05.11.2013 Aufrufe

Lebensort Zukunft: Ziele, Wege, Ideen – Petersberger Convention ...

Lebensort Zukunft: Ziele, Wege, Ideen – Petersberger Convention ...

Lebensort Zukunft: Ziele, Wege, Ideen – Petersberger Convention ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong>:<br />

<strong>Ziele</strong>, <strong>Wege</strong>, <strong>Ideen</strong> <strong>–</strong> <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> 2009


<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong> - <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> 2009<br />

<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong><br />

Zusammenfassung der Veranstaltungen:<br />

<strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> und Campus am 5.3. und 6.3.2009 4<br />

Wie wollen wir im Jahr 2025 leben?<br />

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers 8<br />

<strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong>, Königswinter<br />

Lebensbedingungen zukünftiger Generationen<br />

Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio 12<br />

Innovation | Forum 1<br />

Stärken stärken <strong>–</strong> neue Impulse für zukünftige Kompetenz? 18<br />

Beschäftigung | Forum 2<br />

Dienstleistung und Produktion <strong>–</strong><br />

Schlüssel für zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg? 20<br />

Lebensqualität | Forum 3<br />

Wie wollen wir 2025 leben? 22<br />

Wissen | Forum 4<br />

Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>? 24<br />

Ein starkes Stück Deutschland<br />

Professor Dr. Peter Scholl-Latour 26<br />

CAMPUS im Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />

Vom Ich zum Wir? <strong>–</strong> Die Renaissance des Sozialen 30<br />

Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong> | Workshop 1 32<br />

Klimaschutz: Unsere Verantwortung für zukünftige Generationen | Workshop 2 33<br />

Vernetztes Leben und Arbeiten: Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong> | Workshop 3 34<br />

Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie? | Workshop 4 35<br />

Demografischer Wandel und technische <strong>Zukunft</strong>sperspektiven:<br />

Können wir ewig leben? | Workshop 5 36<br />

Wer macht die <strong>Zukunft</strong>: Herausforderungen an die Technik | Workshop 6 37<br />

Kreativität ist soziale Phantasie<br />

Professor Dieter Gorny 38<br />

Programmübersicht der beiden Tage 42


4 <strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong> - <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />

„<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong>: <strong>Ziele</strong>, <strong>Wege</strong>, <strong>Ideen</strong> <strong>–</strong><br />

<strong>Petersberger</strong> Konvention“: Unter diesem Motto<br />

hat am 6. März 2009 auf Einladung des Ministerpräsidenten<br />

Jürgen Rüttgers auf dem Bonner<br />

Petersberg der erste internationale <strong>Zukunft</strong>skongress<br />

stattgefunden. Der Kongress richtete<br />

sich an hochrangige Persönlichkeiten aus Politik,<br />

Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Er hatte zum<br />

Ziel, sich mit <strong>Zukunft</strong>sthemen Nordrhein-Westfalens<br />

zu beschäftigen und mögliche Lösungsansätze<br />

und Handlungsempfehlungen für die<br />

politischen und gesellschaftlichen Akteure des<br />

Landes zu diskutieren.<br />

In einer Zeit dramatischer Umwälzungen, die in<br />

der Finanzmarktkrise ihren gegenwärtig wohl<br />

sinnfälligsten Ausdruck findet, ist überdeutlich<br />

geworden, dass von den tektonischen Verschiebungen<br />

der globalisierten Welt niemand und<br />

kein Lebensbereich unberührt bleiben. Doch<br />

nicht nur die Krisen der Wirtschaft und der<br />

Finanzmärkte bewegen die Welt und verlangen<br />

nach neuen Antworten. Gleichzeitig verändern<br />

sich Gesellschaft und Umwelt in nicht weniger<br />

dramatischer Weise. Die Bevölkerungspyramide<br />

steht bald auf dem Kopf. Ein Klimawandel droht.<br />

All dies sind Faktoren, die unsere zukünftige<br />

Lebens- und Arbeitsweise entscheidend prägen<br />

und unser soziales Miteinander formen werden.<br />

Diesen Herausforderungen ist allein mit dem<br />

politischen Alltagsgeschäft und dem normalen<br />

gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr angemessen<br />

zu begegnen.<br />

Die Landesregierung will daher die Diskussion<br />

mit Vordenkern über die brennenden Fragen<br />

unserer Zeit anstoßen: Wie können wir Impulse<br />

geben für den Beginn einer neuen Ära? Für eine<br />

zweite industrielle Revolution, bei der es auf<br />

Wissen, <strong>Ideen</strong>reichtum und Kreativität ankommt?<br />

Welche Beiträge können die Akteure<br />

dazu leisten? Welchen Herausforderungen müssen<br />

sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellen?<br />

Leitmotive: Bildung und Integration<br />

Inhaltliches Kernstück des Kongresses waren<br />

vier voneinander unabhängige Foren, die nach<br />

der Begrüßung durch den Ministerpräsidenten<br />

und einem dichten Einführungsvortrag von<br />

Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio knapp<br />

zwei Stunden tagten. An die Impulsreferate und<br />

die Ausführungen der Podiumsteilnehmer<br />

schlossen sich lebhafte Diskussionen mit den<br />

Besuchern an. Anschließend wurden die Ergebnisse<br />

der Foren in einem abschließenden Plenum<br />

vor allen Kongressteilnehmern vorgetragen<br />

und zur Diskussion gestellt.<br />

Schon bald kristallisierte sich ein überraschendes<br />

Ergebnis heraus: Ungeachtet der Titelthemen<br />

verdichteten sich in allen vier Foren die<br />

Diskussionen auf Bildung und auf die Integration<br />

von Menschen mit Migrationshintergrund.<br />

Obwohl lediglich Forum 4 das Thema „Wissen“<br />

im Titel führte, wurde in allen Foren eine Reform<br />

und Verbesserung des Bildungswesens gefordert<br />

und als das zentrale <strong>Zukunft</strong>sthema<br />

schlechthin definiert. Die wirklich brennenden<br />

<strong>Zukunft</strong>sthemen eroberten sich die Aufmerksamkeit<br />

in den Foren sozusagen selbst und wurden<br />

dabei von unterschiedlichsten Perspektiven<br />

beleuchtet.


5<br />

Im Forum 1 <strong>–</strong> Innovation: Neue Impulse für zukünftige<br />

Kompetenz? <strong>–</strong> drängte das Thema<br />

Bildung rasch ins Zentrum. Keynotespeaker<br />

Professor Jürgen Kluge, Mitglied im Shareholder<br />

Council der Unternehmensberatung McKinsey,<br />

definierte die zukünftige Basis für die lebensnotwendige<br />

Fähigkeit zur Innovation in zehn<br />

Thesen und forderte eine Verbesserung der<br />

Ausbildung und Weiterbildung im Sinne lebenslangen<br />

Lernens, eine höhere Bildungsbeteiligung<br />

bislang bildungsferner Schichten sowie<br />

den Zuzug und Verbleib von ausländischen Top-<br />

Talenten.<br />

In Forum 2 <strong>–</strong> Beschäftigung: Dienstleistung<br />

und Produktion <strong>–</strong> stand für Keynotespeaker<br />

Professor Klaus F. Zimmermann, Präsident des<br />

Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung,<br />

an zweiter Stelle die Erkenntnis, dass Nordrhein-<br />

Westfalen in Sachen Beschäftigungspolitik verstärkt<br />

auf Bildung und Weiterbildung setzen<br />

müsse, wenn es konkurrenzfähig bleiben wolle.<br />

Es müsse in <strong>Zukunft</strong> in die Schul- und Hochschulbildung<br />

massiv investiert werden, denn<br />

„Deutschland lebt vom Humankapital.“ Und das<br />

Humankapital drohe knapp zu werden, wenn<br />

nicht das Land in der <strong>Zukunft</strong> gezielt auf Zuwanderung<br />

setze und die Integration von Zuwanderern<br />

und ihren Kindern merklich verbessere.<br />

In Forum 4 <strong>–</strong> Wissen: Basis für die <strong>Zukunft</strong>? <strong>–</strong><br />

schließlich stellte der Rektor der Düsseldorfer<br />

Heinrich-Heine-Universität Professor Hans<br />

Michael Piper die Fragen nach Art und Qualität<br />

der Bildung in den Mittelpunkt. Als Begleiterscheinung<br />

erwünschten Spezialistentums drohten<br />

Bildungsmonokulturen, die jedoch krisenanfällig<br />

seien. Wichtig sei dagegen flexibles, fachübergreifendes<br />

Wissen. Neben erhöhter Aufmerksamkeit<br />

auf die Qualität der Lehre forderte<br />

auch Piper verstärkte Anstrengungen, mit der<br />

Bildung junge Menschen mit Migrationshintergrund<br />

in einem bildungsfernen Milieu künftig<br />

besser und vor allem früher zu erreichen.<br />

Investitionen in Schulsysteme komme daher<br />

letztlich größere Bedeutung zu als in Universitäten.<br />

Pipers Fazit, „wenn sich die deutsche<br />

Bevölkerung nicht im Bildungssystem wiederfindet,<br />

dann haben wir schlechte Chancen in einer<br />

globalisierten Welt“, kann somit als Fazit aller<br />

vier Foren gewertet werden.<br />

Nach einem ausgreifenden Abschlussreferat von<br />

Professor Peter Scholl-Latour, das den Blick in<br />

die <strong>Zukunft</strong> über die Landesgrenzen hinaus weitete,<br />

verabschiedete der Ministerpräsident die<br />

Teilnehmer mit der Ankündigung, den Kongress<br />

in modifizierter Form im nächsten Jahr zu wiederholen.<br />

Auch Forum 3 <strong>–</strong> Lebensqualität: Wie wollen wir<br />

2025 leben? <strong>–</strong> sprach gleich an prominenter<br />

erster Stelle die Themen Bildung und Integration<br />

an: der Politikwissenschaftler Professor<br />

Hubert Kleinert nannte als erstes von fünf Problemfeldern<br />

das Zusammenleben in einer multiethnischen<br />

Gesellschaft. Er forderte, das Bildungsniveau<br />

von Zuwanderern zu verbessern.<br />

Dazu gehören die gezielte frühkindliche Sprachförderung,<br />

der Ausbau von Ganztagsschulen<br />

und die Förderung von Bildungsmotivation und<br />

Erziehungskompetenz in Migrantenfamilien,<br />

etwa durch die Angebote von Familienzentren.<br />

Um auch die Meinung derjenigen zu hören, für<br />

die heutige <strong>Zukunft</strong>sthemen Lebensrealität werden,<br />

fand parallel zur <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />

im Konferenzzentrum der Deutschen Post AG in<br />

Bonn eine Campusveranstaltung statt. Dort diskutierten<br />

rund 300 junge Menschen aus ganz<br />

Nordrhein-Westfalen miteinander und mit zahlreichen<br />

Experten.


6 <strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong> - <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />

Auch hier bildete eine Podiumsrunde den Auftakt,<br />

die um die Themen Gesellschaft, Arbeit<br />

und Bildung kreiste. Alle Beteiligten wurden sich<br />

schnell einig, dass die in der <strong>Zukunft</strong> erwartete<br />

höhere Flexibilität von der jüngeren Generation<br />

endlich als Chance und nicht mehr als Bedrohung<br />

begriffen werden müsse. Größere Eigenverantwortung<br />

werde in der <strong>Zukunft</strong> keineswegs<br />

mehr im Widerspruch zu einer tief greifenden<br />

Renaissance des Sozialen stehen, soziale Netzwerke<br />

des Web 2.0 seien die Vorboten eines<br />

Wertewandels, der unter dem Motto stehe: „Wer<br />

teilt, gewinnt.“ Auch beim Thema Bildung<br />

herrschte im Plenum Einigkeit darüber, dass in<br />

der <strong>Zukunft</strong> noch viel stärker die Verschulung<br />

zugunsten der Förderung von Kreativität<br />

gestoppt werden solle.<br />

Der erste Workshop diskutierte nach einem<br />

Impulsreferat von Dr. Alfred Stulgies, Projektleiter<br />

Forschung & Entwicklung RWE mit etwa<br />

60 Teilnehmern kontrovers über das Thema<br />

„Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong>.“ Die abschließende<br />

TED-Abstimmung über den künftigen<br />

Energiemix kam zu einem überraschenden<br />

Ergebnis: 39% der Teilnehmer votierten für<br />

Kernenergie, die Hälfte für regenerative<br />

Energien.<br />

Workshop 2 thematisierte den „Klimaschutz:<br />

Unsere Verantwortung für zukünftige Generationen.“<br />

Rund 30 Teilnehmer diskutierten<br />

unter der Moderation von Dr. Winfried Häser,<br />

Deutsche Post AG, über Biokraftstoffe und<br />

erarbeiteten sechs Eckpunkte hierzu. Weitere<br />

Forderungen an die <strong>Zukunft</strong> betrafen andere<br />

Felder der Klima- und Energiepolitik.<br />

Workshop 3 mit dem Thema „Vernetztes Leben<br />

und Arbeiten: Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong>“ war<br />

mit rund 80 Teilnehmern der am besten besuchte<br />

Workshop. Diskutiert wurden nach einem<br />

Impulsreferat von Dr. Sven Hirschke, Deutsche<br />

Telekom AG, die kommunikativen Probleme bei<br />

der Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher<br />

Lebens- und Kommunikationsstile,<br />

aber auch Fragen nach der Vereinbarkeit von<br />

Beruf und Privatleben. Die Teilnehmer forderten<br />

Raum für kreative Selbstverwirklichung bei der<br />

Arbeit und eine neue Kultur des Experimentierens,<br />

des möglichen Scheiterns und des Neustarts.<br />

Workshop 4 diskutierte die komplexe Thematik:<br />

„Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie?<br />

Demografischer Wandel und technische<br />

<strong>Zukunft</strong>sperspektiven,“ es referierten Professor<br />

Ralf E. Ulrich vom Institut für Bevölkerungs- und<br />

Gesundheitsforschung und Professor Rolf<br />

Kreibich vom Institut für <strong>Zukunft</strong>sstudien und<br />

Technologiebewertung. Angesichts bedrückender<br />

demografischer Zahlen wurde über längere<br />

Lebensarbeitszeiten und die gezielte Förderung<br />

technologischer Lösungen nachgedacht. Im<br />

zweiten Teil der Diskussion stand die künftige<br />

Lebensqualität unter dem Einfluss von Umweltbelastungen,<br />

Klimawandel und Artensterben im<br />

Mittelpunkt.<br />

Auch Workshop 5 hatte das Thema Alter im<br />

Fokus: „Leben im Alter und Gesundheitsforschung:<br />

Können wir ewig leben?“ Dr. Sandra<br />

Blaess, Biologin der Universität Bonn und<br />

Jürgen Wolters, Sozialwissenschaftler BKK<br />

Bundesverband, Initiative Gesundheit und<br />

Arbeit, referierten über die Chancen der Grundlagenforschung.<br />

In der Diskussion sprach sich<br />

das Plenum für Prävention und Gesundheitsförderung<br />

aus, forderte aber auch mehr interdisziplinäre<br />

Medizin und die Einbeziehung<br />

sozialer Faktoren.


7<br />

Workshop 6 warb offensiv für den Ingenieurberuf:<br />

„Wer macht die <strong>Zukunft</strong>: Herausforderungen<br />

an die Technik und den Ingenieurberuf<br />

für die Gesellschaft von morgen.“<br />

Den Abschluss der Campusveranstaltung bildete<br />

eine mitreißende Rede von Professor Dieter<br />

Gorny, dem Vorstandsvorsitzenden des deutschen<br />

Bundesverbandes der Musikindustrie. Er<br />

plädierte leidenschaftlich für mehr Kultur und<br />

Kreativität und forderte, endlich den hierzulande<br />

immer noch unversöhnlichen Antagonismus von<br />

Wirtschaft und Kultur aufzugeben. „Mischen Sie<br />

sich ein!“, appellierte Gorny offensiv auch an<br />

den Mut zu politischem Bewusstsein und schlug<br />

damit die Brücke zur Abendveranstaltung, die<br />

dem Kongress vorausgegangen war.<br />

Bereits bei dem festlichen Dinner am Vorabend<br />

wurde politischer und gesellschaftlicher Mut zur<br />

Veränderung selbst in ausweglosen Situationen<br />

gleich mehrfach beschworen. Ministerpräsident<br />

Jürgen Rüttgers und Lech Wałęsa, der Friedensnobelpreisträger<br />

und ehemalige Staatspräsident<br />

der Republik Polen, nahmen den „<strong>Lebensort</strong><br />

<strong>Zukunft</strong>“ aus unterschiedlichen Perspektiven in<br />

den Fokus. Die aktuelle Krise war für beide Redner<br />

der Anlass, Ursachenforschung zu betreiben<br />

und sehr grundsätzlich über das Thema <strong>Zukunft</strong><br />

nachzudenken.<br />

dabei sind. Das Zweite: Wir müssen alle, wirklich<br />

alle bei dieser zweiten industriellen Revolution<br />

mitnehmen.<br />

Das ist die große Aufgabe dieser Zeit. Auch in<br />

dieser Krise. Das können wir schaffen durch die<br />

Neubelebung der sozialen Marktwirtschaft. Wir<br />

müssen es schaffen, eine freiheitliche Marktwirtschaft<br />

zu verbinden mit einem solidarischen<br />

Sozialstaat. Wirtschaftliche Vernunft mit sozialer<br />

Gerechtigkeit.“<br />

Rüttgers weiter: „Die <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />

legt die Betonung auf unsere Gestaltungshoheit<br />

über die <strong>Zukunft</strong>. Wie wollen wir in der <strong>Zukunft</strong><br />

