Lebensstil - Mir z'lieb
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L e b e n s s t i l<br />
Spüren Sie den Frühling<br />
auch (nicht)?<br />
Sie kennen das Gefühl: Fast alle Leute sprechen<br />
davon, dass sie den Frühling spüren.<br />
Die einen nehmen eine Frühlingsmüdigkeit<br />
wahr, die anderen aber spüren die Hochsaison der<br />
Hormone. Liebespärchen patrouillieren unter<br />
Bäumen, welch letztere ihre Triebe in alle Himmelsrichtungen<br />
ausstrecken. Und Sie? Sie spüren<br />
gar nichts? Wahrscheinlich heben sich Frühlingsmüdigkeit<br />
und die Auswirkungen der günstiger<br />
gewordenen Bedingungen für die Fortpflanzung<br />
genau auf.<br />
Die Anzahl Jahreszeiten<br />
In unserem Kulturraum haben wir das Jahr zufällig<br />
in 4 Jahreszeiten aufgeteilt, in China sind es<br />
deren 5, entsprechend den 5 Wandlungsphasen<br />
im Jahreskreis. Die Jahreszeiten sind nur kalendarisch<br />
genau abzugrenzen; denn es kommt ja immer<br />
zu beliebigen Übergangsphasen, die von Jahr<br />
zu Jahr zu etwas verschobenen Zeiten auftauchen,<br />
je nach Wetterlaune. Man könnte das Jahr<br />
natürlich auch in 6, 7, 8 oder mehr Jahreszeiten<br />
unterteilen, wies beliebt.<br />
Deshalb ist es schon erstaunlich, weshalb wir gewissermassen<br />
auf kalendarisches Kommando hin<br />
von den Frühlingsgefühlen übermannt beziehungsweise<br />
überfraut zu sein haben. Es muss an<br />
den Werbetrommlern liegen. Dichter wie Heinrich<br />
Seidel eilten diesen voraus: «Was klingelt, was<br />
klaget, was flötet so klar? Was jauchzet, was jubelt<br />
so wunderbar?» Im Schlepptau davon lässt<br />
Eduard Mörike «sein blaues Band wieder flattern<br />
durch die Lüfte», und Clemens Brentano lässt sich<br />
von des Frühlings süssen Blicken «entzücken und<br />
berücken», um nur eine minime Auswahl an dem<br />
Riesenangebot an Frühlingslyrik zu bieten.<br />
Auch die Schaufenster werden frühzeitig auf Frühling<br />
eingestellt. Die Plastikblumen blühen mit den<br />
Sonderangeboten um die Wette; die Medien<br />
strotzen vor Frühlingsthemen – und jetzt gerade<br />
auch noch das «<strong>Mir</strong> z’lieb»… Wer kann sich dem<br />
allem noch entziehen, cool bleiben und sich dem<br />
unüberhörbaren Frühlingsrauschen, das uns aus<br />
den Winterträumen aufschreckt und aus allen<br />
Kanälen einlullt, entziehen?<br />
Wenn immer markante jahreszeitliche Veränderungen<br />
oder Festtage ins Haus stehen, haben wir<br />
uns angemessen zu verhalten. Ab dem 21. März<br />
müssen wir den Frühling spüren und die entsprechenden<br />
Gefühle und Lüste bis im Mai in Topform<br />
gebracht haben, 9 Monate später müssen wir<br />
zum Halleluja ansetzen und wenige Tage später<br />
Champagnerkorken und Feuerwerk aus dem<br />
Multipack knallen lassen.<br />
Das Diktat der Rituale<br />
Nichts gegen Sitten und Gebräuche, nichts gegen<br />
solidarisierende, stabilisierende und überhöhende<br />
Rituale. Sie haben einen Bezug zu zeitlichen und<br />
räumlichen Veränderungen, markieren Zyklen,<br />
haben fest gefügte Abläufe nachzuvollziehen.<br />
Wer Lust hat, soll alles bilderbuch- beziehungsweise<br />
kalendermässig erfüllen. Doch scheint es<br />
mindestens ebenso wichtig zu sein, jenen Menschen<br />
Verständnis entgegenzubringen, die ihre eigenen<br />
Wege gehen, die nicht auch noch im freizeitlichen<br />
und freiheitlichen Privatleben spuren<br />
mögen. Es gibt Menschen, die ihre Stimmungen<br />
und Gefühle selber vorgeben möchten und sich<br />
diesbezüglich nicht vergewaltigen lassen. Sie geben<br />
sich fröhlich, wenn ihnen fröhlich zumute ist,<br />
sind in sich gekehrt, wenn sie in sich gekehrt sein<br />
möchten. Sie veranstalten spontane Feiern, wenn<br />
ihnen darnach zumute ist; dafür sind sie dann an<br />
ihrem Geburtstag lieber allein.<br />
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L e b e n s s t i l<br />
Die Jahreszeiten und Jahrestage sind mit ihrem<br />
kalendarisch stereotypen, sozusagen repetitiven<br />
Verlauf selbstredend eine ideale Grundlage für Rituale,<br />
die zur Förmlichkeit zwingen. Sie erleichtern<br />
die Pflege von Gewohnheiten. Gerade deshalb<br />
