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Alltagspraxis und Normverletzungen in deutschen Dörfern in ...

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Karl-Peter Krauss<br />

<strong>Alltagspraxis</strong> <strong>und</strong> <strong>Normverletzungen</strong> <strong>in</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Dörfern</strong> <strong>in</strong> Ungarn im<br />

frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert am Beispiel der Ehegerichtsbarkeit<br />

E<strong>in</strong>führung<br />

Der Versuch e<strong>in</strong>er Annäherung an alltägliche Lebenswelten <strong>in</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Dörfern</strong> <strong>in</strong><br />

Ungarn im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert macht sehr früh erhebliche Forschungsdefizite<br />

offenk<strong>und</strong>ig. E<strong>in</strong> Zugang über die vorliegende wissenschaftliche Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />

zur Geschichte der Deutschen <strong>in</strong> Ungarn ist kaum möglich. Zugleich zeigt sich hier<br />

die Dichotomie der bisherigen Forschungsschwerpunkte: Im Mittelpunkt standen<br />

<strong>und</strong> stehen das Jahrh<strong>und</strong>ert der Migration <strong>und</strong> Ansiedlung der Deutschen <strong>in</strong> Ungarn<br />

(das 18. Jahrh<strong>und</strong>ert), auf der anderen Zeit die Thematik von Flucht, Vertreibung<br />

<strong>und</strong> Aussiedlung sowie teilweise die Vorgeschichte dieser Ereignisse im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, ohne hier die noch vorliegenden Forschungsdefizite auch dieser<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte verleugnen zu wollen. Die Alltagsgeschichte, aber auch Kirchen-,<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeschichte des frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bef<strong>in</strong>den sich<br />

weitgehend im W<strong>in</strong>dschatten der Forschung. Dieser Bef<strong>und</strong> wird durch die<br />

umfangreiche Literatur an Heimatbüchern nicht <strong>in</strong> Frage gestellt, sondern <strong>in</strong><br />

h<strong>in</strong>reichender Weise bestätigt. 1 H<strong>in</strong>ter den spektakulären Ereignissen <strong>in</strong> jenen<br />

„lauten“ Jahrh<strong>und</strong>erten der Umwälzungen <strong>und</strong> der (Zwangs)Migrationen treten die<br />

„leisen“ Konsolidierungs-, Sozialisierungs-, Adaptierungs-, Akkulturations- <strong>und</strong><br />

Interkulturationsprozesse <strong>in</strong> ländlich geprägten Sozialisationsräumen <strong>in</strong> den<br />

H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong>. Die Ursache mangelnder Ause<strong>in</strong>andersetzung mit diesen Prozessen ist<br />

nicht nur fehlendes Interesse, sondern es s<strong>in</strong>d die schwerer zugänglichen Quellen.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt die Betonung ereignisgeschichtlicher Vorgänge.<br />

1 Um nur e<strong>in</strong>es von vielen Beispielen zu nennen, sei das gr<strong>und</strong>legend solide Werk von Friedrich Lotz<br />

über Hodschag angeführt: Lotz, Friedrich: Hodschag. Geschichte e<strong>in</strong>er <strong>deutschen</strong> Marktgeme<strong>in</strong>de <strong>in</strong><br />

der Batschka. Zweite, erweiterte Auflage. Freilass<strong>in</strong>g 1964. Der „Ansiedlung der Deutschen“ s<strong>in</strong>d ca.<br />

80 Seiten gewidmet. E<strong>in</strong> zweiter Schwerpunkt, aber weniger umfangreich, gilt „Krieg, Flucht <strong>und</strong><br />

Vertreibung“. Dazwischen s<strong>in</strong>d nur vere<strong>in</strong>zelte Seiten, die sich mit der ersten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts befassen, zum Beispiel „Der Bau der heutigen Kirche“, „Der Kirchweihtag Anno 1821“,<br />

„Der Hanfhandel <strong>in</strong> Hodschag im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert“.<br />

1


Zudem geht das etablierte Geschichtsbild von dem Paradigma aus, dass die<br />

Habsburger die fast ausschließlichen Akteure bei der Kolonisation waren. Diese<br />

Fokussierung ist angesichts des Engagements ständischer Entscheidungsträger im<br />

Königreich Ungarn kaum haltbar, wenngleich natürlich die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

vom Staat geschaffen wurden <strong>und</strong> die zwei großen Kameralansiedlungsgebiete Banat<br />

<strong>und</strong> Batschka e<strong>in</strong>e besondere Rolle spielten. Mit dem Rückgang der E<strong>in</strong>wanderung <strong>in</strong><br />

das Königreich Ungarn blieben auch die spezifischen, diesen Vorgang<br />

dokumentierenden Quellen zunehmend aus. Sie haben ihren Niederschlag <strong>in</strong> den<br />

zentralen Archiven der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie gef<strong>und</strong>en, aber<br />

auch <strong>in</strong> Archiven der Zielgebiete. Schon die Erforschung der Migrationsvorgänge des<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>erts zeichnet sich durch e<strong>in</strong>e Staatszentriertheit ab, die ihren<br />

augensche<strong>in</strong>lichen Niederschlag <strong>in</strong> der Fixierung auf die eher kurzzeitigen <strong>in</strong>tensiven<br />

staatlichen Subventionierungsphasen der Kolonisation fanden. Dies führte dazu, dass<br />

e<strong>in</strong>e Beachtung anderer Träger der Kolonisation <strong>und</strong> der <strong>in</strong>tensiven Zuwanderung <strong>in</strong><br />

die Städte ke<strong>in</strong>e adäquate Beachtung fanden <strong>und</strong> ihren populären Niederschlag an<br />

der griffigen, aber dadurch ke<strong>in</strong>eswegs der Realität entsprechenden Begrifflichkeit<br />

von den „drei Schwabenzügen“.<br />

Auch e<strong>in</strong> Zugang zur <strong>Alltagspraxis</strong> aus der Perspektive des Untertanen heraus<br />

erfolgte fast immer über durch staatliche Organe produzierte Akten. Selbst die<br />

überwältigende Masse der heute noch vorliegenden Auswandererbriefe<br />

(„Selbstzeugnisse“) entstammt ke<strong>in</strong>eswegs zufällig überlieferter privater<br />

Korrespondenz, sondern es s<strong>in</strong>d aus amtlichen Gründen aufbewahrte Briefe von<br />

Ausgewanderten, die <strong>in</strong> aller Regel zum Nachweis von vermögensrechtlichen<br />

Ansprüchen der Kolonisten aufbewahrt wurden. Dabei handelt es sich vermutlich um<br />

e<strong>in</strong>en kläglichen Rest der e<strong>in</strong>stmals verfassten Schreiben, die aber <strong>in</strong> den<br />

Privathaushalten nur <strong>in</strong> seltenen Fällen aufbewahrt worden s<strong>in</strong>d oder aber<br />

staatlicherseits aus verschiedenen Gründen abgefangen wurden. Solche<br />

Selbstzeugnisse erfreuten sich <strong>in</strong> der Forschungslandschaft <strong>in</strong> jüngster Zeit e<strong>in</strong>er<br />

besonderen Beachtung. 2 Denn sie bieten die Möglichkeit e<strong>in</strong>es Zugangs zum<br />

2 Bedeutendere neuere deutschsprachige Veröffentlichungen (Auswahl): Rutz; Andreas, Ego-<br />

Dokument oder Ich-Konstruktion. Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen<br />

Menschen. In: Zeitenblicke 1, 2002, Nr. 2. http://www.zeitenblicke.de/2002/02/rutz/<strong>in</strong>dex.html<br />

(13.12.2010); Greyerz, Kaspar von; Medick, Hans; Veit, Patrice: Von der dargestellten Person zum<br />

er<strong>in</strong>nerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen 1500–1850 (Selbstzeugnisse der<br />

2


Individuum <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Lebensäußerungen. Doch <strong>in</strong> Bezug auf die Geschichte der<br />

Deutschen <strong>in</strong> Ungarn wurden Selbstzeugnisse bislang auch nicht <strong>in</strong> adäquatem Maße<br />

ausgewertet, wie dies eigentlich wünschenswert wäre. 3 Noch deutlicher trifft diese<br />

Aussage auf die Erforschung <strong>und</strong> Auswertung von nicht-<strong>in</strong>tendierten Akten über<br />

Personen zu. 4 <strong>in</strong> Bezug auf die Geschichte der Deutschen <strong>in</strong> Ungarn <strong>in</strong>nerhalb ihres<br />

vielfältigen multiethnischen <strong>und</strong> multikonfessionellen Umfeldes blieben sie fast völlig<br />

unbeachtet. Gerichtliche Akten bieten <strong>in</strong>des durchaus die Möglichkeit e<strong>in</strong>er<br />

begrenzten Annäherung an die alltägliche Lebenswelt, wenn auch über den Umweg<br />

der Bewertung des adm<strong>in</strong>istrativen oder jurisdiktionellen Kontextes.<br />

Die Annäherung an „den Alltag“ über <strong>Normverletzungen</strong> anhand von Gerichtsakten<br />

bietet sich aus mehreren Gründen an: Zunächst e<strong>in</strong>mal haben Gerichtsakten <strong>in</strong> der<br />

Erforschung von Personen <strong>in</strong> Bezug auf die Deutschen <strong>in</strong> Ungarn kaum e<strong>in</strong>e ihren<br />

Möglichkeiten adäquate Würdigung erfahren. Dabei handelt es sich bei nicht<strong>in</strong>tendierten<br />

bzw. nicht freiwillig oder auf der Gr<strong>und</strong>lage von Zwängen entstandenen<br />

Neuzeit, Bd. 9). München 2001; Peters, Jan: Mit Pflug <strong>und</strong> Gänsekiel. Selbstzeugnisse schreibender<br />

Bauern. E<strong>in</strong>e Anthologie. Köln, Weimar, Wien 2003; Bähr, Andreas: Räume des selbst:<br />

Selbstzeugnisforschung transkulturell (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 19). Köln, Weimar, Wien<br />

2007; Greyerz, Kaspar von (Hg.): Selbstzeugnisse <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen <strong>in</strong><br />

<strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ärer Perspektive. (Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien, Bd. 68). München<br />

2007. Vgl. auch die Homepage des Historischen Sem<strong>in</strong>ars der Universität Basel:<br />

http://selbstzeugnisse.histsem.unibas.ch/.<br />

3 Beispiele für neuere Forschungen anhand von Selbstzeugnissen von Auswanderern nach Ungarn bei<br />

Wolf, Marionela, Alte <strong>und</strong> neue Heimat. Briefe südwestdeutscher Banat-Auswanderer des 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. In: Engels, Walter (Hg.): Kulturraum Banat, Klartext Verlag, Essen 2007, S. 85–140;<br />

sowie Dies.: „…hab <strong>in</strong> Freudenthal e<strong>in</strong>e Bibel gekauft, e<strong>in</strong>e evangelische“. Selbstzeugnisse<br />

württembergischer Auswanderer <strong>in</strong>s Banat (1791). In: Banater Kalender 2009, Banat Verlag, Erd<strong>in</strong>g<br />

2008, S. 86–94. Doch schon <strong>in</strong> den Deutsch-Ungarischen Heimatsblättern wurden immer wieder<br />

Selbstzeugnisse der Forschung zugänglich gemacht, vgl. zum Beispiel: Selig, Theodor, Die<br />

Beziehungen ausgewanderter Schwaben <strong>in</strong> Ungarn zur alten Heimat. In: Deutsch-Ungarische<br />

Heimatsblätter, 1. Jg., 1929, S. 214–219.<br />

4 Gr<strong>und</strong>sätzlich dazu: Schulze, W<strong>in</strong>fried: Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen <strong>in</strong> der<br />

Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“. In: Schulze, W<strong>in</strong>fried (Hrsg.): Ego-<br />

Dokumente. Annäherung an den Menschen <strong>in</strong> der Geschichte. Berl<strong>in</strong> 1996, S. 11 – 30. Zu<br />

def<strong>in</strong>itorischen Überlegungen von Schulze sei besonders auf die Seiten 13 bis 15 verwiesen. Diese<br />

