />

froh, weil er immer die Lücke des ihm Fehlenden <strong>zu</strong>r eigenen Beunruhigung in<br />

sich wühlen lasse.<br />

Ehe wir uns von <strong>Kain</strong> abwenden, möchte ich noch einen anderen Gedanken aus<br />

dem Deutschen Pfarrerblatt Nr. 10/64 anbringen, der uns ganz im Gegensatz <strong>zu</strong>m<br />

aufgezeigten Hochmut <strong>zu</strong>r Vorsicht gegen einer butterweichen Demut mahnt. Das<br />

Leben nach dem Sündenfall hat viele Ungerechtigkeiten <strong>und</strong> Ungereimtheiten <strong>und</strong><br />

vieles ist unseren Augen verborgen. Darum sagt der Ausleger Pfarrer Dr. Knevels:<br />

Wir sollten die Aufbäumung gegen ein hartes Schicksal <strong>und</strong> die daraus fließende<br />

Empörung gegen Gott nicht einfach verurteilen <strong>und</strong> sollten unter Umständen das<br />

„je me revolte“, ich lehne mich auf, des tragischen Dichters Camus einer<br />

knochenweichen Demut, die sich von vornherein in alles fügt oder wenigstens <strong>zu</strong><br />

fügen vorgibt, vorziehen. Wenn wir das nicht wollen, sollten wir wenigstens<br />

Verständnis dafür aufbringen. Es ist nicht so leicht, im Leben schlechte Karten <strong>zu</strong><br />

haben: Eine verpfuschte Jugend, ein schlechtes oder gar kein Elternhaus <strong>zu</strong> haben,<br />

schwere Krankheit oder schwere Zeiten wie Krieg, Teuerung <strong>und</strong> Inflation,<br />

Gefangen-schaft <strong>und</strong> Trümmerhaufen hinter sich <strong>zu</strong> bringen. Wer weit gekommen<br />

ist, kann rückwärts gesehen auch für Rückschläge danken, weil uns alles<br />

weiterbringen kann, wenn Gott es uns klarmacht. Doch das leichte Abfinden mit<br />

der Zerstörung des Lebens, mit un<strong>zu</strong>reichender wirtschaftlicher Versorgung, mit


34<br />

Bosheit <strong>und</strong> Niedertracht, mit Unterdrückung <strong>und</strong> Ausbeutung ist nicht normal,<br />

weil die Zerstörung des Lebens nicht gottgewollt ist. Doch der Neid ist der letzte<br />

Weg, der weiter führt. Der Neid argumentiert: wenn ich dies oder jenes im<br />

Augenblick nicht haben kann, dann soll es der andere auch nicht haben. Der Neid<br />

ist immer der Meinung, in den eigenen Händen sei das Gut des anderen besser<br />

aufgehoben. Der Neid sieht nie den Spaten <strong>und</strong> die Arbeit des anderen, sondern<br />

nur die dem anderen <strong>zu</strong>gewachsene Frucht. Der Neid will sich mit allen<br />

Umständen bereichern, auch mit denen der Lüge <strong>und</strong> des Betruges <strong>und</strong><br />

schließlich, wie bei <strong>Kain</strong>, des Mordes. Der Neid will auf Kosten des anderen<br />

verdienen. Alle Mittel <strong>und</strong> Wege sind ihm recht, um <strong>zu</strong>m Erwünschten <strong>zu</strong><br />

kommen. Steht der andere im Weg, dann muß er weggeräumt werden. Daß die<br />

Rücksichtslosigkeit <strong>und</strong> die Brutalität die Zerstörung der Lebensgr<strong>und</strong>lage eines<br />

anderen ist, bekümmert ihn nicht. Er vergißt völlig das Sprichwort: Was du nicht<br />

willst, was man dir tut, das füg auch keinem anderen <strong>zu</strong>. Jesus wendet dieses<br />

Sprichwort positiv. Alles was du willst, das dir Leute tun sollen, nämlich <strong>zu</strong><br />

deinem Glück <strong>und</strong> <strong>zu</strong> deiner Lebensfreude, das tu ihnen auch an. Laß dein Leben<br />

so bestimmt sein, daß du den anderen in deine Sicht vom Leben hineinnimmst.<br />

Vergessen wir aber auch nicht, den neidischen Menschen ein wenig <strong>zu</strong><br />

entschuldigen, wenn sie offensichtlich auf der Schattenseite des Lebens stehen.<br />

Kinderlosigkeit galt im Alten Testament als Strafe Gottes. Das hat die Frauen, die<br />

gerne Mütter geworden wären, noch <strong>zu</strong>sätzlich belastet. Wenn ein mit<br />

körperlichen Gebrechen sich abfindender Mensch Fragen an Gott hat, kommt ihm<br />

vielleicht auch der Gedanke, daß andere mit ihrer ges<strong>und</strong>en Kraft gerade<strong>zu</strong><br />

verbrecherisch umgehen durch nächtelanges Zechen, durch übermäßiges Rauchen<br />

<strong>und</strong> dergleichen mehr. Auch die Startbedingungen im Leben, wie schon gesagt,<br />

sind sehr verschieden <strong>und</strong> geben <strong>zu</strong> mancherlei Fragen Anlaß. Gerade den Starken<br />

<strong>und</strong> Selbstsicheren, den Ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Glücklichen, sei die Mahnung mit auf den<br />

Weg gegeben: Rücksichtslosigkeit, Raffsucht, Lieblosigkeit, Ober-flächlichkeit,<br />

Protzen <strong>und</strong> das ständige Drehen um sich selbst, macht anderen das Leben<br />

schwerer. Wer das Leid lindert, gehört <strong>zu</strong> Christus. Wer den Neid in sich<br />

bekämpft, dient dem anderen, er resigniert aber nicht. Er wird sich einsetzen, um<br />

dem anderen <strong>zu</strong>m Recht <strong>zu</strong> verhelfen <strong>und</strong> wird nicht von vornherein jedes Recht<br />

<strong>zu</strong>r Revolte verneinen.


35<br />

Kehren wir <strong>zu</strong> <strong>Kain</strong> <strong>zu</strong>rück. <strong>Kain</strong> stellt Ansprüche an Gott, darum hat er keine<br />

Antenne für Gottes Zuneigung, darum lehnt er sich auf, wenn Gott verkündigt:<br />

„Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig“. Er hält das für Willkür, weil er nicht<br />

begreift, daß wir Menschen die Beschenkten sind. Die Trennung von Gott hat die<br />

Trennung vom Mitmenschen <strong>zu</strong>r Folge. Sie selbst kennen Leute, die nicht an dem<br />

Glauben oder Unglauben eines Menschen interessiert sind, sondern nur daran, ob<br />

er mitmenschlich handelt. Seien wir uns darüber klar, daß es gerade für<br />

zweifelnde Menschen <strong>und</strong> Verzweifelnde eine knallharte Sache ist, wenn sie mit<br />

Menschen konfrontiert werden, die bei ihrem vorgegebenen Glauben<br />

verantwortungs-los handeln. Es ist natürlich eine gottlose Verkür<strong>zu</strong>ng <strong>zu</strong><br />

behaupten, daß die einen den Glauben <strong>und</strong> die anderen das menschliche Verhalten<br />

gepachtet hätten, als ob das eine das andere ausschließen würde. Es gibt Leute mit<br />

geringer Gotteserkenntnis, die menschlich handeln <strong>und</strong> auch solche, die<br />

unmenschlich handeln. Und es gibt auch Leute mit rechter Gotteserkenntnis, die<br />

entsprechend ihrer Frömmigkeit menschenfre<strong>und</strong>lich handeln oder auch nicht.<br />

Vergessen wir schließlich nicht, daß in einer heidnischen Welt die Liebe der<br />

Christen Aufmerksamkeit erregte. Gerd Hirschauer, der Herausgeber der<br />

Werkhefte katholischer Laien, bekämpft allerdings mit Leidenschaft die<br />

päpstliche These, daß die Reihenfolge festgelegt sei: Erst Hinwendung <strong>zu</strong> Gott,<br />

dann Hinwendung <strong>zu</strong>m Menschen <strong>und</strong> schließlich die Schaffung einer guten,<br />

menschlichen Ordnung. Er beklagt alle christlichen Lösungen, die die Bekehrung<br />

<strong>zu</strong> Gott als Vorausset<strong>zu</strong>ng für eine gute Verwaltung mitmenschlichen Lebens<br />

fordern. Da die Bekehrung weithin ausbleibe, verwil-dere die Welt immer mehr,<br />

trotz zahlreicher, praktizierender Christen. Wir müssen uns dieser harten Anklage<br />

stellen. Fehlende Mitmenschlichkeit macht den Glauben verdächtig. Jesus sagt:<br />

Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen <strong>und</strong><br />

euren Vater im Himmel preisen. Das Preisen ist die Bekehrung. Sie steht hier an<br />

letzter Stelle <strong>und</strong> ist davon abhängig, daß wir unsere Mitmenschlichkeit<br />

wahrnehmen. Darum ein bißchen mehr Brüderlichkeit <strong>und</strong> mehr Menschlichkeit<br />

in gleicher Verdammnis der ungerechten Strukturen <strong>und</strong> alle behaftet mit der<br />

gleichen Schwachheit. Generalstaatsanwalt Bauer verlangt von der<br />

Rechtsprechung mehr Berücksichtigung pädagogischer Erkenntnisse. Die


36<br />

Aufgabe der Justiz könne nicht die der Sühne sein. Gott sühnt allein. Die<br />

Besserung <strong>und</strong> der Schutz der Gemeinschaft weist <strong>zu</strong> einer längst fälligen Reform<br />

des Strafrechts.<br />

Ich schließe mit Eugen Roth:<br />

Ein Mensch der schon als kleiner Christ<br />

weiß, wo<strong>zu</strong> er geschaffen ist:<br />

„Um Gott <strong>zu</strong> dienen hier auf Erden<br />

<strong>und</strong> ewig selig einst <strong>zu</strong> werden“<br />

vergißt nach manchem lieben Jahr<br />

das Ziel, daß doch so einfach war,<br />

das heißt, das einfach nur geschienen<br />

denn es ist schwierig Gott <strong>zu</strong> dienen.<br />

Amen


37<br />

Trennung von Gott <strong>und</strong> Trennung vom Bruder 1. Mose 4 Vers 8 a u. b<br />

(1964)<br />

„Da sprach <strong>Kain</strong> <strong>zu</strong> seinem Bruder <strong>Abel</strong>: Laßt uns aufs Feld gehen. Und es begab<br />

sich, als sie auf dem Felde waren erhob sich <strong>Kain</strong> wider seinem Bruder <strong>Abel</strong> <strong>und</strong><br />

schlug ihn tot.“<br />

Die Trennung von Gott bringt die Entfremdung der Menschen untereinander mit<br />

sich. Der von Gott losgelöste Mensch vermag mit seinen Mitmenschen nicht mehr<br />

in Eintracht <strong>zu</strong> leben. Der Mensch wird unmenschlich. Anders gesagt, die<br />

religiöse Sünde, die Absage an Gott, hat die soziale Sünde <strong>zu</strong>r Folge, die Sünde<br />

gegen den Mitmenschen. Man könnte auch das Umgekehrte sagen, wer sich dem<br />

Mitmenschen entzieht, stellt sich nicht mehr Gott. Der Ehebrecher, der Lügner,<br />

der Dieb, der Mörder betrügt nicht nur Gott, sondern mit dem allen vergeht er sich<br />

an der menschlichen Gemeinschaft, an den Mitmenschen. Ich warne allerdings<br />

vor einem vorschnellen Urteil, als ob der Atheist immer unmenschlich <strong>und</strong> der<br />

Gläubige immer mitmenschlich sei. <strong>Kain</strong> ist ja offensichtlich unserer Geschichte<br />

nach kein Atheist. Er hat ja ebenso wie sein von ihm erschlagener Bruder Gott<br />

angebetet <strong>und</strong> verehrt in einer religiösen Einheit. Sein inneres Verhalten aber<br />

zeigt, daß er von Gott getrennt ist, von dem Gott, den er mit seinem Opfer auf<br />

seine Seite bringen wollte. Wir können ihn also keineswegs als gottlos<br />

bezeichnen. Das macht die Sache so schwer. Zu allen Zeiten werden Gott <strong>und</strong><br />

Christus nicht nur von Gottlosen abgelehnt, sondern auch von Christen, die sich<br />

im äußeren Verhalten <strong>und</strong> in ihren Worten für gott<strong>zu</strong>gehörig <strong>und</strong> christusgläubig<br />

halten. Das gilt auch von den hohen Priestern <strong>und</strong> Schriftgelehrten <strong>zu</strong>r Zeit Jesu.<br />

