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Stuttgart 21 Kick it like Stuttgart! 03<br />

Castor Die Antiatombewegung 04<br />

Polizeigewalt Darum lieb ich ... alles was so grün ist 10


2<br />

Inhalt, Intro und Impressum<br />

Intro<br />

Der Herbst wird heiß, das steht fest. Das Sparpaket der schwarzgelben<br />

Bundesregierung trifft die Ärmsten mitten ins Gesicht, der<br />

Atommüll strahlt im Wendland munter weiter, das Prestigeprojekt<br />

Stuttgart21 wird gegen den Willen der Bevölkerung durchgeprügelt<br />

und zu allem Überfluss hetzt Thilo Sarrazin auch noch mit rassistischen<br />

Stammtischparolen vor sich hin.<br />

Klar, dass da unser Widerstand nicht fehlen darf. Zum Glück sind wir<br />

nicht allein, sondern umzingeln gemeinsam mit Tausenden anderen<br />

den Bundestag, unterhöhlen die Bahnschienen bei Gorleben oder demonstrieren<br />

gegen den Wahnsinn in Stuttgart.<br />

Um euch dabei entweder ein bisschen inhaltliches Lesefutter zu verschaffen<br />

oder noch zum Mitmachen zu bewegen, haben wir als <strong>Linksjugend</strong><br />

['solid] mal wieder eine neue Zora herausgegeben. Viel Spaß<br />

beim Lesen.<br />

Eure Zora-Redaktion<br />

Inhalt<br />

Stuttgart 21 Kick it like Stuttgart! 03<br />

Castor Castor I Die I Antiatombewegung Die 04<br />

Castor II Atomkonsens 05<br />

Sarrazin Thesen für die Tonne 06<br />

Dresden Calling / Die 3 Fragezeichen 07<br />

Krise I Hartz IV oder Leben 08<br />

Krise II Gewerkschaften 09<br />

Polizeigewalt Darum lieb ich ... alles was so grün ist 10<br />

Kultur 12<br />

IMPRESSUM // zora - Zeitung der <strong>Linksjugend</strong> ['solid]<br />

Ausgabe: 2/10 // Auflage: 50 000 // Anschrift: zora c/o <strong>Linksjugend</strong> ['solid], Kleine Alexanderstr.28, 10178 Berlin // Redaktion:<br />

Katharina Dahme, Daniel Behrens, Björn Buschbeck, Norbert Müller, Julian Plenefisch, Jasper Prigge, Ben Brusniak (V.i.S.d.P.) //<br />

Layout und Satz: Susanne Lange // Bestellung und Kontakt: zora@linksjugend-solid.de und www.linksjugend-solid.de


Stuttgart 21 3<br />

Kick it like Stuttgart!<br />

Seit nunmehr einem Jahr gehen nicht nur Stuttgarterinnen und Stuttgarter auf die<br />

Straße, um gegen das Verkehrs- und Immobilienprojekt Stuttgart 21 zu demonstrieren.<br />

Die Proteste haben mittlerweile auch den Rest der Republik erreicht und setzen<br />

die schwarz-gelbe Regierung zunehmend unter Druck. Obwohl Baden-Württembergs<br />

Ministerpräsident Stefan Mappus und seine UnterstützerInnen in Berlin und den Konzernzentralen<br />

ihre Interessen notfalls auch mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen<br />

die Protestierenden durchzusetzen bereit sind, geht der Protest ungebrochen weiter.<br />

