PDF mit 722 KB - Studiengang Osteuropastudien
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MUM 03 | 2006 PROFILE<br />
14<br />
SERIE: „KOSMOS LMU“<br />
IM BILDUNGSEXIL<br />
Das ist keine normale Studentengeschichte. Sie handelt nicht von<br />
Vorlesungen, Partys und lustigen Geschichten aus der Mensa. Olga<br />
Kviatovich hat <strong>mit</strong> 23 Jahren schon mehr erlebt als jeder Dozent<br />
in einem Seminar über Demokratie ver<strong>mit</strong>teln kann. Freiheit ist<br />
für sie kein abstrakter Begriff aus der politischen Philosophie, Freiheit<br />
ist für sie zum Beispiel ein Studium in München.<br />
Schon als kleines Mädchen hat Olga Kviatovich sich am liebsten <strong>mit</strong><br />
Büchern beschäftigt. In der Schule gehörte sie zu den Besten. Sie<br />
brachte lauter Fünfen nach Hause, die beste Note in Weißrussland.<br />
Die Eltern unterstützten ihre Tochter nach Kräften und brachten auch<br />
das Geld für ein Studium auf. 2001 begann Olga ihr Wirtschaftsstudium<br />
an der Europäischen Humanistischen Universität EHU in<br />
Minsk. Wer ihre Aufnahmetests bestand, gehörte zu den klugen Köpfen<br />
im Land. Zudem war die EHU die einzige nichtstaatliche Hochschule<br />
im diktatorisch regierten Weißrussland. Zahlreiche Gastdozenten<br />
aus dem Ausland lehrten an der EHU, sie war international<br />
angesehen und bei den Studenten beliebt. Bis zu ihrer Schließung.<br />
Schon lange war die EHU, an der Olga studierte, dem Regime von<br />
Präsident Lukaschenko ein Dorn im Auge gewesen. Er wollte keine<br />
westlich geprägte Elite, die ihm gefährlich werden könnte. Also<br />
forderte das Regime den Rektor der EHU zum Rücktritt auf. Der<br />
ging aber nicht freiwillig, und die Universität stand hinter ihm. Mit<br />
einem bürokratischen Trick zwang der weißrussische Bildungsminister<br />
die unabhängige Hochschule schließlich in die Knie: Im<br />
Juli 2004 kündigte er den Mietvertrag für die Unigebäude fristlos<br />
und entzog der Uni fünf Tage später die Lizenz. Begründung: Einer<br />
Universität ohne Gebäude könne er keine Lizenz erteilen.<br />
Olga Kviatovich war damals gerade in Wien in einem internationalen<br />
Workcamp. Als sie zwei Wochen später nach Minsk zurückkam,<br />
gab es ihre Uni nicht mehr. „Ich stand plötzlich auf der Straße“,<br />
erinnert sich Olga. Gemeinsam <strong>mit</strong> vielen ihrer Kommilitonen nahm<br />
sie den Kampf für die EHU auf. „Wir haben unsere Universität alle<br />
sehr geliebt, sie war etwas ganz besonderes“, sagt Olga. Die Studenten<br />
demonstrierten in Minsk, immer bedrängt von Regierungsmilizen.<br />
Professoren, Dozenten und Studierende schickten E-Mails,<br />
Berichte und Petitionen in die Welt, um auf ihr Schicksal aufmerksam<br />
zu machen.Damals fehlten Olga noch zwei Semester bis zum<br />
Abschluss, doch an eine der staatlich gelenkten Universitäten in<br />
Minsk wollte sie nicht gehen. Sie war überglücklich, als ein Angebot<br />
aus Deutschland kam: Die Präsidentin der Europa-Universität<br />
Viadrina, Professor Gesine Schwan, lud 40 EHU'ler ein, ein Jahr an<br />
der Universität in Frankfurt/Oder zu studieren. Der DAAD, die Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
und andere vergaben Stipendien an die<br />
weißrussischen Exilstudenten. Olga zweigte einen Teil des Geldes<br />
ab und zahlte es in einen Sozialfonds ein, der andere weniger glückliche<br />
Studenten der EHU unterstützte. Für Olga wurde es in Frankfurt/Oder<br />
ein gutes Jahr. Ein Studium in Deutschland war schon lange<br />
ihr Traum gewesen. An der kleinen, überschaubaren Viadrina<br />
wurde sie herzlich aufgenommen, die internationale Atmosphäre<br />
<strong>mit</strong> vielen polnischen Studenten war so, dass sich Olga heimisch<br />
fühlte. Sie konnte dort sogar ihr Studium beenden, <strong>mit</strong> einem Zeugnis<br />
von der EHU. Olgas geliebte Hochschule gibt es nämlich wieder<br />
– als Exiluni im litauischen Vilnius.<br />
EXPERIMENT MÜNCHEN<br />
Anschließend bewarb Olga Kviatovich sich an der LMU für den<br />
Masterstudiengang <strong>Osteuropastudien</strong> – und wurde gerade noch<br />
rechtzeitig für eine Verlängerung ihres Visums angenommen. Seit<br />
Oktober letzten Jahres ist sie in München. Hier kämpft sie noch ein<br />
wenig <strong>mit</strong> den Tücken einer Großstadtuniversität. Sie wohnt weit<br />
draußen im Studentenwohnheim in Feldmoching, der MVV-Plan ist<br />
ihr ständiger Begleiter. Auch das Studium ist für Olga, wie sie lachend<br />
