Lebensort Zukunft: Ziele, Wege, Ideen – Petersberger Convention ...
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<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong>:<br />
<strong>Ziele</strong>, <strong>Wege</strong>, <strong>Ideen</strong> <strong>–</strong> <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> 2009
<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong> - <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> 2009<br />
<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong><br />
Zusammenfassung der Veranstaltungen:<br />
<strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> und Campus am 5.3. und 6.3.2009 4<br />
Wie wollen wir im Jahr 2025 leben?<br />
Ministerpräsident Jürgen Rüttgers 8<br />
<strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong>, Königswinter<br />
Lebensbedingungen zukünftiger Generationen<br />
Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio 12<br />
Innovation | Forum 1<br />
Stärken stärken <strong>–</strong> neue Impulse für zukünftige Kompetenz? 18<br />
Beschäftigung | Forum 2<br />
Dienstleistung und Produktion <strong>–</strong><br />
Schlüssel für zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg? 20<br />
Lebensqualität | Forum 3<br />
Wie wollen wir 2025 leben? 22<br />
Wissen | Forum 4<br />
Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>? 24<br />
Ein starkes Stück Deutschland<br />
Professor Dr. Peter Scholl-Latour 26<br />
CAMPUS im Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />
Vom Ich zum Wir? <strong>–</strong> Die Renaissance des Sozialen 30<br />
Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong> | Workshop 1 32<br />
Klimaschutz: Unsere Verantwortung für zukünftige Generationen | Workshop 2 33<br />
Vernetztes Leben und Arbeiten: Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong> | Workshop 3 34<br />
Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie? | Workshop 4 35<br />
Demografischer Wandel und technische <strong>Zukunft</strong>sperspektiven:<br />
Können wir ewig leben? | Workshop 5 36<br />
Wer macht die <strong>Zukunft</strong>: Herausforderungen an die Technik | Workshop 6 37<br />
Kreativität ist soziale Phantasie<br />
Professor Dieter Gorny 38<br />
Programmübersicht der beiden Tage 42
4 <strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong> - <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />
„<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong>: <strong>Ziele</strong>, <strong>Wege</strong>, <strong>Ideen</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>Petersberger</strong> Konvention“: Unter diesem Motto<br />
hat am 6. März 2009 auf Einladung des Ministerpräsidenten<br />
Jürgen Rüttgers auf dem Bonner<br />
Petersberg der erste internationale <strong>Zukunft</strong>skongress<br />
stattgefunden. Der Kongress richtete<br />
sich an hochrangige Persönlichkeiten aus Politik,<br />
Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Er hatte zum<br />
Ziel, sich mit <strong>Zukunft</strong>sthemen Nordrhein-Westfalens<br />
zu beschäftigen und mögliche Lösungsansätze<br />
und Handlungsempfehlungen für die<br />
politischen und gesellschaftlichen Akteure des<br />
Landes zu diskutieren.<br />
In einer Zeit dramatischer Umwälzungen, die in<br />
der Finanzmarktkrise ihren gegenwärtig wohl<br />
sinnfälligsten Ausdruck findet, ist überdeutlich<br />
geworden, dass von den tektonischen Verschiebungen<br />
der globalisierten Welt niemand und<br />
kein Lebensbereich unberührt bleiben. Doch<br />
nicht nur die Krisen der Wirtschaft und der<br />
Finanzmärkte bewegen die Welt und verlangen<br />
nach neuen Antworten. Gleichzeitig verändern<br />
sich Gesellschaft und Umwelt in nicht weniger<br />
dramatischer Weise. Die Bevölkerungspyramide<br />
steht bald auf dem Kopf. Ein Klimawandel droht.<br />
All dies sind Faktoren, die unsere zukünftige<br />
Lebens- und Arbeitsweise entscheidend prägen<br />
und unser soziales Miteinander formen werden.<br />
Diesen Herausforderungen ist allein mit dem<br />
politischen Alltagsgeschäft und dem normalen<br />
gesellschaftlichen Diskurs nicht mehr angemessen<br />
zu begegnen.<br />
Die Landesregierung will daher die Diskussion<br />
mit Vordenkern über die brennenden Fragen<br />
unserer Zeit anstoßen: Wie können wir Impulse<br />
geben für den Beginn einer neuen Ära? Für eine<br />
zweite industrielle Revolution, bei der es auf<br />
Wissen, <strong>Ideen</strong>reichtum und Kreativität ankommt?<br />
Welche Beiträge können die Akteure<br />
dazu leisten? Welchen Herausforderungen müssen<br />
sich Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stellen?<br />
Leitmotive: Bildung und Integration<br />
Inhaltliches Kernstück des Kongresses waren<br />
vier voneinander unabhängige Foren, die nach<br />
der Begrüßung durch den Ministerpräsidenten<br />
und einem dichten Einführungsvortrag von<br />
Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio knapp<br />
zwei Stunden tagten. An die Impulsreferate und<br />
die Ausführungen der Podiumsteilnehmer<br />
schlossen sich lebhafte Diskussionen mit den<br />
Besuchern an. Anschließend wurden die Ergebnisse<br />
der Foren in einem abschließenden Plenum<br />
vor allen Kongressteilnehmern vorgetragen<br />
und zur Diskussion gestellt.<br />
Schon bald kristallisierte sich ein überraschendes<br />
Ergebnis heraus: Ungeachtet der Titelthemen<br />
verdichteten sich in allen vier Foren die<br />
Diskussionen auf Bildung und auf die Integration<br />
von Menschen mit Migrationshintergrund.<br />
Obwohl lediglich Forum 4 das Thema „Wissen“<br />
im Titel führte, wurde in allen Foren eine Reform<br />
und Verbesserung des Bildungswesens gefordert<br />
und als das zentrale <strong>Zukunft</strong>sthema<br />
schlechthin definiert. Die wirklich brennenden<br />
<strong>Zukunft</strong>sthemen eroberten sich die Aufmerksamkeit<br />
in den Foren sozusagen selbst und wurden<br />
dabei von unterschiedlichsten Perspektiven<br />
beleuchtet.
5<br />
Im Forum 1 <strong>–</strong> Innovation: Neue Impulse für zukünftige<br />
Kompetenz? <strong>–</strong> drängte das Thema<br />
Bildung rasch ins Zentrum. Keynotespeaker<br />
Professor Jürgen Kluge, Mitglied im Shareholder<br />
Council der Unternehmensberatung McKinsey,<br />
definierte die zukünftige Basis für die lebensnotwendige<br />
Fähigkeit zur Innovation in zehn<br />
Thesen und forderte eine Verbesserung der<br />
Ausbildung und Weiterbildung im Sinne lebenslangen<br />
Lernens, eine höhere Bildungsbeteiligung<br />
bislang bildungsferner Schichten sowie<br />
den Zuzug und Verbleib von ausländischen Top-<br />
Talenten.<br />
In Forum 2 <strong>–</strong> Beschäftigung: Dienstleistung<br />
und Produktion <strong>–</strong> stand für Keynotespeaker<br />
Professor Klaus F. Zimmermann, Präsident des<br />
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung,<br />
an zweiter Stelle die Erkenntnis, dass Nordrhein-<br />
Westfalen in Sachen Beschäftigungspolitik verstärkt<br />
auf Bildung und Weiterbildung setzen<br />
müsse, wenn es konkurrenzfähig bleiben wolle.<br />
Es müsse in <strong>Zukunft</strong> in die Schul- und Hochschulbildung<br />
massiv investiert werden, denn<br />
„Deutschland lebt vom Humankapital.“ Und das<br />
Humankapital drohe knapp zu werden, wenn<br />
nicht das Land in der <strong>Zukunft</strong> gezielt auf Zuwanderung<br />
setze und die Integration von Zuwanderern<br />
und ihren Kindern merklich verbessere.<br />
In Forum 4 <strong>–</strong> Wissen: Basis für die <strong>Zukunft</strong>? <strong>–</strong><br />
schließlich stellte der Rektor der Düsseldorfer<br />
Heinrich-Heine-Universität Professor Hans<br />
Michael Piper die Fragen nach Art und Qualität<br />
der Bildung in den Mittelpunkt. Als Begleiterscheinung<br />
erwünschten Spezialistentums drohten<br />
Bildungsmonokulturen, die jedoch krisenanfällig<br />
seien. Wichtig sei dagegen flexibles, fachübergreifendes<br />
Wissen. Neben erhöhter Aufmerksamkeit<br />
auf die Qualität der Lehre forderte<br />
auch Piper verstärkte Anstrengungen, mit der<br />
Bildung junge Menschen mit Migrationshintergrund<br />
in einem bildungsfernen Milieu künftig<br />
besser und vor allem früher zu erreichen.<br />
Investitionen in Schulsysteme komme daher<br />
letztlich größere Bedeutung zu als in Universitäten.<br />
Pipers Fazit, „wenn sich die deutsche<br />
Bevölkerung nicht im Bildungssystem wiederfindet,<br />
dann haben wir schlechte Chancen in einer<br />
globalisierten Welt“, kann somit als Fazit aller<br />
vier Foren gewertet werden.<br />
Nach einem ausgreifenden Abschlussreferat von<br />
Professor Peter Scholl-Latour, das den Blick in<br />
die <strong>Zukunft</strong> über die Landesgrenzen hinaus weitete,<br />
verabschiedete der Ministerpräsident die<br />
Teilnehmer mit der Ankündigung, den Kongress<br />
in modifizierter Form im nächsten Jahr zu wiederholen.<br />
Auch Forum 3 <strong>–</strong> Lebensqualität: Wie wollen wir<br />
2025 leben? <strong>–</strong> sprach gleich an prominenter<br />
erster Stelle die Themen Bildung und Integration<br />
an: der Politikwissenschaftler Professor<br />
Hubert Kleinert nannte als erstes von fünf Problemfeldern<br />
das Zusammenleben in einer multiethnischen<br />
Gesellschaft. Er forderte, das Bildungsniveau<br />
von Zuwanderern zu verbessern.<br />
Dazu gehören die gezielte frühkindliche Sprachförderung,<br />
der Ausbau von Ganztagsschulen<br />
und die Förderung von Bildungsmotivation und<br />
Erziehungskompetenz in Migrantenfamilien,<br />
etwa durch die Angebote von Familienzentren.<br />
Um auch die Meinung derjenigen zu hören, für<br />
die heutige <strong>Zukunft</strong>sthemen Lebensrealität werden,<br />
fand parallel zur <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />
im Konferenzzentrum der Deutschen Post AG in<br />
Bonn eine Campusveranstaltung statt. Dort diskutierten<br />
rund 300 junge Menschen aus ganz<br />
Nordrhein-Westfalen miteinander und mit zahlreichen<br />
Experten.
6 <strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong> - <strong>Ziele</strong> <strong>Wege</strong> <strong>Ideen</strong> - <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />
Auch hier bildete eine Podiumsrunde den Auftakt,<br />
die um die Themen Gesellschaft, Arbeit<br />
und Bildung kreiste. Alle Beteiligten wurden sich<br />
schnell einig, dass die in der <strong>Zukunft</strong> erwartete<br />
höhere Flexibilität von der jüngeren Generation<br />
endlich als Chance und nicht mehr als Bedrohung<br />
begriffen werden müsse. Größere Eigenverantwortung<br />
werde in der <strong>Zukunft</strong> keineswegs<br />
mehr im Widerspruch zu einer tief greifenden<br />
Renaissance des Sozialen stehen, soziale Netzwerke<br />
des Web 2.0 seien die Vorboten eines<br />
Wertewandels, der unter dem Motto stehe: „Wer<br />
teilt, gewinnt.“ Auch beim Thema Bildung<br />
herrschte im Plenum Einigkeit darüber, dass in<br />
der <strong>Zukunft</strong> noch viel stärker die Verschulung<br />
zugunsten der Förderung von Kreativität<br />
gestoppt werden solle.<br />
Der erste Workshop diskutierte nach einem<br />
Impulsreferat von Dr. Alfred Stulgies, Projektleiter<br />
Forschung & Entwicklung RWE mit etwa<br />
60 Teilnehmern kontrovers über das Thema<br />
„Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong>.“ Die abschließende<br />
TED-Abstimmung über den künftigen<br />
Energiemix kam zu einem überraschenden<br />
Ergebnis: 39% der Teilnehmer votierten für<br />
Kernenergie, die Hälfte für regenerative<br />
Energien.<br />
Workshop 2 thematisierte den „Klimaschutz:<br />
Unsere Verantwortung für zukünftige Generationen.“<br />
Rund 30 Teilnehmer diskutierten<br />
unter der Moderation von Dr. Winfried Häser,<br />
Deutsche Post AG, über Biokraftstoffe und<br />
erarbeiteten sechs Eckpunkte hierzu. Weitere<br />
Forderungen an die <strong>Zukunft</strong> betrafen andere<br />
Felder der Klima- und Energiepolitik.<br />
Workshop 3 mit dem Thema „Vernetztes Leben<br />
und Arbeiten: Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong>“ war<br />
mit rund 80 Teilnehmern der am besten besuchte<br />
Workshop. Diskutiert wurden nach einem<br />
Impulsreferat von Dr. Sven Hirschke, Deutsche<br />
Telekom AG, die kommunikativen Probleme bei<br />
der Zusammenarbeit von Menschen unterschiedlicher<br />
Lebens- und Kommunikationsstile,<br />
aber auch Fragen nach der Vereinbarkeit von<br />
Beruf und Privatleben. Die Teilnehmer forderten<br />
Raum für kreative Selbstverwirklichung bei der<br />
Arbeit und eine neue Kultur des Experimentierens,<br />
des möglichen Scheiterns und des Neustarts.<br />
Workshop 4 diskutierte die komplexe Thematik:<br />
„Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie?<br />
Demografischer Wandel und technische<br />
<strong>Zukunft</strong>sperspektiven,“ es referierten Professor<br />
Ralf E. Ulrich vom Institut für Bevölkerungs- und<br />
Gesundheitsforschung und Professor Rolf<br />
Kreibich vom Institut für <strong>Zukunft</strong>sstudien und<br />
Technologiebewertung. Angesichts bedrückender<br />
demografischer Zahlen wurde über längere<br />
Lebensarbeitszeiten und die gezielte Förderung<br />
technologischer Lösungen nachgedacht. Im<br />
zweiten Teil der Diskussion stand die künftige<br />
Lebensqualität unter dem Einfluss von Umweltbelastungen,<br />
Klimawandel und Artensterben im<br />
Mittelpunkt.<br />
Auch Workshop 5 hatte das Thema Alter im<br />
Fokus: „Leben im Alter und Gesundheitsforschung:<br />
Können wir ewig leben?“ Dr. Sandra<br />
Blaess, Biologin der Universität Bonn und<br />
Jürgen Wolters, Sozialwissenschaftler BKK<br />
Bundesverband, Initiative Gesundheit und<br />
Arbeit, referierten über die Chancen der Grundlagenforschung.<br />
In der Diskussion sprach sich<br />
das Plenum für Prävention und Gesundheitsförderung<br />
aus, forderte aber auch mehr interdisziplinäre<br />
Medizin und die Einbeziehung<br />
sozialer Faktoren.
7<br />
Workshop 6 warb offensiv für den Ingenieurberuf:<br />
„Wer macht die <strong>Zukunft</strong>: Herausforderungen<br />
an die Technik und den Ingenieurberuf<br />
für die Gesellschaft von morgen.“<br />
Den Abschluss der Campusveranstaltung bildete<br />
eine mitreißende Rede von Professor Dieter<br />
Gorny, dem Vorstandsvorsitzenden des deutschen<br />
Bundesverbandes der Musikindustrie. Er<br />
plädierte leidenschaftlich für mehr Kultur und<br />
Kreativität und forderte, endlich den hierzulande<br />
immer noch unversöhnlichen Antagonismus von<br />
Wirtschaft und Kultur aufzugeben. „Mischen Sie<br />
sich ein!“, appellierte Gorny offensiv auch an<br />
den Mut zu politischem Bewusstsein und schlug<br />
damit die Brücke zur Abendveranstaltung, die<br />
dem Kongress vorausgegangen war.<br />
Bereits bei dem festlichen Dinner am Vorabend<br />
wurde politischer und gesellschaftlicher Mut zur<br />
Veränderung selbst in ausweglosen Situationen<br />
gleich mehrfach beschworen. Ministerpräsident<br />
Jürgen Rüttgers und Lech Wałęsa, der Friedensnobelpreisträger<br />
und ehemalige Staatspräsident<br />
der Republik Polen, nahmen den „<strong>Lebensort</strong><br />
<strong>Zukunft</strong>“ aus unterschiedlichen Perspektiven in<br />
den Fokus. Die aktuelle Krise war für beide Redner<br />
der Anlass, Ursachenforschung zu betreiben<br />
und sehr grundsätzlich über das Thema <strong>Zukunft</strong><br />
nachzudenken.<br />
dabei sind. Das Zweite: Wir müssen alle, wirklich<br />
alle bei dieser zweiten industriellen Revolution<br />
mitnehmen.<br />
Das ist die große Aufgabe dieser Zeit. Auch in<br />
dieser Krise. Das können wir schaffen durch die<br />
Neubelebung der sozialen Marktwirtschaft. Wir<br />
müssen es schaffen, eine freiheitliche Marktwirtschaft<br />
zu verbinden mit einem solidarischen<br />
Sozialstaat. Wirtschaftliche Vernunft mit sozialer<br />
Gerechtigkeit.“<br />
Rüttgers weiter: „Die <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />
legt die Betonung auf unsere Gestaltungshoheit<br />
über die <strong>Zukunft</strong>. Wie wollen wir in der <strong>Zukunft</strong><br />
leben? Die Betonung liegt auf „wollen“. Die<br />
Betonung liegt darauf, dass man etwas wollen<br />
muss, wenn etwas Wirklichkeit werden soll.<br />
Das Beispiel Polens und der Lebensweg von<br />
Präsident Wałęsa zeigen, wie eine Überzeugung,<br />
wie ein Wille die Welt verändern kann.“<br />
Der Rückblick Wałęsas auf die Geschichte der<br />
Befreiung Polens von der sowjetischen Vorherrschaft<br />
zeigte, dass Mut und kreativer Widerstand<br />
die Voraussetzung zu einer positiven<br />
<strong>Zukunft</strong> sind.<br />
Über die <strong>Zukunft</strong>, so sagte Ministerpräsident<br />
Rüttgers, „muss gestritten werden, muss nachgedacht<br />
und geschrieben werden. Zwei Sachen<br />
sind klar: Wir müssen erreichen, dass wir in<br />
Nordrhein-Westfalen, ja dass wir in Deutschland<br />
bei der zweiten industriellen Revolution vorne
8 Ministerpräsident Jürgen Rüttgers | »Wie wollen wir im Jahr 2025 leben?«<br />
»Das Nachdenken darüber,<br />
was wir als Gesellschaft wollen,<br />
ist gerade in der Zeit der<br />
größten Weltwirtschaftskrise<br />
besonders wichtig.«<br />
Im Verlauf der ersten <strong>Petersberger</strong> Konvention<br />
ergriff Ministerpräsident Jürgen Rüttgers wiederholt<br />
die Gelegenheit, das Wort an Teilnehmer und<br />
Gäste zu richten. Der folgende Text beruht auf<br />
diesen Beiträgen.<br />
Die erste <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> ist ein<br />
Experiment. Und zwar ein ganz besonderes<br />
Experiment, das mir auch persönlich sehr am<br />
Herzen liegt. Sie wissen: Die Landesregierung<br />
hat eine <strong>Zukunft</strong>skommission eingesetzt, die<br />
zurzeit hart arbeitet. Es geht um eine der drängenden<br />
Fragen, die wir uns heute ganz offensiv<br />
stellen wollen: Wie wollen wir im Jahr 2025<br />
leben?<br />
Mir ist dabei vor allem die Betonung auf dem<br />
Wort „wollen“ wichtig. Denn es soll nicht darum<br />
gehen, heutiges Wissen fortzuschreiben und<br />
daraus linear zu folgern: So wird es in der <strong>Zukunft</strong><br />
sein. Dieses Verfahren kennen wir alle.<br />
Und wir alle wissen, dass die meisten <strong>Zukunft</strong>sprognosen<br />
nach dieser Methode dann gerade<br />
nicht zutreffen. Denn das<br />
Leben ist vielfältig. Aber ich<br />
denke, dass wir trotzdem<br />
nachdenken sollten über die<br />
Frage, was wir denn als Gesellschaft<br />
wollen, und zwar<br />
ganz bewusst mit der Betonung auf dem Wort<br />
„wollen“. Wir sollten uns fragen, welche <strong>Ziele</strong><br />
wir gemeinsam anstreben, wo das Ganze hingehen<br />
soll, wie wir die Kräfte bündeln können und<br />
wie in der <strong>Zukunft</strong> Gestaltung möglich ist. Das<br />
Nachdenken darüber, was wir als Gesellschaft<br />
wollen, ist gerade in der Zeit der größten Weltwirtschaftskrise<br />
besonders wichtig.<br />
Um die Richtung kreativer <strong>Zukunft</strong>svisionen zu<br />
illustrieren, die ich mir wünsche, möchte ich<br />
ihnen eine kleine Geschichte erzählen. Es ist<br />
die Geschichte meines Besuchs in Pittsburgh.<br />
Einer Stadt, die vor vielen Jahren eine ganz<br />
große Krise erlebt hat, durchaus vergleichbar<br />
jener, die wir vor einiger Zeit im Ruhrgebiet<br />
durchstehen mussten. Aber bei uns hat man<br />
seinerzeit den Versuch gemacht, die Folgen der<br />
Krise abzufedern. Bei uns hat man versucht,<br />
den Menschen zu helfen und das war gut und<br />
richtig so. In Pittsburgh aber kam die Krise von<br />
jetzt auf gleich. Die großen Werke schlossen<br />
ihre Pforten, die Mitarbeiter wurden entlassen<br />
und fanden sich ohne Vorwarnung auf der<br />
Straße wieder. Die Stadt war über Nacht mit<br />
der Frage konfrontiert: Wie werden wir mit dieser<br />
Situation fertig? Wie bekommen wir dieses<br />
existentielle Problem in den Griff?<br />
Genau diese Frage brachte mich nach Pittsburgh.<br />
Ich wollte mit den Menschen sprechen,<br />
die damals ein Konzept erarbeitet und umgesetzt<br />
haben, und ihrer Stadt eine völlig neue<br />
Perspektive und damit überhaupt eine <strong>Zukunft</strong><br />
gegeben haben.<br />
Meine erste Frage war: Was habt ihr gemacht,<br />
als die Tore geschlossen wurden und die Werke<br />
aufgehört haben zu arbeiten? Die Antwort war:<br />
Wir haben als erstes beschlossen, an der Universität<br />
fünf neue Lehrstühle für Modern Jazz<br />
einzurichten. Eine erstaunliche Antwort. Denn<br />
man kann sich ungefähr vorstellen, was sich ein<br />
Ministerpräsident in Deutschland anhören<br />
müsste, der mit einer solchen Antwort auf eine<br />
ökonomische Krise reagieren würde.<br />
Meine nächste Frage war: Welche <strong>Ziele</strong> habt ihr<br />
euch gesetzt? Die Antwort war: Wir wollten,<br />
dass die Menschen hier bleiben, dass sie nicht<br />
wegziehen und sogar möglichst noch mehr<br />
Menschen zu uns ziehen. Dafür haben wir
9<br />
zuerst versucht, zu verstehen, was Menschen<br />
eigentlich von einer Stadt und einer Region wollen.<br />
In Pittsburgh haben sie folgende Antworten<br />
erarbeitet, die verblüffend und doch einfach<br />
klingen: Menschen leben da, wo sie sich wohl<br />
fühlen. Und Menschen fühlen sich dort wohl, wo<br />
es Spitzenkultur, Spitzensport und grüne Parks<br />
gibt. Für die Richtigkeit dieser überraschenden<br />
Antworten spricht der Erfolg von Pittsburgh.<br />