Jesus sagt: Sie dienen Gott mit Worten <strong>und</strong> mit äußerlichem Gottesdienst, mit<br />

Opfern <strong>und</strong> Almosen wie <strong>Kain</strong>. Aber ihre Herzen sind gottentfremdet. Es wäre<br />

aber völlig un<strong>zu</strong>reichend <strong>und</strong> oberflächlich hier nur auf die jüdischen<br />

Zeitgenossen Jesu ab<strong>zu</strong>zielen <strong>und</strong> die eigene Mitschuld der späteren Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

bei Christen <strong>und</strong> Heiden <strong>zu</strong> leugnen. Ich denke in diesem Zusammenhang an das<br />

Wort des Lübecker Bischofs Dr. Meyer auf der Tagung des Lutherischen<br />

Weltb<strong>und</strong>es in Lügnum-Kloster in Dänemark: „Antisemitismus ist in erster Linie


38<br />

eine Verneinung der Gottesebenbildlichkeit der Juden, eine dämonische<br />

Auflehnung gegen den Gott Abrahams, sowie Verwerfung des Juden Jesus, der<br />

sich gegen sein Volk richtet. Christlicher Antisemitismus ist geistlicher<br />

Selbstmord.“ Es ist also nicht unsere Sache, die Juden <strong>zu</strong>r Zeit Jesu <strong>zu</strong> richten.<br />

Hinweis auf fremde Schuld löscht nicht die eigene Schuld. Es steht für<br />

christliches Urteil nicht das jüdische Volk <strong>zu</strong>r Debatte, sondern in erster Linie die<br />

Blutschuld der sogenannten gläubigen Christenheit im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

nach Christus an dem jüdischen Volk durch das ganze Mittelalter hindurch bis in<br />

unsere Zeit. Auch die furchtbaren Kämpfe, die nach der welterschütternden<br />

Ermordung Gandhis zwischen Mohammedanern <strong>und</strong> Buddhisten in Indien <strong>und</strong><br />

Pakistan ausgefochten werden <strong>und</strong> die wir mit recht geiseln, dürfen nicht<br />

ablenken von dem, was Gott uns Christen vorhält. Das Erschütternde ist, daß<br />

dieses unser christliches Tun, mit frommen Vokabular begegnet <strong>und</strong> diese<br />

innerste Lossage von Gott unter frommer Maske getarnt, die Christenheit in die<br />

Irre geführt hat. Es gibt also, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht, die soziale<br />

Sünde im frommen Gewand. Gott sei Dank gibt es auch das Umgekehrte:<br />

sozialverantwortliches Handeln in atheistischer Verkleidung. Ich denke an das<br />

Gleichnis von den beiden ungleichen Söhnen, von denen der eine den Willen des<br />

Vaters mit Worten bejaht, ihn aber nicht befolgt <strong>und</strong> der andere den Willen des<br />

Vaters verbal ablehnt <strong>und</strong> doch den Willen des Vaters erfüllt. Gelegentlich gibt es<br />

natürlich auch eine echte Mitmenschlichkeit aus Dankbarkeit gegen Gottes Güte<br />

<strong>und</strong> es gibt auch eine rabiate Unmenschlichkeit mit gottloser Begründung. Man<br />

sollte differenzieren <strong>und</strong> keine Pauschalurteile fällen. Die Leugnung Gottes kann<br />

hervor-gerufen sein durch Unkenntnis <strong>und</strong> Fehlinformation über den wahren Gott<br />

<strong>und</strong> seine Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit. Sie kann aber auch hervorgerufen sein durch<br />

Menschen, die den Unglauben provozierten, weil sie in ihrem sozialen Verhalten<br />

die Geb<strong>und</strong>enheit an ihren Gott nicht glaubhaft demonstrierten. Die Christenheit<br />

konnte im Mittelalter Israel offensichtlich nicht <strong>zu</strong>m Glauben gewinnen. Das<br />

hängt im tiefsten Sinne mit dem Geheimnis <strong>zu</strong>sammen, das Gott für Israel<br />

bestimmt hat, eine Zeitlang hinsichtlich der Zustimmung <strong>zu</strong>m Messias blind <strong>zu</strong><br />

sein. Hin<strong>zu</strong> kommt aber auch, daß durch das Verhalten der Christenheit Israel<br />

nicht gereizt wurde <strong>zu</strong>m Übertritt. Wo wirtschaftliche oder politische Gewalt<br />

angewendet wird <strong>zu</strong>r Bekehrung, ist eine Bekehrung im Gr<strong>und</strong>e nicht möglich.


39<br />

Das Verhalten christlicher Regenten im Mittelalter hat die Täufer im 16. die<br />

bürgerlichen im 17. <strong>und</strong> 18. <strong>und</strong> die Arbeiter im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>zu</strong>m Unglauben<br />

provoziert. Wir müssen das einfach <strong>zu</strong>r Kenntnis nehmen. Wir müssen uns hüten,<br />

von Menschen mit physischen Druck, mit materiellen Verlockungen <strong>und</strong><br />

Vorteilen die Konversion <strong>zu</strong> fordern, die nur Gottes Geist geben kann. Ich habe<br />

schon an anderer Stelle gesagt, die These der päpstlichen Verlautbarungen zielt<br />

auf die Bekehrung des Menschen <strong>und</strong> nicht auf das Vorleben der Christen mit<br />

einer guten menschlichen Ordnung, die andere verlocken könnte, <strong>zu</strong>m christlichen<br />

Glauben über<strong>zu</strong>treten. Die Verkündigung der Güte Gottes mit Wort <strong>und</strong> Tat im<br />

familiären <strong>und</strong> gesellschaftlichen Bereich wirbt für Gott. Die Verwilderung der<br />

christlichen Welt führt von Gott weg. Weil die Christen <strong>zu</strong>wenig Gehorsam<br />

gezeigt haben, kann Gott uns die Menschlichkeit auch von anderer Seite klar<br />

machen. Gert Hirschauer betont: Die Brüderlichkeit ist im demokratischen Ethos<br />

als Imperativ oft besser aufgehoben als im christlichen Raum.<br />

Den nichtchristlichen Menschen wirbt Jesus Christus sicherlich durch sein Wort.<br />

Dieses Wort wird aber nicht vernommen, wenn der Prediger seine Ohren <strong>und</strong> sein<br />

Herz vor den Sorgen anderer verschließt. Wenn die Christen ihr Licht leuchten<br />

lassen <strong>und</strong> sich liebend der Welt <strong>zu</strong>neigen, kann es für die anderen <strong>zu</strong>m Zugang<br />

werden <strong>zu</strong> Gott. Schon Schiller sagt:<br />

„Gott nur siehet das Herz. Gut geredet mein Fre<strong>und</strong>, doch gib, daß wir auch etwas<br />

Erträgliches sehen.“<br />

Hier wird die Gottesfrage <strong>zu</strong>r Frage des Gehorsams <strong>und</strong> <strong>zu</strong>r Frage der Ethik <strong>und</strong><br />

biblische Ethik ist im Kern immer Sozialethik. <strong>Kain</strong> will den Fluch vom<br />

fluchbeladenen Acker nehmen, indem er sich den Bruder als Zeichen der Gnade<br />

Gottes vom Hals hält <strong>und</strong> in dem er den Acker tränkt mit dem Blut des<br />

gottgefälligen <strong>Abel</strong>. Dieses Verwirrspiel hat wohl auch als Ursache für alle<br />

Menschenopfer herhalten müssen. Ich habe viel von Prof. Drewermann <strong>zu</strong> lernen,<br />

aber ganz sicherlich nicht die Versöhnung des blutbeladenen Ackers mit neuem<br />

Blut. Es handelt sich bei den Inkas nicht, wie Drewermann meint, um einzelne<br />

kultische Handlungen, die um die Verbindung der Erde mit Gott <strong>und</strong> den<br />

Menschen geschahen. Es sind furchtbare Massenopfer gewesen mit zigtausenden<br />

von Schädeln als Beweis, daß sie die Gefangenen ihrer Kriege opferten, um selber


40<br />

leben <strong>zu</strong> können. Die Verharmlosung ist ebenso schlimm wie die Leugnung der<br />

christllichen Morde, die nicht nur an der indianischen Welt, sondern auch am<br />

islamischen Gläubigen <strong>und</strong> auch am Protestantismus vollzogen wurden. Das alles<br />

ist ebenso schlimm wie die Rechtfertigungen des Krieges durch Probst H.<br />

Assmussen, der sich in seinem 1964 erschienenen Buch „Krieg <strong>und</strong> Frieden“ von<br />

der Bergpredigt distanziert: „Die Bedingungslosigkeit, mit der sich dieser<br />

Prediger <strong>und</strong> Wanderer für den Frieden (gemeint ist der Jesus der Bergpredigt)<br />

demütig dem Streben der Römer nach Weltherrschaft unterwarf, kann nicht länger<br />

als Kern seiner Lehre mißverstanden werden. Sie ist vielmehr als ein Akt<br />

nationaler Würdelosigkeit an<strong>zu</strong>sehen“. „Wenn die Waffen schweigen kann das<br />

Unheil eben so groß sein, wie wenn der Krieg tobt.“ Wenn wir dreißig Jahre nach<br />

dieser Schrift so weiter machen, wird die Welt bald auf ihren Untergang <strong>zu</strong>gehen.<br />

Der Mord <strong>Kain</strong>s wird sich ausweiten <strong>zu</strong>m Selbstmord der Menschheit mit eben<br />

demselben frommen Betrug, den der ehemalige führende Mann der bekennenden<br />

Kirche, Probst Assmussen, mitverantwortlich für den Untergang der Menschheit<br />

bejaht. Die verschiedensten Formen der Selbstsucht <strong>und</strong> Ausbeuterei sind genauso<br />

gut Mord, wie das gegenseitige Totschlagen. In <strong>Kain</strong> verkörpert sich der<br />

individuelle wie der kollektive Mord. Zu entschuldigen ist keiner. Das Leben des<br />

einen <strong>und</strong> der anderen wird nur Mittel für eigene Zwecke. Ulrich Wickert - dieser<br />

Zusatz in dieser Predigt erfolgt nach dreißig Jahren <strong>und</strong> soll deshalb extra<br />

hervorgehoben werden - in seinem Buch „Der Ehrliche ist der Dumme“ weiß<br />

Wickert um die Torheit der Kriege <strong>und</strong> um den kollektiven Mord derer, die <strong>zu</strong>r<br />

Motivation der Rüstung, <strong>zu</strong>r Manipulation der Massen bei der Wahl, <strong>zu</strong>r<br />

Desinformation eigenen Fehlverhaltens <strong>und</strong> endlich <strong>zu</strong>r Rechtfertigung<br />

(Autoabsolution) das Feindbild benutzen. Er präzisiert einmalig die Sachlage:<br />

„In innenpolitisch schwierigen Zeiten scharen - wo es geht - politische Führer<br />

auch heute noch ihr Volk hinter sich, indem sie einen äußeren Feind vorgeben.<br />

Deshalb sind schon viele Kriege geführt worden, <strong>und</strong> deshalb wird es wohl - in<br />

anderen Teilen der Welt - immer wieder welche geben. Das Motiv bleibt das<br />

gleiche: Es soll beim Volk ein gemeinsames Ideal geweckt werden, das <strong>zu</strong><br />

verteidigen gilt. Nur lassen sich die aufgeklärten Bürger einer Demokratie<br />

glücklicher Weise nicht so leicht <strong>zu</strong> militärischen Abenteuern verführen wie<br />

einst.“


41<br />

Ich füge 1995 beim Niederschreiben der Predigt noch hin<strong>zu</strong>: Die Angst vor<br />

Fremden <strong>und</strong> vor Asylbewerbern - Achth<strong>und</strong>ert-tausend wären bei<br />

Achtzigmillionen einer pro H<strong>und</strong>ert - könnte aufgeklärte Bürger <strong>zu</strong> militärischen<br />

Abenteuern in Jugoslawien verführen, die diesen ethnischen jugoslawischen<br />

Säuberungs-aktionen mit Gewalt beikommen möchten, getarnt mit Worten der<br />

Verantwortung <strong>und</strong> der Menschlichkeit. Sie bedenken nicht, daß ein in<br />

Jugoslawien sich ausweitender Krieg sich <strong>zu</strong>r Weltkatastrophe erweitern könnte<br />

<strong>und</strong> daß umgekehrt eine geduldige erzwungene Einsicht <strong>und</strong> das Verweigern jeder<br />

Waffenhilfe <strong>und</strong> die Nichtrückschickung von Deserteuren <strong>und</strong> Kriegsdienstverweigerern<br />

<strong>und</strong> vor dem Krieg Geflüchteten die Wende für die Welt bringen<br />

könnte.<br />

<strong>Kain</strong> lebt. Mit dem Mord greift der Mensch in Gottes Recht. Adam <strong>und</strong> Eva<br />

verkörpern die theoretische Gottlosigkeit: Gut <strong>zu</strong> essen, Lust für die Augen, <strong>und</strong><br />

verlockend, weil er klug machte. Leib, Seele <strong>und</strong> Geist werden betrogen. In Kein<br />

verkörpert sich die praktische Gottlosigkeit. Weg mit dem, der mir im Wege steht.<br />

Weg mit dem, der mein Selbstbewußtsein in Frage stellt. Weg mit dem, der mich<br />

<strong>zu</strong>r Brüderlichkeit mahnt. <strong>Kain</strong> wird der Mörder des Gerechten, weil er darüber<br />

zürnt, daß sein glaubensloser, in totaler Werkgerechtigkeit vollzogener<br />

Gottesdienst nicht anerkannt wird. Er ist der Menschenmörder von Anbeginn.<br />

Gottes Gebot treibt uns als Christen da<strong>zu</strong> die Konkurrenz gesellschaftlicher,<br />

nationaler <strong>und</strong> religiöser Gegensätze endlich mit dem Willen <strong>zu</strong>m Frieden <strong>zu</strong><br />

begraben.