erklärt, „ein Experiment“. Ihr Hauptfach heißt „Interkulturelle Kommunikation“,<br />
Neuland für die Weißrussin. Für Olga ist vor allem die<br />
Koordinatorin des Osteuropa-<strong>Studiengang</strong>s, Annette Winkelmann,<br />
ein Segen. Doch auch die Professoren seien sehr offen für Gespräche<br />
und stellten sich auf die Gruppe der Elitestudenten ein.<br />
Trotz aller anfänglichen Schwierigkeiten ist Olga sehr dankbar für<br />
den Studienplatz in München. Mit 16 war sie auf einer Busreise
SERIE<br />
KOSMOS LMU<br />
Ausländische Studentinnen und Studenten gehören zum Erscheinungsbild<br />
der LMU. Von knapp 47.000 Studierenden<br />
kommen etwa 7.500 nicht aus Deutschland. Junge Chinesen,<br />
US-Amerikaner oder Brasilianer bereichern <strong>mit</strong> ihren verschiedenen<br />
kulturellen Hintergründen die LMU-Community.<br />
Das MünchnerUni Magazin stellt einige der ausländischen<br />
Studierenden in der neuen Serie „Kosmos LMU“ vor.<br />
3 In München kämpft Olga Kviatovich noch <strong>mit</strong> den Tücken der<br />
Großstadtuni. Vorerst bleibt wenig Zeit für das Leben ohne Bücher.<br />
MUM 03 | 2006 PROFILE<br />
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durch Europa nach Bayern gekommen und erinnert sich noch an<br />
ihre Begeisterung damals: „Oh Gott, das ist so eine schöne Stadt.<br />
Wie glücklich müssen die Leute sein, die hier studieren dürfen!“<br />
Für die Zeit in München hat Olga Kviatovich sich einiges vorgenommen.<br />
Passend zu ihrem neuen Hauptfach will sie nicht nur Zeit<br />
<strong>mit</strong> den Büchern verbringen. Mit dem Internationalen Universitätsclub<br />
war sie bereits zum Rafting in Österreich. Reisen steht auch<br />
für die nächste Zeit auf dem Programm. Für den Sommer sucht sie<br />
noch nach einem Praktikumsplatz in einem deutsch-tschechischen<br />
Unternehmen. Dort will sie interkulturelle Kommunikation in der<br />
Praxis kennen lernen.<br />
Olgas nächstes Ziel ist der Abschluss im Herbst 2007. An eine Rückkehr<br />
in die Heimat glaubt sie erst einmal nicht. „Was wartet auf mich<br />
zuhause?“, fragt sie. Die Leute in ihrer Heimat haben Angst vor dem<br />
Regime Lukaschenko, aber auch vor Veränderung. Für die weißrussische<br />
Wirtschaft sieht sie auch wenig Perspektiven. „Sehr gut ausgebildete<br />
Leute verdienen in Weißrussland oft nicht mehr als 300<br />
Euro“, erzählt die Studentin. „Um mehr zu bekommen, braucht man<br />
entweder gute Beziehungen oder man muss viele Jahre hart arbeiten.<br />
In meinem Fall scheint nur die zweite Variante realistisch zu<br />
sein“, sagt Olga.<br />
Es wird also vorerst bei Besuchen in der Heimat bleiben. Zweimal<br />
im Jahr setzt Olga sich in den Reisebus – 2.500 Kilometer sind es<br />
bis nach Minsk. Fliegen wäre zu teuer. Olga vermisst ihre Eltern<br />
und Großeltern sehr, und Chats im Internet scheitern an den<br />
schlechten Internetverbindungen in Weißrussland. Warum auch die<br />
Telefongespräche so teuer sind, will Olga noch herausfinden. Bis<br />
dahin versucht sie in den kurzen Telefonaten, nur die positiven<br />
Dinge zu erzählen. Die Familie soll sich keine Sorgen machen. Ihr<br />
Vater hat die kluge Tochter schließlich immer unterstützt, wenn es<br />
um eine gute Ausbildung ging. Er soll stolz sein auf seine Tochter,<br />
und er ist es auch.<br />
■ gra<br />
MASTERSTUDIENGANG OSTEUROPASTUDIEN<br />
4.000 Studentinnen und Studenten aus Osteuropa gibt es an der<br />
LMU. Sie stellen da<strong>mit</strong> die größte Gruppe der ausländischen Studierenden<br />
dar. Mehr als 700 Studierende kommen etwa aus Bulgarien,<br />
mehr als 600 aus der russischen Föderation. Doch die LMU<br />
bildet nicht nur junge Menschen aus Osteuropa aus, sie ver<strong>mit</strong>telt<br />
auch Osteuropa-Kompetenz. Der Masterstudiengang <strong>Osteuropastudien</strong><br />
im Rahmen des Elitenetzwerks Bayern bündelt die<br />
regionalspezifischen Kompetenzen der Fächer Geschichte, Jura,<br />
Slavistik, Politikwissenschaft, VWL und Interkulturelle Kommunikation.<br />
Daneben gibt es an der LMU einen regen Studenten- und<br />
Dozentenaustausch <strong>mit</strong> Universitäten in vielen Ländern Osteuropas.<br />
Das Programm „Berufschancen im Bulgarien- und Rumäniengeschäft<br />
bayerischer Unternehmen“ des Instituts Student und<br />
Arbeitsmarkt an der LMU ver<strong>mit</strong>telt Studierenden praktische<br />
Kenntnisse für einen Einstieg in das Osteuropageschäft.