Die Menschen dieser Stadt haben Pittsburgh<br />
gleichsam neu erfunden.<br />
Nordrhein-Westfalen muss gar nicht neu erfunden<br />
werden. Wir sind stark. Denn wir sind den<br />
anderen Bundesländern aufgrund unserer<br />
Geschichte in einer Fähigkeit voraus: Wir in<br />
Nordrhein-Westfalen haben die Bereitschaft zur<br />
Veränderung längst verinnerlicht. Wir sind<br />
stark. Uns in Nordrhein-Westfalen traf die gegenwärtige<br />
Finanz- und Wirtschaftskrise nicht<br />
unvorbereitet. Und zwar nicht etwa, weil wir als<br />
Einzige wussten, dass sie in dieser Macht und<br />
Stärke über uns hereinbrechen würde, sondern<br />
weil wir schon vorher wussten, dass wir in einer<br />
Zeit großer Veränderungen leben und diese bejahen.<br />
Natürlich, die Krise beginnt erst.<br />
Natürlich werden wir noch harte Zeiten erleben.<br />
Aber wahr ist auch, dass unser Land stark ist.<br />
Wahr ist auch, dass die Menschen gute Fähigkeiten<br />
haben. Jetzt kommt es darauf an, auf<br />
ihnen aufzubauen, Mut zu haben und sich<br />
etwas zuzutrauen. Zutrauen heißt für mich,<br />
dass uns klar sein muss: Wir schaffen es! Wir<br />
können das! Wir kriegen das hin! Und die Krise<br />
ist nicht das Ende aller Tage.<br />
Das Schlimmste ist doch, wenn man immer<br />
noch die Botschaft ausgibt: Keine Angst Leute,<br />
es ändert sich gar nichts! Denn Veränderung<br />
gehört zu unserem Leben. In der globalisierten<br />
Welt des 21. Jahrhunderts mehr denn je.<br />
Hier auf dem Petersberg aber wollen wir uns<br />
fragen: Veränderung wohin?<br />
In Nordrhein-Westfalen haben wir die Weichen<br />
bereits gestellt, und ich bin mir sicher, dass die<br />
Richtung stimmt. Wir haben trotz massiver<br />
Konsolidierungsbemühungen, die sehr erfolgreich<br />
waren <strong>–</strong> ohne die Krise<br />
hätten wir 2008 das erste<br />
Mal seit Jahrzehnten einen<br />
Haushaltsüberschuss erwirtschaftet<br />
<strong>–</strong> offensiv investiert<br />
in die <strong>Zukunft</strong>. Wir haben<br />
investiert in die Bildung und<br />
mehr als 7.000 Lehrerinnen<br />
und Lehrer zusätzlich eingestellt.<br />
Weitere 7.000 Lehrer<br />
blieben im System, obwohl<br />
man diese aufgrund der sinkenden<br />
Schülerzahlen nach<br />
den geltenden Berechnungsschlüsseln durchaus<br />
hätte entlassen können. Nicht weniger als<br />
14.000 Lehrer stehen in Nordrhein-Westfalen<br />
nun zusätzlich zur Verfügung. Der Unterrichtsausfall<br />
hat sich dadurch halbiert. Darüber hinaus<br />
haben wir massiv und konsequent in Ganztagsschulen<br />
und frühkindliche Bildung investiert.<br />
Es gibt jetzt 86.000 Plätze für Kinder<br />
unter drei Jahren, angefangen haben wir 2005<br />
mit 11.000. Und wir haben 16 neue, große Forschungszentren<br />
aufgebaut und die Oberbürgermeisterin<br />
von Bonn und der Landrat von Rhein-<br />
Sieg freuen sich darüber, dass das neue Nationale<br />
Forschungszentrum für Demenzkranke<br />
hier nach Bonn gekommen ist.<br />
Gerade in der Krise ist es wichtig, konsequent<br />
weiter in Bildung zu investieren. Wir müssen vor<br />
allem erneut kritisch darüber nachdenken:<br />
Welche Bildung brauchen wir in der <strong>Zukunft</strong>?<br />
Welche Bildung wollen wir in der <strong>Zukunft</strong>?<br />
Müssen wir nicht ein Schulsystem fordern, in<br />
dem keiner mehr sitzen bleibt, weil die Schule<br />
sich um jeden Einzelnen kümmern muss und<br />
»Nordrhein-Westfalen muss<br />
gar nicht neu erfunden werden.<br />
Wir sind stark. Denn wir<br />
sind den anderen<br />
Bundesländern aufgrund<br />
unserer Geschichte in einer<br />
Fähigkeit voraus: Wir in<br />
Nordrhein-Westfalen haben<br />
die Bereitschaft zur<br />
Veränderung längst verinnerlicht.<br />
Wir sind stark.«
10 Ministerpräsident Jürgen Rüttgers | »Wie wollen wir im Jahr 2025 leben?«<br />
»Wir können nur dann ein<br />
Industrieland bleiben, wenn<br />
unsere Industrie immer auf<br />
der Höhe der Zeit ist.«<br />
»Anders gesagt:<br />
wir müssen den Übergang zur<br />
Wissensgesellschaft schaffen<br />
und die zweite industrielle<br />
Revolution gestalten.«<br />
nicht einfach sagt: Pech gehabt? Was passiert<br />
bei uns mit denen, die es besonders schwer<br />
haben, die Hilfe brauchen, die vielleicht sogar<br />
schon hingefallen sind und die Hoffnung verloren<br />
haben? Gerade die Kinder, die es schwer<br />
haben, brauchen unsere<br />
Hilfe, ganz gleich, ob sie hier<br />
geboren sind oder ob sie aus<br />
anderen Ländern zu uns<br />
gekommen sind.<br />
Doch mit Bildung allein trotzen wir der Krise<br />
noch nicht. Wir müssen in Nordrhein-Westfalen<br />
auch unsere traditionellen Stärken pflegen und<br />
weiter entwickeln. Nordrhein-Westfalen ist ein<br />
Industrieland und ich behaupte: Auch nach der<br />
Krise wollen wir Industrieland sein.<br />
Diesen Satz finde ich eminent wichtig. Aus ihm<br />
muss eine Strategie zur Bewältigung der Krise<br />
folgen, die dabei über die Krise weit hinaus<br />
weist. Es ist entscheidend, jetzt über die Krise<br />
hinaus zu denken. Die Krise findet überall statt,<br />
in Berlin, in Düsseldorf und anderswo. Eine<br />
Frage stellt sich langfristig: Was wird aus all den<br />
Unternehmen mit Problemen?<br />
Wir können nur dann ein Industrieland bleiben,<br />
wenn unsere Industrie immer auf der Höhe der<br />
Zeit ist. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die<br />
Datenautobahnen müssen jetzt schnell gebaut<br />
werden, damit umgehend<br />
eine neue, zukunftsfähige<br />
Infrastruktur entsteht. Das<br />
ist übrigens genau so wie<br />
beim Bau der ersten Eisenbahnen,<br />
Autobahnen und<br />
Kanäle. Jetzt müssen die Datenautobahnen<br />
gebaut werden, die uns mit aller Welt und mit<br />
ungeheuren Informationsmengen in Echtzeit<br />
verbinden. Anders gesagt: wir müssen den<br />
Übergang zur Wissensgesellschaft schaffen und<br />
die zweite industrielle Revolution gestalten. Wir<br />
müssen erreichen, dass wir in Deutschland und<br />
in Nordrhein-Westfalen bei dieser zweiten industriellen<br />
Revolution vorne dabei sind. Gleichzeitig<br />
muss gelten: Wir müssen alle Menschen<br />
bei dieser zweiten industriellen Revolution mitnehmen.<br />
Wenn wir uns auf dem Petersberg gezielt fragen,<br />
wie wir denn in der <strong>Zukunft</strong> leben wollen,<br />
sollten wir nicht nur über Strategien und Technologien<br />
reden. Wir wollen in <strong>Zukunft</strong> Krisen<br />
nicht nur einfach überleben. Dann müssen wir<br />
uns aber auch fragen, wie es zu der gegenwärtigen<br />
Krise überhaupt kommen konnte.<br />
Wahrscheinlich sind wir deshalb heute in dieser<br />
schwierigen Lage, weil unser Wirtschaften die<br />
letzten Jahre von einem durch und durch materialistischen<br />
Geist geprägt war. Nur an das Geld<br />
wurde gedacht. Derjenige war der Star, der die<br />
größte Rendite hatte, selbst wenn sie betriebswirtschaftlicher<br />
Unsinn war. Das konnte nicht<br />
gut gehen. Ich habe schon in der Schule gelernt,<br />
dass reiner Materialismus immer ins<br />
Elend führt. Wenn nun der Materialismus keine<br />
Antwort ist, was sind denn dann die Werte, die<br />
unsere Gesellschaft tragen? Gibt es da etwas<br />
Gemeinsames? Oder sucht sich jeder seine<br />
Nische, seinen Verein und wir sind nichts mehr<br />
als eine Ansammlung isolierter Individualisten?<br />
Eine der Ursachen der Krise ist aus meiner<br />
Sicht die Tatsache, dass wir lange Zeit viel zu<br />
wenig über Werte geredet haben. Eine weitere<br />
Ursache ist die unbestreitbare Tatsache, dass<br />
unsere Gesellschaft immer mehr auseinanderdriftet.<br />
In Arm und in Reich, in Zugewanderte<br />
und Einheimische, in Ausgebildete und nicht<br />
Ausgebildete, in Ost und in West.
11<br />
Wie bringt man nun diese auseinander driftende<br />
Gesellschaft wieder zusammen? Meine Erfahrung<br />
ist, dass so etwas nur durch gemeinsame<br />
<strong>Ziele</strong> geht, auf die man sich auch gemeinsam<br />
einigt.<br />
Das ist auch die Botschaft von Lech Wałęsa, des<br />
einstigen Revolutionärs und späteren Staatspräsidenten<br />
der Republik Polen. Er hat die Welt<br />
verändert, weil er an etwas geglaubt hat. Er hat<br />
die Wiedervereinigung Deutschlands erst ermöglicht,<br />
indem er den Eisernen Vorhang angesägt<br />
hat. Nicht mit Gewalt, sondern mit dem<br />
Glauben an die Werte, die uns hier in Europa<br />
seit vielen Jahrhunderten zusammenhalten.<br />
Diese Werte des christlich-jüdischen Abendlandes<br />
und der Aufklärung vertragen sich weder<br />
mit dem Raubtierkapitalismus noch mit dem<br />
Auseinanderdriften der Gesellschaft. Wir müssen<br />
es schaffen, eine freiheitliche Marktwirtschaft<br />
mit einem solidarischen Sozialstaat zu<br />
verbinden. Und wirtschaftliche Vernunft mit<br />
sozialer Gerechtigkeit. Das sind die großen<br />
Aufgaben dieser Zeit. Das sind die großen<br />
Aufgaben in dieser Krise.<br />
Der Sinn dieser <strong>Convention</strong> ist, Menschen zum<br />
gemeinsamen Gespräch und Nachdenken zu<br />
animieren. Menschen, die aus ganz unterschiedlichen<br />
Bereichen unseres Landes kommen:<br />
Wissenschaftler, Unternehmer, Politiker,<br />
Berater, Beamte, Journalisten, Kulturschaffende,<br />
Frauen und Männer der Kirche und viele<br />
mehr. Dieses Nachdenken sollten wir über das<br />
Rheintal, über das Ruhrtal und über Westfalen<br />
und Lippe hinaus ausweiten.<br />
Man soll die Dinge nehmen wie sie kommen.<br />
Aber man sollte auch dafür sorgen, dass die<br />
Dinge so kommen, wie man sie nehmen möchte.<br />
Ich finde, ein schöner Satz. Denn er enthält<br />
auch ein bisschen Wehmut. Er erinnert uns<br />
daran, dass die Welt eben doch nicht planbar<br />
ist. Aber dass es deshalb umso wichtiger ist,<br />
dass es auch Werte gibt,<br />
die in unberechenbaren<br />
Zeiten Halt geben.<br />
Wenn man sich die Herausforderungen<br />
genauer anschaut,<br />
vor denen wir stehen,<br />
dann ist es nicht nur<br />
die Finanzkrise, die uns fordert und uns sicher<br />
noch die nächsten Jahre beschäftigen wird.<br />
Auch die Klima-Frage verlangt jeden Tag drängender<br />
nach Antworten. Das Problem des internationalen<br />
Terrorismus ist nach wie vor ungelöst.<br />
Wie wollen wir im Jahr 2025 leben? Das ist<br />
naturgemäß eine Frage vor allem an junge<br />
Leute. Diesem Umstand<br />
haben wir Rechnung getragen,<br />
indem wir parallel<br />
zu den Veranstaltungen<br />
auf dem Petersberg im<br />
Post Tower in zahlreichen<br />
Foren mit jungen Menschen<br />
diskutieren. Im<br />
nächsten Jahr werden wir<br />
beide Veranstaltungen<br />
noch stärker vernetzen.<br />
Das haben alle Teilnehmer<br />
angeregt. Wir wollen dieses Experiment fortführen.<br />
Daher sage ich: Wir treffen uns im kommenden<br />
Jahr wieder hier auf dem Petersberg.<br />
»Wenn nun aber<br />
Materialismus keine Antwort<br />
ist, was sind denn dann<br />
Werte, die uns gemeinsam<br />
in unserer Gesellschaft<br />
tragen?«<br />
»Wir müssen es schaffen,<br />
eine freiheitliche Marktwirtschaft<br />
mit einem solidarischen<br />
Sozialstaat zu verbinden.<br />
Und wirtschaftliche<br />
Vernunft mit sozialer<br />
Gerechtigkeit. Das sind die<br />
großen Aufgaben dieser Zeit.<br />
Das sind die großen<br />
Aufgaben in dieser Krise.«
12 Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio | »Lebensbedingungen zukünftiger Generationen«<br />
Udo Di Fabio, geboren am 26. März 1954 in Walsum, ist Jurist<br />
und seit 1999 Richter am Bundesverfassunggerichts. Darüber<br />
hinaus ist er mit viel beachteten Buchpublikationen einer breiteren<br />
Öffentlichkeit bekannt geworden.<br />
Auf dem Petersberg kreiste Di Fabio in seinem dichten Einführungsvortrag<br />
alle relevanten Themenfelder des Kongresses<br />
systematisch ein. Seine Forderung einer humanen und freiheitsgerechten<br />
<strong>Zukunft</strong> mündete in einem entschiedenen<br />
Plädoyer für eine bürgerlich selbstbestimmte Zivilgesellschaft.<br />
I.<br />
Ein <strong>Zukunft</strong>skongress ist kein einfaches Unternehmen, schon<br />
weil niemand die <strong>Zukunft</strong> kennt. Als ich in den sechziger<br />
Jahren eine nordrhein-westfälische Schule besuchte, entwarfen<br />
uns junge engagierte Lehrer den Horizont einer technisch<br />
entwickelten <strong>Zukunft</strong>: Unheilbare Krebserkrankungen werde<br />
es in zwanzig Jahren nicht mehr geben, dafür aber Kolonien<br />
auf dem Mars, die friedliche Nutzung der Kernenergie werde<br />
zu so niedrigen Strompreisen führen, dass die Anbringung<br />
von Stromzählern nicht mehr lohne. In den achtziger Jahren<br />
schmunzelte ich als junger Mann darüber, welch fantastischen<br />
Irrtümern man in der Vergangenheit doch erlegen war,<br />
während es in Wirklichkeit doch um ganz andere <strong>Zukunft</strong>sfragen<br />
ging. Jetzt wurde nämlich prophezeit, dass der saure<br />
Regen, mit hohen Schornsteinen kontinental verteilt, die<br />
schönen deutschen Wälder bis zum Jahr 2000 überwiegend<br />
vernichtet haben würde. Gewässer in Deutschland wären so<br />
biologisch tot wie die Emscher es schon war, die die Abwässer<br />
des Ruhrgebiets zu transportieren hatte. Etwa zur<br />
gleichen Zeit waren die „Klügeren“ unter uns davon überzeugt,<br />
dass alles Gerede von der deutschen Wiedervereinigung<br />
unrealistisch und sogar friedensgefährdend sei, weil<br />
man sich für alle sichtbare <strong>Zukunft</strong> mit dem Faktum der<br />
Teilung des Landes nun einmal abzufinden habe.<br />
Nachdem wir klugen, gut informierten und wissenschaftlich<br />
inspirierten Menschen die Weltfinanzkrise so wunderbar vorhergesehen<br />
haben, ist es an der Zeit, neue Prognosen zu wagen:<br />
Wie wird das einwohnerstärkste deutsche Land, wie wird<br />
Nordrhein-Westfalen im Jahr 2025 dastehen. Das sind nur<br />
noch 16 Jahre, das müsste also leicht zu erkennen sein, bestimmt<br />
leichter als hundert Jahre zuvor, wenn man vom Jahr<br />
1909 auf das Jahr 1925 geblickt hätte.<br />
II.<br />
Wie geht man vor? Auch wenn man kein professioneller <strong>Zukunft</strong>sforscher<br />
ist, wird man nach bestimmenden Trends fragen<br />
und sie fortschreiben, ihre Quantität, ihre Wirkungskraft<br />
in verschiedene Szenarien einbauen, Schwankungsbreiten,<br />
positive oder negative Grundfärbungen nebeneinander stellen.<br />
Zu den großen Bestimmungsfaktoren zählen die demografische,<br />
die wirtschaftliche, die politische und die kulturelle<br />
Entwicklung. Das Problem aller Szenarien liegt in der Interaktion<br />
der verschiedenen Einflüsse, deren Ergebnis dann<br />
schwer vorhersehbar ist, einer langfristigen Wetterprognose<br />
nicht unähnlich. Einiges steht fest. Der so genannte demografische<br />
Wandel beispielsweise wird sich zu einem ganz<br />
erheblichen Problem entwickeln. Doch in den Folgewirkungen<br />
wird er viel weniger hart ausfallen, wenn das Land gleichwohl<br />
wirtschaftlich prosperiert und kulturell eine starke gemeinsame<br />
Identität ausbildet. Die gesellschaftliche <strong>Zukunft</strong> kann<br />
nicht schematisch begriffen und linearisiert werden, schon<br />
weil Ordnungszusammenhänge spontan entstehen und vergehen<br />
können, Menschen eigenwillig sind und öffentliche<br />
Meinungsbildung in hohem Maße autosuggestiv verengt sein<br />
kein, im Guten wie im Schlechten.<br />
1. Die <strong>Zukunft</strong> wird zuerst bestimmt von den Menschen, die<br />
2025 in Nordrhein-Westfalen leben. Wer das sein wird, wissen<br />
wir zum größeren Teil. Wir wissen, dass der Anteil der Älteren<br />
zunehmen und die Zahl der nachkommenden Kinder abnehmen<br />
wird. Selbst die Steigerung der Geburtenrate auf „bestandserhaltende“<br />
französische Verhältnisse würde für die<br />
nächsten beiden Jahrzehnte kaum etwas daran ändern, dass<br />
der Umschlag von den sechziger auf die siebziger Jahre von<br />
geburtenstarken auf geburtenschwache Jahrgänge erst im<br />
Jahr 2025 fühlbar sich auswirken wird, aber dann auch sehr<br />
deutlich fühlbar. Die Erwerbsbevölkerung in Nordrhein-Westfalen<br />
wird heute immer noch von der geburtenstarken Generation<br />
der zwischen 1955 und 1970 Geborenen getragen.<br />
Davon werden 2025 nur noch wenige im Berufsleben stehen,<br />
aber die übergroße Mehrheit von ihnen wird natürlich noch<br />
leben, mit einer von 2025 aus gesehen durchschnittlichen<br />
Lebenserwartung, die mindestens ein Jahrzehnt bis fast vier<br />
Jahrzehnte für die 1970 Geborenen reichen wird, negative<br />
Überraschungen durch neue Krankheiten oder Katastrophen<br />
einmal ausgeblendet. In der Bevölkerungspyramide, die
13<br />
schon lange keine mehr ist, wird die größte Altergruppe jene<br />
geburtenstarke Generation der dann zwischen 50 bis 70jährigen<br />
sein: im Jahr 2025 wird der Anteil der über 65jährigen<br />
bei nur etwas unter 25% liegen.<br />
Als ersten Trend kann man deshalb festhalten: Die Gesichter<br />
Nordrhein-Westfalens werden älter werden, die Vitalität und<br />
die psychosoziale Dynamik wird deutlich abnehmen, auch bei<br />
allem Vertrauen in die zunehmende Elastizität und Offenheit<br />
der älter werdenden Menschen. Da eine dynamische Wirtschaft<br />
gerade im Innovationsbereich von intelligenter Technik,<br />
Kommunikation und Exportindustrien nun einmal junge<br />
Menschen braucht, kann man davon abgeleitet prognostizieren,<br />
dass sich die lokalen und regionalen Lebensverhältnisse<br />
stärker spreizen werden, und zwar zwischen den Orten, die<br />
starke dynamische Unternehmen beheimaten und anderen<br />
Orten, die dann womöglich allmählich veröden, die vor allem<br />
von der Standorttreue der dort ansässigen älteren Bürger<br />
werden leben müssen.<br />
In Städten wie Düsseldorf, Köln, Bonn oder Münster muss<br />
man im Jahr 2025 nicht unbedingt damit rechnen, dass das<br />
Straßenbild von Rentnerinnen und Pensionären dominiert<br />
wird, auf dem Land und in Teilen des Ruhrgebiets aber schon.<br />
Bevölkerungsverluste bis zu 10% werden regional für bestimmte<br />
ländliche Räume, aber auch das Ruhrgebiet vorausgesagt.<br />
Wer über Bevölkerungsentwicklung redet, muss auch über<br />
die kulturellen Veränderungen außerhalb der Alterstruktur<br />
reden. Im Jahr 2025 werden mehr als die Hälfte der Kinder in<br />
Nordrhein-Westfalen einen Migrationshintergrund aufweisen,<br />
jedenfalls in Ballungsräumen. Für jemanden, der im Ruhrgebiet,<br />
im deutschen Melting-Pot vor einem halben Jahrhundert<br />
aufgewachsen ist, ist das eigentlich keine sonderlich aufregende<br />
Nachricht. In der Region der Libudas, Ossewitzkis oder<br />
La Torres wurde das früher statistisch noch nicht einmal erwähnt.<br />
Zwei Faktoren machen allerdings einen Unterschied. Die Einwanderung<br />
vor allem aus agrarisch geprägten Räumen des<br />
islamischen Kulturkreises führt zu einer nicht zu unterschätzenden<br />
Diskrepanz zwischen dem urban-westlichen Lebensstil,<br />
wie er sich mit seinem Konzept der persönlichen Unabhängigkeit<br />
seit den siebziger Jahren als prägend durchgesetzt<br />
hat, und einem eingewanderten Traditionalismus, der<br />
weit weniger zur raschen Rezeption der einheimischen Kultur<br />
führt, als das früheren Erfahrungen entsprach. Die Möglichkeiten,<br />
mit eigenen traditionellen Mustern der Familiengebundenheit<br />
und der religiösen Beheimatung in den Ballungszentren<br />
Nordrhein-Westfalens anzukommen und verstanden<br />
zu werden, haben abgenommen, und zwar sowohl wegen<br />
zurückgehender Integrationskraft durch die Erosion von<br />
Gemeinschaftskräften im Land selbst, als auch wegen zurückgehender<br />
Integrationsoffenheit von Teilen der Einwanderer.<br />
Hier bei diesen kulturellen Faktoren kann man für eine Prognose<br />
nur mit verschiedenen Szenarien arbeiten: mit negativen<br />
und positiven, mit pessimistisch dramatisierenden und<br />
optimistisch pragmatischen Entwürfen. Eine Annahme geht<br />
dahin, dass der bisherige westliche Lebensstil persönlicher<br />
Ungebundenheit vorherrschend bleibt. Dann kommt es darauf<br />
an, ob die nachfolgende Einwandergeneration diesen<br />
Lebensstil übernimmt, oder sich traditionalistisch oder islamisch-religiös<br />
offensiv dagegen abgrenzt, oder insular defensiv<br />
sich einer Integration verschließt.<br />
In diesem schlechten Fall wird die Fragmentierung kultureller<br />
Lebensräume zunehmen und Konflikte bis hin zu gewalttätigen<br />
Entladungen oder bereits für das Ruhrgebiet vorausgesagte<br />
kulturelle und die funktionierende Alltagsordnung<br />
betreffende „Implosionen“ sind dann nicht auszuschließen.<br />
Eine in der Dynamik erlahmende westlich orientierte Kultur<br />
könnte mit einer jüngeren, aber antiwestlichen und antiliberalen<br />
Strömung zusammenstoßen.<br />
Die Gefahr kultureller Fragmentierung und Disparitäten des<br />
lebensweltlichen Ambientes sind dabei zwar maßgeblich,<br />
aber nicht nur ein Problem der Einwanderung aus anderen<br />
Kulturräumen. Auch Ordnungs- und Orientierungsverluste<br />
der so genannten bildungsfernen Schichten könnten verstärkt<br />
eine sich noch weit stärker als heute verfestigende<br />
fragmentierte Lebenswelt von so genannten Transferleistungsempfängern<br />
herausbilden, die in der nachfolgenden<br />
Generation keinen Anschluss mehr findet an die bürgerliche<br />
Mitte der wirtschaftlich erfolgreich tätigen Menschen, weil<br />
alltagspraktische und berufstechnische Kompetenz, Motivations-<br />
