download - Gundolf S. Freyermuth
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1999<br />
freyermuth.com<br />
Reprint<br />
Holodeck heute<br />
Millionenteure Hightech-Installationen wie<br />
Star Trek: The Experience verweben Elemene<br />
von Museum, Theater und Kino mit modernster<br />
Simulationstechnik. Erzeugt die Digitalisierung<br />
eine neue multimediale Erzählform, die dem<br />
Kino Konkurrenz macht? Weiter><br />
von <strong>Gundolf</strong> S. <strong>Freyermuth</strong><br />
vol. 2008.03<br />
inhalt<br />
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holodeck heute 1/36
freyermuth.com<br />
Inhalt<br />
1 Im Hightech-Untergrund.................................................3<br />
2 Fahrstuhl in die Zukunft. Der Reise erster Teil.....................8<br />
3 Die Illusion des Beamens.............................................. 11<br />
4 Fernsehen zum Betreten. Der Reise zweiter Teil................ 13<br />
5 Im militärisch-kulturindustriellen Komplex........................ 16<br />
6 Von der Flugsimulation zur Mitspielfiktion......................... 22<br />
7 Bruchlandung in Vegas. Der Reise dritter Teil..................... 25<br />
8 Unterhaltungstechnische Pionier-Branche......................... 27<br />
9 Hetzjagd zum Holodeck................................................ 31<br />
Impressum.................................................................. 36<br />
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inhalt<br />
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holodeck heute 2/36
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Kapitel<br />
1<br />
Im Hightech-Untergrund<br />
Das 24. Jahrhundert hat 70 Millionen Dollar gekostet und wird von<br />
zwei Dutzend Rechnern ferngesteuert. Sie wiederum arbeiten dem<br />
Zwillings-Zentralgehirn zu, das sich in einer Abstellkammer im<br />
Parterre verbirgt, einem Triad-HP-OS-9000-Show-Control-System,<br />
auf das Jeff Borba jetzt zeigt: „Jeder Input, jeder Output, jede<br />
Kleinigkeit läuft über den Triad. An seinem Timing hängt alles.“<br />
Jeff ist 29 Jahre alt und trägt den Arbeitstitel Department Manager of Engineering. Damit<br />
ist er Herr über dreizehn technische Angestellte, die seit Januar 1998 im Las Vegas<br />
Hilton Star Trek: The Experience am Dauerlaufen halten.<br />
„In all den Monaten hatten wir keine zehn Minuten downtime“, sagt Jeff Borba, „und<br />
selbst die gingen zum größten Teil nicht auf tatsächliche Defekte zurück.“ Er grinst<br />
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holodeck heute 3/36
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jungenhaft. „Am meisten beschäftigen mich die Bedienungsfehler. Was haben wir nicht<br />
schon getan, um das System noch narrensicherer zu machen …“<br />
Die Narren, das sind die futuristisch uniformierten Akteure, die ein Stockwerk höher<br />
von morgens elf bis abends elf auf modernsten Illusionsbühnen Sternenflotte spielen<br />
– wobei sich Theater-, Film- und Flugsimulatorerlebnisse mischen und das Publikum<br />
mitten in die Handlung gerät. Die interaktiven Kleingruppen-Shows für jeweils 27 Personen<br />
dauern 22 Minuten. Bis auf die raumgreifende Rekonstruktion der legendären<br />
Enterprise D aus Star Trek – The Next Generation, ihrer Brücke und ihres großen Korridors,<br />
existieren alle Einrichtungen doppelt. Deshalb können die Shows mit 30 Sekunden<br />
Abstand starten. Zu Stoßzeiten werden so gut 2000 zahlende Zeitreisende pro Stunde in<br />
die Zukunft geschleust, für 15.95 Dollar pro Kopf.<br />
700 000 Besucher strömten allein im ersten halben Jahr nach der Eröffnung herbei,<br />
Wartezeiten bis zu zwei Stunden waren keine Seltenheit. Inzwischen hat das Gedrängel<br />
nachgelassen, doch auch wer sich an diesem Montagmorgen im Sommer 1999 um Punkt<br />
elf in die Schlange der Wartenden einreiht, muss sich noch 45 Minuten die Beine in den<br />
Bauch stehen.<br />
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Was er oder sie am Ende erlebt, ist Resultat einer avancierten Hightech-Installation,<br />
aufwendiger und komplizierter als jedes Broadwayspektakel und auch als die meisten<br />
Hollywoodproduktionen. Mit 50 Millionen Dollar hatten die Verantwortlichen von Paramount<br />
Parks Inc., einer Subfirma des Unterhaltungsmultis Viacom, das Projekt 1996<br />
veranschlagt. In wenigen Monaten sollte es realisiert werden. Als nach zweieinhalb Jahren<br />
und immer neuen logistischen Problemen endlich der Betrieb aufgenommen werden<br />
konnte, war das Budget um fast 50 Prozent überschritten. Dafür allerdings hatte ma die<br />
beste Technik eingekauft, die zu haben war.<br />
aufwendiger und komplizierter als die meisten<br />
Hollywoodproduktionen<br />
Im Hintergrund lärmen die gewaltigen Generatoren der hydraulischen Hochleistungssysteme,<br />
von denen die Kulissen verschoben und die Bewegungsplattformen in Gang<br />
gehalten werden. Jeff Borba spricht mit erhobener Stimme dagegen an und betet die<br />
einschlägigen Daten herunter. Die 6000 Quadratmeter große Star-Trek-Enklave, ein Anbau<br />
zum Las Vegas Hilton, das selbst mit über 3000 Zimmern das siebtgrößte Hotel der<br />
Welt ist, birgt 37 so genannte „themed places“.<br />
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In diesen CAD-geplanten, labyrinthisch angelegten und thematisch inszenierten Umwelten<br />
existiert nichts, das nicht von Elektronengehirnen gesteuert würde. Als handele<br />
es sich um eine terrestrische Raumstation, läuft der ungewöhnliche Alltag nach<br />