Def<strong>in</strong>ition blieb nicht ohne Widerspruch <strong>und</strong> fand ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>gang im wissenschaftlichen Gebrauch,<br />

zumal sie über die „klassischen“ Selbstzeugnisse wie etwa Briefe oder Autobiographien u. a.<br />

h<strong>in</strong>ausgeht.<br />

3


Akten über Personen um wichtige Quellen zur Erforschung der Lebenswelten<br />

e<strong>in</strong>facher Menschen <strong>und</strong> illiterater Schichten, die sonst kaum jemals Spuren<br />

h<strong>in</strong>terlassen hätten. Die Bedeutung entsprechender Quellen ist umso höher<br />

e<strong>in</strong>zuschätzen, als zudem e<strong>in</strong>e Annäherung an den Menschen schwer fällt angesichts<br />

des angedeuteten Mangels an „klassischen“ Selbstzeugnissen, wie Autobiographien,<br />

Tagebüchern, aber auch Briefen u. a. für das frühe 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Im Rahmen dieses Beitrags wird der Versuch unternommen, an Beispielen von Akten<br />

der Ehegerichtsbarkeit aus dem Komitat Bács-Bodrog die Möglichkeiten auszuloten,<br />

die diese Quellen für die Personen- <strong>und</strong> Alltagsgeschichte der Deutschen <strong>in</strong> Ungarn<br />

im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert bieten können. 5 Ergänzend werden Strafgerichtsakten zur<br />

Gewalt <strong>in</strong>nerhalb von Ehen herangezogen. 6 Bei den Ehegerichtsakten handelt es sich<br />

um Akten des katholischen Ehegerichts. Ebenso wurden Akten des Herrenstuhles der<br />

für die Protestanten zuständigen Komitatsgerichtsbarkeit (sedes dom<strong>in</strong>alis)<br />

ausgewertet. Nicht das Verfahren als solches, wohl aber die häufig schriftlich<br />

dokumentierten Zeugenaussagen, Attestate, Briefe, Klagen ermöglichen e<strong>in</strong>en<br />

kurzen, manchmal auch nur blitzlichtartig erhellten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> Lebensabschnitte von<br />

Akteuren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er nicht alltäglichen Lebenssituation, bevor sie wieder im nicht<br />

aktenk<strong>und</strong>igen „Alltag“ verschw<strong>in</strong>den. Dabei gilt es dem Umstand Rechnung zu<br />

tragen, dass die dem Ehegericht vorgelegten persönlichen Stellungnahmen <strong>und</strong><br />

Briefe ke<strong>in</strong>e Selbstzeugnisse im eigentlichen S<strong>in</strong>ne s<strong>in</strong>d, sondern Dokumente, die<br />

Wirklichkeit <strong>in</strong> wechselndem Grade konstruieren <strong>und</strong> manipulieren. Doch gerade<br />

<strong>in</strong>nerhalb dieser Argumentationskonstrukte schimmert das Normen- <strong>und</strong><br />

Wertesystem der Verfasser durch, besonders dann, wenn mehrere solcher Konstrukte<br />

aufe<strong>in</strong>anderprallen.<br />

Zusätzlich zu den Ehegerichtsakten sollen zunächst Kanonische Visitationen aus der<br />

Region der Batschka als serielle Quellen herangezogen werden. Sie bieten die<br />

Möglichkeit, e<strong>in</strong>erseits mögliche Entwicklungen im Rahmen der Fragestellung zu<br />

5 Es handelt sich um die nach Ortschaften geordneten Akten des Ehegerichts der Erzdiözese Kalocsa:<br />

Kalocsai Főegyházmegyei Levéltár (zit. KFL) (Erzdiözesanarchiv von Kalocsa), I. Érseki Levéltár<br />

(Erzbischöfliches Archiv), 2., Kalocsai Érseki Főszentszék (Erzbischöflicher Heiliger Stuhl Kalocsa), a.,<br />

Feudális kori iratok (Schriften aus dem feudalen Zeitalter),<br />

6 Es handelt sich um Akten des Komitats Bács-Bodrog, Arhiv Vojvod<strong>in</strong>e, (Archiv der Wojwod<strong>in</strong>a,<br />

fortan AVN), Novi Sad (Neusatz), F 2, Bačko Bodroška Županija (Komitat Batsch-Bodrog, fortan BBŽ).<br />

4


identifizieren, andererseits aber auch sich ggf. verändernde Bewertungs- <strong>und</strong><br />

E<strong>in</strong>schätzungsmaßstäbe zu erkennen, denn <strong>Alltagspraxis</strong> ist immer von der<br />

Subjektivität <strong>und</strong> den e<strong>in</strong>em Wandel unterworfenen Wertemaßstäben des Betrachters<br />

abhängig. H<strong>in</strong>zu kommt, dass von Deutschen <strong>in</strong> Ungarn als alltäglich<br />

wahrgenommene Verhaltensmuster <strong>in</strong> der Außenwahrnehmung durchaus als fremd<br />

angesehen werden konnten.<br />

<strong>Normverletzungen</strong> <strong>in</strong> den Kanonischen Visitationen<br />

Die Kanonischen Visitationen bieten die Möglichkeit e<strong>in</strong>er Sicht der Longue durée zu<br />

Prozessen der kirchlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Entwicklung, der Konsolidierung,<br />

wie auch der Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung. Insbesondere die Fragestellungen über Ehen,<br />

Dorfrichter, Schulmeister, Leben <strong>und</strong> Sitten der zur Pfarrei gehörenden Bewohner,<br />

Schwierigkeiten <strong>und</strong> Beschwerden des Pfarrers <strong>in</strong>nerhalb der vorgegeben Raster s<strong>in</strong>d<br />

aufschlussreich für diesen Beitrag. Auffallend ist zunächst e<strong>in</strong>mal die Bewertung des<br />

„Pfarrvolkes“. Während die Visitatoren im Ansiedlungsjahrh<strong>und</strong>ert häufig das<br />

Verhalten der Bewohner brandmarkten, änderte sich dies im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zugunsten e<strong>in</strong>er eher wohlwollenden E<strong>in</strong>schätzung der Gläubigen. Ist das Ausdruck<br />

e<strong>in</strong>er Entwicklung der Konsolidierung oder wurde hier bewusst auf e<strong>in</strong>en Ausgleich<br />

gesetzt bzw. waren die Strukturen so gefestigt, dass vorhandenes Konfliktpotential<br />

von der Kirche verschwiegen werden konnte? Erfolgte so e<strong>in</strong> Übergang von e<strong>in</strong>er<br />

Konflikt- zu e<strong>in</strong>er Konsensgeme<strong>in</strong>schaft oder waren die Konflikte e<strong>in</strong>fach nur <strong>in</strong>itiale<br />

Zeichen e<strong>in</strong>er noch nicht erfolgten Anpassung der Kolonisten?<br />

Hierzu e<strong>in</strong> Beispiel aus Priglewitz St. Iwan (auch Batschsentiwan, serb. Priglevica<br />

Sveti, ung. Bácsszentiván) <strong>in</strong> der Batschka. In der ersten Kanonischen Visitation von<br />

1767 hieß es über die <strong>deutschen</strong> Bewohner: „Vita et moribus non sunt usquequaque<br />

commendabilis“; „<strong>in</strong> Bezug auf ihren Lebenswandel <strong>und</strong> ihre Sitten s<strong>in</strong>d sie nicht <strong>in</strong><br />

jeder H<strong>in</strong>sicht empfehlenswert.“ 7 1791 wurden die Bewohner so charakterisiert:<br />

„possunt adhuc tolerari“; „moralisch gerade noch duldbar“. 8 Doch schon 1816 hieß es<br />

über die Leute „Sunt boni, mixti malis“, „es s<strong>in</strong>d gute Menschen, gemischt mit<br />

Bösen.“ 1828 stand <strong>in</strong> den Antworten im Abschnitt „Beschwerden des Pfarrers“<br />

7 Visitatio Canonica, Priglewitz St. Iwan, 1767.<br />

8 Visitatio Canonica, Priglewitz St. Iwan, 1791.<br />

5


entweder „non sunt“ (gibt es nicht) oder „nihil“ (nichts). Über den Pfarrer Franz<br />

Müller wird 1803 berichtet „populo bono exemplo“, „er gibt dem Volk e<strong>in</strong> gutes<br />

Beispiel“. 9 Ist das Ausdruck e<strong>in</strong>er erfolgten <strong>und</strong> erfolgreichen Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung?<br />

E<strong>in</strong>e Durchsicht von Kanonischen Visitationen weiterer Orte sche<strong>in</strong>t diese<br />

Beobachtung zu bestätigen. So beklagte der Pfarrer <strong>in</strong> der ersten Visitation von Buk<strong>in</strong><br />

(serb. heute Mladenovo, ung. Dunabökény): „In hac parochia maxime vigent<br />

compotationes nocturnae tum virorum, tum mulierum, tum furta quae etiam si<br />

depraehendantur saepie non puniuntur“ 10 <strong>und</strong> weist dadurch zugleich auf e<strong>in</strong>en<br />

Konflikt h<strong>in</strong>, den Pfarrer immer wieder ansprachen, die mangelnde Unterstützung<br />

durch die weltlichen Funktionsträger. Offen kam dies <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiteren Aussage zum<br />

Ausdruck: Dantur etiam <strong>in</strong> hac parochia rixae et discordiae <strong>in</strong>ter conjugatos, et si<br />

parochus punire vellit Judex non asistit aut plane nihil curat. 11 Wenige Jahrzehnte<br />

später wurde auf die Frage nach Schwierigkeiten <strong>und</strong> Beschwerden des Pfarrers die<br />

kurze Antwort gegeben: „Nihil“ („nichts“), 1803 <strong>und</strong> 1806 war die identische Antwort<br />

auf diese Frage vielleicht noch klarer: „Nullas difficultates“ (ke<strong>in</strong>erlei<br />

Schwierigkeiten). 12<br />

Ähnliche Entwicklungscharakteristika zeigen sich <strong>in</strong> Apat<strong>in</strong>. In e<strong>in</strong>er <strong>und</strong>atierten<br />

Visitation, die e<strong>in</strong>en Bericht wohl aus den siebziger Jahren des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

aufgreift, hieß es über das Verhalten der Jugend, dass sie nicht nur nach dem<br />

Gottesdienst, „<strong>in</strong> Scharen“ <strong>in</strong> „alle zehn Wirtshäuser“ [strömte], „um hier die Nacht<br />

h<strong>in</strong>durch unter großem Gedränge <strong>und</strong> Saufereien, dem Tanz zu frönen [...]“, sondern<br />

auch, „daß über 300 Burschen mit der gleichen Zahl leichtfertiger Mädchen sich allen<br />

tierischen <strong>und</strong> fleischlichen Lüsten bis zum Überdruß h<strong>in</strong>gaben […], weil dem Tanze<br />

auch Ortsfremde sich zugesellten, die von ihnen sowohl im Glauben als auch <strong>in</strong> den<br />

Sitten stark verschieden s<strong>in</strong>d. So wurden ganze Nächte h<strong>in</strong>durch Saufereien, Tanz,<br />

9 Visitatio Canonica, Priglewitz St. Iwan, 1803.<br />

10 Visitatio Canonica, Buk<strong>in</strong>, 1756. Übersetzung: „In dieser Pfarrgeme<strong>in</strong>de treten besonders stark<br />

nächtliche Tr<strong>in</strong>kgelage auf, sowohl der Männer als auch der Frauen, dann auch Diebstähle, die wenn<br />

sie auch gefasst werden, oft nicht bestraft werden.“<br />

11 Ebd. Übersetzung: „In dieser Pfarrgeme<strong>in</strong>de kommt auch Streit <strong>und</strong> Zwist zwischen Eheleuten vor<br />