und Leistungsethos zurückgegangen sind.<br />
Es kommen demnach für die absehbare <strong>Zukunft</strong> einige gewichtige<br />
negative Wirkfaktoren zusammen: Alterung, Migration<br />
und soziale Desintegration. Wer diese Trends überzeichnet,<br />
wird in einem gefährlichen Kulturpessimismus enden,
14 Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio | »Lebensbedingungen zukünftiger Generationen«<br />
wer sie aber schön redet, verspielt die Chance auf pragmatische<br />
Gestaltung der <strong>Zukunft</strong>, die aus Problemen lernt, Notwendiges<br />
erkennt und auch neue Potentiale entdeckt.<br />
2. Die Bevölkerungsstruktur im Jahr 2025 ist das eine, die<br />
wirtschaftliche Infrastruktur ist das andere. Die Wirtschaft ist<br />
und bleibt unser Schicksal. Was die demografische Entwicklung<br />
für Nordrhein-Westfalen bedeutet und welches Gesicht<br />
sie haben wird, hängt maßgeblich von der Leistungskraft, von<br />
der Prosperität der Wirtschaft ab. Dabei spielen mehrere Faktoren<br />
zusammen: landschaftlich-kulturelle, bevölkerungsund<br />
infrastrukturelle und politische Rahmenbedingungen.<br />
Das Rheinland mit seiner Rheinschiene gehört geografisch<br />
und historisch zu einem der prosperierendsten Gebiete<br />
Europas, mit tiefer Verankerung einer merkantil-bürgerlichen<br />
und weltoffenen Perspektive. Düsseldorf ist eine Stadt mit<br />
besonderer internationaler Anbindung, eine Drehscheibe für<br />
globale Impulse in den nordrhein-westfälischen Wirtschaftsraum<br />
hinein. Das Münsterland und Westfalen sind mit ihrer<br />
agrarisch und bürgerlichen Kultur tief lebensweltlich verankert<br />
und dürften auch ohne Ballungsräume mit Tugenden der<br />
Verlässlichkeit und der Solidität stabile Entwicklungschancen<br />
von der landeskulturellen Prägung aufweisen, auf die es in<br />
den nächsten Jahrzehnten vermehrt ankommt.<br />
Das Ruhrgebiet schließlich bleibt im Strukturwandel begriffen.<br />
Die einst gewaltige Industriemetropole wird weiter<br />
schrumpfen, von der hart zupackenden Arbeiterkultur wird<br />
2025 unmittelbar nicht mehr allzu viel geblieben sein. Doch<br />
wer kluge Industriepolitik betreibt, und dazu ist jede Landespolitik<br />
verurteilt, wird die industriellen Chancen des Ruhrgebiets<br />
als verkehrstechnisches und wissenschaftlich infrastrukturelles<br />
Netzwerk nicht unterschätzen. Das Zusammenwirken<br />
von technischer Forschung und industriellen Kernen,<br />
etwa der Stahlindustrie, mit Handels- und Dienstleistungsunternehmen<br />
lässt auch für 2025 eine wenngleich kleiner<br />
dimensionierte industrielle Prägung vorhersagen. Mit steigender<br />
Nachfrage nach intelligenten wissenschaftlich-technisch<br />
geprägten Lösungen.<br />
Doch der Bedarf nach gewerblichen Arbeitskräften mit einfacher<br />
Qualifizierung wird nicht steigen, eher weiter abnehmen<br />
und nicht jeder junge Mensch ist den Anforderungen an Bildungs-<br />
und Berufsqualifizierung gewachsen, also droht hier<br />
eine Verfestigung oder Verschärfung von Problemen. Obwohl<br />
kein Allheilmittel, kommt der schulischen und berufsqualifizierenden<br />
Erziehung und Bildung eine Schüsselrolle zu. Die<br />
Schule bleibt, so Willy Brandt, die Schule der Nation, weil hier<br />
Qualifizierung und Integration zu leisten sind. Im Jahr 2025<br />
wird man in einem positiven Szenario es geschafft haben,<br />
das nordrhein-westfälische, gut gegliederte Schulangebot<br />
nicht mit ständigen Organisationsreformen unter womöglich<br />
ideologischen Beimischungen zu erschüttern, sondern bedarfsgerecht<br />
vor allem auch an örtlichen Problemschwerpunkten<br />
zu unterstützen: Noch besser motivierte Lehrerinnen<br />
und hoffentlich auch Lehrer werden unterstützt von<br />
Erziehern und Sprachförderern kleinere Klassen unterrichten.<br />
Die Vermittlung von sozialen Ordnungsmustern, die Erziehung<br />
zur Lebenstüchtigkeit, eine optimistische, wirtschaftsund<br />
leistungsfreundliche Atmosphäre werden stärker akzentuiert<br />
sein als heute. Die englische und die deutsche Sprachbeherrschung<br />
werden forciert worden sein. Sprache beherrschen<br />
heißt denken können. Die wirtschaftliche Verkehrssprache,<br />
das Englische, muss ebenso beherrscht werden wie<br />
die deutsche Muttersprache, die im Zentrum Europas eine<br />
ganz starke kultur- und identitätsbildende Kraft darstellt. Wer<br />
eine intensive Pflege der deutschen Sprache vernachlässigt,<br />
wird einen heute noch weit unterschätzten internationalen<br />
Wettbewerbsnachteil verursachen. Die gymnasiale Schulbildung<br />
wird im positiven Szenario wieder mehr zeitlichen<br />
Raum für Aufenthalte im Ausland und schöpferische Bildung<br />
lassen als zu den dann gewiss verblichenen Zeiten des Turboabiturs.<br />
Ganztagsangebote werden ausgeweitet und viel besser<br />
qualifiziert sein als heute, aber Familien behalten die Freiheit,<br />
Schulen zu wählen, auch solche, die ohne Ganztagsunterricht<br />
auskommen. Das alles wird eine Umlenkung finanzieller<br />
Mittel vermehrt vor allem in das Schulsystem erfordern,<br />
wobei der Bund die Länder unterstützen wird. Ein solches<br />
Gelingen im Prägeraum der Schule wird allerdings auch<br />
ein neues Ethos der Erziehung und Bildung erfordern, der<br />
Lehrerberuf wird vielleicht anstrengender, aber womöglich<br />
auch sozial wieder mehr geachtet werden.<br />
So weit das positive Bild. Es könnte natürlich auch sein, dass<br />
es anders kommt, dass die desintegrativen Kräfte in der Gesellschaft<br />
viel stärker werden, dass einzelne Stadtteile verwahrlosen,<br />
zu unbefriedeten Räumen hinabsinken, Schulen<br />
unter Polizeischutz gestellt werden müssen, dass es an Geld
15<br />
für Erziehung und Bildung viel mehr als heute fehlen wird,<br />
dass es an geeigneten Lehrern mangelt. Es kann sein, dass<br />
die Schulpolitik des Jahres 2025 mit einem europäischem<br />
Recht, das nicht wie heute nur unterstützt und verhalten<br />
koordiniert, sondern aus der Ferne dirigiert, von Expertenzirkeln<br />
entwickelte UN-Bildungskataloge umsetzt oder durch<br />
eine technisch überbetonte Harmonisierung nach dem Hochschulmodell<br />
von Bologna postmodern bürokratisiert ist, im<br />
schlimmsten Fall mit einer Modularisierung des Denkens und<br />
gefangen in Evaluationsnetzen. Auch für ein solches Bild gibt<br />
es Trends in der Gegenwart, aber wer sich die Konsequenzen<br />
übertriebener Sozialtechnik vor Augen führt, wird dafür streiten,<br />
dass es dann doch nicht so weit kommt. Insofern hat ein<br />
<strong>Zukunft</strong>skonvent genau diesen Zweck, belegte Trends fortzuschreiben,<br />
Ungewissheiten zu wägen, Handlungsoptionen<br />
nach Szenarien zu modellieren: All das, um ein normativ gebotenes<br />
und alltagspraktisch vernünftiges Verhalten wahrscheinlicher<br />
zu machen, statt sich im Rhythmus der Wahlperioden<br />
oder eines medial getakteten Pointillismus treiben<br />
zu lassen.<br />
3. Wie werden die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen<br />
in 16 Jahren aussehen? Auch wenn man heute<br />
einiges an Protektionismus wieder für möglich hält, dürfte<br />
das Jahr 2025 weiter von der Dynamik der Globalisierung bestimmt<br />
sein. Europa wird weiter zusammengewachsen sein,<br />
sein Gewicht als Binnenmarkt und als politischer Akteur vergrößert<br />
haben, die Regionen werden innerhalb ihres Nationalverbandes<br />
vielleicht sogar mehr Handlungsfähigkeit erringen<br />
können, aber die Regulation aus Brüssel wird dafür<br />
deutlich zunehmen. Im Jahr 2025 wird die komplizierte<br />
Mechanik eines politischen Mehrebenensystems noch deutlicher<br />
sein als heute. Das Prinzip der Demokratie, die Volkssouveränität,<br />
wird nicht verloren gehen, wohl aber die Restbestände<br />
einer kausal zurechenbaren Anschaulichkeit im<br />
Sinne einer vollverantwortlichen Gestaltung der Gesellschaft<br />
durch Mehrheitsentscheidung. Jede Ebene, Vereinte Nationen<br />
oder die WTO, die Europäische Union oder der Bund und<br />
eben auch das Land Nordrhein-Westfalen wird stärker kooperativ<br />
vernetzt sein. Verbliebene eigene Kompetenzen werden<br />
mehr noch mit anderen koordinieren und bei all dem die<br />
jeweils eigenen Interessen verfolgen und sichtbar erfolgreich<br />
vertreten müssen. Die Realität des komplexen Konsenses<br />
wird die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen politischen Entscheidungsverantwortung<br />
weiter erschweren und es umso<br />
nötiger machen, die eigene politische Einheit als Identität zu<br />
pflegen und überzeugende politische Konzepte zu entwikkeln.<br />
Welches Konzept wird sich 2025 für die Wirtschaft des Landes<br />
bewährt haben? Jede Politik muss wirtschaftsfreundlich<br />
sein, wenn sie Erfolg haben will, diese Einsicht ist mindestens<br />
so alt wie der moderne Staat. Umstritten kann nur sein, was<br />
„freundlich“ bedeutet. Wirtschaftsfreundlich ist eine Politik,<br />
die günstige Rahmenbedingungen für private Initiative, Wettbewerb,<br />
für unternehmerischen Erfolg fördert. Weder Technikfeindlichkeit<br />
noch irrationale Technikverliebtheit dürfen<br />
dominant sein, sondern die Suche nach innovativen Lösungen,<br />
die der Wirtschaft Erfolg bringen. Dabei ist die Universitätslandschaft<br />
von großer Bedeutung. Man wird 2025 erkannt<br />
haben, dass Freiheit der Forschung, die Ungebundenheit<br />
des Wissenschaftlers auf der einen Seite und die pragmatische,<br />
die effiziente technische Verwertung von Wissen<br />
auf der anderen Seite kein Gegensatz sein müssen. Die Wirtschaft<br />
des Jahres 2025 in Nordrhein-Westfalen wird stark<br />
und dynamisch sein, wenn der Verbund von industriellen, gewerblichen<br />
und dienstleistenden Unternehmen untereinander<br />
und mit den wissenschaftlichen, technischen und kulturellen<br />
Ressourcen des Landes gelingt.<br />
Wirtschaftsfreundlich ist auch eine Politik, die die Leistungsund<br />
Risikobereitschaft der Menschen erhöht und nicht mit<br />
drückenden Abgaben die nicht immer starken, aber häufig<br />
verspannten Schultern der Arbeitenden belastet. Eine Entwicklung<br />
innerhalb der Wirtschaft allerdings, die ihrerseits<br />
den Erfolg nicht mehr von Substanz schaffender Leistung<br />
abhängig macht, sondern eine globale Kasinomentalität der<br />
leichten Rendite zulässt, muss mit politischer Intervention<br />
rechnen. Die Ursachen indes der heute eingetretenen Vertrauenskrise<br />
wird man hoffentlich in <strong>Zukunft</strong> sowohl geografisch<br />
als auch sachlich richtig loziert haben. Die öffentliche<br />
Hand hat sich selbst auch als Glücksspieler erwiesen, angefangen<br />
von der Politik der USA bis in die zusammengeleaste<br />
Welt nordrhein-westfälischer Kommunen und die der Landesbanken<br />
hinein. In den USA trieb die Politik der Regierung<br />
Bush und die des billigen Geldes nicht nur den Staat, sondern<br />
auch die Bürger in die leichfertige, teils spekulative<br />
Kreditaufnahme.
16 Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio | »Lebensbedingungen zukünftiger Generationen«<br />
Die EU wird hier bei der Gestaltung der globalen Finanzmarktaufsicht<br />
ihr Gewicht einsetzen müssen, damit die kontinentaleuropäische<br />
Vorsicht und ihre wirtschafts- und gemeinwohlfreundliche<br />
Art der Wettbewerbsaufsicht über freie<br />
Märkte - eingeschlossen jene sozialpolitische Gestaltung, die<br />
wir etwas diffus, aber mit gutem Grund soziale Marktwirtschaft<br />
nennen - sich gegenüber einer neuen Ausgabenexpansion<br />
wird durchsetzen können. An diesem Punkt ist es womöglich<br />
zweitrangig, wie die Begründungen für immer neue<br />
Ausgaben aussehen: mal neoliberales Marktvertrauen, mal<br />
die Orientierung an Systemstabilisierung und sozialem Ausgleich.<br />
Wenn jedoch die EU selbst in das Geschäft von „Big<br />
Government“, die Politik großer Solidarfonds zur kontinentalen<br />
Leistungsverteilung, jedenfalls eines „Big Spending“ eintreten<br />
sollte, dann wird es auf allen Ebenen eng für die Solidität<br />
des Budgets und schlecht für die Aussichten einer<br />
neuen Balance zwischen Arbeit und Erfolg, Finanzvolumen<br />
und Umfang der Realwirtschaft, Ausgaben und Einnahmen,<br />
dem Grundprinzip rationaler Gegenseitigkeit, dann drohen<br />
eine labile Wirtschaft als Dauerzustand und eine sozialbürokratische<br />
Gestaltung der sozialen Lebenswelt.<br />
III.<br />
Diese Veranstaltung führt Themen zusammen, die sonst in<br />
der Perspektive getrennt sind. Zwischen Herne und New York<br />
ist die Entfernung geringer geworden. Nicht nur Entscheidungen<br />
in Berlin und Brüssel, auch die in Paris, Peking und<br />
Washington beeinflussen das Schicksal der Bürger im Land<br />
unmittelbarer als bislang gewohnt. Wenn man in diesem Ambiente<br />
weltwirtschaftlicher Interdependenz und globalen<br />
Regierens lebendige demokratische Räume wie die Bundesländer<br />
auch in <strong>Zukunft</strong> erhalten will, brauchen sie Möglichkeiten<br />
zur Gestaltung von konnexen Sozialbeziehungen und<br />
sie brauchen Menschen, die den Wert solcher Gestaltungsräume<br />
wieder besser erkennen. Solidarität in der Not ist das<br />
eine, die Übernahme von Verantwortung für eigenes Entscheiden<br />
das andere: Beides gehört als Getrenntes zusammen.<br />
Zusammen gehören aber auch andere Themen, weiche und<br />
harte Faktoren, zusammen gehören die Funktionsbedingungen<br />
ökonomischer, wissenschaftlicher oder juristischer<br />
Zweckrationalität mit der Lebensqualität und mit der kulturellen<br />
und spirituellen Verfasstheit eines Landes und seiner<br />
Menschen. Hier mehren sich die Anzeichen einer Zeitenwende,<br />
die wir als Chance nutzen oder aber auch vertun können.<br />
Die <strong>Zukunft</strong> für eine freie Gesellschaft mit einem vernünftigen<br />
Verhältnis zu einem sektoral begrenzten, aber wirksamen<br />
Staat und zu einer innovativen und rentierlichen, aber<br />
für alle nützlichen Wirtschaft werden wir nur erreichen mit<br />
mehr bürgerlicher Orientierung.<br />
Der Begriff des Bürgerlichen eignet sich heute nicht mehr<br />
als politische Kampfparole, verblasst sind alle Vorstellungen<br />
einer soziologischen Klassenbeschreibung. Es geht vielmehr<br />
um ein Menschen- und Gesellschaftsbild, wenn wir von freien<br />
Bürgern und einer Bürgergesellschaft sprechen. Wenn bürgerlich<br />
demnach ein Leben bedeutet, das aus der Freiheit<br />
Bindung und Selbstverantwortung wachsen lässt, das öffentliche<br />
Anteilnahme, die Übernahme von politischen Ämtern,<br />
die Beteiligung in Parteien, Vereinen, kommunalen oder religiösen<br />
Gemeinden oder Gewerkschaften meint, dann wird<br />
klar, dass jeder Arbeiter, jede Ingenieurin, jede Mutter, jeder<br />
Vater, jede Erzieherin, jeder der tätig etwas schafft und nicht<br />
eine bindungslose soziale Monade sein will, bürgerlich ist.<br />
Jeder, der zwischen Leistung und Gegenleistung einen Zusammenhang<br />
sieht, jeder, der im Leben mehr will als die<br />
Abwesenheit möglichst aller Pflichten und Zwänge, jeder<br />
der Bildung nicht nur für eine technische Investition in den<br />
schnellsten Weg zum möglichst großen Geld sieht, jeder der<br />
sich Familiensinn bewahrt hat, ist bürgerlich, in einem weiten,<br />
in einem ideellen Sinne.<br />
Die Entbürgerlichung postmodern kokettierender Gesellschaften<br />
ist ein Riesenproblem, weil die moderne Demokratie<br />
nicht zufällig auf bürgerliche Revolutionen zurückgeht.<br />
Freiheit gelingt nur, wenn Menschen eine Kultur pflegen, die<br />
den Eigensinn personaler Freiheit dadurch bewahrt, dass<br />
gerade aus ihm der Gemeinschaftssinn wächst, aus dem freien<br />
Willen zur Bindung, und man sich nicht damit begnügt,<br />
Profiteur günstiger Verhältnisse zu sein oder ein nach stetem<br />
Schutz rufender Verbraucher im großen Stromkreis der<br />
Warenzirkulation.<br />
Auch wenn Zeichen der Erosion nicht zu übersehen sind,<br />
kann nur aus der Idee einer bürgerlich selbstbestimmten und<br />
nicht aus einer korporatistisch verwalteten Zivilgesellschaft<br />
etwas entstehen, das die <strong>Zukunft</strong> human, sozial und vor<br />
allem freiheitsgerecht prägt. Ob ein Stadtteil für junge Menschen,<br />
für Eltern mit Kindern attraktiv ist oder nicht, hängt<br />
von seiner städtebaulichen Ästhetik, von guten Schulen und
17<br />
Kindergärten genauso ab wie von der Frage, ob es bereits<br />
Anzeichen lokaler Verwahrlosung gibt - Gewalt, Wohnungseinbrüche,<br />
beschmierte Fassaden und zerborstene Fensterfronten.<br />
Wir wissen inzwischen, dass eine Gewerbeansiedlung<br />
mit qualifizierten Arbeitsplätzen gerne dorthin geht, wo<br />
die Lebensqualität, wo Sicherheit und kommunaler Zusammenhalt<br />
hoch sind. Und sie sind dort hoch, wo sich Menschen<br />
mit bürgerlicher Alltagsorientierung in einem liberal<br />
verfassten Ordnungsraum zusammenfinden, wo Vereins- und<br />
religiöses Gemeindeleben weiter intakt bleiben, wo Anteilnahme<br />
und eigenwilliger Lebensstil eine neue Balance finden.<br />
Aber es geht nicht nur um schöne Fassaden.<br />
In dem Bedürfnis nach einer neubürgerlichen, selbstbestimmten<br />
und sozial verantwortlichen Lebenswelt steht vor<br />
der Chance das Risiko. Insulare Wohlstandswelten, die vielleicht<br />
im Jahr 2025 schon mit Schutzzäunen und privaten<br />
Wachdiensten abgeschirmt werden, kann niemand wirklich<br />
wollen. Bürgerlichkeit in einer freien und chancengerechten<br />
Gesellschaft ist immer eine Inklusionsidee, ein Integrationsmechanismus,<br />
der alle einlädt und dabei auf Standards des<br />
anständigen Umgangs miteinander Wert legt. Aber wenn die<br />
These eines Trends zur Entbürgerlichung der Gesellschaft<br />
und zur Erosion der staatsfreien, also zivilen Sozialbeziehungen<br />
stimmt, dann muss man mit Gegenläufigkeiten und<br />
Ungleichzeitigkeiten rechnen, die dann doch in der Fragmentierung<br />
von unterschiedlichen Lebenswelten und sozialen<br />
Spannungen enden.<br />
Die Lebensbedingungen künftiger Generationen hängen davon<br />
ab, wie die politische Gestaltung von Wirtschaft, Kultur<br />
und Wissensräumen gelingt, aber noch mehr vom Lebensgefühl,<br />
dem Selbstvertrauen und dem fachlichen Können vor<br />
allem junger Menschen, von ihrer Weltgewandtheit und ihrer<br />
Neigung, Freiheit gerade auch durch selbstgewählte Bindung<br />
zu leben und eigene Wurzeln des Herkommens zu pflegen,<br />
um die <strong>Zukunft</strong> als menschliches Subjekt zu gestalten und<br />
nicht als getriebenes Objekt zu erleiden.<br />
Künftige Generationen werden nur dann unsere Vorstellungen<br />
von Freiheit, Zivilisation, Verfassungsstaatlichkeit und<br />
sozialer Verantwortung als Stafette weitertragen, wenn heute<br />
die Weichen noch entschiedener auf kulturelle Integration<br />
umgestellt werden. Dabei geht es um die Konzepte der praktischen<br />
Verwirklichung. Sportvereine können unendlich viel<br />
für die Integration leisten, vor allem, wenn die fast gänzlich in<br />
der Logik der Wirtschaftsrentabilität stehende Professionalisierung<br />
des Sports nicht die Amateurvereine erdrückt, vielleicht<br />
hat die Politik hier eine akzentuierbare Aufsichts- und<br />
Korrekturfunktion.<br />
Innovativer Geist, der in Wissen und Erfolg mündet, wird nur<br />
vermehrt entstehen, wenn das Neue, die Erfindung, die Faszination<br />
der Technik und der marktwirtschaftliche Erfolg wieder<br />
zur großen emotionalen Erzählung in Schulen, in Medien,<br />
in den Universitäten und Fachhochschulen des Landes wird.<br />
Das gelingt übrigens umso besser, je mehr ein solcher innovativer<br />
Geist sein Herkommen, seine Sprache, seine Geschichte<br />
kennt und achtet.<br />
Der Umgang mit neuen Techniken der Kommunikation und<br />
der Wissensreproduktion verlangt nach der Kompetenz zu<br />
kritischer Aneignung im Erziehungs- und Bildungsprogramm.<br />
Jungen Menschen muss gezeigt werden, was der Zugriff auf<br />
global vernetzte Wissensspeicher leisten kann und auch, was<br />
damit nicht möglich ist.<br />
Eine alternde Gesellschaft zeigt gewiss die Tendenz, bequem<br />
und verschlossen zu werden, aber das ist kein unausweichliches<br />
Schicksal. Der philosophische Voluntarismus eines<br />
Friedrich Nietzsche wollte die von ihm weit überzeichnete<br />
Erosion bürgerlich-moralischer Prägekraft, wollte den nihilistischen<br />
Relativismus seiner Zeit auf die Spitze treiben, und<br />
zwar durch den puren Willen zu sittlich ungebundener Macht.<br />
Nach dieser sozialdarwinistischen Verirrung neigen wir vielleicht<br />
aber doch heute dazu, den Willen zu gering zu schätzen<br />
und uns nur noch auf Institutionen, Rechtsnormen und<br />
Funktionen zu verlassen. Das ist falsch. Der Wille zählt.<br />
Es kommt viel mehr als wir uns eingestehen auf die Persönlichkeit<br />
an. Der Wille des Menschen kann in Wirklichkeit nur<br />
sittlicher Wille sein, also in humane Werte eingebettet, mit<br />
transzendenter Demut gedämpft, wie die Präambel des<br />
Grundgesetzes es sagt: „In Verantwortung vor Gott und den<br />
Menschen.“ Die Menschen können und müssen ihre <strong>Zukunft</strong><br />
selbst in die Hand nehmen, es kommt auf ihre Pläne und Vorstellungen<br />
an. Die Eliten eines Landes müssen ihren Beitrag<br />
dazu leisten, <strong>Ideen</strong> formulieren und diskutieren, und dann<br />
von ihren Bergen hinabsteigen in die Ebene des Alltags.