Bereits seit mehreren Wochen<br />

war in Stuttgart für den 30.<br />

September zu einen „Jugendund<br />

Schülerstreik“ mobilisiert<br />

worden. Aufgerufen hatte die<br />

„Jugendoffensive gegen Stuttgart<br />

21“, ein Bündnis gegen das<br />

umstrittene Mammutprojekt,<br />

das vor allem von Schülerinnen<br />

und Schülern getragen wird und<br />

sich für demokratische Stadtplanung,<br />

eine stärkere Förderung<br />

von Jugendeinrichtungen<br />

und gegen den Börsengang<br />

der Bahn stark macht. Als die<br />

etwa 2000 Jugendlichen während<br />

ihrer Demo bemerkten,<br />

dass in der Nähe eine große<br />

Zahl von Polizeieinheiten mobil<br />

machte, änderten sie spontan<br />

ihre Route und begaben sich in<br />

den Park, der schon seit Wochen<br />

zum Dauertreffpunkt der<br />

S 21-Gegner_innen, vor allem<br />

der sogenannten „Parkschützer“,<br />

geworden war.<br />

Das Ziel der Einsatzkräfte bestand<br />

an diesem Tag in der Räumung<br />

des Mittleren Schlossgartens,<br />

um hier die bislang<br />

blockierte Aufnahe von Bauarbeiten<br />

zu ermöglichen. Mit einem<br />

Großaufgebot begann die<br />

Polizei den Park Stück für Stück<br />

frei zu räumen. Tausende widersetzten<br />

sich den Einheiten<br />

und Wasserwerfern mit Sitzblockaden<br />

– leider erfolglos. Am<br />

Ende der Aktion gab es zahlreiche<br />

Verletzte, darunter Rentner_innen<br />

und vor allem junge<br />

Protestierende. Ein Mann verlor<br />

durch den Strahl eines Wasserwerfer<br />

sein Augenlicht, während<br />

Ministerpräsident Mappus<br />

auf einem Volksfest unbekümmert<br />

Bier trank. Noch in der<br />

selben Nacht entwurzelten die<br />

ersten Baufahrzeuge die uralten<br />

Eichen des Parks. Ein Tag,<br />

den nicht nur die Stuttgarter_<br />

innen nicht so schnell vergessen<br />

werden.<br />

aus Steuergeldern aufgebracht<br />

werden sollen, die an anderer<br />

Stellen dringend fehlen, obwohl<br />

der behauptete Bedarf bislang<br />

nicht nachgewiesen wurde<br />

und obwohl mit deutlichen<br />

Einschränkungen im öffentlichen<br />

Nahverkehr zu rechnen<br />

ist – einbezogen und nach ihrer<br />

Meinung gefragt wurde die<br />

Bevölkerung nie. Fest steht jedoch:<br />

Die oberirdisch frei werdenden<br />

Gleisflächen können<br />

neu bebaut werden und hieran<br />

verdienen in Wirtschaft und Politik<br />

rein zufällig vor allem jene<br />

kräftig mit, sich sich seit vielen<br />

Jahren vehement für Stuttgart<br />

21 stark machen.<br />

Hinter den Protesten gegen<br />

Stuttgart 21 steht also mehr<br />

als nur der Schutz von ein paar<br />

alten Bäumen oder bedrohten<br />

Käfern. Das Aufbegehren gegen<br />

die Pläne, das sich durch<br />

alle Schichten und Altersgruppen<br />

zieht, bringt inzwischen<br />

vielmehr ein allgemeines Misstrauen<br />

gegenüber der herrschenden<br />

politischen Klasse<br />

zum Ausdruck. Die offenkundigen<br />

Widersprüche zwischen<br />

Schein und Sein führen vielen<br />

Menschen vor Augen, wie undemokratisch<br />