<strong>und</strong> auch wenn der Pfarrer bestrafen will, steht der Richter nicht bei oder kümmert sich nicht<br />

e<strong>in</strong>deutig darum.“<br />

12 Visitationes Canonicae, Buk<strong>in</strong>, 1803, 1806.<br />

6


Lärm, Streit <strong>und</strong> Blutvergießen, Gotteslästerungen, Fluchen, Hurereien <strong>und</strong><br />

Deflorationen sogar auf offener Straße durchgeführt. […].“ 13 Ebenfalls <strong>in</strong> Apat<strong>in</strong><br />

wurde <strong>in</strong> der Visitation von 1766 Josef Oberauer besonders gerügt: „Er ist dar<strong>in</strong> [im<br />

Konkub<strong>in</strong>at <strong>und</strong> im Ehebruch] so verstockt <strong>und</strong> unverbesserlich, daß er [trotz<br />

wiederholter Ermahnungen] sich wieder nicht gescheut [hatte], für sich se<strong>in</strong>e eigene<br />

Ehefrau [e<strong>in</strong>e] Beischläfer<strong>in</strong> suchen zu lassen.“ 14 Besonders aufschlussreich waren die<br />

im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert vor allem immer wieder <strong>in</strong> den Visitationen vorkommenden<br />

Klagen über mangelnde Unterstützung durch die Dorfobrigkeit <strong>und</strong> die<br />

Gr<strong>und</strong>herrschaft. 15<br />

Vergleicht man diese Berichte aus dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert mit <strong>Normverletzungen</strong> aus<br />

dem frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, zeigt sich auch hier e<strong>in</strong> ähnlicher Bef<strong>und</strong> wie bei<br />

Priglewitz St. Iwan. In der Kanonischen Visitation vom Mai 1828 wurde den<br />

Angehörigen der Pfarrei besche<strong>in</strong>igt: „Der größte Teil führt e<strong>in</strong> christliches Leben,<br />

doch gibt es, wie überall, auch hier Ausb<strong>und</strong>e, besonders jetzt, wo viele von anderswo<br />

zuziehen...“. 16 Jetzt wurde über die Jugend berichtet: „Mißbräuche gibt es ke<strong>in</strong>e<br />

besondere, außer [...] das nächtliche Umherschweifen der Jugend an Sonn- <strong>und</strong><br />

Feiertagen, an denen im Gasthaus bei Musik getanzt wird.“ Bei den „Beschwerden<br />

des Pfarrers“ war der erste Satz: „Der Pfarrer hat ke<strong>in</strong>e besonderen Beschwerden.“<br />

Und <strong>in</strong> der Kanonischen Visitation vom Mai 1843 werden die „Sitten“ der<br />

Pfarrangehörigen als „im allgeme<strong>in</strong>en gut“, „sogar lobenswert“ dargestellt, wovon<br />

allerd<strong>in</strong>gs die Seiler- <strong>und</strong> Fischergesellen ausgenommen werden, die „durch<br />

Ausschreitungen jeglicher Art berüchtigt s<strong>in</strong>d.“ 17<br />

Handelte es sich bei den <strong>Normverletzungen</strong> im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert damit um die<br />

klassischen Topoi oder s<strong>in</strong>d die Darstellungen Ausdruck mangelnder Sozialisation<br />

e<strong>in</strong>er noch nicht „konditionierten“ <strong>und</strong> konsolidierten E<strong>in</strong>wanderungsbevölkerung,<br />

die zudem Differenzen zwischen der weltlichen <strong>und</strong> geistlichen Obrigkeit geschickt<br />

13 Zitate sowie Übersetzungen s<strong>in</strong>d entnommen: Selgrad, Anton: Kanonische Visitationen der Apat<strong>in</strong>er<br />

Pfarrkirche im 18. <strong>und</strong> 19. jahrh<strong>und</strong>ert. (Donauschwäbisches Archiv, Apat<strong>in</strong>er Beiträge, Bd. 17),<br />

Straub<strong>in</strong>g 1979, S. 49.<br />

14 Ebd., S. 36.<br />

15 Ebd., S. 32, 34, 41<br />

16 Ebd., S. 86.<br />

17 Ebd., S. 96.<br />

7


auszunützen verstand? Doch wie scharf <strong>und</strong> realistisch wird die Realität von den<br />

Kanonischen Visitationen überhaupt gezeichnet, zumal es sich um e<strong>in</strong>e<br />

Wahrnehmung aus der Sicht des Visitators <strong>und</strong> des Pfarrers handelte? Wie<br />

angebracht ist e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>terfragung dieser Quellen aus e<strong>in</strong>em anderen Blickw<strong>in</strong>kel<br />

heraus?<br />

E<strong>in</strong>e Beurteilung des Pfarrers Franz Müller aus dem Blickw<strong>in</strong>kel der Visitationen<br />

heraus wäre bei der Aussage von 1803 stehen geblieben, als es über ihn hieß „populo<br />

bono exemplo“. Doch dieses Beispiel zeigt gerade, dass es unerlässlich ist, Vorgänge<br />

<strong>und</strong> Wertungen noch aus anderen Betrachtungsebenen heraus zu analysieren. So<br />

f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> den Akten des Komitatsgerichts der Batschka (sedes judiciaria) e<strong>in</strong><br />

fragmentarisches Dokument aus dem Jahr 1810 mit der Überschrift „Über das<br />

Ermort[et]e ausgegrabene K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> dem Garten des Prig[lewitzer] Sz[ent]t Ivaner<br />

geistlichen Herrn Pfarrers Franz Müller“. 18 Hieraus geht hervor, dass der Pfarrer<br />

Franz Müller e<strong>in</strong>es Nachts von Wirtshausgängern heimlich beobachtet wurde, wie er<br />

etwas im Pfarrgarten vergrub. Da jene Wirtshausbesucher anschließend gehört<br />

hatten, dass „die greste Rederey <strong>und</strong> Lerm“ war, dass „die Pfarr Köch<strong>in</strong> entbunten<br />

worden <strong>und</strong> das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Garten begraben“ <strong>und</strong> der Pfarrer sich schon früher im<br />

Garten aufgehalten hatte <strong>und</strong> die Erde zum Nachbarn Johann Peitz ausgehoben<br />

hätte, hätten sie sich „unterfangen, bei der Nacht <strong>in</strong> der nemlichen Erde [das]<br />

unschuldige K<strong>in</strong>d suchend, <strong>und</strong> wirklich aus der Erd ausgehoben, hernach ganz<br />

schrekend <strong>in</strong> das Geme<strong>in</strong> Haus 19 abgegeben.“ Gründliche Zeugenbefragungen fanden<br />

am 29. <strong>und</strong> 30. März 1809 vor dem Krim<strong>in</strong>algericht des Komitats <strong>in</strong> Sombor statt.<br />

Die Köch<strong>in</strong>, die sich drei Monate wegen der bevorstehenden Niederkunft weder auf<br />

der Gasse noch <strong>in</strong> der Kirche hatte blicken lassen, wurde verhaftet, der Pfarrer<br />

schließlich Ende 1810, über e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre nach dem Mord, nach Hajós versetzt.<br />

Schon die Tatsache, dass die Wirtshausgänger es gewagt hatten, im Pfarrgarten<br />

nachzugraben, lässt e<strong>in</strong> gewisses Misstrauen gegenüber dem Pfarrer nicht<br />

unwahrsche<strong>in</strong>lich se<strong>in</strong>. Entscheidend jedoch war das Gerücht im Dorf über die<br />

Schwangerschaft der Pfarrköch<strong>in</strong>. Die Dienstmagd des Pfarrers, das „Pfarr<br />

Dienstmentsch“ Elisabeth Mauk bestätigte neben weiteren Zeugen die<br />

Schwangerschaft der Pfarrköch<strong>in</strong> <strong>und</strong> sagte aus, dass der Pfarrer zwei Tage vor der<br />

18 AVN, F 2, BBŽ, kutija (Schachtel) 441, 1, o. fol.<br />

19 Geme<strong>in</strong>dehaus.<br />

8


Niederkunft der Köch<strong>in</strong> den „Blatz <strong>in</strong> Garten gemacht, danach das unschuldige K<strong>in</strong>d<br />

e<strong>in</strong>gegraben wurde.“<br />

Der 1752 <strong>in</strong> Veszprém geborene Franz Müller kam am 27. April 1820 zurück <strong>in</strong><br />

„se<strong>in</strong>e“ Geme<strong>in</strong>de, „deren Leiter er zu se<strong>in</strong> niemals aufhörte“, aber die er wegen des<br />

im Gang bef<strong>in</strong>dlichen Verfahrens im Dezember 1810 <strong>und</strong> damit e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb Jahre<br />

nach dem Tod des K<strong>in</strong>des hatte verlassen müssen. In e<strong>in</strong>em kurzen Lebenslauf im<br />

„Liber Historie Parochiae Priglewitz St.-Iván“ wurde ihm nochmals das besche<strong>in</strong>igt,<br />

was schon <strong>in</strong> der Kanonischen Visitation von 1806 über ihn stand: „Ducit vitam<br />

sacerdoti dignam et praeest populo bono exemplo“. 20 Wurde auf e<strong>in</strong> Zitat aus der Zeit<br />

vor se<strong>in</strong>er Versetzung zurückgegriffen, damit ke<strong>in</strong>e andere Bewertung erfolgen<br />

musste? Dann folgte noch der H<strong>in</strong>weis, dass er auf dem zentralen Quadranten des<br />

Friedhofs bestattet sei: Sepultus est <strong>in</strong> centrali quadrante coemeterii“. 21 Das<br />

Bemerkenswerte an dem Vorgang ist, dass er nur durch e<strong>in</strong> Fragment <strong>in</strong> den<br />

Komitatsakten überliefert ist <strong>und</strong> sonst, wenigstens h<strong>in</strong>sichtlich der offiziellen<br />

Quellen, ke<strong>in</strong>en Niederschlag fand, aber auch im kollektiven Gedächtnis der<br />

Dorfbewohner nicht verankert blieb.<br />

Waren die sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Interessenkonflikte im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

soweit ausgeräumt, dass es für alle Seiten vorteilhafter war, solche Skandale mit<br />

Diskretion zu behandeln oder Reaktionen zu unterdrücken? Oder war die an der<br />

Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung beteiligte Kirche so konsolidiert, dass sie Skandale unbeschadet<br />

nur von Untertanen öffentlich machte? Wurden solche Fälle aus Angst vor<br />

Autoritätsverlust vertuscht? Oder hatte sich <strong>in</strong> wichtigen Fragen des sozialen<br />

Zusammenlebens e<strong>in</strong>e Identifikations- <strong>und</strong> Konsensgeme<strong>in</strong>schaft zwischen<br />

kirchlicher, weltlicher <strong>und</strong> dörflicher Obrigkeit über alle sozialen Unterschiede<br />

h<strong>in</strong>weg gebildet?<br />

Ehegerichtsbarkeit: Fallbeispiele<br />

20 Liber historiae parochiae Priglevic Szent-Iván. Abschrift. Subotica o. J.<br />

21 Das Grab von Pfarrer Franz Müller wurde vor wenigen Jahren ausgegraben, so die fre<strong>und</strong>liche<br />

Mitteilung von Herrn Boris Mašić, Apat<strong>in</strong>.<br />

9


<strong>Normverletzungen</strong> <strong>in</strong> der frühen Neuzeit hatten e<strong>in</strong>e religiöse <strong>und</strong> säkulare<br />

Bedeutung. E<strong>in</strong>erseits g<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong>e Normüberschreitung <strong>und</strong> Diskreditierung der<br />

Religion durch e<strong>in</strong>e Person. Und andererseits um beleidigende, verleumderische <strong>und</strong><br />

diskreditierende Handlungen, die den sittlichen Anstand verletzten. Im Weiteren<br />

stellt sich die Frage, welchen Stellenwert <strong>in</strong> diesem Zusammenhang die<br />

Ehegerichtsbarkeit <strong>in</strong>nerhalb der Fragestellung hat. Wurde die Normverletzung von<br />