42<br />

Mitschuld am Mord „Er schlug ihn tot“ 1. Mose Vers 8c<br />

<strong>Kain</strong> handelt allein <strong>und</strong> meist ist es ein einzelner, der eine Mordtat begeht, oft aus<br />

Geldgier, manchmal aus Eifersucht, gelegentlich auch in einer<br />

Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit einem Vater oder einem Vorgesetzten. Ich denke an den<br />

Jungen des Müllers aus der Soester Gegend, der die Mühle nicht übernehmen<br />

wollte <strong>und</strong> in seiner Wut den Vater erschlug. Ich denke an einen Ausländer,<br />

dessen Frau in der Trennung von drei Monaten untreu wurde, so daß er <strong>zu</strong>m<br />

Messer griff. Oder an den jungen Mann, der die Heirat einer Frau mit einem<br />

Fre<strong>und</strong> nicht vertragen konnte <strong>und</strong> sie erstach. Ich denke an einen<br />

Heroinsüchtigen, der den Dealer erschlug, weil dieser ihm gefälschte Ware<br />

verkauft hatte. Auch an ein Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang unter zwei<br />

jungen Männern. Er schlug ihn tot, so heißt es von <strong>Kain</strong>. Seit dem ist Wolfzeit auf<br />

der Erde. Einer ist nicht mehr des anderen Bruder, sondern oft ist einer des<br />

anderen Teufel, der offen oder heimlich das Leben des anderen zerstört.<br />

Gelegentlich geschieht der Mord auch als Pflichtvergessenheit. Ich könnte hier<br />

das Verhalten eines Kapitäns <strong>zu</strong>r Sprache bringen, weil dieser auf hoher See ein<br />

brennendes Schiff mit dessen Notsignalen abseits liegen ließ, um die eigene<br />

Ladung schneller <strong>zu</strong> bergen. Er wird ein reicher Mann, doch im Traum sieht er<br />

das brennende Schiff <strong>und</strong> die Flammen werden ihm <strong>zu</strong> Höllenflammen. Zur Zeit<br />

der Sklaverei war man nicht nur Mörder durch den Verkauf <strong>und</strong> Ankauf von<br />

Sklaven. Weil man schnell reich werden wollte, überfrachtete man die Schiffe <strong>und</strong><br />

preßte die Menschen so eng aneinander, daß viele auf der Fahrt erstickten <strong>und</strong><br />

verdursteten. Die blinde Raffsucht schaltet auch den Verstand aus, der bei mehr<br />

Barmherzigkeit auch durch Sklavenhandel einen größeren Gewinn erzielt hätte.<br />

Gelegentlich ist es auch Gleichgültigkeit, eine Empfindungs-losigkeit <strong>und</strong><br />

Sturheit, die im Gebirge Hilferufe überhört, bei Brandstiftung in Asylheimen sich<br />

wegwendet <strong>und</strong> in vielen Fällen Hilfe verweigert, wo sie nicht nur von Gott<br />

gefordert ist, sondern auch von dem Gesetzgeber. Es gibt viele Menschen die<br />

rechtschaffen sind <strong>und</strong> sich doch durch böse Propaganda, durch oberflächliches<br />

Reden am Mord beteiligen, besonders dann, wenn eine Massenpsychose<br />

ausgebrochen ist. Je mehr im Dritten Reich auf Krieg hingerüstet <strong>und</strong> hingeplant


43<br />

wurde, desto mehr kam die Angst auf, wie man mit den Kranken <strong>und</strong> Behinderten<br />

fertig würde. Einer hat angefangen, von den unnützen Essern <strong>zu</strong> sprechen, die<br />

volkswirtschaftlich nicht mehr <strong>zu</strong> tragen seien. Einer ist auf den Gedanken<br />

gekommen, man könnte sie ja beseitigen <strong>und</strong> ein anderer auf den Gedanken, das<br />

sei kein Mord, sondern Gnadentod, Euthanasie genannt. Der Gnadentod wurde<br />

vorgegeben, weil man das Gnadenbrot nicht mehr aufbringen wollte. Viele haben<br />

die Weltanschauung da<strong>zu</strong> geliefert <strong>und</strong> waren Mithelfer <strong>zu</strong>m Mord. Die Kranken<br />

in Bethel nahm Pastor von Bodelschwingh in Schutz. Er trat im Dritten Reich dem<br />

Nationalsozialismus entgegen <strong>und</strong> verweigerte die Überführung der Kranken <strong>zu</strong>m<br />

Tod: „Nur über meine Leiche geht der Weg.“ Der Bischof von Münster, Clemens<br />

August von Galen, assistierte in seinen <strong>Predigten</strong> ebenso wie unser späterer<br />

Präses, Pastor Wilm, aus Menninghüffen. Das Dritte Reich liegt 20 Jahre hinter<br />

uns. Weil damals einige zig - tausend Todesurteile in der Heimat <strong>und</strong> an der Front<br />

von Richtern <strong>und</strong> Kriegsgerichtsräten für rechtens gehalten wurden <strong>zu</strong>r weiteren<br />

Durchführung national-sozialistischer Ziele in Frieden <strong>und</strong> Krieg, war Einigkeit<br />

unter den in Herrenchiemsee versammelten Staatrechtlern, die Todesstrafe in der<br />

neu<strong>zu</strong>gestaltenden B<strong>und</strong>esrepublik ab<strong>zu</strong>schaffen. In der Weimarer Zeit hatte das<br />

Parlament den Voll<strong>zu</strong>g der Todesstrafe abgelehnt. Man glaubte aber auf die Dauer<br />

nicht ohne sie aus<strong>zu</strong>kommen <strong>und</strong> führte sie wieder ein, mit der Begründung, die<br />

Zunahme der Brutaltitätsverbrechen rühre daher, daß „die Obrigkeit das<br />

Richtschwert stumpf werden ließ“. Ich meinerseits votiere in die entgegengesetzte<br />

Richtung. In den USA ist diese Frage in jedem Staat nach föderalistischer<br />

Auffassung eigenständig geregelt. Die Erfahrung zeigt, daß die Staaten mit<br />

Todesstrafen weitaus mehr Kapitalverbrechen aufweisen als anderswo. Eine<br />

abschreckende Wirkung geht von der Todesstrafe nicht aus. Im übrigen ist der<br />

brutale Strafvoll<strong>zu</strong>g in den Vereinigten Staaten abschreckend genug. Auch die<br />

Weimarer Zeit hat uns gelehrt, daß eine Klassenjustiz von einer bis ins<br />

Kaiserreich <strong>zu</strong>rückreichenden Tradition mehr Unrecht als Recht gesprochen hat.<br />

Von dreih<strong>und</strong>ert Morden in einigen Jahren der Weimarer Zeit wurden die dreißig<br />

Morde der Linken äußerst hart bestraft: 15 Todesurteile, 15 lange Kerkerstrafen,<br />

keine Begnadigung. Von den zweih<strong>und</strong>ert<strong>und</strong>siebzig Morden der Rechten wurde<br />

keine mit dem Tod gesühnt. Es erfolgten sehr viele Freisprüche <strong>und</strong> die<br />

Durchschnittsstrafe belief sich auf einige Monate.


44<br />

Das Militär aller Zeiten nahm sich das Recht, Fahnenflucht, angebliche Feigheit<br />

vor dem Feind, Wehrkraftzerset<strong>zu</strong>ng durch Kritik an Kriegsplänen <strong>und</strong> Krieg mit<br />

dem Tode <strong>zu</strong> bestrafen. Mir steht ein Bild vor Augen aus Preußens großer Zeit,<br />

das die ganze Willkür dieses Handelns aufzeigte: Füsilieren (standrechtlich<br />

erschießen), Erhängen, Spießrutenlaufen, Rädern <strong>und</strong> andere, von perversen<br />

Gehirnen erf<strong>und</strong>ene Folterstrafen. Unter diese Todeskandidaten mischten sich<br />

zwei Geistliche der beiden Konfessionen, um ihnen „geistlichen Zuspruch“ <strong>zu</strong><br />

bringen. Ein trauriges Bild von dem Irrweg der Kirche <strong>zu</strong>r Stüt<strong>zu</strong>ng gottloser<br />

Praktiken. Ja, es muß einigen gesagt werden, das Schwert hat der Obrigkeit immer<br />

sehr locker gesessen. Wer nicht linientreu war, wurde gemordet. Gottes Urteil für<br />

Deserteure wird näher an das Selig der Bergpredigt herankommen als die<br />

Tätigkeit der Soldaten, die sooft mit dem Bibelwort von der Liebe mißbräuchlich<br />

zementiert wurde: Niemand habe größere Liebe denn die, daß er sein Leben lasse<br />

für seine Brüder.<br />

Ich kann mir nicht denken, daß Jesus dabei an die römischen Soldaten gedacht<br />

hat, auch nicht für möglich halten, daß er damit die Untergr<strong>und</strong>bewegung im<br />

Auge gehabt habe. Er hat wohl eher an sich selber gedacht <strong>und</strong> an die Leute, die<br />

in Seenot, in Feuersnot unter Einsatz <strong>und</strong> oft unter Verlust des Lebens anderen<br />

geholfen haben. Ich würde <strong>zu</strong> diesen Leuten mit der großen Liebe auch die<br />

rechnen, die Deserteuren <strong>und</strong> Kriegsdienstverweigerern Unterkunft <strong>und</strong><br />

Lebenshilfe gegeben haben.<br />

Doch wenn wir schon beim Militär sind <strong>und</strong> wir das Thema vom Mord <strong>und</strong><br />

sonderlich heute von Beihilfe <strong>zu</strong>m Mord behandeln, darf die Stellung <strong>zu</strong>m Krieg<br />

nicht unterschlagen werden. Ich denke nur an die evangelische Kirche <strong>und</strong> an<br />

unser Jahrh<strong>und</strong>ert. In einer evangelischen Zeitung wurde kürzlich dieses Thema<br />

erörtert unter der Überschrift: Die evangelische Kirche <strong>und</strong> der Geist von 1914.<br />

Hören wir einige Stimmen von der christlichen Verbrämung durch Theologen. Da<br />

ist <strong>zu</strong>nächst einmal Johannes Schneider, der Herausgeber des kirchlichen<br />

Jahrbuches 1915: „Ja, der Krieg ist ein Volkserzieher von Gottes Gnaden. Der<br />

männermordende Krieg ist der großartigste Volkserhalter <strong>und</strong> Volksverjünger“.<br />

Nicht ganz so massiv geht Prof. Reinhold Seeberg auf den Krieg ein: „Man hat<br />

über der blutigen Arbeit das Beten wieder gelernt“. Wenn ich Arnold Zweigs


45<br />

Buch „Erziehung vor Verdun“ oder Remarqes „Im Westen nichts Neues“ oder<br />

Norman Mailers „Die Nackten <strong>und</strong> die Toten“ oder Heinrichs „Das geduldige<br />

Fleisch“ oder die Bücher Pliviers „Moskau“, „Stalingrad“, <strong>und</strong> „Berlin“ oder auch<br />

russische Kriegsbücher lese, dann kann ich eher sagen, daß, wer nicht vorher<br />

schon das Beten gelernt hat, es nun im Krieg ganz gewiß nicht lernte, sondern nur<br />

das Fluchen. Ich könnte mir denken, wenn die Flüche von sterbenden Soldaten<br />