leben? Die Betonung liegt auf „wollen“. Die<br />

Betonung liegt darauf, dass man etwas wollen<br />

muss, wenn etwas Wirklichkeit werden soll.<br />

Das Beispiel Polens und der Lebensweg von<br />

Präsident Wałęsa zeigen, wie eine Überzeugung,<br />

wie ein Wille die Welt verändern kann.“<br />

Der Rückblick Wałęsas auf die Geschichte der<br />

Befreiung Polens von der sowjetischen Vorherrschaft<br />

zeigte, dass Mut und kreativer Widerstand<br />

die Voraussetzung zu einer positiven<br />

<strong>Zukunft</strong> sind.<br />

Über die <strong>Zukunft</strong>, so sagte Ministerpräsident<br />

Rüttgers, „muss gestritten werden, muss nachgedacht<br />

und geschrieben werden. Zwei Sachen<br />

sind klar: Wir müssen erreichen, dass wir in<br />

Nordrhein-Westfalen, ja dass wir in Deutschland<br />

bei der zweiten industriellen Revolution vorne


8 Ministerpräsident Jürgen Rüttgers | »Wie wollen wir im Jahr 2025 leben?«<br />

»Das Nachdenken darüber,<br />

was wir als Gesellschaft wollen,<br />

ist gerade in der Zeit der<br />

größten Weltwirtschaftskrise<br />

besonders wichtig.«<br />

Im Verlauf der ersten <strong>Petersberger</strong> Konvention<br />

ergriff Ministerpräsident Jürgen Rüttgers wiederholt<br />

die Gelegenheit, das Wort an Teilnehmer und<br />

Gäste zu richten. Der folgende Text beruht auf<br />

diesen Beiträgen.<br />

Die erste <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> ist ein<br />

Experiment. Und zwar ein ganz besonderes<br />

Experiment, das mir auch persönlich sehr am<br />

Herzen liegt. Sie wissen: Die Landesregierung<br />

hat eine <strong>Zukunft</strong>skommission eingesetzt, die<br />

zurzeit hart arbeitet. Es geht um eine der drängenden<br />

Fragen, die wir uns heute ganz offensiv<br />

stellen wollen: Wie wollen wir im Jahr 2025<br />

leben?<br />

Mir ist dabei vor allem die Betonung auf dem<br />

Wort „wollen“ wichtig. Denn es soll nicht darum<br />

gehen, heutiges Wissen fortzuschreiben und<br />

daraus linear zu folgern: So wird es in der <strong>Zukunft</strong><br />

sein. Dieses Verfahren kennen wir alle.<br />

Und wir alle wissen, dass die meisten <strong>Zukunft</strong>sprognosen<br />

nach dieser Methode dann gerade<br />

nicht zutreffen. Denn das<br />

Leben ist vielfältig. Aber ich<br />

denke, dass wir trotzdem<br />

nachdenken sollten über die<br />

Frage, was wir denn als Gesellschaft<br />

wollen, und zwar<br />

ganz bewusst mit der Betonung auf dem Wort<br />

„wollen“. Wir sollten uns fragen, welche <strong>Ziele</strong><br />

wir gemeinsam anstreben, wo das Ganze hingehen<br />

soll, wie wir die Kräfte bündeln können und<br />

wie in der <strong>Zukunft</strong> Gestaltung möglich ist. Das<br />

Nachdenken darüber, was wir als Gesellschaft<br />

wollen, ist gerade in der Zeit der größten Weltwirtschaftskrise<br />

besonders wichtig.<br />

Um die Richtung kreativer <strong>Zukunft</strong>svisionen zu<br />

illustrieren, die ich mir wünsche, möchte ich<br />

ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es ist<br />

die Geschichte meines Besuchs in Pittsburgh.<br />

Einer Stadt, die vor vielen Jahren eine ganz<br />

große Krise erlebt hat, durchaus vergleichbar<br />

jener, die wir vor einiger Zeit im Ruhrgebiet<br />

durchstehen mussten. Aber bei uns hat man<br />

seinerzeit den Versuch gemacht, die Folgen der<br />

Krise abzufedern. Bei uns hat man versucht,<br />

den Menschen zu helfen und das war gut und<br />

richtig so. In Pittsburgh aber kam die Krise von<br />

jetzt auf gleich. Die großen Werke schlossen<br />

ihre Pforten, die Mitarbeiter wurden entlassen<br />

und fanden sich ohne Vorwarnung auf der<br />

Straße wieder. Die Stadt war über Nacht mit<br />

der Frage konfrontiert: Wie werden wir mit dieser<br />

Situation fertig? Wie bekommen wir dieses<br />

existentielle Problem in den Griff?<br />

Genau diese Frage brachte mich nach Pittsburgh.<br />

Ich wollte mit den Menschen sprechen,<br />

die damals ein Konzept erarbeitet und umgesetzt<br />

haben, und ihrer Stadt eine völlig neue<br />

Perspektive und damit überhaupt eine <strong>Zukunft</strong><br />

gegeben haben.<br />

Meine erste Frage war: Was habt ihr gemacht,<br />

als die Tore geschlossen wurden und die Werke<br />

aufgehört haben zu arbeiten? Die Antwort war:<br />

Wir haben als erstes beschlossen, an der Universität<br />

fünf neue Lehrstühle für Modern Jazz<br />

einzurichten. Eine erstaunliche Antwort. Denn<br />

man kann sich ungefähr vorstellen, was sich ein<br />

Ministerpräsident in Deutschland anhören<br />

müsste, der mit einer solchen Antwort auf eine<br />

ökonomische Krise reagieren würde.<br />

Meine nächste Frage war: Welche <strong>Ziele</strong> habt ihr<br />

euch gesetzt? Die Antwort war: Wir wollten,<br />

dass die Menschen hier bleiben, dass sie nicht<br />

wegziehen und sogar möglichst noch mehr<br />

Menschen zu uns ziehen. Dafür haben wir


9<br />

zuerst versucht, zu verstehen, was Menschen<br />

eigentlich von einer Stadt und einer Region wollen.<br />

In Pittsburgh haben sie folgende Antworten<br />

erarbeitet, die verblüffend und doch einfach<br />

klingen: Menschen leben da, wo sie sich wohl<br />

fühlen. Und Menschen fühlen sich dort wohl, wo<br />

es Spitzenkultur, Spitzensport und grüne Parks<br />

gibt. Für die Richtigkeit dieser überraschenden<br />

Antworten spricht der Erfolg von Pittsburgh.<br />

Die Menschen dieser Stadt haben Pittsburgh<br />

gleichsam neu erfunden.<br />

Nordrhein-Westfalen muss gar nicht neu erfunden<br />

werden. Wir sind stark. Denn wir sind den<br />

anderen Bundesländern aufgrund unserer<br />

Geschichte in einer Fähigkeit voraus: Wir in<br />

Nordrhein-Westfalen haben die Bereitschaft zur<br />

Veränderung längst verinnerlicht. Wir sind<br />

stark. Uns in Nordrhein-Westfalen traf die gegenwärtige<br />

Finanz- und Wirtschaftskrise nicht<br />

unvorbereitet. Und zwar nicht etwa, weil wir als<br />

Einzige wussten, dass sie in dieser Macht und<br />

Stärke über uns hereinbrechen würde, sondern<br />

weil wir schon vorher wussten, dass wir in einer<br />

Zeit großer Veränderungen leben und diese bejahen.<br />

Natürlich, die Krise beginnt erst.<br />

Natürlich werden wir noch harte Zeiten erleben.<br />

Aber wahr ist auch, dass unser Land stark ist.<br />

Wahr ist auch, dass die Menschen gute Fähigkeiten<br />

haben. Jetzt kommt es darauf an, auf<br />

ihnen aufzubauen, Mut zu haben und sich<br />

etwas zuzutrauen. Zutrauen heißt für mich,<br />

dass uns klar sein muss: Wir schaffen es! Wir<br />

können das! Wir kriegen das hin! Und die Krise<br />

ist nicht das Ende aller Tage.<br />

Das Schlimmste ist doch, wenn man immer<br />

noch die Botschaft ausgibt: Keine Angst Leute,<br />

es ändert sich gar nichts! Denn Veränderung<br />

gehört zu unserem Leben. In der globalisierten<br />

Welt des 21. Jahrhunderts mehr denn je.<br />

Hier auf dem Petersberg aber wollen wir uns<br />

fragen: Veränderung wohin?<br />

In Nordrhein-Westfalen haben wir die Weichen<br />

bereits gestellt, und ich bin mir sicher, dass die<br />

Richtung stimmt. Wir haben trotz massiver<br />

Konsolidierungsbemühungen, die sehr erfolgreich<br />

waren <strong>–</strong> ohne die Krise<br />

hätten wir 2008 das erste<br />

Mal seit Jahrzehnten einen<br />

Haushaltsüberschuss erwirtschaftet<br />

<strong>–</strong> offensiv investiert<br />

in die <strong>Zukunft</strong>. Wir haben<br />

investiert in die Bildung und<br />

mehr als 7.000 Lehrerinnen<br />

und Lehrer zusätzlich eingestellt.<br />

Weitere 7.000 Lehrer<br />

blieben im System, obwohl<br />

man diese aufgrund der sinkenden<br />

Schülerzahlen nach<br />

den geltenden Berechnungsschlüsseln durchaus<br />

hätte entlassen können. Nicht weniger als<br />

14.000 Lehrer stehen in Nordrhein-Westfalen<br />

nun zusätzlich zur Verfügung. Der Unterrichtsausfall<br />

hat sich dadurch halbiert. Darüber hinaus<br />

haben wir massiv und konsequent in Ganztagsschulen<br />

und frühkindliche Bildung investiert.<br />

Es gibt jetzt 86.000 Plätze für Kinder<br />

unter drei Jahren, angefangen haben wir 2005<br />

mit 11.000. Und wir haben 16 neue, große Forschungszentren<br />

aufgebaut und die Oberbürgermeisterin<br />

von Bonn und der Landrat von Rhein-<br />

Sieg freuen sich darüber, dass das neue Nationale<br />

Forschungszentrum für Demenzkranke<br />

hier nach Bonn gekommen ist.<br />

Gerade in der Krise ist es wichtig, konsequent<br />

weiter in Bildung zu investieren. Wir müssen vor<br />

allem erneut kritisch darüber nachdenken:<br />

Welche Bildung brauchen wir in der <strong>Zukunft</strong>?<br />

Welche Bildung wollen wir in der <strong>Zukunft</strong>?<br />

Müssen wir nicht ein Schulsystem fordern, in<br />

dem keiner mehr sitzen bleibt, weil die Schule<br />

sich um jeden Einzelnen kümmern muss und<br />

»Nordrhein-Westfalen muss<br />

gar nicht neu erfunden werden.<br />

Wir sind stark. Denn wir<br />

sind den anderen<br />

Bundesländern aufgrund<br />

unserer Geschichte in einer<br />

Fähigkeit voraus: Wir in<br />

Nordrhein-Westfalen haben<br />

die Bereitschaft zur<br />

Veränderung längst verinnerlicht.<br />

Wir sind stark.«


10 Ministerpräsident Jürgen Rüttgers | »Wie wollen wir im Jahr 2025 leben?«<br />

»Wir können nur dann ein<br />

Industrieland bleiben, wenn<br />

unsere Industrie immer auf<br />

der Höhe der Zeit ist.«<br />

»Anders gesagt:<br />

wir müssen den Übergang zur<br />

Wissensgesellschaft schaffen<br />

und die zweite industrielle<br />

Revolution gestalten.«<br />

nicht einfach sagt: Pech gehabt? Was passiert<br />

bei uns mit denen, die es besonders schwer<br />

haben, die Hilfe brauchen, die vielleicht sogar<br />

schon hingefallen sind und die Hoffnung verloren<br />

haben? Gerade die Kinder, die es schwer<br />

haben, brauchen unsere<br />

Hilfe, ganz gleich, ob sie hier<br />

geboren sind oder ob sie aus<br />

anderen Ländern zu uns<br />

gekommen sind.<br />

Doch mit Bildung allein trotzen wir der Krise<br />

noch nicht. Wir müssen in Nordrhein-Westfalen<br />

auch unsere traditionellen Stärken pflegen und<br />

weiter entwickeln. Nordrhein-Westfalen ist ein<br />

Industrieland und ich behaupte: Auch nach der<br />

Krise wollen wir Industrieland sein.<br />

Diesen Satz finde ich eminent wichtig. Aus ihm<br />

muss eine Strategie zur Bewältigung der Krise<br />

folgen, die dabei über die Krise weit hinaus<br />

weist. Es ist entscheidend, jetzt über die Krise<br />

hinaus zu denken. Die Krise findet überall statt,<br />

in Berlin, in Düsseldorf und anderswo. Eine<br />

Frage stellt sich langfristig: Was wird aus all den<br />

Unternehmen mit Problemen?<br />

Wir können nur dann ein Industrieland bleiben,<br />

wenn unsere Industrie immer auf der Höhe der<br />

Zeit ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die<br />

Datenautobahnen müssen jetzt schnell gebaut<br />

werden, damit umgehend<br />

eine neue, zukunftsfähige<br />

Infrastruktur entsteht. Das<br />

ist übrigens genau so wie<br />

beim Bau der ersten Eisenbahnen,<br />

Autobahnen und<br />

Kanäle. Jetzt müssen die Datenautobahnen<br />

gebaut werden, die uns mit aller Welt und mit<br />

ungeheuren Informationsmengen in Echtzeit<br />

verbinden. Anders gesagt: wir müssen den<br />

Übergang zur Wissensgesellschaft schaffen und<br />

die zweite industrielle Revolution gestalten. Wir<br />

müssen erreichen, dass wir in Deutschland und<br />

in Nordrhein-Westfalen bei dieser zweiten industriellen<br />

Revolution vorne dabei sind. Gleichzeitig<br />

muss gelten: Wir müssen alle Menschen<br />

bei dieser zweiten industriellen Revolution mitnehmen.<br />

Wenn wir uns auf dem Petersberg gezielt fragen,<br />

wie wir denn in der <strong>Zukunft</strong> leben wollen,<br />

sollten wir nicht nur über Strategien und Technologien<br />

reden. Wir wollen in <strong>Zukunft</strong> Krisen<br />

nicht nur einfach überleben. Dann müssen wir<br />

uns aber auch fragen, wie es zu der gegenwärtigen<br />

Krise überhaupt kommen konnte.<br />

Wahrscheinlich sind wir deshalb heute in dieser<br />

schwierigen Lage, weil unser Wirtschaften die<br />

letzten Jahre von einem durch und durch materialistischen<br />

Geist geprägt war. Nur an das Geld<br />

wurde gedacht. Derjenige war der Star, der die<br />

größte Rendite hatte, selbst wenn sie betriebswirtschaftlicher<br />

Unsinn war. Das konnte nicht<br />

gut gehen. Ich habe schon in der Schule gelernt,<br />

dass reiner Materialismus immer ins<br />

Elend führt. Wenn nun der Materialismus keine<br />

Antwort ist, was sind denn dann die Werte, die<br />

unsere Gesellschaft tragen? Gibt es da etwas<br />

Gemeinsames? Oder sucht sich jeder seine<br />

Nische, seinen Verein und wir sind nichts mehr<br />

als eine Ansammlung isolierter Individualisten?<br />

Eine der Ursachen der Krise ist aus meiner<br />

Sicht die Tatsache, dass wir lange Zeit viel zu<br />

wenig über Werte geredet haben. Eine weitere<br />

Ursache ist die unbestreitbare Tatsache, dass<br />

unsere Gesellschaft immer mehr auseinanderdriftet.<br />

In Arm und in Reich, in Zugewanderte<br />

und Einheimische, in Ausgebildete und nicht<br />

Ausgebildete, in Ost und in West.


11<br />

Wie bringt man nun diese auseinander driftende<br />

Gesellschaft wieder zusammen? Meine Erfahrung<br />

ist, dass so etwas nur durch gemeinsame<br />

<strong>Ziele</strong> geht, auf die man sich auch gemeinsam<br />

einigt.<br />

Das ist auch die Botschaft von Lech Wałęsa, des<br />

einstigen Revolutionärs und späteren Staatspräsidenten<br />

der Republik Polen. Er hat die Welt<br />

verändert, weil er an etwas geglaubt hat. Er hat<br />

die Wiedervereinigung Deutschlands erst ermöglicht,<br />

indem er den Eisernen Vorhang angesägt<br />

hat. Nicht mit Gewalt, sondern mit dem<br />

Glauben an die Werte, die uns hier in Europa<br />

seit vielen Jahrhunderten zusammenhalten.<br />

Diese Werte des christlich-jüdischen Abendlandes<br />

und der Aufklärung vertragen sich weder<br />

mit dem Raubtierkapitalismus noch mit dem<br />

Auseinanderdriften der Gesellschaft. Wir müssen<br />

es schaffen, eine freiheitliche Marktwirtschaft<br />

mit einem solidarischen Sozialstaat zu<br />

verbinden. Und wirtschaftliche Vernunft mit<br />

sozialer Gerechtigkeit. Das sind die großen<br />

Aufgaben dieser Zeit. Das sind die großen<br />

Aufgaben in dieser Krise.<br />

Der Sinn dieser <strong>Convention</strong> ist, Menschen zum<br />

gemeinsamen Gespräch und Nachdenken zu<br />

animieren. Menschen, die aus ganz unterschiedlichen<br />

Bereichen unseres Landes kommen:<br />

Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker,<br />

Berater, Beamte, Journalisten, Kulturschaffende,<br />

Frauen und Männer der Kirche und viele<br />

mehr. Dieses Nachdenken sollten wir über das<br />

Rheintal, über das Ruhrtal und über Westfalen<br />

und Lippe hinaus ausweiten.<br />

Man soll die Dinge nehmen wie sie kommen.<br />

Aber man sollte auch dafür sorgen, dass die<br />

Dinge so kommen, wie man sie nehmen möchte.<br />

Ich finde, ein schöner Satz. Denn er enthält<br />

auch ein bisschen Wehmut. Er erinnert uns<br />

daran, dass die Welt eben doch nicht planbar<br />

ist. Aber dass es deshalb umso wichtiger ist,<br />

dass es auch Werte gibt,<br />

die in unberechenbaren<br />

Zeiten Halt geben.<br />

Wenn man sich die Herausforderungen<br />

genauer anschaut,<br />

vor denen wir stehen,<br />

dann ist es nicht nur<br />

die Finanzkrise, die uns fordert und uns sicher<br />

noch die nächsten Jahre beschäftigen wird.<br />

Auch die Klima-Frage verlangt jeden Tag drängender<br />

nach Antworten. Das Problem des internationalen<br />

Terrorismus ist nach wie vor ungelöst.<br />

Wie wollen wir im Jahr 2025 leben? Das ist<br />

naturgemäß eine Frage vor allem an junge<br />

Leute. Diesem Umstand<br />

haben wir Rechnung getragen,<br />

indem wir parallel<br />

zu den Veranstaltungen<br />

auf dem Petersberg im<br />

Post Tower in zahlreichen<br />

Foren mit jungen Menschen<br />

diskutieren. Im<br />

nächsten Jahr werden wir<br />

beide Veranstaltungen<br />

noch stärker vernetzen.<br />

Das haben alle Teilnehmer<br />

angeregt. Wir wollen dieses Experiment fortführen.<br />

Daher sage ich: Wir treffen uns im kommenden<br />

Jahr wieder hier auf dem Petersberg.<br />

»Wenn nun aber<br />

Materialismus keine Antwort<br />

ist, was sind denn dann<br />

Werte, die uns gemeinsam<br />

in unserer Gesellschaft<br />

tragen?«<br />

»Wir müssen es schaffen,<br />

eine freiheitliche Marktwirtschaft<br />

mit einem solidarischen<br />

Sozialstaat zu verbinden.<br />

Und wirtschaftliche<br />

Vernunft mit sozialer<br />

Gerechtigkeit. Das sind die<br />

großen Aufgaben dieser Zeit.<br />

Das sind die großen<br />

Aufgaben in dieser Krise.«


12 Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio | »Lebensbedingungen zukünftiger Generationen«<br />

Udo Di Fabio, geboren am 26. März 1954 in Walsum, ist Jurist<br />

und seit 1999 Richter am Bundesverfassunggerichts. Darüber<br />

hinaus ist er mit viel beachteten Buchpublikationen einer breiteren<br />

Öffentlichkeit bekannt geworden.<br />

Auf dem Petersberg kreiste Di Fabio in seinem dichten Einführungsvortrag<br />

alle relevanten Themenfelder des Kongresses<br />

systematisch ein. Seine Forderung einer humanen und freiheitsgerechten<br />

<strong>Zukunft</strong> mündete in einem entschiedenen<br />

Plädoyer für eine bürgerlich selbstbestimmte Zivilgesellschaft.<br />

I.<br />

Ein <strong>Zukunft</strong>skongress ist kein einfaches Unternehmen, schon<br />

weil niemand die <strong>Zukunft</strong> kennt. Als ich in den sechziger<br />

Jahren eine nordrhein-westfälische Schule besuchte, entwarfen<br />

uns junge engagierte Lehrer den Horizont einer technisch<br />

entwickelten <strong>Zukunft</strong>: Unheilbare Krebserkrankungen werde<br />

es in zwanzig Jahren nicht mehr geben, dafür aber Kolonien<br />

auf dem Mars, die friedliche Nutzung der Kernenergie werde<br />

zu so niedrigen Strompreisen führen, dass die Anbringung<br />

von Stromzählern nicht mehr lohne. In den achtziger Jahren<br />

schmunzelte ich als junger Mann darüber, welch fantastischen<br />

Irrtümern man in der Vergangenheit doch erlegen war,<br />

während es in Wirklichkeit doch um ganz andere <strong>Zukunft</strong>sfragen<br />

ging. Jetzt wurde nämlich prophezeit, dass der saure<br />

Regen, mit hohen Schornsteinen kontinental verteilt, die<br />

schönen deutschen Wälder bis zum Jahr 2000 überwiegend<br />

vernichtet haben würde. Gewässer in Deutschland wären so<br />

biologisch tot wie die Emscher es schon war, die die Abwässer<br />

des Ruhrgebiets zu transportieren hatte. Etwa zur<br />

gleichen Zeit waren die „Klügeren“ unter uns davon überzeugt,<br />

dass alles Gerede von der deutschen Wiedervereinigung<br />

unrealistisch und sogar friedensgefährdend sei, weil<br />

man sich für alle sichtbare <strong>Zukunft</strong> mit dem Faktum der<br />

Teilung des Landes nun einmal abzufinden habe.<br />

Nachdem wir klugen, gut informierten und wissenschaftlich<br />

inspirierten Menschen die Weltfinanzkrise so wunderbar vorhergesehen<br />

haben, ist es an der Zeit, neue Prognosen zu wagen:<br />

Wie wird das einwohnerstärkste deutsche Land, wie wird<br />

Nordrhein-Westfalen im Jahr 2025 dastehen. Das sind nur<br />

noch 16 Jahre, das müsste also leicht zu erkennen sein, bestimmt<br />

leichter als hundert Jahre zuvor, wenn man vom Jahr<br />

1909 auf das Jahr 1925 geblickt hätte.<br />

II.<br />

Wie geht man vor? Auch wenn man kein professioneller <strong>Zukunft</strong>sforscher<br />

ist, wird man nach bestimmenden Trends fragen<br />

und sie fortschreiben, ihre Quantität, ihre Wirkungskraft<br />

in verschiedene Szenarien einbauen, Schwankungsbreiten,<br />

positive oder negative Grundfärbungen nebeneinander stellen.<br />

Zu den großen Bestimmungsfaktoren zählen die demografische,<br />

die wirtschaftliche, die politische und die kulturelle<br />

Entwicklung. Das Problem aller Szenarien liegt in der Interaktion<br />

der verschiedenen Einflüsse, deren Ergebnis dann<br />

schwer vorhersehbar ist, einer langfristigen Wetterprognose<br />

nicht unähnlich. Einiges steht fest. Der so genannte demografische<br />

Wandel beispielsweise wird sich zu einem ganz<br />

erheblichen Problem entwickeln. Doch in den Folgewirkungen<br />

wird er viel weniger hart ausfallen, wenn das Land gleichwohl<br />

wirtschaftlich prosperiert und kulturell eine starke gemeinsame<br />

Identität ausbildet. Die gesellschaftliche <strong>Zukunft</strong> kann<br />

nicht schematisch begriffen und linearisiert werden, schon<br />

weil Ordnungszusammenhänge spontan entstehen und vergehen<br />

können, Menschen eigenwillig sind und öffentliche<br />

Meinungsbildung in hohem Maße autosuggestiv verengt sein<br />

kein, im Guten wie im Schlechten.<br />

1. Die <strong>Zukunft</strong> wird zuerst bestimmt von den Menschen, die<br />

2025 in Nordrhein-Westfalen leben. Wer das sein wird, wissen<br />

wir zum größeren Teil. Wir wissen, dass der Anteil der Älteren<br />

zunehmen und die Zahl der nachkommenden Kinder abnehmen<br />

wird. Selbst die Steigerung der Geburtenrate auf „bestandserhaltende“<br />

französische Verhältnisse würde für die<br />

nächsten beiden Jahrzehnte kaum etwas daran ändern, dass<br />

der Umschlag von den sechziger auf die siebziger Jahre von<br />

geburtenstarken auf geburtenschwache Jahrgänge erst im<br />

Jahr 2025 fühlbar sich auswirken wird, aber dann auch sehr<br />

deutlich fühlbar. Die Erwerbsbevölkerung in Nordrhein-Westfalen<br />

wird heute immer noch von der geburtenstarken Generation<br />

der zwischen 1955 und 1970 Geborenen getragen.<br />

Davon werden 2025 nur noch wenige im Berufsleben stehen,<br />

aber die übergroße Mehrheit von ihnen wird natürlich noch<br />

leben, mit einer von 2025 aus gesehen durchschnittlichen<br />

Lebenserwartung, die mindestens ein Jahrzehnt bis fast vier<br />

Jahrzehnte für die 1970 Geborenen reichen wird, negative<br />

Überraschungen durch neue Krankheiten oder Katastrophen<br />

einmal ausgeblendet. In der Bevölkerungspyramide, die


13<br />

schon lange keine mehr ist, wird die größte Altergruppe jene<br />

geburtenstarke Generation der dann zwischen 50 bis 70jährigen<br />

sein: im Jahr 2025 wird der Anteil der über 65jährigen<br />

bei nur etwas unter 25% liegen.<br />

Als ersten Trend kann man deshalb festhalten: Die Gesichter<br />

Nordrhein-Westfalens werden älter werden, die Vitalität und<br />

die psychosoziale Dynamik wird deutlich abnehmen, auch bei<br />

allem Vertrauen in die zunehmende Elastizität und Offenheit<br />

der älter werdenden Menschen. Da eine dynamische Wirtschaft<br />

gerade im Innovationsbereich von intelligenter Technik,<br />

Kommunikation und Exportindustrien nun einmal junge<br />

Menschen braucht, kann man davon abgeleitet prognostizieren,<br />

dass sich die lokalen und regionalen Lebensverhältnisse<br />

stärker spreizen werden, und zwar zwischen den Orten, die<br />

starke dynamische Unternehmen beheimaten und anderen<br />

Orten, die dann womöglich allmählich veröden, die vor allem<br />

von der Standorttreue der dort ansässigen älteren Bürger<br />

werden leben müssen.<br />

In Städten wie Düsseldorf, Köln, Bonn oder Münster muss<br />

man im Jahr 2025 nicht unbedingt damit rechnen, dass das<br />

Straßenbild von Rentnerinnen und Pensionären dominiert<br />

wird, auf dem Land und in Teilen des Ruhrgebiets aber schon.<br />

Bevölkerungsverluste bis zu 10% werden regional für bestimmte<br />

ländliche Räume, aber auch das Ruhrgebiet vorausgesagt.<br />

Wer über Bevölkerungsentwicklung redet, muss auch über<br />

die kulturellen Veränderungen außerhalb der Alterstruktur<br />

reden. Im Jahr 2025 werden mehr als die Hälfte der Kinder in<br />

Nordrhein-Westfalen einen Migrationshintergrund aufweisen,<br />

jedenfalls in Ballungsräumen. Für jemanden, der im Ruhrgebiet,<br />

im deutschen Melting-Pot vor einem halben Jahrhundert<br />

aufgewachsen ist, ist das eigentlich keine sonderlich aufregende<br />

Nachricht. In der Region der Libudas, Ossewitzkis oder<br />

La Torres wurde das früher statistisch noch nicht einmal erwähnt.<br />

Zwei Faktoren machen allerdings einen Unterschied. Die Einwanderung<br />

vor allem aus agrarisch geprägten Räumen des<br />

islamischen Kulturkreises führt zu einer nicht zu unterschätzenden<br />

Diskrepanz zwischen dem urban-westlichen Lebensstil,<br />

wie er sich mit seinem Konzept der persönlichen Unabhängigkeit<br />

seit den siebziger Jahren als prägend durchgesetzt<br />

hat, und einem eingewanderten Traditionalismus, der<br />

weit weniger zur raschen Rezeption der einheimischen Kultur<br />

führt, als das früheren Erfahrungen entsprach. Die Möglichkeiten,<br />

mit eigenen traditionellen Mustern der Familiengebundenheit<br />

und der religiösen Beheimatung in den Ballungszentren<br />

Nordrhein-Westfalens anzukommen und verstanden<br />

zu werden, haben abgenommen, und zwar sowohl wegen<br />

zurückgehender Integrationskraft durch die Erosion von<br />

Gemeinschaftskräften im Land selbst, als auch wegen zurückgehender<br />

Integrationsoffenheit von Teilen der Einwanderer.<br />

Hier bei diesen kulturellen Faktoren kann man für eine Prognose<br />

nur mit verschiedenen Szenarien arbeiten: mit negativen<br />

und positiven, mit pessimistisch dramatisierenden und<br />

optimistisch pragmatischen Entwürfen. Eine Annahme geht<br />

dahin, dass der bisherige westliche Lebensstil persönlicher<br />

Ungebundenheit vorherrschend bleibt. Dann kommt es darauf<br />

an, ob die nachfolgende Einwandergeneration diesen<br />

Lebensstil übernimmt, oder sich traditionalistisch oder islamisch-religiös<br />

offensiv dagegen abgrenzt, oder insular defensiv<br />

sich einer Integration verschließt.<br />

In diesem schlechten Fall wird die Fragmentierung kultureller<br />

Lebensräume zunehmen und Konflikte bis hin zu gewalttätigen<br />

Entladungen oder bereits für das Ruhrgebiet vorausgesagte<br />

kulturelle und die funktionierende Alltagsordnung<br />

betreffende „Implosionen“ sind dann nicht auszuschließen.<br />

Eine in der Dynamik erlahmende westlich orientierte Kultur<br />

könnte mit einer jüngeren, aber antiwestlichen und antiliberalen<br />

Strömung zusammenstoßen.<br />

Die Gefahr kultureller Fragmentierung und Disparitäten des<br />

lebensweltlichen Ambientes sind dabei zwar maßgeblich,<br />

aber nicht nur ein Problem der Einwanderung aus anderen<br />

Kulturräumen. Auch Ordnungs- und Orientierungsverluste<br />

der so genannten bildungsfernen Schichten könnten verstärkt<br />

eine sich noch weit stärker als heute verfestigende<br />

fragmentierte Lebenswelt von so genannten Transferleistungsempfängern<br />

herausbilden, die in der nachfolgenden<br />

Generation keinen Anschluss mehr findet an die bürgerliche<br />

Mitte der wirtschaftlich erfolgreich tätigen Menschen, weil<br />

alltagspraktische und berufstechnische Kompetenz, Motivations-<br />

und Leistungsethos zurückgegangen sind.<br />

Es kommen demnach für die absehbare <strong>Zukunft</strong> einige gewichtige<br />