Staat, Gr<strong>und</strong>herrschaft <strong>und</strong> Kirche <strong>in</strong>strumentalisiert, <strong>in</strong>dem sie öffentlich gemacht<br />

wurde? G<strong>in</strong>g es um e<strong>in</strong> „hang him publicly“, um e<strong>in</strong> öffentliches Tribunal, um<br />

virtuelle Schandpfähle zur Vermeidung weiterer Fälle? Lassen sich<br />

Interessenkonflikte zwischen Obrigkeit <strong>und</strong> Untertanen heraus modellieren? Welche<br />

Bedeutung haben diese Quellen für die Erforschung der Alltags-, Sozial-, Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Mentalitätsgeschichte u. a. <strong>in</strong> den <strong>Dörfern</strong>? Oder geht es nur um die Neugierde<br />

des späteren Betrachters, um bloßen Voyeurismus, um Anekdotenhaftes, um<br />

Zurschaustellung oder um Gesellschaftskritik posthum? E<strong>in</strong>e Annäherung an diese<br />

Fragen soll durch zwei Fallbeispiele erfolgen.<br />

Zunächst zu e<strong>in</strong>em Fall aus den Jahren 1817/1818. Genau acht Zeilen umfasste das<br />

Gutachten der Hebamme aus dem protestantischen Kischker (serb. heute Bačko<br />

Dobro Polje, ung. Kiskér) vom 13. Juni 1817. 22 Nüchtern wird von ihr festgehalten,<br />

dass sie bei Anna Maria Porpus, die seit dem 15. November 1813 mit Philipp Sehne<br />

verheiratet war, die „Jungfrauschaft unverlezt angetroffen habe.“ Den Akten beigelegt<br />

ist zudem e<strong>in</strong> chirurgisches Gutachten über ihren Mann, denn auch dieser musste<br />

sich e<strong>in</strong>en Tag danach <strong>in</strong> Gajdobra e<strong>in</strong>er genauen Untersuchung durch den<br />

Komitatschirurgen stellen. Der Bericht lässt h<strong>in</strong>sichtlich se<strong>in</strong>er detaillierten<br />

Schilderung absolut nichts zu wünschen übrig. Es sei körperlich „gar ke<strong>in</strong>e Spur zu<br />

f<strong>in</strong>den […] welche zur Ehe untauglich“ machen würde, doch schuld an se<strong>in</strong>er<br />

Zeugungsunfähigkeit sei e<strong>in</strong> „abgestumpftes Nerven Sistem“ <strong>und</strong> „Periotisch<br />

e<strong>in</strong>tretender Wahns<strong>in</strong>n.“ Schon am 14. April 1817 musste der Ehemann <strong>in</strong> Gegenwart<br />

des Ortspfarrers attestieren, dass er mit se<strong>in</strong>er vor dreie<strong>in</strong>halb Jahren verheirateten<br />

Frau „niemahls die Eheliche Pflicht des Beyschlafes, aus Schwachheit me<strong>in</strong>er Kräften,<br />

erfüllet habe.“ Auch der Pfarrer attestierte, dass er sowohl durch Überredung als auch<br />

durch Drohung versucht habe, die Beiden zu ehelichem Frieden <strong>und</strong> zur E<strong>in</strong>tracht zu<br />

bewegen, doch schließlich gestand er e<strong>in</strong>, dass wegen der Vernachlässigung der<br />

22 AVN, F 2, BBŽ, kutija 540, o. fol.<br />

10


Ehefrau die „Frigidität <strong>und</strong> Disharmonie“ „propter impotentiam“ des Ehemannes von<br />

Tag zu Tag gewachsen seien. Da ke<strong>in</strong>erlei Hoffnung mehr bestehe, müsste zur<br />

rechtmäßigen Auflösung der Ehe dieser Fall an e<strong>in</strong> dazu autorisiertes Gremium<br />

(forum competentem) geleitet werden.<br />

Der Ehemann wurde schon am 25. April 1817 zu e<strong>in</strong>em Gerichtsterm<strong>in</strong> <strong>in</strong> das Haus<br />

des Notars geladen. Am 5. <strong>und</strong> 6. Mai 1817 fand die Verhandlung <strong>in</strong> der königlichen<br />

Freistadt Sombor statt. Der Rechtsbeistand des Ehemannes bemängelte, dass die<br />

Gegenpartei nicht bewiesen habe, dass die Unzulänglichkeit des Ehemannes<br />

dauerhaft anhalten werde. Doch die Partei der Ehefrau verwies auf das e<strong>in</strong>deutige<br />

Gutachten der Hebamme. Der Verteidiger der ehelichen Verb<strong>in</strong>dung gab zu<br />

bedenken, dass e<strong>in</strong> Gutachten nur e<strong>in</strong>es Chirurgen aus Gajdobra zur Feststellung des<br />

männlichen Defekts ke<strong>in</strong>eswegs genügen würde <strong>und</strong> forderte weitere Gutachten <strong>und</strong><br />

„adäquatere Beweise“. Der Prozess wurde vertagt; die Revision fand über e<strong>in</strong> Jahr<br />

danach, am 16. <strong>und</strong> 17. Februar 1818, statt. Der Ehefrau wurde auferlegt, weitere<br />

chirurgische Atteste e<strong>in</strong>zuholen. Außerdem verlangte der Verteidiger des Mannes<br />

nochmals e<strong>in</strong> dreijähriges Zusammenleben der Eheleute. Schließlich tagte das<br />

Zivilgericht am 8. Juni 1818 <strong>in</strong> Sombor erneut. Jetzt galt die Unfähigkeit des Mannes,<br />

die Ehe zu vollziehen, als erwiesen <strong>und</strong> die Ehe wurde entsprechend der Gesetzeslage<br />

aufgelöst. Der Kläger<strong>in</strong> wurde gestattet, e<strong>in</strong>e neue Ehe e<strong>in</strong>zugehen. E<strong>in</strong> fast<br />

fünfjähriges Ehedrama hatte e<strong>in</strong> Ende gef<strong>und</strong>en. Der evangelische Pfarrer des Ortes,<br />

Samuel Hajnoky, hatte diesen Fall an die staatliche Behörde gegeben, da die<br />

Zuständigkeit für Ehetrennungen bzw- scheidungen, nicht wie beim katholischen<br />

Ehegericht, dort lag. Zahlreiche Personen waren durch Gutachten, Attestate <strong>und</strong><br />

schriftliche Stellungnahmen <strong>in</strong> den Fall aktiv <strong>in</strong>volviert: Der Pfarrer, der Richter <strong>und</strong><br />

die vier Geschworenen des Ortes, der Distriktschirurg, der Stadtchirurg von Sombor,<br />

der Komitatschirurg, mehrere Juristen des Komitats. Auf der höchsten Ebene war es<br />

der Vizegespan des Komitats. Damit war klar, dass die Öffentlichkeit am Geschehen<br />

<strong>in</strong>tensiv teilnahm. Der Fall schien nicht mehr e<strong>in</strong>e private, sondern e<strong>in</strong>e öffentliche<br />

Angelegenheit zu se<strong>in</strong>. Durch die <strong>in</strong>direkte E<strong>in</strong>beziehung der Öffentlichkeit war der<br />

außeralltägliche Fall geeignet, der Dorföffentlichkeit deutlich zu machen, welches<br />

Normenverständnis bestand <strong>und</strong> welche Hürden genommen werden mussten, um zu<br />

e<strong>in</strong>er Scheidung zu gelangen. Zudem ist e<strong>in</strong>e weitgehende Übernahme der für die<br />

katholische Ehegerichtsbarkeit verankerten Normen, <strong>in</strong>dem etwa e<strong>in</strong> Nachweis für<br />

11


die Impotenz erbracht werden musste, damit e<strong>in</strong>e Scheidung erfolgen konnte,<br />

h<strong>in</strong>sichtlich dieses Falles evident.<br />

E<strong>in</strong> weiteres Fallbeispiel spielte sich wenige Jahrzehnte später <strong>in</strong> Karawukowa (serb.<br />

Karavukovo, ung. Bácsordas) ab. 1840 heiratete die 15 Jahre alte Maria Lebenthal aus<br />

Karawukowa den viele Jahre älteren Arzt Michael Hauswirth. 23 Damals wohnte das<br />

Paar <strong>in</strong> Hodschag. Zunächst lebten die Beiden recht bescheiden, was daraus<br />

hervorgeht, dass das junge Paar oft von der Mutter der jungen Frau Brot zugeschickt<br />

bekam. Offensichtlich entwickelte sich die Ehe wenig Erfolg versprechend. Jahre<br />

danach berichtete e<strong>in</strong> Zeuge, dass Michael Hauswirth se<strong>in</strong>e junge Frau schon zwei,<br />

drei Monate nach der Hochzeit verachtet hatte. Bald vernachlässigte er se<strong>in</strong>e junge<br />

Frau. Später sagte der Ehemann, dass er „<strong>in</strong> moralischer <strong>und</strong> geistiger Beziehung<br />

[e<strong>in</strong>e] höchst unglückliche Wahl getroffen habe.“ Nach der Revolution zog das<br />

ungleiche Ehepaar nach Karawukowa <strong>in</strong> das Haus der Mutter von Maria. Dort g<strong>in</strong>g es<br />

ihnen wirtschaftlich <strong>in</strong>zwischen sehr gut, wovon u. a. die zahlreichen Dienstboten im<br />

Haus zeugten. 18 Jahre lang blieb das Ehepaar k<strong>in</strong>derlos. Doch 1857 wurde Maria<br />

Hauswirth schwanger, 1859 bekam sie das zweite <strong>und</strong> 1861 schließlich das dritte<br />

K<strong>in</strong>d. Schon bei der ersten Schwangerschaft war der Arzt argwöhnisch <strong>und</strong> stellte<br />

se<strong>in</strong>e Frau zur Rede. Nach der Geburt des zweiten K<strong>in</strong>des wurde der Ehemann<br />

„stutzig“. Se<strong>in</strong> Misstrauen wurde bei der Schwangerschaft des dritten K<strong>in</strong>des fast zur<br />

Gewissheit, denn er war durch e<strong>in</strong>en Jagdunfall krank <strong>und</strong> hatte <strong>in</strong> der fraglichen Zeit<br />

„ke<strong>in</strong>en Umgang“ gehabt. Doch se<strong>in</strong>e Frau stritt die Schwangerschaft zunächst mit<br />

der Bemerkung ab, sie würde an Blähungen leiden. Das K<strong>in</strong>d kam schließlich<br />

außerhalb des Hauses zur Welt.<br />

Inzwischen brodelte die Gerüchteküche. In dieser Zeit hatte der 40jährige Kutscher<br />

Anton Petsić (Pečić) angeblich dem Gastwirt Josef Gromilović <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gasthaus <strong>in</strong><br />

Sombor erzählt, dass er seit sieben Jahre „ununterbrochen“ e<strong>in</strong> Verhältnis zu Maria<br />

Hauswirth hätte <strong>und</strong> dass alle drei K<strong>in</strong>der von ihm seien, ja er habe dem „alten<br />

Spitzbuben Hauswirth“ mehr (an Geld) „verputzt“ als dieser noch an Vermögen habe<br />

<strong>und</strong> er wolle den „alten Herrn“ erschlagen <strong>und</strong> so <strong>in</strong> den Besitz „von dessen<br />

Vermögen <strong>und</strong> Gatt<strong>in</strong> zu gelangen.“ Endlich wurde dem Arzt klar, was schon lange als<br />

Gerücht im Haus, im Dorf <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Umgebung <strong>in</strong> Umlauf war: Nicht er, sondern<br />

23 KFL.I.2.a., Bácsordas, Michael Hauswirth – Maria Lebenthal, 1864, 1865.<br />

12


se<strong>in</strong> früherer Bediensteter <strong>und</strong> Kutscher war der Vater se<strong>in</strong>er drei K<strong>in</strong>der. Jetzt<br />

dämmerte ihm, warum es der männliche Dienstbote Anton Petsić se<strong>in</strong>er Me<strong>in</strong>ung<br />

nach e<strong>in</strong>ige Jahre im Hause ausgehalten hatte <strong>und</strong> warum se<strong>in</strong>e „Frau etwas von<br />

ihrem zänkischen Character verloren zu haben schien.“ Der Streit im Haus eskalierte.<br />