strengem Software-Programm: die Sauerstoffzufuhr, die Regelung von Temperatur und<br />
Luftfeuchtigkeit, die Beleuchtung, die Kontrolle des szenischen Umbaus, natürlich die<br />
Koordination des Simulationsritts, dazu die „normale“ Geräuschkulisse, die speziellen<br />
akustischen und visuellen Effekte, etwa jeder Blick durch die Panoramafenster in die<br />
galaktische Außenwelt.<br />
CAD-geplante, labyrinthisch<br />
angelegte, thematisch inszenierte und komplett von<br />
Computern gesteuerte Umwelten<br />
Um das künstliche Environment komplett steuerbar zu machen, wurden 16 Kilometer<br />
Audiokabel verlegt und 300 Lautsprecher in den Kulissen verborgen. 13 automatische<br />
Türen mit eigenen Steuerplatinen öffnen und schließen sich während der Show auf<br />
Zehntelsekunden genau. Für die illusionistischen Lichteffekte sorgt ein halbes Tausend<br />
einzelner Schaltungen. Sie regeln das Glühen der 15 000 Sterne über dem Eingangshim-<br />
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mel ebenso wie das planmäßige Leuchten und Flackern der allgegenwärtigen Neonröhren,<br />
von denen ein guter Kilometer installiert ist. Die Bilder auf den 28 Videomonitoren<br />
sowie die allgegenwärtigen akustischen Effekte stammen aus 32 Pioneer Laserdisc-<br />
Spielern, die für den industriellen Einsatz geeignet sind.<br />
Zur minutiösen Kontrolle des Spektakels wird neben handelsüblichen Rechnern reichlich<br />
spezielle Hardware eingesetzt, Basic Animation Real Time Controllers (BARTs), Laser<br />
Dics Controllers (LDCs), Programmable Logic Controllers (PLCs) der Allen-Bradley-Abteilung<br />
von Rockwell International sowie MediaMatrix MM-740 und MM-940 Computer. Auch<br />
die Software ist ein bunter Mix aus proprietärem Kode wie dem Stage Command System<br />
von Scenic Technologies, das die mechanischen Effekte kontrolliert, und einer Vielzahl<br />
kommerzieller Programme. Nur eine Komponente fehlt auffällig: Windows nach 1995.<br />
„Wir benutzen neben OS 9000 auch DOS und Windows 3.11“, sagt Jeff Borba. „Alles<br />
Neuere ist zu instabil. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass unser System dreimal<br />
am Tag abstürzt. Was sollen wir denn mit den Leuten da oben machen, während<br />
wir hier unten endlos neustarten?“<br />
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Kapitel<br />
2<br />
Fahrstuhl in die Zukunft. Der Reise erster Teil<br />
Ein Stockwerk höher hat sich die Schlange der Wartenden in Bewegung gesetzt. Aus<br />
ihnen ragt ein hoch gewachsenes, zu Klingons kostümiertes Pärchen heraus, sonst aber<br />
handelt es sich um Humanoiden beiderlei Geschlechts, die zwar in einem babylonischen<br />
Sprachengewirr plappern, sonst aber recht normal scheinen. Die Mehrheit ist zwischen<br />
dreißig und fünfzig Jahren alt und stellt längere, meist schüttere Haare, kräftige Körper<br />
und stämmige Schenkel in kurzen Röcken und Hosen zur Schau.<br />
Der gewundene Weg des Publikums zum eigentlichen Eingang der Attraktion führt durch<br />
das Museum für die Geschichte der Zukunft. Kitschig und faszinierend zugleich stimmt<br />
die Ausstellung mit Star-Trek-Devotionalien und Videoschnipseln auf die bevorstehende<br />
Show ein. Chronologisch werden die wichtigsten Schritte in der Entwicklung intelligenten<br />
Lebens von der rückständigen Erdenmenschheit zur transhuman-interplanetarischen<br />
Zivilisation präsentiert; von Galileos Forschungen also bis zur Geschichte schreibenden<br />
Hochzeit von Whorf und Dax. Kleiderpuppen zeigen 23 Kostüme, darunter Captain Kirks<br />
Tunika, Odos Uniform oder die knappen S&M-Ledergebinde von Klingon-Kriegerinnen.<br />
Hinter Glas liegen rund 200 „Original“-Schwerter und Phaser, Masken von Romulans<br />
und Cardassians, Tricorder, Spocks Raketenstiefel, ein Universalübersetzungsgerät und<br />
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- wohl als Verbeugung an den primitiven Aborigines-Stammvater der Hochtechnik des<br />
23. und 24. Jahrhunderts - ein beiger, leicht angegammelter Apple Macintosh Plus, „ca.<br />
1986“.<br />
Bei der Sperre und den Sternenflotten-Schönheiten angelangt, die den Besucherstrom<br />
in Kleingruppen einteilen, diskutiert ein mittelalterliches Ehepaar aus Deutschland<br />
die im Museum aufgelesene Trivial-Enthüllung, dass die Original-Weinkrüge, aus denen<br />
man im Star-Trek-Universum Blutwein trinkt, zum ersten Mal in dem 1956er-Hollywoodschinken<br />
Die zehn Gebote zum requisitären Einsatz kamen. Bis dann ein älterer Herr<br />
in Museumswächter-Uniform die Gruppe zu dem Fahrstuhl führt, der sie angeblich zu<br />
dem ganz normalen computersimulierten Shuttle-Flug bringen soll, den die Attraktion<br />
verspricht.<br />
Die Lifttür schließt sich, in der klaustrophobisch engen Kabine laufen auf mehreren<br />
Videomonitoren weitere Schnipsel aus alten Star-Trek-Folgen. Die Langeweile ist fast<br />
körperlich zu spüren.<br />
Plötzlich aber ruckt der Lift hart. Auf den Monitoren flackern Störstreifen, und als sie<br />
sich stabilisieren, erscheint für Sekunden überall dasselbe, von Hass verzerrte Gesicht<br />
eines Klingon-Kriegers.<br />
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Der Tourführer blickt entsetzt in die Runde, bis nur noch Blackout ist. Der Fahrstuhl<br />
stockt in einer Nacht, die schwärzer nicht sein könnte.<br />
„Mama, ich habe Angst“, sagt eine körperlose Kinderstimme.<br />
Rauschen hebt an, ein starker, kühler Windsog fährt über die Gesichter.<br />
„Da kann man auch Angst haben“, kommt die mütterliche Antwort.<br />