negative Wirkfaktoren zusammen: Alterung, Migration<br />

und soziale Desintegration. Wer diese Trends überzeichnet,<br />

wird in einem gefährlichen Kulturpessimismus enden,


14 Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio | »Lebensbedingungen zukünftiger Generationen«<br />

wer sie aber schön redet, verspielt die Chance auf pragmatische<br />

Gestaltung der <strong>Zukunft</strong>, die aus Problemen lernt, Notwendiges<br />

erkennt und auch neue Potentiale entdeckt.<br />

2. Die Bevölkerungsstruktur im Jahr 2025 ist das eine, die<br />

wirtschaftliche Infrastruktur ist das andere. Die Wirtschaft ist<br />

und bleibt unser Schicksal. Was die demografische Entwicklung<br />

für Nordrhein-Westfalen bedeutet und welches Gesicht<br />

sie haben wird, hängt maßgeblich von der Leistungskraft, von<br />

der Prosperität der Wirtschaft ab. Dabei spielen mehrere Faktoren<br />

zusammen: landschaftlich-kulturelle, bevölkerungsund<br />

infrastrukturelle und politische Rahmenbedingungen.<br />

Das Rheinland mit seiner Rheinschiene gehört geografisch<br />

und historisch zu einem der prosperierendsten Gebiete<br />

Europas, mit tiefer Verankerung einer merkantil-bürgerlichen<br />

und weltoffenen Perspektive. Düsseldorf ist eine Stadt mit<br />

besonderer internationaler Anbindung, eine Drehscheibe für<br />

globale Impulse in den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsraum<br />

hinein. Das Münsterland und Westfalen sind mit ihrer<br />

agrarisch und bürgerlichen Kultur tief lebensweltlich verankert<br />

und dürften auch ohne Ballungsräume mit Tugenden der<br />

Verlässlichkeit und der Solidität stabile Entwicklungschancen<br />

von der landeskulturellen Prägung aufweisen, auf die es in<br />

den nächsten Jahrzehnten vermehrt ankommt.<br />

Das Ruhrgebiet schließlich bleibt im Strukturwandel begriffen.<br />

Die einst gewaltige Industriemetropole wird weiter<br />

schrumpfen, von der hart zupackenden Arbeiterkultur wird<br />

2025 unmittelbar nicht mehr allzu viel geblieben sein. Doch<br />

wer kluge Industriepolitik betreibt, und dazu ist jede Landespolitik<br />

verurteilt, wird die industriellen Chancen des Ruhrgebiets<br />

als verkehrstechnisches und wissenschaftlich infrastrukturelles<br />

Netzwerk nicht unterschätzen. Das Zusammenwirken<br />

von technischer Forschung und industriellen Kernen,<br />

etwa der Stahlindustrie, mit Handels- und Dienstleistungsunternehmen<br />

lässt auch für 2025 eine wenngleich kleiner<br />

dimensionierte industrielle Prägung vorhersagen. Mit steigender<br />

Nachfrage nach intelligenten wissenschaftlich-technisch<br />

geprägten Lösungen.<br />

Doch der Bedarf nach gewerblichen Arbeitskräften mit einfacher<br />

Qualifizierung wird nicht steigen, eher weiter abnehmen<br />

und nicht jeder junge Mensch ist den Anforderungen an Bildungs-<br />

und Berufsqualifizierung gewachsen, also droht hier<br />

eine Verfestigung oder Verschärfung von Problemen. Obwohl<br />

kein Allheilmittel, kommt der schulischen und berufsqualifizierenden<br />

Erziehung und Bildung eine Schüsselrolle zu. Die<br />

Schule bleibt, so Willy Brandt, die Schule der Nation, weil hier<br />

Qualifizierung und Integration zu leisten sind. Im Jahr 2025<br />

wird man in einem positiven Szenario es geschafft haben,<br />

das nordrhein-westfälische, gut gegliederte Schulangebot<br />

nicht mit ständigen Organisationsreformen unter womöglich<br />

ideologischen Beimischungen zu erschüttern, sondern bedarfsgerecht<br />

vor allem auch an örtlichen Problemschwerpunkten<br />

zu unterstützen: Noch besser motivierte Lehrerinnen<br />

und hoffentlich auch Lehrer werden unterstützt von<br />

Erziehern und Sprachförderern kleinere Klassen unterrichten.<br />

Die Vermittlung von sozialen Ordnungsmustern, die Erziehung<br />

zur Lebenstüchtigkeit, eine optimistische, wirtschaftsund<br />

leistungsfreundliche Atmosphäre werden stärker akzentuiert<br />

sein als heute. Die englische und die deutsche Sprachbeherrschung<br />

werden forciert worden sein. Sprache beherrschen<br />

heißt denken können. Die wirtschaftliche Verkehrssprache,<br />

das Englische, muss ebenso beherrscht werden wie<br />

die deutsche Muttersprache, die im Zentrum Europas eine<br />

ganz starke kultur- und identitätsbildende Kraft darstellt. Wer<br />

eine intensive Pflege der deutschen Sprache vernachlässigt,<br />

wird einen heute noch weit unterschätzten internationalen<br />

Wettbewerbsnachteil verursachen. Die gymnasiale Schulbildung<br />

wird im positiven Szenario wieder mehr zeitlichen<br />

Raum für Aufenthalte im Ausland und schöpferische Bildung<br />

lassen als zu den dann gewiss verblichenen Zeiten des Turboabiturs.<br />

Ganztagsangebote werden ausgeweitet und viel besser<br />

qualifiziert sein als heute, aber Familien behalten die Freiheit,<br />

Schulen zu wählen, auch solche, die ohne Ganztagsunterricht<br />

auskommen. Das alles wird eine Umlenkung finanzieller<br />

Mittel vermehrt vor allem in das Schulsystem erfordern,<br />

wobei der Bund die Länder unterstützen wird. Ein solches<br />

Gelingen im Prägeraum der Schule wird allerdings auch<br />

ein neues Ethos der Erziehung und Bildung erfordern, der<br />

Lehrerberuf wird vielleicht anstrengender, aber womöglich<br />

auch sozial wieder mehr geachtet werden.<br />

So weit das positive Bild. Es könnte natürlich auch sein, dass<br />

es anders kommt, dass die desintegrativen Kräfte in der Gesellschaft<br />

viel stärker werden, dass einzelne Stadtteile verwahrlosen,<br />

zu unbefriedeten Räumen hinabsinken, Schulen<br />

unter Polizeischutz gestellt werden müssen, dass es an Geld


15<br />

für Erziehung und Bildung viel mehr als heute fehlen wird,<br />

dass es an geeigneten Lehrern mangelt. Es kann sein, dass<br />

die Schulpolitik des Jahres 2025 mit einem europäischem<br />

Recht, das nicht wie heute nur unterstützt und verhalten<br />

koordiniert, sondern aus der Ferne dirigiert, von Expertenzirkeln<br />

entwickelte UN-Bildungskataloge umsetzt oder durch<br />

eine technisch überbetonte Harmonisierung nach dem Hochschulmodell<br />

von Bologna postmodern bürokratisiert ist, im<br />

schlimmsten Fall mit einer Modularisierung des Denkens und<br />

gefangen in Evaluationsnetzen. Auch für ein solches Bild gibt<br />

es Trends in der Gegenwart, aber wer sich die Konsequenzen<br />

übertriebener Sozialtechnik vor Augen führt, wird dafür streiten,<br />

dass es dann doch nicht so weit kommt. Insofern hat ein<br />

<strong>Zukunft</strong>skonvent genau diesen Zweck, belegte Trends fortzuschreiben,<br />

Ungewissheiten zu wägen, Handlungsoptionen<br />

nach Szenarien zu modellieren: All das, um ein normativ gebotenes<br />

und alltagspraktisch vernünftiges Verhalten wahrscheinlicher<br />

zu machen, statt sich im Rhythmus der Wahlperioden<br />

oder eines medial getakteten Pointillismus treiben<br />

zu lassen.<br />

3. Wie werden die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen<br />

in 16 Jahren aussehen? Auch wenn man heute<br />

einiges an Protektionismus wieder für möglich hält, dürfte<br />

das Jahr 2025 weiter von der Dynamik der Globalisierung bestimmt<br />

sein. Europa wird weiter zusammengewachsen sein,<br />

sein Gewicht als Binnenmarkt und als politischer Akteur vergrößert<br />

haben, die Regionen werden innerhalb ihres Nationalverbandes<br />

vielleicht sogar mehr Handlungsfähigkeit erringen<br />

können, aber die Regulation aus Brüssel wird dafür<br />

deutlich zunehmen. Im Jahr 2025 wird die komplizierte<br />

Mechanik eines politischen Mehrebenensystems noch deutlicher<br />

sein als heute. Das Prinzip der Demokratie, die Volkssouveränität,<br />

wird nicht verloren gehen, wohl aber die Restbestände<br />

einer kausal zurechenbaren Anschaulichkeit im<br />

Sinne einer vollverantwortlichen Gestaltung der Gesellschaft<br />

durch Mehrheitsentscheidung. Jede Ebene, Vereinte Nationen<br />

oder die WTO, die Europäische Union oder der Bund und<br />

eben auch das Land Nordrhein-Westfalen wird stärker kooperativ<br />

vernetzt sein. Verbliebene eigene Kompetenzen werden<br />

mehr noch mit anderen koordinieren und bei all dem die<br />

jeweils eigenen Interessen verfolgen und sichtbar erfolgreich<br />

vertreten müssen. Die Realität des komplexen Konsenses<br />

wird die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen politischen Entscheidungsverantwortung<br />

weiter erschweren und es umso<br />

nötiger machen, die eigene politische Einheit als Identität zu<br />

pflegen und überzeugende politische Konzepte zu entwikkeln.<br />

Welches Konzept wird sich 2025 für die Wirtschaft des Landes<br />

bewährt haben? Jede Politik muss wirtschaftsfreundlich<br />

sein, wenn sie Erfolg haben will, diese Einsicht ist mindestens<br />

so alt wie der moderne Staat. Umstritten kann nur sein, was<br />

„freundlich“ bedeutet. Wirtschaftsfreundlich ist eine Politik,<br />

die günstige Rahmenbedingungen für private Initiative, Wettbewerb,<br />

für unternehmerischen Erfolg fördert. Weder Technikfeindlichkeit<br />

noch irrationale Technikverliebtheit dürfen<br />

dominant sein, sondern die Suche nach innovativen Lösungen,<br />

die der Wirtschaft Erfolg bringen. Dabei ist die Universitätslandschaft<br />

von großer Bedeutung. Man wird 2025 erkannt<br />

haben, dass Freiheit der Forschung, die Ungebundenheit<br />

des Wissenschaftlers auf der einen Seite und die pragmatische,<br />

die effiziente technische Verwertung von Wissen<br />

auf der anderen Seite kein Gegensatz sein müssen. Die Wirtschaft<br />

des Jahres 2025 in Nordrhein-Westfalen wird stark<br />

und dynamisch sein, wenn der Verbund von industriellen, gewerblichen<br />

und dienstleistenden Unternehmen untereinander<br />

und mit den wissenschaftlichen, technischen und kulturellen<br />

Ressourcen des Landes gelingt.<br />

Wirtschaftsfreundlich ist auch eine Politik, die die Leistungsund<br />

Risikobereitschaft der Menschen erhöht und nicht mit<br />

drückenden Abgaben die nicht immer starken, aber häufig<br />

verspannten Schultern der Arbeitenden belastet. Eine Entwicklung<br />

innerhalb der Wirtschaft allerdings, die ihrerseits<br />

den Erfolg nicht mehr von Substanz schaffender Leistung<br />

abhängig macht, sondern eine globale Kasinomentalität der<br />

leichten Rendite zulässt, muss mit politischer Intervention<br />

rechnen. Die Ursachen indes der heute eingetretenen Vertrauenskrise<br />

wird man hoffentlich in <strong>Zukunft</strong> sowohl geografisch<br />

als auch sachlich richtig loziert haben. Die öffentliche<br />

Hand hat sich selbst auch als Glücksspieler erwiesen, angefangen<br />

von der Politik der USA bis in die zusammengeleaste<br />

Welt nordrhein-westfälischer Kommunen und die der Landesbanken<br />

hinein. In den USA trieb die Politik der Regierung<br />

Bush und die des billigen Geldes nicht nur den Staat, sondern<br />

auch die Bürger in die leichfertige, teils spekulative<br />

Kreditaufnahme.


16 Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio | »Lebensbedingungen zukünftiger Generationen«<br />

Die EU wird hier bei der Gestaltung der globalen Finanzmarktaufsicht<br />

ihr Gewicht einsetzen müssen, damit die kontinentaleuropäische<br />

Vorsicht und ihre wirtschafts- und gemeinwohlfreundliche<br />

Art der Wettbewerbsaufsicht über freie<br />

Märkte - eingeschlossen jene sozialpolitische Gestaltung, die<br />

wir etwas diffus, aber mit gutem Grund soziale Marktwirtschaft<br />

nennen - sich gegenüber einer neuen Ausgabenexpansion<br />

wird durchsetzen können. An diesem Punkt ist es womöglich<br />

zweitrangig, wie die Begründungen für immer neue<br />

Ausgaben aussehen: mal neoliberales Marktvertrauen, mal<br />

die Orientierung an Systemstabilisierung und sozialem Ausgleich.<br />

Wenn jedoch die EU selbst in das Geschäft von „Big<br />

Government“, die Politik großer Solidarfonds zur kontinentalen<br />

Leistungsverteilung, jedenfalls eines „Big Spending“ eintreten<br />

sollte, dann wird es auf allen Ebenen eng für die Solidität<br />

des Budgets und schlecht für die Aussichten einer<br />

neuen Balance zwischen Arbeit und Erfolg, Finanzvolumen<br />

und Umfang der Realwirtschaft, Ausgaben und Einnahmen,<br />

dem Grundprinzip rationaler Gegenseitigkeit, dann drohen<br />

eine labile Wirtschaft als Dauerzustand und eine sozialbürokratische<br />

Gestaltung der sozialen Lebenswelt.<br />

III.<br />

Diese Veranstaltung führt Themen zusammen, die sonst in<br />

der Perspektive getrennt sind. Zwischen Herne und New York<br />

ist die Entfernung geringer geworden. Nicht nur Entscheidungen<br />

in Berlin und Brüssel, auch die in Paris, Peking und<br />

Washington beeinflussen das Schicksal der Bürger im Land<br />

unmittelbarer als bislang gewohnt. Wenn man in diesem Ambiente<br />

weltwirtschaftlicher Interdependenz und globalen<br />

Regierens lebendige demokratische Räume wie die Bundesländer<br />

auch in <strong>Zukunft</strong> erhalten will, brauchen sie Möglichkeiten<br />

zur Gestaltung von konnexen Sozialbeziehungen und<br />

sie brauchen Menschen, die den Wert solcher Gestaltungsräume<br />

wieder besser erkennen. Solidarität in der Not ist das<br />

eine, die Übernahme von Verantwortung für eigenes Entscheiden<br />

das andere: Beides gehört als Getrenntes zusammen.<br />

Zusammen gehören aber auch andere Themen, weiche und<br />

harte Faktoren, zusammen gehören die Funktionsbedingungen<br />

ökonomischer, wissenschaftlicher oder juristischer<br />

Zweckrationalität mit der Lebensqualität und mit der kulturellen<br />

und spirituellen Verfasstheit eines Landes und seiner<br />

Menschen. Hier mehren sich die Anzeichen einer Zeitenwende,<br />

die wir als Chance nutzen oder aber auch vertun können.<br />

Die <strong>Zukunft</strong> für eine freie Gesellschaft mit einem vernünftigen<br />

Verhältnis zu einem sektoral begrenzten, aber wirksamen<br />

Staat und zu einer innovativen und rentierlichen, aber<br />

für alle nützlichen Wirtschaft werden wir nur erreichen mit<br />

mehr bürgerlicher Orientierung.<br />

Der Begriff des Bürgerlichen eignet sich heute nicht mehr<br />

als politische Kampfparole, verblasst sind alle Vorstellungen<br />

einer soziologischen Klassenbeschreibung. Es geht vielmehr<br />

um ein Menschen- und Gesellschaftsbild, wenn wir von freien<br />

Bürgern und einer Bürgergesellschaft sprechen. Wenn bürgerlich<br />

demnach ein Leben bedeutet, das aus der Freiheit<br />

Bindung und Selbstverantwortung wachsen lässt, das öffentliche<br />

Anteilnahme, die Übernahme von politischen Ämtern,<br />

die Beteiligung in Parteien, Vereinen, kommunalen oder religiösen<br />

Gemeinden oder Gewerkschaften meint, dann wird<br />

klar, dass jeder Arbeiter, jede Ingenieurin, jede Mutter, jeder<br />

Vater, jede Erzieherin, jeder der tätig etwas schafft und nicht<br />

eine bindungslose soziale Monade sein will, bürgerlich ist.<br />

Jeder, der zwischen Leistung und Gegenleistung einen Zusammenhang<br />

sieht, jeder, der im Leben mehr will als die<br />

Abwesenheit möglichst aller Pflichten und Zwänge, jeder<br />

der Bildung nicht nur für eine technische Investition in den<br />

schnellsten Weg zum möglichst großen Geld sieht, jeder der<br />

sich Familiensinn bewahrt hat, ist bürgerlich, in einem weiten,<br />

in einem ideellen Sinne.<br />

Die Entbürgerlichung postmodern kokettierender Gesellschaften<br />

ist ein Riesenproblem, weil die moderne Demokratie<br />

nicht zufällig auf bürgerliche Revolutionen zurückgeht.<br />

Freiheit gelingt nur, wenn Menschen eine Kultur pflegen, die<br />

den Eigensinn personaler Freiheit dadurch bewahrt, dass<br />

gerade aus ihm der Gemeinschaftssinn wächst, aus dem freien<br />

Willen zur Bindung, und man sich nicht damit begnügt,<br />

Profiteur günstiger Verhältnisse zu sein oder ein nach stetem<br />

Schutz rufender Verbraucher im großen Stromkreis der<br />

Warenzirkulation.<br />

Auch wenn Zeichen der Erosion nicht zu übersehen sind,<br />

kann nur aus der Idee einer bürgerlich selbstbestimmten und<br />

nicht aus einer korporatistisch verwalteten Zivilgesellschaft<br />

etwas entstehen, das die <strong>Zukunft</strong> human, sozial und vor<br />

allem freiheitsgerecht prägt. Ob ein Stadtteil für junge Menschen,<br />

für Eltern mit Kindern attraktiv ist oder nicht, hängt<br />

von seiner städtebaulichen Ästhetik, von guten Schulen und


17<br />

Kindergärten genauso ab wie von der Frage, ob es bereits<br />

Anzeichen lokaler Verwahrlosung gibt - Gewalt, Wohnungseinbrüche,<br />

beschmierte Fassaden und zerborstene Fensterfronten.<br />

Wir wissen inzwischen, dass eine Gewerbeansiedlung<br />

mit qualifizierten Arbeitsplätzen gerne dorthin geht, wo<br />

die Lebensqualität, wo Sicherheit und kommunaler Zusammenhalt<br />

hoch sind. Und sie sind dort hoch, wo sich Menschen<br />

mit bürgerlicher Alltagsorientierung in einem liberal<br />

verfassten Ordnungsraum zusammenfinden, wo Vereins- und<br />

religiöses Gemeindeleben weiter intakt bleiben, wo Anteilnahme<br />

und eigenwilliger Lebensstil eine neue Balance finden.<br />

Aber es geht nicht nur um schöne Fassaden.<br />

In dem Bedürfnis nach einer neubürgerlichen, selbstbestimmten<br />

und sozial verantwortlichen Lebenswelt steht vor<br />

der Chance das Risiko. Insulare Wohlstandswelten, die vielleicht<br />

im Jahr 2025 schon mit Schutzzäunen und privaten<br />

Wachdiensten abgeschirmt werden, kann niemand wirklich<br />

wollen. Bürgerlichkeit in einer freien und chancengerechten<br />

Gesellschaft ist immer eine Inklusionsidee, ein Integrationsmechanismus,<br />

der alle einlädt und dabei auf Standards des<br />

anständigen Umgangs miteinander Wert legt. Aber wenn die<br />

These eines Trends zur Entbürgerlichung der Gesellschaft<br />

und zur Erosion der staatsfreien, also zivilen Sozialbeziehungen<br />

stimmt, dann muss man mit Gegenläufigkeiten und<br />

Ungleichzeitigkeiten rechnen, die dann doch in der Fragmentierung<br />

von unterschiedlichen Lebenswelten und sozialen<br />

Spannungen enden.<br />

Die Lebensbedingungen künftiger Generationen hängen davon<br />

ab, wie die politische Gestaltung von Wirtschaft, Kultur<br />

und Wissensräumen gelingt, aber noch mehr vom Lebensgefühl,<br />

dem Selbstvertrauen und dem fachlichen Können vor<br />

allem junger Menschen, von ihrer Weltgewandtheit und ihrer<br />

Neigung, Freiheit gerade auch durch selbstgewählte Bindung<br />

zu leben und eigene Wurzeln des Herkommens zu pflegen,<br />

um die <strong>Zukunft</strong> als menschliches Subjekt zu gestalten und<br />

nicht als getriebenes Objekt zu erleiden.<br />

Künftige Generationen werden nur dann unsere Vorstellungen<br />

von Freiheit, Zivilisation, Verfassungsstaatlichkeit und<br />

sozialer Verantwortung als Stafette weitertragen, wenn heute<br />

die Weichen noch entschiedener auf kulturelle Integration<br />

umgestellt werden. Dabei geht es um die Konzepte der praktischen<br />

Verwirklichung. Sportvereine können unendlich viel<br />

für die Integration leisten, vor allem, wenn die fast gänzlich in<br />

der Logik der Wirtschaftsrentabilität stehende Professionalisierung<br />

des Sports nicht die Amateurvereine erdrückt, vielleicht<br />

hat die Politik hier eine akzentuierbare Aufsichts- und<br />

Korrekturfunktion.<br />

Innovativer Geist, der in Wissen und Erfolg mündet, wird nur<br />

vermehrt entstehen, wenn das Neue, die Erfindung, die Faszination<br />

der Technik und der marktwirtschaftliche Erfolg wieder<br />

zur großen emotionalen Erzählung in Schulen, in Medien,<br />

in den Universitäten und Fachhochschulen des Landes wird.<br />

Das gelingt übrigens umso besser, je mehr ein solcher innovativer<br />

Geist sein Herkommen, seine Sprache, seine Geschichte<br />

kennt und achtet.<br />

Der Umgang mit neuen Techniken der Kommunikation und<br />

der Wissensreproduktion verlangt nach der Kompetenz zu<br />

kritischer Aneignung im Erziehungs- und Bildungsprogramm.<br />

Jungen Menschen muss gezeigt werden, was der Zugriff auf<br />

global vernetzte Wissensspeicher leisten kann und auch, was<br />

damit nicht möglich ist.<br />

Eine alternde Gesellschaft zeigt gewiss die Tendenz, bequem<br />

und verschlossen zu werden, aber das ist kein unausweichliches<br />

Schicksal. Der philosophische Voluntarismus eines<br />

Friedrich Nietzsche wollte die von ihm weit überzeichnete<br />

Erosion bürgerlich-moralischer Prägekraft, wollte den nihilistischen<br />

Relativismus seiner Zeit auf die Spitze treiben, und<br />

zwar durch den puren Willen zu sittlich ungebundener Macht.<br />

Nach dieser sozialdarwinistischen Verirrung neigen wir vielleicht<br />

aber doch heute dazu, den Willen zu gering zu schätzen<br />

und uns nur noch auf Institutionen, Rechtsnormen und<br />

Funktionen zu verlassen. Das ist falsch. Der Wille zählt.<br />

Es kommt viel mehr als wir uns eingestehen auf die Persönlichkeit<br />

an. Der Wille des Menschen kann in Wirklichkeit nur<br />

sittlicher Wille sein, also in humane Werte eingebettet, mit<br />

transzendenter Demut gedämpft, wie die Präambel des<br />

Grundgesetzes es sagt: „In Verantwortung vor Gott und den<br />

Menschen.“ Die Menschen können und müssen ihre <strong>Zukunft</strong><br />

selbst in die Hand nehmen, es kommt auf ihre Pläne und Vorstellungen<br />

an. Die Eliten eines Landes müssen ihren Beitrag<br />

dazu leisten, <strong>Ideen</strong> formulieren und diskutieren, und dann<br />

von ihren Bergen hinabsteigen in die Ebene des Alltags.