18 Forum 1 | Innovation | Stärken stärken <strong>–</strong> neue Impulse für zukünftige Kompetenz?<br />
Ohne die Fähigkeit zur Innovation ist wirtschaftlicher Erfolg in der <strong>Zukunft</strong> nicht denkbar. Was<br />
aber sind die Voraussetzungen für ein innovationsfreundliches Klima? Wie steht es um das<br />
Selbstverständnis Nordrhein-Westfalens und um die Mentalität seiner Bewohner? Über diese<br />
und zahlreiche Anschluss-Fragestellungen diskutierten Professor Jürgen Kluge, Professor Dieter<br />
Gorny, Dr. Jürgen Großmann und Professor Herbert Jäckle und gaben Anstöße zu einer lebhaften<br />
Diskussion in Plenum.<br />
Keynote:<br />
Professor Jürgen Kluge<br />
ist bei der internationalen<br />
Unternehmensberatung<br />
McKinsey für das weltweite<br />
Recruiting und für<br />
Proprietary Knowledge<br />
verantwortlich<br />
Professor Dieter Gorny<br />
lehrt an der<br />
FH Düsseldorf Kultur- und<br />
Medienwissenschaften<br />
und ist Direktor für<br />
Kreativwirtschaft der<br />
Europäischen Kultur -<br />
hauptstadt RUHR.2010<br />
Mit den zehn Geboten der Bibel verglich Professor<br />
Kluge in seinem Impulsreferat die zehn Thesen,<br />
in denen er die Voraussetzungen für Wachstum<br />
und Wohlstand definierte:<br />
Drei Prozent Wirtschaftswachstum sind notwendig,<br />
um den Wohlstand in der Breite der Bevölkerung<br />
zu sichern und die Kosten des demografischen<br />
Wandels zu kompensieren.<br />
Das Wachstum darf dabei nicht zu Lasten der<br />
Umwelt oder der Menschen gehen. Wohlstand<br />
muss geschaffen werden, bevor er verteilt werden<br />
kann. Die selbst verstärkende Wirkungskette,<br />
die in Gang gesetzt werden muss, heißt:<br />
Bildung, Innovation, Wachstum und Wohlstand.<br />
Nordrhein-Westfalen muss sein Profil schärfen,<br />
heraus aus dem Mittelmaß und unbedingt seine<br />
Stärken ausbauen.<br />
Das Land kann dabei von einigen globalen<br />
Trends profitieren und sie als Rückenwind benutzen:<br />
Ressourcen- und Energieeffizienz, Urbanisierung,<br />
alternde Gesellschaften und Wissensgesellschaft.<br />
Notwendig ist ferner ein neuer<br />
Blick auf das Land mit Profilbildung in Fokusbranchen,<br />
aber unter Vermeidung von neuen<br />
Monostrukturen. Dazu bietet sich in Nordrhein-<br />
Westfalen die Unterscheidung von drei Regionen<br />
an: das Rhein-Valley oder die Rheinschiene<br />
als High-Tech-Cluster, die Metropole Ruhr als<br />
Zentrum für Kulturschaffende und innovative<br />
Dienstleistungen, und der Speckgürtel Westfalen<br />
als Standort starker mittelständischer<br />
Industrien und als Tourismus- und Naherholungsgebiet.<br />
Das Innovationspotential muss<br />
stärker genutzt und ausgebaut werden, die<br />
Forschungs- und Entwicklungsausgaben müssen<br />
mindestens verdoppelt werden.<br />
Vorrangig gilt es, Netzwerke und Cluster in<br />
Fokusbranchen zu stärken, den Technologietransfer<br />
zu verbessern, Unternehmensgründungen<br />
und Forschung zu Fokusthemen zu fördern<br />
und insgesamt das Innovationsklima zu verbessern.<br />
Die zukünftige Innovationsbasis muss vor allem<br />
gesichert werden durch eine Verbesserung der<br />
Aus- und Weiterbildung im Sinne lebenslangen<br />
Lernens, eine höhere Bildungsbeteiligung und<br />
den Zuzug und Verbleib von ausländischen Top-<br />
Talenten.<br />
Kluges Fazit seiner Thesen lautete: „Wir können<br />
unsere <strong>Zukunft</strong> gestalten, wir müssen es nur<br />
wollen und erkennen, dass ein „Weiter-so“ unausweichlich<br />
einen Verlust an Wohlstand bedeutet.<br />
Handeln wir aber jetzt konsequent,<br />
haben wir gute Chancen.“<br />
Professor Gorny griff die Frage nach der Mentalität<br />
auf und forderte eine neue Ausrichtung:<br />
„Wir brauchen mehr Mut zur Persönlichkeit, zur<br />
Individualität, und viel mehr Mut zur Kreativität,<br />
die heute nicht mehr ornamental, sondern sehr<br />
zentral begriffen werden muss. Das ist unter anderem<br />
auch eine dringende Forderung an die<br />
Kulturpolitik, denn offensive kulturelle Investments<br />
sind überaus wichtig für die <strong>Zukunft</strong>.<br />
Solche Turnarounds, wie sie im Ruhrgebiet gegenwärtig<br />
passieren, müssen allerdings auch<br />
ökonomisch sinnvoll sein.“<br />
Dr. Jürgen Großmann forderte zentral die umfassende<br />
Reform und Verbesserung der Bildung:<br />
„Es reicht nicht mehr, die frühkindliche Bildung<br />
anzufassen, wir müssen in der Krise unseren<br />
Schwimmstil ändern, um nicht abzusaufen.“
19<br />
Darüber hinaus mahnte er an, im globalen Wett -<br />
bewerb die in Nordrhein-Westfalen vorhandenen<br />
wirtschaftlichen Leuchttürme auch be -<br />
wusst anzuerkennen und zu unterstützen.<br />
Man dürfe in <strong>Zukunft</strong> nicht wieder in das<br />
„small is beautyful“-Denken zurückfallen.<br />
Professor Jäckle konstatierte vom Standpunkt<br />
des Wissenschaftlers aus: „In Nordrhein-West -<br />
falen fehlen zwei Dinge: Erstens das Standort-<br />
Selbst bewusstsein in Sachen Forschung.<br />
Denn wir brauchen uns nicht zu verstecken vor<br />
Bayern oder Baden-Württemberg. Und zweitens<br />
fehlt uns ein klares Bekenntnis zu den For -<br />
schungs-Leuchttürmen. Zudem müssen wir<br />
deutlich mehr Koryphäen ins Land holen und<br />
gezielt in die besten Köpfe investieren.“<br />
Auf die Frage, was denn zuerst da sei, das Huhn<br />
oder das Ei, versicherte Gorny: „Die Jobs folgen<br />
den Leuten.“<br />
Jäckle verband seine Forderung nach mehr<br />
inter nationalen Koryphäen damit, dass die<br />
Kommunikationsfrage hierzulande weniger als<br />
Kulturfrage gesehen werden solle. Vor allem in<br />
der Wissenschaft gelte: „Englisch oder Deutsch<br />
ist keine Kulturfrage, sondern eine rein pragmatische<br />
Frage, denn die Köpfe aus dem Ausland<br />
müssen sich hier zurecht finden.“<br />
Das Plenum begann mit der Frage aus dem<br />
Publikum, ob es eigentlich eine ausreichende<br />
Schnittmenge zwischen Wirtschaft und Politik<br />
gäbe, und was konkret aus Kongressen wie der<br />
Petersburger <strong>Convention</strong> folge? Will die Politik<br />
tatsächlich handeln, oder leben nicht nach wie<br />
vor Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nebeneinander<br />
her? Kommen für eine hohe Qualität<br />
unserer Bildung die kulturellen Inhalte nicht viel<br />
zu kurz? Die letzte Frage bejahte Gorny.<br />
Einigkeit bestand bei den Teilnehmern darin,<br />
dass eines der größten Innovationshindernisse<br />
die Bürokratie sei. Professor Herbert Jäckle be -<br />
stätigte: „Die Formalismen wuchern, und gerade<br />
die Bürokratie schafft neue Bürokratien. Es<br />
fehlt uns generell der Dialog, jeder wurschtelt<br />
für sich. Weder kommunizieren die Institute<br />
untereinander reibungslos, noch die Unis mit<br />
den Instituten.“<br />
Raumfahrer Ulf Merbold meldete aus dem Ple -<br />
num: „Wir haben noch ein anderes Kommuni -<br />
kations defizit: Innovatoren stehen immer unter<br />
dem Verdacht, Unruhestifter zu sein, weil ge -<br />
fürchtet wird, dass Innovationen Arbeitsplätze<br />
kosten. Man muss den Leuten die Vorbehalte<br />
gegenüber der Innovation nehmen.“<br />
In ihren abschließenden Statements bekräftigten<br />
und spezifizierten die Podiumsteilnehmer<br />
ihre Forderungen. Großmann betonte die Not -<br />
wendigkeit, alle gesellschaftlichen Kräfte einzubinden<br />
und die notwendigen weichen Faktoren<br />
für ein gutes Innovationsklima nicht zu vergessen.<br />
„Starke Unternehmen müssen stärker eingebunden<br />
werden. Wir dürfen nicht nur auf den<br />
Staat schauen in Sachen Bildung, sonst werden<br />
wir zu langsam.“<br />
Gorny plädierte für produktive Reibung: „Wir<br />
müssen offen sein für Unruhe und interdisziplinäre<br />
Räume schaffen für Innovation. Dazu brauchen<br />
wir Freiräume und Dialoge unter Einbin -<br />
dung der Kultur: Reibung erzeugt Wärme! Die<br />
Unruhe soll aber Spaß machen.“<br />
Kluge spitzte zu: „Wir müssen raus aus der Ver -<br />
teidigungshaltung, denn wenn wir verteidigen,<br />
werden wir verlieren! Es wird sich alles verändern<br />
müssen, wenn alles so bleiben soll, wie es<br />
ist. Die positive Einstellung zur Innovation ist<br />
entscheidend!“ Jäckle schloss ab: „Innovation<br />
heißt nichts anderes, als das, was erdacht ist,<br />
in die Praxis umzusetzen.“<br />
Dr. Jürgen Großmann ist<br />
Mitglied zahlreicher<br />
Aufsichtsrats- und<br />
Beiratsgremien und<br />
Vorstandsvorsitzender<br />
der RWE AG<br />
Professor Herbert Jäckle<br />
ist Vizepräsident der Max-<br />
Planck-Gesellschaft
20 Forum 2 | Beschäftigung | Dienstleistung und Produktion <strong>–</strong> Schlüssel für wirtschaftlichen Erfolg?<br />
Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsstärkste Bundesland und der industrielle Motor<br />
Deutschlands. Wie kann der demografische Wandel aufgefangen werden? Was ist zu tun, um<br />
Arbeitskräfte zu erhalten, die den Herausforderungen der <strong>Zukunft</strong> gewachsen sind? Welche<br />
Anforderungen stellt eine Informationsgesellschaft? Wo liegen die <strong>Zukunft</strong>sindustrien, welche<br />
Chancen hat das Land an Rhein und Ruhr? Professor Klaus Zimmermann, Dr. Fritz Pleitgen,<br />
Margret Suckale und Lars Thomsen gingen das Thema Beschäftigung von ganz verschiedenen<br />
Standpunkten aus an und entfachten damit eine intensive Diskussion.<br />
Keynote:<br />
Professor Klaus F.<br />
Zimmermann lehrt an<br />
der Universität Bonn<br />
Wirtschaftliche<br />
Staatswissenschaften<br />
und ist Direktor des<br />
Instituts zur <strong>Zukunft</strong><br />
der Arbeit<br />
Margret Suckale war zum<br />
Zeitpunkt des Kongresses<br />
Vorstand Personal und<br />
Dienstleistungen der<br />
DB Mobility Logistics AG<br />
Der Bonner Wirtschaftswissenschaftler<br />
Professor Klaus Zimmermann ging in seinem<br />
Eingangsstatement auf die aktuelle Wirtschafts -<br />
krise ein und stellte folgende Thesen auf:<br />
Strukturreform statt Konjunkturprogramme<br />
Die Hilfe ist für die Banken notwendig, aber<br />
nicht für die Automobilindustrie. Gigantische<br />
Konjunkturprogramme helfen nicht, aus der<br />
Krise zu kommen. Dazu bedarf es einer Struk -<br />
turreform. Es gehört nicht zu den Aufgaben des<br />
Staates, Unternehmen bei Überkapazitäten und<br />
falschen Management entscheidungen auf<br />
Kosten der Steuerzahler zu retten. Eine kluge<br />
Politik kann Nordrhein-Westfalen zur Reform -<br />
lokomotive in Deutschland machen. So kann<br />
es gestärkt aus der Krise hervorgehen.<br />
Auf Bildung und Weiterbildung setzen<br />
Weltweit wird die Nachfrage nach Facharbeitern<br />
steigen. Nordrhein-Westfalen liegt im Zentrum<br />
des alten Kern-Europas in direkter Nachbar -<br />
schaft zu den agilen Benelux-Ländern. Da Nord -<br />
rhein-Westfalen bei der Zahl der Hochschul -<br />
absolventen unter dem EU-Durchschnitt liegt,<br />
muss in den Bereich der Universitäten und<br />
Fachhochschulen investiert werden. Aber auch<br />
die Mitarbeiter von heute müssen weiter qualifiziert<br />
werden. Denn die Weiterbildung in Nord -<br />
rhein-Westfalen ist in allen Altersgruppen unter<br />
den EU-Durchschnitt gesunken.<br />
Bildungsgutscheine für Arbeiter und Angestellte<br />
über 45 könnten diese Entwicklung umkehren.<br />
Dienstleistung ersetzt nicht die Industrie<br />
Die Dienstleistung gilt als <strong>Zukunft</strong>smarkt für die<br />
Beschäftigten. Doch der Wandel von der Pro -<br />
duk tions- in die Wissensgesellschaft wird und<br />
darf die Industrie nicht vollständig verdrängen.<br />
Die Deutschen verdanken ihren Wohlstand als<br />
Exportnation der internationalen Verflechtung<br />
ihrer Wirtschaft. Um global konkurrenzfähig zu<br />
bleiben, muss dabei in die Schul- und Hoch -<br />
schulbildung massiv investiert werden.<br />
Deutschland lebt vom Humankapital.<br />
In der anschließenden Diskussion auf dem<br />
Podium sah der <strong>Zukunft</strong>sforscher Thomsen die<br />
Menschen heute in der Reaktionsfalle: Sie reagieren<br />
nur statt zu agieren. Es hat sich im vergangenen<br />
Jahrzehnt vieles verändert, was von<br />
der Gesellschaft erst verarbeitet werden muss.<br />
Als größter Trend für die nächsten zehn, zwanzig<br />
Jahre zeichnen sich Zeiten der Knappheit ab,<br />
das gilt besonders für Erdöl, Wasser und qualifizierte<br />
Arbeitskräfte. Um den Standort Nord -<br />
rhein-Westfalen zu stärken, muss das Land auf<br />
Zuwanderung setzen. Auf vielen industriellen<br />
Gebieten sind Firmen aus Nordrhein-Westfalen<br />
weltweit führend. Mit Mut und visionärer Füh -<br />
rung können diese Unternehmen weltweit<br />
Märkte für regenerative Energien, Robotik,<br />
künstliche Intelligenz sowie Solar- und Nano-<br />
Technologie erschließen.
21<br />
Für einen Kurswechsel in der Beschäftigungs -<br />
politik plädierte Margret Suckale (Vorstand<br />
Personal der Deutschen Bahn zum Zeitpunkt<br />
der <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong>, Anm. der Red.):<br />
Die Unternehmen müssen ältere, erfahrene<br />
Mitarbeiter halten, anstatt sie in den vorzeitigen<br />
Ruhestand zu schicken. Auch den Frauen eröffnet<br />
die demografische Entwicklung bessere<br />
Chancen am Arbeitsmarkt. Die gegenwärtige<br />
Krise bringt mit Kurzarbeit vielen An gestellten<br />
die Chance zur Weiterbildung.<br />
Nach Kohle und Stahl kommt Kultur<br />
Alle finanziellen Ressourcen in Bildung und<br />
Kultur stecken will Dr. Fritz Pleitgen, langjähriger<br />
WDR-Intendant und heute Vorstand der<br />
RUHR.2010 GmbH: Wenn anderswo die Steuern<br />
niedriger sind und der Himmel blauer ist, muss<br />
Nordrhein-Westfalen andere Vorteile bieten.<br />
An Rhein und Ruhr ist nach Kohle und Stahl die<br />
Kultur hinzugetreten. Die kreative Ökonomie<br />
wächst und überholt die alten Industrien. Die<br />
Gesellschaft hat sich bisher zu sehr über die<br />
Wirtschaft definiert. Die EU ist über die Mon -<br />
tanunion nicht sehr viel weiter gekommen.<br />
Kultur schafft Offenheit für Neues, sie ist die<br />
Grundlage für Kreativität und Quelle für Inspi -<br />
ration, sie bietet aber auch zahlreiche Mög -<br />
lichkeiten für die Integration von Zuge wan der -<br />
ten und ihren Kindern.<br />
In der darauf folgenden, sehr regen Diskussion<br />
stellten die Gäste im Forum mehrmals fest,<br />
dass niemand die Finanz- und Wirtschaftskrise<br />
vorhergesagt habe.<br />
Junge Menschen nicht sich selbst überlassen<br />
Auch wenn die Notwendigkeit von Spitzen -<br />
forschung und Förderung von Hochbegabten<br />
unzweifelhaft sei, müsse man fragen, was mit<br />
den Menschen geschehen solle, die dauerhaft<br />
aus der Arbeitswelt gefallen oder im Bildungs -<br />
system gescheitert sind. Wie können zwei<br />
Millionen Problemkinder integriert werden?<br />
Suckale brachte dazu die Sportvereine ins<br />
Spiel: Wer in der Schule oder Ausbildung<br />
schlechte Noten hat, braucht Erfolgserlebnisse.<br />
In Sportvereinen können diese Jugendlichen<br />
aufgefangen werden. Dazu brauchen die Vereine<br />
auch Unterstützung. Pleitgen plädierte dafür, in<br />
der Jugendkulturarbeit mit unkonventionellen<br />
Mitteln zu arbeiten: Man muss auf die jungen<br />
Menschen zugehen und sie beispielsweise bei<br />
ihren Spielen abholen, also über all das, „womit<br />
sich die jungen Leute befassen“. Dabei setzt er<br />
auch auf Bürgerengagement.<br />
Die Forumsgäste wünschten sich eine neue<br />
Kultur der Selbstständigkeit: Das Land und die<br />
Finanzwirtschaft stehen dabei in der Pflicht, die<br />
nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.<br />
Insgesamt wird der demografische Wandel so<br />
wenig als Bedrohung empfunden wie die Not -<br />
wendigkeit zu lebenslangem Lernen. Durch die<br />
Pflege älterer Menschen entstehen auf der<br />
anderen Seite neue Arbeitsplätze.<br />
Beschäftigung bedeutet weit mehr als Geld -<br />
erwerb. Das könnte sich in mehr Anerkennung<br />
für ehrenamtliches Engagement ausdrücken.<br />
Fritz Pleitgen war<br />
Intendant des WDR und<br />
Vorsitzender der ARD und<br />
ist Geschäftsführungs -<br />
vorsitzender der<br />
RUHR.2010 GmbH<br />
Lars Thomsen ist<br />
<strong>Zukunft</strong>sforscher und<br />
Dozent für „Digitales<br />
Marketing“ an der<br />
Bayerischen Akademie<br />
für Werbung und<br />
Marketing
22 Forum 3 | Lebensqualität | Wie wollen wir 2025 leben?<br />
Was ist Lebensqualität? Was braucht es, um künftig in einer Gesellschaft zu leben, in der sich<br />
alle wohl fühlen? Was hält Gesellschaft überhaupt zusammen? Professor Hubert Kleinert, Ann<br />
Kathrin Linsenhoff, Peter Maffay und Professor James W. Vaupel präsentierten den Gästen des<br />
Forums „Lebensqualität“ ihre Sicht des Themas.<br />
Keynote:<br />
Prof. Dr. Hubert Kleinert<br />
ist Professor für Politik -<br />
wissen schaft an der Fach -<br />
hochschule für Verwal -<br />
tung des Landes Hessen<br />
in Wiesbaden<br />
Prof. Dr. James W. Vaupel<br />
ist geschäftsführender<br />
Direktor des Max-Planck-<br />
Instituts für demografische<br />
Forschung<br />
Professor Hubert Kleinert konzentrierte das<br />
Thema Lebensqualität auf fünf Thesen zu fünf<br />
Problemfeldern:<br />
Zusammenleben in einer multi-ethnischen<br />
Gesellschaft<br />
Das Bildungsniveau von Zuwanderern muss verbessert<br />
werden. Dazu gehören die gezielte frühkindliche<br />
Sprachförderung, der Ausbau von<br />
Ganz tagsschulen und die Förderung von Bil -<br />
dungsmotivation und Erziehungskompetenz in<br />
Migrantenfamilien, etwa durch die Angebote von<br />
Familienzentren.<br />
Bürgerschaftliches Engagement<br />
Politik und Unternehmen müssen bessere<br />
Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches<br />
Engagement schaffen. Sozialer Zusammenhalt<br />
und der damit verbundene Gewinn an Lebens -<br />
qualität wird künftig hauptsächlich von funktionierenden<br />
sozialen Netzwerken abhängen und<br />
muss Menschen mit Zuwanderungs geschichte<br />
einbeziehen.<br />
Die Gesellschaft des langen Lebens<br />
Stadtentwicklungspolitik muss mithelfen, Älteren<br />
das aktive Mitwirken in der Gesellschaft zu<br />
erschließen und sie einladen, ihren letzten<br />
Lebensabschnitt in der Stadt zu verbringen.<br />
Denn: In altersgerechten Dienstleistungen und<br />
Produkten stecken viele Wachstumschancen.<br />
Entwicklungder Regionen und des Ruhrgebiets<br />
Hauptaufgaben der Ruhrgebietsstädte sind die<br />
gezielte Standortwerbung für junge Familien,<br />
die Wohnumfeldverbesserung und die<br />
Schaffung weiterer Angebote zur Kinderbe -<br />
treuung. Gefragt sind aber auch Strategien für<br />
eine nachhaltige Regionalentwicklung, die aus<br />
räumlicher Nähe Erfolgsfaktoren machen und<br />
auf die inneren Kräfte der Region setzen.<br />
Stadtentwicklung von morgen<br />
Die künftige Stadtentwicklungspolitik muss ein<br />
kreatives und vielgestaltiges kulturelles Wohn -<br />
umfeld fördern. Kulturelle Einrichtungen müssen<br />
stärker mit Schulen kooperieren, Curricula<br />
dürfen die künstlerischen und musischen<br />
Fächer nicht weiter an den Rand drängen.<br />
Nach dieser Einführung präsentierte Ann<br />
Kathrin Linsenhoff den Forumsgästen als ihre<br />
vier persönlichen Bausteine für die Gestaltung<br />
künftiger Lebensqualität Familie, Sport, Kultur<br />
und Natur: Die Familie erfüllt unerlässliche<br />
Aufgaben wie das Vermitteln von Werten und<br />
das Vorleben von Vorbildern, sie gibt Kindern<br />
Wurzeln für ihr späteres Leben. Sport ist wichtig,<br />
um Toleranz, Disziplin und Fair Play sowie<br />
den Umgang mit Misserfolgen zu lernen. Kultur<br />
fördert die frühkindliche Bildung und die Inte -<br />
gra tion von Menschen mit Migrations hinter -<br />
grund. Die Begegnung mit der Natur schließlich<br />
sorgt für die notwendige Bodenhaftung.