Aus dem Nichts erscheinen winzige, rötlich tanzende Lichtpunkte, wie sie nicht nur<br />
jeder Trekker kennt.<br />
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Kapitel<br />
3<br />
Die Illusion des Beamens<br />
Der Spruch „Beam me up, Scotty“, schreibt der Physiker Lawrence M. Krauss in seiner<br />
amüsanten Analyse der Star-Trek-Technik, sei so bekannt wie das Wort Ketchup. In den<br />
USA zumindest. Kein Zweifel also, was in dem stecken gebliebenen Fahrstuhl gerade<br />
passiert: molekulare Desintegration! Doch wer beamt hier wen? Und warum und wohin?<br />
„Die Schauspieler müssen dafür Sorge tragen, dass das Publikum innerhalb gewisser Parameter<br />
bleibt, damit bei dem sekundenschnellen Umbau der Szene niemand verletzt<br />
wird“, sagt Jeff Borba in dem Raum unterhalb des vermeintlichen Fahrstuhls – bei dem<br />
es sich realiter um eine dreiachsige hydraulische Bewegungsplattform handelt. „Bevor<br />
alle Akteure auf ihren Plätzen sind und die verborgenen Fußtasten betätigen, geht gar<br />
nichts ab.“<br />
Dann aber umso schneller.<br />
Der saugende Wind nämlich, der dem Publikum so hervorragend an den Haaren wie an<br />
den Nervenenden zerrt, ist kein Effekt, den die Designer der Installation geplant hätten.<br />
Er entsteht durch das automatische Verschieben der stählernen Kulissen und wurde<br />
von den Verantwortlichen mit Verblüffung erst bemerkt, als sie diese computerisierte<br />
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Hochgeschwindigkeitsversion traditioneller Theaterzauberei probeweise in Betrieb nahmen.<br />
Vorher galt ihre ganze Aufmerksamkeit der schwierigen Aufgabe, das aus TV und Kino<br />
bekannte Beam-Geflimmer zu realisieren. In den Star-Trek-Filmen wird der Effekt durch<br />
Scheinwerfer erzeugt, die außerhalb des Kamerabildes postiert sind. Das Ergebnis wird<br />
obendrein digital nachbearbeitet. Beide Möglichkeiten fallen bei der Live-Inszenierung<br />
aus. Trotzdem sollte die Erfahrung so echt wie nur irgendein anderer Effekt in der Show<br />
wirken, da an der Glaubwürdigkeit dieser ersten Szene wesentlich hängt, mit wie viel<br />
Bereitwilligkeit sich das Publikum auf den Rest der innovativen Star-Trek-Fiktion einlässt.<br />
Die Lösung, die schließlich gefunden wurde, bestand darin, den Boden des Fahrstuhls<br />
aus stahlverstärktem Plexiglas herzustellen und mit speziellen Reflexionsfolien zu<br />
bekleben. Unter den Füßen des Publikums ruhen computergesteuerte fluoreszierende<br />
Lichtquellen. Geschickte Beleuchtung lässt das Glas anfangs so massiv erscheinen, wie<br />
es jeder gewöhnliche Lift ist. Erst nach dem Blackout, in dem Augenblick, da die Stahlwände<br />
davon zu sausen beginnen, läuft das bunte Beam-Progamm an.<br />
Für bange 6,5 Sekunden. Dann ist der Spuk vorbei.<br />
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Kapitel<br />
4<br />
Fernsehen zum Betreten. Der Reise zweiter Teil<br />
Es wird wieder Licht, grell und brutal - und im 24. Jahrhundert. Wo eben noch die Gegenwart<br />
und ein enger Fahrstuhl war, befindet sich nun der weitläufige Transporterraum<br />
des Raumschiffs Enterprise. Ein Empfangskomitee aus Star-Fleet-Offizieren warnt erregt<br />
vor höchster Gefahr – einem klingonischen Entführungsversuch – und hetzt die 27köpfige<br />
Gruppe der unfreiwilligen Zeitreisenden auf die Brücke des Schiffs.<br />
Authentischer könnte sie nicht sein: Faux-Holzverzierungen, warme, erdige Farbtöne,<br />
die Vermeidung aller mechanischen Kennzeichen unserer ausgehenden industriellen<br />
Epoche wie Schrauben, Haken oder Schlösser, dazu eine ranghohe, schwer beschäftigte<br />
Bedienungsmannschaft. Und in der Tat ist der Nachbau der Star-Trek-Dekoration sogar<br />
echter als echt. In AutoCAD wurde er ein wenig größer als das Original entworfen, um<br />
den Abstand zu kompensieren, den das Publikum zum Machtzentrum mit seinem verdächtig<br />
verwaisten Kapitänssessel halten muss.<br />
Warum Jean-Luc Picard weit und breit nicht zu sehen ist, die Antwort auf diese im<br />
Raum hängende Frage und auch die Lösung aller anderen Rätsel bringen dann Commander<br />
Will Riker und Lieutenant Commander Geordi LaForge höchstpersönlich. Die Star-<br />
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Trek-Stars schalten sich aus dem Maschinenraum des Schiffs auf den großen Schirm der<br />
Brücke und erklären in hastigen Worten:<br />
Der teuflische Klingon-General Korath, dessen Gesicht kurz vor dem Blackout auf den<br />
Monitoren des Fahrstuhls erschien, hat einen Zeitriss produziert und die 27 Erdlinge aus<br />
dem 20. ins 24. Jahrhundert entführt. Der Grund: unter den Gekidnappten befindet sich<br />
ein – unbekannter - Vorfahre von Captain Picard. Der oder die Entführte vermag nun die<br />
historisch notwendige Nachwuchskette nicht mehr in Gang zu setzen. Weshalb der gute<br />
Captain sich in Luft aufgelöst hat, sobald die Reisegruppe aus der Vergangenheit im<br />
Transporterraum materialisierte.<br />
vom Publikum zu Mitspielern mutiert<br />
Um Picard zu erneuter Existenz zu verhelfen, muss die Anomalie des Raumzeitkontinuums<br />
rückgängig gemacht werden. Den Entführten befiehlt Commander Riker daher,<br />
schleunigst in die Zeit zurückkehren, in die sie gehören, auf dass sie dort ihre Zeugungsaufgaben<br />
erfüllen.<br />
Alle Gäste aus der fernen Vergangenheit - vom Publikum zu Mitspielern mutiert – werden<br />
zu einem Turbolift getrieben, der sie zu der Shuttle-Bucht des Schiffes transpor-<br />
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tieren soll. Was er letztlich auch tut, allerdings, da gleichzeitig General Korath eine<br />