Sie sagte, er habe sie kurz nach der letzten Niederkunft mit der H<strong>und</strong>epeitsche<br />

geschlagen <strong>und</strong> isoliere sie im Haus <strong>und</strong> behauptete, er habe e<strong>in</strong> Verhältnis mit ihrer<br />

jüngeren Schwester; sie habe durch das Schlüsselloch beobachtet, wie diese ihn<br />

abends ausgezogen habe. Er bezeichnete sie als „Messal<strong>in</strong>a“ 24 , als „verworfene<br />

Gatt<strong>in</strong>“ mit „ihrem liederlichen Liebhaber“.<br />

Nachdem sich Maria Hauswirth an das Ehekonsistorium gewandt hatte <strong>und</strong> um<br />

Trennung gebeten hatte, begann e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Ause<strong>in</strong>andersetzung. Zahlreiche<br />

Zeugen wurden von beiden Parteien benannt. Das Ehegericht tagte am 14. September<br />

1864 <strong>in</strong> Karawukowa, am 18. <strong>und</strong> 22. Oktober 1864 im Pfarrhaus von Hodschag<br />

(serb. Odžaci, ung. Hódság) <strong>und</strong> am 10. November 1864 <strong>und</strong> 3. Januar 1865 im<br />

Schulgebäude von Karawukowa: Dort wurden Dienstboten, Nachbarn, Verwandte aus<br />

mehreren Orten als Zeugen befragt. Die Parteien <strong>und</strong> Zeugen benannten Fehler <strong>und</strong><br />

Verfehlungen der e<strong>in</strong>en oder anderen Partei. Die Eheleute bezichtigten sich <strong>in</strong> ihren<br />

Aussagen <strong>und</strong> Stellungnahmen der Lüge <strong>und</strong> der Gegenlüge, des Ehebruchs. Es kam<br />

zu Gegenüberstellungen, zu Protesten gegen Zeugenaussagen, die Eheleute sowie<br />

Zeugen beschworen die „Sittenre<strong>in</strong>heit“ oder die „tiefste moralische Versunkenheit“<br />

von Beteiligten, sprachen von „Schande“, von Menschen, die sich eigentlich nicht<br />

„des Ebenbildes unseres Schöpfers rühmen dürfen“, dem Pfarrer wurden<br />

„Schändlichkeiten“ angelastet, man sprach von „öffentlichem Ärgernis“, „ewiger<br />

Brandmarkung der unschuldigen K<strong>in</strong>der“, „Skandal“ <strong>und</strong> „skandalösem Leben“.<br />

Dabei hatte der um se<strong>in</strong>en Ruf <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e soziale Stellung besorgte Ehemann zunächst<br />

versucht „alles zu verbergen was der Außenwelt Anlaß zum Spott oder Gelächter<br />

bieten könnte“. So hatte er die letzte Schwangerschaft vertuschen wollen, <strong>in</strong>dem er<br />

se<strong>in</strong>e Frau „nach Zombor oder auf e<strong>in</strong>e benachbarte Ortschaft zum Entb<strong>in</strong>den<br />

senden“ wollte, „damit dem Skandal im Ort nicht neue Nahrung gegeben werde.“ Die<br />

K<strong>in</strong>der wurden <strong>in</strong>strumentalisiert; der älteste Sohn Gusti sagte, die Dienstbot<strong>in</strong> habe<br />

24 Messal<strong>in</strong>a (gest. 48 n. Chr.) war die dritte Frau des Kaisers Claudius (10 v. Chr. – 54 n. Chr.); ihr<br />

wurde e<strong>in</strong> ausschweifender Lebenswandel nachgesagt <strong>und</strong> sie soll mehrere Liebhaber gehabt haben.<br />

13


ihn gelehrt, über se<strong>in</strong>e Mutter zu sagen: „A Mama [a] Pecsics kurvája“ 25 – was das<br />

Dienstmädchen <strong>in</strong> der Zeugenaussage aber bestritten hatte mit dem H<strong>in</strong>weis, diese<br />

Beschimpfung hätten die K<strong>in</strong>der von den Nachbarsk<strong>in</strong>dern gelernt.<br />

Die meisten Zeugen lobten die Erziehung ohne den E<strong>in</strong>fluss der Mutter, nachdem<br />

deren jüngere Schwester die Führung des Haushalts übernommen hatte. Als Beweis<br />

führte die Zeug<strong>in</strong> Apollonia Recher an: „Daß die K<strong>in</strong>der jetzt besser erzogen werden,<br />

erhället daraus, daß früher wenn wir waschen s<strong>in</strong>d kommen, sie uns die Röcke<br />

aufgehoben 26 haben, was jetzt nicht geschieht, vielmehr sehen wir die K<strong>in</strong>der mit<br />

zusammen gelegten Händen täglich beten.“ Der Fall dokumentiert h<strong>in</strong>länglich<br />

<strong>in</strong>terne familiäre Vorgänge. E<strong>in</strong> Ausbruch aus der Ehe war so wohl nur über den Weg<br />

e<strong>in</strong>er völligen Deprivatisierung möglich.<br />

Sowohl die zu Protokoll gegebenen Befragungen durch das Ehegericht, als auch die<br />

Zeugenaussagen offenbarten e<strong>in</strong>en charakteristischen Tatbestand: Die<br />

Normverletzung an sich wurde zwar <strong>in</strong> Zeugenaussagen <strong>und</strong> Protokollen durchaus<br />

missbilligt, als besonders verwerflich galt jedoch das Öffentlichmachen e<strong>in</strong>es<br />

Tabubruches. So belasteten mehrere mit Maria Hauswirth verwandte Zeugen diese<br />

besonders deshalb hart, weil sie sich „anläßlich ihres öffentlich 27 geführten<br />

scandalösen Lebens, schämen.“ Deshalb sahen sie sich „als Christen <strong>und</strong> im Interesse<br />

der Wahrheitsliebe veranlaßt zu erklären“, dass sie ihren „schnöden Lebenswandel“<br />

„öffentlich 28 mit höchst schamloser Frechheit <strong>in</strong> der Behandlungsweise ihres<br />

Hausknechtes“ Anton Petsić betrieb. Auch Hauswirth selbst argumentierte<br />

entsprechend. In se<strong>in</strong>er Stellungnahme gegenüber dem Konsistorium äußerte er sich<br />

so, „daß ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em häuslichen <strong>und</strong> Familienleben alles Ungemach, alle<br />

Grobheiten, ja sogar die Schande selbst welche mir die schamlose Maria Hauswirth<br />

am Abend me<strong>in</strong>es Lebens, zum öffentlichen 29 Aergernisse <strong>und</strong> ewiger Brandmarkung<br />

der unschuldigen K<strong>in</strong>der verursacht hat mit Geduld <strong>und</strong> Ergebung getragen habe,<br />

<strong>und</strong> nur darauf bedacht war, dem weiteren skandalösen Leben <strong>und</strong> schamlosen<br />

Betragen dieser Messal<strong>in</strong>a e<strong>in</strong> Ziel zu setzen, was ihr aber jedoch nicht gefiel <strong>und</strong> sie<br />

25 Ung. „die Mama ist die H... des Pecsics“.<br />

26 Hoch gehoben.<br />

27 Hervorhebung durch den Verfasser des Beitrags.<br />

28 Eigene Hervorhebung.<br />

29 Eigene Hervorhebung.<br />

14


durch Anstiften ebenso scham- als gewissenloser Rathgeber aufgemuntert, gegen<br />

mich den vorliegenden Scheidungsprozeß anhängig machte.“ Auch se<strong>in</strong>e Frau<br />

bediente sich e<strong>in</strong>er entsprechenden Argumentation. Zunächst unterstellte sie ihrer<br />

Schwester, e<strong>in</strong> Verhältnis mit ihrem Mann zu haben, weil diese ihrem Mann als<br />

Haushälter<strong>in</strong> „nicht nur die obere Kleider, sondern sogar das Hemd“ ausgezogen<br />

habe <strong>und</strong> sie „setzte sich an das Bette me<strong>in</strong>es Mannes, was e<strong>in</strong> sittliches Mädchen<br />

nicht thut, <strong>und</strong> dieses alles habe ich selbst gesehen <strong>und</strong> zwar durch das Schlüßelloch“<br />

Erst danach äußerte sie den wohl stärksten Vorwurf, <strong>in</strong>dem sie zu Protokoll gab: „Daß<br />

die K<strong>in</strong>der verdorben s<strong>in</strong>d beweiset h<strong>in</strong>länglich daß sie mich öffentlich 30 e<strong>in</strong>e „Kurva“<br />

nennen. Ich will daher die K<strong>in</strong>der jedenfalls zu mir nehmen desto mehr, weil auch<br />

Hauswirth zweifelt an die rechtmäßige Geburt derselben, <strong>in</strong>dem er sagt „leider auf<br />

den Namen nach me<strong>in</strong>e“ K<strong>in</strong>der.“<br />

Beide Fallbeispiele zeigen deutliche Charakteristika der Ehegerichtsbarkeit, sie s<strong>in</strong>d<br />

durchaus spektakulär <strong>und</strong> es handelt sich um Fälle aus verschiedenen<br />

Konfessionen. 31 Prozesse, <strong>in</strong> denen es um den katholischen Eheb<strong>und</strong> bzw. um dessen<br />

30 Eigene Hervorhebung.<br />

31 Zur Ehegerichtsbarkeit <strong>in</strong> der Batschka: Krauss, Karl-Peter: „Frauen <strong>in</strong> Not. Das Ehegericht <strong>in</strong> der<br />

Batschka im Prozess der Konsolidierung <strong>und</strong> Diszipl<strong>in</strong>ierung“. In: Bendel, Ra<strong>in</strong>er; Spannenberger,<br />

Norbert (Hg.): Kirchen als Integrationsfaktor für die Migranten im Südosten der<br />

Habsburgermonarchie im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert. (Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft im Karpaten-Donauraum, Bd. 1).<br />

Berl<strong>in</strong> u. a. 2010, S. 163–192. Allgeme<strong>in</strong> zur Ehegerichtsbarkeit: Becker, Peter: Leben <strong>und</strong> Lieben <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em kalten Land. Sexualität im Spannungsfeld von Ökonomie <strong>und</strong> Demographie. Das Beispiel St.<br />

Lambrecht 1600–1800. (Studien zur Historischen Sozialwissenschaft, Bd. 15). Frankfurt, New York<br />

1990; Beck, Ra<strong>in</strong>er: Frauen <strong>in</strong> Krise. Eheleben <strong>und</strong> Ehescheidung <strong>in</strong> der ländlichen Gesellschaft<br />

Bayerns während des Ancien régime. In: Dülmen, Richard van (Hg.): Dynamik der Tradition. (Studien<br />

zur historischen Kulturforschung, 4)). Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1992. S. 137–212; Burghartz, Susanna:<br />

Ehen vor Gericht. Die Basler Ehegerichtsprotokolle im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: W<strong>und</strong>er, Heide (Hg.): E<strong>in</strong>e<br />

Stadt der Frauen. Studien <strong>und</strong> Quellen zur Geschichte der Basler<strong>in</strong>nen im späten Mittelalter <strong>und</strong> zu<br />

Beg<strong>in</strong>n der Neuzeit (13.–17. Jahrh<strong>und</strong>ert). Basel, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1995, S. 167–187; Burghartz,<br />

Susanna: Jungfräulichkeit oder Re<strong>in</strong>heit? Zur Änderung von Argumentationsmustern vor dem Basler<br />

Ehegericht im 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Dülmen, Richard von (Hg.): Dynamik der Tradition.<br />

(Studien zur historischen Kulturforschung IV). Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1992, S. 13–40. E<strong>in</strong>e umfassende<br />