23<br />
Peter Maffay betonte die große Bedeutung des<br />
Vertrauens in die bestehenden Systeme. Es sei<br />
nötig, „mehr Kitt zu erzeugen, der diese Gesell -<br />
schaft zusammenhält.“ Insbesondere Kinder<br />
und Jugendliche müssten wieder Lust auf Ge -<br />
sellschaft bekommen. Außerdem komme der<br />
Familie wieder eine größere Bedeutung zu,<br />
denn sie biete große Chancen, voneinander zu<br />
lernen und Synergien zu entwickeln.<br />
Professor James W. Vaupel machte in seinem<br />
Beitrag die demografische Entwicklung zur<br />
Stellschraube für Lebensqualität. Da die Men -<br />
schen immer älter würden, sei es vorhersehbar,<br />
dass sie in <strong>Zukunft</strong> auch länger arbeiteten.<br />
Wäre diese Zeit im Berufsleben so organisiert,<br />
dass jeder dafür weniger Zeit pro Woche arbeite,<br />
bliebe künftig mehr Zeit für Familie und Kul -<br />
tur, für Freizeit und bürgerschaftliches Engage -<br />
ment und es verbessere sich damit automatisch<br />
die Lebensqualität.<br />
In der anschließenden Diskussion formulierten<br />
die Forumsgäste konkrete Forderungen: Bei der<br />
Integration von Kindern mit Migrations hinter -<br />
grund muss ein besonderes Augenmerk auf<br />
deren Eltern liegen. Wenn diese mehr geschätzt<br />
und integriert, ihre Wünsche mehr gehört und<br />
einbezogen würden, sei die Integration leichter,<br />
so eine Meinung aus dem Publikum. Ein weiterer<br />
Faktor für gelungene Integration sei die<br />
Schaffung einer emotionalen Bindung zu<br />
Deutschland, so ein anderer Teilnehmer. Sie sei<br />
wichtig, damit die Botschaft „Migranten sind<br />
willkommen“ auch ankomme. Maffay stimmte<br />
dem zu: „Wir wissen immer noch zu wenig über<br />
die Migranten und sie wissen zu wenig über<br />
uns. Wir kennen die Werte, aber in der praktischen<br />
Umsetzung hapert es noch. Alle müssen<br />
bereit sein, aufeinander zuzugehen. In der<br />
Musik gibt es acht Töne - und einen neunten<br />
Ton, den Umgangston. Genau diesen brauchen<br />
wir für die Integration der Migranten!“<br />
Was noch nötig sei, um künftige Gesellschaften<br />
zusammenzuhalten, so ergänzte ein Forums -<br />
gast, seien Religion und Spiritualität. Kleinert<br />
schloss sich an: „In <strong>Zukunft</strong> gilt nicht nur<br />
„money makes the world go around“, sondern<br />
immaterielle Aspekte, Sinnhaftigkeit und<br />
Religion gehören zu den zentralen <strong>Zukunft</strong>s -<br />
fragen für das künftige Funktionieren unserer<br />
Gesellschaft.“ Linsenhoff unterschied beim<br />
Thema Religion Sportleben und Familie. „Im<br />
Sport darf Religion keine Rolle spielen, in der<br />
Familie dagegen ist sie wichtig für eine Werteund<br />
Regelvermittlung und für das Finden des<br />
Lebenssinns“, so die Mutter von vier Kindern.<br />
Für Maffay gibt der Glaube den Menschen in<br />
schwierigen Situationen Halt. Deshalb müsse<br />
die Kirche sich dringend zeitgemäß entwickeln.<br />
Weitgehend einig waren sich die Forumsgäste<br />
auch, was den Stellenwert der Familie in der<br />
künftigen Gesellschaft angeht: Wer die in der<br />
Familie erworbenen Werte mit ins Leben<br />
nehme, habe ein Fundament und damit die<br />
Basis für die nötige Toleranz in einem sozialen<br />
Miteinander.<br />
Zum Schluss der Diskussion gab es konkrete<br />
Vorschläge zur Verbesserung der Lebens qua -<br />
lität. So könnte man die Arbeit der Vereine in<br />
die Ganztagsschule integrieren, um ausreichend<br />
Zeit für ehrenamtliches Engagement und<br />
Familie zu haben. Weiter wurde gefordert, noch<br />
mehr Geld in die Betreuung von Kindern zu<br />
investieren, die „durchs Raster fallen.“ Ein<br />
anderer Teilnehmer wünschte sich „mehr<br />
Männer in die Erziehung“, besonders in der<br />
Früherziehung, weil durch die vielen allein erziehenden<br />
Mütter oft die männliche Vorbildrolle<br />
fehle. Auch sollte die kulturelle Bildung intensiviert<br />
werden, da sie wichtige Impulse in den<br />
pädagogischen Alltag bringe.<br />
Ann Kathrin Linsenhoff,<br />
war Olympiasiegerin im<br />
Dres surreiten der Mann -<br />
schaft 1988 in Seoul,<br />
stellvertretende Vor -<br />
sitzende von UNICEF<br />
Deutschland<br />
Peter Maffay ist Musiker<br />
und Bandleader, Gründer<br />
der Peter-Maffay-Stif tung,<br />
die missbrauchte und<br />
trau matisierte Kinder<br />
be treut und Träger des<br />
Bundes ver dienstkreuzes<br />
(1996)
24 Forum 4 | Wissen | Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>?<br />
Was ist mit unseren Schulen und Hochschulen los? Was ist schief gelaufen und was kann wie<br />
besser werden? Was dagegen hat sich bewährt und sollte deshalb bewahrt werden? Auf dem<br />
Podium diskutierten Professor Hans Michael Piper, Diana Beyerlein, René Obermann und<br />
Philipp Schindler über die zentralen Bildungsthemen und lösten eine angeregte Diskussion im<br />
Plenum aus.<br />
Keynote:<br />
Professor Hans Michael<br />
Piper ist Rektor der<br />
Heinrich-Heine-Uni -<br />
versität in Düsseldorf<br />
Diana Beyerlein ist<br />
angehende Abiturientin<br />
und Siegerin des Landes -<br />
wett bewerbs „Jugend<br />
debattiert“ in Nordrhein-<br />
Westfalen 2008<br />
„Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>?“ lautete der<br />
Untertitel des Forums. „Dazu könnte man einfach<br />
ja sagen und nach Hause gehen“, stellte<br />
Professor Hans Michael Piper, der Rektor der<br />
Düsseldorfer Heinrich Heine-Universität, eingangs<br />
fest. Entscheidend sei jedoch, wer wem<br />
welche Art von Bildung vermitteln solle. Wie sich<br />
im Lauf der Diskussion herausstellte, hatte<br />
Piper damit den Großteil des Publikums hinter<br />
sich.<br />
Aber zunächst stellte er seine Position klar:<br />
„Zwar ist es wichtig, auf ein Spezialistentum zu<br />
setzen, vor allem in naturwissenschaftlich-technischer<br />
Hinsicht, damit Deutschland im internationalen<br />
Vergleich konkurrenzfähig bleibt. Doch<br />
Bildungsmonokulturen sind krisenanfällig, da -<br />
her brauchen wir mehr flexibles, fachübergreifendes<br />
Wissen <strong>–</strong> und vermehrt Bildungs quer -<br />
einsteiger.“<br />
In einer zweiten These befasste sich Piper mit<br />
der Qualität der Lehre, die von Bildungsträgern<br />
häufig sträflich vernachlässigt worden sei. Zwar<br />
sei man auf dem <strong>Wege</strong>, es besser zu machen,<br />
doch dafür muss es mehr Anreize geben. Eine<br />
große Bildungsreserve sieht er in den Erfahr -<br />
ungen der älteren Menschen. Es gelte, effektive<br />
Instrumente des lebenslangen Lernens zu entwickeln,<br />
um von diesem Potenzial profitieren zu<br />
können. Denn immer noch würden nicht alle<br />
Teile der Bevölkerung erreicht, dabei bedeute<br />
beispielsweise gerade die Bildung in Familien<br />
mit Migrationshintergrund eine große Chance.<br />
Den Worten Taten folgen lassen<br />
„Das ist eine Baustelle“, bestätigte die angehende<br />
Abiturientin Diana Beyerlein aus Aachen,<br />
Siegerin des Landeswettbewerbs „Jugend de -<br />
battiert“ 2008 in Nordrhein-Westfalen. Ihr<br />
Gymnasium werde nur von geschätzten zwei<br />
Prozent Jugendlichen mit Zuwanderungs ge -<br />
schichte besucht. „Da läuft etwas falsch“, meinte<br />
die Schülerin, und plädierte für Lehrer mit<br />
didaktischem Talent, „die Potenziale entdecken<br />
und Anpassung fördern.“ Hierfür könnte es<br />
nach ihrer Ansicht Eignungstests vor dem Stu -<br />
dium geben, damit sich nicht erst im Referen -<br />
dariat herausstelle, ob jemand dazu fähig sei.<br />
Der Kernsatz des Vorstandsvorsitzenden der<br />
Deutschen Telekom René Obermann lautete:<br />
„Put your money where your mouth is.“ <strong>–</strong> also<br />
den Worten Taten folgen zu lassen und in das zu<br />
investieren, wovon man überzeugt ist. Für<br />
Ober mann sind es die Lehre und die bessere<br />
Aus bildung von Lehrern, deren Beruf seiner<br />
Meinung nach sozial besser anerkannt werden<br />
sollte. „Ich wäre bereit, einen Bildungssoli zu<br />
zahlen und das könnten andere auch“, bekannte<br />
Obermann und prognostizierte, dass in den<br />
nächsten Jahren 40.000 Lehrer fehlen werden,<br />
vor allem im Bereich Naturwissenschaften.<br />
Flössen mehr Mittel in die Lehre, werde ein<br />
wichtiger Grund für Arbeitslosigkeit bekämpft:<br />
ein niedriges Bildungsniveau. Die Wirtschaft<br />
habe hierzu einen wichtigen Beitrag zu leisten,<br />
doch Staat und Bundesländer trügen die größere<br />
Verantwortung.
25<br />
Richtigen Umgang mit Informationen<br />
vermitteln<br />
Die schnelle Veränderung der Welt durch technologische<br />
Entwicklungen empfindet Philipp<br />
Schindler, Northern & Central Europe Vice<br />
President bei der Internetsuchmaschine Google,<br />
als bedeutende Herausforderung für die Bil -<br />
dung: „Bald kann jeder überall Informationen<br />
über das Internet nutzen. Bei Google nennen wir<br />
das die Demokratisierung der Information.“<br />
Dies dürfe man jedoch nicht mit Bildung gleichsetzen<br />
<strong>–</strong> hier warte eine große Aufgabe für gute<br />
Wissensvermittler, die kritisches Hinter fragen<br />
und den richtigen Umgang mit der ständig verfügbaren<br />
Menge an Informationen fördern<br />
müssten. „Es gibt heute schon Menschen, die<br />
das für die Wahrheit halten, was nach einer<br />
Suche bei Google an oberster Stelle steht“,<br />
warnte Schindler.<br />
Vor diesem Hintergrund sah neben Piper auch<br />
eine Reihe von Zuhörern die Hochschulen in der<br />
Pflicht: Sie konzentrierten sich zu wenig darauf,<br />
derart talentierte Wissensvermittler auszubilden.<br />
Dieser Aspekt trete häufig hinter den An -<br />
spruch zurück, Spitzenforscher hervorzubringen.<br />
Professor Ernst-Andreas Ziegler von der<br />
Wuppertaler Kinder- und Jugenduniversität be -<br />
richtete von glänzenden Erfahrungen mit Unter -<br />
nehmern, die den Nachwuchs an ihrem Praxis -<br />
wissen teilhaben lassen. Auf Dauer gelte es je -<br />
doch, hierfür die richtigen Pädagogen auszubilden,<br />
vor allem, um junge Menschen aus bildungs<br />
fernen Milieus zu erreichen. Hier mangele<br />
es an Angeboten. Eine Tatsache, die Piper be -<br />
stätigte. Er forderte einen besseren Zugang zur<br />
Sprache als Eintrittskarte in die deutsche Ge -<br />
sell schaft: „Man kann hierzulande so leben wie<br />
in einer türkischen Umgebung, quasi in einem<br />
Cyber-Ghetto. Die universelle Platt form der<br />
Medien wird nicht notwendigerweise zur Inte -<br />
gration genutzt.“<br />
Positive Beispiele und der Spaß an der Bildung<br />
Dr. Dimitrios Argirakos, Leiter der Abteilung<br />
<strong>Zukunft</strong> und Innovation der WAZ-Mediengruppe<br />
und Sohn einer Griechin meldete sich dazu aus<br />
dem Zuhörerkreis zu Wort: Ihm fehlten im Zu -<br />
sammenhang mit Migration die positiven Bei -<br />
spiele: „Warum erscheint eine Zuwan der ungs -<br />
geschichte immer als negatives Beispiel?“ Ähnliche<br />
Erfahrungen hat Beyerlein im Unter richt<br />
gemacht: „Jugendliche mit Migrations hinter -<br />
grund fühlen sich nicht genügend motiviert,<br />
wenn dort nur großartige deutsche Per sön lich -<br />
keiten dominieren.“ In der Schule müsse generell<br />
die Lust daran vermittelt werden, sich Bil -<br />
dung anzueignen, auch außerhalb des Klas -<br />
senzimmers, forderte eine junge Zuhörerin.<br />
Unwidersprochen stand daher am Schluss des<br />
Forums fest, dass Investitionen in das Schul -<br />
system eine größere Bedeutung zukommt als in<br />
Universitäten. „Wenn sich die deutsche Bevöl -<br />
kerung nicht im Bildungssystem wiederfindet,<br />
dann haben wir schlechte Chancen in einer globalisierten<br />
Welt“, so Piper mit Blick auf das Jahr<br />
2025.<br />
René Obermann ist<br />
Vorstandsvorsitzender<br />
der Deutschen<br />
Telekom<br />
Philipp Schindler ist<br />
Northern & Central<br />
Europe Vice President<br />
von Google
26 Peter Scholl-Latour | »Ein starkes Stück Deutschland«<br />
Peter Scholl-Latour, geboren am 9. März 1924 in Bochum zählt<br />
zu den bekanntesten Journalisten und Publizisten der Gegen -<br />
wart und hat sich insbesondere als Islam- und Nahost-Experte<br />
einen nahezu legendären Ruf erworben.<br />
Auf dem Petersberg weitete Scholl-Latour zum Ende des Kon -<br />
gresses den Blick be wusst ins Globale. In Rückschau auf die<br />
jüngere Geschichte entwarf Scholl-Latour mögliche <strong>Zukunft</strong>s -<br />
szenarien, die er vor allem im Hinblick auf ihre geopolitischen<br />
Aspekte analysierte.<br />
Ich möchte mit einem Satz von George Bernhard Shaw<br />
be ginnen: „Beware of old men, they have nothing to lose!”<br />
Dieser Satz trifft auf mich in besonderer Weise zu, denn in<br />
drei Tagen jährt sich mein Geburtstag zum 85. Mal. Dem<br />
Land NRW bin ich nicht nur deshalb zu tiefst verbunden,<br />
weil ich in Bochum geboren wurde. Ich bin in NRW auch<br />
Fernseh di rek tor gewesen und war Professor an der Ruhr-<br />
Universität. Ich bin in NRW also einigermaßen zu Hause.<br />
Deswegen be grüße ich diese Veran stal tung sehr, aber Sie<br />
werden entschuldigen, dass ich nun eine Improvisation<br />
vor trage und eher von einem Punkt zum anderen springen<br />
werde. Ich glaube, die Wichtigkeit dieser Veranstaltung<br />
be steht vor allem darin, dass Sie, Herr Minister präsident,<br />
damit die Rolle von NRW innerhalb der Bundesrepublik<br />
einmal richtig herausstreichen wollen. Ich denke das wird<br />
höchste Zeit. Dieses ist das größte Land der Bundes repu -<br />
blik, das wichtigste Land, und man sollte das auch wieder<br />
betonen in der Innenpolitik.<br />
Ansonsten stehen wir, was die <strong>Zukunft</strong> betrifft vor einer<br />
ge wissen Ratlosigkeit. Ich bin Politologe und habe mich<br />
bis her nie in Ökonomie eingemischt. Aber seit ich gesehen<br />
habe, dass sämtliche Voraussaugen der Gurus total falsch<br />
gewesen sind, erlaube ich mir gelegentlich auch mal etwas<br />
zur Wirtschaft zu sagen.<br />
Die aktuelle Krise beherrscht alles. Ohne sie können wir<br />
überhaupt keine Aussagen mehr machen, sie ist das, was<br />
uns heute fast erdrückt, denn sie vollzieht sich im Zeichen<br />
der Globalisierung. Jener Globalisierung, die eingetreten<br />
ist in dem Moment, als der Sowjetblock zusammengebrochen<br />
ist und China sich ge öffnet hat. Ab da wurde ein globales<br />
Ge samtkonzept möglich.<br />
Der Begriff Globalisierung aber ist erst hochgekommen,<br />
als die Illusion Fukuyamas um sich griff. Das Ende der Ge -<br />
schichte war gekommen und hatte in der Form der amerikanischen<br />
Gesellschaft das Ideal der Menschheit erreicht.<br />
Die übrige Welt brauchte sich nur auf dieses Ideal hin auszurichten.<br />
Wir in der westlichen Welt mit unserem Vor -<br />
sprung glaubten damals, dass vor allem uns die Glo bali -<br />
sierung nützen wurde und haben nicht damit ge rechnet,<br />
dass die Schwellenländer die wirklichen Nutz nießer davon<br />
sein würden. Ich glaube, der größte Nutz nießer der Globa -<br />
lisierung ist die Volksrepublik China. Die Chinesen werden<br />
wohl auch am leichtesten aus dieser Krise herauskommen.<br />
Blickt man auf China und seine Be ziehung zur amerikanischen<br />
Wirtschaft, seine großen Men g en an amerikanischen<br />
Schatzanleihen, so ist da eine Inter dependenz zwischen<br />
den USA und China entstanden, die verhindern<br />
wird, dass es zu Formen des Protekti onis mus kommt.<br />
Sie merken, ich packe die Sache bewusst global an, denn<br />
die Dinge, die bis jetzt hier diskutiert worden sind, kreisten<br />
im Grunde um einen Mikrokosmos. Was Obama be trifft,<br />
dessen Wahl zum Präsidenten ich auf das Leb haft este be -<br />
grüße: Er hat als ersten Gast den japanischen Re gier ungs -<br />
chef empfangen und Hillary Clinton als seine Außen minis -<br />
terin hat ihren ersten Auslandsbesuch in Japan gemacht.<br />
Bisher aber galt bei den amerikanischen Präsidenten<br />
immer: „Europe first.“ Das scheint nun nicht mehr der Fall<br />
zu sein.<br />
Professor Di Fabio hat sehr zu Recht die Frage gestellt,<br />
wenn wir hier auf das Jahr 2025 blicken, wie man wohl<br />
im Jahre 1909 die Perspektiven des Jahres 1925 beurteilt<br />
hätte. Ich möchte dieses Datum etwas verschieben:<br />
Hätte man im Jahr 1930 jemals ahnen können, was passiert,<br />
wenn man damals eine Prognose des Jahres 1946<br />
angestellt hätte?<br />
Ich persönlich habe noch die erste große Weltwirtschafts -<br />
krise miterlebt und zwar in Bochum. In der Krise von 1929<br />
haben die Leute nach einer Schüssel Suppe angestanden.<br />
Der Aufbau nach 1945 war dann eine ungeheuerliche Leis -<br />
tung. So viel wird von uns heute gar nicht abverlangt werden.<br />
Wie ist der Aufbau aber damals zustande gekommen?<br />
Durch die Rückkehr der Soldaten einer Wehr macht,<br />
die an eine strikte Disziplin gewöhnt waren, und die Führ -<br />
ungsfähigkeit der jungen Offiziere und Oberleut nants.
27<br />
Ich will nur drei Beispiele aus der Politik nennen: Helmut<br />
Schmidt, Franz-Josef Strauß und Jürgen Wischnewski, die<br />
genau dieser Generation angehört haben, die kennzeichnend<br />
war für den Aufbau. Es kam und das ist ganz wesentlich<br />
der Marschall-Plan dazu. Damals hat die USA erkannt,<br />
dass eine gewaltige Gefahr im Osten bestand und dass die<br />
europäischen Völker, so weit sie in ihrem Einfluss be reich<br />
lagen, wieder aufgepäppelt werden mussten. Das ist ge -<br />
lungen und war eine der großartigsten Taten, die Ameri ka<br />
zu jener Zeit vollbracht hat.<br />
Springen wir zu einem anderen Thema. Wir hatten gestern<br />
hier den ehemaligen polnischen Präsidenten zu Gast, Lech<br />
Wałęsa. Als ich Kind war, wurde im Ruhrgebiet noch weitgehend<br />
polnisch gesprochen, und es gab gewisse Animosi -<br />
täten zwischen den Volksgruppen.<br />
Als jedoch bei Schalke 04 Czepan und Kuzorra die Nati o -<br />
nal helden waren, brach das Antipolentum, das teilweise<br />
noch existierte, in sich selbst zusammen. Und inzwischen<br />
ist der Kommissar Schimanski zum Nationalhelden geworden.<br />
Daran merkt man, dass ethnische Gegensätze überwunden<br />
werden können.<br />
Damit kommen wir zu den aktuellen Problemen unserer<br />
heutigen Neubürger aus der Türkei, zu denen ich persönlich<br />
eine enge Verbindung habe. Die Türken unterscheiden<br />
sich natürlich durch ihre Kultur und ihre Religion von uns.<br />
Es ist bisher noch kein Rezept gefunden worden, diese<br />
Gegensätze zu überwinden. Die Diskussionen, die darüber<br />
geführt werden, scheitern auch daran, dass man sich mit<br />
solchen Türken unterhält, die unseren <strong>Ideen</strong> am nächsten<br />
stehen und diejenigen, die wahrscheinlich die repräsentativsten<br />
sind, aber nicht ganz unseren Wünschen entsprechen,<br />
beiseite lässt.<br />
Jedenfalls stellen wir in diesem Zusammenhang fest, dass<br />
die Religion aus der jetzigen Welt nicht fortzudenken ist,<br />
auch wenn die breite deutsche Öffentlichkeit darauf verzichtet.<br />
Diese Absenz der Religion ist zweifellos eine<br />
Schwäche. Man darf beispielsweise nicht vergessen, dass<br />
der eigentliche organisierte Widerstand gegen den Natio -<br />
nalsozialismus, auch der ideologische, damals von der<br />
katholischen Kirche getragen worden ist. Vielleicht sollte<br />
man an diese Dinge erinnern, wenn man heute über Re li -<br />
gion sprechen will. Was war denn 1945, nachdem doch das<br />
Volk im Allgemeinen der nationalsozialistischen Ideo logie<br />
gehuldigt hatte, bis auf kleine Minderheiten, die es gab?<br />
Man ist in die Kirchen geströmt. Die CDU ist aus diesem<br />
Gefühl entstanden, und Konrad Adenauer hat die Großtat<br />
vollbracht, nicht ein neues Zentrum entstehen zu lassen,<br />
sondern die Protestanten mit einzubeziehen und damit<br />
eine geschlossene CDU zu schaffen.<br />
Doch zurück zu größeren Zusammenhängen: Vor kurzem<br />
haben wir diese wahnsinnig überstürzte Erweiterung Euro -<br />
pas nach Osten vorgenommen und konnten und können<br />
gar nicht genug Länder reinkriegen. Man sprach von den<br />
Wirtschaftswundern im Baltikum und jubelte über Ungarn.<br />
Inzwischen stellen wir fest, dass es zu ungeheuren Belas -<br />
tungen kommen wird, mit denen niemand ge rech net hatte.<br />
Denn unsere Kenntnisse in Hinsicht auf die <strong>Zukunft</strong> sind<br />
eben sehr gering.<br />
Wir sind uns einig über die ungeheure Begabung der Inder<br />
für die neuen Technologien, vor allem für die Entwicklung<br />
der Software. Aber von Indien als der größten Demokratie<br />
zu reden, ist völliger Unsinn. Indien steht vor ei ner tiefen,<br />
existentiellen Krise, die niemand sehen will.<br />
Was in Kaschmir passiert, ist sehr viel grausamer und blutiger<br />
als das, was etwa in Tibet passiert, worüber sich alle<br />
erregen und man dem Dalai Lama die Möglichkeit gibt,<br />
vor dem Brandenburger Tor zu sprechen. Eine Möglichkeit<br />
die dem Kandidaten Obama verweigert wurde!<br />
Es ist hier noch kein Wort gesprochen worden über die<br />
Kriege, in denen wir uns befinden. Wir befinden uns laut<br />
Artikel 5 der NATO im Krieg gegen den Terrorismus. Aber<br />
der Terrorismus ist kein Gegner, sondern eine Kampf -<br />
methode. Der weltweite Islam ist zum Feind hochstilisiert<br />
worden. Das aber sind 1,3 Mrd. Menschen, die in sich zu -<br />
tiefst gespalten sind: in Aleviten, in Salafisten und viele<br />
andere. Bedenklich ist vor allem die Zunahme des waha -<br />
bitischen, des saudischen Einflusses. Das Attentat von<br />
Nine-Eleven war nämlich nicht das Werk von Afghanen,<br />
es war das Werk von wahabitischen Saudis! Sie sind auch<br />
nicht in Afghanistan ausgebildet worden, sondern haben<br />
ihren Pilotenschein in den USA gemacht.<br />
Wenn wir schon Deutschland am Hindukusch verteidigen,<br />
dann sollte man auch mal auf den Balkan blicken, denn die<br />
bosnische Frage ist in keiner Weise geklärt. Auch die albanische<br />
Frage und die des Kosovo werden auf uns zukommen.<br />
Doch man redet immer noch vor allem über den
28 Peter Scholl-Latour | »Ein starkes Stück Deutschland«<br />
Terrorismus. Wir werden eines Tages wahrscheinlich auch<br />
wieder Anschläge haben. Aber: Nach Nine-Eleven wurden<br />
eine ganze Reihe von Nachfolgeattentaten erwartet, tatsächlich<br />
haben keine stattgefunden. Es ist auch nicht so,<br />
dass die Al Kaida hinter allem steckt, denn Al Kaida ist nur<br />
ein Sammelbegriff. Marokkaner haben das fürchterliche<br />
Attentat in Madrid begangen. Und das Lon doner Attentat<br />
haben aus Indien stammende britische Bürger begangen,<br />
die hohe akademische Abschlüsse hatten. Die hatten mit<br />
Osama bin Laden nichts zu tun,der aus seiner Höhle allen -<br />
falls mal auf einem Maultier eine Videokassette wegschickt.<br />
Der Terrorismus ist nicht das Problem, das uns<br />
auf die Dauer wirklich berührt, sondern die Demografie.<br />
Ich kom me gerade aus Südamerika und stelle fest: wir<br />
gehen einer Mischgesellschaft entgegen.<br />
Was an der Wahl von Obama so sensationell ist: Ich war<br />
1950 das erste Mal in Amerika. Als ich damals mit dem<br />
„Greyhound Bus” fuhr, mussten die Negros <strong>–</strong> wie man da -<br />
mals sagte <strong>–</strong> in den hinteren Teil des Busses gehen.<br />
Wenn man bedenkt, dass jetzt ein Schwarzer Präsident<br />
der USA ist, geht die Bedeutung dessen weit über die Pe r -<br />
son Obamas hinaus. Es hat gewissermaßen eine ethnische<br />
Mu tation stattgefunden. Amerika Bevölkerungszahl ist<br />
auch durch die massive Immigration der Latinos ge wachs -<br />
en. Huntington hat in seinem letzten Buch „Who are we?“<br />
voraussagt, dass der alte Charakter Amerikas „white“,<br />
„Anglo-Saxon“ and „protestant“ nicht länger richtungsgebend<br />
ist, sondern dass wir „another Country“ haben werden.<br />
Denn jeder Kandidat wird auf die farbigen Minder hei -<br />
ten, ob nun „african American“, Latinos, aber auch in zu -<br />
nehmender Weise Asiaten Rücksicht nehmen müssen.<br />
Was ich heute befürchte, ist ein Rückfall in eine gewisse<br />
Form von Wilhelminismus der Außen poli tik, die jedem<br />
seine Vorstellungen aufdiktieren will und Ratschläge er -<br />
teilt. Was für uns in NRW aber sehr wichtig ist, ist, dass<br />
wir uns die Märkte offen halten. Man sollte sich über Be -<br />
schränk ungen hinwegsetzen, bevor andere es tun. Wir sollten<br />
uns zum Beispiel in unserem Handeln mit Russland in<br />
keiner Weise einschränken lassen. Denn welches Regime<br />
Russland hat, ist Sache der Russen. Bisher sind sie mit<br />
Putin wesentlich besser gefahren als mit dem von uns so<br />
bewunderten Gorbat schow. Ich habe das Elend der Peres -<br />
troika in Moskau ge sehen, was bodenlos war gegenüber<br />
der einigermaßen geregelten Versorgung unter Bresch -<br />
new. Heute geht es den Russen besser.<br />
Oder denken wir an den Iran. Ob die nun eine Atombombe<br />
bauen oder nicht, werden wir nicht verhindern können.<br />
Wer wird sich in einen Krieg gegen den Iran einlassen, wo<br />
schon die somalischen Piraten im Golf von Aden gezeigt<br />
haben, was man alles anrichten kann. Was würde erst der<br />
Iran in der Straße von Hormus und im Persischen Golf<br />
anrichten? Abgesehen davon, auch die iranische Atom -<br />
bombe wird nicht zur Vernichtung Israels oder gar zum<br />
Ab schuss einer Interkontinentalrakete auf die USA be -<br />
nutzt werden, sondern es ist eine Abschreckungswaffe.<br />
Wir sollten uns der schwerwiegenden Tatsache bewusst<br />
werden, dass unser westliches Modell für die gesamte<br />
Welt nicht mehr tonangebend ist. Die Krise, die im Mo -<br />
ment stattfindet, ist eine Krise des Kapitalismus. Man sollte<br />
aber nicht immer Marktwirtschaft mit dem Kapitalis -<br />
mus gleichsetzen. Die Marktwirtschaft ist selbstverständlich,<br />
denn vom Anfang der Menschheit an war der Markt<br />
das Instrument des Austausches. Aber der Kapitalismus,<br />
zu dem wir jetzt gefunden haben, ist von Übel. Wir hatten<br />
in der frühen Bundesrepublik ein System, das ungeheuer<br />
ausgeglichen war und um das uns die Franzosen bewundert<br />
haben. Wir hatten die liberale Wirtschaftspolitik<br />
Ludwig Erhards, aber begleitet von der Soziallehre. Genau<br />
das hat sich aber eben nach dem Aufkommen der Globa -<br />
lisierung und durch die Ausrichtung auf das angel sächs i -<br />
sche Modell, das ja im Grunde calvinistisch geprägt ist,<br />
grundlegend geändert. Wir haben uns in eine Form des<br />
spekulativen Kapitalismus verirrt, der am Ende selbstzerstörerisch<br />
wirkt und zudem keinerlei Attraktion mehr au -<br />
ßerhalb Europas hat. Es gibt neue Modelle, wie man zum<br />
Zuge kommt.<br />
Ich erinnere mich, dass die deutschen Wirtschafts prophe -<br />
ten immer behaupteten: Wenn man Demokratie schafft,<br />
dann gedeiht auch die Wirtschaft. Bei den „kleinen Tigern“<br />
ist nun genau das Gegenteil der Fall. Am Anfang stand die<br />
Machtergreifung eines Diktators - das war Park Chung-<br />
Hee in Korea, das war die Shan-Familie auf Taiwan, und<br />
das war vor allen Dingen Lee Kuan Yew in Singapur, der ein<br />
straffes Regiment errichtet hat. Daraus entwickelte sich<br />
die Wirtschaft, es entstand ein Boom der Technolo gie und<br />
der Wohlstand der Bevölkerung.