Attacke auf die Enterprise fliegt, nach einem rumpeligen, mehr oder weniger freien,<br />
von schrillen Publikumsschreien begleiteten Fall. An den Fenstern des Lifts sausen dazu<br />
lichteffektvoll Sterne und Planeten vorbei.<br />
Dem Tod im Lift haarscharf entkommen, führt der Weg weiter über den großen, neun<br />
Meter hohen Korridor der Enterprise. Hinter seinen gewaltigen Lichtfenstern glitzert<br />
das All. Fünfzig Meter weiter wartet das Shuttle.<br />
Traut man den besorgten Gesichtern der freundlichen Star-Fleet-Helfer, die das Anschnallen<br />
überwachen, Schwangere und Herzkranke vor der Weiterfahrt warnen und<br />
sich dann auf Nimmerwiedersehen verabschieden, haben die Zeitreisenden wenig Chancen,<br />
ihre Gegenwart lebend zu erreichen. Einige lässt denn auch der Gedanke an das,<br />
was sie nun erwartet, recht blass werden.<br />
Die Türen schließen sich zischend, jeden Augenblick muss der vierminütige Hightech-<br />
Ritt durch Raum und Zeit beginnen.<br />
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Kapitel<br />
5<br />
Im militärisch-kulturindustriellen Komplex<br />
Die bescheidenen Anfänge realistisch-virtueller Ausflüge, wie sie heute zum digitalen<br />
Massenvergnügen werden, datieren in die analoge Vorzeit. Bereits 1929 wurden in den<br />
USA erste Flugsimulatoren betrieben. Bei ihnen handelte es sich um Cockpit-Nachbauten,<br />
die auf hydraulischen, dreiachsigen Plattformen montiert waren.Den Aktionen des<br />
Piloten entsprechend rollten und kippten sie. Visuelles Feedback zu produzieren, diese<br />
Möglichkeit existierte in den Zeiten des schwarzweißen Stummfilms allerdings nicht.<br />
Die Trainingsmöglichkeiten beschränkten sich auf den Instrumentenblindflug.<br />
Im Laufe des Zweiten Weltkriegs wurden mit einigem Aufwand zwar die motorischen<br />
Elemente der Trainingsplattformen optimiert, dem Bildermangel konnte aber erst in<br />
den fünfziger Jahren die Einführung kommerzieller Videokameras ein Ende bereiten.<br />
Sie glitten an beweglichen Gelenken über maßstabsgetreue Modelle von Flughäfen und<br />
Landschaften. Im Verein mit den Bewegungsplattformen reagierten die Kameras auf die<br />
Steuerbefehle des Piloten exakt genug, um ihn übend über die Modelle hinweg fliegen<br />
und auch in sie hinein landen zu lassen.<br />
Während der nächsten zwanzig Jahre ersetzten immer bessere Simulationsanordnungen<br />
die Schwarzweißkameras durch farbige und erweiterten auch mit der Anzahl der einge-<br />
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setzten Kameras die simulierte Perspektive. Der entscheidende Sprung in der Entwicklung<br />
von Flugsimulatoren allerdings gelang erst mit dem Einsatz von Computern, durch<br />
so genannte „scene generators“. Den Prototypen baute David Evans 1968. Die Kombination<br />
von optimierter Hard- und innovativer Software errechnete aus digitalisierten Aufnahmen<br />
realer Szenen neue Bilder, die perspektivisch den Pilotenbefehlen entsprachen.<br />
Bereits vier Jahre später stellte die US Navy ein computergesteuertes Trainingsgerät in<br />
Betrieb.<br />
Die Adaptation der neuen Technik an Unterhaltungszwecke ließ etwas länger auf sich<br />
warten. 1986 präsentierte Disney den ersten, noch recht primitiv simulierenden virtuellen<br />
Ritt. Mit dem Ende des Kalten Kriegs akzelerierte jedoch die Entwicklung.<br />
Kürzungen im Militärhaushalt beraubten die Rüstungsindustrie eines wesentlichen Teils<br />
ihrer traditionellen Einkünfte. Viele Firmen suchten nun nach ziviler Kundschaft und<br />
drängten auf den Unterhaltungsmarkt.<br />
Ein Musterbeispiel für die Entwicklung liefert der steile Aufstieg der Firma, von der<br />
die Bewegungsplattformen in Star Trek: The Experience stammen. Seit 1963 hatte<br />
McFadden Systems avancierte Bewegungssimulatoren für das US-Militär, die NASA sowie<br />
die Luft- und Raumfahrtindustrie gebaut. Der erste Kontakt mit der Entertainment-<br />
Branche kam 1992: Warner Bros. bestellte die elektronisch gesteuerte Hydraulik für den<br />
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VR-Simulationsritt Batman. Der Auftrag bedeutete einen Wendepunkt in der Firmengeschichte.<br />
Binnen fünf Jahren vervierfachte sich der Umsatz. Über 200 Bewegungsplattformen<br />
hat McFadden seitdem weltweit in Themenparks, Vergnügungsarkaden und<br />
Museen montiert, drei Dutzend allein in Las Vegas.<br />
„Mir bereitet es Freude“, sagt Larry Hayashigawa, Präsident von McFadden, „dass wir<br />
eine Technologie mit militärischen Anwendungen in etwas verwandelt haben, das Kindern<br />
das Gefühl gibt zu fliegen.“<br />
Zweckentfremdung avancierter Rüstungstechnik für<br />
Hightech-Unterhaltung<br />
Nicht unwesentlich für die Integration der Rüstungs- und Computertechnik in die Vergnügungsindustrie,<br />
die sich im vergangenen Jahrzehnt vollzog, war die enge geographische<br />
und personelle Verbindung zwischen den Hightech-Branchen. Nahezu alle beteiligten<br />
Firmen operieren wie McFadden, beheimatet im kalifornischen Santa Fe Springs,<br />
aus dem Westen der USA. Star Trek: The Experience verdankt seine Existenz nahezu<br />
komplett diesem einzigartigen regionalen Talentpool.<br />
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Die Bauleitung hatte die Landmark Entertainment Group, das wichtigste und innovativste<br />
Multimedia-Studio für die Konstruktion von Themenpark-artiger Unterhaltung. 1980<br />
in North Hollywood von den Ex-Disney-Mausketieren Gary Goddard und Tony Christopher<br />