politische Entscheidungen<br />

häufig getroffen<br />

werden und dass der Staat bei<br />

ihrer Durchsetzung auch nicht<br />

davor zurück schreckt, Schlagstöcke,<br />

Wasserwerfer und Pfefferspray<br />

gegen Kinder und Jugendliche<br />

einzusetzen.<br />

Die Aktionen in Stuttgart zeigen<br />

aber auch, wie spontan<br />

eine kreative Massenbewegung<br />

entstehen kann. Natürlich gibt<br />

es an den Protesten einiges zu<br />

kritisieren – angefangen bei ihrer<br />

Kommerzialisierung bis hin<br />

zu den teilweise irrationalen<br />

Argumenten mancher Gegnerinnen<br />

und Gegner. Vielen Linken<br />

erscheint es jedoch gerade<br />

deshalb wichtig, sich mit eigenen<br />

Impulsen in die Auseinandersetzungen<br />

einzumischen.<br />

In der „Jugendoffensive gegen<br />

Stuttgart 21“ wirken die <strong>Linksjugend</strong><br />

[‚solid] daran mit, Schüler_innen,<br />

junge Azubis und Arbeiter_innen,<br />

Studierende und<br />

junge Arbeitslose zu mobilisieren.<br />

Dabei steht immer wieder<br />

der Zusammenhang zwischen<br />

Stuttgart 21, Bildungsthemen<br />

und der sozialen Frage im Mittelpunkt.<br />

Inzwischen haben sich die<br />

Proteste auf das ganze Bundesgebiet<br />

ausgeweitet. Die<br />

regelmäßig stattfinden Schwabenstreiche,<br />

einminütige Konzerte<br />

mit Pfeifen, Vuvuzelas<br />

und Trommeln - wurde neben<br />

vielen Städten in Baden-Württemberg<br />

auch in zahlreichen<br />

Großstädten außerhalb des<br />

Landes zum Symbol für den Widerstand<br />

gegen Stuttgart 21.<br />

So wird die Frage um das Großprojekt<br />

zur Entscheidungsfrage<br />

für die Landtagswahl im März<br />

2011 und besiegelt womöglich<br />

das Ende der unterirdischen<br />

schwarz-gelben Koalition in Baden-Württemberg.<br />

Oben bleiben!<br />

Daniel Behrens.<br />

Wichtige Links:<br />

jugendoffensive.blogsport.de -<br />

Jugendoffensive gegen<br />

Stuttgart 21<br />

www.parkschuetzer.de<br />

- Die Parkschützer<br />

www.bei-abriss-aufstand.de<br />

- Aktuelle Infos zum<br />

Widerstand gegen Stuttgart 21<br />

www.kopfbahnhof-21.de<br />

- Initiative von zahlreichen<br />

Organisationen<br />

gewerkschaftergegens21.de<br />

- GewerkschafterInnen gegen<br />

Stuttgart 21<br />

Im Zentrum des gigantischen<br />

Verkehrsprojekts steht der<br />

Umbau des Eisenbahnknotens<br />

Stuttgart vom Kopfbahnhof<br />

zum unterirdischen Durchgangsbahnhof.<br />

Obwohl die inzwischen<br />

auf bis zu 10 Milliarden<br />

Euro geschätzten Kosten


42<br />

Castor<br />

Die Antiatombewegung<br />

– non-established since 1975<br />

Die Antiatombewegung ist in aller Munde. Man hatte sie schon längst von diversen<br />

Seiten für tot erklärt, aber plötzlich gehen wieder Zehntausende auf die Straßen und<br />

Schienen, um gegen die Atommülltransporte nach Gorleben und die schwarz-gelbe<br />

Kernkraftpolitik zu protestieren. Die Frage, die sich dabei allerdings stellt: Was ist die<br />

Antiatombewegung überhaupt und woher kommt sie? Ein kurzer Abriss über die Geschichte<br />