Darstellung bietet: Burghartz, Susanna: Zeiten der Re<strong>in</strong>heit – Orte der Unzucht. Ehe <strong>und</strong> Sexualität <strong>in</strong><br />

Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn u. a. 1999. Siehe auch die neueste Literatur dazu: Lutz,<br />

Alexandra: Ehepaare vor Gericht: Konflikte <strong>und</strong> Lebenswelten <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit. Frankfurt am<br />

Ma<strong>in</strong> 2006. E<strong>in</strong>e solide Diplomarbeit über die Ehegerichtsakten des Konsistoriums von Brixen<br />

15


Ungültigkeitserklärung oder die Trennung von Tisch <strong>und</strong> Bett („separatio a thoro et<br />

mensa“) oder auch die lebenslange Trennung, die „separatio perpetua“ g<strong>in</strong>g, oblagen<br />

der Gerichtsbarkeit der katholischen Kirche. Seit der Gegenreformation hatte sich der<br />

Zugriff der katholischen Kirche <strong>in</strong> allen Ehefragen verstärkt. Es galt, deutliche<br />

Akzente gegenüber der protestantischen Haltung zu setzen, die e<strong>in</strong>e Ehe bis zu e<strong>in</strong>em<br />

gewissen Umfang, wie Luther es ausdrückte, als „weltlich D<strong>in</strong>g“ ansah. Im „ius<br />

canonicum“ war die Ehe e<strong>in</strong> Sakrament. Das führte zum Anspruch der katholischen<br />

Kirche, alle<strong>in</strong> über Form <strong>und</strong> Inhalt dieser göttlichen Institution zu entscheiden. E<strong>in</strong><br />

wichtiger Meilenste<strong>in</strong> war das Konzil von Trient (1563). Neue Normen <strong>in</strong>tensivierten<br />

die Überwachung der Heiraten <strong>und</strong> Ehen. Die streng katholische Ehe etablierte sich,<br />

die unauflösbar war oder, weniger euphemistisch ausgedrückt, aus der es ke<strong>in</strong><br />

Entr<strong>in</strong>nen gab. Diese Unauflösbarkeit setzte sofort mit dem Beg<strong>in</strong>n der „copula<br />

carnalis“ e<strong>in</strong>. Die Akten gewähren e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die von „Überlebensimperativen“<br />

aus wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Zwängen geprägten ehelichen Geme<strong>in</strong>schaften der<br />

e<strong>in</strong>fachen Leute, bei denen Gefühle, Betroffenheit, Liebe h<strong>in</strong>ter dem harten<br />

Pragmatismus alltäglichen Überlebens nur schwer offenbar werden.<br />

E<strong>in</strong>e andere rechtliche Situation h<strong>in</strong>sichtlich der Zuständigkeit für Ehegerichtsfragen<br />

bestand <strong>in</strong> den reformierten Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong> Ungarn. Deren Diözesen durften die<br />

Eheprozesse nach der „Carol<strong>in</strong>a Resolutio“ 1731 nicht selbst abwickeln. 32 So wurde<br />

die Ehescheidung der weltlichen Gerichtsbarkeit übergeben. Gleichwohl zeigt die<br />

Praxis, dass das jeweilige Herrenstuhlgericht (sedes dom<strong>in</strong>alis) im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

häufig <strong>in</strong> Ehefragen e<strong>in</strong>griff, wenn es darum g<strong>in</strong>g, die Eheleute wieder zusammen zu<br />

br<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> natürlich bei Fällen von strafrechtlicher Relevanz, wie etwa im Fall von<br />

Polygamie. In der Praxis war die protestantische Ehegerichtsbarkeit jedoch stark an<br />

das Verfahren des katholischen Ehekonsistoriums angelehnt: Der Pfarrer musste e<strong>in</strong><br />

Gutachten ausstellen, es mussten Zeugnisse beigebracht werden, es gab e<strong>in</strong>en<br />

Verteidiger der Ehe.<br />

erstellte: Terzer Anegg, Ute: „bey unserer beysam wohnung ke<strong>in</strong> daurhafter ehefrieden anzuhoffen...“<br />

Die katholische Ehescheidungsvariante der Trennung von Tisch <strong>und</strong> Bett im Spiegel von<br />

Ehegerichtsakten des Konsistoriums von Brixen 1750–1800. Diplomarbeit. Innsbruck 2003.<br />

32 Vgl. dazu mit weiteren H<strong>in</strong>weisen: Bahlcke, Joachim: Ungarischer Episkopat <strong>und</strong> österreichische<br />

Monarchie. Von e<strong>in</strong>er Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005, S. 210, 211.<br />

16


In beiden Konfessionen wurde e<strong>in</strong>e Versöhnung angestrebt, was für die Ehepartner<br />

häufig e<strong>in</strong>e jahrelange Belastung darstellte. Diese Versöhnungen wurden durch<br />

Verträge abgesichert. So etwa beim Tischlermeister Anton Aman <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Frau<br />

Anastasia Radojcsics aus Apat<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>en „fre<strong>und</strong>schaftlichen Ehe-Vertrag vor dem<br />

heiligen Stuhl“ im April 1810 abschließen mussten. 33 Sie schwor, „h<strong>in</strong>führo e<strong>in</strong><br />

x[chris]tliches Leben zu führen“ <strong>und</strong> dass sie bei „ihrem Mann treu verbleiben<br />

werde“. Sollte sie diese „Bed<strong>in</strong>gnisse“ nicht e<strong>in</strong>halten, würde sie ihr „ganzes<br />

Vermögen“ verlieren. Die Ehefrau sei nach Aussage e<strong>in</strong>es Zeugen bei vielen<br />

Handwerksburschen bis nach Pest <strong>und</strong> Ofen bekannt gewesen, für außereheliche<br />

Beziehungen offen zu se<strong>in</strong>.<br />

Die joseph<strong>in</strong>ische Reformgesetzgebung hatte auch für Ehefragen e<strong>in</strong>e Zäsur gebracht.<br />

Die utilitaristische Kirchenpolitik Josephs II., das aufgeklärte Staatskirchentum,<br />

brachte die Kirche unter weitgehende staatliche Kontrolle. 34 1786 hatte Joseph II.<br />

gegen starken kirchlichen Widerstand durch e<strong>in</strong> Reskript die Angelegenheiten der<br />

Ehe auch <strong>in</strong> Ungarn <strong>in</strong> die Kompetenz des Staates verwiesen. Schon 1790 kehrte man<br />

jedoch zur vorherigen Praxis zurück.<br />

Welcher Ton gegenüber der Kirche <strong>in</strong> der Regierungszeit von Joseph II. herrschte,<br />

mag e<strong>in</strong> Beispiel verdeutlichen: So berichtet die Ungarische Hofkanzlei am 26.<br />

Januar 1787 über den Bischof von Rosenau (rum. Răşnov, ung. Barcarozsnyó) 35 , der<br />

sich weigerte, e<strong>in</strong>er Katholik<strong>in</strong> den Ehedispens für die Hochzeit mit e<strong>in</strong>em im dritten<br />

<strong>und</strong> vierten Grade verwandten Protestanten zu erteilen. 36 Spöttisch bemerkt der<br />

Verfasser, dass der Bischof für diese Entscheidung die Augen zum Himmel<br />

emporgehoben hätte <strong>und</strong> zugleich „die Ewigkeit <strong>und</strong> das jüngste Gericht“ betrachtet<br />

hätte. Das Verhalten des Kirchenmannes sei e<strong>in</strong> „Casus occultus“ <strong>und</strong> es wurde<br />

empfohlen, „die Halsstärrigkeit dieses geistlichen Vorstehers e<strong>in</strong>zusehen“. E<strong>in</strong>e<br />

„Sperrung der Temporalien“ würde aber nichts nützen, weil er durch se<strong>in</strong>e<br />

33 KFL.I.2.a., Apat<strong>in</strong>, Anton Aman – Anastasia Radojcsics, 1808–1810.<br />

34 Adriányi, Gabriel: Beiträge zur Kirchengeschichte Ungarns. (Studia Hungarica, Nr. 30). München<br />

1986, S. 18, 19. Csáky, Moritz: Von der Aufklärung zum Liberalismus. Studien zum Frühliberalismus <strong>in</strong><br />

Ungarn. (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs, Band 10). Wien 1981.<br />

35 Burzenland, Siebenbürgen.<br />

36 Haus- Hof- <strong>und</strong> Staatsarchiv, Wien, Staatskanzlei, Notenwechsel, 32, 1785–1787, vom 26.01.1787, o.<br />

fol.<br />

17


„Dummheit <strong>und</strong> Unbiegsamkeit“ glaubte, dass sich der Himmel öffnen würde.<br />

Deshalb wurde empfohlen, er möge se<strong>in</strong>e Demission e<strong>in</strong>reichen <strong>und</strong> „dieser<br />

Gegenstand“ sei so „erledigt“.<br />

Entsprechend der Rechtslage f<strong>in</strong>den sich Quellen zur Ehegerichtsbarkeit bei den<br />

zuständigen Bistümern. So liegen die Akten über die Batschka im Erzdiözesanarchiv<br />

<strong>in</strong> Kalocsa. Sie setzen zaghaft <strong>in</strong> der Mitte des 18. Jahrh<strong>und</strong>ert e<strong>in</strong>. Die teilweise<br />

dürftige Aktenlage ist zunächst ke<strong>in</strong> Spiegel für das Fehlen von<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzungen <strong>in</strong> den Ehen oder Trennungen, sondern eher Ausdruck e<strong>in</strong>er<br />

mangelnden kirchlich-adm<strong>in</strong>istrativen Konsolidierung des Raumes <strong>und</strong> lückenhafter<br />

Akten. 37 Auch <strong>in</strong> lokalen Kirchenarchiven f<strong>in</strong>den sich immer wieder entsprechende<br />

Dokumente. 38 Dabei versuchten die Ortspfarrer viele Fälle auf der unteren Ebene zu<br />

regeln, was ke<strong>in</strong>e Akten produzierte. G<strong>in</strong>g es nicht um Trennung, sondern „nur“ um<br />

Streit, Körperverletzung, Übergriffe, massive Streitigkeiten, waren auch <strong>in</strong> der<br />

katholischen Kirche die Herrenstühle bzw. <strong>in</strong> den Städten zunächst der städtische Rat<br />

zuständig. Oberstes Gebot war, e<strong>in</strong>e Ehe zu retten, was besonders für abhängige<br />

Frauen jahrelange Nöte <strong>und</strong> Leiden verursachte.<br />

Normverletzung <strong>und</strong> Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung <strong>in</strong> Ehegerichtsverfahren<br />

In se<strong>in</strong>er Arbeit über den Ehebruch <strong>in</strong> Halas <strong>in</strong> der überwiegend reformierten Großen<br />

Tiefebene im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert zeigte Attila Melegh, wie hart <strong>und</strong> unnachgiebig<br />

entdeckter Ehebruch geahndet wurde <strong>und</strong> wie stark die Stigmatisierung der<br />

Betroffenen war. 39 Dort wurde e<strong>in</strong> entsprechendes Fehlverhalten auch <strong>in</strong> den<br />

Matrikelbüchern e<strong>in</strong>getragen. Auch die hier dargelegten sowie weitere Beispiele aus<br />

37 Die Akten im Erzdiözesanarchiv von Kalocsa s<strong>in</strong>d seit wenigen Jahren zugänglich. Im Zweiten<br />

Weltkrieg waren sie aufgr<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er schnellen Evakuierungsmaßnahme <strong>in</strong> feuchte Kellerräume<br />

umgelagert worden, wo sie massiven Beschädigungen ausgesetzt waren. Nach der Trocknung wurden<br />

offensichtlich große Mengen kassiert. Heute s<strong>in</strong>d die noch stattlichen Restbestände wieder vorbildlich<br />

nach dem Provenienzpr<strong>in</strong>zip gemäß der ursprünglichen Ordnung nach e<strong>in</strong>zelnen Ortschaften<br />

gegliedert <strong>und</strong> verzeichnet. Für diese Informationen sei dem Direktor des Archivs, Herrn Dr. Andor<br />