mit bescheidenen 5000 Dollar Kapital gegründet, gehört die Hälfte der Firma seit 1996<br />
Michael Jackson und dem saudischen Hightech-Investor-Prinz Alwaleed Bin Talal Bin Abdulaziz<br />
Al Saud. Die beiden ließen sich ihren Einstieg 50 Millionen Dollar kosten. Zu den<br />
Projekten, die Landmark weltweit realisiert hat, zählten vor Star Trek: The Experience<br />
das Sanrio Puroland bei Tokio (1991, 630 Millionen Dollar teuer) und Jurassic Park - The<br />
Ride in den Universal Studios Hollywood (1996, 110 Millionen). Seitdem folgten James<br />
Bond 007: License To Thrill, ein virtueller Ritt, der 1998 in allen fünf Paramount Parks<br />
zugleich öffnete, und der Terminator 2/3D in den Universal Studios Florida.<br />
Den Auftrag, die Kulissen und ihre komplizierten Verschiebemechanismen zu bauen,<br />
vergab Landmark an die Las-Vegas-Filiale von Scenic Technologies. Die gigantischen,<br />
eine Million Dollar teuren Raumschiffmodelle, die über dem Eingang der Attraktion<br />
dräuen, stammen von Penwal Industries Inc. aus Rancho Cucamonga. Edwards Technologies,<br />
1984 in Malibu von dem Informatiker und Physiker Brian Edwards gegründet,<br />
sorgte auf der Deep-Space-9-Promenade für interaktive Sound- und Video-Effekte. Die<br />
restliche Audio-Programmierung leistete die Nevada-Niederlassung von Signal Perfec-<br />
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tion Ltd. Lediglich die Gesamtablaufkontrolle programmierte mit Triad aus Illinois eine<br />
Firma, die außerhalb des Westens residiert.<br />
computergesteuerte Kombination der<br />
visuellen Szenerie – des „Ritt-Films“ – mit der physischen<br />
Bewegungssimulation<br />
So wichtig das Zusammenspiel aller Theater- und Show-Elemente ist, die zu dem simulierten<br />
Shuttle-Flug führen – er natürlich ist der Höhepunkt, der über Erfolg oder Nicht-<br />
Erfolg des illusionären Unternehmens entscheidet. Sein Realismus wiederum beruht<br />
hauptsächlich auf der exakten Kombination der visuellen Szenerie – des „Ritt-Films“<br />
– mit der physischen Bewegungssimulation. Die Programmierung der Befehle, die vom<br />
Triad an die McFadden-Hydraulik ausgegeben werden, erfolgte in Graphic Motor Language<br />
(GML) durch die L.A.-Firma Catalyst Entertainment, deren Gründer einst mit an<br />
der Back to Future-Attraktion in den Universal Studios arbeitete. Den Ride-Film selbst<br />
drehte das Rhythm & Hues Studio aus Culver City, 1996 mit einem Special-Effects-Oscar<br />
für die sprechenden „Babe“-Schweine ausgezeichnet. Beide Firmen arbeiteten Seite an<br />
Seite in den Hollywooder Paramount Studios.<br />
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Die Herstellung des Vier-Minuten-Streifens dauerte anderthalb Jahre, das Budget lag<br />
um die fünf Millionen Dollar. Produzent war Rick Berman, der seit 1987 alle wesentlichen<br />
Star-Trek-Produktionen leitet und der auch in diesem Fall jede ästhetische Abweichung<br />
vom etablierten Trekker-Kosmos verhindern sollte. Regie führte Mario Kamberg.<br />
Er ließ die Raumschiffmodelle, mit denen die TV-Produktionen arbeiten, digitalisieren<br />
und „drehte“ den Film zu zwei Dritteln komplett im Computer. Der Rest bestand aus<br />
Montagen traditionell produzierter und digital verbesserter Bilder mit Animationen. Die<br />
Hubschrauberaufnahmen von der finalen Crash-Landung des Shuttles wurden etwa im<br />
Computer stabilisiert und um fast 300 Prozent beschleunigt.<br />
Am Ende erzielte Mario Kamberg einen Realismus, der sich mit dem Goldstandard des<br />
jungen Hybrid-Genres virtueller Ritte messen konnte, der 1993 eröffneten Installation<br />
In Search of the Obelisk.<br />
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Kapitel<br />
6<br />
Von der Flugsimulation zur Mitspielfiktion<br />
Die Fantasy-Trilogie Secrets of the Luxor Pyramid lässt sich am anderen Ende des Strips<br />
erleben. An der gekippten Fassade des Luxor Hotels, einer pechschwarzen Pyramide,<br />
hangeln sich anstelle von Fahrstühlen um 39 Grad geneigte Inklinatoren hoch, von der<br />
Spitze erstrahlt der Welt größter Laserbeam, und im Innern des Hotels findet sich eine<br />
15 Stockwerke hohe Luxor-Imitation samt archäologisch korrekter Kopie der Grabkammer<br />
Tutanchamuns. Die Hauptattraktion des Erlebnis-Hotels aber ist die 50 Millionen<br />
Dollar teure Fantasy-Trilogie. Über deren ersten Teil In Search of the Obelisk schrieb<br />
nach der Premiere 1993 ein Reporter des Tech-Magazins Omni, er bedeute nichts weniger<br />
als eine „Revolution“, „the future of fun“, die Zukunft des Vergnügens.<br />
Herbeigezaubert hat die virtuelle Attraktion Douglas Trumbull, ein Pionier der Special-<br />
Effects-Branche. Zu seinen Hollywood-Meriten gehören die Tricks in SF-Klassikern<br />
wie 2001 – A Space Odyssee, Third Encounter of the Close Kind und Bladerunner.<br />
Doch Trumbull strebte immer schon über den gewöhnlichen Film hinaus. Bereits 1974<br />
konstruierte er den ersten simulierten Ritt in einer Raumkapsel, 1981 baute er erste<br />
eigenständige Simulationstheater, 1989 kreierte er für Steven Spielberg die damals sensationell<br />
wirkende Back to the Future-Attraktion im Imax-Format. Für seinen Luxor-Ritt<br />
vol. 2008.03<br />
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verwendete er ein selbst entwickeltes Bewegungsgefährt und ein halbes Hundert Workstations,<br />
darunter 40 Silicon Graphics. Das Ergebnis war zum ersten Mal so realistisch,<br />
dass Sensiblen schwindelig werden kann, als schaukelten sie tatsächlich Hunderte von<br />
Metern auf und ab - obwohl das ruckelige Gefährt sich nie mehr als ein paar Zentimeter<br />
