Lebensmittelverschwendung: „Es gibt nicht nur einen Schuldigen“
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Global Dinner - Infomaterial<br />
<strong>Lebensmittelverschwendung</strong>: <strong>„Es</strong> <strong>gibt</strong> <strong>nicht</strong> <strong>nur</strong> <strong>einen</strong> <strong>Schuldigen“</strong><br />
Gespräch mit Dokumentarfilmer Valentin Thurn<br />
Leutkirch / mek Mit dem Film „Frisch auf den Müll“ hat Valentin Thurn viel Betroffenheit ausgelöst,<br />
und auf ein Problem aufmerksam gemacht, das bisher in Deutschland kaum präsent ist. Unsere<br />
Redakteurin Melanie Kräuter hat mit ihm gesprochen.<br />
Wie kamen Sie darauf, den Film „Frisch auf den Müll“ zu drehen?<br />
Wir haben vor drei Jahren mit kleineren Filmen über Mülltaucher angefangen, da hielt ich es noch<br />
für ein exotisches Thema. Aber als ich in den Tonnen die Mengen an originalverpackten und vor<br />
Ablauf weggeschmissenen Lebensmitteln gesehen habe, dachte ich mir: „Das kann doch<br />
betriebswirtschaftlich <strong>nicht</strong> sinnvoll sein.“ Ich wollte es verstehen. Und dann haben wir dieses<br />
Projekt als internationale Koproduktion gestartet.<br />
Der Film hat aber auch biografische Gründe: Meine Mutter hat im Krieg richtig Hunger gelitten,<br />
meine Großmutter ist an diesem Hunger letztendlich gestorben. Meine Mutter hat das Essen<br />
immer so hoch gehalten, das Essen war ihr heilig. Warum das so war, hat sie mir aber erst<br />
erzählt, als ich 40 Jahre alt war.<br />
Was haben Sie bei Ihren Recherchen gemerkt?<br />
Ich habe gemerkt, dass das Thema in Deutschland <strong>nicht</strong> präsent ist. Ich bin zu Greenpeace<br />
gegangen, zur Bundesregierung und keiner hatte genaue Zahlen. Niemand hat das Thema<br />
erforscht. Gleichzeitig tobt in England die Debatte und in Österreich. Wir haben für den Film die<br />
Zahlen hoch rechnen müssen, die es in England und Österreich <strong>gibt</strong>, in der Annahme, dass unser<br />
Konsumverhalten sich <strong>nicht</strong> groß unterscheidet.<br />
Welche Reaktionen haben Sie auf den Film bekommen?<br />
So viele emotionale Reaktionen hatte ich noch nie auf <strong>einen</strong> Film. Die Betroffenheit war groß. Die<br />
meisten wissen zwar, das wir verschwenderisch leben, aber das Ausmaß war auch mir <strong>nicht</strong><br />
bewusst. Es haben sich aber auch viele gemeldet, die es besser gewusst haben. Profis – das ging<br />
Köchen bis zu Supermarktchefs – die mir erzählt haben, wie sie versuchen, Müll zu vermeiden.<br />
Wir haben auch die Internetplattform „Taste the Waste“ eingerichtet. Da hat einer zum Beispiel<br />
eine Reste-Rezepteseite gegründet, außerdem finden dort verschiedene Initiativen Platz.<br />
Wir leben fast im Schlaraffenland, die Supermarktregale sind immer voll. Treibt der Handel diesen<br />
Überfluss bewusst an?<br />
Der Handel ist sicher der wesentliche Akteur in dem ganzen Geflecht, aber es <strong>gibt</strong> <strong>nicht</strong> <strong>nur</strong> <strong>einen</strong><br />
Schuldigen. Der Handel steht ja auch unter einem wahnsinnigen Wettbewerb. Außerdem sind<br />
unsere Ansprüche gewachsen. Die meisten Menschen leben in der Stadt, wo mehrere<br />
Generationen <strong>nicht</strong> mehr wissen, was gut und was schlecht ist und stark auf Äußerliches schauen.<br />
Wer auf dem Land lebt, hat mehr Ahnung davon, was Qualität ist.<br />
Außerdem agiert der Handel betriebswirtschaftlich. Nach dem Motto: Es ist für mich als<br />
Unternehmen billiger, tonnenweise Waren wegzuwerfen. Sie sind eingepreist, die zahlen die<br />
Kunden sowieso. Es ist schlimmer, <strong>einen</strong> Kunden zu verlieren, weil er seine Lieblingsprodukte<br />
abends <strong>nicht</strong> mehr kriegt und zur Konkurrenz geht.