der wahrscheinlich größten und ältesten sozialen Bewegung der BRD.<br />

Alles begann in den 70er Jahren.<br />

Im Rahmen der ersten Ölkrise<br />

1973 vervierfachte sich<br />

der Ölpreis auf dem Weltmarkt<br />

innerhalb eines Jahres. Der Zusammenschluss<br />

der Erdöl exportierenden<br />

Länder (OPEC)<br />

hatte als Reaktion auf den Jom-<br />

Kippur-Krieg zwischen Ägypten,<br />

Syrien und Israel die Ölfördermengen<br />

gedrosselt. Plötzlich<br />

mussten westliche Regierungen<br />

sich nach anderen Energieträgern<br />

umschauen. Die Antwort<br />

der damaligen Bundesregierung<br />

war der möglichst schnelle<br />

Ausbau der Atomkraft. Im Zuge<br />

der neuen Kernkraftförderung<br />

durch die Regierung entstanden<br />

sehr schnell extrem viele<br />

Pläne für neue AKWs, obwohl<br />

man schon damals um die Gefahren<br />

der Atomkraft wusste.<br />

Zu den ersten großen Protesten<br />

kam es 1975 auf dem<br />

Baugelände des geplanten<br />

Kraftwerkes bei Whyl in Baden-<br />

Württemberg. Die Antiatombewegung<br />

fing an, zu entstehen.<br />

Auch an anderen Kraftwerksbauplätzen<br />

wie in Brokdorf, Kalkar<br />

oder Wackersdorf formierten<br />

sich innerhalb der nächsten<br />

zehn Jahre massive und durchaus<br />

erfolgreiche Proteste. Der<br />

Atommeiler in Whyl erhielt zum<br />

Beispiel keine Betriebsgenehmigung,<br />

die Wiederaufbereitungsanlage<br />

in Wackersdorf<br />

war nach Großdemonstrationen<br />

mit über 100.000 Teilnehmenden<br />

nicht mehr politisch durchsetzbar.<br />

In diesen Jahren etablierte<br />

sich die Antiatombewegung<br />

als gesellschaftliche Kraft.<br />

Von Anfang an umfasste sie<br />

das gesamte gesellschaftliche<br />

Spektrum: Von Umweltschützerinnen<br />

bis zu Anwohnern<br />

vom Atommeilerbau betroffener<br />

Gebiete, von Linken aller<br />

Couleur bis zum bürgerlichen<br />

Lager, von Kriegsgegnerinnen<br />

über Studenten bis hin zu besorgten<br />

Eltern waren alle dabei.<br />

Der kleinste gemeinsame Nenner<br />

war immer die Forderung<br />

nach dem sofortigen Ausstieg<br />

aus der Atomkraft.<br />

Nachdem es bei den Protesten<br />

gegen das Atomkraftwerk in<br />

Brokdorf zu zum Großteil durch<br />

von der Polizei provozierte Ausschreitungen<br />

gekommen war,<br />

merkte man in der Bewegung,<br />

dass gerade solche Gewaltbilder<br />

benutzt wurden, um die<br />

Atomkraftgegner_innen gesellschaftlich<br />

zu diffamieren. Den<br />

gemeinsamen Zielen war damit<br />

nicht gedient. Es kam zu einem<br />

bis heute existenten Konsens<br />

der Gewaltfreiheit. Trotzdem<br />

blieb das Aktionsrepertoire der<br />

Bewegung immer vielfältig:<br />

Ziviler Ungehorsam gehörte<br />

immer genauso zum Bild der<br />

Proteste wie Großdemonstrationen,<br />

Mahnwachen oder riesige<br />

Menschenketten.<br />

Angesichts der Reaktorunfälle<br />

1979 in den USA (Three Miles<br />

Island) und 1986 in der damaligen<br />

Sowjetunion (Tschernobyl)<br />

konnte niemand mehr<br />

das Zerstörungspotential der<br />

Atomkraft leugnen. Die Bewegung<br />

erlangte eine große gesellschaftliche<br />

Akzeptanz. 1998<br />

sah es dann für viele so aus,<br />

als habe man das Ziel erreicht:<br />

Die neue rot-grüne Bundesregierung<br />

kündigte den Ausstieg<br />

aus der Atomkraft an und trat<br />

in Verhandlung mit den Energiekonzernen.<br />

Was dabei herauskam,<br />

ist heute vielen als<br />

„Atomkonsens“ bekannt: Rot-<br />

Grün vermasselte den Ausstieg<br />

und fiel der Bewegung in<br />

den Rücken, die damit für die<br />

nächsten Jahre an stark geschwächt<br />

wurde.<br />

Eine große Rolle spielten in der<br />

Antiatombewegung seit Mitte<br />

der 90er die Atommülltransporte<br />

ins Zwischenlager Gorleben.<br />

Im Wendland entwickelte sich<br />

ein allgemeiner Widerstand der<br />

Bevölkerung, die sich gemeinsam<br />

mit Aktivist_innen von<br />

überall her gegen die Castortransporte<br />

nach Gorleben sowie<br />

gegen die Atomkraft im Allgemeinen<br />

wehrt. Heute erstarkt<br />

die Antiatombewegung wieder.<br />

Wenn die schwarz-gelbe Regierung<br />

die Laufzeiten verlängert,<br />

muss sie feststellen, dass<br />

die Bewegung noch lange nicht<br />

passé ist – im Gegenteil. Der<br />

Protest wird erst dann aufhören,<br />

wenn der letzte Atommeiler<br />

abgeschaltet ist. Und wenn<br />

der Castor wieder rollt: Auf<br />

nach Gorleben, der Atomregierung<br />

und den Energiekonzernen<br />

kräftig in den Arsch treten!<br />

Björn Buschbeck


Castor 5<br />

Mit der Atomlobby gab es nie<br />

einen „Konsens“?!<br />

Die von CDU/CSU und FDP geführte Bundesregierung hat den Atomkonsens der<br />

rot-grünen Bundesregierung, der vor 10 Jahren geschlossen wurde, aufgekündigt.<br />