18 Forum 1 | Innovation | Stärken stärken <strong>–</strong> neue Impulse für zukünftige Kompetenz?<br />

Ohne die Fähigkeit zur Innovation ist wirtschaftlicher Erfolg in der <strong>Zukunft</strong> nicht denkbar. Was<br />

aber sind die Voraussetzungen für ein innovationsfreundliches Klima? Wie steht es um das<br />

Selbstverständnis Nordrhein-Westfalens und um die Mentalität seiner Bewohner? Über diese<br />

und zahlreiche Anschluss-Fragestellungen diskutierten Professor Jürgen Kluge, Professor Dieter<br />

Gorny, Dr. Jürgen Großmann und Professor Herbert Jäckle und gaben Anstöße zu einer lebhaften<br />

Diskussion in Plenum.<br />

Keynote:<br />

Professor Jürgen Kluge<br />

ist bei der internationalen<br />

Unternehmensberatung<br />

McKinsey für das weltweite<br />

Recruiting und für<br />

Proprietary Knowledge<br />

verantwortlich<br />

Professor Dieter Gorny<br />

lehrt an der<br />

FH Düsseldorf Kultur- und<br />

Medienwissenschaften<br />

und ist Direktor für<br />

Kreativwirtschaft der<br />

Europäischen Kultur -<br />

hauptstadt RUHR.2010<br />

Mit den zehn Geboten der Bibel verglich Professor<br />

Kluge in seinem Impulsreferat die zehn Thesen,<br />

in denen er die Voraussetzungen für Wachstum<br />

und Wohlstand definierte:<br />

Drei Prozent Wirtschaftswachstum sind notwendig,<br />

um den Wohlstand in der Breite der Bevölkerung<br />

zu sichern und die Kosten des demografischen<br />

Wandels zu kompensieren.<br />

Das Wachstum darf dabei nicht zu Lasten der<br />

Umwelt oder der Menschen gehen. Wohlstand<br />

muss geschaffen werden, bevor er verteilt werden<br />

kann. Die selbst verstärkende Wirkungskette,<br />

die in Gang gesetzt werden muss, heißt:<br />

Bildung, Innovation, Wachstum und Wohlstand.<br />

Nordrhein-Westfalen muss sein Profil schärfen,<br />

heraus aus dem Mittelmaß und unbedingt seine<br />

Stärken ausbauen.<br />

Das Land kann dabei von einigen globalen<br />

Trends profitieren und sie als Rückenwind benutzen:<br />

Ressourcen- und Energieeffizienz, Urbanisierung,<br />

alternde Gesellschaften und Wissensgesellschaft.<br />

Notwendig ist ferner ein neuer<br />

Blick auf das Land mit Profilbildung in Fokusbranchen,<br />

aber unter Vermeidung von neuen<br />

Monostrukturen. Dazu bietet sich in Nordrhein-<br />

Westfalen die Unterscheidung von drei Regionen<br />

an: das Rhein-Valley oder die Rheinschiene<br />

als High-Tech-Cluster, die Metropole Ruhr als<br />

Zentrum für Kulturschaffende und innovative<br />

Dienstleistungen, und der Speckgürtel Westfalen<br />

als Standort starker mittelständischer<br />

Industrien und als Tourismus- und Naherholungsgebiet.<br />

Das Innovationspotential muss<br />

stärker genutzt und ausgebaut werden, die<br />

Forschungs- und Entwicklungsausgaben müssen<br />

mindestens verdoppelt werden.<br />

Vorrangig gilt es, Netzwerke und Cluster in<br />

Fokusbranchen zu stärken, den Technologietransfer<br />

zu verbessern, Unternehmensgründungen<br />

und Forschung zu Fokusthemen zu fördern<br />

und insgesamt das Innovationsklima zu verbessern.<br />

Die zukünftige Innovationsbasis muss vor allem<br />

gesichert werden durch eine Verbesserung der<br />

Aus- und Weiterbildung im Sinne lebenslangen<br />

Lernens, eine höhere Bildungsbeteiligung und<br />

den Zuzug und Verbleib von ausländischen Top-<br />

Talenten.<br />

Kluges Fazit seiner Thesen lautete: „Wir können<br />

unsere <strong>Zukunft</strong> gestalten, wir müssen es nur<br />

wollen und erkennen, dass ein „Weiter-so“ unausweichlich<br />

einen Verlust an Wohlstand bedeutet.<br />

Handeln wir aber jetzt konsequent,<br />

haben wir gute Chancen.“<br />

Professor Gorny griff die Frage nach der Mentalität<br />

auf und forderte eine neue Ausrichtung:<br />

„Wir brauchen mehr Mut zur Persönlichkeit, zur<br />

Individualität, und viel mehr Mut zur Kreativität,<br />

die heute nicht mehr ornamental, sondern sehr<br />

zentral begriffen werden muss. Das ist unter anderem<br />

auch eine dringende Forderung an die<br />

Kulturpolitik, denn offensive kulturelle Investments<br />

sind überaus wichtig für die <strong>Zukunft</strong>.<br />

Solche Turnarounds, wie sie im Ruhrgebiet gegenwärtig<br />

passieren, müssen allerdings auch<br />

ökonomisch sinnvoll sein.“<br />

Dr. Jürgen Großmann forderte zentral die umfassende<br />

Reform und Verbesserung der Bildung:<br />

„Es reicht nicht mehr, die frühkindliche Bildung<br />

anzufassen, wir müssen in der Krise unseren<br />

Schwimmstil ändern, um nicht abzusaufen.“


19<br />

Darüber hinaus mahnte er an, im globalen Wett -<br />

bewerb die in Nordrhein-Westfalen vorhandenen<br />

wirtschaftlichen Leuchttürme auch be -<br />

wusst anzuerkennen und zu unterstützen.<br />

Man dürfe in <strong>Zukunft</strong> nicht wieder in das<br />

„small is beautyful“-Denken zurückfallen.<br />

Professor Jäckle konstatierte vom Standpunkt<br />

des Wissenschaftlers aus: „In Nordrhein-West -<br />

falen fehlen zwei Dinge: Erstens das Standort-<br />

Selbst bewusstsein in Sachen Forschung.<br />

Denn wir brauchen uns nicht zu verstecken vor<br />

Bayern oder Baden-Württemberg. Und zweitens<br />

fehlt uns ein klares Bekenntnis zu den For -<br />

schungs-Leuchttürmen. Zudem müssen wir<br />

deutlich mehr Koryphäen ins Land holen und<br />

gezielt in die besten Köpfe investieren.“<br />

Auf die Frage, was denn zuerst da sei, das Huhn<br />

oder das Ei, versicherte Gorny: „Die Jobs folgen<br />

den Leuten.“<br />

Jäckle verband seine Forderung nach mehr<br />

inter nationalen Koryphäen damit, dass die<br />

Kommunikationsfrage hierzulande weniger als<br />

Kulturfrage gesehen werden solle. Vor allem in<br />

der Wissenschaft gelte: „Englisch oder Deutsch<br />

ist keine Kulturfrage, sondern eine rein pragmatische<br />

Frage, denn die Köpfe aus dem Ausland<br />

müssen sich hier zurecht finden.“<br />

Das Plenum begann mit der Frage aus dem<br />

Publikum, ob es eigentlich eine ausreichende<br />

Schnittmenge zwischen Wirtschaft und Politik<br />

gäbe, und was konkret aus Kongressen wie der<br />

Petersburger <strong>Convention</strong> folge? Will die Politik<br />

tatsächlich handeln, oder leben nicht nach wie<br />

vor Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nebeneinander<br />

her? Kommen für eine hohe Qualität<br />

unserer Bildung die kulturellen Inhalte nicht viel<br />

zu kurz? Die letzte Frage bejahte Gorny.<br />

Einigkeit bestand bei den Teilnehmern darin,<br />

dass eines der größten Innovationshindernisse<br />

die Bürokratie sei. Professor Herbert Jäckle be -<br />

stätigte: „Die Formalismen wuchern, und gerade<br />

die Bürokratie schafft neue Bürokratien. Es<br />

fehlt uns generell der Dialog, jeder wurschtelt<br />

für sich. Weder kommunizieren die Institute<br />

untereinander reibungslos, noch die Unis mit<br />

den Instituten.“<br />

Raumfahrer Ulf Merbold meldete aus dem Ple -<br />

num: „Wir haben noch ein anderes Kommuni -<br />

kations defizit: Innovatoren stehen immer unter<br />

dem Verdacht, Unruhestifter zu sein, weil ge -<br />

fürchtet wird, dass Innovationen Arbeitsplätze<br />

kosten. Man muss den Leuten die Vorbehalte<br />

gegenüber der Innovation nehmen.“<br />

In ihren abschließenden Statements bekräftigten<br />

und spezifizierten die Podiumsteilnehmer<br />

ihre Forderungen. Großmann betonte die Not -<br />

wendigkeit, alle gesellschaftlichen Kräfte einzubinden<br />

und die notwendigen weichen Faktoren<br />

für ein gutes Innovationsklima nicht zu vergessen.<br />

„Starke Unternehmen müssen stärker eingebunden<br />

werden. Wir dürfen nicht nur auf den<br />

Staat schauen in Sachen Bildung, sonst werden<br />

wir zu langsam.“<br />

Gorny plädierte für produktive Reibung: „Wir<br />

müssen offen sein für Unruhe und interdisziplinäre<br />

Räume schaffen für Innovation. Dazu brauchen<br />

wir Freiräume und Dialoge unter Einbin -<br />

dung der Kultur: Reibung erzeugt Wärme! Die<br />

Unruhe soll aber Spaß machen.“<br />

Kluge spitzte zu: „Wir müssen raus aus der Ver -<br />

teidigungshaltung, denn wenn wir verteidigen,<br />

werden wir verlieren! Es wird sich alles verändern<br />

müssen, wenn alles so bleiben soll, wie es<br />

ist. Die positive Einstellung zur Innovation ist<br />

entscheidend!“ Jäckle schloss ab: „Innovation<br />

heißt nichts anderes, als das, was erdacht ist,<br />

in die Praxis umzusetzen.“<br />

Dr. Jürgen Großmann ist<br />

Mitglied zahlreicher<br />

Aufsichtsrats- und<br />

Beiratsgremien und<br />

Vorstandsvorsitzender<br />

der RWE AG<br />

Professor Herbert Jäckle<br />

ist Vizepräsident der Max-<br />

Planck-Gesellschaft


20 Forum 2 | Beschäftigung | Dienstleistung und Produktion <strong>–</strong> Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg?<br />

Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsstärkste Bundesland und der industrielle Motor<br />

Deutschlands. Wie kann der demografische Wandel aufgefangen werden? Was ist zu tun, um<br />

Arbeitskräfte zu erhalten, die den Herausforderungen der <strong>Zukunft</strong> gewachsen sind? Welche<br />

Anforderungen stellt eine Informationsgesellschaft? Wo liegen die <strong>Zukunft</strong>sindustrien, welche<br />

Chancen hat das Land an Rhein und Ruhr? Professor Klaus Zimmermann, Dr. Fritz Pleitgen,<br />

Margret Suckale und Lars Thomsen gingen das Thema Beschäftigung von ganz verschiedenen<br />

Standpunkten aus an und entfachten damit eine intensive Diskussion.<br />

Keynote:<br />

Professor Klaus F.<br />

Zimmermann lehrt an<br />

der Universität Bonn<br />

Wirtschaftliche<br />

Staatswissenschaften<br />

und ist Direktor des<br />

Instituts zur <strong>Zukunft</strong><br />

der Arbeit<br />

Margret Suckale war zum<br />

Zeitpunkt des Kongresses<br />

Vorstand Personal und<br />

Dienstleistungen der<br />

DB Mobility Logistics AG<br />

Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler<br />

Professor Klaus Zimmermann ging in seinem<br />

Eingangsstatement auf die aktuelle Wirtschafts -<br />

krise ein und stellte folgende Thesen auf:<br />

Strukturreform statt Konjunkturprogramme<br />

Die Hilfe ist für die Banken notwendig, aber<br />

nicht für die Automobilindustrie. Gigantische<br />

Konjunkturprogramme helfen nicht, aus der<br />

Krise zu kommen. Dazu bedarf es einer Struk -<br />

turreform. Es gehört nicht zu den Aufgaben des<br />

Staates, Unternehmen bei Überkapazitäten und<br />

falschen Management entscheidungen auf<br />

Kosten der Steuerzahler zu retten. Eine kluge<br />

Politik kann Nordrhein-Westfalen zur Reform -<br />

lokomotive in Deutschland machen. So kann<br />

es gestärkt aus der Krise hervorgehen.<br />

Auf Bildung und Weiterbildung setzen<br />

Weltweit wird die Nachfrage nach Facharbeitern<br />

steigen. Nordrhein-Westfalen liegt im Zentrum<br />

des alten Kern-Europas in direkter Nachbar -<br />

schaft zu den agilen Benelux-Ländern. Da Nord -<br />

rhein-Westfalen bei der Zahl der Hochschul -<br />

absolventen unter dem EU-Durchschnitt liegt,<br />

muss in den Bereich der Universitäten und<br />

Fachhochschulen investiert werden. Aber auch<br />

die Mitarbeiter von heute müssen weiter qualifiziert<br />

werden. Denn die Weiterbildung in Nord -<br />

rhein-Westfalen ist in allen Altersgruppen unter<br />

den EU-Durchschnitt gesunken.<br />

Bildungsgutscheine für Arbeiter und Angestellte<br />

über 45 könnten diese Entwicklung umkehren.<br />

Dienstleistung ersetzt nicht die Industrie<br />

Die Dienstleistung gilt als <strong>Zukunft</strong>smarkt für die<br />

Beschäftigten. Doch der Wandel von der Pro -<br />

duk tions- in die Wissensgesellschaft wird und<br />

darf die Industrie nicht vollständig verdrängen.<br />

Die Deutschen verdanken ihren Wohlstand als<br />

Exportnation der internationalen Verflechtung<br />

ihrer Wirtschaft. Um global konkurrenzfähig zu<br />

bleiben, muss dabei in die Schul- und Hoch -<br />

schulbildung massiv investiert werden.<br />

Deutschland lebt vom Humankapital.<br />

In der anschließenden Diskussion auf dem<br />

Podium sah der <strong>Zukunft</strong>sforscher Thomsen die<br />

Menschen heute in der Reaktionsfalle: Sie reagieren<br />

nur statt zu agieren. Es hat sich im vergangenen<br />

Jahrzehnt vieles verändert, was von<br />

der Gesellschaft erst verarbeitet werden muss.<br />

Als größter Trend für die nächsten zehn, zwanzig<br />

Jahre zeichnen sich Zeiten der Knappheit ab,<br />

das gilt besonders für Erdöl, Wasser und qualifizierte<br />

Arbeitskräfte. Um den Standort Nord -<br />

rhein-Westfalen zu stärken, muss das Land auf<br />

Zuwanderung setzen. Auf vielen industriellen<br />

Gebieten sind Firmen aus Nordrhein-Westfalen<br />

weltweit führend. Mit Mut und visionärer Füh -<br />

rung können diese Unternehmen weltweit<br />

Märkte für regenerative Energien, Robotik,<br />

künstliche Intelligenz sowie Solar- und Nano-<br />

Technologie erschließen.


21<br />

Für einen Kurswechsel in der Beschäftigungs -<br />

politik plädierte Margret Suckale (Vorstand<br />

Personal der Deutschen Bahn zum Zeitpunkt<br />

der <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong>, Anm. der Red.):<br />

Die Unternehmen müssen ältere, erfahrene<br />

Mitarbeiter halten, anstatt sie in den vorzeitigen<br />

Ruhestand zu schicken. Auch den Frauen eröffnet<br />

die demografische Entwicklung bessere<br />

Chancen am Arbeitsmarkt. Die gegenwärtige<br />

Krise bringt mit Kurzarbeit vielen An gestellten<br />

die Chance zur Weiterbildung.<br />

Nach Kohle und Stahl kommt Kultur<br />

Alle finanziellen Ressourcen in Bildung und<br />

Kultur stecken will Dr. Fritz Pleitgen, langjähriger<br />

WDR-Intendant und heute Vorstand der<br />

RUHR.2010 GmbH: Wenn anderswo die Steuern<br />

niedriger sind und der Himmel blauer ist, muss<br />

Nordrhein-Westfalen andere Vorteile bieten.<br />

An Rhein und Ruhr ist nach Kohle und Stahl die<br />

Kultur hinzugetreten. Die kreative Ökonomie<br />

wächst und überholt die alten Industrien. Die<br />

Gesellschaft hat sich bisher zu sehr über die<br />

Wirtschaft definiert. Die EU ist über die Mon -<br />

tanunion nicht sehr viel weiter gekommen.<br />

Kultur schafft Offenheit für Neues, sie ist die<br />

Grundlage für Kreativität und Quelle für Inspi -<br />

ration, sie bietet aber auch zahlreiche Mög -<br />

lichkeiten für die Integration von Zuge wan der -<br />

ten und ihren Kindern.<br />

In der darauf folgenden, sehr regen Diskussion<br />

stellten die Gäste im Forum mehrmals fest,<br />

dass niemand die Finanz- und Wirtschaftskrise<br />

vorhergesagt habe.<br />

Junge Menschen nicht sich selbst überlassen<br />

Auch wenn die Notwendigkeit von Spitzen -<br />

forschung und Förderung von Hochbegabten<br />

unzweifelhaft sei, müsse man fragen, was mit<br />

den Menschen geschehen solle, die dauerhaft<br />

aus der Arbeitswelt gefallen oder im Bildungs -<br />

system gescheitert sind. Wie können zwei<br />

Millionen Problemkinder integriert werden?<br />

Suckale brachte dazu die Sportvereine ins<br />

Spiel: Wer in der Schule oder Ausbildung<br />

schlechte Noten hat, braucht Erfolgserlebnisse.<br />

In Sportvereinen können diese Jugendlichen<br />

aufgefangen werden. Dazu brauchen die Vereine<br />

auch Unterstützung. Pleitgen plädierte dafür, in<br />

der Jugendkulturarbeit mit unkonventionellen<br />

Mitteln zu arbeiten: Man muss auf die jungen<br />

Menschen zugehen und sie beispielsweise bei<br />

ihren Spielen abholen, also über all das, „womit<br />

sich die jungen Leute befassen“. Dabei setzt er<br />

auch auf Bürgerengagement.<br />

Die Forumsgäste wünschten sich eine neue<br />

Kultur der Selbstständigkeit: Das Land und die<br />

Finanzwirtschaft stehen dabei in der Pflicht, die<br />

nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.<br />

Insgesamt wird der demografische Wandel so<br />

wenig als Bedrohung empfunden wie die Not -<br />

wendigkeit zu lebenslangem Lernen. Durch die<br />

Pflege älterer Menschen entstehen auf der<br />

anderen Seite neue Arbeitsplätze.<br />

Beschäftigung bedeutet weit mehr als Geld -<br />

erwerb. Das könnte sich in mehr Anerkennung<br />

für ehrenamtliches Engagement ausdrücken.<br />

Fritz Pleitgen war<br />

Intendant des WDR und<br />

Vorsitzender der ARD und<br />

ist Geschäftsführungs -<br />

vorsitzender der<br />

RUHR.2010 GmbH<br />

Lars Thomsen ist<br />

<strong>Zukunft</strong>sforscher und<br />

Dozent für „Digitales<br />

Marketing“ an der<br />

Bayerischen Akademie<br />

für Werbung und<br />

Marketing


22 Forum 3 | Lebensqualität | Wie wollen wir 2025 leben?<br />

Was ist Lebensqualität? Was braucht es, um künftig in einer Gesellschaft zu leben, in der sich<br />

alle wohl fühlen? Was hält Gesellschaft überhaupt zusammen? Professor Hubert Kleinert, Ann<br />

Kathrin Linsenhoff, Peter Maffay und Professor James W. Vaupel präsentierten den Gästen des<br />

Forums „Lebensqualität“ ihre Sicht des Themas.<br />

Keynote:<br />

Prof. Dr. Hubert Kleinert<br />

ist Professor für Politik -<br />

wissen schaft an der Fach -<br />

hochschule für Verwal -<br />

tung des Landes Hessen<br />

in Wiesbaden<br />

Prof. Dr. James W. Vaupel<br />

ist geschäftsführender<br />

Direktor des Max-Planck-<br />

Instituts für demografische<br />

Forschung<br />

Professor Hubert Kleinert konzentrierte das<br />

Thema Lebensqualität auf fünf Thesen zu fünf<br />

Problemfeldern:<br />

Zusammenleben in einer multi-ethnischen<br />

Gesellschaft<br />

Das Bildungsniveau von Zuwanderern muss verbessert<br />

werden. Dazu gehören die gezielte frühkindliche<br />

Sprachförderung, der Ausbau von<br />

Ganz tagsschulen und die Förderung von Bil -<br />

dungsmotivation und Erziehungskompetenz in<br />

Migrantenfamilien, etwa durch die Angebote von<br />

Familienzentren.<br />

Bürgerschaftliches Engagement<br />

Politik und Unternehmen müssen bessere<br />

Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches<br />

Engagement schaffen. Sozialer Zusammenhalt<br />

und der damit verbundene Gewinn an Lebens -<br />

qualität wird künftig hauptsächlich von funktionierenden<br />

sozialen Netzwerken abhängen und<br />

muss Menschen mit Zuwanderungs geschichte<br />

einbeziehen.<br />

Die Gesellschaft des langen Lebens<br />

Stadtentwicklungspolitik muss mithelfen, Älteren<br />

das aktive Mitwirken in der Gesellschaft zu<br />

erschließen und sie einladen, ihren letzten<br />

Lebensabschnitt in der Stadt zu verbringen.<br />

Denn: In altersgerechten Dienstleistungen und<br />

Produkten stecken viele Wachstumschancen.<br />

Entwicklungder Regionen und des Ruhrgebiets<br />

Hauptaufgaben der Ruhrgebietsstädte sind die<br />

gezielte Standortwerbung für junge Familien,<br />

die Wohnumfeldverbesserung und die<br />

Schaffung weiterer Angebote zur Kinderbe -<br />

treuung. Gefragt sind aber auch Strategien für<br />

eine nachhaltige Regionalentwicklung, die aus<br />

räumlicher Nähe Erfolgsfaktoren machen und<br />

auf die inneren Kräfte der Region setzen.<br />

Stadtentwicklung von morgen<br />

Die künftige Stadtentwicklungspolitik muss ein<br />

kreatives und vielgestaltiges kulturelles Wohn -<br />

umfeld fördern. Kulturelle Einrichtungen müssen<br />

stärker mit Schulen kooperieren, Curricula<br />

dürfen die künstlerischen und musischen<br />

Fächer nicht weiter an den Rand drängen.<br />

Nach dieser Einführung präsentierte Ann<br />

Kathrin Linsenhoff den Forumsgästen als ihre<br />

vier persönlichen Bausteine für die Gestaltung<br />

künftiger Lebensqualität Familie, Sport, Kultur<br />

und Natur: Die Familie erfüllt unerlässliche<br />

Aufgaben wie das Vermitteln von Werten und<br />

das Vorleben von Vorbildern, sie gibt Kindern<br />

Wurzeln für ihr späteres Leben. Sport ist wichtig,<br />

um Toleranz, Disziplin und Fair Play sowie<br />

den Umgang mit Misserfolgen zu lernen. Kultur<br />

fördert die frühkindliche Bildung und die Inte -<br />

gra tion von Menschen mit Migrations hinter -<br />

grund. Die Begegnung mit der Natur schließlich<br />

sorgt für die notwendige Bodenhaftung.