über Kaiser Wilhelm <strong>und</strong> über Hitler laut würden, würde uns Hören <strong>und</strong> Sehen<br />

vergehen. Der von vielen Protestanten so geliebte Kaiser Wilhelm II sprach im<br />

August 1914 vom Erker des Berliner Schlosses <strong>zu</strong>m deutschen Volk:<br />

„Gehet hin in die Kirche, betet <strong>zu</strong> Gott, daß er dem deutschen Heere <strong>und</strong> der<br />

deutschen Sache den Sieg verleihen möge.“<br />

Nur den gottlosen Atheisten fiel die Domestizierung Gottes für egoistische<br />

hohenzollernsche Interessen <strong>und</strong> für völkische Selbstsucht auf. Der<br />

Generalsuperintendent der Provinz Westfalen definierte auf der Synode am 24.<br />

November 1914 gerade<strong>zu</strong> haarsträubend das blutige Unternehmen. Der Weltkrieg<br />

sei ein Gottesgericht über <strong>und</strong> gegen alle Versuche, auf der Basis von Vernunft<br />

<strong>und</strong> Humanität die Gesellschaft <strong>zu</strong> organisieren <strong>und</strong> einen dauerhaften Frieden<br />

zwischen allen Staaten her<strong>zu</strong>stellen.<br />

Wiederum mache ich eine ironische Anmerkung beim Niederschreiben dieses<br />

Textes Sommer 1995: „Ihr Völker des Balkans. Nehmt euch ein Beispiel an<br />

diesem Generalsuper-intendenten. Laßt Vernunft <strong>und</strong> Humanität beiseite <strong>und</strong> hört<br />

mit eurer ethnischen Säuberung nicht eher auf, als bis ihr alles zerschlagen habt.<br />

Dann habt ihr einen dauerhaften Frieden, nämlich die Friedhofsruhe des Balkans“.<br />

Ich komme <strong>zu</strong>rück <strong>zu</strong>m Text. Viele Professoren stellten sich vorbehaltlos in den<br />

Dienst der Propaganda, ein schäbiger Offenbarungseid der Intelligenz <strong>und</strong> der<br />

Religion. Ich zitiere Prof. Otto Baumgarten aus einem Brief an eine Kriegerwitwe<br />

als Kondolenzschreiben <strong>zu</strong>m Tode des gefallenen Sohnes. Man könne einem<br />

ernsten Menschen wohl <strong>zu</strong>muten, Gott dafür <strong>zu</strong> danken „daß man einen tüchtigen<br />

Sohn hat aufziehen dürfen, um ihn dem Vaterland <strong>zu</strong>m Heldentod <strong>zu</strong> schenken“.


46<br />

Wiederum würde ich heute hin<strong>zu</strong>setzen:<br />

„Ein Hoch auf alle Ajatollahs <strong>und</strong> auf den Blut- <strong>und</strong> Bodenmythos der Serben <strong>und</strong><br />

der serbisch - orthodoxen Kirche“. Ich hoffe, daß dieses zweimalige Lob der<br />

Ajatollas als Ironie bewertet wird.<br />

Und wieder <strong>zu</strong>rück nach 1914. Prof. Adolf Deißmann stellt die Doppelfrage:<br />

„Was leistet der Krieg der Religion, was leistet die Religion dem Kriege?“. In<br />

seiner Antwort steht folgender Satz: „Als aber nach Ausbruch des Krieges die<br />

Religion dem deutschen Krieger nicht in die Arme fiel, sondern im Gegenteil<br />

seine Waffe segnete, da hat sie nicht ihren Bankrott erlebt, sondern ihre eigene<br />

Mobilmachung“.<br />

Ich möchte Gott diesen Irrsinn klagen. Meinerseits stelle ich die Frage: „Weshalb<br />

fiel die Religion dem deutschen Krieger nicht in die Arme?“ Die Quittung Gottes<br />

haben wir bekommen, nicht im Siegesrausch 1914, sondern im Untergang 1918.<br />

Die Kirche erlebte nicht den Bankrott. Das lag aber nicht an ihrer falschen<br />

Einstellung, sondern an der Geduld Gottes. Der Bankrott der Kirche <strong>und</strong> der<br />

Bankrott des Staates sind noch hinausgezögert. Sollte es <strong>zu</strong> einem Dritten<br />

Weltkrieg kommen, der wiederum so oder so abgesegnet wird, da wird es keine<br />

Rettung mehr geben, jedenfalls nicht für die Staaten des heiligen römischen<br />

Reiches deutscher Nation, laut Daniel 2,35: „miteinander zermalmt“, „wie Spreu<br />

auf der Sommertenne, vom Winde verweht“, „nirgends mehr <strong>zu</strong> finden“. Das<br />

Komitee gegen atomare Aufrüstung lud mich einige Male ein, in München <strong>zu</strong><br />

sprechen. So formulierte ich auf dem Marien-Platz in einer Gegenk<strong>und</strong>gebung <strong>zu</strong><br />

einer Soldatenvereidigung: „Sollte es Überlebende nach dem Dritten Weltkrieg<br />

geben, würden sie neben den törichten Menschen auch Gott verfluchen“. Die<br />

Verfluchung Gottes geschieht <strong>zu</strong> unrecht. Er ist ein Gott des Friedens <strong>und</strong> nicht<br />

ein Gott des Krieges. Gott hat uns nicht angehalten, Böses mit Bösem aus<strong>zu</strong>rotten.<br />

Die Erkenntnis von 1950 war eindeutig <strong>und</strong> ziemlich einheitlich. Krieg darf nach<br />

Gottes Willen nicht sein. Der vielbekämpfte Marburger Theologe Martin Rade<br />

stellte schon vor dem Ersten Weltkrieg die Frage, ob der Krieg nicht ein Hohn auf<br />

alle Lehren <strong>und</strong> Gebote des Evangeliums, ja, ob er nicht gerade<strong>zu</strong> der „Bankrott“<br />

des Christentums <strong>und</strong> der Christenheit sei.


47<br />

Wenn wir die Geschichte von <strong>Kain</strong>s Mord <strong>und</strong> <strong>Abel</strong>s Ermordung hören, dann fällt<br />

uns das fünfte Gebot ein: Du sollst nicht töten. Als Christen sind wir sicher, ich<br />

meine all<strong>zu</strong>sicher, dieses Gebot nicht übertreten <strong>zu</strong> haben. Nun habe ich<br />

aufgezeichnet, wie oft wir Christen Beihilfe <strong>zu</strong>m Mord leisteten. Pastor König<br />

formulierte in den Neuen Kriegspredigten, Jena 1914, die These vom<br />

Herrenmenschen, die ich vielmehr Adolf Hitler <strong>zu</strong>geschrieben hätte, aber niemals<br />

einem Pfarrer. König formulierte, da die Deutschen Herrenmenschen seien, müsse<br />

auch ihr Glaube heldisch <strong>und</strong> aristokratisch sein. Wo er das aber nicht wäre,<br />

müsse er heroisiert werden, <strong>zu</strong> echten deutschen Christentum gemacht werden.<br />

„Ein Hurra auf die Ajatollahs <strong>und</strong> auf jede Blut- <strong>und</strong> Boden- Mystik“. Sage ich<br />

<strong>zu</strong>viel mit der Behauptung, solche Worte befinden sich nah an dem, was die Nazi-<br />

Zeit uns als Ideologie verkaufte. Bischof Dr. Dibelius unterzeichnete seinerzeit<br />

ohne Zustimmung der Synode der evangelischen Kirche mit dem B<strong>und</strong>eskanzler<br />

Adenauer, mit dem von Dibelius als Wehrbischof auserkorenen D. Kunst <strong>und</strong> mit<br />

dem damaligen B<strong>und</strong>esverteidigungsminister F. J. Strauss am Fernsehschirm den<br />

Wehrmachtsseelsorge-vertrag. Dibelius predigte während des Ersten Weltkrieges,<br />

daß der Krieg die Menschen von der kleinen furchtlosen Sorge um das Leben<br />

befreit habe <strong>und</strong> ihrem Sinn „auf größeres <strong>und</strong> höheres“ gelenkt habe, als darauf,<br />

„möglichst lange auf dieser Welt <strong>zu</strong> atmen <strong>und</strong> <strong>zu</strong> essen <strong>und</strong> <strong>zu</strong> trinken“. Das alles<br />

macht mich tief traurig. Es ist mehr barbarisch, als christlich. Ähnlich ungöttlich<br />

<strong>und</strong> unsinnig die Äußerungen von Theologen (Vits <strong>und</strong> Schian): Wer als Soldat<br />

falle, gewinne das Ewige Leben, er komme in die Gefolgschaft Christi. Allgemein<br />

liegt das auf der Linie der Heldengedenktafeln, die von der Treue bis in den Tod<br />

reden <strong>und</strong> von der nicht <strong>zu</strong> übertreffenden Liebe der Helden. Mir ist es aus der<br />

Seele gesprochen, wenn Prof. Leonard Ragatz aus der wilhelminischen Zeit die<br />

Theologen als die Hauptschuldigen an der Fortset<strong>zu</strong>ng des Völkergemetzelts<br />

bezeichnete. Zu den Theologen gesellen sich natürlich auch andere, die<br />

mitschuldig werden. Ich denke jetzt auch an die Journalisten, die all <strong>zu</strong> leicht sich<br />

dem Zeitgeist verschreiben <strong>und</strong> anstatt auf<strong>zu</strong>klären, <strong>zu</strong> der Verwirrung beitragen.<br />

Das Evangelische Sonntagsblatt vom 5. August 1964 berichtete aus einem<br />

Interview mit Axel Springer, dem Chefredakteur <strong>und</strong> Verleger der Bild-Zeitung.<br />

Herr Springer erklärte: „Ich war mir seit Kriegsende darüber klar, daß der<br />

deutsche Leser eines auf keinen Fall wollte, nämlich nachdenken. Und darauf


48<br />

habe ich meine Zeitungen eingestellt“. Bei Denkfaulheit ist der Weisheit letzter<br />

Schluß: militärische Stärke mit steigender Kriegsgefahr.<br />

Gott redet den Übeltäter an. Er gibt damit Gelegenheit <strong>zu</strong>r Umkehr. Adam wo bist<br />

Du? <strong>und</strong> die Antwort Adams heißt: „Ich fürchte mich.“ Zu dieser religiösen Frage<br />

kommt nun die soziale Frage: <strong>Kain</strong>, wo ist dein Bruder?“ <strong>und</strong> die Antwort heißt:<br />

„Ich weiß nicht.“ Die Ausrede besagt beide Male, ich lasse mich nicht <strong>zu</strong>r<br />

Verantwortung ziehen. Das heißt dann aber auch, ich will mich von dir, Gott,<br />

nicht retten lassen. <strong>Kain</strong> hat Rettung nicht nötig, weil er den Zusammenbruch<br />

nicht <strong>zu</strong>gibt. Wir werden später sehen, daß der Mensch an den Folgen seiner<br />

religiösen <strong>und</strong> sozialen Isolierung zerbricht, weil der Mensch nur <strong>zu</strong>r Einsicht<br />

kommt, wenn die Grenzüberschreitungen Folgen haben. Die Letzteren weisen ihn<br />

auf Gottes vorausgehende Warnung hin. Zu Adam <strong>und</strong> Eva gerichtet: „Daß ihr<br />

nicht sterbet“. Zu <strong>Kain</strong>: „Die Sünde lauert vor der Tür, <strong>und</strong> nach dir hat sie<br />

Verlangen“. Gott übersieht seinerseits nicht die Zerstörung, die durch<br />

menschliche Schuld anderen Menschen <strong>zu</strong>gefügt wird. Wie könnte er das<br />

vergossene Blut übersehen, wie könnte er die Getöteten vergessen? Das<br />

Evangelium ist <strong>zu</strong>erst Evangelium für die Armen, aber es ist auch Evangelium für<br />

<strong>Kain</strong>. Gottes Anfragen an <strong>Kain</strong> läßt Raum <strong>zu</strong>r Umkehr.<br />

Jesaja 26 Vers 15: „Herr, wenn Trübsal da ist, so suchen wir dich. Die Erde wird<br />

offenbar machen das Blut, das auf ihr vergossen ist <strong>und</strong> nicht weiter verbergen,<br />

die auf ihr getötet sind.“<br />

<strong>Kain</strong>, wo ist dein Bruder <strong>Abel</strong>? Die Verantwortung vor Gott ist <strong>zu</strong>gleich die<br />

Verantwortung für den Bruder. Der Alttestamentler v. Rad beschreibt, wie <strong>Abel</strong>s<br />

Blut <strong>zu</strong>m Himmel schreit: „Unausdenkbar <strong>und</strong> unsühnbar für alle menschliche<br />