29<br />
Unsere Modelle stimmen einfach nicht mehr. Und das<br />
Schlimme ist, dass unsere Demokratiemodelle und unsere<br />
Form des Parlamentarismus vor allem auf die afrikanischen<br />
Staaten nicht übertragbar sind, weil jede Partei so -<br />
fort eine Stammesbildung und entsprechende Stam mes -<br />
auseinandersetzungen nach sich ziehen würde.<br />
Hätte man China in das Korsett einer parlamentarischen<br />
Demokratie gezwängt, wäre es zur Katastrophe gekommen.<br />
Die Führung der kommunistischen Partei hat den<br />
Aufschwung zwar nur fertig gebracht durch eine Locker -<br />
ung, aber doch zugleich durch die sehr zentrale Überwachung<br />
des Staates. Das Gleiche hat Vietnam vollzogen,<br />
dort gibt es jetzt keinen Personenkult mehr. Kurzum:<br />
Diese Modelle sind natürlich für Staaten der Dritten Welt<br />
sehr viel attraktiver als die sehr komplizierten Systeme,<br />
die wir bei uns haben. Wir loben immer, dass die Demo -<br />
kratie eine Streitkultur ist, und die Chinesen halten dem<br />
entgegen, zurückgreifend auf die uralte konfuzianische<br />
Lehre, dass bei ihnen die Harmonie angestrebt wird.<br />
Je denfalls ist es nicht mehr so, dass unsere Form der<br />
Demo kratie ein Allheilmittel darstellt. Und eine neue Frage<br />
stellt sich jetzt auch hierzulande: Wir haben ein Parteien -<br />
system, das fabelhaft funktionierte, so lange es noch drei<br />
Parteien gab. Wobei sich die FDP einen Wechsel von der<br />
einen zur anderen erlaubte. Jetzt aber haben wir fünf Par -<br />
teien, und es wird allmählich unberechenbar. In der Zu -<br />
kunft wird alles sehr schwierig werden.<br />
Kommen wir zu einem anderen Thema: zur Ökologie und<br />
zum Klima. Das Kyoto-Protokoll ist gut und schön, ob es<br />
aber respektiert wird, ist eine ganze andere Frage. Wir bilden<br />
uns ein, wenn wir hier in Deutschland einen idealen,<br />
ökologisch sauberen Raum schaffen, dass wir damit das<br />
Schicksal der Welt verändern. Ich bin insofern skeptisch,<br />
wenn ich höre, dass hier mit Begeisterung gegen die Er -<br />
zeugung der Atomenergie Stellung genommen wird, aber<br />
weltweit der Neubau von 240 Atomwerken in Angriff ge -<br />
nommen worden ist.Und das größte französische Atom -<br />
kraftwerk Cattenom befindet sich gerade einmal fünf<br />
Kilometer von der saarländischen Grenze entfernt. Wenn<br />
da einmal bei Westwind etwas passieren sollte, wäre die<br />
Wirkung für Deutschland so, als ob das Werk im Taunus<br />
stünde. Das ist alles sehr oberflächlich gedacht.<br />
Ich glaube, dass wir vom Erdöl als dem strangulierenden<br />
und extremen Spekulationen unterworfenen Rohstoff loskommen<br />
müssen und dass wir eines Tages auch von der<br />
Atomenergie loskommen. Aber ob das so schnell geht,<br />
darf bezweifelt werden. Und mein persönlicher Eindruck<br />
ist, dass diese Windmühlen, die jetzt überall stehen, nur<br />
eines bewirkt haben, nämlich dass die deutschen Land -<br />
schaften verschandelt worden sind.<br />
Früher waren die Kreativen die Erfinder und die großen<br />
Künstler. Heute sind die Werbemacher die Kreativen. Die<br />
Werber haben einen fabelhaften Spruch gefunden und<br />
über die Ruhr „Ein starkes Stück Deutschland“ geschrieben.<br />
Das Ruhrgebiet ist nicht nur durch die Steinkohlen -<br />
krise und die Stahlkrise gegangen. Das Ruhrgebiet steht<br />
jetzt relativ gut da, und wir sollten darauf Wert legen innerhalb<br />
Deutschlands, dass NRW das Schwergewicht innerhalb<br />
der Bundesrepublik ist.<br />
Wenn ich die Resümees der vier Foren lese, kann ich nur<br />
sagen: Mit allem bin ich einverstanden, aber keines ist zu<br />
einer wirklichen Lösung gelangt. Es ist ja bewundernswert,<br />
dass in Deutschland gegenüber der Wirtschaftskrise oder<br />
der Finanzkrise noch große Gelassenheit herrscht. Gefähr -<br />
lich wird es aber, wenn die Krise aus dem Finanzwesen<br />
übergreift in die Realwirtschaft, was sie gerade schon tut.<br />
Wir sollten einen gewissen Volontarismus an den Tag<br />
legen und uns der Krise entgegenstellen, auch mit der<br />
Auf nahme von großen öffentlichen Aufgaben. Der Ein sturz<br />
des Kölner Archivs zeigt ja, wie viel hier noch in der Infra -<br />
struktur zu verbessern ist.<br />
Früher als die Welt noch rosig aussah, endete ich meine<br />
Vorträge immer mit dem Satz von Paul Valéry in Hinblick<br />
auf die Weltmarktslage: „Im Abgrund der Geschichte gibt<br />
es Platz für alle!“<br />
Das würde ich heute nicht mehr sagen, dafür ist die Situ -<br />
ation zu ernst, und deshalb greife ich lieber auf das Wort<br />
von Wilhelm von Oranien zurück, der auch ein Mann dieser<br />
Region gewesen ist: „Es ist nicht notwendig zu hoffen, um<br />
etwas zu unternehmen. Und es ist nicht notwendig Erfolg<br />
zu haben, um auszuharren.“
30 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />
Parallel zur <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong> fand im Konferenzzentrum der Deutschen<br />
Post AG in Bonn eine Campusveranstaltung statt. Einen Tag lang diskutierten<br />
rund 300 junge Menschen aus ganz Nordrhein-Westfalen miteinander und mit<br />
zahlreichen Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik.<br />
Vom Ich zum Wir? <strong>–</strong> Die Renaissance des Sozialen<br />
Den Auftakt machte eine Podiumsrunde unter Leitung der WDR-Moderatorin<br />
Anna Planken. Der Skateboard-Guru und Unternehmer Titus Dittmann, Pfarrer<br />
Joachim Gerhardt, Pressesprecher der Evangelischen Kirche Bonn, der Online-<br />
Experte Martin Hubert und die türkischstämmige Medizinstudentin Merve<br />
Aydin sprachen unter anderem über Gesellschaft, Arbeit und Bildung.<br />
Zum Einstieg wies Dittmann darauf hin, dass auch in <strong>Zukunft</strong> von den Men -<br />
schen Flexibilität erwartet werde. Worauf es allerdings ankomme, sei, dies endlich<br />
als Chance und nicht ständig als Drohung zu begreifen. Denn die Mög lich -<br />
keit der Veränderung bedeute Souveränität über die eigene Biografie, nicht<br />
Unterwerfung unter die Zwänge von Märkten oder irgendwelcher anonymer<br />
Systeme.<br />
Joachim Gerhardt riet zu mehr Gelassenheit. So sei etwa die<br />
Notwendigkeit sozialer und räumlicher Mobilität kein Unter -<br />
Titus Dittmann, Unternehmer und Skateboard-Guru gang. Er halte die Furcht vor häufigeren Wechseln von Wohn -<br />
ort oder Arbeitsplatz eher für eine „Elternangst“. Ebenso<br />
wenig sei eine erwartbar längere Lebensarbeitszeit eine Bedrohung, sondern<br />
biete die Chance sozialer Teilhabe. Die soziale und kulturelle Selbstverortung<br />
der Menschen, bemerkte Titus Dittmann, richte sich ohnehin immer weniger<br />
am Alter aus. Fangemeinden oder „Gesinnungsgenossen schaften“ ersetzten<br />
die Alterskohorten.<br />
Bemerkenswert einig waren sich alle Diskutanten, dass mehr Eigenverant -<br />
wortung des Einzelnen keineswegs im Widerspruch zu einer tief greifenden<br />
Renaissance des Sozialen stehe. Martin Hubert sieht hier vor allem die sozialen<br />
Netzwerke des Web 2.0 als Vorboten eines Wertewandels: Weg vom Ich, hin<br />
zum Wir. In <strong>Zukunft</strong> werde sozialer Reichtum durch soziale Vernetzung kreiert.<br />
„Wer teilt, gewinnt“ laute das Motto, und geteilt würden vor allem immaterielle<br />
Ressourcen wie Interessen, Wissen, Meinungen, Emotionen oder soziale Be -<br />
ziehungen. Die Lust an der Steigerung des Egos und die ausschließliche<br />
Verfolgung von Eigeninteressen, so Hubert, hätten<br />
ihre zerstörerische Seite offenbart. Persönliches Wohl -<br />
ergehen, unternehmerischer Erfolg und gesellschaftlicher<br />
Pfarrer Joachim Gerhardt,<br />
Zusammenhalt seien aus der Balance geraten. Nachdem die<br />
Pressesprecher der Evangelischen Kirche Bonn<br />
Gesellschaft die Notwendigkeit einer Versöhnung von Ökonomie<br />
und Ökologie weitgehend begriffen habe, gehe es jetzt um die Versöhnung<br />
von vernünftigem Gewinnstreben und sozialer Verantwortung.<br />
»Fangemeinden ersetzen<br />
zunehmend die Alterskohorten.«<br />
»Die Verschulung der Bildung ist<br />
ein Irrweg. Hier wird es zu einer<br />
Trendumkehr kommen müssen.«
31<br />
Den Trend vom Ich zum Wir sieht auch Pfarrer Joachim Gerhardt. Die Gesell -<br />
schaft sei gerade dabei, die Qualität gemeinsamen Erlebens neu zu entdecken.<br />
Darüber hinaus beobachte er, dass die großen Sinnfragen des Lebens wieder<br />
stärker auf der Tagesordnung stünden <strong>–</strong> Fragen, für die die Kirchen einen<br />
Raum böten. Schließlich spürt auch Merve Aydin einen großen Trend zum<br />
Miteinander, ein Bedürfnis nach sozialer Harmonie und nach der Überwindung<br />
von gesellschaftlichen Konflikten und Brüchen. So heiße die Parole zum<br />
Beispiel nicht länger „Krieg der Generationen“. Ganz im Gegenteil beobachte<br />
sie in ihrem Umfeld, wie Junge und Alte ein neues Miteinander suchten und<br />
zunehmend erkennen würden, dass Entdeckungslust und<br />
Erfahrung, Tatendrang und gesunde Skepsis, Neues und Be -<br />
währtes zwei Seiten derselben Medaille seien. Ebenso werde<br />
im Umgang zwischen Deutschen und Migranten das Gefühl<br />
gegenseitiger Bereicherung wichtiger als Konflikt und kulturelle<br />
Abgrenzung.<br />
»Die Menschen wollen vor allem<br />
ihre Kreativität ausleben.«<br />
Merve Aydin, Medizinstudentin<br />
Bildung: Verschulung stoppen, Kreativität fördern<br />
Beim Thema Bildung bürsteten die Podiumsteilnehmer kräftig gegen den<br />
Strich einer in ihren Augen verfehlten Bildungspolitik. Titus Dittmann vertrat<br />
die Ansicht, es würde nach wie vor zu viel Wert auf theoretische Bildung ge legt,<br />
statt dass junge Menschen praktische Erfahrungen machten. Dahinter verberge<br />
sich ein Systemfehler der Lehrerausbildung: Lehrer wechselten von der<br />
Schule auf die Hochschule und von dort wieder auf die Schule, könnten also<br />
kaum echte Lebens- und Berufserfahrung einbringen. Das Bildungs system sei<br />
zudem viel zu eng auf klar definierte Berufsziele hin organisiert. Martin Hubert<br />
sieht die traditionellen Bildungsmuster allerdings schon auf dem Rückzug. Die<br />
Internet-Branche biete genügend Beispiele für die abnehmende Bedeutung<br />
formaler Qualifikationen. Viele Leute machten Karriere ohne herkömmliche<br />
Abschlüsse, häufig sei eine Art „Freaktum“ die Basis des Wissens und des<br />
Erfolgs in seiner Branche.<br />
Nach Meinung von Joachim Gerhardt wird Bildung immer<br />
noch viel zu sehr verschult. Die Bildungspolitik orientiere sich<br />
irrtümlicher Weise an standardisierbaren Lerninhalten und an<br />
formalen Qualifikationen. Neuerdings werde sogar Druck in<br />
Richtung einer Verschulung der Kindergärten aufgebaut. Langfristig werde es<br />
hier zu einer Trendumkehr kommen müssen. Denn je schneller sich die Welt<br />
wandle und je wichtiger Lernfähigkeit an sich, Orientierungswissen und Sozial -<br />
kompetenz für die Menschen würden, desto weniger seien kleinteilig definierte<br />
Qualifikationen zu gebrauchen. Das Wichtigste für die Menschen sei in Zu -<br />
kunft, dass sie ihre Kreativität ausleben könnten, so Merve Aydin.<br />
»In <strong>Zukunft</strong> wird sozialer Reichtum<br />
durch soziale Vernetzung kreiert.<br />
Motto: Wer teilt, gewinnt.«<br />
Martin Hubert, Online-Experte
32 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />
Workshop 1<br />
Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong><br />
Referent: Dr. Alfred Stulgies, Projektleiter Forschung & Entwicklung RWE<br />
»Die Politik sollte Denkanstöße und innovative <strong>Ideen</strong><br />
öfter und schneller aufgreifen <strong>–</strong> und nicht immer nur<br />
ausgetretene Pfade beschreiten.«<br />
Isabel Kane, Studentin der Politikwissenschaft aus Bonn<br />
»Wir müssen unabhängiger von Öl und Gas werden.<br />
Deshalb brauchen wir einen vernünftigen Energiemix.<br />
Dazu gehören natürlich erneuerbare Energien.<br />
Absehbar können wir aber auch auf Kernenergie<br />
nicht verzichten <strong>–</strong> selbst wenn das unter jungen<br />
Leuten nicht so populär sein mag. Aber hier sichere<br />
Atom kraft werke abzuschalten und dafür Atomstrom<br />
zu importieren halte ich für Augenwischerei.«<br />
Niklas Veltkamp, Student der Volkswirtschaftslehre<br />
aus Köln<br />
Die Klimaerwärmung weckt Zweifel an unseren Methoden der Energie erzeu -<br />
gung und -nutzung. Es gilt, nachhaltigen Umweltschutz mit der Sicherung<br />
unseres Lebensstandards zu verbinden. Etwa 80% unserer Primär energie werden<br />
heute weltweit aus fossilen Energieträgern erzeugt. Weitere 10% steuert<br />
die Kernenergie bei, der Rest verteilt sich auf regenerative Energiequellen wie<br />
Wind- und Wasserkraft oder Solarenergie. 2006 wurde hierzulande rund eine<br />
Milliarde Tonnen CO 2 freigesetzt, der größte Teil davon, nämlich 55%, durch<br />
die Stromerzeugung für private Haushalte und Industrie. Weitere große<br />
Emissionsquellen sind Transport (15%) und Heizung (12%).<br />
Hintergrund jeder energiepolitischen Entscheidung sollte laut Stulgies das<br />
„Dreieck der Energiewirtschaft“ mit seinen Kriterien Wirtschaftlichkeit, Nach -<br />
haltigkeit und Versorgungssicherheit sein. Hierbei zeige sich, dass die Nutz ung<br />
regenerativer Energieträger sowie der Kernkraft weit gehend klimaneutral sei.<br />
Größter ökologischer Nachteil der Kernenergie: die ungelöste Entsor gungs -<br />
frage. Beim Kriterium Versorgungssicherheit punkten laut Stulgies Kohle und<br />
Kernenergie, wohingegen Öl und Gas hier besonders schlecht dastünden. Die<br />
Nutzung regenerativer Energien schließlich <strong>–</strong> dies allerdings wurde von etlichen<br />
Teilnehmern als einseitige Sichtweise des Referenten mo niert <strong>–</strong> sei in<br />
Deutschland kaum effizient möglich, weshalb diese beim Kriterium Wirtschaft -<br />
lich keit eher schlecht abschnitten.<br />
Die Diskussion unter den rund 60 Teilnehmern des Workshops verlief kontrovers.<br />
Angesichts des Klimawandels, meinten die einen, müssten ökologische<br />
Kriterien Vorrang vor Ökonomie und Versorgungssicherheit haben. Ziel müsse<br />
es sein, unseren Energiebedarf bereits 2050 vollständig aus regenerativen<br />
Quellen zu erzeugen. Prinzipiell sprachen sich alle Teilnehmer für eine Stär -<br />
kung regenerativer Energieträger aus, doch forderten einige eine maßvollere<br />
Umsetzung. Energie dürfe kein Luxusgut, die Frage der Rentabilität der Ener -<br />
gie träger daher nicht außer Acht gelassen werden. Das Ziel einer vollständigen<br />
Umstellung auf regenerative Quellen hielten manche Teilnehmer für un -<br />
realistisch und plädierten daher auch für die Modernisierung und den Neubau<br />
von Kernkraftwerken.<br />
Bei einer TED-Abstimmung über den künftigen Energiemix votierten 39% für<br />
Kernenergie, 22% für Wasserkraft, 18% für Solar energie, 12% für Kohle (allerdings<br />
mit der Option der CO 2 -Abscheidung) und 8% für Windkraft. Die hohe<br />
Akzeptanz der Kernenergie überraschte allgemein. Allerdings sprach sich<br />
zusammengerechnet auch fast die Hälfte der Teil nehmer für regenerative<br />
Energieträger aus. Aus Sicht des Workshops blieb die Frage, ob Kernenergie<br />
eine Übergangslösung oder gar einen dauerhaften Beitrag zur Energie versor -<br />
gung darstelle, offen.