23<br />

Peter Maffay betonte die große Bedeutung des<br />

Vertrauens in die bestehenden Systeme. Es sei<br />

nötig, „mehr Kitt zu erzeugen, der diese Gesell -<br />

schaft zusammenhält.“ Insbesondere Kinder<br />

und Jugendliche müssten wieder Lust auf Ge -<br />

sellschaft bekommen. Außerdem komme der<br />

Familie wieder eine größere Bedeutung zu,<br />

denn sie biete große Chancen, voneinander zu<br />

lernen und Synergien zu entwickeln.<br />

Professor James W. Vaupel machte in seinem<br />

Beitrag die demografische Entwicklung zur<br />

Stellschraube für Lebensqualität. Da die Men -<br />

schen immer älter würden, sei es vorhersehbar,<br />

dass sie in <strong>Zukunft</strong> auch länger arbeiteten.<br />

Wäre diese Zeit im Berufsleben so organisiert,<br />

dass jeder dafür weniger Zeit pro Woche arbeite,<br />

bliebe künftig mehr Zeit für Familie und Kul -<br />

tur, für Freizeit und bürgerschaftliches Engage -<br />

ment und es verbessere sich damit automatisch<br />

die Lebensqualität.<br />

In der anschließenden Diskussion formulierten<br />

die Forumsgäste konkrete Forderungen: Bei der<br />

Integration von Kindern mit Migrations hinter -<br />

grund muss ein besonderes Augenmerk auf<br />

deren Eltern liegen. Wenn diese mehr geschätzt<br />

und integriert, ihre Wünsche mehr gehört und<br />

einbezogen würden, sei die Integration leichter,<br />

so eine Meinung aus dem Publikum. Ein weiterer<br />

Faktor für gelungene Integration sei die<br />

Schaffung einer emotionalen Bindung zu<br />

Deutschland, so ein anderer Teilnehmer. Sie sei<br />

wichtig, damit die Botschaft „Migranten sind<br />

willkommen“ auch ankomme. Maffay stimmte<br />

dem zu: „Wir wissen immer noch zu wenig über<br />

die Migranten und sie wissen zu wenig über<br />

uns. Wir kennen die Werte, aber in der praktischen<br />

Umsetzung hapert es noch. Alle müssen<br />

bereit sein, aufeinander zuzugehen. In der<br />

Musik gibt es acht Töne - und einen neunten<br />

Ton, den Umgangston. Genau diesen brauchen<br />

wir für die Integration der Migranten!“<br />

Was noch nötig sei, um künftige Gesellschaften<br />

zusammenzuhalten, so ergänzte ein Forums -<br />

gast, seien Religion und Spiritualität. Kleinert<br />

schloss sich an: „In <strong>Zukunft</strong> gilt nicht nur<br />

„money makes the world go around“, sondern<br />

immaterielle Aspekte, Sinnhaftigkeit und<br />

Religion gehören zu den zentralen <strong>Zukunft</strong>s -<br />

fragen für das künftige Funktionieren unserer<br />

Gesellschaft.“ Linsenhoff unterschied beim<br />

Thema Religion Sportleben und Familie. „Im<br />

Sport darf Religion keine Rolle spielen, in der<br />

Familie dagegen ist sie wichtig für eine Werteund<br />

Regelvermittlung und für das Finden des<br />

Lebenssinns“, so die Mutter von vier Kindern.<br />

Für Maffay gibt der Glaube den Menschen in<br />

schwierigen Situationen Halt. Deshalb müsse<br />

die Kirche sich dringend zeitgemäß entwickeln.<br />

Weitgehend einig waren sich die Forumsgäste<br />

auch, was den Stellenwert der Familie in der<br />

künftigen Gesellschaft angeht: Wer die in der<br />

Familie erworbenen Werte mit ins Leben<br />

nehme, habe ein Fundament und damit die<br />

Basis für die nötige Toleranz in einem sozialen<br />

Miteinander.<br />

Zum Schluss der Diskussion gab es konkrete<br />

Vorschläge zur Verbesserung der Lebens qua -<br />

lität. So könnte man die Arbeit der Vereine in<br />

die Ganztagsschule integrieren, um ausreichend<br />

Zeit für ehrenamtliches Engagement und<br />

Familie zu haben. Weiter wurde gefordert, noch<br />

mehr Geld in die Betreuung von Kindern zu<br />

investieren, die „durchs Raster fallen.“ Ein<br />

anderer Teilnehmer wünschte sich „mehr<br />

Männer in die Erziehung“, besonders in der<br />

Früherziehung, weil durch die vielen allein erziehenden<br />

Mütter oft die männliche Vorbildrolle<br />

fehle. Auch sollte die kulturelle Bildung intensiviert<br />

werden, da sie wichtige Impulse in den<br />

pädagogischen Alltag bringe.<br />

Ann Kathrin Linsenhoff,<br />

war Olympiasiegerin im<br />

Dres surreiten der Mann -<br />

schaft 1988 in Seoul,<br />

stellvertretende Vor -<br />

sitzende von UNICEF<br />

Deutschland<br />

Peter Maffay ist Musiker<br />

und Bandleader, Gründer<br />

der Peter-Maffay-Stif tung,<br />

die missbrauchte und<br />

trau matisierte Kinder<br />

be treut und Träger des<br />

Bundes ver dienstkreuzes<br />

(1996)


24 Forum 4 | Wissen | Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>?<br />

Was ist mit unseren Schulen und Hochschulen los? Was ist schief gelaufen und was kann wie<br />

besser werden? Was dagegen hat sich bewährt und sollte deshalb bewahrt werden? Auf dem<br />

Podium diskutierten Professor Hans Michael Piper, Diana Beyerlein, René Obermann und<br />

Philipp Schindler über die zentralen Bildungsthemen und lösten eine angeregte Diskussion im<br />

Plenum aus.<br />

Keynote:<br />

Professor Hans Michael<br />

Piper ist Rektor der<br />

Heinrich-Heine-Uni -<br />

versität in Düsseldorf<br />

Diana Beyerlein ist<br />

angehende Abiturientin<br />

und Siegerin des Landes -<br />

wett bewerbs „Jugend<br />

debattiert“ in Nordrhein-<br />

Westfalen 2008<br />

„Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>?“ lautete der<br />

Untertitel des Forums. „Dazu könnte man einfach<br />

ja sagen und nach Hause gehen“, stellte<br />

Professor Hans Michael Piper, der Rektor der<br />

Düsseldorfer Heinrich Heine-Universität, eingangs<br />

fest. Entscheidend sei jedoch, wer wem<br />

welche Art von Bildung vermitteln solle. Wie sich<br />

im Lauf der Diskussion herausstellte, hatte<br />

Piper damit den Großteil des Publikums hinter<br />

sich.<br />

Aber zunächst stellte er seine Position klar:<br />

„Zwar ist es wichtig, auf ein Spezialistentum zu<br />

setzen, vor allem in naturwissenschaftlich-technischer<br />

Hinsicht, damit Deutschland im internationalen<br />

Vergleich konkurrenzfähig bleibt. Doch<br />

Bildungsmonokulturen sind krisenanfällig, da -<br />

her brauchen wir mehr flexibles, fachübergreifendes<br />

Wissen <strong>–</strong> und vermehrt Bildungs quer -<br />

einsteiger.“<br />

In einer zweiten These befasste sich Piper mit<br />

der Qualität der Lehre, die von Bildungsträgern<br />

häufig sträflich vernachlässigt worden sei. Zwar<br />

sei man auf dem <strong>Wege</strong>, es besser zu machen,<br />

doch dafür muss es mehr Anreize geben. Eine<br />

große Bildungsreserve sieht er in den Erfahr -<br />

ungen der älteren Menschen. Es gelte, effektive<br />

Instrumente des lebenslangen Lernens zu entwickeln,<br />

um von diesem Potenzial profitieren zu<br />

können. Denn immer noch würden nicht alle<br />

Teile der Bevölkerung erreicht, dabei bedeute<br />

beispielsweise gerade die Bildung in Familien<br />

mit Migrationshintergrund eine große Chance.<br />

Den Worten Taten folgen lassen<br />

„Das ist eine Baustelle“, bestätigte die angehende<br />

Abiturientin Diana Beyerlein aus Aachen,<br />

Siegerin des Landeswettbewerbs „Jugend de -<br />

battiert“ 2008 in Nordrhein-Westfalen. Ihr<br />

Gymnasium werde nur von geschätzten zwei<br />

Prozent Jugendlichen mit Zuwanderungs ge -<br />

schichte besucht. „Da läuft etwas falsch“, meinte<br />

die Schülerin, und plädierte für Lehrer mit<br />

didaktischem Talent, „die Potenziale entdecken<br />

und Anpassung fördern.“ Hierfür könnte es<br />

nach ihrer Ansicht Eignungstests vor dem Stu -<br />

dium geben, damit sich nicht erst im Referen -<br />

dariat herausstelle, ob jemand dazu fähig sei.<br />

Der Kernsatz des Vorstandsvorsitzenden der<br />

Deutschen Telekom René Obermann lautete:<br />

„Put your money where your mouth is.“ <strong>–</strong> also<br />

den Worten Taten folgen zu lassen und in das zu<br />

investieren, wovon man überzeugt ist. Für<br />

Ober mann sind es die Lehre und die bessere<br />

Aus bildung von Lehrern, deren Beruf seiner<br />

Meinung nach sozial besser anerkannt werden<br />

sollte. „Ich wäre bereit, einen Bildungssoli zu<br />

zahlen und das könnten andere auch“, bekannte<br />

Obermann und prognostizierte, dass in den<br />

nächsten Jahren 40.000 Lehrer fehlen werden,<br />

vor allem im Bereich Naturwissenschaften.<br />

Flössen mehr Mittel in die Lehre, werde ein<br />

wichtiger Grund für Arbeitslosigkeit bekämpft:<br />

ein niedriges Bildungsniveau. Die Wirtschaft<br />

habe hierzu einen wichtigen Beitrag zu leisten,<br />

doch Staat und Bundesländer trügen die größere<br />

Verantwortung.


25<br />

Richtigen Umgang mit Informationen<br />

vermitteln<br />

Die schnelle Veränderung der Welt durch technologische<br />

Entwicklungen empfindet Philipp<br />

Schindler, Northern & Central Europe Vice<br />

President bei der Internetsuchmaschine Google,<br />

als bedeutende Herausforderung für die Bil -<br />

dung: „Bald kann jeder überall Informationen<br />

über das Internet nutzen. Bei Google nennen wir<br />

das die Demokratisierung der Information.“<br />

Dies dürfe man jedoch nicht mit Bildung gleichsetzen<br />

<strong>–</strong> hier warte eine große Aufgabe für gute<br />

Wissensvermittler, die kritisches Hinter fragen<br />

und den richtigen Umgang mit der ständig verfügbaren<br />

Menge an Informationen fördern<br />

müssten. „Es gibt heute schon Menschen, die<br />

das für die Wahrheit halten, was nach einer<br />

Suche bei Google an oberster Stelle steht“,<br />

warnte Schindler.<br />

Vor diesem Hintergrund sah neben Piper auch<br />

eine Reihe von Zuhörern die Hochschulen in der<br />

Pflicht: Sie konzentrierten sich zu wenig darauf,<br />

derart talentierte Wissensvermittler auszubilden.<br />

Dieser Aspekt trete häufig hinter den An -<br />

spruch zurück, Spitzenforscher hervorzubringen.<br />

Professor Ernst-Andreas Ziegler von der<br />

Wuppertaler Kinder- und Jugenduniversität be -<br />

richtete von glänzenden Erfahrungen mit Unter -<br />

nehmern, die den Nachwuchs an ihrem Praxis -<br />

wissen teilhaben lassen. Auf Dauer gelte es je -<br />

doch, hierfür die richtigen Pädagogen auszubilden,<br />

vor allem, um junge Menschen aus bildungs<br />

fernen Milieus zu erreichen. Hier mangele<br />

es an Angeboten. Eine Tatsache, die Piper be -<br />

stätigte. Er forderte einen besseren Zugang zur<br />

Sprache als Eintrittskarte in die deutsche Ge -<br />

sell schaft: „Man kann hierzulande so leben wie<br />

in einer türkischen Umgebung, quasi in einem<br />

Cyber-Ghetto. Die universelle Platt form der<br />

Medien wird nicht notwendigerweise zur Inte -<br />

gration genutzt.“<br />

Positive Beispiele und der Spaß an der Bildung<br />

Dr. Dimitrios Argirakos, Leiter der Abteilung<br />

<strong>Zukunft</strong> und Innovation der WAZ-Mediengruppe<br />

und Sohn einer Griechin meldete sich dazu aus<br />

dem Zuhörerkreis zu Wort: Ihm fehlten im Zu -<br />

sammenhang mit Migration die positiven Bei -<br />

spiele: „Warum erscheint eine Zuwan der ungs -<br />

geschichte immer als negatives Beispiel?“ Ähnliche<br />

Erfahrungen hat Beyerlein im Unter richt<br />

gemacht: „Jugendliche mit Migrations hinter -<br />

grund fühlen sich nicht genügend motiviert,<br />

wenn dort nur großartige deutsche Per sön lich -<br />

keiten dominieren.“ In der Schule müsse generell<br />

die Lust daran vermittelt werden, sich Bil -<br />

dung anzueignen, auch außerhalb des Klas -<br />

senzimmers, forderte eine junge Zuhörerin.<br />

Unwidersprochen stand daher am Schluss des<br />

Forums fest, dass Investitionen in das Schul -<br />

system eine größere Bedeutung zukommt als in<br />

Universitäten. „Wenn sich die deutsche Bevöl -<br />

kerung nicht im Bildungssystem wiederfindet,<br />

dann haben wir schlechte Chancen in einer globalisierten<br />

Welt“, so Piper mit Blick auf das Jahr<br />

2025.<br />

René Obermann ist<br />

Vorstandsvorsitzender<br />

der Deutschen<br />

Telekom<br />

Philipp Schindler ist<br />

Northern & Central<br />

Europe Vice President<br />

von Google


26 Peter Scholl-Latour | »Ein starkes Stück Deutschland«<br />

Peter Scholl-Latour, geboren am 9. März 1924 in Bochum zählt<br />

zu den bekanntesten Journalisten und Publizisten der Gegen -<br />

wart und hat sich insbesondere als Islam- und Nahost-Experte<br />

einen nahezu legendären Ruf erworben.<br />

Auf dem Petersberg weitete Scholl-Latour zum Ende des Kon -<br />

gresses den Blick be wusst ins Globale. In Rückschau auf die<br />

jüngere Geschichte entwarf Scholl-Latour mögliche <strong>Zukunft</strong>s -<br />

szenarien, die er vor allem im Hinblick auf ihre geopolitischen<br />

Aspekte analysierte.<br />

Ich möchte mit einem Satz von George Bernhard Shaw<br />

be ginnen: „Beware of old men, they have nothing to lose!”<br />

Dieser Satz trifft auf mich in besonderer Weise zu, denn in<br />

drei Tagen jährt sich mein Geburtstag zum 85. Mal. Dem<br />

Land NRW bin ich nicht nur deshalb zu tiefst verbunden,<br />

weil ich in Bochum geboren wurde. Ich bin in NRW auch<br />

Fernseh di rek tor gewesen und war Professor an der Ruhr-<br />

Universität. Ich bin in NRW also einigermaßen zu Hause.<br />

Deswegen be grüße ich diese Veran stal tung sehr, aber Sie<br />

werden entschuldigen, dass ich nun eine Improvisation<br />

vor trage und eher von einem Punkt zum anderen springen<br />

werde. Ich glaube, die Wichtigkeit dieser Veranstaltung<br />

be steht vor allem darin, dass Sie, Herr Minister präsident,<br />

damit die Rolle von NRW innerhalb der Bundesrepublik<br />

einmal richtig herausstreichen wollen. Ich denke das wird<br />

höchste Zeit. Dieses ist das größte Land der Bundes repu -<br />

blik, das wichtigste Land, und man sollte das auch wieder<br />

betonen in der Innenpolitik.<br />

Ansonsten stehen wir, was die <strong>Zukunft</strong> betrifft vor einer<br />

ge wissen Ratlosigkeit. Ich bin Politologe und habe mich<br />

bis her nie in Ökonomie eingemischt. Aber seit ich gesehen<br />

habe, dass sämtliche Voraussaugen der Gurus total falsch<br />

gewesen sind, erlaube ich mir gelegentlich auch mal etwas<br />

zur Wirtschaft zu sagen.<br />

Die aktuelle Krise beherrscht alles. Ohne sie können wir<br />

überhaupt keine Aussagen mehr machen, sie ist das, was<br />

uns heute fast erdrückt, denn sie vollzieht sich im Zeichen<br />

der Globalisierung. Jener Globalisierung, die eingetreten<br />

ist in dem Moment, als der Sowjetblock zusammengebrochen<br />

ist und China sich ge öffnet hat. Ab da wurde ein globales<br />

Ge samtkonzept möglich.<br />

Der Begriff Globalisierung aber ist erst hochgekommen,<br />

als die Illusion Fukuyamas um sich griff. Das Ende der Ge -<br />

schichte war gekommen und hatte in der Form der amerikanischen<br />

Gesellschaft das Ideal der Menschheit erreicht.<br />

Die übrige Welt brauchte sich nur auf dieses Ideal hin auszurichten.<br />

Wir in der westlichen Welt mit unserem Vor -<br />

sprung glaubten damals, dass vor allem uns die Glo bali -<br />

sierung nützen wurde und haben nicht damit ge rechnet,<br />

dass die Schwellenländer die wirklichen Nutz nießer davon<br />

sein würden. Ich glaube, der größte Nutz nießer der Globa -<br />

lisierung ist die Volksrepublik China. Die Chinesen werden<br />

wohl auch am leichtesten aus dieser Krise herauskommen.<br />

Blickt man auf China und seine Be ziehung zur amerikanischen<br />

Wirtschaft, seine großen Men g en an amerikanischen<br />

Schatzanleihen, so ist da eine Inter dependenz zwischen<br />

den USA und China entstanden, die verhindern<br />

wird, dass es zu Formen des Protekti onis mus kommt.<br />

Sie merken, ich packe die Sache bewusst global an, denn<br />

die Dinge, die bis jetzt hier diskutiert worden sind, kreisten<br />

im Grunde um einen Mikrokosmos. Was Obama be trifft,<br />

dessen Wahl zum Präsidenten ich auf das Leb haft este be -<br />

grüße: Er hat als ersten Gast den japanischen Re gier ungs -<br />

chef empfangen und Hillary Clinton als seine Außen minis -<br />

terin hat ihren ersten Auslandsbesuch in Japan gemacht.<br />

Bisher aber galt bei den amerikanischen Präsidenten<br />

immer: „Europe first.“ Das scheint nun nicht mehr der Fall<br />

zu sein.<br />

Professor Di Fabio hat sehr zu Recht die Frage gestellt,<br />

wenn wir hier auf das Jahr 2025 blicken, wie man wohl<br />

im Jahre 1909 die Perspektiven des Jahres 1925 beurteilt<br />

hätte. Ich möchte dieses Datum etwas verschieben:<br />

Hätte man im Jahr 1930 jemals ahnen können, was passiert,<br />

wenn man damals eine Prognose des Jahres 1946<br />

angestellt hätte?<br />

Ich persönlich habe noch die erste große Weltwirtschafts -<br />

krise miterlebt und zwar in Bochum. In der Krise von 1929<br />

haben die Leute nach einer Schüssel Suppe angestanden.<br />

Der Aufbau nach 1945 war dann eine ungeheuerliche Leis -<br />

tung. So viel wird von uns heute gar nicht abverlangt werden.<br />

Wie ist der Aufbau aber damals zustande gekommen?<br />

Durch die Rückkehr der Soldaten einer Wehr macht,<br />

die an eine strikte Disziplin gewöhnt waren, und die Führ -<br />

ungsfähigkeit der jungen Offiziere und Oberleut nants.