Global Dinner - Infomaterial<br />
Wir sind auch gewöhnt, dass man um 22 Uhr noch frische Ware bekommt…<br />
Es ist mit ein Grundübel, dass der Handel die Regale bis Ladenschluss immer voll haben will. Und<br />
das geht bei frischen Produkten <strong>nur</strong> mit Müll einher. Beim Bäcker ist es ganz extrem: 20 Prozent<br />
der Tagesproduktion landen im Müll. Auf dem Land dünnen die Bäcker ihr Angebot gegen Abend<br />
aus. In der Stadt kann sich das der Bäcker <strong>nicht</strong> mehr erlauben, der muss bis Ladenschluss das<br />
volle Angebot haben. Man weiß nie, was die Kunden essen. Es ist ganz schwer zu kalkulieren. Im<br />
Supermarkt ist es noch schlimmer. Bis 22 Uhr haben viele offen. Am nächsten Morgen kommt die<br />
neue Ware, die geben sich <strong>nicht</strong> damit ab, die Ware vom Vortag zum halben Preis zu verkaufen.<br />
Und selbst die Tafeln können so viel Brot <strong>nicht</strong> brauchen. Das Brot geht zum Teil zum Tierfutter.<br />
Aber andere Lebensmittel dürfen <strong>nicht</strong> mehr verfüttert werden, sie kommen in Biogasanlagen und<br />
werden verbrannt.<br />
Viel landet schon auf dem Müll, bevor es in den Handel gelangt…<br />
Man kann davon ausgehen, dass ein Drittel der 20 Millionen Tonnen, die in Deutschland pro Jahr<br />
weggeworfen werden, bei der Landwirtschaft verloren gehen, ein Drittel bei Transport, Herstellern<br />
und Handel und ein Drittel beim Verbraucher. Das ist eine ganz grobe Übertragung der britischen<br />
Verhältnisse. Der Handel setzt Normen, die rein kosmetisch sind und zwingt die Landwirtschaft<br />
Teile der Ernte wegzuwerfen. Ich hätte nie gedacht, dass zum Beispiel so viele Kartoffeln<br />
weggeworfen werden. Egal, ob Bio oder konventionell, es bestehen zu hohe kosmetische<br />
Anforderungen.<br />
Und es ist Irrsinn, wie niedrig die Preise geworden sind. In den 60ern haben wir 40 Prozent<br />
unseres Einkommens für Lebensmittel ausgegeben, heute sind es gerade mal 12 Prozent.<br />
Wie reagiert man in anderen Ländern?<br />
In England <strong>gibt</strong> es k<strong>einen</strong> Supermarkt mehr, der <strong>nicht</strong> seine eigene<br />
<strong>Lebensmittelverschwendung</strong>skampagne gestartet hat und die Verbraucher berät, wie sie Müll im<br />
Haushalt vermeiden können. Wenn man in Deutschland fragt, bekommt man von Marktleitern oder<br />
Verkäufern zu hören: Es ist doch verboten, abgelaufene Ware zu verkaufen. Aber es <strong>gibt</strong> hier<br />
überhaupt kein Gesetz. Hier hat die Politik noch ganz viel zu leisten. Die zieht sich gerne zurück<br />
mit dem Argument, wir wollen die Wirtschaft <strong>nicht</strong> weiter regulieren. Aber es geht ja <strong>nur</strong> darum, es<br />
für den Handel teuer zu machen, Lebensmittel zu entsorgen als sie in andere Wege zu geben –<br />
sei es auf dem Ramschtisch oder zur Tafel. Es muss teurer sein, sie in der Tonne zu entsorgen.<br />
Das kann man zum Beispiel mit Müllgebühren machen.<br />
Was muss passieren, damit Lebensmittel <strong>nicht</strong> mehr verschwendet werden?<br />
Für die Wirtschaft ist es sicherlich schwer zu handeln, ohne dass es <strong>einen</strong> gewissen Druck <strong>gibt</strong>.<br />
Und da ist natürlich der Bewusstseinswandel der Leute wichtig ist. Aber in England haben wir<br />
gesehen, dass die Politik auch Kampagnen fahren kann. Aber da sind wir hier noch weit davon<br />
weg. Was die Bundeslandwirtschaftsministerin macht, ist ein kleiner Anfang. Ich hoffe das wird<br />
mehr. In Nordrhein-Westfalen der neue Landwirtschaftsminister <strong>einen</strong> Runden Tisch gegründet,<br />
da werden vielleicht noch andere Landesregierungen nachziehen. Es ist schön zu sehen, dass<br />
sich Schwarz-Gelb und Rot-Grün <strong>einen</strong> kl<strong>einen</strong> Wettlauf liefern, denn das ist kein linkes und kein<br />
rechtes Thema. Das ist etwas, was uns alle betrifft. Es gab <strong>einen</strong> Vorschlag von einer FDP-<br />
Abgeordneten den Begriff Mindesthaltbarkeitsdatum zu ändern. Das finde ich super, denn der<br />
Begriff ist irreführend. Beim Fleisch und Fisch sollte man unbedingt das Verbrauchsdatum<br />
beachten. Aber bei allen anderen Produkten kann man sehen, riechen, schmecken, ob sie noch<br />
gut sind.<br />
Quelle: Schwäbische Zeitung 13. Mai 2011