sind sie für viele unangepasste Menschen ein<br />
Greuel – oder sogar ein Gräuel, wie es in der<br />
Neuschreibung heisst: Das Wort klingt ans Grauen<br />
an. Aussenseiter haben es eher schwer; denn<br />
sie werden als Sonderlinge, als Eigenbrötler betrachtet<br />
(die gerade auch noch ihr eigenes Brot<br />
backen, statt es ab Stange im Supermarkt zu kaufen).<br />
Sie verhalten sich unsozial, legen wenig<br />
Wert auf Beziehungen, das heisst, sie sind auch<br />
diesbezüglich wählerisch, pflegen einen intensiveren<br />
Kontakt nur mit jenen Menschen, die ihnen<br />
gefallen, verwandtschaftliche und andere Bindungen<br />
hin oder her. Dafür kommen sie in den Hochgenuss<br />
eigener Gedanken, pflegen das selbstständige,<br />
zweifelnde und prüfende Denken.<br />
Es geht hier nicht um Wertungen. Wahrscheinlich<br />
liegt die Erklärung in den Genen, auf die heutzutage<br />
ja alles zurückgeführt wird: Viele Menschen<br />
fühlen sich in Gemeinschaften wohl, übernehmen<br />
die Verhaltensmuster gern, was sie zudem davon<br />
entbindet, selber kreativ zu sein, eigenständig<br />
und selbstverantwortlich zu handeln. Sie schwimmen<br />
im Hauptstrom der Massen, lassen sich<br />
gemütlich treiben, lassen sich gestalten und ecken<br />
kaum an. Sie haben ein Bedürfnis nach fest gefügten<br />
Abläufen, Verbundenheit, Unterstützung<br />
und sind dementsprechend beliebt. Andere wiederum<br />
möchten ihre eigenen Wahrnehmungen,<br />
Gefühle und Verhaltensweisen entwickeln und<br />
sich diese unter keinen Umständen überdecken<br />
lassen. Nur in diesem Fall finden sie Zufriedenheit,<br />
der sie alles unterordnen, weil diese (laut Cicero)<br />
«der grösste und sicherste Reichtum» 1 ist. Sie mögen<br />
keine Gefühle zur Schau tragen, die sie nicht<br />
haben, auch im Frühling nicht.<br />
Verklärungen nach Lust und Laune<br />
Im Jahresverlauf gibt es Ereignisse, die man<br />
zwar feiert, die zu feiern sich jedoch nicht lohnen<br />
(11. 11., Halloween, die überbordenden, für die<br />
Medien inszenierten «Tage des» usf.). Für andere<br />
finden sich Gründe: Der Frühling hat innerhalb<br />
der diversen Jahreszeiten einen offensichtlich<br />
überhöhten Stellenwert, des Wiedererwachens<br />
der Natur und ihres Blütenschmucks wegen. Er<br />
wird nicht an einem bestimmten Tag begangen,<br />
sondern man lässt ihn monatelang hochleben.<br />
Der Übergang vom Winter in den Frühling ist der<br />
markanteste Wechsel im Jahresverlauf… vergleichbar<br />
mit dem Übergang des Frühlings zum<br />
Sommer, des Sommers zum Herbst und des<br />
Herbstes zum Winter… Warum haben wir eigentlich<br />
nicht auch dann ähnliche Hochgefühle? Warum<br />
verklären wir nicht auch den goldenen Herbst<br />
und die übrigen Jahreszeiten?<br />
In tropischen Gebieten gibt es keine Jahreszeiten:<br />
Um 18 Uhr wird es Nacht, um 8 Uhr Tag. Bei uns<br />
aber gibt es rund ums Jahre ständig Veränderungen.<br />
Die Tage werden ab dem 21. Dezember länger,<br />
ab dem 21. Juni kürzer. Also hat jeder Tag als<br />
Unikat einen Anspruch darauf, ein Feiertag zu<br />
sein; denn eigentliche Zäsuren gibt es nicht, abgesehen<br />
von der Sonnenwende im Sommer<br />
(Mittsommer) und jener im Winter (Mittwinter).<br />
Es ist jedermann unbenommen, auch diese z. B. in<br />
keltischer Manier zu feiern – aber wahrscheinlich<br />
werden wir das erst tun, wenn der keltische<br />
Brauch nach Halloween-Muster in den USA Verbreitung<br />
gefunden hat und von dort übernommen<br />
werden kann, wie alle Massstäbe für die gesellschaftliche<br />
Ausrichtung.<br />
Alles in allem: Feiern wir, wenn uns zum Feiern<br />
zumute ist, und feiern wir nicht, wenn unsere<br />
Stimmungslage ein anderes Verhalten vorgibt.<br />
Wir brauchen nicht zu Opfern der «Tage des Tages»,<br />
von Jahreszeiten und Ritualen zu werden.<br />
Es sind Angebote, die wir annehmen können oder<br />
auch nicht. Wenn es uns gelüstet, eine nette Person<br />
zum Essen einzuladen, müssen wir ja schliesslich<br />
nicht deren Geburtstag abwarten.<br />
1 «Contentum suis rebus esse maximae sunt certissimaeque»,<br />
Cicero: «Paradoxen», 6, K 3, §51.<br />
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