27<br />

Ich will nur drei Beispiele aus der Politik nennen: Helmut<br />

Schmidt, Franz-Josef Strauß und Jürgen Wischnewski, die<br />

genau dieser Generation angehört haben, die kennzeichnend<br />

war für den Aufbau. Es kam und das ist ganz wesentlich<br />

der Marschall-Plan dazu. Damals hat die USA erkannt,<br />

dass eine gewaltige Gefahr im Osten bestand und dass die<br />

europäischen Völker, so weit sie in ihrem Einfluss be reich<br />

lagen, wieder aufgepäppelt werden mussten. Das ist ge -<br />

lungen und war eine der großartigsten Taten, die Ameri ka<br />

zu jener Zeit vollbracht hat.<br />

Springen wir zu einem anderen Thema. Wir hatten gestern<br />

hier den ehemaligen polnischen Präsidenten zu Gast, Lech<br />

Wałęsa. Als ich Kind war, wurde im Ruhrgebiet noch weitgehend<br />

polnisch gesprochen, und es gab gewisse Animosi -<br />

täten zwischen den Volksgruppen.<br />

Als jedoch bei Schalke 04 Czepan und Kuzorra die Nati o -<br />

nal helden waren, brach das Antipolentum, das teilweise<br />

noch existierte, in sich selbst zusammen. Und inzwischen<br />

ist der Kommissar Schimanski zum Nationalhelden geworden.<br />

Daran merkt man, dass ethnische Gegensätze überwunden<br />

werden können.<br />

Damit kommen wir zu den aktuellen Problemen unserer<br />

heutigen Neubürger aus der Türkei, zu denen ich persönlich<br />

eine enge Verbindung habe. Die Türken unterscheiden<br />

sich natürlich durch ihre Kultur und ihre Religion von uns.<br />

Es ist bisher noch kein Rezept gefunden worden, diese<br />

Gegensätze zu überwinden. Die Diskussionen, die darüber<br />

geführt werden, scheitern auch daran, dass man sich mit<br />

solchen Türken unterhält, die unseren <strong>Ideen</strong> am nächsten<br />

stehen und diejenigen, die wahrscheinlich die repräsentativsten<br />

sind, aber nicht ganz unseren Wünschen entsprechen,<br />

beiseite lässt.<br />

Jedenfalls stellen wir in diesem Zusammenhang fest, dass<br />

die Religion aus der jetzigen Welt nicht fortzudenken ist,<br />

auch wenn die breite deutsche Öffentlichkeit darauf verzichtet.<br />

Diese Absenz der Religion ist zweifellos eine<br />

Schwäche. Man darf beispielsweise nicht vergessen, dass<br />

der eigentliche organisierte Widerstand gegen den Natio -<br />

nalsozialismus, auch der ideologische, damals von der<br />

katholischen Kirche getragen worden ist. Vielleicht sollte<br />

man an diese Dinge erinnern, wenn man heute über Re li -<br />

gion sprechen will. Was war denn 1945, nachdem doch das<br />

Volk im Allgemeinen der nationalsozialistischen Ideo logie<br />

gehuldigt hatte, bis auf kleine Minderheiten, die es gab?<br />

Man ist in die Kirchen geströmt. Die CDU ist aus diesem<br />

Gefühl entstanden, und Konrad Adenauer hat die Großtat<br />

vollbracht, nicht ein neues Zentrum entstehen zu lassen,<br />

sondern die Protestanten mit einzubeziehen und damit<br />

eine geschlossene CDU zu schaffen.<br />

Doch zurück zu größeren Zusammenhängen: Vor kurzem<br />

haben wir diese wahnsinnig überstürzte Erweiterung Euro -<br />

pas nach Osten vorgenommen und konnten und können<br />

gar nicht genug Länder reinkriegen. Man sprach von den<br />

Wirtschaftswundern im Baltikum und jubelte über Ungarn.<br />

Inzwischen stellen wir fest, dass es zu ungeheuren Belas -<br />

tungen kommen wird, mit denen niemand ge rech net hatte.<br />

Denn unsere Kenntnisse in Hinsicht auf die <strong>Zukunft</strong> sind<br />

eben sehr gering.<br />

Wir sind uns einig über die ungeheure Begabung der Inder<br />

für die neuen Technologien, vor allem für die Entwicklung<br />

der Software. Aber von Indien als der größten Demokratie<br />

zu reden, ist völliger Unsinn. Indien steht vor ei ner tiefen,<br />

existentiellen Krise, die niemand sehen will.<br />

Was in Kaschmir passiert, ist sehr viel grausamer und blutiger<br />

als das, was etwa in Tibet passiert, worüber sich alle<br />

erregen und man dem Dalai Lama die Möglichkeit gibt,<br />

vor dem Brandenburger Tor zu sprechen. Eine Möglichkeit<br />

die dem Kandidaten Obama verweigert wurde!<br />

Es ist hier noch kein Wort gesprochen worden über die<br />

Kriege, in denen wir uns befinden. Wir befinden uns laut<br />

Artikel 5 der NATO im Krieg gegen den Terrorismus. Aber<br />

der Terrorismus ist kein Gegner, sondern eine Kampf -<br />

methode. Der weltweite Islam ist zum Feind hochstilisiert<br />

worden. Das aber sind 1,3 Mrd. Menschen, die in sich zu -<br />

tiefst gespalten sind: in Aleviten, in Salafisten und viele<br />

andere. Bedenklich ist vor allem die Zunahme des waha -<br />

bitischen, des saudischen Einflusses. Das Attentat von<br />

Nine-Eleven war nämlich nicht das Werk von Afghanen,<br />

es war das Werk von wahabitischen Saudis! Sie sind auch<br />

nicht in Afghanistan ausgebildet worden, sondern haben<br />

ihren Pilotenschein in den USA gemacht.<br />

Wenn wir schon Deutschland am Hindukusch verteidigen,<br />

dann sollte man auch mal auf den Balkan blicken, denn die<br />

bosnische Frage ist in keiner Weise geklärt. Auch die albanische<br />

Frage und die des Kosovo werden auf uns zukommen.<br />

Doch man redet immer noch vor allem über den


28 Peter Scholl-Latour | »Ein starkes Stück Deutschland«<br />

Terrorismus. Wir werden eines Tages wahrscheinlich auch<br />

wieder Anschläge haben. Aber: Nach Nine-Eleven wurden<br />

eine ganze Reihe von Nachfolgeattentaten erwartet, tatsächlich<br />

haben keine stattgefunden. Es ist auch nicht so,<br />

dass die Al Kaida hinter allem steckt, denn Al Kaida ist nur<br />

ein Sammelbegriff. Marokkaner haben das fürchterliche<br />

Attentat in Madrid begangen. Und das Lon doner Attentat<br />

haben aus Indien stammende britische Bürger begangen,<br />

die hohe akademische Abschlüsse hatten. Die hatten mit<br />

Osama bin Laden nichts zu tun,der aus seiner Höhle allen -<br />

falls mal auf einem Maultier eine Videokassette wegschickt.<br />

Der Terrorismus ist nicht das Problem, das uns<br />

auf die Dauer wirklich berührt, sondern die Demografie.<br />

Ich kom me gerade aus Südamerika und stelle fest: wir<br />

gehen einer Mischgesellschaft entgegen.<br />

Was an der Wahl von Obama so sensationell ist: Ich war<br />

1950 das erste Mal in Amerika. Als ich damals mit dem<br />

„Greyhound Bus” fuhr, mussten die Negros <strong>–</strong> wie man da -<br />

mals sagte <strong>–</strong> in den hinteren Teil des Busses gehen.<br />

Wenn man bedenkt, dass jetzt ein Schwarzer Präsident<br />

der USA ist, geht die Bedeutung dessen weit über die Pe r -<br />

son Obamas hinaus. Es hat gewissermaßen eine ethnische<br />

Mu tation stattgefunden. Amerika Bevölkerungszahl ist<br />

auch durch die massive Immigration der Latinos ge wachs -<br />

en. Huntington hat in seinem letzten Buch „Who are we?“<br />

voraussagt, dass der alte Charakter Amerikas „white“,<br />

„Anglo-Saxon“ and „protestant“ nicht länger richtungsgebend<br />

ist, sondern dass wir „another Country“ haben werden.<br />

Denn jeder Kandidat wird auf die farbigen Minder hei -<br />

ten, ob nun „african American“, Latinos, aber auch in zu -<br />

nehmender Weise Asiaten Rücksicht nehmen müssen.<br />

Was ich heute befürchte, ist ein Rückfall in eine gewisse<br />

Form von Wilhelminismus der Außen poli tik, die jedem<br />

seine Vorstellungen aufdiktieren will und Ratschläge er -<br />

teilt. Was für uns in NRW aber sehr wichtig ist, ist, dass<br />

wir uns die Märkte offen halten. Man sollte sich über Be -<br />

schränk ungen hinwegsetzen, bevor andere es tun. Wir sollten<br />

uns zum Beispiel in unserem Handeln mit Russland in<br />

keiner Weise einschränken lassen. Denn welches Regime<br />

Russland hat, ist Sache der Russen. Bisher sind sie mit<br />

Putin wesentlich besser gefahren als mit dem von uns so<br />

bewunderten Gorbat schow. Ich habe das Elend der Peres -<br />

troika in Moskau ge sehen, was bodenlos war gegenüber<br />

der einigermaßen geregelten Versorgung unter Bresch -<br />

new. Heute geht es den Russen besser.<br />

Oder denken wir an den Iran. Ob die nun eine Atombombe<br />

bauen oder nicht, werden wir nicht verhindern können.<br />

Wer wird sich in einen Krieg gegen den Iran einlassen, wo<br />

schon die somalischen Piraten im Golf von Aden gezeigt<br />

haben, was man alles anrichten kann. Was würde erst der<br />

Iran in der Straße von Hormus und im Persischen Golf<br />

anrichten? Abgesehen davon, auch die iranische Atom -<br />

bombe wird nicht zur Vernichtung Israels oder gar zum<br />

Ab schuss einer Interkontinentalrakete auf die USA be -<br />

nutzt werden, sondern es ist eine Abschreckungswaffe.<br />

Wir sollten uns der schwerwiegenden Tatsache bewusst<br />

werden, dass unser westliches Modell für die gesamte<br />

Welt nicht mehr tonangebend ist. Die Krise, die im Mo -<br />

ment stattfindet, ist eine Krise des Kapitalismus. Man sollte<br />

aber nicht immer Marktwirtschaft mit dem Kapitalis -<br />

mus gleichsetzen. Die Marktwirtschaft ist selbstverständlich,<br />

denn vom Anfang der Menschheit an war der Markt<br />

das Instrument des Austausches. Aber der Kapitalismus,<br />

zu dem wir jetzt gefunden haben, ist von Übel. Wir hatten<br />

in der frühen Bundesrepublik ein System, das ungeheuer<br />

ausgeglichen war und um das uns die Franzosen bewundert<br />

haben. Wir hatten die liberale Wirtschaftspolitik<br />

Ludwig Erhards, aber begleitet von der Soziallehre. Genau<br />

das hat sich aber eben nach dem Aufkommen der Globa -<br />

lisierung und durch die Ausrichtung auf das angel sächs i -<br />

sche Modell, das ja im Grunde calvinistisch geprägt ist,<br />

grundlegend geändert. Wir haben uns in eine Form des<br />

spekulativen Kapitalismus verirrt, der am Ende selbstzerstörerisch<br />

wirkt und zudem keinerlei Attraktion mehr au -<br />

ßerhalb Europas hat. Es gibt neue Modelle, wie man zum<br />

Zuge kommt.<br />

Ich erinnere mich, dass die deutschen Wirtschafts prophe -<br />

ten immer behaupteten: Wenn man Demokratie schafft,<br />

dann gedeiht auch die Wirtschaft. Bei den „kleinen Tigern“<br />

ist nun genau das Gegenteil der Fall. Am Anfang stand die<br />

Machtergreifung eines Diktators - das war Park Chung-<br />

Hee in Korea, das war die Shan-Familie auf Taiwan, und<br />

das war vor allen Dingen Lee Kuan Yew in Singapur, der ein<br />

straffes Regiment errichtet hat. Daraus entwickelte sich<br />

die Wirtschaft, es entstand ein Boom der Technolo gie und<br />

der Wohlstand der Bevölkerung.


29<br />

Unsere Modelle stimmen einfach nicht mehr. Und das<br />

Schlimme ist, dass unsere Demokratiemodelle und unsere<br />

Form des Parlamentarismus vor allem auf die afrikanischen<br />

Staaten nicht übertragbar sind, weil jede Partei so -<br />

fort eine Stammesbildung und entsprechende Stam mes -<br />

auseinandersetzungen nach sich ziehen würde.<br />

Hätte man China in das Korsett einer parlamentarischen<br />

Demokratie gezwängt, wäre es zur Katastrophe gekommen.<br />

Die Führung der kommunistischen Partei hat den<br />

Aufschwung zwar nur fertig gebracht durch eine Locker -<br />

ung, aber doch zugleich durch die sehr zentrale Überwachung<br />

des Staates. Das Gleiche hat Vietnam vollzogen,<br />

dort gibt es jetzt keinen Personenkult mehr. Kurzum:<br />

Diese Modelle sind natürlich für Staaten der Dritten Welt<br />

sehr viel attraktiver als die sehr komplizierten Systeme,<br />

die wir bei uns haben. Wir loben immer, dass die Demo -<br />

kratie eine Streitkultur ist, und die Chinesen halten dem<br />

entgegen, zurückgreifend auf die uralte konfuzianische<br />

Lehre, dass bei ihnen die Harmonie angestrebt wird.<br />

Je denfalls ist es nicht mehr so, dass unsere Form der<br />

Demo kratie ein Allheilmittel darstellt. Und eine neue Frage<br />

stellt sich jetzt auch hierzulande: Wir haben ein Parteien -<br />

system, das fabelhaft funktionierte, so lange es noch drei<br />

Parteien gab. Wobei sich die FDP einen Wechsel von der<br />

einen zur anderen erlaubte. Jetzt aber haben wir fünf Par -<br />

teien, und es wird allmählich unberechenbar. In der Zu -<br />

kunft wird alles sehr schwierig werden.<br />

Kommen wir zu einem anderen Thema: zur Ökologie und<br />

zum Klima. Das Kyoto-Protokoll ist gut und schön, ob es<br />

aber respektiert wird, ist eine ganze andere Frage. Wir bilden<br />

uns ein, wenn wir hier in Deutschland einen idealen,<br />

ökologisch sauberen Raum schaffen, dass wir damit das<br />

Schicksal der Welt verändern. Ich bin insofern skeptisch,<br />

wenn ich höre, dass hier mit Begeisterung gegen die Er -<br />

zeugung der Atomenergie Stellung genommen wird, aber<br />

weltweit der Neubau von 240 Atomwerken in Angriff ge -<br />

nommen worden ist.Und das größte französische Atom -<br />

kraftwerk Cattenom befindet sich gerade einmal fünf<br />

Kilometer von der saarländischen Grenze entfernt. Wenn<br />

da einmal bei Westwind etwas passieren sollte, wäre die<br />

Wirkung für Deutschland so, als ob das Werk im Taunus<br />

stünde. Das ist alles sehr oberflächlich gedacht.<br />

Ich glaube, dass wir vom Erdöl als dem strangulierenden<br />

und extremen Spekulationen unterworfenen Rohstoff loskommen<br />

müssen und dass wir eines Tages auch von der<br />

Atomenergie loskommen. Aber ob das so schnell geht,<br />

darf bezweifelt werden. Und mein persönlicher Eindruck<br />

ist, dass diese Windmühlen, die jetzt überall stehen, nur<br />

eines bewirkt haben, nämlich dass die deutschen Land -<br />

schaften verschandelt worden sind.<br />

Früher waren die Kreativen die Erfinder und die großen<br />

Künstler. Heute sind die Werbemacher die Kreativen. Die<br />

Werber haben einen fabelhaften Spruch gefunden und<br />

über die Ruhr „Ein starkes Stück Deutschland“ geschrieben.<br />

Das Ruhrgebiet ist nicht nur durch die Steinkohlen -<br />

krise und die Stahlkrise gegangen. Das Ruhrgebiet steht<br />

jetzt relativ gut da, und wir sollten darauf Wert legen innerhalb<br />

Deutschlands, dass NRW das Schwergewicht innerhalb<br />

der Bundesrepublik ist.<br />

Wenn ich die Resümees der vier Foren lese, kann ich nur<br />

sagen: Mit allem bin ich einverstanden, aber keines ist zu<br />

einer wirklichen Lösung gelangt. Es ist ja bewundernswert,<br />

dass in Deutschland gegenüber der Wirtschaftskrise oder<br />

der Finanzkrise noch große Gelassenheit herrscht. Gefähr -<br />

lich wird es aber, wenn die Krise aus dem Finanzwesen<br />

übergreift in die Realwirtschaft, was sie gerade schon tut.<br />

Wir sollten einen gewissen Volontarismus an den Tag<br />

legen und uns der Krise entgegenstellen, auch mit der<br />

Auf nahme von großen öffentlichen Aufgaben. Der Ein sturz<br />

des Kölner Archivs zeigt ja, wie viel hier noch in der Infra -<br />

struktur zu verbessern ist.<br />

Früher als die Welt noch rosig aussah, endete ich meine<br />

Vorträge immer mit dem Satz von Paul Valéry in Hinblick<br />

auf die Weltmarktslage: „Im Abgrund der Geschichte gibt<br />

es Platz für alle!“<br />

Das würde ich heute nicht mehr sagen, dafür ist die Situ -<br />

ation zu ernst, und deshalb greife ich lieber auf das Wort<br />

von Wilhelm von Oranien zurück, der auch ein Mann dieser<br />

Region gewesen ist: „Es ist nicht notwendig zu hoffen, um<br />

etwas zu unternehmen. Und es ist nicht notwendig Erfolg<br />

zu haben, um auszuharren.“


30 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />

Parallel zur <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> fand im Konferenzzentrum der Deutschen<br />

Post AG in Bonn eine Campusveranstaltung statt. Einen Tag lang diskutierten<br />

rund 300 junge Menschen aus ganz Nordrhein-Westfalen miteinander und mit<br />

zahlreichen Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik.<br />

Vom Ich zum Wir? <strong>–</strong> Die Renaissance des Sozialen<br />

Den Auftakt machte eine Podiumsrunde unter Leitung der WDR-Moderatorin<br />

Anna Planken. Der Skateboard-Guru und Unternehmer Titus Dittmann, Pfarrer<br />

Joachim Gerhardt, Pressesprecher der Evangelischen Kirche Bonn, der Online-<br />

Experte Martin Hubert und die türkischstämmige Medizinstudentin Merve<br />

Aydin sprachen unter anderem über Gesellschaft, Arbeit und Bildung.<br />

Zum Einstieg wies Dittmann darauf hin, dass auch in <strong>Zukunft</strong> von den Men -<br />

schen Flexibilität erwartet werde. Worauf es allerdings ankomme, sei, dies endlich<br />

als Chance und nicht ständig als Drohung zu begreifen. Denn die Mög lich -<br />

keit der Veränderung bedeute Souveränität über die eigene Biografie, nicht<br />

Unterwerfung unter die Zwänge von Märkten oder irgendwelcher anonymer<br />

Systeme.<br />

Joachim Gerhardt riet zu mehr Gelassenheit. So sei etwa die<br />

Notwendigkeit sozialer und räumlicher Mobilität kein Unter -<br />

Titus Dittmann, Unternehmer und Skateboard-Guru gang. Er halte die Furcht vor häufigeren Wechseln von Wohn -<br />

ort oder Arbeitsplatz eher für eine „Elternangst“. Ebenso<br />

wenig sei eine erwartbar längere Lebensarbeitszeit eine Bedrohung, sondern<br />

biete die Chance sozialer Teilhabe. Die soziale und kulturelle Selbstverortung<br />

der Menschen, bemerkte Titus Dittmann, richte sich ohnehin immer weniger<br />

am Alter aus. Fangemeinden oder „Gesinnungsgenossen schaften“ ersetzten<br />

die Alterskohorten.<br />

Bemerkenswert einig waren sich alle Diskutanten, dass mehr Eigenverant -<br />

wortung des Einzelnen keineswegs im Widerspruch zu einer tief greifenden<br />

Renaissance des Sozialen stehe. Martin Hubert sieht hier vor allem die sozialen<br />

Netzwerke des Web 2.0 als Vorboten eines Wertewandels: Weg vom Ich, hin<br />

zum Wir. In <strong>Zukunft</strong> werde sozialer Reichtum durch soziale Vernetzung kreiert.<br />

„Wer teilt, gewinnt“ laute das Motto, und geteilt würden vor allem immaterielle<br />

Ressourcen wie Interessen, Wissen, Meinungen, Emotionen oder soziale Be -<br />

ziehungen. Die Lust an der Steigerung des Egos und die ausschließliche<br />

Verfolgung von Eigeninteressen, so Hubert, hätten<br />

ihre zerstörerische Seite offenbart. Persönliches Wohl -<br />

ergehen, unternehmerischer Erfolg und gesellschaftlicher<br />

Pfarrer Joachim Gerhardt,<br />

Zusammenhalt seien aus der Balance geraten. Nachdem die<br />

Pressesprecher der Evangelischen Kirche Bonn<br />

Gesellschaft die Notwendigkeit einer Versöhnung von Ökonomie<br />

und Ökologie weitgehend begriffen habe, gehe es jetzt um die Versöhnung<br />

von vernünftigem Gewinnstreben und sozialer Verantwortung.<br />

»Fangemeinden ersetzen<br />

zunehmend die Alterskohorten.«<br />

»Die Verschulung der Bildung ist<br />

ein Irrweg. Hier wird es zu einer<br />

Trendumkehr kommen müssen.«


31<br />

Den Trend vom Ich zum Wir sieht auch Pfarrer Joachim Gerhardt. Die Gesell -<br />

schaft sei gerade dabei, die Qualität gemeinsamen Erlebens neu zu entdecken.<br />

Darüber hinaus beobachte er, dass die großen Sinnfragen des Lebens wieder<br />

stärker auf der Tagesordnung stünden <strong>–</strong> Fragen, für die die Kirchen einen<br />

Raum böten. Schließlich spürt auch Merve Aydin einen großen Trend zum<br />

Miteinander, ein Bedürfnis nach sozialer Harmonie und nach der Überwindung<br />

von gesellschaftlichen Konflikten und Brüchen. So heiße die Parole zum<br />

Beispiel nicht länger „Krieg der Generationen“. Ganz im Gegenteil beobachte<br />

sie in ihrem Umfeld, wie Junge und Alte ein neues Miteinander suchten und<br />

zunehmend erkennen würden, dass Entdeckungslust und<br />

Erfahrung, Tatendrang und gesunde Skepsis, Neues und Be -<br />

währtes zwei Seiten derselben Medaille seien. Ebenso werde<br />

im Umgang zwischen Deutschen und Migranten das Gefühl<br />

gegenseitiger Bereicherung wichtiger als Konflikt und kulturelle<br />

Abgrenzung.<br />

»Die Menschen wollen vor allem<br />

ihre Kreativität ausleben.«<br />

Merve Aydin, Medizinstudentin<br />

Bildung: Verschulung stoppen, Kreativität fördern<br />

Beim Thema Bildung bürsteten die Podiumsteilnehmer kräftig gegen den<br />

Strich einer in ihren Augen verfehlten Bildungspolitik. Titus Dittmann vertrat<br />

die Ansicht, es würde nach wie vor zu viel Wert auf theoretische Bildung ge legt,<br />

statt dass junge Menschen praktische Erfahrungen machten. Dahinter verberge<br />

sich ein Systemfehler der Lehrerausbildung: Lehrer wechselten von der<br />

Schule auf die Hochschule und von dort wieder auf die Schule, könnten also<br />

kaum echte Lebens- und Berufserfahrung einbringen. Das Bildungs system sei<br />

zudem viel zu eng auf klar definierte Berufsziele hin organisiert. Martin Hubert<br />

sieht die traditionellen Bildungsmuster allerdings schon auf dem Rückzug. Die<br />

Internet-Branche biete genügend Beispiele für die abnehmende Bedeutung<br />

formaler Qualifikationen. Viele Leute machten Karriere ohne herkömmliche<br />

Abschlüsse, häufig sei eine Art „Freaktum“ die Basis des Wissens und des<br />

Erfolgs in seiner Branche.<br />

Nach Meinung von Joachim Gerhardt wird Bildung immer<br />

noch viel zu sehr verschult. Die Bildungspolitik orientiere sich<br />

irrtümlicher Weise an standardisierbaren Lerninhalten und an<br />

formalen Qualifikationen. Neuerdings werde sogar Druck in<br />

Richtung einer Verschulung der Kindergärten aufgebaut. Langfristig werde es<br />

hier zu einer Trendumkehr kommen müssen. Denn je schneller sich die Welt<br />

wandle und je wichtiger Lernfähigkeit an sich, Orientierungswissen und Sozial -<br />

kompetenz für die Menschen würden, desto weniger seien kleinteilig definierte<br />

Qualifikationen zu gebrauchen. Das Wichtigste für die Menschen sei in Zu -<br />

kunft, dass sie ihre Kreativität ausleben könnten, so Merve Aydin.<br />

»In <strong>Zukunft</strong> wird sozialer Reichtum<br />

durch soziale Vernetzung kreiert.<br />

Motto: Wer teilt, gewinnt.«<br />

Martin Hubert, Online-Experte


32 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />

Workshop 1<br />

Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong><br />

Referent: Dr. Alfred Stulgies, Projektleiter Forschung & Entwicklung RWE<br />

»Die Politik sollte Denkanstöße und innovative <strong>Ideen</strong><br />

öfter und schneller aufgreifen <strong>–</strong> und nicht immer nur<br />

ausgetretene Pfade beschreiten.«<br />

Isabel Kane, Studentin der Politikwissenschaft aus Bonn<br />

»Wir müssen unabhängiger von Öl und Gas werden.<br />

Deshalb brauchen wir einen vernünftigen Energiemix.<br />

Dazu gehören natürlich erneuerbare Energien.<br />

Absehbar können wir aber auch auf Kernenergie<br />

nicht verzichten <strong>–</strong> selbst wenn das unter jungen<br />

Leuten nicht so populär sein mag. Aber hier sichere<br />

Atom kraft werke abzuschalten und dafür Atomstrom<br />

zu importieren halte ich für Augenwischerei.«<br />

Niklas Veltkamp, Student der Volkswirtschaftslehre<br />

aus Köln<br />

Die Klimaerwärmung weckt Zweifel an unseren Methoden der Energie erzeu -<br />

gung und -nutzung. Es gilt, nachhaltigen Umweltschutz mit der Sicherung<br />

unseres Lebensstandards zu verbinden. Etwa 80% unserer Primär energie werden<br />

heute weltweit aus fossilen Energieträgern erzeugt. Weitere 10% steuert<br />

die Kernenergie bei, der Rest verteilt sich auf regenerative Energiequellen wie<br />

Wind- und Wasserkraft oder Solarenergie. 2006 wurde hierzulande rund eine<br />

Milliarde Tonnen CO 2 freigesetzt, der größte Teil davon, nämlich 55%, durch<br />

die Stromerzeugung für private Haushalte und Industrie. Weitere große<br />

Emissionsquellen sind Transport (15%) und Heizung (12%).<br />

Hintergrund jeder energiepolitischen Entscheidung sollte laut Stulgies das<br />

„Dreieck der Energiewirtschaft“ mit seinen Kriterien Wirtschaftlichkeit, Nach -<br />

haltigkeit und Versorgungssicherheit sein. Hierbei zeige sich, dass die Nutz ung<br />

regenerativer Energieträger sowie der Kernkraft weit gehend klimaneutral sei.<br />

Größter ökologischer Nachteil der Kernenergie: die ungelöste Entsor gungs -<br />

frage. Beim Kriterium Versorgungssicherheit punkten laut Stulgies Kohle und<br />

Kernenergie, wohingegen Öl und Gas hier besonders schlecht dastünden. Die<br />

Nutzung regenerativer Energien schließlich <strong>–</strong> dies allerdings wurde von etlichen<br />

Teilnehmern als einseitige Sichtweise des Referenten mo niert <strong>–</strong> sei in<br />

Deutschland kaum effizient möglich, weshalb diese beim Kriterium Wirtschaft -<br />

lich keit eher schlecht abschnitten.<br />

Die Diskussion unter den rund 60 Teilnehmern des Workshops verlief kontrovers.<br />

Angesichts des Klimawandels, meinten die einen, müssten ökologische<br />

Kriterien Vorrang vor Ökonomie und Versorgungssicherheit haben. Ziel müsse<br />

es sein, unseren Energiebedarf bereits 2050 vollständig aus regenerativen<br />

Quellen zu erzeugen. Prinzipiell sprachen sich alle Teilnehmer für eine Stär -<br />

kung regenerativer Energieträger aus, doch forderten einige eine maßvollere<br />

Umsetzung. Energie dürfe kein Luxusgut, die Frage der Rentabilität der Ener -<br />

gie träger daher nicht außer Acht gelassen werden. Das Ziel einer vollständigen<br />

Umstellung auf regenerative Quellen hielten manche Teilnehmer für un -<br />

realistisch und plädierten daher auch für die Modernisierung und den Neubau<br />

von Kernkraftwerken.<br />

Bei einer TED-Abstimmung über den künftigen Energiemix votierten 39% für<br />

Kernenergie, 22% für Wasserkraft, 18% für Solar energie, 12% für Kohle (allerdings<br />

mit der Option der CO 2 -Abscheidung) und 8% für Windkraft. Die hohe<br />

Akzeptanz der Kernenergie überraschte allgemein. Allerdings sprach sich<br />

zusammengerechnet auch fast die Hälfte der Teil nehmer für regenerative<br />

Energieträger aus. Aus Sicht des Workshops blieb die Frage, ob Kernenergie<br />

eine Übergangslösung oder gar einen dauerhaften Beitrag zur Energie versor -<br />

gung darstelle, offen.