Doch gab es den überhaupt?<br />

Als die Atomkonzerne und die<br />

rot-grüne Bundesregierung<br />

2000 auf einen Ausstieg aus der<br />

Atomkraft einigten, war der damalige<br />

Bundeskanzler Gerhard<br />

Schröder (SPD) voll des Lobes:<br />

„Mit den soeben geleisteten Unterschriften<br />

haben wir uns abschließend<br />

darauf verständigt,<br />

die Nutzung der Kernenergie<br />

geordnet zu beenden.“ Es sei<br />

damit „ein klares Ende für die<br />

Nutzung der Kernenergie festgelegt“.<br />

10 Jahre später sind<br />

lediglich zwei Kernkraftwerke<br />

außer Betrieb genommen werden.<br />

Mit Stade und Obrigheim<br />

waren es die ältesten, kleinsten<br />

und vor allem unrentabelsten<br />

deutschen Meiler.<br />

Die Tinte unter den Verträgen<br />

war noch nicht trocken, da<br />

kündigte der Vorstandschef des<br />

Energiekonzerns e.on an, dass<br />

der Ausstieg aus der Atomenergie<br />

„nicht unumkehrbar“ sei.<br />

Angela Merkel, die damalige<br />

und heutige CDU-Vorsitzende<br />

griff dies auf: Bei einem Wahlsieg<br />

werde die Union die Begrenzung<br />

der Laufzeiten der 19<br />

Atomkraftwerke in Deutschland<br />

nicht weiter verfolgen. Auch<br />

das „Deutsche Atomforum“,<br />

der Lobbyverein der Energiekonzerne,<br />

ging damals davon aus,<br />

dass bei einem Regierungswechsel<br />

der Ausstieg von dem<br />

Ausstieg kommen würde.<br />

den die Kraftwerke nicht ausgelastet,<br />

oder mussten wegen<br />

häufiger Störfälle runtergefahren<br />

werden, verlängerte sich<br />

die Laufzeit. Außerdem konnten<br />

die Energiekonzerne Laufzeiten<br />

von Kraftwerk zu Kraftwerk<br />

verschieben. Dies ermöglichte<br />

es letztlich, dass nahezu<br />

alle Kraftwerke von Bundestagswahl<br />

zu Bundestagswahl<br />

über die Zeit „gerettet“ werden<br />

konnten – bis es den ersehnten<br />

Regierungswechsel gab. Selbst<br />

Schrottmeiler wie Krümmel<br />

durften trotz dutzender gefährlicher<br />

Unfälle und Störfälle weiterlaufen.<br />

Die Umgehung des<br />

Ausstiegs erfolgte mit Ansage.<br />

Von einem „Konsens“ konnte<br />

wohl nie die Rede sein.<br />

Überraschen konnte diese Verzögerungstaktik<br />

niemanden.<br />

Bereits bei der Aushandlung<br />

des „Atomkonsenses“ bezeichnete<br />

Greenpeace den vorgeblichen<br />

Atomausstieg als „Volksverdummung“<br />

und „Ausstieg<br />

im Schneckentempo“. Und die<br />

Internationalen Ärzte für die<br />

Verhütung des Atomkrieges<br />

(IPPNW) nahmen die Grünen<br />

direkt ins Visier: „Die Grünen<br />

sind in der Atompolitik vollständig<br />

gescheitert“. Bei den<br />

Grünen brach der Streit aus:<br />

Parteichefin Antje Radtke, die<br />

die Vereinbarung mit der Atomindustrie<br />

ablehnte, konnte<br />

sich jedoch nicht durchsetzen.<br />

Schließlich beschloss der Parteirat<br />

der Grünen: „Wir wer-<br />

den nicht zu Aktionen, Demonstrationen<br />

oder Blockaden<br />

aufrufen, die sich gegen den<br />

Atomkonsens wenden. [...] Wir<br />

stehen zum Atomkonsens.“<br />

Gegen den Atomkonsens wandten<br />

sich die Umweltverbände,<br />

die Bürgerinitiativen im Wendland<br />

und viele andere. Mit dem<br />

„Atomkonsens“ sollte das zur<br />

Wiederaufbereitung in Frankreich<br />

und Großbritannien gelagerte<br />

deutsche Plutonium<br />

zurück gebracht werden – z.B.<br />

ins Zwischenlager Gorleben. An<br />

den Anti-Castor-Protesten im<br />

Wendland wollten sich die Grünen<br />

nach ihrem Deal mit der<br />

Atomindustrie dann nicht mehr<br />

beteiligen. Sie verabschiedeten<br />

sich aus ihrem Bündnis mit der<br />

Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung.<br />

Ihr Regierungsbündnis<br />

mit dem „Genossen der Bosse“,<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder,<br />