Begriffe ist der Tag <strong>und</strong> Nacht <strong>zu</strong> Gott empor klagende Ruf des Blutes unseres<br />

Bruders <strong>Abel</strong>“. Das heißt, das Blut aller von Menschen getöteten Mitmenschen<br />

klagt an, nicht versöhnt, nicht heilbringend, sondern aggressiv <strong>und</strong><br />

protesterhebend schreit es nach Ausgleich. <strong>Abel</strong>s Blut bringt kein Heil. Heil<br />

bringt allein Christi Blut. Die Versöhnung richtet mehr aus, als die Anklage, die<br />

nach Rache schreit. Christi Blut redet besser als <strong>Abel</strong>s Blut. Fliehen wir <strong>zu</strong> dem,<br />

der die Welt mit sich ausgesöhnt hat. Hören wir auf, uns <strong>zu</strong> entschuldigen. Man<br />

habe <strong>zu</strong> heißes Blut, man entbehrt in der Jugend die Nestwärme, der


49<br />

Ödipuskoplex sei im Menschen eingeboren, wir könnten nicht gegen unsere<br />

Natur, wir seien auch keine Engel, man könne nichts Übermenschliches vom<br />

Menschen verlangen, beenden wir die Liste der nie aufhörenden<br />

Entschuldigungen. „Ich weiß nicht“ heißt ja auch: „ich will nichts wissen“. Ich<br />

halte meine Augen verschlossen gegen dein Gebot <strong>und</strong> gegen deine Gnade. Wenn<br />

wir vom Krieg sprechen, von dem heißen <strong>und</strong> kalten <strong>und</strong> dem lauwarmen, sind<br />

diese ja nur groteske Ausweitungen dessen, was im privaten Leben vor sich geht.<br />

Hören wir auf keinen, der individuelle <strong>und</strong> kollektive, standesmäßige oder<br />

völkischbedingte Schuld entschuldigt. Stellen wir uns Gott.


50<br />

Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 1. Mose 4 Vers 9b<br />

(1994)<br />

Auf Gottes eindringliche Frage an <strong>Kain</strong>: Wo ist dein Bruder <strong>Abel</strong>? gibt der<br />

Mörder eine verlogene Antwort <strong>und</strong> eine unverschämte Gegenfrage. Die beiden<br />

schmerzlichsten Worte der Bibel stehen auf den ersten Seiten: „Adam, wo bist<br />

du?“ „<strong>Kain</strong>, wo ist dein Bruder <strong>Abel</strong>?“ Doch in den beiden Fragen Gottes,<br />

verbirgt sich Gottes Erbarmen <strong>und</strong> unser aller Heil. Gott läßt den Menschen nicht<br />

in seiner Schuld allein, er gibt ihn nicht auf, er stellt ihn immer wieder <strong>zu</strong>r Rede.<br />

Adam, Mensch, meinst du wirklich daß du ohne Gott fertig wirst? Mit dir selbst,<br />

dir selbst überlassen? Dein Leben ohne Sinn <strong>und</strong> Ziel? Du mit deinen Ideen <strong>und</strong><br />

deinen Vorstellungen, mit deiner Angst <strong>und</strong> deinem Übermut, mit deinen dir<br />

selbsterdachten Ersatzgöttern? Allein mit dem Verführer? In der Frage liegt das<br />

ganze Erbarmen Gottes. Was soll das? Was kommt dabei raus? Kannst du das<br />

durchhalten? Ohne mich? Gegen mich, deinen Schöpfer, ohne den du keinen<br />

Atem<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> tun vermagst, der die billionenfache Schaltung in den Innersten<br />

deiner Atomkerne steuert <strong>und</strong> belebt? Hälst du durch? Durch, bis <strong>zu</strong>m Ende, wenn<br />

ich deinen Geist <strong>zu</strong>rückverlange? Ich warte auf dich, du versteckst dich, du tarnst<br />

dich, du redest dich raus. Wo hast du dich hinbegeben, welchen Standort deines<br />

Lebens hast du gewählt? ^<br />

Nein, Gott hat das Gespräch nicht abgebrochen. Auch nicht, wenn wir uns soweit<br />

verloren haben, wie sich nur der Mörder verliert. Gott hat uns lieb, weil er uns<br />

fragt <strong>und</strong> uns sucht, der uns heimsuchende Gott nicht im ewigen Zorn <strong>und</strong> nicht<br />

<strong>zu</strong>r ewigen Verdammnis, sondern <strong>zu</strong>m Ewigen Leben. So lange du die Antwort<br />

schuldig bleibst <strong>und</strong> mit deiner Schuld kneifst, wegläufst, muß ich noch warten.<br />

Aber du bist ja nicht allein, ich habe dir Mitmenschen gegeben. Es ist meine<br />

Barmherzigkeit, daß ich dich nicht in menschenloser Frömmigkeit, aber auch<br />

nicht in menschenverachtender <strong>und</strong> gotthöhnender Gottesferne allein lasse. Ich<br />

war so menschlich, daß ich dir den Mitmenschen gab, ihn dir vor die Füße legte,<br />

nicht nur in der Frau, die ich dir gab <strong>zu</strong>r Gehilfin, sondern auch in den anderen<br />

Mitmenschen. Darum meine zweite Frage: <strong>Kain</strong> wo ist dein Bruder <strong>Abel</strong>? Wo ist<br />

dein Bruder, den du lieben kannst? Von der Gottlosigkeit ist es nur ein kleiner


51<br />

Schritt <strong>zu</strong>r gefährlichen Einsamkeit. Und wer den Mitmenschen verachtet,<br />

entfernt sich auch von Gott. Beides bedingt sich. Die Liebe <strong>zu</strong> Gott <strong>und</strong> die Liebe<br />

<strong>zu</strong>m Menschen. Wer nicht dem Menschen traut, traut auch Gott nicht, sagt der<br />

Franzose Henry Hatzfeld. Mitmenschen <strong>zu</strong> haben, gehört <strong>zu</strong>m Existenzminimum,<br />

ohne das keiner leben kann. Lars Olsen Skrefsrud war Kupferschmied, <strong>zu</strong> vier<br />

Jahren Gefängnis verurteilt, weil er die Kameraden bei dem Einbruch nicht<br />

preisgab. Niedergeschmettert <strong>und</strong> verbittert sitzt er seine Strafe ab. Anne, die<br />

Bauerntochter, die Feine, die Reiche, will ihn besuchen. Sie hatten kaum vorher<br />

miteinander gesprochen. Nur ihre Seelen hatten es gespürt, daß sie <strong>zu</strong>einander<br />

gehörten <strong>und</strong> einer geheimnisvoll bestimmt waren. Jetzt hat Anne um der Seele<br />

des Gefangenen willen alle mädchenhafte Scheu überw<strong>und</strong>en, sie ist Lars in<br />

nichts verpflichtet <strong>und</strong> sucht ihn auf. Lars ist durch diesen Besuch aus der Tiefe<br />

heraus. Liebe <strong>und</strong> Mitmenschlichkeit waren ihm Zeichen des erbarmenden Gottes.<br />

Jetzt hat er nicht mehr die Ausrede von den unrechten Richtern, sondern jetzt<br />

sieht er seine Schuld.<br />

Immer wieder kommt es vor, daß nicht nur einzelne, sondern auch ganze Gruppen<br />

<strong>und</strong> Völker ihre Schuld leugnen. Was liegt näher als zwanzig Jahre nach Ausgang<br />

des Krieges als die Frage Gottes nach unseren Mitmenschen. Was hast du<br />

Deutschland mit deinem Bruder Israel gemacht, mit den Zahllosen, die seit<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten in Deutschland wohnten, die mit dem deutschen Volke geistig<br />

verb<strong>und</strong>en waren, die dein Land verteidigt haben? Sie haben es doch auch dann<br />

verteidigt, wenn du im Unrecht warst <strong>und</strong> haben dich nicht allein gelassen. Wo ist<br />

dein Bruder, der Roma <strong>und</strong> der Sinti, die immer mit ihren Planwagen durch dein<br />

Land zogen <strong>und</strong> hier <strong>und</strong> da bei Hochzeiten <strong>und</strong> <strong>zu</strong>r Kirmes aufspielten <strong>und</strong> auch<br />

bei den Bauern ihre Waren verkauften? Wo ist der Pole, der an dein Land grenzte<br />

<strong>und</strong> auf deinen Höfen gearbeitet hat? Wo ist dein Bruder, der Franzose, der dich<br />

bereicherte durch die Gedanken der Freiheit, der Gleichheit <strong>und</strong> der<br />

Brüderlichkeit? Wer die Schuld am ersten Weltkrieg leugnet, wird auch die<br />

Schuld am Zweiten leugnen. Im Stern las ich neulich eine Serie von Sebastian<br />

Haffner <strong>und</strong> er redet von den sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten<br />

Weltkrieg: 1. Brechung der Neutralität Belgiens, Hollands <strong>und</strong> Luxemburgs, 2.<br />

die Rüstung einer Seemacht, die nur England schockierte <strong>und</strong> <strong>zu</strong> nichts nutze war,<br />

3. der rechtzeitige <strong>zu</strong> erreichende <strong>und</strong> dann doch 1916 abgelehnte Friede, weil er


52<br />

das Gebiet nicht erweiterte, 4. sodann der für den Russen so böse Friede von<br />

Brestlitovsk, 5. der Verrat an diesem Frieden, weil man seinen Anspruch auf die<br />

Ukraine <strong>und</strong> das Baltikum aufrechterhalten wollte <strong>und</strong> darum an der Westfront<br />

völlig auf die Knie gezwungen wurde, 6. schließlich auch der uneingeschränkte<br />

U-Boot-Krieg <strong>und</strong> 7. die Verwendung von Giftgas. Wer von unseren<br />

verantwortlichen Politikern hätte das je <strong>zu</strong>gegeben? Und erst recht nicht, wer<br />

hätte sich <strong>zu</strong> dem ersten großen Fehler bekannt, den Deutschland gemacht hat,<br />

nämlich den ersten Weltkrieg überhaupt <strong>zu</strong> verursachen? Haffner sagt: Statt sich<br />

<strong>zu</strong> fragen, wodurch sie sich den Krieg eingebrockt <strong>und</strong> ihn dann verloren haben,<br />

rechneten sie sich immer wieder vor. daß sie am Kriege unschuldig gewesen<br />

seien, <strong>und</strong> ihn eigentlich gewonnen hätten. Der Rest, der dann noch verbleibe, war<br />

Schicksal.<br />

Haffner sagt allerdings, mit Kriegsschuld habe das nichts <strong>zu</strong> tun. Von<br />

Kriegsschuld <strong>zu</strong> sprechen, war nach dem Ersten Weltkrieg auf Seiten des Siegers<br />

Scheinheiligkeit <strong>und</strong> Heuchelei. Schuld setzt ein Verbrechen voraus. Und Krieg<br />

war damals kein Verbrechen. Er war in Europa von 1914 durch eine legitime<br />

Einrichtung durchaus ehrenhaft <strong>und</strong> sogar ruhmvoll. Doch da kommen wir nicht<br />

weiter. <strong>Kain</strong> ist der von Gott Angeredete <strong>und</strong> die Christen sind auch in besonderer<br />

Weise von Gott angeredet. Wir hätten das alles nicht mitmachen dürfen. „Ich weiß<br />

nicht“, zieht nicht. Der Arzt Peter Bamm erzählt in seinem Buch: „Die<br />

unsichtbare Flagge“ von seiner Sanitätsabteilung in Südrussland 1942 - 1944. Er<br />

weiß bei aller Korrektheit der Sanitätsdienstgrade seiner Truppe, daß er mit dem<br />

„Ich weiß nicht“ vor Gott nicht durchkommt. Sie wissen in Südrußland um die<br />

Judenmorde. Der Protest unterblieb, weil man den Protest für erfolglos hielt <strong>und</strong><br />

für ein Unternehmen ohne Erfolgschancen wollte keiner sein Leben einsetzen. Ich<br />

könnte auch von denen reden, die Tausende <strong>und</strong> Abertausende als<br />

Kriegsgerichtsräte <strong>zu</strong>m Tode verurteilt haben <strong>und</strong> auch von Militärs, die Tausende<br />

<strong>und</strong> Abertausende in den Tod geschickt haben, in einen Krieg, der mit aller<br />

Gewalt geplant <strong>und</strong> begonnen wurde. Vielleicht fragt sie Gott in schlafloser<br />