33<br />

Workshop 2<br />

Klimaschutz: Unsere Verantwortung für zukünftige Generationen<br />

Referent: Dr. Winfried Häser, Deutsche Post AG<br />

Nachhaltigkeit, so Häser, umfasse drei Dimensionen: wirtschaftliche, ökologische<br />

und soziale Verträglichkeit. Diese in Einklang zu bringen stelle Politik und<br />

Wirtschaft vor große Herausforderungen. Als Logistikunternehmen ist die Post<br />

auf große Mengen von Kraftstoffen angewiesen. Da Wirtschaftlichkeit und Ver -<br />

fügbarkeit fossiler Kraftstoffe langfristig infrage stehen, forscht das Unter -<br />

nehmen nach Alternativen. Im Fokus: Biokraftstoffe, Elektroantriebe (in Ver -<br />

bindung mit Photovoltaik) sowie Wasserstoff basierte Brennstoffzellen.<br />

Bei Biokraftstoffen bestehen Bedenken hinsichtlich aller drei Nachhaltigkeits -<br />

kriterien: Sie sind aus heutiger Sicht eher weniger wirtschaftlich als fossile<br />

Kraftstoffe; ihr „ökologischer Fußabdruck“ hinsichtlich des CO 2 -Ausstoßes,<br />

des hohen Wasserbedarfs und der Gefahr von Monokulturen ist ungünstig;<br />

und angesichts der Problematik „Food versus Fuel“ ist auch ihre soziale Ver -<br />

träg lichkeit fraglich.<br />

Beispielhaft für eine Klimaschutzstrategie erörterten die rund 30 Teilnehmer<br />

des Workshops das Thema Biokraftstoffe. Berücksichtigt wurden die Aspekte:<br />

Klimaerwärmung, wachsende Mobilität, Endlichkeit fossiler Ressourcen und<br />

Nachhaltigkeit. Die erarbeiteten Eckpunkte wurden als übertragbar auf andere<br />

Felder der Klima- und Energiepolitik bewertet:<br />

»Zu wenige Menschen sind wirklich bereit,<br />

für den Schutz der Umwelt auf Bequemlichkeit<br />

oder Luxus zu verzichten. Hier müsste die<br />

Politik deutlich mehr Anreize schaffen.«<br />

Moritz Knapp leistet ein Freiwilliges Soziales Jahr<br />

beim Landesverband der Musikschulen<br />

1. Konsequenter Zertifikatehandel muss Unternehmen, die<br />

emissionsarme Technologien einsetzen, ökonomisch entlasten.<br />

2. Die Erforschung alternativer Mobilitätstechnologien muss im Rahmen<br />

internationaler Kooperationen, z.B. Forschungsnetzwerken erfolgen.<br />

3. Biokraftstoffe sind nur dann eine Alternative, wenn Erzeugung und<br />

Verbrauch sozial verträglich sind. Insgesamt sind sie eher als Übergangslösung<br />

einzustufen.<br />

4. Die Energiebilanz des gesamten Zyklus von Produktion und Verbrauch<br />

von Gütern und Dienstleistungen sollte der Besteuerung von Unternehmen<br />

zugrunde gelegt werden.<br />

5. Die Politik muss die Erforschung alternativer Technologien fördern und<br />

Aufklärung der Verbraucher betreiben. Forschung muss unabhängig<br />

von den Interessen einzelner Unternehmen sein.<br />

6. Insgesamt muss ein Energiemix angestrebt und die Konzentration auf<br />

eine einzige Technologie vermieden werden.<br />

»Der Klimaschutz ist für mich eindeutig<br />

die wichtigste <strong>Zukunft</strong>saufgabe.<br />

Ich wünsche mir, dass die momentane Krise als<br />

Chance auf dem Weg zu einer nachhaltigen<br />

Wirtschaft und für größere Anstrengungen im<br />

Umweltschutz begriffen wird.«<br />

Lukas van der Straaten, Student aus Brühl


34 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />

Workshop 3<br />

Vernetztes Leben und Arbeiten: Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong><br />

Referent: Dr. Sven Hischke, Deutsche Telekom AG<br />

»Das Wichtigste für die <strong>Zukunft</strong> ist ganz klar,<br />

Arbeitsplätze zu sichern. Dabei sollten Wirtschaft<br />

und Politik gemeinsam pragmatische Lösungen finden.<br />

Auf persönliche und ideologische Profilierungen sollte<br />

lieber verzichtet werden.«<br />

Tobias Niketta schließt zurzeit sein Studium<br />

der Politikwissenschaft ab<br />

»Viele Migranten sehen keinen Sinn in verstärkter<br />

Integration, indem sie etwa besser Deutsch lernen.<br />

Sie sind nicht überzeugt, dass auch sie in dieser Gesell -<br />

schaft Erfolg haben können. Was wir deshalb dringend<br />

brauchen, sind Vorbilder aus der eigenen Kultur, die<br />

zeigen, dass man es in Deutschland zu etwas bringen<br />

kann <strong>–</strong> ohne seine Identität aufzugeben.«<br />

Ilyas Türkmen, Schüler aus Dortmund, möchte nach<br />

dem Abitur Mathematik, Biologie und Musik studieren<br />

und Lehrer werden<br />

Mit ungefähr 80 Teilnehmern war dies der bestbesuchte Workshop.<br />

Die Ein stiegsfrage lautete: Welche kommunikativen Probleme treten auf, wenn<br />

Menschen mit verschiedenen Lebens- und Kommunikationsstilen und unterschiedlichen<br />

Alters zusammenarbeiten? Vielfach haben E-Mail, SMS oder<br />

Instant Messaging die persönliche Interaktion im Büro ersetzt <strong>–</strong> obwohl das<br />

weder durchgängig wünschenswert ist noch zwingend zu einer Optimierung<br />

von Arbeitsabläufen beiträgt. Wie aber lassen sich unterschiedliche Kommuni -<br />

kationsformen Sinn stiftend und wirtschaftlich effizient verbinden? Zumal,<br />

wenn diese nicht speziell für die Arbeitswelt entwickelt, sondern aus anderen<br />

Verwendungszusammenhängen „eingeschleppt“ wurden? Private Präferenzen<br />

und unternehmerische Zielsetzungen sind dann oft nur mühsam zu vereinbaren.<br />

Von solchen Fragen ausgehend, nahm die Diskussion eine allgemeine<br />

Wendung: Wie lassen sich Beruf und Privatleben, besonders Familien grün dung,<br />

für jeden zu einem konsistenten Lebensplan verbinden? Wie kann vor allem das<br />

Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Sicherheit und unternehmerischer<br />

Flexibilität aufgelöst werden?<br />

Aus Sicht der meisten Teilnehmer sollte Arbeit vor allem Raum für kreative<br />

Selbstverwirklichung bieten. Allerdings wurde zu bedenken gegeben, dass es<br />

auch weniger kreativ ausgerichtete Berufsbilder gebe und nicht jeder den<br />

Willen oder das Potential zur Selbstverwirklichung im Beruf mitbringe.<br />

Allerdings: Wer von Mitarbeitern Flexibilität verlange, müsse sie diesen im Hin -<br />

blick auf ihren gesamten Lebensplan auch zubilligen. Hierfür brauche es vor<br />

allem flexible Arbeits(zeit)modelle, ferner Instrumente wie Ganztags schulen,<br />

Elternzeit oder Kombilohn.<br />

Einerseits, so wurde festgestellt, sinke aufgrund von Arbeitsplatz- und Ein -<br />

kommensrisiken die generelle Risikobereitschaft vieler junger Menschen.<br />

Andererseits würden ihre kreativen Potentiale aber auch dadurch behindert,<br />

dass gerade deutsche Unternehmen übergroßen Wert auf geradlinige Lebens -<br />

läufe sowie formale Abschlüsse und Titel legten. So würden Menschen mit<br />

unkonventionellen Biografien allzu schnell in eine Einzelkämpferrolle ge drängt.<br />

Vielleicht sei es deshalb auch kein Zufall, dass erfolgreiche Unternehmen wie<br />

Google oder Facebook nicht in Deutschland gegründet würden. Vermutlich<br />

fehle es hierzulande an einer Kultur des Experimentierens <strong>–</strong> und damit des<br />

möglichen Scheiterns und Neustartens.


35<br />

Workshop 4<br />

Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie?<br />

Demografischer Wandel und technische <strong>Zukunft</strong>sperspektiven<br />

Referenten: Prof. Dr. Ralf E. Ulrich, Institut für Bevölkerungs- und Gesundheitsforschung und<br />

Prof. Dr. Rolf Kreibich, Institut für <strong>Zukunft</strong>sstudien und Technologiebewertung<br />

Die menschliche Lebensspanne unterteilt Prof. Ulrich in drei Phasen: Kindheit,<br />

Erwerbsleben und Alter. Erstere und letzteres sind Abschnitte der Abhängigkeit<br />

von ökonomischen Transferleistungen. Hinzu kommt im höheren Alter oft physische<br />

Pflegebedürftigkeit. Traditionell wurden Transfer und Pflege innerhalb der<br />

Familie geleistet, in heutigen Industriegesellschaften geschieht dies im Rahmen<br />

gesellschaftlich organisierter Renten- und Krankenkassensysteme. Doch auch<br />

diese müssen von den aktiv Erwerbstätigen finanziert werden. Geht, wie in fast<br />

allen entwickelten Ländern, das demografische Gleichgewicht zwischen den<br />

Generationen verloren, geraten Umlageverfahren <strong>–</strong> selbst bei verstärkter privater<br />

Vorsorge <strong>–</strong> unter Druck. In Deutschland wird der Anteil der über Achtzigjährigen<br />

von 3,8% im Jahre 2000 auf 11,3% im Jahr 2050 steigen. Ebenso nimmt der<br />

Anteil der Pflegebedürftigen ab dem 85. Lebensjahr zu. Für das Jahr 2050 rechnet<br />

man mit 91 Menschen über 60, denen 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter<br />

von 20 bis 60 gegenüberstehen. Sollen die sozialen Sicher ungssysteme nicht<br />

überfordert werden, muss über längere Lebens ar beits zeiten nachgedacht werden,<br />

wozu fließende Übergänge zwischen Arbeit und Ruhestand, Teilzeit modelle oder<br />

individuell angepasste Aufgabenprofile, zum Beispiel leichtere oder beratende<br />

Tätigkeiten gehören. Im Hinblick auf physische Einschränkungen im höheren Alter<br />

müssen wir, so Ulrich, an gezielte Förderung technologischer Lösungen denken.<br />

Diese würden menschliche Pfle ge selbstredend nicht ersetzen, Ältere aber dabei<br />

unterstützen, so lange und so weit wie möglich von Pflege unabhängig zu bleiben.<br />

Prof. Kreibich beschäftigte sich mit der Frage künftiger Lebensqualität. Gemes sen<br />

etwa am Human Development Index der Vereinten Nationen sei die Lebens quali -<br />

tät seit 1976 in den Industrieländern eher gesunken. Umweltbelastung, Klima -<br />

wandel, Artensterben oder der Verlust an fruchtbaren Böden seien nur einige der<br />

Herausforderungen, mit denen die Menschheit im 21. Jahrhundert konfrontiert<br />

sei. Nötig sei deshalb eine Synthese von Tech nologie und Nach haltig keit.<br />

Wissenschaftliche und technische Innovationen eröffneten neue Chancen, etwa<br />

bei Trinkwasseraufbereitung, erneuerbaren Energien, nachhaltiger Produk tion<br />

oder verbesserten Gesundheitsdiensten.<br />

Im Mittelpunkt der Diskussion standen Strategien, um der Probleme Herr zu<br />

werden, die die ältere Generation den Jungen hinterlasse. Kreibich benannte drei:<br />

1. Effizienzstrategien, d. h. Reduzierung unseres energetischen und stofflichen<br />

Ressourcenverbrauchs; 2. Konsistenzstrategien, d. h. ausschließliche Nutz ung<br />

regenerativer Energien und nachwachsender Rohstoffe; 3. Suffizienz stra te gien,<br />

d. h. zügige Anpassung ökonomischer, ökologischer und technologischer Ent -<br />

wicklungen.<br />

»Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet<br />

mehr als Kinder und Karriere. In <strong>Zukunft</strong> werden<br />

weit mehr Menschen als heute zum Beispiel<br />

ältere Angehörige pflegen. Die Voraussetzungen<br />

für Solidarität zwischen allen Generationen<br />

müssen durch Familienpolitik und Unternehmen<br />

weiter verbessert werden.«<br />

Pia Leson, Studentin der<br />

Politikwissenschaft aus Bonn<br />

»Die Politik muss sich angesichts<br />

des demografischen Wandels darum<br />

kümmern, dass die Renten auch<br />

in <strong>Zukunft</strong> gesichert sind.«<br />

Gina Commander, Beamtin beim<br />

Landschaftsverband Rheinland


36 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />

Workshop 5<br />

Leben im Alter und Gesundheitsforschung: Können wir ewig leben?<br />

Referenten: Dr. Sandra Blaess, Biologin, Universität Bonn und<br />

Jürgen Wolters, Sozialwissenschaftler, BKK Bundesverband, Initiative Gesundheit und Arbeit<br />

Die Erwartungen der Gesellschaft an medizinische oder biologische Grund -<br />

lagenforschung sind hoch. Das gilt besonders dann, wenn Hoffnungen auf<br />

eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und der Bekämpfung bislang<br />

unheilbarer Krankheiten bestehen. Anhand des Beispiels der Parkinson-<br />

Therapie erläuterte Dr. Blaess die Chancen der Grundlagen forschung aus<br />

Sicht der Entwicklungsbiologie.<br />

Nach Meinung von Jürgen Wolters müssen bei der Anwendung biotechnologischer<br />

Grundlagen for schung in Prä ven tion und Therapie ethische Kriterien be -<br />

rücksichtigt werden. Solche Kriterien seien vor allem:<br />

Menschenwürde, d. h. Einzel perso nen dürften nicht zugunsten des allgemeinen<br />

Wohls geopfert oder bewusst benachteiligt werden.<br />

»Welche Therapien und Medika men te werden<br />

wir in <strong>Zukunft</strong> entdecken? Welche Krankheiten<br />

werden wir 2025 heilen können?<br />

Das interessiert mich vor allem.«<br />

Sandra Millbret, Schülerin, will nach dem Abitur<br />

eine Ausbildung zur Hörgeräte-Akustikerin<br />

machen<br />

Gerechtigkeit, d. h. neue Erkennt nis se dürften nicht vorrangig Einze l interessen<br />

befriedigen, der Zugang zu ihnen muss allgemein sein und dem Ausgleich<br />

ungerecht verteilter Ge sund heitschancen dienen.<br />

Gesamtnutzen, d. h. Erkenntnisse sollten die Gesundheit der Gesamt -<br />

bevölkerung heben bzw. allen Betrof fenen nutzen.<br />

Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage nach dem persönlichen Ge -<br />

sundheitsverhalten der Teilnehmer, wenn sie, etwa mittels genetischer Prog -<br />

nostik, über persönliche Krank heitsrisiken aufgeklärt würden. Würden sie ihr<br />

Verhalten präventiv verändern? Wollen sie entsprechende Informationen<br />

über haupt bekommen? Die einen hielten Prognosen über schwere und unheilbare<br />

Krankheiten für eine psychische Be lastung und eine Minderung des Le -<br />

bensgenusses. Sie hatten folglich kein Interesse an Aussagen über genetische<br />

Prädis positionen. Andere Teilnehmer sahen die Möglichkeit, sich auf un aus -<br />

weichliche Erkrankungen innerlich einzustellen und ihr Leben daher be -<br />

wusster genießen zu können.<br />

Einhellige Meinung dagegen: Durch Prävention und Gesund heitsförderung<br />

solle Krankheiten generell vorgebeugt werden. Eine möglichst gesunde Le -<br />

bensweise sei unabhängig von jeder Prognostik anzustreben. Im Übrigen sei<br />

ein notwendiger Teil jeder Therapie schwerer Erkrankungen eine umfassende<br />

psychische und menschliche Unterstützung durch Ärzte und Angehörige. Eine<br />

interdisziplinäre Medizin müsse diese sozialen Faktoren zwingend mit einbeziehen.


37<br />

Workshop 6<br />

Wer macht die <strong>Zukunft</strong>: Herausforderungen an die Technik und den<br />

Ingenieurberuf für die Gesellschaft von morgen<br />

Referenten: Kathrin Sevink, Verein Deutscher Ingenieure,<br />

Tim Schüürmann, <strong>Zukunft</strong> durch Innovation und Julia Hugen schütt, Siemens AG<br />

Zum Auftakt stellte Tim Schüürmann die Initiative „<strong>Zukunft</strong> durch Innovation“<br />

(zdi) des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Techno -<br />

logie des Landes Nordrhein-Westfalen vor, die mit verschiedenen Maßnahmen<br />

den wissenschaftlichen Nachwuchs im MINT-Bereich (Mathematik, Informa -<br />

tik, Naturwissenschaften, Technik) fördert (www.innovation.nrw.de/zdi/index.php).<br />

Um wettbewerbsfähig bleiben und den Herausforderungen des demografischen<br />

Wandels begegnen zu können, muss unsere Wissens gesellschaft For -<br />

schung und Entwicklung fördern, um nachhaltiges Wachstum zu erreichen.<br />

Dies ist nur möglich, wenn Deutschland über eine ausreichende Anzahl an<br />

Fachkräften im MINT-Bereich verfügt. Tatsächlich weist das Land einen gravierenden<br />

Ingenieur- und Fachkräftemangel auf (ca. 20.000 offene Stellen allein<br />

in Nordrhein-Westfalen), der sich negativ auf die <strong>Zukunft</strong>s themen Umwelt,<br />

Energie, Mobilität, Gesundheit und Kommunikation auswirke.<br />

Julia Hugenschütt, gelernte Industriekauffrau und Betriebswirtin, erwarb<br />

berufsbegleitend ein Diplom als Wirtschaftsingenieurin. Sie unterstrich die<br />

große Bandbreite des Ingenieurberufes: Forschung und Entwicklung, Kon -<br />

struktion, Produktion, Vertrieb, Projektleitung oder Projektausführung sind<br />

mögliche Aufgabenbereiche. Das Berufsbild eröffne damit Zugänge für<br />

Menschen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeitsausprägungen und<br />

beruflichen Interessen. Neben Fachwissen seien Soft Skills gefragt. Zudem<br />

sei der Ingenieurberuf entgegen mancher Vorurteile sehr teamorientiert und<br />

interdisziplinär.<br />

In der Diskussion wurde deutlich, dass bei den Teilnehmern ein eher starres<br />

Bild des Ingenieurberufes vorherrschte. Alle Referenten ermutigten zur Auf -<br />

nahme eines ingenieurwissenschaftlichen Studiums, „auch wenn man kein<br />

Mathe- und Physikgenie in der Schule war.“<br />

»Wir brauchen in <strong>Zukunft</strong> flexiblere<br />

Arbeitszeitmodelle, bei denen Männer<br />

und Frauen Beruf und Familie besser<br />

miteinander vereinbaren können.«<br />

Michael Letellier, Schüler aus Eschweiler


38 Dieter Gorny | »Kreativität ist soziale Phantasie«<br />

Dieter Gorny, derzeit unter anderem Direktor für Kreativwirtschaft der<br />

Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 beschloss die Campus-<br />

Veranstaltung mit einem motivierendem Redebeitrag, der für Mut zur<br />

Kreativität und das Schaffen der dafür nötigen Freiräume plädierte.<br />

Ich höre Ihrer Debatte nun seit einiger Phantasie <strong>–</strong> vor allem etwas damit zu<br />

Zeit zu und habe auch mit einigen tun, was Sie als Einzelne bewegen<br />

Leuten draußen gesprochen. Dabei ist können, und inwieweit Sie es hinkriegen,<br />

andere dabei mitzunehmen. Das<br />

mir etwas aufgefallen, was die Kon -<br />

ferenz oben auf dem Petersberg von wird darüber entscheiden, wo sich<br />

Ihnen hätte lernen können: Sie diskutieren<br />

sehr konkret. Die Themen, über Da geht es dann zunächst einmal um<br />

unsere Gesellschaft hinbewegt.<br />

die Sie in Ihren Workshops gesprochen<br />

haben, fanden sich dort oben den: Wie sollen junge Menschen <strong>–</strong><br />

Bildung und um Fragen wie die folgen-<br />

eher allgemein wieder. Als wir heute jetzt mal ganz patriotisch gesprochen<br />

Morgen aus dem Fenster schauten, da <strong>–</strong> in NRW aufwachsen? Welche Chan -<br />

reichte unser Blick gerade bis zur cen haben sie? Und welche Chancen<br />

Veranda. Dahinter nur Nebel. Ich sehe brauchen sie, damit sie nicht nur mündige<br />

Bürger dieses Landes werden,<br />

darin ein Sinnbild für unsere Tagung.<br />

Wir alle gucken im Moment gerade sondern sich auch <strong>–</strong> und das ist ein<br />

mal zehn Meter weit und bräuchten ganz wichtiger Punkt <strong>–</strong> in einem internationalen,<br />

mindestens in einem euro-<br />

eine Art kommunikativer Nebelhörner.<br />

Niemand blickt so richtig durch. Und päischen Kontext frei und überall mit<br />

Leute, die Ihnen sagen, dass sie es den gleichen Chancen bewegen können?<br />

Was müssen junge Menschen<br />

täten, sollten Ihnen verdächtig vorkommen.<br />

lernen, welche Talente brauchen sie,<br />

Ich wette, wenn dieser Kongress vor um ein erfülltes Leben führen zu können?<br />

Da werden seit PISA gerne große<br />

fünf Jahren stattgefunden hätte, dann<br />

wäre der Berufswunsch von Vielen Worte geschwungen und gewichtige<br />

Investmentbanker gewesen. Ich bin im Forderungen gestellt. Und doch scheinen<br />

wir nicht recht voran zu kommen.<br />

Jahr 2000 mit der Viva Media AG<br />

selbst an die Börse gegangen. Ich fand Dazu müssten wir nämlich viel mehr in<br />

es damals sehr spannend, wie der die Bildung investieren <strong>–</strong> finanziell,<br />

Kapitalmarkt funktioniert, vieles davon zeitlich, sozial und intellektuell.<br />

hat mich auch völlig verblüfft. Gerade Ich sagte schon, dass Sie nach meinem<br />

Eindruck konkret diskutiert<br />

an der Börse kommt man mit nackten<br />

Zahlen und kühler Berechnung nicht haben, das ist gut so, denn wir alle<br />

weit. Ich fand es immer hoch interessant,<br />

dass dort ein Begriff die zentrale konkretisieren. Man muss nicht immer<br />

müssen lernen, die Dinge besser zu<br />

Rolle spielt, der eigentlich gar nichts gleich „das System“ verändern oder<br />

mit Geld und ökonomischer Realität auf die neue Weltordnung warten. Es<br />

zu tun haben sollte <strong>–</strong> nämlich Phan - lohnt sich durchaus, auch in kleineren<br />

tasie. Für mich hat Phantasie <strong>–</strong> soziale Schritten darum zu kämpfen, die<br />