bewegt.<br />
ein Film wie ein Live-Ereignis<br />
„Die Simulatoren sind revolutionär, sie erzeugen einen simulierten Ritt, der alle Qualitäten<br />
eines Spielfilms hat“, sagt Trumbull. „Es war ein Experiment, wie man durch<br />
sorgfältige Kontrolle von Filmaufnahmen und Projektionsverfahren endlich die Grenze<br />
zur vollständigen Glaubwürdigkeit überschreiten kann, so dass ein Film wie ein Live-<br />
Ereignis erscheint“ - inklusive rudimentärer Interaktion des Publikums mit den handelnden<br />
Figuren.<br />
Der beachtliche Erfolg des virtual rides im Luxor begründete den aktuellen Unterhaltungs-Trend:<br />
fort von der aufwendigen und Platz fressenden naturalistischen Erzeugung<br />
von Thrills, wie sie in den großen, oft an filmischen Blockbustern orientierten Roller-<br />
Coaster-Ritten der Themenparks üblich ist, und hin zur digitalen Simulation. Sie spart<br />
Platz, ist daher universeller einsetzbar, und sie gewährt ein Mehr an kreativer Freiheit,<br />
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da nicht die widerständige Realität selbst kopierend erzeugt werden muss, sondern<br />
lediglich ihre Erfahrung.<br />
Wer solche Ritte erlebt hat, dem fallen die Parallelen zum utopischen Holodeck auf,<br />
dem Vergnügungszentrum der Star-Trek-Zukunft. Der massenkulturelle Kunstmythos<br />
hat sich, seit Gene Roddenberry ihn vor 33 Jahren erfand, über vier TV-Serien mit<br />
600 Sendestunden, dazu acht Spielfilmen und rund 500 Romanen weltweit verbreitet.<br />
Statistisch werden allein in den USA jede Minute 13 Star-Trek-Bücher verkauft. Zu den<br />
erklärten Fans zählen einflussreiche Wissenschaftler und Intellektuelle, etwa Stephen<br />
Hawking und Camille Paglia. Und selbst im renommierten Smithsonian-Institut lockte<br />
die fiktive Enterprise mehr Publikum an als jene unglamourösen NASA-Vehikel, die<br />
tatsächlich einmal durchs All sausten. Der Gedanke, das Star-Trek-Franchise um einen<br />
virtuellen Ritt zu erweitern, lag also nahe.<br />
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Kapitel<br />
7<br />
Bruchlandung in Vegas. Der Reise dritter Teil<br />
Von Anfang an steht die Zeitrückreise aus dem 24. Jahrhundert ins gute alte 20. unter<br />
keinem guten Stern. Mit einer Beschleunigung, die in die Sessel drückt, startet das<br />
Shuttle aus der Landebucht – und rast direkt in das Sperrfeuer von General Koraths Bird<br />
of Prey. Aus kühlschrankgroßen Boxen tobt ein wahrhaft außerirdisches Soundsystem,<br />
und für die entsprechende visuelle Illusionierung sorgt eine 18 Meter breite Leinwand,<br />
die den Fensterblick ins All simuliert. Anders als in den Standard-Ritten, wie sie sich in<br />
den meisten Themenparks finden, ist das Bild nicht plan. Die Leinwand wölbt sich sphärisch<br />
über dem Shuttle zu einem Dom und produziert eine 160 Grad umfassende Sicht<br />
aus Front-, Seiten- und Oberfenstern. Der eigene Absturz lässt sich so bestens beobachten.<br />
Ein Treffer nach dem anderen schleudert die Reisenden in alle sechs Bewegungsrichtungen,<br />
die das vollbesetzte, sechs Tonnen schwere McFadden-Simulator-Ungetüm beherrscht.<br />
Das Shuttle steigt auf und stürzt ab, es kippt nach vorne und neigt sich nach<br />
hinten, es rollt, schlingert, wiegt und wankt, bremst und beschleunigt, und tut das,<br />
was Nautiker gieren nennen.<br />
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Nach drei Minuten virtueller Achterbahn ist dann das raumzeitliche Wurmloch erreicht.<br />
Aus ihm stürzt man kreischend hinunter auf das Las Vegas, in dem alles begann. Funken<br />
sprühend knallt das Shuttle auf, rast schleudernd über den Asphalt und kommt krachend<br />
in der Lobby des Hilton zum Stehen.<br />
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Kapitel<br />
8<br />
Unterhaltungstechnische Pionier-Branche<br />
„Knochentrocken, ziemlich perfekt programmiert“, sagt Jeff Borba. Er steht, stämmig<br />
gebaut und in Blue Jeans, die leicht angebügelt erscheinen, eine Etage tiefer in fahlem<br />
Licht neben einem runden rostroten Tank, der von Ferne an das Shuttle erinnert; das<br />
richtige, das Space Shuttle der NASA. Zwischen Gummischläuchen und isolierten Kabeln<br />
ragen hydraulische Schäfte verschiedener Dicke, vom Kinderarm bis zur Catcherhüfte,<br />
ölig glitzernd gen Decke; dorthin, wo gerade 27 Personen durch Raum und Zeit gejagt<br />
werden. Die Bewegungen, zu denen die elektronische Steuerung die Hydraulik treibt,<br />
sind sehr fließend und realistisch - aber auch recht zahm, gerade im Vergleich zu Trumbulls<br />
Luxor-Abenteuer oder zum neuen 3-D-Race for Atlantis im nahen Caesar’s Palace.<br />
Der Einwand lässt den jungen Techniker überlegen lächeln. „Wir haben’s ein wenig soft<br />
eingestellt, maximal 0,9 G.“<br />
Warum? Shuttle-Astronauten erleben 3 G, mancher Themenpark-Ritt produziert bis zu<br />
4 G, die Piloten von überschallschnellen Kampffliegern erdulden erst bei 8 G, wenn die<br />
Schwerkraft das Blut aus den Köpfen presst, ihren Blackout ...<br />
Jeffs Lächeln wird breiter. „Die meisten Star-Trek-Fans sind schon zwischen 40 und 50,<br />
die mögen‘s nicht mehr so hart.“<br />
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Wie viel G die Installation im Bestfall hergibt?<br />
„Wir hatten‘s beim Probebetrieb mal auf 1,3“, sagt Jeff. „Ich schätze, 1,7 G wären<br />
drin, ohne dass alles auseinander fliegt.“<br />
Ein wenig scheint es, als würde es ihn reizen, das Gerät an seine Grenzen zu treiben.<br />
Gleichzeitig erweckt Jeff Borba den handfesten Eindruck, er könne es dann schon wieder<br />