33<br />
Workshop 2<br />
Klimaschutz: Unsere Verantwortung für zukünftige Generationen<br />
Referent: Dr. Winfried Häser, Deutsche Post AG<br />
Nachhaltigkeit, so Häser, umfasse drei Dimensionen: wirtschaftliche, ökologische<br />
und soziale Verträglichkeit. Diese in Einklang zu bringen stelle Politik und<br />
Wirtschaft vor große Herausforderungen. Als Logistikunternehmen ist die Post<br />
auf große Mengen von Kraftstoffen angewiesen. Da Wirtschaftlichkeit und Ver -<br />
fügbarkeit fossiler Kraftstoffe langfristig infrage stehen, forscht das Unter -<br />
nehmen nach Alternativen. Im Fokus: Biokraftstoffe, Elektroantriebe (in Ver -<br />
bindung mit Photovoltaik) sowie Wasserstoff basierte Brennstoffzellen.<br />
Bei Biokraftstoffen bestehen Bedenken hinsichtlich aller drei Nachhaltigkeits -<br />
kriterien: Sie sind aus heutiger Sicht eher weniger wirtschaftlich als fossile<br />
Kraftstoffe; ihr „ökologischer Fußabdruck“ hinsichtlich des CO 2 -Ausstoßes,<br />
des hohen Wasserbedarfs und der Gefahr von Monokulturen ist ungünstig;<br />
und angesichts der Problematik „Food versus Fuel“ ist auch ihre soziale Ver -<br />
träg lichkeit fraglich.<br />
Beispielhaft für eine Klimaschutzstrategie erörterten die rund 30 Teilnehmer<br />
des Workshops das Thema Biokraftstoffe. Berücksichtigt wurden die Aspekte:<br />
Klimaerwärmung, wachsende Mobilität, Endlichkeit fossiler Ressourcen und<br />
Nachhaltigkeit. Die erarbeiteten Eckpunkte wurden als übertragbar auf andere<br />
Felder der Klima- und Energiepolitik bewertet:<br />
»Zu wenige Menschen sind wirklich bereit,<br />
für den Schutz der Umwelt auf Bequemlichkeit<br />
oder Luxus zu verzichten. Hier müsste die<br />
Politik deutlich mehr Anreize schaffen.«<br />
Moritz Knapp leistet ein Freiwilliges Soziales Jahr<br />
beim Landesverband der Musikschulen<br />
1. Konsequenter Zertifikatehandel muss Unternehmen, die<br />
emissionsarme Technologien einsetzen, ökonomisch entlasten.<br />
2. Die Erforschung alternativer Mobilitätstechnologien muss im Rahmen<br />
internationaler Kooperationen, z.B. Forschungsnetzwerken erfolgen.<br />
3. Biokraftstoffe sind nur dann eine Alternative, wenn Erzeugung und<br />
Verbrauch sozial verträglich sind. Insgesamt sind sie eher als Übergangslösung<br />
einzustufen.<br />
4. Die Energiebilanz des gesamten Zyklus von Produktion und Verbrauch<br />
von Gütern und Dienstleistungen sollte der Besteuerung von Unternehmen<br />
zugrunde gelegt werden.<br />
5. Die Politik muss die Erforschung alternativer Technologien fördern und<br />
Aufklärung der Verbraucher betreiben. Forschung muss unabhängig<br />
von den Interessen einzelner Unternehmen sein.<br />
6. Insgesamt muss ein Energiemix angestrebt und die Konzentration auf<br />
eine einzige Technologie vermieden werden.<br />
»Der Klimaschutz ist für mich eindeutig<br />
die wichtigste <strong>Zukunft</strong>saufgabe.<br />
Ich wünsche mir, dass die momentane Krise als<br />
Chance auf dem Weg zu einer nachhaltigen<br />
Wirtschaft und für größere Anstrengungen im<br />
Umweltschutz begriffen wird.«<br />
Lukas van der Straaten, Student aus Brühl
34 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />
Workshop 3<br />
Vernetztes Leben und Arbeiten: Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong><br />
Referent: Dr. Sven Hischke, Deutsche Telekom AG<br />
»Das Wichtigste für die <strong>Zukunft</strong> ist ganz klar,<br />
Arbeitsplätze zu sichern. Dabei sollten Wirtschaft<br />
und Politik gemeinsam pragmatische Lösungen finden.<br />
Auf persönliche und ideologische Profilierungen sollte<br />
lieber verzichtet werden.«<br />
Tobias Niketta schließt zurzeit sein Studium<br />
der Politikwissenschaft ab<br />
»Viele Migranten sehen keinen Sinn in verstärkter<br />
Integration, indem sie etwa besser Deutsch lernen.<br />
Sie sind nicht überzeugt, dass auch sie in dieser Gesell -<br />
schaft Erfolg haben können. Was wir deshalb dringend<br />
brauchen, sind Vorbilder aus der eigenen Kultur, die<br />
zeigen, dass man es in Deutschland zu etwas bringen<br />
kann <strong>–</strong> ohne seine Identität aufzugeben.«<br />
Ilyas Türkmen, Schüler aus Dortmund, möchte nach<br />
dem Abitur Mathematik, Biologie und Musik studieren<br />
und Lehrer werden<br />
Mit ungefähr 80 Teilnehmern war dies der bestbesuchte Workshop.<br />
Die Ein stiegsfrage lautete: Welche kommunikativen Probleme treten auf, wenn<br />
Menschen mit verschiedenen Lebens- und Kommunikationsstilen und unterschiedlichen<br />
Alters zusammenarbeiten? Vielfach haben E-Mail, SMS oder<br />
Instant Messaging die persönliche Interaktion im Büro ersetzt <strong>–</strong> obwohl das<br />
weder durchgängig wünschenswert ist noch zwingend zu einer Optimierung<br />
von Arbeitsabläufen beiträgt. Wie aber lassen sich unterschiedliche Kommuni -<br />
kationsformen Sinn stiftend und wirtschaftlich effizient verbinden? Zumal,<br />
wenn diese nicht speziell für die Arbeitswelt entwickelt, sondern aus anderen<br />
Verwendungszusammenhängen „eingeschleppt“ wurden? Private Präferenzen<br />
und unternehmerische Zielsetzungen sind dann oft nur mühsam zu vereinbaren.<br />
Von solchen Fragen ausgehend, nahm die Diskussion eine allgemeine<br />
Wendung: Wie lassen sich Beruf und Privatleben, besonders Familien grün dung,<br />
für jeden zu einem konsistenten Lebensplan verbinden? Wie kann vor allem das<br />
Spannungsverhältnis zwischen persönlicher Sicherheit und unternehmerischer<br />
Flexibilität aufgelöst werden?<br />
Aus Sicht der meisten Teilnehmer sollte Arbeit vor allem Raum für kreative<br />
Selbstverwirklichung bieten. Allerdings wurde zu bedenken gegeben, dass es<br />
auch weniger kreativ ausgerichtete Berufsbilder gebe und nicht jeder den<br />
Willen oder das Potential zur Selbstverwirklichung im Beruf mitbringe.<br />
Allerdings: Wer von Mitarbeitern Flexibilität verlange, müsse sie diesen im Hin -<br />
blick auf ihren gesamten Lebensplan auch zubilligen. Hierfür brauche es vor<br />
allem flexible Arbeits(zeit)modelle, ferner Instrumente wie Ganztags schulen,<br />
Elternzeit oder Kombilohn.<br />
Einerseits, so wurde festgestellt, sinke aufgrund von Arbeitsplatz- und Ein -<br />
kommensrisiken die generelle Risikobereitschaft vieler junger Menschen.<br />
Andererseits würden ihre kreativen Potentiale aber auch dadurch behindert,<br />
dass gerade deutsche Unternehmen übergroßen Wert auf geradlinige Lebens -<br />
läufe sowie formale Abschlüsse und Titel legten. So würden Menschen mit<br />
unkonventionellen Biografien allzu schnell in eine Einzelkämpferrolle ge drängt.<br />
Vielleicht sei es deshalb auch kein Zufall, dass erfolgreiche Unternehmen wie<br />
Google oder Facebook nicht in Deutschland gegründet würden. Vermutlich<br />
fehle es hierzulande an einer Kultur des Experimentierens <strong>–</strong> und damit des<br />
möglichen Scheiterns und Neustartens.
35<br />
Workshop 4<br />
Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie?<br />
Demografischer Wandel und technische <strong>Zukunft</strong>sperspektiven<br />
Referenten: Prof. Dr. Ralf E. Ulrich, Institut für Bevölkerungs- und Gesundheitsforschung und<br />
Prof. Dr. Rolf Kreibich, Institut für <strong>Zukunft</strong>sstudien und Technologiebewertung<br />
Die menschliche Lebensspanne unterteilt Prof. Ulrich in drei Phasen: Kindheit,<br />
Erwerbsleben und Alter. Erstere und letzteres sind Abschnitte der Abhängigkeit<br />
von ökonomischen Transferleistungen. Hinzu kommt im höheren Alter oft physische<br />
Pflegebedürftigkeit. Traditionell wurden Transfer und Pflege innerhalb der<br />
Familie geleistet, in heutigen Industriegesellschaften geschieht dies im Rahmen<br />
gesellschaftlich organisierter Renten- und Krankenkassensysteme. Doch auch<br />
diese müssen von den aktiv Erwerbstätigen finanziert werden. Geht, wie in fast<br />
allen entwickelten Ländern, das demografische Gleichgewicht zwischen den<br />
Generationen verloren, geraten Umlageverfahren <strong>–</strong> selbst bei verstärkter privater<br />
Vorsorge <strong>–</strong> unter Druck. In Deutschland wird der Anteil der über Achtzigjährigen<br />
von 3,8% im Jahre 2000 auf 11,3% im Jahr 2050 steigen. Ebenso nimmt der<br />
Anteil der Pflegebedürftigen ab dem 85. Lebensjahr zu. Für das Jahr 2050 rechnet<br />
man mit 91 Menschen über 60, denen 100 Menschen im erwerbsfähigen Alter<br />
von 20 bis 60 gegenüberstehen. Sollen die sozialen Sicher ungssysteme nicht<br />
überfordert werden, muss über längere Lebens ar beits zeiten nachgedacht werden,<br />
wozu fließende Übergänge zwischen Arbeit und Ruhestand, Teilzeit modelle oder<br />
individuell angepasste Aufgabenprofile, zum Beispiel leichtere oder beratende<br />
Tätigkeiten gehören. Im Hinblick auf physische Einschränkungen im höheren Alter<br />
müssen wir, so Ulrich, an gezielte Förderung technologischer Lösungen denken.<br />
Diese würden menschliche Pfle ge selbstredend nicht ersetzen, Ältere aber dabei<br />
unterstützen, so lange und so weit wie möglich von Pflege unabhängig zu bleiben.<br />
Prof. Kreibich beschäftigte sich mit der Frage künftiger Lebensqualität. Gemes sen<br />
etwa am Human Development Index der Vereinten Nationen sei die Lebens quali -<br />
tät seit 1976 in den Industrieländern eher gesunken. Umweltbelastung, Klima -<br />
wandel, Artensterben oder der Verlust an fruchtbaren Böden seien nur einige der<br />
Herausforderungen, mit denen die Menschheit im 21. Jahrhundert konfrontiert<br />
sei. Nötig sei deshalb eine Synthese von Tech nologie und Nach haltig keit.<br />
Wissenschaftliche und technische Innovationen eröffneten neue Chancen, etwa<br />
bei Trinkwasseraufbereitung, erneuerbaren Energien, nachhaltiger Produk tion<br />
oder verbesserten Gesundheitsdiensten.<br />
Im Mittelpunkt der Diskussion standen Strategien, um der Probleme Herr zu<br />
werden, die die ältere Generation den Jungen hinterlasse. Kreibich benannte drei:<br />
1. Effizienzstrategien, d. h. Reduzierung unseres energetischen und stofflichen<br />
Ressourcenverbrauchs; 2. Konsistenzstrategien, d. h. ausschließliche Nutz ung<br />
regenerativer Energien und nachwachsender Rohstoffe; 3. Suffizienz stra te gien,<br />
d. h. zügige Anpassung ökonomischer, ökologischer und technologischer Ent -<br />
wicklungen.<br />
»Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedeutet<br />
mehr als Kinder und Karriere. In <strong>Zukunft</strong> werden<br />
weit mehr Menschen als heute zum Beispiel<br />
ältere Angehörige pflegen. Die Voraussetzungen<br />
für Solidarität zwischen allen Generationen<br />
müssen durch Familienpolitik und Unternehmen<br />
weiter verbessert werden.«<br />
Pia Leson, Studentin der<br />
Politikwissenschaft aus Bonn<br />
»Die Politik muss sich angesichts<br />
des demografischen Wandels darum<br />
kümmern, dass die Renten auch<br />
in <strong>Zukunft</strong> gesichert sind.«<br />
Gina Commander, Beamtin beim<br />
Landschaftsverband Rheinland
36 Campus-Veranstaltung | Konferenzzentrum der Deutschen Post AG, Bonn<br />
Workshop 5<br />
Leben im Alter und Gesundheitsforschung: Können wir ewig leben?<br />
Referenten: Dr. Sandra Blaess, Biologin, Universität Bonn und<br />
Jürgen Wolters, Sozialwissenschaftler, BKK Bundesverband, Initiative Gesundheit und Arbeit<br />
Die Erwartungen der Gesellschaft an medizinische oder biologische Grund -<br />
lagenforschung sind hoch. Das gilt besonders dann, wenn Hoffnungen auf<br />
eine Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und der Bekämpfung bislang<br />
unheilbarer Krankheiten bestehen. Anhand des Beispiels der Parkinson-<br />
Therapie erläuterte Dr. Blaess die Chancen der Grundlagen forschung aus<br />
Sicht der Entwicklungsbiologie.<br />
Nach Meinung von Jürgen Wolters müssen bei der Anwendung biotechnologischer<br />
Grundlagen for schung in Prä ven tion und Therapie ethische Kriterien be -<br />
rücksichtigt werden. Solche Kriterien seien vor allem:<br />
Menschenwürde, d. h. Einzel perso nen dürften nicht zugunsten des allgemeinen<br />
Wohls geopfert oder bewusst benachteiligt werden.<br />
»Welche Therapien und Medika men te werden<br />
wir in <strong>Zukunft</strong> entdecken? Welche Krankheiten<br />
werden wir 2025 heilen können?<br />
Das interessiert mich vor allem.«<br />
Sandra Millbret, Schülerin, will nach dem Abitur<br />
eine Ausbildung zur Hörgeräte-Akustikerin<br />
machen<br />
Gerechtigkeit, d. h. neue Erkennt nis se dürften nicht vorrangig Einze l interessen<br />
befriedigen, der Zugang zu ihnen muss allgemein sein und dem Ausgleich<br />
ungerecht verteilter Ge sund heitschancen dienen.<br />
Gesamtnutzen, d. h. Erkenntnisse sollten die Gesundheit der Gesamt -<br />
bevölkerung heben bzw. allen Betrof fenen nutzen.<br />
Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage nach dem persönlichen Ge -<br />
sundheitsverhalten der Teilnehmer, wenn sie, etwa mittels genetischer Prog -<br />
nostik, über persönliche Krank heitsrisiken aufgeklärt würden. Würden sie ihr<br />
Verhalten präventiv verändern? Wollen sie entsprechende Informationen<br />
über haupt bekommen? Die einen hielten Prognosen über schwere und unheilbare<br />
Krankheiten für eine psychische Be lastung und eine Minderung des Le -<br />
bensgenusses. Sie hatten folglich kein Interesse an Aussagen über genetische<br />
Prädis positionen. Andere Teilnehmer sahen die Möglichkeit, sich auf un aus -<br />
weichliche Erkrankungen innerlich einzustellen und ihr Leben daher be -<br />
wusster genießen zu können.<br />
Einhellige Meinung dagegen: Durch Prävention und Gesund heitsförderung<br />
solle Krankheiten generell vorgebeugt werden. Eine möglichst gesunde Le -<br />
bensweise sei unabhängig von jeder Prognostik anzustreben. Im Übrigen sei<br />
ein notwendiger Teil jeder Therapie schwerer Erkrankungen eine umfassende<br />
psychische und menschliche Unterstützung durch Ärzte und Angehörige. Eine<br />
interdisziplinäre Medizin müsse diese sozialen Faktoren zwingend mit einbeziehen.
37<br />
Workshop 6<br />
Wer macht die <strong>Zukunft</strong>: Herausforderungen an die Technik und den<br />
Ingenieurberuf für die Gesellschaft von morgen<br />
Referenten: Kathrin Sevink, Verein Deutscher Ingenieure,<br />
Tim Schüürmann, <strong>Zukunft</strong> durch Innovation und Julia Hugen schütt, Siemens AG<br />
Zum Auftakt stellte Tim Schüürmann die Initiative „<strong>Zukunft</strong> durch Innovation“<br />
(zdi) des Ministeriums für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Techno -<br />
logie des Landes Nordrhein-Westfalen vor, die mit verschiedenen Maßnahmen<br />
den wissenschaftlichen Nachwuchs im MINT-Bereich (Mathematik, Informa -<br />
tik, Naturwissenschaften, Technik) fördert (www.innovation.nrw.de/zdi/index.php).<br />
Um wettbewerbsfähig bleiben und den Herausforderungen des demografischen<br />
Wandels begegnen zu können, muss unsere Wissens gesellschaft For -<br />
schung und Entwicklung fördern, um nachhaltiges Wachstum zu erreichen.<br />
Dies ist nur möglich, wenn Deutschland über eine ausreichende Anzahl an<br />
Fachkräften im MINT-Bereich verfügt. Tatsächlich weist das Land einen gravierenden<br />
Ingenieur- und Fachkräftemangel auf (ca. 20.000 offene Stellen allein<br />
in Nordrhein-Westfalen), der sich negativ auf die <strong>Zukunft</strong>s themen Umwelt,<br />
Energie, Mobilität, Gesundheit und Kommunikation auswirke.<br />
Julia Hugenschütt, gelernte Industriekauffrau und Betriebswirtin, erwarb<br />
berufsbegleitend ein Diplom als Wirtschaftsingenieurin. Sie unterstrich die<br />
große Bandbreite des Ingenieurberufes: Forschung und Entwicklung, Kon -<br />
struktion, Produktion, Vertrieb, Projektleitung oder Projektausführung sind<br />
mögliche Aufgabenbereiche. Das Berufsbild eröffne damit Zugänge für<br />
Menschen mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeitsausprägungen und<br />
beruflichen Interessen. Neben Fachwissen seien Soft Skills gefragt. Zudem<br />
sei der Ingenieurberuf entgegen mancher Vorurteile sehr teamorientiert und<br />
interdisziplinär.<br />
In der Diskussion wurde deutlich, dass bei den Teilnehmern ein eher starres<br />
Bild des Ingenieurberufes vorherrschte. Alle Referenten ermutigten zur Auf -<br />
nahme eines ingenieurwissenschaftlichen Studiums, „auch wenn man kein<br />
Mathe- und Physikgenie in der Schule war.“<br />
»Wir brauchen in <strong>Zukunft</strong> flexiblere<br />
Arbeitszeitmodelle, bei denen Männer<br />
und Frauen Beruf und Familie besser<br />
miteinander vereinbaren können.«<br />
Michael Letellier, Schüler aus Eschweiler
38 Dieter Gorny | »Kreativität ist soziale Phantasie«<br />
Dieter Gorny, derzeit unter anderem Direktor für Kreativwirtschaft der<br />
Europäischen Kulturhauptstadt RUHR.2010 beschloss die Campus-<br />
Veranstaltung mit einem motivierendem Redebeitrag, der für Mut zur<br />
Kreativität und das Schaffen der dafür nötigen Freiräume plädierte.<br />
Ich höre Ihrer Debatte nun seit einiger Phantasie <strong>–</strong> vor allem etwas damit zu<br />
Zeit zu und habe auch mit einigen tun, was Sie als Einzelne bewegen<br />
Leuten draußen gesprochen. Dabei ist können, und inwieweit Sie es hinkriegen,<br />
andere dabei mitzunehmen. Das<br />
mir etwas aufgefallen, was die Kon -<br />
ferenz oben auf dem Petersberg von wird darüber entscheiden, wo sich<br />
Ihnen hätte lernen können: Sie diskutieren<br />
sehr konkret. Die Themen, über Da geht es dann zunächst einmal um<br />
unsere Gesellschaft hinbewegt.<br />
die Sie in Ihren Workshops gesprochen<br />
haben, fanden sich dort oben den: Wie sollen junge Menschen <strong>–</strong><br />
Bildung und um Fragen wie die folgen-<br />
eher allgemein wieder. Als wir heute jetzt mal ganz patriotisch gesprochen<br />
Morgen aus dem Fenster schauten, da <strong>–</strong> in NRW aufwachsen? Welche Chan -<br />
reichte unser Blick gerade bis zur cen haben sie? Und welche Chancen<br />
Veranda. Dahinter nur Nebel. Ich sehe brauchen sie, damit sie nicht nur mündige<br />
Bürger dieses Landes werden,<br />
darin ein Sinnbild für unsere Tagung.<br />
Wir alle gucken im Moment gerade sondern sich auch <strong>–</strong> und das ist ein<br />
mal zehn Meter weit und bräuchten ganz wichtiger Punkt <strong>–</strong> in einem internationalen,<br />
mindestens in einem euro-<br />
eine Art kommunikativer Nebelhörner.<br />
Niemand blickt so richtig durch. Und päischen Kontext frei und überall mit<br />
Leute, die Ihnen sagen, dass sie es den gleichen Chancen bewegen können?<br />
Was müssen junge Menschen<br />
täten, sollten Ihnen verdächtig vorkommen.<br />
lernen, welche Talente brauchen sie,<br />
Ich wette, wenn dieser Kongress vor um ein erfülltes Leben führen zu können?<br />
Da werden seit PISA gerne große<br />
fünf Jahren stattgefunden hätte, dann<br />
wäre der Berufswunsch von Vielen Worte geschwungen und gewichtige<br />
Investmentbanker gewesen. Ich bin im Forderungen gestellt. Und doch scheinen<br />
wir nicht recht voran zu kommen.<br />
Jahr 2000 mit der Viva Media AG<br />
selbst an die Börse gegangen. Ich fand Dazu müssten wir nämlich viel mehr in<br />
es damals sehr spannend, wie der die Bildung investieren <strong>–</strong> finanziell,<br />
Kapitalmarkt funktioniert, vieles davon zeitlich, sozial und intellektuell.<br />
hat mich auch völlig verblüfft. Gerade Ich sagte schon, dass Sie nach meinem<br />
Eindruck konkret diskutiert<br />
an der Börse kommt man mit nackten<br />
Zahlen und kühler Berechnung nicht haben, das ist gut so, denn wir alle<br />
weit. Ich fand es immer hoch interessant,<br />
dass dort ein Begriff die zentrale konkretisieren. Man muss nicht immer<br />
müssen lernen, die Dinge besser zu<br />
Rolle spielt, der eigentlich gar nichts gleich „das System“ verändern oder<br />
mit Geld und ökonomischer Realität auf die neue Weltordnung warten. Es<br />
zu tun haben sollte <strong>–</strong> nämlich Phan - lohnt sich durchaus, auch in kleineren<br />
tasie. Für mich hat Phantasie <strong>–</strong> soziale Schritten darum zu kämpfen, die<br />
Dinge zum Besseren zu wenden.<br />
Manchmal wird man dabei an den<br />
Umständen scheitern. Manchmal war<br />
die Idee vielleicht einfach nicht gut<br />
genug. Dann muss man eben von<br />
vorne anfangen. In der Wirtschaft<br />
nennt man das Unternehmertum <strong>–</strong><br />
und lobt es allseits über den grünen<br />
Klee. Ich denke, man muss diesen<br />
Gedanken des Unternehmerischen,<br />
das, was die Amerikaner „Entrepre-<br />
neurs hip“ nennen, endlich auch im<br />
gesellschaftlichen Bereich verankern.<br />
Denken Sie bei „Innovation“ nicht nur<br />
<strong>–</strong> so wichtig die sind <strong>–</strong> an technische<br />
Erfindungen. Stürzen Sie sich ins<br />
soziale Unter nehmertum! Befördern<br />
Sie gesellschaftliche Innovationen.<br />
Wenn Sie von etwas überzeugt sind,<br />
dann sagen Sie sich und den anderen<br />
einfach: „Ich probiere das jetzt.“<br />
Innovation hat freilich eine unabdingbare<br />
Voraussetzung: Kreativität. Das<br />
hat keineswegs nur etwas mit Kunst,<br />
Musik oder Literatur zu tun.<br />
Wissenschaftliche Entdeckungen,<br />
technische Erfindungen, politische<br />
oder gesellschaftliche Impulse, all das<br />
braucht auch Kreativität. Und Kreati -<br />
vität, die Fähigkeit, aus bereits Be -<br />
kanntem etwas Neues zu schaffen,<br />
braucht Freiräume. Freiräume in der<br />
Bildung, die Sie rechts und links vom<br />