Nacht: General, Oberst, Hauptmann, wo ist euer Bruder <strong>Abel</strong>? Das Blut schreit <strong>zu</strong><br />

mir, wollt ihr euch nicht <strong>zu</strong> eurer Sünde bekennen, damit meine Gnade wirksam<br />

werden kann? Die Mittellage Deutschlands war ebenso wenig wie der böse, im<br />

Gr<strong>und</strong>e aber 1925 verdaute Versaillervertrag, noch der fehlende Siedlungsraum,


53<br />

noch unsere Ehre ein Kriegs-gr<strong>und</strong>. Ich will aber gar nicht von dem Militär reden<br />

<strong>und</strong> von ihren Zuhältern: Kapital, Großgr<strong>und</strong>besitz, Ministerial-bürokratie,<br />

sondern von denen die den Mord nicht geplant, die Nazi-Ideologie nicht erf<strong>und</strong>en<br />

haben, <strong>und</strong> die auch nicht kriegslüstern <strong>und</strong> eroberungssüchtig waren. Ich meine<br />

die, die keine Partei ergriffen haben, die ihre Ruhe haben wollten, die davon<br />

geschlichen sind, wenn sie blutige Finger sahen. Die geträumt haben, als ein<br />

ganzes Volk Mordpläne verfaßte. Es waren die, die den politisierenden Pfarrer<br />

Niemöller nicht mehr hören wollten, die weder in der Nähe die Marienkirche oder<br />

die Reinoldikirche aufsuchten, um den Mann der bekennenden Kirche <strong>zu</strong> hören,<br />

geschweige denn, daß sie per Rad oder per Zug nach Detmold oder Bielefeld,<br />

nach Wuppertal oder Düsseldorf fuhren. Auch die Gemeinde Gottes wurde<br />

gefragt: Wo ist dein Bruder von der bekennenden Kirche? Wo bleibt euer Protest?<br />

Wo lagen eure Wurzeln des Lebens? In Christus? In Deutschlands Größe? Im<br />

Alten Testament <strong>und</strong> im Neuen? Oder in dem Wahnsinn, der euch vorgesprochen<br />

wurde?<br />

Gott fragt unser ganzes Volk, auch heute: Warum hast du deutsches Volk im 9.<br />

Mai 1945 mehr eine Niederlage als eine Befreiung gesehen, mehr ein Unrecht an<br />

den großen <strong>und</strong> guten Eigenschaften des Volkes als ein gnädiges Gericht über<br />

unausdenkbare Bosheit. Das Christliche Abendland in seiner Gesamtheit, in seiner<br />

Kriegsbereitschaft, in seinem Antisemitismus, in seinem Kolonialismus ist<br />

gefragt.<br />

In den 50er Jahren verstarb der bekannte Dichter Reinhold Schneider. Er hat die<br />

Aussagen des Domenikanerbischofs, von Chiapas, Bartolomé de Las Casas über<br />

seine persönlichen Erfahrungen in Peru <strong>und</strong> Mexiko vor Karl V. berichtet.<br />

Schneider schildert: „Er hörte die Peitschenhiebe, unter denen die Gefangenen<br />

starben, er sah, wie sie bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. Dies war ein<br />

Anblick der aller Orten drohte.... Auf Kuba starben in drei Monaten siebentausend<br />

Kinder, deren Eltern sich in Sklavendiensten erschöpften, unter Lasten<br />

<strong>zu</strong>sammenbrachen, verhungerten, verdursteten....“ Zu Ehre des Karl V. sei gesagt,<br />

daß er auf den Bericht hin veranlaßte, die „Neuen Gesetze“ (Verbot der Indianer-<br />

Sklaverei <strong>und</strong> die Gleichstellung der Indianer in Spanien) durch<strong>zu</strong>führen. Einige<br />

Jahre später allerdings erzwangen die Gegner die Rückkehr Las Casas nach


54<br />

Spanien. Seine Empfehlung durch die Einfuhr von Negersklaven nach Amerika<br />

die Indianer <strong>zu</strong> entlasten, bereute Las Casas später.<br />

Die Christenheit ist gefragt, wann sie sich <strong>zu</strong> ihren Sünden <strong>und</strong> den von ihr<br />

geduldeten <strong>und</strong> unter Mißbrauch des Kreuzes ge-schehenen<br />

Menschenrechtsverlet<strong>zu</strong>ngen schwersten Ranges bekennt. Ob es noch immer bei<br />

dem: „Ich weiß nicht“ bleibt. Der Jesuitenpater Alberto Hurtado schrieb erst<br />

kürzlich in verschiedenen Zeitschriften der katholischen Kirche:<br />

„Neben einer Oberschicht aus Großgr<strong>und</strong>besitzern <strong>und</strong> Großindustriellen leben in<br />

den Erdölgebieten, Salpetermienen, Bergwerken, Hafenstädten <strong>und</strong> Plantagen, die<br />

erst in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, proletarische Massen unter nahe<strong>zu</strong><br />

unvorstellbaren Lebensbedingungen.“<br />

Ein anderer schreibt aus einer anderen Ecke der Welt:<br />

„In dem verhältnismäßig kleinen asiatischen Dreieck zwischen der Westgrenze<br />

Pakistans, dem nördlichen Punkt Japans <strong>und</strong> dem Ostzipfel Javas lebt fast die<br />

Hälfte der Menschheit: Fünfh<strong>und</strong>ert Millionen Inder <strong>und</strong> Pakistaner, sechsh<strong>und</strong>ert<br />

Millionen Chinesen, achtzig Millionen Japaner, fünfzig Millionen Javaner. Das ist<br />

Hungerland (<strong>Hans</strong> Wirts).“<br />

Während des Niederschreibens der Predigt, Sommer 1995, sind die Zahlen um<br />

einige H<strong>und</strong>ertmillionen überschritten, <strong>und</strong> manche Not blieb trotz vieler<br />

Fortschritte bestehen. Man schätzt allein in Indien vierzig Millionen Kinder im<br />

Alter von 6-12 Jahren, die in der Teppichindustrie unter unvorstellbaren<br />

Bedingungen arbeiten. Die Länder holen auf, doch die Philippinen, Bangladesch<br />

<strong>und</strong> Sri Lanka, ebenso Pakistan haben es schwer, die Menschen <strong>zu</strong> ernähren. In<br />

anderen Teilen der Erde weiß man nicht wohin mit der Ernte. Die USA zahlt<br />

Prämien für Land, das man brach liegen läßt, damit die Marktpreise gehalten<br />

werden. (Anmerkung 1995: Auch die Landwirtschaft Westeuropas kennt Prämien<br />

für brachliegendes Land). „Das nennt man Ordnung“, die gegen das<br />

kommunistische Gottlosentum mit Atombomben geschützt werden muß“.<br />

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern <strong>und</strong> Brüder, sagen sie bitte nicht, all dieses<br />

gehöre nicht in die Predigt. Vieles weiß man ja sowieso aus den Medien. Es muß<br />

in der Kirche gesagt werden, damit deutlich wird, daß auch die, die mit Ernst<br />

Christen sein wollen, davon Kenntnis nehmen. Wir dürfen nicht auf Gottes Frage<br />

nach unseren Bruder antworten wie <strong>Kain</strong>: „Ich weiß nicht“. Wichtig ist, es <strong>zu</strong>


55<br />

wissen. Dann fällt auch die Beurteilung des Kommunismus etwas positiver aus,<br />

auch dann, wenn man die Weltanschauung <strong>und</strong> die Methoden ablehnt. Man<br />

entwickelt ein Gefühl dafür, daß die Beschäftigung mit der Not der Welt<br />

aufgegriffen wurde. Die Frage nach der Gerechtigkeit läßt uns nicht mehr los. Sie<br />

ist ebenso wichtig, wie die Frage nach dem Frieden. Die soziale Frage darf vom<br />

Westen nicht mit der Atombombe beantwortet werden.<br />

Friedrich Wilhelm Förster erinnert an Dante. Er sagt den Ahnungslosen, in Dantes<br />

Hölle gebe es ein Bezirk, wo diejenigen litten, die keine Selbsterkenntnis treibe<br />

<strong>und</strong> daher die Ursache ihrer Geschicke stets außer sich suchten.<br />

Bei uns in der BRD besteht das Problem der Fremdarbeiter. Wir haben sie<br />

herangeholt als ges<strong>und</strong>e, möglichst starke, junge Leute, solche mit gutem<br />

Schulabschluß, um dort <strong>zu</strong> helfen, wo es schwere <strong>und</strong> schmutzige Arbeit gab. Sie<br />

verdienten <strong>und</strong> brauchten unsere Infrastruktur, Krankenhäuser, Kindergärten,<br />

Ausbildungsstätten kaum in Anspruch nehmen. Trotzdem waren viele deutsche<br />

Arbeiter nicht gut auf sie <strong>zu</strong> sprechen. Man braucht sich nur einige Minuten mit<br />

einem Arbeiter <strong>zu</strong> unterhalten <strong>und</strong> dieses Problem an<strong>zu</strong>schneiden, dann weiß man,<br />

ob er sich solidarisch <strong>zu</strong>m Ausländer verhält. In der Solidarität zeigt sich, ob er<br />

die Frage „<strong>Kain</strong> wo ist dein Bruder <strong>Abel</strong>“ vor Gott beantworten kann. Die Jahre<br />

der eigenen Arbeitslosigkeit sind vergessen. Der Egoismus ist groß. Man kann das<br />

meiste, aber nicht alles auf die Unternehmer abschieben. Wer als Arbeiter keine<br />

Solidarität übt, wird auch als Unternehmer brutale Art an den Tag legen. Das<br />

Land Hessen hat sich in Afrika den Ruf erworben, wirklich unbürokratisch <strong>zu</strong><br />

helfen. Das ist ein hohes Lob, es zeigt aber auch, daß es vielfach anderswo nicht<br />

so ist.<br />

In der Kirche muß daran erinnert werden, daß Gott die Stimme der Ermordeten<br />

hört. Vergossenes Blut läßt sich nicht einfach <strong>zu</strong>schaufeln. Jeder Christ sollte<br />

wissen, daß Christus sein Bruder ist. Jesus hat sich hineinbegeben in die Not <strong>und</strong><br />

den Schmutz der Welt. Er hat nicht nur eine kurze Stippvisite in diese unsere<br />

Lebenswelt gemacht, sondern von der Geburt bis <strong>zu</strong>m Tode hat er solidarisch<br />

unser Leben gelebt. Nicht um seiner, sondern um unserer Sünden willen läßt er<br />

sich im Jordan taufen. Er läßt sich behaften, für das was wir verdorben <strong>und</strong> falsch<br />

gemacht haben. Christus hat sich für uns verpflichtet, deshalb hat er das Recht für<br />

die, die ihm nachfolgen, an ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Mitmenschen


56<br />

<strong>zu</strong> mahnen. Wer den Mitmenschen vergißt, wer seine Not nicht <strong>zu</strong>r Kenntnis<br />

nehmen will, weil er meint, er habe genug <strong>zu</strong> tragen, der steht auf der Seite des<br />

<strong>Kain</strong>s. Der eine mordet wissentlich, der andere beteiligt sich am Mord <strong>und</strong> ein<br />

Dritter schließt vor der Realität die Augen <strong>und</strong> möchte nicht gestört sein. Sie<br />

handeln alle verantwortungslos. Die Gottesfrage stellt sich wesentlich als soziale<br />

Frage. Gott nimmt uns unseren Glauben nicht mehr ab, wenn wir unsere<br />

Mitmenschlichkeit vergessen. Johannes in seinem ersten Brief: „Wer sagt, er sei<br />

im Licht <strong>und</strong> haßt seinen Bruder (gemeint ist der Mitmensch), der ist noch in der<br />

Finsternis (1.Johannes, Kapitel 2,9). „ „Wenn jemand spricht, ich liebe Gott, <strong>und</strong><br />

haßt seinen Bruder, der ist ein Lügner (1.Johannes 4 Vers 20a).<br />

Die Geschichte von <strong>Kain</strong> lehrt uns, daß wir mit einem billigen „Ich weiß nicht“<br />

uns auf dem Wege des Mörders befinden. Zugegebenermaßen hat jeder nicht die<br />

gleiche Verantwortung, <strong>zu</strong>gegebenermaßen auch nicht die gleichen<br />

Möglichkeiten, doch alle haben von Gott ein Herz, das mitbestimmend sein soll<br />

durch die Barmherzigkeit, die wir alle von Gott erfahren. Wir müssen heute offen<br />

sein auch für die, die nicht gleichen Glaubens <strong>und</strong> gleicher Nation sind, für die,<br />

die es uns oft nicht leicht machen. Weil in uns nicht nur der Christus als <strong>Abel</strong><br />

wohnt, sondern auch der Mörder, der die Verantwortung leugnet, stehen wir im<br />

Kampf zwischen Liebe <strong>und</strong> Haß, zwischen Verantwortung <strong>und</strong> Gleichgültigkeit,<br />

zwischen Bereitschaft <strong>und</strong> Ablehnung. So stehen wir in der Gefahr anderen <strong>zu</strong>m<br />

Mörder <strong>zu</strong> werden. Darum Gottes Ruf: „<strong>Abel</strong>, wo ist dein Bruder <strong>Kain</strong>?“ Mit<br />

deinem „Ich weiß nicht“, kommst du nicht durch. Es sollte sich eigentlich<br />

erübrigen, den Kriegsplanern <strong>zu</strong> sagen, daß sie sich ganz besonders auf den Wege<br />

des Mordes befinden. Wer meint mit Gewalt die Interessengegensätze lösen <strong>zu</strong><br />

können, ist auf dem Weg <strong>zu</strong>m Mord.