hatte für sie größere Bedeutung.<br />

Norbert Müller<br />

Tatsächlich war die Bundesregierung<br />

der Atomwirtschaft<br />

weit entgegengekommen.<br />

Grundlage des Ausstiegs war<br />

die jeweilige Laufzeiten eines<br />

Kraftwerkes. Dabei war<br />

aber nicht die Laufzeit in Jahren<br />

maßgeblich, sondern produzierte<br />

Strommengen, die<br />

sich an der Höchstleistung des<br />

Kraftwerkes orientierte. Wur-


6<br />

Sarrazin<br />

Sarrazin: Thesen für die Tonne<br />

Alle Welt redet derzeit über Thilo Sarrazin.<br />

Und obwohl die Thesen in seinem Buch<br />

„Deutschland schafft sich ab“ lächerlich und<br />

wissenschaftlich nicht beweisbar sind, zeigt<br />

die große Unterstützung für seine Aussagen<br />

vor allem eines: Rassismus ist ein Problem<br />

der Mitte der Gesellschaft.<br />

Sarrazins Thesen<br />

sind rassistisch, weil er Menschen<br />

aus bestimmten<br />

Kulturen unveränderliche<br />

Eigenschaften<br />

zuschreibt<br />

Sarrazin zeichnet in seinem Buch das Bild<br />

einer deutschen Gesellschaft, die von einem<br />

zersetzenden, fremden Islam gefährdet<br />

wird. Mit Extrembeispielen, wie ‚Ehrenmord‘<br />

oder islamistischem Terrorismus,<br />

wird MuslimInnen generell eine bestimmte<br />

Natur zugeschrieben, die als mit der deutschen<br />

Kultur unvereinbar dargestellt wird.<br />

Deutsch-sein und Muslimisch-sein werden<br />

als Gegensätze verstanden. Hinzu kommen<br />

pseudowissenschaftliche Argumente: Alle<br />

„Völker“ hätten ein besonderes Gen (so ist<br />

beispielsweise vom „Juden-Gen“ die Rede).<br />

Nicht nur, dass solche Argumente nicht<br />

stimmen, wohin sie führen hat darüber hinaus<br />

der Nationalsozialismus in drastischer<br />

Weise gezeigt. ‚Völker‘, ‚Kulturen‘, ‚Nationen‘<br />

und ‚Rassen‘ sind von Menschen ausgedachte<br />

Konzepte und haben nichts Natürliches an<br />

sich. Indem aber Sarrazin kulturelle Besonderheiten<br />

an die menschliche Biologie koppelt,<br />

konstruiert er so was wie ‚Rassen‘ und<br />

nutzt den unverfänglicher wirkenden Begriff<br />

„Kultur“ als Synonym. Aufgrund dieser Verbindung<br />

von Kultur und unveränderbaren,<br />

dem Menschen natürlich innewohnenden Eigenschaften,<br />

werden Sarrazins Thesen rassistisch.<br />

Kultur ist aber nicht natürlich und<br />

unveränderbar, sondern immer in Bewegung,<br />

sie entsteht durch Prägung und ständigen<br />

Austausch mit anderen.<br />

Sarrazin behauptet, Intelligenz sei vererbbar.<br />

Da AkademikerInnen immer weniger,<br />

hingegen MigrantInnen hingegen, insbesondere<br />

TürkInnen, angeblich immer mehr<br />

Kinder bekämen, verlöre die deutsche Gesellschaft<br />

intellektuelles Potenzial. Das ist<br />

natürlich nicht nur albern, sondern verschleiert<br />

auch, worum es Sarrazin eigentlich<br />

geht. Intelligenz ist nicht vererbbar,<br />

da sie keine natürliche Eigenschaft<br />

ist. Wissen und Intelligenz sind Folge von<br />

Sozialisierung und Bildung. Sarrazin geht<br />

es jedoch nicht nur um ‚dumme Ausländer‘,<br />

da er gleich auch noch vor der<br />

hohen Geburtenrate der deutschen Unterschicht<br />

warnt. Er ignoriert, dass arme<br />

Menschen in unserer Gesellschaft konsequent<br />

von Bildung ausgeschlossen werden.<br />

Der soziale Status und Bildung sind<br />

stark von einander abhängig, weil Wohlstand<br />

den Zugang zu Bildung gewährt<br />

und Bildung wiederum die Voraussetzung<br />

für Wohlstand ist. Es ist also keine Frage<br />

von deutsch oder nicht-deutsch, sondern<br />

von sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit.<br />

Menschliches Leben nach<br />

der wirtschaftlichen Nützlichkeit<br />

zu bewerten, ist<br />

menschenverachtend<br />

Sarrazin behauptet, die Zuwanderung in<br />

dieer Bundesrepublik sei ein Fehler gewesen,<br />

da sie der deutschen Gesellschaft<br />

letztlich mehr gekostet als genützt hätte.<br />

Diese Aussage ist nicht nur sachlich<br />

falsch, wie sogar das neoliberale Deut-<br />

Wenn du diesen Aufkleber bestellen<br />

möchtest, wende dich an<br />

versand@linksjugend-solid.de<br />

sche Institut für Wirtschaftsforschung<br />

(DIW) gezeigt hat, auch ist Wirtschaftswachstum<br />

in Deutschland ohne Zuwanderung<br />

gar nicht möglich. Sarrazins Aussage<br />

legt außerdem auch eine tief liegende Verachtung<br />

für Menschen offen, die angeblich<br />

wirtschaftlich keine Leistung brächten.<br />

Menschliches Leben wird demnach ökonomisch<br />

abgewogen. Dies bricht mit der Vorstellung<br />

der Gleichheit des menschlichen<br />

Lebens und verstößt gegen alle Prinzipien<br />

von Menschenrechten und Demokratie.<br />

