Leseprobe - magi-digitalis

anklagen, und wenn es zur Verhandlung kam, dann würde es
heißen, dass sie den Mann ermutigt hätte. Welche anständige
Frau bediente schließlich in einer Taverne, schlimmer noch,
einer wie dem Greenleaf, wo Gesindel fragwürdigster Moral
verkehrte?
Aber vielleicht war er gar nicht tot. Mit zitternden Fingern
suchte sie seinen Puls. Sie fühlte nichts, aber sie kannte sich
auch nicht aus damit, einen Bewusstlosen von einem Toten zu
unterscheiden. Zuerst zaghaft, dann mit mehr Gewalt
schüttelte sie ihn an der Schulter. Sein Kopf rollte hin und her,
die Lider blieben geschlossen. Wenn sie eine Glasscherbe
gehabt hätte, und etwas mehr Licht, hätte sie seinen
Atemhauch überprüfen können.
Schritte näherten sich. Mein Gott, sie konnte jeden Moment
neben der Leiche entdeckt werden. Sie klaubte den
zerknitterten Briefumschlag vom Boden auf. Hier konnte sie
nicht bleiben. Beim Aufstehen streifte ihr Blick seinen Gürtel.
Mit schrecklicher Klarheit dämmerte ihr, dass sie nie mehr
hierher zurückkehren konnte. Das Schicksal hatte für sie
entschieden, und wenn sie seinem Ruf folgte, würde sie Geld
brauchen. Außerdem hatte er wohl kaum noch Verwendung
für seine Münzen, wenn er tot war. Sie schob den Anflug
moralischer Bedenken zur Seite und pflückte die Geldkatze ab.
Der Beutel fühlte sich erfreulich schwer an.
Die Schritte auf der Treppe verstummten. Mit einem
hörbaren Knarren wurde der Riegel zurückgeschoben. Hastig
löschte sie die Lampe.
Die Tür flog auf. Ein zarter Lichtstreif fiel in die Dunkelheit.
»Sybil?« Die zaghafte Stimme des Burschen. »Bist du hier
unten?«
Sie richtete ihr Umschlagtuch so, dass es das zerrissene
Mieder verdeckte, und verbarg den Brief und die Börse unter
den Zipfeln.
»Ich komme.« Ihre Stimme klang ihr ganz heiser in den
Ohren. Hoffentlich bemerkte der Junge es nicht.
»Molly sagt, wir sollen Zwiebeln mit hochbringen.« Er trat in
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