57<br />

Gott verfügt allein über Rache <strong>und</strong> Sühne 1. Mose 4, Vers 10-14<br />

10. „Er (Gott) aber sprach: Was hat du getan? Die Stimme des Blutes deines<br />

Bruders schreit <strong>zu</strong> mir von der Erde 11. <strong>und</strong> nun verflucht seist du auf der Erde,<br />

die ihr Maul aufgetan hat <strong>und</strong> deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.<br />

12. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort, seinen Ertrag nicht<br />

geben. Unstet <strong>und</strong> flüchtig sollst du sein auf Erden. <strong>Kain</strong> aber sprach <strong>zu</strong> dem<br />

Herrn: Meine Strafe ist <strong>zu</strong> schwer, als daß ich sie tragen könnte. 14. Siehe du<br />

treibst mich heute vom Acker <strong>und</strong> ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen<br />

<strong>und</strong> muß unstet <strong>und</strong> flüchtig sein auf Erden. So wird mir es gehen, daß mich tot<br />

schlägt, wer mich findet. Aber der Herr sprach <strong>zu</strong> ihm: Nein, sondern wer <strong>Kain</strong><br />

totschlägt, der soll siebenfältig gerächt werden.“<br />

Seltsam von Sühne ist keine Rede <strong>und</strong> auch nicht von der Rache. Die Rache hat<br />

Gott sich selbst vorbehalten <strong>und</strong> die Sühne vollzieht er an Christus. Gott allein ist<br />

Herr des Lebens, weil er die Quelle des Lebens ist. Es ist fast <strong>und</strong>enkbar, daß<br />

dieses Votum Gottes von Israel <strong>und</strong> der Christenheit <strong>und</strong> darüber hinaus von allen<br />

Völkern der Erde so gründlich mißachtet wurde. Das Gesetz ist am Sinai<br />

gekommen <strong>und</strong> enthält auch Anweisungen für die Todesstrafe. Es ist<br />

hineingekommen in der Zwischenzeit zwischen dem B<strong>und</strong> mit Abraham <strong>und</strong> dem<br />

B<strong>und</strong>, den Gott in Jesus Christus geschlossen hat. Im Pentateuch (In den 5<br />

Büchern Moses) wird die Wiedergutmachung weithin geregelt, eine Art von<br />

Rechtsprechung, die nicht auf Sühne ausgerichtet ist, geschweige denn auf Rache,<br />

sondern weithin auf Herstellung eines geregelten Miteinanders. Es könnte die<br />

Frage aufkommen, warum hier nur das Verhältnis der Mitmenschen untereinander<br />

bedacht wird. Jeder Mord ist ein willkürliches Einbrechen in Gottes Bereich. Er,<br />

der Schöpfer, hat sich die Macht über das Leben vorbehalten. Der Mensch, auch<br />

der richtende Mensch, der von anderen <strong>zu</strong>m Richter eingesetzte, kann <strong>und</strong> darf<br />

<strong>und</strong> braucht nicht in seinem Amt die Sühne an Gott mitein<strong>zu</strong>schließen. Er hat nur<br />

das Miteinander <strong>zu</strong> regeln. Wo Menschen des Menschen Mörder werden, haben<br />

sie in Gottes Recht eingegriffen. Die Sühne für die Schuld des Mörders erbringt<br />

Jesus Christus am Kreuz. Für die anderen bleibt das geordnete Zusammenleben.


58<br />

<strong>Kain</strong> ist für eine Weile ausgeschlossen, aber nicht für die Ewigkeit. Mord ist eine<br />

schwere Tat <strong>und</strong> wir leben heute <strong>und</strong> eigentlich schon nach dem Sündenfall in der<br />

Wolfszeit. Wo kommen wir hin, wenn jeder für sich die Rache beansprucht?<br />

„Mein ist die Rache“, redet Gott.<br />

Von da aus ist nicht nur die Blutrache, sondern auch die Todesstrafe geächtet.<br />

Gott nimmt den Mörder gerade<strong>zu</strong> in Schutz <strong>und</strong> wenn er von Gott in Schutz<br />

genommen ist, darf <strong>und</strong> kann der Mensch nicht mehr mit der Todesstrafe drohen<br />

<strong>und</strong> erst recht nicht mehr an Mitmenschen, die schuldig geworden sind, die<br />

Todesstrafe vollstrecken. Sie wirkt auch nicht abschreckend, wo angeblich andere<br />

Mittel nicht greifen. Die Resozialisierung des Mörders <strong>und</strong> die<br />

Wiedergutmachung am Opfer stehen im Vordergr<strong>und</strong>, weil sie wichtig sind für<br />

das gemeinsame Zusammenleben. Was im Einzelfall gilt, gilt auch für Menschen<br />

die sich <strong>zu</strong> einem Staatsgebilde <strong>zu</strong>sammen geschlossen haben. Woher nehmen die<br />

Regierungen das Recht Menschen in den Krieg <strong>zu</strong> treiben, Kriege <strong>zu</strong> planen,<br />

Kriege als Notwendigkeit ideologisch <strong>zu</strong> untermauern.<br />

Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.<br />

Dieser Satz bleibt als f<strong>und</strong>amentale Aussage bestehen, sie ist aber <strong>zu</strong>gleich an<br />

zwei wesentlichen Punkten außer Kurs gesetzt. Gottes Gnade kann ein Gericht<br />

aufheben, abmildern oder auf eine Zeitlang aufschieben. Gottes Langmut kann das<br />

Gericht anstehen lassen, bis seine Zeit kommt. Er alleine, kann das Böse reifen<br />

lassen, bis <strong>zu</strong>r letzten „Vollendung“. Gott ergreift Partei für die Unterdrückten,<br />

für die Geächteten, für die Geschändeten, für die Versklavten, für die<br />

Erniedrigten, für die Gebeugten, für die Geplagten, für die Erkrankten <strong>und</strong><br />

Getöteten, für die Verdammten dieser Erde, deren Klagen <strong>und</strong> deren Blut <strong>zu</strong>m<br />

Himmel schreit. Darum will Gott unsere Liebe <strong>zu</strong> sich selbst an unserem<br />

Verhalten <strong>zu</strong>m Mitmenschen ablesen. Martin Luther meint: Es ist bald gesagt:<br />

„Ich habe Gott lieb, denn er kommt persönlich nicht <strong>zu</strong> uns......aber man sehe, wie<br />

wir uns gegen die Armen Leute halten, so wird´s sichs finden, ob wir Gott lieb<br />

haben“. Doch hier in unserer Geschichte ergreift Gott seltsamer Weise nicht nur<br />

Partei für den Ermordeten, sondern auch für den Mörder. Man möchte meinen,<br />

schon hier schauen wir in das Herz Gottes, wie Jesus es uns geschildert hat: Der<br />

heilige Gott, der selbst der Anwalt seines Reiches ist <strong>und</strong> für die Rechtsordnung<br />

sorgt, läßt den an seiner Rechtordnung schuldig gewordenen Menschen nicht


59<br />

fallen, sondern nimmt ihn wie <strong>Kain</strong> unter seinen Schutz. Gott liefert ihn, den<br />

Mörder, nicht der menschlich gesehenen gerechten Rache aus. <strong>Kain</strong> hatte von<br />

seinen anderen Geschwistern <strong>und</strong> von der Verwandtschaft <strong>Abel</strong>s, also von der<br />

Seite des Getöteten, also schon vorhandenen oder noch <strong>zu</strong>künftigen Nachkommen<br />

Adams Rache <strong>zu</strong> befürchten. Es scheint mit der Sünde <strong>Kain</strong>s die sogenannte<br />

Naturlehre bei seinen Geschwistern entstanden <strong>zu</strong> sein, sie seien berufen <strong>Abel</strong> <strong>zu</strong><br />

rächen. Sowie Eva im Paradies einer falschen Glaubenslehre anhing in der<br />

Meinung, mit dem ersten Sohn den Heiland der Welt geboren <strong>zu</strong> haben, so<br />

entsteht bei den anderen im zwischenmenschlichen Bereich eine falsche Ethik, die<br />

als Naturlehre bis heute gültig ist. Man hat zwar dem einzelnen den Mord <strong>und</strong> die<br />

Rache aus der Hand genommen, dieselbe aber Menschen <strong>und</strong> Regierungen<br />

<strong>zu</strong>gesprochen, im Kollektivmaßstab dieselbe anwenden <strong>zu</strong> dürfen. Und so kam es<br />

<strong>zu</strong> der bei vielen unausrottbaren Meinung, daß vergossenes Blut wieder Blut<br />

fordere, wenn es durch den Staat nur sanktioniert sei, sodann sei auch das Morden<br />

auf staatlicher Ebene <strong>zu</strong>r Verteidigung vorgegebener Lebensinteressen mit ethisch<br />

untermauerten Begründungen rechtens. So behauptet sich der Krieg bis heute. Das<br />

ist der Fluch der Bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären. Alle<br />

Bösewichter seit <strong>Kain</strong> <strong>und</strong> wer gehörte von Natur aus nicht <strong>zu</strong> ihnen, verderben<br />

somit nicht nur den Mitmenschen durch die Schuld des Mordes, sie entfachen<br />

auch in den anderen böse Instinkte der Rache <strong>und</strong> der Vergeltung. Ja sie erzeugen<br />

auch einen übertriebenen Hang <strong>zu</strong>r Sicherung des eigenen Lebens. Dieser bringt<br />

es mit sich, Angriffkriege <strong>zu</strong> führen, um den anderen <strong>zu</strong>vor<strong>zu</strong>kommen. Ja, die<br />

Angst hat <strong>zu</strong> übertriebenen Maßnahmen, <strong>zu</strong> überhöhter Rüstung immer wieder<br />

motiviert. Die Wolfszeit ist da. Gott sieht voraus, was kommt. Einer wird des<br />

anderen Mörder. Wie Mose infolge der Hartherzigkeit der Menschen die<br />

Scheidung <strong>zu</strong>gelassen hat, so hat Gott offensichtlich die Obrigkeit <strong>zu</strong>r Strafe<br />

gesetzt, um den Menschen ein sichtbares <strong>und</strong> mächtiges Halt entgegen-<strong>zu</strong>setzen.<br />

Die Bosheit wird eingedämmt. Leider wird oft der Bock <strong>zu</strong>m Gärtner. Die<br />

Haushalter halten nicht haus, weder mit den ihnen anvertrauten Gütern, noch mit<br />

der ihnen anvertrauten Macht. Das Unrecht wird vergrößert, wenn man statt<br />

Ermöglichung <strong>und</strong> Förderung des Lebens, durch überhöhte Rüstung <strong>und</strong><br />

irrsinniges Geltungsbewußtsein Not schafft <strong>und</strong> durch Unrecht Rechtsunsicherheit<br />

<strong>und</strong> durch Krieg den Mord <strong>zu</strong>m Massenmord macht. Man muß sich nicht


60<br />

w<strong>und</strong>ern, wenn das Fragen nach dem gerechten Gott aufkommt, der solches alles<br />

duldet. Man sehe sich einmal die Staatsorgane im Neuen Testament an, wie sie<br />

sich <strong>und</strong> die staatliche Macht blamieren. Herodes veranlaßt den bethlehemitischen<br />

Kindermord, Pilatus richtet bei einem Gottesdienst ein Blutbad an, um die<br />

Untergr<strong>und</strong>kämpfer aus<strong>zu</strong>heben. Er begeht einen Justizmord an Jesus, um die<br />

Gunst des Volkes <strong>zu</strong> behalten <strong>und</strong> um seinen Posten in der Reichshauptstadt Rom<br />

nicht <strong>zu</strong> untergraben. Herodes Antipas, der Sohn des Kindermörders, läßt<br />