<strong>Wege</strong> schauen lassen, damit Sie sich<br />
ausprobieren können und keine reinen<br />
Fachidioten werden. Sie brauchen<br />
individuelle Freiräume, damit Sie die<br />
Chance haben herauszufinden, was<br />
Ihr Ding ist. Kreative Prozesse, und ich<br />
glaube, damit tun wir uns gesellschaftlich<br />
eher schwer, sind sehr individuell.<br />
Wir denken bisweilen, gewisse Kollek -<br />
tive würden durch Konsens tolle Dinge
39<br />
hervorbringen. Aber die „Fünfte“ ist<br />
nun mal von Beethoven. Nun ist sicher<br />
nicht jeder ein verkappter Beethoven<br />
oder Einstein. Doch wenn Sie künstlerisch<br />
oder kreativ tätig sind, wenn Sie<br />
Ihre individuelle Gestaltungskraft nutzen,<br />
dann haben Sie so oder so eine<br />
Art Werkanspruch.<br />
In unserer Diskussion oben, auf dem<br />
Petersberg, tauchte dieser Begriff<br />
ebenfalls auf, den ich ganz wichtig<br />
finde: Gestalten wollen! Wie mobilisiere<br />
ich den Willen, etwas Neues zu<br />
schaffen? Dabei ist es gar nicht unbedingt<br />
nötig, dass alles, was ich mir vornehme,<br />
in jedem Fall fertig wird. Es<br />
genügt zunächst, dass ich sage: „Ich<br />
gehe daran, ich will das gestalten!“<br />
Wenn ich mir aber Menschen wünsche,<br />
die fähig und bereit sind, so zu<br />
denken und zu handeln, dann reicht es<br />
nun mal nicht, über Verkürzung der<br />
Schulzeit, Turbo-Abitur, Schulstruk -<br />
turen und so weiter zu debattieren.<br />
Dann muss ich auch über die Inhalte<br />
reden. Über das, was ich da vermitteln<br />
will, und über die Art und Weise, wie<br />
ich es vermitteln will. Und ich muss<br />
über die Köpfe, über die Talente reden,<br />
die ich erreichen will. Denn kreativ sein<br />
zu wollen, das ist mehr als nur sein<br />
Abitur zu machen und gute Chancen<br />
auf dem Arbeitsmarkt zu haben.<br />
Wie aber schafft man diesen Quanten -<br />
sprung von guter Ausbildung zu mehr<br />
Innovation. Klar ist: Wenn wir eine<br />
Umgebung schaffen, in der Menschen,<br />
die etwas vorhaben, sich wohlfühlen,<br />
wo sie Netzwerke bilden und kommunizieren<br />
können, dann entsteht Inno -<br />
vation. Ein ganz wichtiges Thema, das<br />
sehr viel mit den Bedingungen von<br />
Innovation und Kreativität zu tun hat,<br />
ist die Urbanisierung. Wie anspruchsvoll<br />
die Bedingungen sind, was ein<br />
„Standort“ alles bieten muss, damit<br />
die Kreativen kommen, etwas auf die<br />
Beine stellen und dann auch bleiben,<br />
wird allerdings noch zu wenig und von<br />
zu wenigen verstanden. Urbanisierung<br />
heißt: Die wirtschaftlichen Kraftfelder<br />
werden sich in <strong>Zukunft</strong> in großen urbanen<br />
Flächen entwickeln. Nicht mehr in<br />
den Städten, sondern in Großre gio -<br />
nen. In NRW ist das beispielsweise die<br />
Rhein-Ruhr-Schiene. Alleine das Ruhr -<br />
gebiet hat 5,5 Millionen Einwohner, im<br />
Bereich entlang des Rheins, mit Groß -<br />
städten wie Düsseldorf und Köln, kommen<br />
noch einmal knapp fünf Millionen<br />
Menschen dazu. Diese Regionen stehen<br />
aber beim Werben um die Men -<br />
schen mit <strong>Ideen</strong>, Plänen, Träumen und<br />
kreativen Energien im internationalen<br />
Wettbewerb. Da spielt die Musik nicht<br />
zwischen Bonn und Dortmund oder<br />
zwischen Köln und Düsseldorf, sondern<br />
zwischen dem Ballungsraum hier<br />
und europäischen Großräumen wie<br />
Amsterdam, Barcelona, Paris und <strong>–</strong><br />
trotz Finanzkrise <strong>–</strong> London.<br />
Unterschätzen Sie diese europäische<br />
Dimension nicht. Seit Einführung des<br />
Euro und dem Fall der Grenzkontrollen<br />
nach dem Schengen-Abkommen wissen<br />
Sie selbst am Besten, wie schnell<br />
Sie da sind. Wie schnell Sie überprüfen<br />
können, ob das, was Sie sich von<br />
der Politik hier wünschen, nicht eher<br />
woanders passiert. Und dann merken<br />
Sie zum Beispiel sehr schnell, wie<br />
offen man in den Niederlanden auf<br />
Menschen zugeht, die zur viel be -<br />
schworenen „kreativen Klasse“ gehören.<br />
Sie erleben, wie sehr man sich<br />
dort darum bemüht, eine Atmosphäre<br />
und eine städtebauliche Umgebung zu<br />
schaffen, bei denen solche Leute das<br />
Gefühl haben: Hier kann ich nicht nur<br />
vernünftig arbeiten, hier kann ich nicht<br />
nur Innovationen produzieren, hier<br />
kann ich mich auch wohl fühlen. Und<br />
was besonders wichtig für das soziale<br />
Phänomen Kreativität ist: Hier finde<br />
ich Gleichgesinnte.<br />
Urbane Gesellschaften entwickeln sich<br />
vor dem Hintergrund dreier prägender<br />
Faktoren. Zum ersten gibt es einen<br />
ökonomischen Faktor: die Globali sier -<br />
ung. Zweitens den technologischen<br />
Faktor der Digitalisierung. Und drittens<br />
einen anthropologischen Faktor,<br />
nämlich die unaufhaltsam fortschreitende<br />
Individualisierung der Gesell -<br />
schaft. Über die ökonomischen Ver -<br />
schiebungen und Verwerfungen im<br />
Rahmen der Globalisierung will ich<br />
mich jetzt nicht verbreiten. Und das<br />
Thema Digitalisierung und seine Fol -<br />
gen muss ich Ihnen, der ersten Ge -<br />
nera tion von „Digital Natives“, gewiss<br />
nicht erklären. Klar, die Digita lisierung<br />
macht es zum Beispiel möglich, dass<br />
Sie sich Filme auf Ihrem iPod ansehen.<br />
Aber erst Ihre Wünsche als Konsu -<br />
men ten, nämlich jeden Film, und jedes<br />
Musikstück genau dann und genau<br />
dort verfügbar zu haben, wann, wo<br />
und wie Sie es wollen, die bringen die<br />
Geschäftsmodelle der Film- und<br />
Musikindustrie durcheinander. Das<br />
erfordert allseits ein Umdenken. Da<br />
müssen Märkte ganz neu verstanden<br />
und Abläufe in Produktion, Marketing<br />
oder Vertrieb völlig umgeworfen werden.<br />
Auch das sind hochgradig kreative<br />
Aufgaben. Um die bewältigen zu<br />
können, muss jeder sozusagen ein<br />
bisschen Soziologe sein. Man muss
40 Dieter Gorny | »Kreativität ist soziale Phantasie«<br />
nämlich verstehen, wie und warum die<br />
Gesellschaft sich so stark verändert<br />
hat, und was das für Auswirkungen auf<br />
das Verhältnis von Unternehmen und<br />
Kunden hat. Gerade im Medien be -<br />
reich, bei Zeitungen und Zeitschriften,<br />
neuerdings beim Thema E-Book, noch<br />
deutlicher im Musik- und im Film ge -<br />
schäft bekommen Sie diese Wechsel -<br />
wirkungen sehr stark mit. Technisch<br />
hat das alles mit der rasanten Ent -<br />
wicklung der Speichermedien und der<br />
schnellen Breitbandkommunikation zu<br />
tun, ökonomisch auch damit, dass<br />
diese Dinge heute sehr preiswert verfügbar<br />
sind. Was man aber kapieren<br />
muss, ist, dass man ohne Inhalte keine<br />
Breitbandzugänge verkaufen kann <strong>–</strong><br />
und dass die Inhalte wiederum abhängig<br />
sind von Leuten, die kreativ sind.<br />
Kreativität wird in unserer Gesell -<br />
schaft ja meist mit Kunst in Zu sam -<br />
men hang gebracht. Und Kunst wird<br />
dann überwiegend ornamental ge -<br />
dacht. Hilmar Hoffmann, der legendäre<br />
Frankfurter Kulturdezernent, hat<br />
einmal gesagt: „Kultur und Kunst sind<br />
dazu da, den Staub des Alltags von<br />
der Seele zu waschen.“ Soll sagen:<br />
Tagsüber schlagen Sie sich mit ihrem<br />
tyrannischen Chef, mit missgünstigen<br />
Kollegen oder unzufriedenen Kunden<br />
herum, am Abend gönnen Sie sich<br />
etwas und gehen in die Oper. Da kommen<br />
Sie dann sauber und innerlich<br />
aufgeräumt raus. Und am nächsten<br />
Tag dürfen Sie sich im Sorgenpfuhl<br />
des Alltags wieder schmutzig machen.<br />
Das ist natürlich Quatsch. Kultur ist<br />
die Grundlage persönlicher und gesellschaftlicher<br />
Identifikation. Kultur hat<br />
immer etwas mit den kreativen An -<br />
triebskräften zu tun, ohne die eine<br />
Gesellschaft und eine Wirtschafts -<br />
ordnung auch jenseits von Kunst,<br />
Literatur oder Musik keinen Meter<br />
weit kommt. Andernorts in Europa<br />
weiß man das längst. Da hat man<br />
begriffen, dass eine lebendige Kunst -<br />
szene, dass interessante Theater oder<br />
eine schrille Off-Szene nicht hauptsächlich<br />
deshalb ein Standortfaktor<br />
sind, weil sich da gestresste Anwälte<br />
und Ärzte den „Staub des Alltags“<br />
abwaschen, weil Werber gern mal in<br />
eine abgefahrene Kneipe gehen oder<br />
weil große Ausstellungen viele Touris -<br />
ten anlocken. Man hat begriffen, dass<br />
diese und andere Dinge die Wirtschaft<br />
voranbringen, weil Menschen in einem<br />
solchen Umfeld auf <strong>Ideen</strong> kommen,<br />
weil sie dann Lust haben, die Gesell -<br />
schaft, die sie als attraktiv erleben, mit<br />
ihren <strong>Ideen</strong> voranzubringen, und weil<br />
nur in einem Klima lebendiger Kreati -<br />
vität wiederum jene Bildung und jene<br />
Wissenschaft gedeihen, die diese<br />
<strong>Ideen</strong> ermöglichen. Das ist alles andere<br />
als ornamental. Das ist für eine<br />
prosperierende Gesellschaft existenziell!<br />
Auch wenn die Wirtschaft <strong>–</strong> gerade<br />
hier bei uns <strong>–</strong> die aufgeräumten Le -<br />
bensläufe immer noch bevorzugt: In<br />
einer kreativen Gesellschaft geht nicht<br />
immer alles seinen geraden Gang.<br />
Viele von Ihnen werden den Film<br />
„Matrix“ kennen. Entstanden ist er im<br />
Kopf von zwei ziemlich durchgeknallten<br />
Brüdern, Larry und Andy Wach o w -<br />
s ki, die sich viel mit dem Spiel „Dung-<br />
e ons & Dragons“ und mit Plat ons<br />
Höhlengleichnis beschäftigten, bevor<br />
sie ihr Studium hingeschmis sen<br />
haben, um Marvel-Comics und Dreh -<br />
bücher für Low-Budget-Horrorfilme zu<br />
schreiben. Und dann haben sie diese<br />
Idee für einen der erfolgreichsten und<br />
stilbildendsten Filme der letzten zwanzig<br />
Jahre. Da muss man schon ziemlich<br />
weit voraus denken können, damit<br />
die Leute das sehen wollen, wenn es<br />
endlich fertig ist. Eine Kulturgesell -<br />
schaft lebt davon, dass sie beides zu -<br />
sammen bringt: Die Fähigkeiten, die<br />
man braucht, um zum Beispiel ein toller<br />
Ingenieur zu werden <strong>–</strong> und gleichzeitig<br />
die Offenheit, von den Künstlern<br />
zu lernen. Und immer als Erstes zu<br />
fragen: Was treibt dich an?<br />
Der Komponist Arnold Schönberg sag -<br />
te: „Kunst kommt nicht von Können,<br />
sondern von Müssen!“ Lassen Sie das<br />
mal sacken! Dann verstehen Sie besser,<br />
was es mit Kreativi tät, dem Willen<br />
zur Gestaltung, auf sich hat. Ich glaube,<br />
dass wir als Ge sellschaft gut daran<br />
täten, Sie zu er muntern, diesen Willen<br />
herauszubilden. Wir müssen darum<br />
kämpfen, und das sollten Sie auch<br />
tun, dass Sie die Freiräume bekommen,<br />
um Wollen zu können. Wenn sie<br />
an die Wachowski-Brüder denken,<br />
dann stehen am An fang einer wegweisenden<br />
Idee eben nicht immer Fleiß,<br />
Disziplin, gute Noten und ein fester<br />
Lehrplan. Deshalb müssen wir in der<br />
Bildung darauf achten, dass Indivi du -<br />
alität, persönliche Stärken, aber auch<br />
die Schrullen eines jeden mehr Raum<br />
bekommen. Damit Sie und sie <strong>–</strong> also<br />
Sie selbst wie auch die Stärken und<br />
die Schrullen <strong>–</strong> sich besser entfalten<br />
können. Und damit Sie später das<br />
Gefühl haben, dass Sie hier nicht nur<br />
eine gute Ausbildung bekommen<br />
haben, sondern dass es ihnen Spaß<br />
macht, hier zu leben. Nur dann werden<br />
Sie nämlich bleiben.
41<br />
Das ist für Nordrhein-Westfalen,<br />
genauer: das Ruhrgebiet, leider ein<br />
großes Problem. Hier wird zwar auch<br />
viel in die Kultur investiert, nicht nur in<br />
neue Opern- und Konzerthäuser oder<br />
in die Kulturhauptstadt RUHR.2010.<br />
Und doch ist das eine Region, deren<br />
Bevölkerung schneller schrumpft und<br />
altert als der Rest der Republik. Was<br />
heißt: Sie gehen weg! Wenn wir nicht<br />
schleunigst herausfinden, warum so<br />
viele junge Menschen weggehen, wenn<br />
wir es nicht schaffen, dass auch wieder<br />
mehr Leute sagen: „Da will ich<br />
hin!“, dann werden wir verlieren. Und<br />
da geht es nicht nur um Arbeitsplätze<br />
und tolle Einkommen. Natürlich ziehen<br />
viele Leute nach München, weil es da<br />
gut bezahlte Jobs gibt. Aber es gehen<br />
eben auch viele Leute nach Berlin, das<br />
bekanntlich „arm, aber sexy“ ist. Da<br />
gibt es vieles, aber sicher nicht an erster<br />
Stelle viele gut bezahlte offene<br />
Stellen.<br />
Für das Projekt Kulturhauptstadt<br />
RUHR.2010 habe ich an jede Tür im<br />
Revier geklopft und versucht, den<br />
Verant wort lichen klarzumachen: Ihr<br />
könnt nicht immer nur an die Industrie<br />
denken. Eben saß ich neben Herrn<br />
Großmann, dem Chef von RWE. Ich<br />
habe ihm versprochen: Jedes Mal,<br />
wenn ich das künftig sage, verneige<br />
ich mich mit größtem Respekt vor der<br />
industriellen Kapazität Nordrhein-<br />
Westfalens. Ja, wir können froh sein,<br />
dass wir so viel Industrie haben!<br />
Anders als zum Beispiel die Engländer,<br />
die es zugunsten der Finanzindustrie<br />
fast aufgegeben haben, noch etwas<br />
herzustellen, was man auch anfassen<br />
kann. Aber diese Arbeitsplätze in der<br />
Industrie werden sich eben auch nicht<br />
mehr vermehren. Das heißt: Wir brauchen<br />
andere Märkte, neue Leitmärkte.<br />
Und diese neuen Leitmärkte sind<br />
getrieben von kreativen Potentialen.<br />
Bei uns gibt es leider immer noch diesen<br />
Bruch in der Debatte: Hier ist die<br />
Industrie <strong>–</strong> dort ist die Kultur. Kultur<br />
ist das, was der Staat bezahlt, und auf<br />
der anderen Seite wird das Geld verdient.<br />
Fahren Sie mal ein paar Kilo -<br />
meter weiter: In Holland lacht man<br />
über so was nur noch. Und in England,<br />
wo man momentan sonst wenig<br />
Grund zum Lachen hat, fand man diesen<br />
deutschen Antagonismus von<br />
Kultur und Wirtschaft schon immer<br />
komisch. Wir hinken in dieser Debatte<br />
der Entwicklung locker fünf Jahre hinterher.<br />
Ich habe länger in London gearbeitet,<br />
und was mich sehr begeistert<br />
hat war, wie die Kreativen dort ganz<br />
offen mit dem Anspruch auftreten, die<br />
Gesellschaft mit zu gestalten! Die melden<br />
sich laut und sagen „Hey, Ihr<br />
braucht Kreativität! Wir wissen, wie<br />
das läuft! Arbeitet also mit uns zu -<br />
sammen!“<br />
Wir haben heute viel über 2025 ge -<br />
sprochen. Das sind noch gut 15 Jahre.<br />
Ich bin jetzt 55, dann bin ich 70! Sie<br />
sind heute 18, 20, 25 Jahre alt. 2025<br />
sind sie Mitte, Ende Dreißig. Das heißt:<br />
Dann sind Sie am Ruder! Und ich bin<br />
eine Art Pop-Rentner. Deshalb mein<br />
Plädoyer: Seien Sie nicht zu be schei -<br />
den. Äußern Sie nicht nur Wünsche<br />
und Vorschläge an die Politik. Mischen<br />
Sie sich ein! Sie sind die treibende<br />
Kraft für die <strong>Zukunft</strong> dieses Landes,<br />
der ganzen Republik, ja ganz Europas.<br />
Wir müssen über die verschiedensten<br />
Bereiche hinweg miteinander kommunizieren,<br />
und zwar horizontal wie vertikal.<br />
Politiker sollen nicht nur mit Poli -<br />
tikern reden <strong>–</strong> und vielleicht noch mit<br />
Leuten aus Verbänden oder Medien,<br />
die sich selbst für die besseren Poli -<br />
tiker halten. Stattdessen muss es zu<br />
horizontalen Debatten kommen zwischen<br />
Politik, Wirtschaft, Wissen -<br />
schaft, Kunst und Kultur. Das gleiche<br />
gilt für die vertikalen Kommuni ka ti -<br />
ons stränge. Meistens hocken die<br />
Alpha-Männchen und -Weibchen zwischen<br />
45 und 65 zusammen. Dabei<br />
täte es manchmal ganz gut, wenn<br />
auch die Leute über 70 mit am Tisch<br />
säßen und ihre Erfahrung beisteuerten.<br />
Und gegenüber müssten Sie sitzen!<br />
Damit Sie morgen nicht bloß ausbaden,<br />
was wir heute anrichten. Wenn<br />
wir diesen umfassenden Dialog hinkriegen,<br />
dann können wir die <strong>Zukunft</strong><br />
gestalten. Und wenn es, wie heute auf<br />
dem Berg, allzu neblig ist, dann nehmen<br />
wir uns bei der Hand und tasten<br />
uns gemeinsam voran. Wer als erster<br />
wieder Sicht hat, der tutet ins Nebel -<br />
horn und zieht die anderen mit.<br />
Irgendwann hebt sich der Nebel auch<br />
wieder. Und wenn wir uns dann alle<br />
ehrlich in die Augen schauen können,<br />
dann haben wir eine Chance, 2025 in<br />
einer vernünftigen Gesellschaft zu<br />
leben, in der die Menschen sagen:<br />
„Mensch, warum sind wir darauf nicht<br />
früher gekommen!“
42<br />
Programm 5.3.2009<br />
Gästehaus Petersberg, Königswinter<br />
Festliches Abendessen aus Anlass<br />
der <strong>Petersberger</strong> <strong>Convention</strong><br />
»<strong>Lebensort</strong> <strong>Zukunft</strong>: <strong>Wege</strong>, <strong>Ziele</strong>, <strong>Ideen</strong>«<br />
gegeben von<br />
Ministerpräsident des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Dr. Jürgen Rüttgers und Angelika Rüttgers<br />
Musikalische Umrahmung<br />
Jakov Zotov, Klavier<br />
Beethoven-Trio Bonn<br />
Mikhail Ovrutsky, Violine<br />
Grigory Alumyan, Violoncello<br />
Rinko Hama, Klavier<br />
Programm<br />
Beethoven Trio Bonn<br />
Ludwig van Beethoven:<br />
Allegro con brio aus dem Trio Op. 11<br />
Ansprache<br />
Ministerpräsident des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Dr. Jürgen Rüttgers<br />
Jakov Zotov<br />
Frédéric Chopin:<br />
Fantaisie Impromptu Op. 66<br />
Ansprache<br />
Friedensnobelpreisträger und<br />
ehemaliger Staatspräsident der<br />
Republik Polen<br />
Lech Wałęsa<br />
Beethoven Trio Bonn<br />
Franz Liszt:<br />
Liebestraum Notturno No. 3<br />
Moderation: Sabine Peper<br />
Programm 6.3.2009<br />
Gästehaus Petersberg, Königswinter<br />
10:00 Begrüßung<br />
Ministerpräsident des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Dr. Jürgen Rüttgers<br />
10:10 Keynote<br />
Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio<br />
„Lebensbedingungen zukünftiger<br />
Generationen“<br />
11:15 Forum 1 <strong>–</strong> Innovation<br />
Stärken stärken <strong>–</strong><br />
Neue Impulse für zukünftige<br />
Kompetenz?<br />
Moderation: Judith Rakers<br />
Forum 2 <strong>–</strong> Beschäftigung<br />
Dienstleistung und Produktion <strong>–</strong><br />
Schlüssel für zukünftigen<br />
wirtschaftlichen Erfolg?<br />
Moderation: Isabelle Körner<br />
Forum 3 <strong>–</strong> Lebensqualität<br />
Wie wollen wir 2025 leben?<br />
Moderation: Thomas Kausch<br />
Forum 4 <strong>–</strong> Wissen<br />
Bildung <strong>–</strong> Basis für die <strong>Zukunft</strong>?<br />
Moderation: Michael Kolz<br />
14:15 Schlaglichter aus den vier Foren<br />
15:30 Abschlussreferat<br />
Professor Dr. Peter Scholl-Latour<br />
16:00 Ausblick<br />
Ministerpräsident des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Dr. Jürgen Rüttgers<br />
16:30 Ende<br />
Programm 6.3.2009<br />
Konferenzzentrum Deutsche Post AG, Bonn<br />
10:00 Campusfrühstück<br />
10:45 Podiumsdiskussion<br />
„Leben heute <strong>–</strong> morgen <strong>–</strong> übermorgen“<br />
11:50 Begrüßung<br />
Ministerpräsident des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Dr. Jürgen Rüttgers<br />
12:15 Beginn der Workshops<br />
Workshop 1<br />
Energieversorgung der <strong>Zukunft</strong><br />
Workshop 2<br />
Klimaschutz: Unsere Verantwortung<br />
für zukünftige Generationen<br />
Workshop 3<br />
Meine Arbeit - Deine Arbeit<br />
Vernetztes Leben und Arbeiten <strong>–</strong><br />
Die Arbeitswelt der <strong>Zukunft</strong><br />
Workshop 4<br />
Soziales Miteinander <strong>–</strong> aber wie?<br />
Demografischer Wandel: Heute sorgen<br />
meine Eltern für mich, werde ich schon<br />
morgen für Sie sorgen müssen?<br />
Workshop 5<br />
Leben im Alter/Gesundheitsforschung<br />
Können wir ewig leben?<br />
Workshop 6<br />
Berufswahl heute <strong>–</strong> Arbeiten morgen<br />
Der Ingenieurberuf <strong>–</strong> Wer macht die<br />
<strong>Zukunft</strong>?<br />
14:30 Zusammenfassung der Ergebnisse der<br />
Workshops der Campusveranstaltung<br />
15:30 Vortrag<br />
Professor Dieter Gorny<br />
Lasst eure Kreativität zu <strong>–</strong><br />
<strong>Zukunft</strong> gestalten<br />
16:00 Schlusswort<br />
Minister Armin Laschet<br />
16:15 After-<strong>Convention</strong>-Party<br />
Michael Imhoff<br />
19:00 Ende der Veranstaltung
Herausgeber<br />
Der Ministerpräsident des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Konzeption/Redaktion<br />
Staatskanzlei des<br />
Landes Nordrhein Westfalen, Düsseldorf<br />
Texte/Redaktion Regine Müller<br />
Dr. Enrik Lauer<br />
Natascha Plankermann<br />
Martina Peters<br />
Dr. Heribert Brinkmann<br />
Gestaltung bdax, düsseldorf<br />
Fotos<br />
Bernd Hegert<br />
Christian Hegert<br />
Christian Irrgang<br />
Ralph Sondermann<br />
Druck<br />
Bonifatius GmbH, Paderborn<br />
Die Daten und Fakten dieser Publikation wurden<br />
mit großer Sorgfalt recherchiert und geprüft<br />
(Stand Juni 2009).<br />
Dennoch kann aufgrund von eventuellen<br />
Veränderungen keine Gewähr für die Richtigkeit<br />
der Angaben übernommen werden.<br />
Die Redaktion ist in diesen Fällen für Hinweise<br />
dankbar.<br />
Drucklegung/Redaktion Juni 2009<br />
© 2009 Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen
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