reparieren. So sehr diese Haltung Star-Trek-Fans an einen gewissen Chief Engineer<br />
erinnern mag, dieser Manager of Engineering ist kein Trekker. Aber er ist Selfmade-<br />
Ingenieur, und das muss jedem, der an die deutsche Kastengesellschaft mit ihren klaren<br />
Initiationsriten und umständlichen Ausbildungswegen gewöhnt ist, fast ebenso phantastisch<br />
erscheinen.<br />
Fragt man nach Abschlüssen, so ist der Herr über die millionenteure High-Technik gewöhnlicher<br />
Schweißer. Was er darüber hinaus weiß, hat er gelernt, indem er anderen<br />
zugeschaut hat. Zum Hydraulik-Experten wurde er erst bei der Air Force, dann als<br />
Jahrmarkt-Manager im benachbarten Circus, Circus-Hotel. Und wie man Computer am<br />
Laufen hält, repariert und auch umprogrammiert, darin hat er sich schlicht fünf Monate<br />
lang von den Experten einweisen lassen, die die Star-Trek-Attraktion aufbauten – und<br />
die selbst mehrheitlich ihr Wissen und Können im learning by doing erworben hatten.<br />
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Wie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die Filmindustrie und um die Jahrhundertmitte<br />
die US-Raumfahrtindustrie, wie heute noch ein Großteil der Computer- und<br />
Internetbranche ist auch das funkelnagelneue und explodierende Geschäft mit der<br />
Hightech-Unterhaltung ein Pioniergewerbe. In ihm zählen formale Ausbildung wenig,<br />
dafür Talent, praktisches Wissen und Phantasie umso mehr. Vielleicht am meisten hat<br />
die Roller-Coaster- und Virtual-Ride-Szene mit Hollywoods Anfängen gemeinsam, denn<br />
in ihren jungen Firmen paaren sich technischer und künstlerischer Erfindungsreichtum.<br />
Die Roller-Coaster- und Virtual-Ride-Szene erinnert<br />
an Hollywoods Anfänge.<br />
Etablierte Produktionsverfahren gibt es ebenso wenig wie eine kanonische Ästhetik.<br />
Fast jeder Ritt gleicht noch dem über den Bodensee. Die Besten der Branche erfinden<br />
sie täglich neu. Auf der technischen Seite mixen die Ad-hoc-Lösungen Know-how sowie<br />
Hard- und Software aus einem halben Dutzend Bereichen: von der Luft- und Raumfahrt<br />
über industrielle Steuerungstechnik und Umweltkontrolle bis zu Beleuchtungstechnik,<br />
Kulissenbau und Bühnenmanagement, wie es im Showgewerbe, Theater und Film üblich<br />
ist.<br />
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Nichts anderes kann freilich über die künstlerische Seite der meisten Produktionen<br />
gesagt werden. Ästhetisch stellen sie eine bunte Mixtur aus Bewährtem da, leidlich<br />
originell zusammengeschraubt. Der Vorteil, dass keine jahrhundertealte Tradition das<br />
neue Genre belastet, dass es keine verbindlichen Handbücher gibt, die erklären, welche<br />
subtilen Strukturen ein ordentlicher Ritt aufzuweisen hätte, hat bislang keineswegs<br />
zu avantgardistischen oder auch nur künstlerisch überraschenden und spannenden<br />
Experimenten geführt. Von den Bau- und Sicherheitsvorschriften werden die Unterhaltungspioniere,<br />
wie sie nicht müde werden zu erklären, zu unzähligen konservativen<br />
Kompromissen gezwungen – und das natürlich zu Recht. Genauso aber vermeiden sie<br />
notwendige Risiken in der künstlerischen Gestaltung.<br />
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Kapitel<br />
9<br />
Hetzjagd zum Holodeck<br />
Drei Standardelemente bestimmen in nahezu alle Ritten deren Handlung. Sie scheinen<br />
denselben Handbüchern über mythologische Strukturen entnommen, aus denen sich<br />
auch George Lucas zu bedienen pflegt. Da ist zum einen die Störung der alten Ordnung,<br />
unter modern-technischen Gesichtspunkten: der Störfall. Etwa Jurassic Park – The Ride<br />
oder Back to the Future inszeniert ihn. Da ist zum zweiten das Hilfeersuchen, das den<br />
oder die Helden in die Handlung zieht. The Race for Atlantis gibt dafür ein Musterbeispiel,<br />
indem es die Zuschauer in zwei Gruppen aufteilt, die anstelle der Götter das<br />
Rennen entscheiden sollen. Und da ist zum dritten, wie etwa im Luxor-Ritt, der unvermutete<br />
und unverschuldete Angriff, der Kampf, dem der oder die Helden sich nicht<br />
entziehen können, obwohl sie mit seinen Ursachen und Hintergründen nichts zu tun<br />
haben.<br />
Star Trek: The Experience geht nun so weit auf Nummer sicher, dass gleich alle drei<br />
Elemente zusammengeklaubt werden: der scheinbare Störfall im Fahrstuhl, der sich als<br />
unvermuteter Klingon-Angriff entpuppt, dessen man sich erwehren muss, und das nicht<br />
nur im eigenen Interesse, sondern um auf Bitten Commander Rikers das (Über-)Leben<br />
des bewunderten Captain Picard zu ermöglichen.<br />
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Was diesem allgemeinen Ritt-Schema, das sich allmählich als narrative Basisstruktur<br />
des Genres herauszuschälen beginnt, an Speziellem aus dem fiktionalen Fundus des<br />
Star-Trek-Universums hinzugefügt wurde, ist nicht minder bewährt. Das Beamen fehlt<br />
in kaum einer TV-Folge, und die Zeitreise ist seit H.G. Wells eins der bekanntesten und<br />
beliebtesten Erzählelemente der Science Fiction. Allein Star Trek – The Next Generation,<br />
das unmittelbare TV-Vorbild für diesen Ritt, benutzt den paradoxen Sprung in<br />
Zukunft oder Vergangenheit in gut zwei Dutzend Folgen als Erzählvehikel.<br />
Im Kontrast zur avancierten Technik steht die<br />
Konventionalität der interaktiven Inszenierung.<br />
Gerade im Kontrast zu den avancierten technischen Mitteln, die bei dem multimedialen<br />