Johannes inhaftieren <strong>und</strong> dann enthaupten auf Wunsch seiner Tochter. Der Enkel<br />

des Kindermörders, ebenfalls ein Herodiander, läßt aus Prestigegründen den<br />

Apostel Jacobus hinrichten <strong>und</strong> will <strong>zu</strong>r Erlangung der Gunst des Volkes Petrus<br />

<strong>und</strong> anderen Christen dasselbe Los bereiten. Wir erleben nach dem Tode der<br />

ersten beiden Kaiser, die die Demokratie ablösten. Augustus <strong>und</strong> Claudius, im<br />

Reich ein böses Morden vermittels der Todesstrafe. Die Ablösung von Nero<br />

erfolgte durch drei Generäle in einem Jahr: Galba, Otho <strong>und</strong> Vitellius. Die<br />

jeweiligen Vorgänger starben eines gewaltsamen Todes. Nach ein paar dann<br />

folgenden guten Herrschern ging das große Morden der Kaiser weiter. Wir<br />

überspringen den Untergang Westroms <strong>und</strong> wenden uns dem Mittelalter <strong>zu</strong>. Dort<br />

ersann die Justiz besonders grausame Strafen, um Menschen vom Morden<br />

ab<strong>zu</strong>schrecken <strong>und</strong> um Ordnung ein<strong>zu</strong>bringen. Rädern <strong>und</strong> Rösten, Vierteilen <strong>und</strong><br />

Pfählen, Zu-Tode-pflügen, Abschaben des Fleisches bei lebendigem Leibe,<br />

Eingraben in die Erde bis <strong>zu</strong>m Ersticken, usw.. Alles im Namen einer<br />

richterlichen Behörde. Gott begnadigt in unserer Geschichte den <strong>Kain</strong> mit<br />

Erhaltung seines Lebens, weil, so lese ich in einem Kommentar <strong>zu</strong>r Erläuterung<br />

dieser Bibelstelle, 1878, „weil Gott von Anfang an die Strafe in seine Hand<br />

nehmen <strong>und</strong> das Menschenleben vor der Leidenschaft <strong>und</strong> menschlicher Willkür<br />

menschlicher Rachsucht schützen wollte. Vorsicht darum heute auch mit unseren<br />

Urteilen, der Mörder habe sein Leben verwirkt <strong>und</strong> sei exemplarisch <strong>zu</strong> bestrafen.<br />

Im Dritten Reich wollte man sich ein besonders gutes völkisches Image geben <strong>und</strong><br />

verschwieg die Morde, fällte aber viele Todesurteile.<br />

Gott hat dem <strong>Kain</strong> ein Zeichen gegeben, wie immer auch das Zeichen ausgesehen<br />

haben mag, es diente seinem Schutz <strong>und</strong> nicht, um ihn <strong>zu</strong> brandmarken. Gott<br />

schiebt der Blutrache einen Riegel vor. In einem modernen Andachtsbuch heißt<br />

es: Das <strong>Kain</strong>s Zeichen aber soll dieser unseligen Kettenreaktion, die schließlich


61<br />

die Schöpfung im Chaos untergehen lassen müßte, Einhalt gebieten. So trägt Gott<br />

diese <strong>Kain</strong>s Welt. Er duldet nicht, daß sie sich selbst <strong>zu</strong>gr<strong>und</strong>e richtet. Vor 200<br />

Jahren hat man noch fröhlich getötet <strong>und</strong> es gab <strong>zu</strong>r Zeit Goethes noch 200<br />

Delikte, auf die die Todesstrafe stand. Die Bibelstelle vor 200 Jahren wurde<br />

damals entsprechend so interpretiert: Gott habe wohl das Recht <strong>zu</strong> begnadigen,<br />

nicht aber der Mensch. Wie soll der Mensch anders von Gottes Begnadigung<br />

Kenntnis nehmen als durch sein Wort, das uns die Rache verbietet, oder durch<br />

Worte des Neuen Testamentes: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel<br />

barmherzig ist“. Die Regierungen maßen sich ein Recht an, das sie nicht haben.<br />

Gerne zieht man <strong>zu</strong>r Begründung der Todesstrafe das Alte Testament heran. Das<br />

Gesetz Gottes ist, wie schon vorher gesagt, zwischenzeitlich gültig gewesen <strong>zu</strong>r<br />

Eindämmung der Sünde. Es hat seine Aufgabe nicht geschafft. Ehebruch,<br />

Gotteslästerung, Insult gegen die Eltern, Schlemmen am Versöhnungstag,<br />

Blutschande <strong>und</strong> vieles andere mehr ist geschehen <strong>und</strong> geschieht. Ich werde an<br />

F<strong>und</strong>amentalisten im Iran erinnert. Ebenso an den Kaiser Tiberius, der mit<br />

drakonischen Maßnahmen im verlotterten Rom die Ordnung herstellen wollte <strong>und</strong><br />

gleich bei seiner Tochter kapitulieren mußte. Die Menschheit wird zwar nicht auf<br />

Strafen verzichten können. Viele sagen jedoch, die Welt ist mit der Bergpredigt<br />

nicht <strong>zu</strong> regieren. Mit diesem Satz werden dann auch die Bluttaten des Staates<br />

entschuldigt. Was dem einzelnen verweigert ist, wird deshalb nicht besser, wenn<br />

es von einer Regierung sanktioniert wird. Im Krieg werden alle Gebote übertreten.<br />

Die Bergpredigt will uns an Gottes Barmherzigkeit erinnern. Die Welt wird<br />

unregierbar, wenn sie nicht endlich von der Bergpredigt Kenntnis nimmt. Mit den<br />

<strong>Kain</strong>s Zeichen hat es noch eine besondere Bewandtnis. Es geht also nicht nur um<br />

die Erhaltung der Welt, es geht um die Rettung der Welt. Viele Erläuterungen <strong>zu</strong><br />

den biblischen Texten fordern da<strong>zu</strong> auf, uns alle in <strong>Kain</strong> wieder<strong>zu</strong>erkennen.<br />

Manche reden auch von der Bürde des weißen Mannes, die in seiner Mitschuld<br />

am Krieg <strong>und</strong> an der Verhet<strong>zu</strong>ng besteht. Der Krieg beginnt bekanntlich mit der<br />

Lüge. Er wird genährt von abschätzigen Reden <strong>und</strong> diffamierenden Wörtern:<br />

Pasalacken, Polacken, Gesindel, Ungeziefer, usw., genährt von Ideologien, wie<br />

„Volk ohne Land“, „Bedrohung des Vaterlandes“, Feindbildern <strong>und</strong> dergleichen.<br />

Friedrich I verhängte im Jahre 1184 über jede Ketzerei die Reichsacht. Dreizehn<br />

Jahre später im Aragon stand darauf schon die Todesstrafe. Ludwig IX. von


62<br />

Frankreich <strong>und</strong> Friedrich II. von Hohenstaufen verpflichteten sich <strong>zu</strong>m Voll<strong>zu</strong>g<br />

der Todesstrafe bei Glaubensabweichungen. Im Neuen Testament wird Priester<br />

<strong>und</strong> Levit <strong>zu</strong>m Mörder, weil sie den Beistand eines Bedrängten verweigerten.<br />

Jesus wird <strong>zu</strong>m Tode verurteilt, weil man ihm auf dem Wege <strong>zu</strong> Gott nicht folgen<br />

will. Als Christen stellen wir uns den Ablauf der Kettenreaktion „auf einen groben<br />

Klotz ein grober Keil“ entgegen. Wir glauben nicht an die Kettenreaktion,<br />

sondern an Gottes Gnade.


63<br />

Der getreuen Gefährtin des Lebens als Nachruf<br />

Als du noch lebtest,<br />

hatte alles am Tage seine Zeit:<br />

Nach der Ruhe der Nacht,<br />

nach der Kühle des Wassers am Morgen das Frühstück,<br />

die Arbeit, das Essen am Mittag,<br />

die St<strong>und</strong>e im Wald,<br />

das Lesen in Bibel <strong>und</strong> Buch,<br />

Gebet <strong>und</strong> Mozart am Abend.<br />

Da du heimgingst <strong>zu</strong> Gott,<br />

bin ich gelöst von der Zeit.<br />

Nun kann ich schlafen am Tag<br />

<strong>und</strong> lesen bei Nacht,<br />

das Frühstück vergessen,<br />

<strong>und</strong> Mittag essen am Abend.<br />

Es ruft mich keiner,<br />

keiner mahnt: „Es wird Zeit“.<br />

Ich bin frei von der Zeit <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>bar.<br />

Sonst kehrte ich heim<br />

<strong>und</strong> immer eilte der Fuß<br />

die letzte Strecke vorm Haus.<br />

Was auch gewesen,<br />

immer stand Freude bei dir <strong>und</strong> bei mir,<br />

wenn ich da war, fast immer <strong>zu</strong>r Zeit.<br />

Nun, auf der Straße <strong>zu</strong>m Haus,<br />

zögert mein Schritt.<br />

Mit Blei an den Füßen<br />

betrete ich das Heim,<br />

weil mich keiner vermißt<br />

<strong>und</strong> keiner mich mahnt:<br />

„Iß erstmal die Suppe,<br />

den Pudding, den Kuchen.<br />

Nun sag mal: Wie wars denn?“<br />

Willkür beherrscht jetzt mein Tun:<br />

Mal lesen, mal essen,<br />

mal an die Luft gehen <strong>und</strong> mal an den Schreibtisch<br />

<strong>und</strong> schnell noch der Einkauf.<br />

Vieles <strong>zu</strong>r Unzeit, was solls,<br />

ich hab ja Zeit <strong>und</strong> muß die Ordnung<br />

der St<strong>und</strong>en selbstherrlich bestimmen.<br />

Wie du mir fehlst, als Kumpel, als Mutter,


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in vielfacher Weise besorgt um mein Wohl.<br />

Mir fehlt auch die Sorge um dich.<br />

Erst nach Tagen <strong>und</strong> Wochen bemerkt<br />

das Herz die bleibende Leere.<br />

Frei sein für alles <strong>und</strong> jedes macht Not<br />

<strong>und</strong> ist ernstlicher Mangel.<br />

Keiner erwartet von mir die Begleitung.<br />

Mich selbst fordert kein Aufruf <strong>und</strong> Anruf,<br />

es sei denn, daß Gott sagt:<br />

„Fang an“ oder „Hör auf mit der Arbeit“<br />

doch Gott überhört man.<br />

Die Gefährtin, von Gott mir gegeben,<br />

war Gottes Gehilfin <strong>und</strong> unüberhörbar<br />

40 gefüllte Jahre des Lebens.<br />

Nun bin ich allein.<br />

Nun bin ich <strong>zu</strong>hause.<br />

Und doch nicht <strong>zu</strong>haus.<br />

Weil keiner den Arm um mich legt<br />

<strong>und</strong> sagt: „Gut, daß du da bist.<br />

Ruhe erst ein wenig,<br />

dann sehen wir weiter.“<br />

Du machtest dir Mühe mit dem,<br />

was wir aßen,<br />

um das, was man anzog.<br />

Mir ist die Mühe für mich<br />

nicht so wichtig.<br />

Es lohnt nicht.<br />

Leg ich mich nieder <strong>zu</strong>m Schlaf,<br />

frisch bezogen das andere Bett,<br />

unberührt <strong>und</strong> funktionslos steht es im Raum.<br />

Wie oft in den Tagen der Krankheit<br />

hob ich lauschend das Ohr,<br />

ob du schliefst oder wach warst,<br />

in Angst auch, ob dein Atem noch ging.<br />

Nun brauch ich nicht mehr in Angst <strong>zu</strong> sein<br />

um dich, nur noch um mich.


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Nun bin ich so frei wie ich war,<br />

ehe wir uns fanden.<br />

Ich gehöre nun keinem<br />

Ich weiß, du sagst: Du gehörst Gott,<br />

drum höre auf ihn.<br />

Ich weiß, du hast recht.<br />

Und doch ist es schwer.<br />

Doch Weinen ist Freude<br />

<strong>und</strong> Tränen bring ich für dich.<br />

Das bringt mir den Trost,<br />

weil ich weiß, ich hatte dich lieb.<br />

Gott gab dich mir.<br />

Nun hat er die Gabe als Gabe<br />

beendet,<br />

da hier in der Zeit<br />

ein jedes Geschick seine Zeit hat:<br />

Auch Umarmen <strong>und</strong> Herzen,<br />

umsorgt sein <strong>und</strong> Sorge für dich,<br />

wie nun auch das Trauern.<br />

Wenn du mich siehst, sei getrost,<br />

ich komme <strong>zu</strong>recht mit der Zeit<br />

in der Zeit mit der Zeit<br />

<strong>und</strong> bin dankbar für 40 Jahre des Glücks.

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