Dinge zum Besseren zu wenden.<br />

Manchmal wird man dabei an den<br />

Umständen scheitern. Manchmal war<br />

die Idee vielleicht einfach nicht gut<br />

genug. Dann muss man eben von<br />

vorne anfangen. In der Wirtschaft<br />

nennt man das Unternehmertum <strong>–</strong><br />

und lobt es allseits über den grünen<br />

Klee. Ich denke, man muss diesen<br />

Gedanken des Unternehmerischen,<br />

das, was die Amerikaner „Entrepre-<br />

neurs hip“ nennen, endlich auch im<br />

gesellschaftlichen Bereich verankern.<br />

Denken Sie bei „Innovation“ nicht nur<br />

<strong>–</strong> so wichtig die sind <strong>–</strong> an technische<br />

Erfindungen. Stürzen Sie sich ins<br />

soziale Unter nehmertum! Befördern<br />

Sie gesellschaftliche Innovationen.<br />

Wenn Sie von etwas überzeugt sind,<br />

dann sagen Sie sich und den anderen<br />

einfach: „Ich probiere das jetzt.“<br />

Innovation hat freilich eine unabdingbare<br />

Voraussetzung: Kreativität. Das<br />

hat keineswegs nur etwas mit Kunst,<br />

Musik oder Literatur zu tun.<br />

Wissenschaftliche Entdeckungen,<br />

technische Erfindungen, politische<br />

oder gesellschaftliche Impulse, all das<br />

braucht auch Kreativität. Und Kreati -<br />

vität, die Fähigkeit, aus bereits Be -<br />

kanntem etwas Neues zu schaffen,<br />

braucht Freiräume. Freiräume in der<br />

Bildung, die Sie rechts und links vom<br />

<strong>Wege</strong> schauen lassen, damit Sie sich<br />

ausprobieren können und keine reinen<br />

Fachidioten werden. Sie brauchen<br />

individuelle Freiräume, damit Sie die<br />

Chance haben herauszufinden, was<br />

Ihr Ding ist. Kreative Prozesse, und ich<br />

glaube, damit tun wir uns gesellschaftlich<br />

eher schwer, sind sehr individuell.<br />

Wir denken bisweilen, gewisse Kollek -<br />

tive würden durch Konsens tolle Dinge


39<br />

hervorbringen. Aber die „Fünfte“ ist<br />

nun mal von Beethoven. Nun ist sicher<br />

nicht jeder ein verkappter Beethoven<br />

oder Einstein. Doch wenn Sie künstlerisch<br />

oder kreativ tätig sind, wenn Sie<br />

Ihre individuelle Gestaltungskraft nutzen,<br />

dann haben Sie so oder so eine<br />

Art Werkanspruch.<br />

In unserer Diskussion oben, auf dem<br />

Petersberg, tauchte dieser Begriff<br />

ebenfalls auf, den ich ganz wichtig<br />

finde: Gestalten wollen! Wie mobilisiere<br />

ich den Willen, etwas Neues zu<br />

schaffen? Dabei ist es gar nicht unbedingt<br />

nötig, dass alles, was ich mir vornehme,<br />

in jedem Fall fertig wird. Es<br />

genügt zunächst, dass ich sage: „Ich<br />

gehe daran, ich will das gestalten!“<br />

Wenn ich mir aber Menschen wünsche,<br />

die fähig und bereit sind, so zu<br />

denken und zu handeln, dann reicht es<br />

nun mal nicht, über Verkürzung der<br />

Schulzeit, Turbo-Abitur, Schulstruk -<br />

turen und so weiter zu debattieren.<br />

Dann muss ich auch über die Inhalte<br />

reden. Über das, was ich da vermitteln<br />

will, und über die Art und Weise, wie<br />

ich es vermitteln will. Und ich muss<br />

über die Köpfe, über die Talente reden,<br />

die ich erreichen will. Denn kreativ sein<br />

zu wollen, das ist mehr als nur sein<br />

Abitur zu machen und gute Chancen<br />

auf dem Arbeitsmarkt zu haben.<br />

Wie aber schafft man diesen Quanten -<br />

sprung von guter Ausbildung zu mehr<br />

Innovation. Klar ist: Wenn wir eine<br />

Umgebung schaffen, in der Menschen,<br />

die etwas vorhaben, sich wohlfühlen,<br />

wo sie Netzwerke bilden und kommunizieren<br />

können, dann entsteht Inno -<br />

vation. Ein ganz wichtiges Thema, das<br />

sehr viel mit den Bedingungen von<br />

Innovation und Kreativität zu tun hat,<br />

ist die Urbanisierung. Wie anspruchsvoll<br />

die Bedingungen sind, was ein<br />

„Standort“ alles bieten muss, damit<br />

die Kreativen kommen, etwas auf die<br />

Beine stellen und dann auch bleiben,<br />

wird allerdings noch zu wenig und von<br />

zu wenigen verstanden. Urbanisierung<br />

heißt: Die wirtschaftlichen Kraftfelder<br />

werden sich in <strong>Zukunft</strong> in großen urbanen<br />

Flächen entwickeln. Nicht mehr in<br />

den Städten, sondern in Großre gio -<br />

nen. In NRW ist das beispielsweise die<br />

Rhein-Ruhr-Schiene. Alleine das Ruhr -<br />

gebiet hat 5,5 Millionen Einwohner, im<br />

Bereich entlang des Rheins, mit Groß -<br />

städten wie Düsseldorf und Köln, kommen<br />

noch einmal knapp fünf Millionen<br />

Menschen dazu. Diese Regionen stehen<br />

aber beim Werben um die Men -<br />

schen mit <strong>Ideen</strong>, Plänen, Träumen und<br />

kreativen Energien im internationalen<br />

Wettbewerb. Da spielt die Musik nicht<br />

zwischen Bonn und Dortmund oder<br />

zwischen Köln und Düsseldorf, sondern<br />

zwischen dem Ballungsraum hier<br />

und europäischen Großräumen wie<br />

Amsterdam, Barcelona, Paris und <strong>–</strong><br />

trotz Finanzkrise <strong>–</strong> London.<br />

Unterschätzen Sie diese europäische<br />

Dimension nicht. Seit Einführung des<br />

Euro und dem Fall der Grenzkontrollen<br />

nach dem Schengen-Abkommen wissen<br />

Sie selbst am Besten, wie schnell<br />

Sie da sind. Wie schnell Sie überprüfen<br />

können, ob das, was Sie sich von<br />

der Politik hier wünschen, nicht eher<br />

woanders passiert. Und dann merken<br />

Sie zum Beispiel sehr schnell, wie<br />

offen man in den Niederlanden auf<br />

Menschen zugeht, die zur viel be -<br />

schworenen „kreativen Klasse“ gehören.<br />

Sie erleben, wie sehr man sich<br />

dort darum bemüht, eine Atmosphäre<br />

und eine städtebauliche Umgebung zu<br />

schaffen, bei denen solche Leute das<br />

Gefühl haben: Hier kann ich nicht nur<br />

vernünftig arbeiten, hier kann ich nicht<br />

nur Innovationen produzieren, hier<br />

kann ich mich auch wohl fühlen. Und<br />

was besonders wichtig für das soziale<br />

Phänomen Kreativität ist: Hier finde<br />

ich Gleichgesinnte.<br />

Urbane Gesellschaften entwickeln sich<br />

vor dem Hintergrund dreier prägender<br />

Faktoren. Zum ersten gibt es einen<br />

ökonomischen Faktor: die Globali sier -<br />

ung. Zweitens den technologischen<br />

Faktor der Digitalisierung. Und drittens<br />

einen anthropologischen Faktor,<br />

nämlich die unaufhaltsam fortschreitende<br />

Individualisierung der Gesell -<br />

schaft. Über die ökonomischen Ver -<br />

schiebungen und Verwerfungen im<br />

Rahmen der Globalisierung will ich<br />

mich jetzt nicht verbreiten. Und das<br />

Thema Digitalisierung und seine Fol -<br />

gen muss ich Ihnen, der ersten Ge -<br />

nera tion von „Digital Natives“, gewiss<br />

nicht erklären. Klar, die Digita lisierung<br />

macht es zum Beispiel möglich, dass<br />

Sie sich Filme auf Ihrem iPod ansehen.<br />

Aber erst Ihre Wünsche als Konsu -<br />

men ten, nämlich jeden Film, und jedes<br />

Musikstück genau dann und genau<br />

dort verfügbar zu haben, wann, wo<br />

und wie Sie es wollen, die bringen die<br />

Geschäftsmodelle der Film- und<br />

Musikindustrie durcheinander. Das<br />

erfordert allseits ein Umdenken. Da<br />

müssen Märkte ganz neu verstanden<br />

und Abläufe in Produktion, Marketing<br />

oder Vertrieb völlig umgeworfen werden.<br />

Auch das sind hochgradig kreative<br />

Aufgaben. Um die bewältigen zu<br />

können, muss jeder sozusagen ein<br />

bisschen Soziologe sein. Man muss


40 Dieter Gorny | »Kreativität ist soziale Phantasie«<br />

nämlich verstehen, wie und warum die<br />

Gesellschaft sich so stark verändert<br />

hat, und was das für Auswirkungen auf<br />

das Verhältnis von Unternehmen und<br />

Kunden hat. Gerade im Medien be -<br />

reich, bei Zeitungen und Zeitschriften,<br />

neuerdings beim Thema E-Book, noch<br />

deutlicher im Musik- und im Film ge -<br />

schäft bekommen Sie diese Wechsel -<br />

wirkungen sehr stark mit. Technisch<br />

hat das alles mit der rasanten Ent -<br />

wicklung der Speichermedien und der<br />

schnellen Breitbandkommunikation zu<br />

tun, ökonomisch auch damit, dass<br />

diese Dinge heute sehr preiswert verfügbar<br />

sind. Was man aber kapieren<br />

muss, ist, dass man ohne Inhalte keine<br />

Breitbandzugänge verkaufen kann <strong>–</strong><br />

und dass die Inhalte wiederum abhängig<br />

sind von Leuten, die kreativ sind.<br />

Kreativität wird in unserer Gesell -<br />

schaft ja meist mit Kunst in Zu sam -<br />

men hang gebracht. Und Kunst wird<br />

dann überwiegend ornamental ge -<br />

dacht. Hilmar Hoffmann, der legendäre<br />

Frankfurter Kulturdezernent, hat<br />

einmal gesagt: „Kultur und Kunst sind<br />

dazu da, den Staub des Alltags von<br />

der Seele zu waschen.“ Soll sagen:<br />

Tagsüber schlagen Sie sich mit ihrem<br />

tyrannischen Chef, mit missgünstigen<br />

Kollegen oder unzufriedenen Kunden<br />

herum, am Abend gönnen Sie sich<br />

etwas und gehen in die Oper. Da kommen<br />

Sie dann sauber und innerlich<br />

aufgeräumt raus. Und am nächsten<br />

Tag dürfen Sie sich im Sorgenpfuhl<br />

des Alltags wieder schmutzig machen.<br />

Das ist natürlich Quatsch. Kultur ist<br />

die Grundlage persönlicher und gesellschaftlicher<br />

Identifikation. Kultur hat<br />

immer etwas mit den kreativen An -<br />

triebskräften zu tun, ohne die eine<br />

Gesellschaft und eine Wirtschafts -<br />

ordnung auch jenseits von Kunst,<br />

Literatur oder Musik keinen Meter<br />

weit kommt. Andernorts in Europa<br />

weiß man das längst. Da hat man<br />

begriffen, dass eine lebendige Kunst -<br />

szene, dass interessante Theater oder<br />

eine schrille Off-Szene nicht hauptsächlich<br />

deshalb ein Standortfaktor<br />

sind, weil sich da gestresste Anwälte<br />

und Ärzte den „Staub des Alltags“<br />

abwaschen, weil Werber gern mal in<br />

eine abgefahrene Kneipe gehen oder<br />

weil große Ausstellungen viele Touris -<br />

ten anlocken. Man hat begriffen, dass<br />

diese und andere Dinge die Wirtschaft<br />

voranbringen, weil Menschen in einem<br />

solchen Umfeld auf <strong>Ideen</strong> kommen,<br />

weil sie dann Lust haben, die Gesell -<br />

schaft, die sie als attraktiv erleben, mit<br />

ihren <strong>Ideen</strong> voranzubringen, und weil<br />

nur in einem Klima lebendiger Kreati -<br />

vität wiederum jene Bildung und jene<br />

Wissenschaft gedeihen, die diese<br />

<strong>Ideen</strong> ermöglichen. Das ist alles andere<br />

als ornamental. Das ist für eine<br />

prosperierende Gesellschaft existenziell!<br />

Auch wenn die Wirtschaft <strong>–</strong> gerade<br />

hier bei uns <strong>–</strong> die aufgeräumten Le -<br />

bensläufe immer noch bevorzugt: In<br />

einer kreativen Gesellschaft geht nicht<br />

immer alles seinen geraden Gang.<br />

Viele von Ihnen werden den Film<br />

„Matrix“ kennen. Entstanden ist er im<br />

Kopf von zwei ziemlich durchgeknallten<br />

Brüdern, Larry und Andy Wach o w -<br />

s ki, die sich viel mit dem Spiel „Dung-<br />

e ons & Dragons“ und mit Plat ons<br />

Höhlengleichnis beschäftigten, bevor<br />

sie ihr Studium hingeschmis sen<br />

haben, um Marvel-Comics und Dreh -<br />

bücher für Low-Budget-Horrorfilme zu<br />

schreiben. Und dann haben sie diese<br />

Idee für einen der erfolgreichsten und<br />

stilbildendsten Filme der letzten zwanzig<br />

Jahre. Da muss man schon ziemlich<br />

weit voraus denken können, damit<br />

die Leute das sehen wollen, wenn es<br />

endlich fertig ist. Eine Kulturgesell -<br />

schaft lebt davon, dass sie beides zu -<br />

sammen bringt: Die Fähigkeiten, die<br />

man braucht, um zum Beispiel ein toller<br />

Ingenieur zu werden <strong>–</strong> und gleichzeitig<br />

die Offenheit, von den Künstlern<br />

zu lernen. Und immer als Erstes zu<br />

fragen: Was treibt dich an?<br />

Der Komponist Arnold Schönberg sag -<br />

te: „Kunst kommt nicht von Können,<br />

sondern von Müssen!“ Lassen Sie das<br />

mal sacken! Dann verstehen Sie besser,<br />

was es mit Kreativi tät, dem Willen<br />

zur Gestaltung, auf sich hat. Ich glaube,<br />

dass wir als Ge sellschaft gut daran<br />

täten, Sie zu er muntern, diesen Willen<br />

herauszubilden. Wir müssen darum<br />

kämpfen, und das sollten Sie auch<br />

tun, dass Sie die Freiräume bekommen,<br />

um Wollen zu können. Wenn sie<br />

an die Wachowski-Brüder denken,<br />

dann stehen am An fang einer wegweisenden<br />

Idee eben nicht immer Fleiß,<br />

Disziplin, gute Noten und ein fester<br />

Lehrplan. Deshalb müssen wir in der<br />

Bildung darauf achten, dass Indivi du -<br />

alität, persönliche Stärken, aber auch<br />

die Schrullen eines jeden mehr Raum<br />

bekommen. Damit Sie und sie <strong>–</strong> also<br />

Sie selbst wie auch die Stärken und<br />

die Schrullen <strong>–</strong> sich besser entfalten<br />

können. Und damit Sie später das<br />

Gefühl haben, dass Sie hier nicht nur<br />

eine gute Ausbildung bekommen<br />

haben, sondern dass es ihnen Spaß<br />

macht, hier zu leben. Nur dann werden<br />

Sie nämlich bleiben.


41<br />

Das ist für Nordrhein-Westfalen,<br />

genauer: das Ruhrgebiet, leider ein<br />

großes Problem. Hier wird zwar auch<br />

viel in die Kultur investiert, nicht nur in<br />

neue Opern- und Konzerthäuser oder<br />

in die Kulturhauptstadt RUHR.2010.<br />

Und doch ist das eine Region, deren<br />

Bevölkerung schneller schrumpft und<br />

altert als der Rest der Republik. Was<br />

heißt: Sie gehen weg! Wenn wir nicht<br />

schleunigst herausfinden, warum so<br />

viele junge Menschen weggehen, wenn<br />

wir es nicht schaffen, dass auch wieder<br />

mehr Leute sagen: „Da will ich<br />

hin!“, dann werden wir verlieren. Und<br />

da geht es nicht nur um Arbeitsplätze<br />

und tolle Einkommen. Natürlich ziehen<br />

viele Leute nach München, weil es da<br />

gut bezahlte Jobs gibt. Aber es gehen<br />

eben auch viele Leute nach Berlin, das<br />

bekanntlich „arm, aber sexy“ ist. Da<br />

gibt es vieles, aber sicher nicht an erster<br />

Stelle viele gut bezahlte offene<br />

Stellen.<br />

Für das Projekt Kulturhauptstadt<br />

RUHR.2010 habe ich an jede Tür im<br />

Revier geklopft und versucht, den<br />

Verant wort lichen klarzumachen: Ihr<br />

könnt nicht immer nur an die Industrie<br />

denken. Eben saß ich neben Herrn<br />

Großmann, dem Chef von RWE. Ich<br />

habe ihm versprochen: Jedes Mal,<br />

wenn ich das künftig sage, verneige<br />

ich mich mit größtem Respekt vor der<br />

industriellen Kapazität Nordrhein-<br />

Westfalens. Ja, wir können froh sein,<br />

dass wir so viel Industrie haben!<br />

Anders als zum Beispiel die Engländer,<br />

die es zugunsten der Finanzindustrie<br />

fast aufgegeben haben, noch etwas<br />

herzustellen, was man auch anfassen<br />

kann. Aber diese Arbeitsplätze in der<br />

Industrie werden sich eben auch nicht<br />

mehr vermehren. Das heißt: Wir brauchen<br />

andere Märkte, neue Leitmärkte.<br />

Und diese neuen Leitmärkte sind<br />

getrieben von kreativen Potentialen.<br />

Bei uns gibt es leider immer noch diesen<br />

Bruch in der Debatte: Hier ist die<br />

Industrie <strong>–</strong> dort ist die Kultur. Kultur<br />

ist das, was der Staat bezahlt, und auf<br />

der anderen Seite wird das Geld verdient.<br />

Fahren Sie mal ein paar Kilo -<br />

meter weiter: In Holland lacht man<br />

über so was nur noch. Und in England,<br />

wo man momentan sonst wenig<br />

Grund zum Lachen hat, fand man diesen<br />

deutschen Antagonismus von<br />

Kultur und Wirtschaft schon immer<br />

komisch. Wir hinken in dieser Debatte<br />

der Entwicklung locker fünf Jahre hinterher.<br />

Ich habe länger in London gearbeitet,<br />

und was mich sehr begeistert<br />

hat war, wie die Kreativen dort ganz<br />

offen mit dem Anspruch auftreten, die<br />

Gesellschaft mit zu gestalten! Die melden<br />

sich laut und sagen „Hey, Ihr<br />

braucht Kreativität! Wir wissen, wie<br />

das läuft! Arbeitet also mit uns zu -<br />

sammen!“<br />

Wir haben heute viel über 2025 ge -<br />

sprochen. Das sind noch gut 15 Jahre.<br />

Ich bin jetzt 55, dann bin ich 70! Sie<br />

sind heute 18, 20, 25 Jahre alt. 2025<br />

sind sie Mitte, Ende Dreißig. Das heißt:<br />

Dann sind Sie am Ruder! Und ich bin<br />

eine Art Pop-Rentner. Deshalb mein<br />

Plädoyer: Seien Sie nicht zu be schei -<br />

den. Äußern Sie nicht nur Wünsche<br />

und Vorschläge an die Politik. Mischen<br />

Sie sich ein! Sie sind die treibende<br />

Kraft für die <strong>Zukunft</strong> dieses Landes,<br />

der ganzen Republik, ja ganz Europas.<br />

Wir müssen über die verschiedensten<br />

Bereiche hinweg miteinander kommunizieren,<br />

und zwar horizontal wie vertikal.<br />

Politiker sollen nicht nur mit Poli -<br />

tikern reden <strong>–</strong> und vielleicht noch mit<br />

Leuten aus Verbänden oder Medien,<br />

die sich selbst für die besseren Poli -<br />

tiker halten. Stattdessen muss es zu<br />

horizontalen Debatten kommen zwischen<br />

Politik, Wirtschaft, Wissen -<br />

schaft, Kunst und Kultur. Das gleiche<br />

gilt für die vertikalen Kommuni ka ti -<br />

ons stränge. Meistens hocken die<br />

Alpha-Männchen und -Weibchen zwischen<br />

45 und 65 zusammen. Dabei<br />

täte es manchmal ganz gut, wenn<br />

auch die Leute über 70 mit am Tisch<br />

säßen und ihre Erfahrung beisteuerten.<br />

Und gegenüber müssten Sie sitzen!<br />

Damit Sie morgen nicht bloß ausbaden,<br />

was wir heute anrichten. Wenn<br />

wir diesen umfassenden Dialog hinkriegen,<br />

dann können wir die <strong>Zukunft</strong><br />

gestalten. Und wenn es, wie heute auf<br />

dem Berg, allzu neblig ist, dann nehmen<br />

wir uns bei der Hand und tasten<br />

uns gemeinsam voran. Wer als erster<br />

wieder Sicht hat, der tutet ins Nebel -<br />

horn und zieht die anderen mit.<br />

Irgendwann hebt sich der Nebel auch<br />

wieder. Und wenn wir uns dann alle<br />

ehrlich in die Augen schauen können,<br />

dann haben wir eine Chance, 2025 in<br />

einer vernünftigen Gesellschaft zu<br />

leben, in der die Menschen sagen:<br />

„Mensch, warum sind wir darauf nicht<br />

früher gekommen!“


42<br />

Programm 5.3.2009<br />

Gästehaus Petersberg, Königswinter<br />

Festliches Abendessen aus Anlass<br />

der <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />

»<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong>: <strong>Wege</strong>, <strong>Ziele</strong>, <strong>Ideen</strong>«<br />

gegeben von<br />

Ministerpräsident des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Dr. Jürgen Rüttgers und Angelika Rüttgers<br />

Musikalische Umrahmung<br />

Jakov Zotov, Klavier<br />

Beethoven-Trio Bonn<br />

Mikhail Ovrutsky, Violine<br />

Grigory Alumyan, Violoncello<br />

Rinko Hama, Klavier<br />

Programm<br />

Beethoven Trio Bonn<br />

Ludwig van Beethoven:<br />

Allegro con brio aus dem Trio Op. 11<br />

Ansprache<br />

Ministerpräsident des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Dr. Jürgen Rüttgers<br />

Jakov Zotov<br />

Frédéric Chopin:<br />

Fantaisie Impromptu Op. 66<br />

Ansprache<br />

Friedensnobelpreisträger und<br />

ehemaliger Staatspräsident der<br />

Republik Polen<br />

Lech Wałęsa<br />

Beethoven Trio Bonn<br />

Franz Liszt:<br />

Liebestraum Notturno No. 3<br />

Moderation: Sabine Peper<br />

Programm 6.3.2009<br />

Gästehaus Petersberg, Königswinter<br />

10:00 Begrüßung<br />

Ministerpräsident des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Dr. Jürgen Rüttgers<br />

10:10 Keynote<br />

Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio<br />

„Lebensbedingungen zukünftiger<br />

Generationen“<br />

11:15 Forum 1 <strong>–</strong> Innovation<br />

Stärken stärken <strong>–</strong><br />

Neue Impulse für zukünftige<br />

Kompetenz?<br />

Moderation: Judith Rakers<br />

Forum 2 <strong>–</strong> Beschäftigung<br />

Dienstleistung und Produktion <strong>–</strong><br />

Schlüssel für zukünftigen<br />

wirtschaftlichen Erfolg?<br />

Moderation: Isabelle Körner<br />

Forum 3 <strong>–</strong> Lebensqualität<br />

Wie wollen wir 2025 leben?<br />

Moderation: Thomas Kausch<br />

Forum 4 <strong>–</strong> Wissen<br />

Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>?<br />

Moderation: Michael Kolz<br />

14:15 Schlaglichter aus den vier Foren<br />

15:30 Abschlussreferat<br />

Professor Dr. Peter Scholl-Latour<br />

16:00 Ausblick<br />

Ministerpräsident des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Dr. Jürgen Rüttgers<br />

16:30 Ende<br />

Programm 6.3.2009<br />

Konferenzzentrum Deutsche Post AG, Bonn<br />

10:00 Campusfrühstück<br />

10:45 Podiumsdiskussion<br />

„Leben heute <strong>–</strong> morgen <strong>–</strong> übermorgen“<br />

11:50 Begrüßung<br />

Ministerpräsident des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Dr. Jürgen Rüttgers<br />

12:15 Beginn der Workshops<br />

Workshop 1<br />

Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong><br />

Workshop 2<br />

Klimaschutz: Unsere Verantwortung<br />

für zukünftige Generationen<br />

Workshop 3<br />

Meine Arbeit - Deine Arbeit<br />

Vernetztes Leben und Arbeiten <strong>–</strong><br />

Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong><br />

Workshop 4<br />

Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie?<br />

Demografischer Wandel: Heute sorgen<br />

meine Eltern für mich, werde ich schon<br />

morgen für Sie sorgen müssen?<br />

Workshop 5<br />

Leben im Alter/Gesundheitsforschung<br />

Können wir ewig leben?<br />

Workshop 6<br />

Berufswahl heute <strong>–</strong> Arbeiten morgen<br />

Der Ingenieurberuf <strong>–</strong> Wer macht die<br />

<strong>Zukunft</strong>?<br />

14:30 Zusammenfassung der Ergebnisse der<br />

Workshops der Campusveranstaltung<br />

15:30 Vortrag<br />

Professor Dieter Gorny<br />

Lasst eure Kreativität zu <strong>–</strong><br />

<strong>Zukunft</strong> gestalten<br />

16:00 Schlusswort<br />

Minister Armin Laschet<br />

16:15 After-<strong>Convention</strong>-Party<br />

Michael Imhoff<br />

19:00 Ende der Veranstaltung


Herausgeber<br />

Der Ministerpräsident des<br />

Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Konzeption/Redaktion<br />

Staatskanzlei des<br />

Landes Nordrhein Westfalen, Düsseldorf<br />

Texte/Redaktion Regine Müller<br />

Dr. Enrik Lauer<br />

Natascha Plankermann<br />

Martina Peters<br />

Dr. Heribert Brinkmann<br />

Gestaltung bdax, düsseldorf<br />

Fotos<br />

Bernd Hegert<br />

Christian Hegert<br />

Christian Irrgang<br />

Ralph Sondermann<br />

Druck<br />

Bonifatius GmbH, Paderborn<br />

Die Daten und Fakten dieser Publikation wurden<br />

mit großer Sorgfalt recherchiert und geprüft<br />

(Stand Juni 2009).<br />

Dennoch kann aufgrund von eventuellen<br />

Veränderungen keine Gewähr für die Richtigkeit<br />

der Angaben übernommen werden.<br />

Die Redaktion ist in diesen Fällen für Hinweise<br />

dankbar.<br />

Drucklegung/Redaktion Juni 2009<br />

© 2009 Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen


Herausgegeben von der<br />

Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen<br />

Stadttor 1<br />

40219 Düsseldorf<br />

Telefon: +49 (0) 211 837 - 1237<br />

poststelle@stk.nrw.de<br />

www.nrw.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!