Sarrazin geht es nicht um<br />

Integration, sondern um<br />

Ausgrenzung<br />

Sarrazins FürsprecherInnen und weite Teile<br />

der Medien behaupten, Sarrazin hätte<br />

endlich eine bundesweite Debatte zur Integration<br />

gestartet. Das ist Unsinn! Menschen<br />

wie Sarrazin geht es nicht um Integration.<br />

In der ‚Integrationsdebatte‘ wird<br />

beispielsweise nie nach den Ursachen für<br />

die sozialen Probleme von MigrantInnen<br />

gefragt, sondern immer nur über die vermeintlich<br />

von MigrantInnen verursachten<br />

Probleme gesprochen und wie sich mehr<br />

Anpassung erzwingen lasse. MigrantInnen<br />

werden dabei grundsätzlich als Problem<br />

behandelt. Es geht nie darum, sie einzubinden,<br />

sondern sie als Fremde auszugrenzen.<br />

>><br />

Sarrazin geht es<br />

nicht um Dummheit, sondern<br />

um Armut


Sarrazin<br />

7<br />

Nicht Sarrazin ist das<br />

Problem, sondern<br />

seine Positionen<br />

Letztlich ist Sarrazin nur einer<br />

von vielen, die rassistische Positionen<br />

vertreten und verbreiten.<br />

Doch er ist der Erste, der<br />

in Zeiten der Krise den Hass auf<br />

MigrantInnen und auf Hartz-<br />

IV-Beziehende verbindet und<br />

somit die Unsicherheit vieler<br />

Menschen ausnutzt. Er präsentiert<br />

ihnen Sündenböcke, die<br />

an der Misere angeblich Schuld<br />

sein sollen. Dass es mitunter<br />

die Banken waren, die Milliarden<br />

verzockt haben, die jetzt<br />

die Bevölkerung in Form von<br />

Sparpaketen abzahlen muss,<br />

ist kaum noch in Erinnerung.<br />

Der Hype um Sarrazins Person<br />

ist nicht überraschend:<br />

Europaweit ist das Erstarken<br />

rechtspopulistischer Bewegungen<br />

zu beobachten, die<br />

nicht nur antisemitische, sondern<br />

immer stärker antimuslimische<br />

Vorurteile schüren<br />

und das mit dem Verweis auf<br />

Meinungsfreiheit rechtfertigen.<br />

In einigen Ländern sind<br />

solche Parteien sogar mit<br />

über 20% in den Parlamenten<br />

vertreten.<br />

Gegen diese Entwicklung müssen wir uns<br />

wehren.<br />

Deutschlands bekanntester Hassprediger<br />

geht auf Tour – und wir werden nicht stillhalten:<br />

Sarrazin-Lesungen kreativ stören<br />

und verhindern, gegen Rassismus protestieren!<br />

Julian Plenefisch & Katharina Dahme<br />

Dresden<br />

Calling!<br />

Im Februar kommenden Jahres<br />

wird in Dresden erneut<br />

der Bombardierung Dresdens<br />

durch alliierte Truppen am<br />

13./14. Februar 1945 gedacht<br />

werden. Seit einigen Jahren<br />

wird dieses Gedenken von Neuund<br />

Altnazis aus ganz Europa<br />

vereinnahmt und in ihrem geschichtsrevisionistischen<br />

Sinne<br />

umgedeutet. Im Jahr 2010 gelang<br />

es einem breiten Aktionsbündnis<br />

aus verschiedensten<br />

Organisationen und Einzelpersonen<br />

erstmals den größten<br />

Naziaufmarsch Europas erfolgreich<br />

zu blockieren und damit<br />

zu verhindern. In Folge dessen<br />

kam das Aktionskonzept der<br />

friedlichen Massenblockaden<br />

bei vielen weiteren Anti-Naziprotesten<br />

bundesweit erfolgreich<br />

zum Einsatz. Es ist damit<br />

zu rechnen, dass die Nazis im<br />

kommenden Februar erneut<br />

alles dran setzen werden, eine<br />

große Demonstration in Dresden<br />

zu veranstalten um ihre<br />

Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.<br />

Neue Strategie?<br />

Die Nazis haben derweil zwei<br />

Veranstaltungen angemeldet,<br />

eine für den 13., die andere für<br />

den 19. Februar. Zudem ist nicht<br />

klar, ob sie wie 2010 von einem<br />

Treffpunkt aus ihre Demonstration<br />

starten wollen oder ob sie<br />

eine Art Sternmarsch versuchen.<br />

Beides würde die Organisation<br />

und Durchführung von<br />

Massenblockaden erschweren.<br />

Umso wichtiger, dass die Vorbereitungen<br />

für die Mobilisierung<br />

zu den Blockaden früh beginnen,<br />

um sie am Ende wieder<br />

erfolgreich werden zu lassen.<br />

Das Bündnis ‚Dresden Nazifrei‘,<br />

an dem sich auch die <strong>Linksjugend</strong><br />

[‚solid] beteiligt, hat seine<br />

Arbei bereits wieder aufgenommen<br />

und eine erste Resolution<br />

verabschiedet.<br />

Zu den Blockaden<br />

mobilisieren<br />

Ab sofort könnt ihr Material für<br />

die Mobilisierung zu den Blockaden<br />

bestellen und ReferentInnen<br />

für Veranstaltungen vor<br />

Ort anfragen. Überlegt euch,<br />

ob ihr mit BündnispartnerInnen<br />

in eurem Ort einen Bus nach<br />

Dresden organisieren wollt und<br />

meldet euch bei uns, wenn ihr<br />

Fragen habt.<br />

Die Resolution und weitere Infos<br />

findet ihr auf<br />

www.dresden-nazifrei.com.<br />