Lakatos, gedankt. Die gründliche Verzeichnung führten Viktória Banga <strong>und</strong> Gabriella Csongrádi<br />

durch.<br />

38 So zum Beispiel <strong>in</strong> den Kirchenarchiven von Palanka <strong>und</strong> Priglewitz St. Iwan.<br />

39 Melegh, Attila: Házasságtörés Halason a 17-18. században (Ehebruch <strong>in</strong> Halas im 17.–18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert). In: Történeti demográfiai évkönyv 2000, S. 266–291.<br />

18


dem Bistum Kalocsa machen Folgendes deutlich: Eheliche Konflikte wurden <strong>in</strong> den<br />

öffentlichen Raum getragen, häufig von den Betroffenen selbst auf der Suche nach<br />

Verbündeten. Aussagen der Konfliktparteien mussten durch „Attestate“, „Zeugnisse“,<br />

Untersuchungsberichte <strong>und</strong> Zeugenaussagen untermauert werden. Das ermöglicht<br />

dem späteren Betrachter e<strong>in</strong>en zwar begrenzten, aber wertvollen Blick <strong>in</strong> die<br />

„Innenwelt“ der betroffenen Familien, <strong>in</strong> die sozialen Beziehungen, <strong>in</strong> das Normen<strong>und</strong><br />

Wertesystem der Beteiligten. Doch begrenzt wird diese Wahrnehmung, weil die<br />

Aussagen nicht aus freien Stücken zustande gekommen s<strong>in</strong>d. Dadurch erzählen die<br />

Darstellungen mitunter mehr darüber, was die Betroffenen glaubten, von den<br />

Vernehmenden hören zu wollen wie darüber, was sie selbst dachten. Das aber lässt<br />

gleichwohl e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die (vermuteten) Normvorstellungen der kirchlichen<br />

<strong>und</strong> weltlichen Obrigkeit zu. Zugleich zeigt dies, wie sehr die Untertanen<br />

entsprechende Normvorstellungen ver<strong>in</strong>nerlicht hatten, um sie ggf. zu<br />

<strong>in</strong>strumentalisieren.<br />

Die Beispiele erlauben zudem e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das System sozialer Kontrolle<br />

<strong>in</strong>nerhalb des Dorfes, sie lassen erahnen, welche sozialkonformen Stellungnahmen<br />

von der kirchlichen, aber auch weltlichen Obrigkeit erwartet wurden <strong>und</strong> sie zeugen<br />

von der Selbstpositionierung der Zeugen im gesellschaftlichen Normensystem. Sie<br />

zeigen aber auch, wie begrenzt <strong>in</strong>dividuelle Privatheit <strong>in</strong> ländlichen Gesellschaften<br />

der Frühen Neuzeit <strong>in</strong>nerhalb der Familie, Verwandtschaft, der Dorfgeme<strong>in</strong>schaft<br />

war <strong>und</strong> wie gerade die öffentliche Verletzung von Normen als<br />

sanktionierungsbedürftig gesehen wurde, weil nicht nur e<strong>in</strong> Schaden dem die Norm<br />

verletzenden Individuum, sondern der Familie, der Verwandtschaft oder gar dem<br />

Dorf erwuchs. Wenn e<strong>in</strong> Zeuge über Michael Hauswirth abfällig sagte „Er ist ke<strong>in</strong><br />

guter katholischer Christ, die Kirche besucht er nicht, verachtet die Religion“, dann<br />

handelte es sich um e<strong>in</strong>e Aussage, um dessen Position im ehelichen Konflikt bewusst<br />

zu schwächen. Die E<strong>in</strong>wirkungen von außen verstärkten so die Polarisierung,<br />

Stigmatisierung, oft auch das Ausgeliefertse<strong>in</strong> des schwächeren Partners <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Gesellschaft, <strong>in</strong> der es sehr darauf ankam, nicht „ehrlos“ zu se<strong>in</strong> <strong>und</strong> den „guten Ruf“<br />

zu wahren.<br />

Oft waren es die Frauen, die nur schwer starke Verbündete fanden. So erg<strong>in</strong>g es<br />

Christ<strong>in</strong>a Mutter aus Apat<strong>in</strong>, die am 8. Januar 1811 beim Herrenstuhl zum<br />

wiederholten Male Klage e<strong>in</strong>reichte, weil ihr Mann „gegen mich <strong>und</strong> die K<strong>in</strong>der […]<br />

19


schreckliche <strong>und</strong> verabscheuungswürdige Beschimpfungen“ (blasphaemiae) ausstieß,<br />

„so dass wir gezwungen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> Nachbarhäusern, weil wir unseres Lebens nicht mehr<br />

sicher s<strong>in</strong>d, uns zu verbergen <strong>und</strong> zu schlafen.“ 40 Auch hier war es e<strong>in</strong> Teil der<br />

Öffentlichkeit, die vom Verhalten ihres Mannes wissen musste, was Christ<strong>in</strong>a Mutter<br />

so formulierte: „Nun ist klar, dass er alles aus se<strong>in</strong>er Bosheit heraus macht, er<br />

entzieht mir <strong>und</strong> me<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>dern die tägliche Lebensgr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> schloss alles e<strong>in</strong>,<br />

was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Haus weggeschlossen werden konnte. Unsere Nachbarn<br />

<strong>und</strong> die <strong>in</strong> unserem Haus lebenden Sub<strong>in</strong>quil<strong>in</strong>i (E<strong>in</strong>sitzer) können <strong>und</strong> wollen<br />

immer Zeugnis geben, dass er mich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen, so überaus schlechten Zustand<br />

unterdrückt hielt.“ Geschickt brachte sie nicht nur ihr eigenes Anliegen vor, sondern<br />

charakterisierte ihren Mann als jemand, der die gesellschaftliche <strong>und</strong> göttliche<br />

Ordnung bedrohte: „Dieser Mensch hat ke<strong>in</strong>erlei Menschlichkeit, ke<strong>in</strong>en Respekt<br />

gegenüber der Obrigkeit <strong>und</strong> er schämt sich nicht, zwischen se<strong>in</strong>em gewohnten<br />

Geschrei zu sagen, dass es ke<strong>in</strong>en Gott gebe.“ Doch die Dorfobrigkeit sah sich<br />

ke<strong>in</strong>eswegs veranlasst, die Frau zu unterstützen <strong>und</strong> verfasste e<strong>in</strong> Zeugnis, <strong>in</strong> der ihre<br />

Klage als „übertrieben boshaft“ bezeichnet wurde, denn „eben dieser Mann, auch<br />

wenn er berauscht ist“ habe sich immer „friedlich betragen“ <strong>und</strong> es habe noch nie<br />

Klagen wegen „Fluchen <strong>und</strong> Gotteslästerungen“ gegeben. Auch würde er „sich doch<br />

nicht forthwährend <strong>und</strong> meistens <strong>in</strong> den Wirthshäußern aufhalten sondern auch [!]<br />

se<strong>in</strong>er Wirthschaft vorstehn – <strong>und</strong> [dass er] bisher noch <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e Schulden versunken<br />

seye“. Allerd<strong>in</strong>gs wurde e<strong>in</strong>schränkend gesagt, man wisse nicht, was er „zu Hause<br />

etwa für Unordnungen anrichten möge“, vielleicht mache er dies wegen se<strong>in</strong>es<br />

„zänkischen Weibes.“ Dem folgte noch e<strong>in</strong> positives Gutachten des Ortsvorstandes<br />

von Priglewitz St. Iwan, <strong>in</strong> dem im Wesentlichen stand, dass dieser Kaspar Mutter<br />

3.705 Gulden nach Apat<strong>in</strong> mitgenommen hätte, nachdem er se<strong>in</strong> Haus <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Landmühle verkauft hatte. Damit entlarvten sich Richter <strong>und</strong> Geschworene <strong>in</strong><br />

bemerkenswerter Weise; offensichtlich spielte die wirtschaftliche Leistungskraft<br />

e<strong>in</strong>es zu Beurteilenden e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle, was wiederum E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> das<br />

gesellschaftliche Wertesystem vermittelt. In e<strong>in</strong>em weiteren, vom Richter <strong>und</strong> sechs<br />

Geschworenen unterzeichneten Zeugnis wurde festgehalten, dass Kaspar Mutter sich<br />

„40 Jahre ehrlich, friedlich <strong>und</strong> übertreu verhalten habe“. Dabei wollte die Frau nur<br />

40 AVN, F 2, BBŽ, kutija 443, o. fol.<br />

20


„irgend e<strong>in</strong>e geeignete Maßnahme“, um sich vor ihrem Mann zu schützen, „da<br />

ke<strong>in</strong>erlei Hoffnung auf Besserung me<strong>in</strong>es vorgenannten Ehemanns besteht.“<br />

E<strong>in</strong>e ähnliche Sachlage ergab sich bei Margaretha Wolf, geborene Beck aus Bulkes<br />

(serb. Buljkes, heute Bački Maglić, ung. Bulkeszi) durch e<strong>in</strong> entsprechendes<br />

„Zeugnis“ des Ortsvorstandes, der ihren Mann als „friedsam“ <strong>und</strong> „ehrlich“<br />

bezeichnete, <strong>und</strong> der auf „bittliches Ansuchen“ an den Ortsvorstand herangetreten<br />

war. 41 Pfarrer Joseph Spannagel relativierte <strong>in</strong>des die Stellungnahme des<br />

Ortsvorstandes (Richter Peter Bäcker <strong>und</strong> die Geschworenen Jakob Weber, Peter<br />

Pflaum <strong>und</strong> Johann Wahl) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kurzbericht vom 17. Januar 1815. Er schrieb,<br />

dass <strong>in</strong> der am 12. November 1811 geschlossenen Ehe bald die „heftigsten<br />

Une<strong>in</strong>igkeiten“ entstanden waren. Auch alle se<strong>in</strong>e „Zuredungen <strong>und</strong><br />

Zurechtweisungen“ seien „fruchtlos“ geblieben, auch habe Margaretha Wolf<br />

mehrmals ihren Mann verlassen. Und schließlich sei sie untreu geworden, so der<br />

Pfarrer, weil sie „endlich durch e<strong>in</strong>en Purschen zu Fall gebracht“ worden wäre. In<br />

e<strong>in</strong>em Schreiben vom 26. August 1815 nahm der Pfarrer dabei e<strong>in</strong>e gegenüber dem<br />

Ortsvorstand völlig konträre Haltung e<strong>in</strong>. Dar<strong>in</strong> besche<strong>in</strong>igte er Margaretha Wolf,<br />

dass sie vor ihrer Ehe immer e<strong>in</strong> ehrliches Leben geführt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en guten Ruf (fama)<br />

gehabt hätte. In e<strong>in</strong>em am gleichen Tag datierten Bericht legt der Pfarrer die<br />

Ursachen dar. Er habe die Frau nach den Ursachen des Defektes (defectio) des<br />

Mannes gefragt, worauf diese antwortete, man habe sie zur Ehe gezwungen <strong>und</strong> sie<br />

könne ihren Ehemann umso weniger ertragen als sie von demselben hart behandelt<br />

werde, mit verschiedenen unwürdigen Beschimpfungen versehen wurde <strong>und</strong><br />

bisweilen auch Schläge erhielte. Zur Festigung ihrer eigenen Position hatte<br />

Margaretha Wolf noch e<strong>in</strong>e „Visa reparta“ sowie e<strong>in</strong> Zeugnis des Chirurgen Andreas<br />

Veberth beigebracht. Der Chirurg besche<strong>in</strong>igte ihr e<strong>in</strong>e gefährliche, drei Zoll große,<br />

verwachsene W<strong>und</strong>e am Hals mit erheblichen Schluckbeschwerden, so dass man sie<br />

auch kaum verstehen könnte. Das zwang sie laut dem zusätzlich erstellten Zeugnis zu<br />

e<strong>in</strong>er Behandlung (Cur), die drei Wochen <strong>und</strong> vier Tage dauerte. Die Kosten wurden<br />

mit 16 fl. Wiener Währung angegeben. Diesen Betrag hatte ihr Vater Johannes Beck<br />

bezahlt, „weil sich die Patient<strong>in</strong> ihr Ehe Man gahr nichts an sie kehrte, wen diese<br />