Ritt zum Einsatz kommen, fällt daher die Konventionalität der interaktiven Handlung<br />
umso deutlicher auf, ihre peinlich-pedantische Konstruiertheit aus abgehangenen<br />
Versatzstücken. Angesichts der horrenden Kosten der Installationen darf hinter der<br />
radikalen künstlerischen Selbstbeschränkung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner<br />
das Gegenstück zu den einengenden Bau- und Sicherheitsvorschriften vermutet werden:<br />
die inhaltlichen Vorgaben und ökonomischen Interessen derjenigen, die das Vergnügen<br />
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schließlich nicht als kunstsinnige Mäzenaten finanzieren; also nicht zu ihrem Vergnügen,<br />
sondern zu ihrem möglichst großen Gewinn.<br />
Kirmesunterhaltung produziert Thrills, keine Erfahrungen<br />
Verübeln kann man den Unterhaltungsunternehmen den Scheuklappenblick aufs Allerpopulärste<br />
nicht. Sie stehen damit in der besten Tradition des Jahrmarktsgewerbes, das<br />
seit Anbruch der industriellen Epoche avancierte Techniken stets vor den etablierten<br />
Künsten einsetzte – aber eben nicht zu ästhetisch-avantgardistischen, sondern zu rein<br />
spektakulären Zwecken. Kirmesunterhaltung produziert Thrills, keine Erfahrungen<br />
oder Einsichten. Komplizierte, den Genuss fördernde narrative Vor- und Nachspiele<br />
interessieren nicht, alles zielt auf den möglichst umstandslosen Höhepunkt. Wie vielen<br />
virtuellen Rides merkt man auch Star Trek: The Experience noch diese Herkunft aus der<br />
Schaustellerei an.<br />
Doch in der erstmaligen Integration theatralischer Elemente, durch die achtzehnminütige<br />
Erzählstrecke, die das Publikum im Wortsinne durchlaufen muss, bevor es den vierminütigen<br />
Ritt-Höhepunkt erleben kann - zudem begleitet von realen Schauspielern,<br />
die mit dem Publikum interagieren -, strebt dieser Ritt über den simplen Thrill hinaus.<br />
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Sein vages Fernziel sind eindeutig kompliziertere ästhetische Sensationen, wie sie nur<br />
entwickeltere Erzählformen erzeugen.<br />
„Die Erfahrung, die die meisten Menschen über die Jahre hinweg mit Star Trek hatten,<br />
konzentrierte sich darauf, Fernsehen zu gucken oder ins Kino zu gehen“, sagt Produzent<br />
Rick Berman. „Dies hier nun sprengt das Proszenium hinweg. Hier ist ein Platz, an den<br />
die Leute gehen und wirklich Star Trek erleben können.“<br />
eine allererste Ahnung zukünftigen Eintauchens in<br />
künstliche Welten<br />
Vom Holodeck, wie es Trekker ersehnen, ist derlei natürlich noch Lichtjahre entfernt.<br />
Doch Installationen wie diese deuten an, dass die Hetzjagd der Unterhaltungsmacher<br />
nach traumhaft-interaktiven Fiktionen begonnen hat. Das rudimentäre Geschichtenerzählen<br />
und die Publikumspartizipation in Star Trek: The Experience produzieren eine<br />
Ahnung zukünftiger Immersion, des Eintauchens in künstliche Welten, in Gegenrealitäten,<br />
die das jahrhundertealte Karnevals-Bedürfnis nach Ausstieg aus dem Alltag mit<br />
modernsten Mitteln befriedigen.<br />
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In Hamlet on the Holodeck, einer Studie zur Zukunft digitaler Fiktionen, hat die MIT-<br />
Informatikerin und Literaturwissenschaftlerin Janet H. Murray die Weitsicht von Gene<br />
Roddenberrys Pop-Phantasie beschrieben. „Das Format, das die Besonderheiten digitaler<br />
Umwelten am besten ausnutzt, ist nicht die Hypertext-Erzählung oder das Kampfspiel,<br />
sondern die Simulation: die virtuelle Welt aus beziehungsvollen Entitäten, eine<br />
Welt, die wir betreten, manipulieren und in ihrem Fortschritt beobachten können.“<br />
Neben den virtuellen Ritten der Unterhaltungsindustrie scheinen mehrere andere<br />
Entwicklungen diesem ästhetischen Fernziel zuzustreben. Etwa die interaktiven Installationen<br />
der Hightech-Kunst und CyberArt, die die Grenze zwischen Real- und Datenraum<br />
verwischen. Oder Virtual-Reality-Forschungen im militärischen und industriellen<br />
Bereich wie das inzwischen weltweit verbreitete Cave Automatic Virtual Environment<br />
(CAVE), dessen Prototyp 1992 an der Universität von Illinois in Zusammenarbeit zwischen<br />
Informatikern und Künstlern entwickelt wurde und das in einem geschlossenen<br />
Glaswürfel mit fünfflächigen 3-D-Bildprojektionen begehbare Welten herstellt.<br />
„Ich habe wenig Zweifel“, meint Lawrence Krauss am Ende seiner Überlegungen zu Hologramm-Fiktionen<br />
und zur (Un-) Möglichkeit von Holodecks, „dass die versuchsweisen<br />
Vorstöße unseres Jahrhunderts in die virtuelle Realität uns in die Richtung von etwas<br />
führen, das dem Holodeck sehr ähnelt, zumindest im Geiste.“<br />
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Impressum<br />
Dr u c k g e s c h i c h t e<br />
Erstdruck in: C’T - MAGAZIN FÜR COMPUTERTECHNIK, 30. August 1999,<br />
S. 72-77.<br />
Auszugsweiser Nachdruck als: Themenpark im Wohnzimmer. In: GDIMPULS<br />
3/99, S. 59-61.<br />
Digitaler Re p r i n t<br />
Dieses Dokument wurde von Leon und <strong>Gundolf</strong> S. <strong>Freyermuth</strong> in Adobe InDesign und Adobe<br />
Acrobat erstellt und am 28. Februar 2008 auf www.freyermuth.com unter der Creative Commons License<br />
veröffentlicht (siehe Kasten links). Version: 1.0.<br />
Über d e n Au to r<br />
<strong>Gundolf</strong> S. <strong>Freyermuth</strong> ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs - Internationale Filmschule<br />
Köln (www.filmschule.de).<br />
Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.<br />
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