Patient<strong>in</strong> nicht ihre liebe Ältern gehabt hätte, die sie verpflegt hätten, so müßte sie zu<br />

Gr<strong>und</strong> gehen.“<br />

41 AVN, F 2, BBŽ, kutija 511, o. fol.<br />

21


Dabei konnte die Obrigkeit der Geme<strong>in</strong>de durchaus bestimmt <strong>und</strong> nachdrücklich<br />

e<strong>in</strong>greifen, wenn sie neben der Gefahr für die Frau <strong>und</strong> Familie e<strong>in</strong>es zur Gewalt<br />

neigenden Widerspenstigen auch die öffentliche Ordnung bedroht sah. Dazu gehörte<br />

zweifellos, wenn neben dem schlechten Lebenswandel auch noch Müßiggang kam. So<br />

wandte sich der Ortsvorstand von Apat<strong>in</strong> mit Datum vom 24. April 1817 an den<br />

Herrenstuhl „<strong>in</strong> Betref des Seilermeisters Anton Horner <strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Eheweibes<br />

ehemals verwittibten Anton Rod<strong>in</strong>“. 42 Bisherige Ermahnungen durch das Ortsgericht<br />

seien fruchtlos geblieben, auch wäre Horner schon e<strong>in</strong>mal „wegen se<strong>in</strong>es höchst<br />

lüderlichen Lebenswandels <strong>in</strong> den herrschaftlichen Arrest abgeliefert“ worden. Doch<br />

jetzt könne man nicht länger zusehen, weil dieser Mensch „fortwährend e<strong>in</strong>en<br />

unverbesserlich ausschweifenden Lebenswandel führet – ke<strong>in</strong>er Arbeit nachgehet –<br />

dem Saufen ganz ergeben ist, <strong>und</strong> se<strong>in</strong> bedauernswürdiges Eheweib – von welcher<br />

doch das Haus <strong>und</strong> die Wirthschaft herkommt – mit grausamen Schlägen <strong>und</strong><br />

öfterem Fortjagen gottlos <strong>und</strong> unbarmherzig behandelt, ja höchst nahe daran seye,<br />

das arme Weib ganz um das Ihrige, <strong>und</strong> sie selbst <strong>in</strong> ihrem Alter an den Bettelstab“<br />

br<strong>in</strong>gen würde. Das Eheweib habe h<strong>in</strong>gegen, nachdem man dazu die Nachbarn<br />

vernommen habe, als sie Anton Horner heiratete, ihre Wirtschaft <strong>in</strong> ordentlichem<br />

Zustand gehab, auch „fährt sie fort ihr Hauswesen, <strong>und</strong> ihren Hausgarten <strong>in</strong> gutem<br />

Stand zu erhalten, wenn sie nicht durch die grausamen Behandlungen ihres<br />

ruchlosen Mannes, <strong>und</strong> das öftere Wegjagen aus ihrem Hause daran geh<strong>in</strong>dert wird.“<br />

Diese Schilderung wurde dem Herrenstuhl zur „zweckmäßigen Information“<br />

gegeben, damit dieses gegen Horner e<strong>in</strong>schreiten konnte. Auch <strong>in</strong> dieser Akte<br />

schimmern angesichts der Normverletzung die von sozioökonomischen Motiven<br />

getragenen Normvorstellungen durch, oder zum<strong>in</strong>dest das, was das Ortsgericht als<br />

solche betrachtete. Neben den die häusliche <strong>und</strong> dörfliche Ordnung gefährdenden<br />

Anton Horner trat als Gegenbild die arbeitsame <strong>und</strong> fleißige Frau, die ihr Anwesen <strong>in</strong><br />

Ordnung zu halten versuchte.<br />

Ausblick<br />

Der Gang vor das Ehegericht stand im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert im hier näher <strong>in</strong> den<br />

Fokus genommenen ländlichen Raum der Batschka meist am Ende e<strong>in</strong>es längeren<br />

42 AVN, F 2, BBŽ, kutija 443, o. fol.<br />

22


Leidensweges. Meist waren es die Frauen, die diesen Schritt beg<strong>in</strong>gen, weil sie ke<strong>in</strong>en<br />

anderen Ausweg mehr sahen. Oft waren jahrelange Bemühungen vorausgegangen,<br />

doch noch zu e<strong>in</strong>em gedeihlichen Mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> der Ehe zu kommen. Dazu wandten<br />

sich e<strong>in</strong>er oder beide Ehepartner zunächst an den Ortsvorstand, besonders aber den<br />

Pfarrer. Er war meist die erste Anlaufstelle, Autorität <strong>und</strong> Deutungs<strong>in</strong>stanz <strong>in</strong><br />

Ehefragen. Erst wenn er nichts mehr ausrichten konnte oder wollte oder wenn<br />

gegenüber dem Pfarrer Misstrauen <strong>und</strong> Vorbehalte bestanden, „griff“ die nächste<br />

Instanz, eben das Ehekonsistorium oder, bei Protestanten, die<br />

Komitatsgerichtsbarkeit durch den Herrenstuhl. Bei Straftaten <strong>in</strong> der Ehe war der<br />

Herrenstuhl <strong>in</strong> allen Fällen zuständig. Für das frühe 19. Jahrh<strong>und</strong>ert s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Bezug<br />

auf ländliche Geme<strong>in</strong>den relativ wenige Ehegerichtsbarkeitsfälle überliefert. Denn<br />

wer vor das Ehegericht kam, dessen Ruf <strong>und</strong> Ehre waren nicht nur gefährdet,<br />

sondern oft auch dessen soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Existenz. Häufig wird <strong>in</strong> diesen<br />

Akten von „Skandal“, „Schande“, „Ehre“, „öffentlichem“ Ärgernis gesprochen. Diese<br />

Begriffe signalisieren ausnahmslos, dass Tatbestände <strong>in</strong> den öffentlichen, sozialen<br />

Raum getragen wurden. Gerade das schien für die Betroffenen als besonders<br />

schwerwiegend aufgefasst worden zu se<strong>in</strong>. Denn damit war die soziale<br />

Stigmatisierung verb<strong>und</strong>en. Gerade die Involvierung von Pfarrern, Ortsvorständen,<br />

Notaren, Ärzten, Zeugen, Verwandten, Nachbarn u. a. war geeignet, Skandale zu<br />

<strong>in</strong>szenieren <strong>und</strong> damit Grenzen zu markieren. Damit aber lassen selbst die relativ<br />

seltenen Ausnahmefälle von Ehegerichtsprozessen Rückschlüsse auf die Auslichtung<br />

der <strong>Alltagspraxis</strong> zu. Die <strong>Normverletzungen</strong> legten die Grenzen offen, wie weit die<br />

Norm gehen konnte <strong>und</strong> durfte, sie forderten das „Geschwätz“ heraus <strong>und</strong> damit die<br />

Diskussionen, was „sich gehört“ oder „was sich nicht gehört“.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Tatbestand drängt sich auf: Im frühem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert sche<strong>in</strong>en die<br />

Konsolidierungsprozesse der kirchlichen <strong>und</strong> weltlichen Institutionen <strong>in</strong> den<br />

Neoacquistica-Gebieten weit fortgeschritten gewesen zu se<strong>in</strong>. Die im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

immer wieder beschriebene mangelnde Zusammenarbeit bis h<strong>in</strong> zur gegenseitigen<br />

Blockade zwischen Pfarrer e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> der Dorfobrigkeit, ggf. der Gr<strong>und</strong>herrschaft<br />

andererseits wird nur noch selten <strong>in</strong> den Kanonischen Visitationen festgehalten.<br />

Damit konnten <strong>Normverletzungen</strong> nachhaltig sanktioniert werden. Erstaunlich ist,<br />

wie stark der Konsens zwischen Ortsvorstand <strong>und</strong> der kirchlichen Obrigkeit <strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>zelfällen reicht, während man <strong>in</strong> vielen Quellen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts die sich<br />

konsolidierenden Siedler <strong>und</strong> ihre kirchliche Obrigkeit als „Konfliktgeme<strong>in</strong>schaft“<br />

23


wahrnimmt. Bis zum frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert sche<strong>in</strong>t sich eher e<strong>in</strong>e<br />

„Konsensgeme<strong>in</strong>schaft“ geformt zu haben. Jetzt war der Ortsvorstand wohl verstärkt<br />

an der Aufrechterhaltung der sozialen „Ordnung“ <strong>in</strong>teressiert, die durchaus auch e<strong>in</strong>e<br />

gesellschaftspolitische <strong>und</strong> wirtschaftliche Konnotation hatte. Die öffentliche<br />

Ordnung schien dann besonders gefährdet, wenn, wie im Fall des Arztehepaares,<br />

exponierte Personen im Mittelpunkt des Skandals standen. Hier genügte die auf<br />

sozialen Ursachen beruhende Stigmatisierung nicht mehr. Umso erstaunlicher ist es,<br />

dass es gelang, den „Skandal“ um Pfarrer Franz Müller aus dem kollektiven<br />

Gedächtnis der Ortsbewohner zu verbannen. Ist dies schon Ausdruck e<strong>in</strong>er<br />

konsolidierten, gefestigten Stellung der Kirche? Ist diese „Konsensgesellschaft“ e<strong>in</strong>e<br />

Folge der Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung oder basierte die weitgehende Unterstützung der<br />

Kirche auf der Erkenntnis, dass ohne sozialen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Konsens<br />

erhebliche Reibungsverluste entstehen? Oder hatte sich die Dorfobrigkeit zur<br />

Wahrung eigener wirtschaftlicher <strong>und</strong> gesellschaftlicher Interessen der Obrigkeit<br />

angepasst? G<strong>in</strong>g der Riss damit durch den Untertanenverband?<br />

Jedenfalls ermöglichen diese Quellen, auch wenn sie Nichtalltägliches darstellen <strong>und</strong><br />

die Privatsphäre ausleuchten, mitunter e<strong>in</strong>en Blick <strong>in</strong> alltägliche Eheanbahnungen,<br />

sie legen familiäre Konstellationen offen, geben über soziale Netzwerke <strong>und</strong><br />

Verortungen von Beteiligten, Ausgrenzungen, gegenseitige Kontrolle,<br />

Nachbarschaftsverhältnisse, wirtschaftliche Verhältnisse, Erwartungshaltungen an<br />

K<strong>in</strong>dererziehung u. a. Auskunft. Oft zeigt sich, dass Ehen arrangiert wurden, weil sie<br />

Teil der wirtschaftlichen Strategien <strong>und</strong> sozialen Planspiele der beteiligten Familien<br />

waren. Nicht selten zerbrachen solche Ehen, <strong>in</strong> anderen Fällen wurde die Verlobung<br />

mit dem Argument gebrochen, man habe nicht gewusst, dass der Partner ke<strong>in</strong>en<br />

Besitz hätte. Doch auch über sche<strong>in</strong>bar nebensächliche Aspekte wie das Verhältnis<br />

gegenüber den Dienstboten, ihre Funktionen <strong>und</strong> ihre „sittliche“ Überwachung durch<br />

den Hausherrn, über das „Geschwätz“ <strong>in</strong> Haus <strong>und</strong> Dorf, über das, was anständig<br />

oder unanständig wäre, berichten die Akten <strong>und</strong> geben auch solche Informationen<br />

wie die Erkenntnis, dass wohl ganz gezielt ungarische Dienstmädchen e<strong>in</strong>gestellt<br />

wurden, um die Sprachkenntnisse der K<strong>in</strong>der zu erweitern. Damit handelt es sich um<br />

Quellen, die blitzlichtartige E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> sonst verborgene soziale Räume zwischen<br />

<strong>Alltagspraxis</strong> <strong>und</strong> Normverletzung geben können.<br />

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