Material bekommt ihr, wenn ihr<br />

eine Mail schreibt an<br />

versand@linksjugend-solid.de.<br />

Die drei Fragezeichen<br />

Der Menschenrechtsanwalt Eberhard Schultz hat im Namen der<br />

Migrationsbeauftragten von Tempelhof-Schöneberg, Gabriele<br />

Gün Tank, und der ehemaligen Migrationsbeauftragten von<br />

Charlottenburg-Wilmersdorf, Azize Tank, Strafanzeige gegen<br />

Thilo Sarrazin erstattet. Die Zora-Redaktion hat drei Fragen an<br />

ihn.<br />

Welche Äußerungen von Sarrazin waren der Auslöser für die<br />

Strafanzeige?<br />

Es geht um die Äußerungen im Vorabdruck seines berüchtigten<br />

Buches, wonach die muslimischen Einwanderer angeblich unheilbar<br />

dumm seien. Unter anderem ist die Rede davon, dass<br />

von muslimischen Migranten ein „Gefühl der Bedrohung“ ausgeht<br />

und vor allem „die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen<br />

Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische<br />

Gleichgewicht im alternden Europa“ darstellt. Derartige Äußerungen<br />

erfüllen die Tatbestände der Volksverhetzung, der Beschimpfung<br />

von Religionsgemeinschaften und der Beleidigung,<br />

üblen Nachrede und Verleumdung.<br />

Viele Menschen finden, solche Äußerungen müssen aufgrund der<br />

Meinungsfreiheit erlaubt sein. Was entgegnen Sie dieser Position?<br />

Die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen dort, wo der Straftatbestand<br />

der Volksverhetzung erfüllt ist. Dann wird Meinung zum<br />

Verbrechen. Das sollte uns eine Lehre aus der Zeit des Faschismus<br />

sein.<br />

Was glauben Sie, wie verbreitet sind diese Einstellungen, wie sie<br />

Sarrazin vertritt, in der Gesellschaft und was kann man dagegen<br />

tun?<br />

Menschen mit diesen Einstellungen haben sicherlich die Hoheit<br />

über die Stammtische. Daher sollten wir die 30-40 % der Bevölkerung,<br />

die zu kritischem Denken bereit sind, aufklären, ihre Vorurteile<br />

abbauen und zum Beispiel mit Betroffenen ins Gespräch<br />

kommen, Runde Tische organisieren und phantasievolle Aktionen<br />

planen. So kann man sie in ihrer toleranten Haltung bestärken<br />

und die Meinungsführerschaft zurückgewinnen.<br />

Aktuelle Infos zur Strafanzeige und der sonstigen Arbeit von<br />

Eberhard Schultz findet ihr unter www.menschenrechtsanwalt.de


8<br />

Krise<br />

Hartz IV oder Leben „Junge, warum hast du nichts gelernt?“<br />

Bloß nicht meckern<br />

– es ist doch alles in<br />

Ordnung<br />

Armut in Deutschland? Ist das<br />

nicht übertrieben? Die Frage<br />

kann man sich berechtigterweise<br />

stellen, denn schließlich<br />

sieht man jeden Tag im<br />

Fernsehen Krisenregionen, in<br />

denen es an grundlegenden<br />

Dingen wie Wasser und Medikamenten<br />

fehlt. Deutschland<br />

hingegen ist ein reiches Land.<br />

Aber mal ehrlich: Geht es hier<br />

etwa allen gut?<br />

Der Vergleich mit „Entwicklungsländern“<br />

hinkt. Er unterteilt<br />

Armut in eine „schlimme“<br />

und „weniger schlimme“ Variante.<br />

Damit wird der Blick auf<br />

das Wesentliche verwischt: Es<br />

geht nicht um den Vergleich<br />

von Armut und Armut, sondern<br />

von Armut und Reichtum. Über<br />

jemanden der in Deutschland<br />

arbeitslos ist, kann man natürlich<br />

sagen, dass er im Gegensatz<br />

zum Großteil der<br />

afrikanischen Bevölkerung<br />

wahrscheinlich nicht hungert,<br />

sondern mit dem Mist aus dem<br />

Hartz-IV-Kochbuch für 4,40€<br />

am Tag irgendwie klarkommt –<br />

und mit ganz viel Glück gibt’s<br />

dazu noch ein paar Reste von<br />

der Tafel. Trotzdem ist das ein<br />

beschissener, würdeloser Zustand<br />

irgendwo am Rande der<br />

Gesellschaft.<br />

Aber man muss nicht mal gleich<br />

auf die Situation von Arbeitslosen<br />

schauen: Wenn die einen<br />

die x-te Überstunde schieben<br />

müssen und am Ende trotzdem<br />

nur Geld für das Nötigste dabei<br />

herausspringt, während andere<br />

alleine von den Zinsen, die das<br />

Geld auf der Bank für sie abwirft,<br />

im Luxus leben können,<br />

wird klar, das irgendwas auch<br />

in Deutschland ganz grandios<br />

falsch läuft.<br />

Der Verweis auf ärmere Länder<br />

trifft nicht. Er lenkt erstens<br />

davon ab, dass es auch hier<br />

eine Menge Menschen gibt, die<br />

darunter leiden, dass sie fast<br />

nichts zum Leben haben und<br />

zum anderen davon, dass niemand<br />

arm sein müsste, wenn<br />

der vorhandene Reichtum gerecht<br />

und sozial verteilt wäre.<br />

Jung, arm und angelogen<br />

Gerade Jugendliche sind in<br />

Deutschland von Armut betroffen.<br />

Laut einer Studie aus<br />

dem letzten Jahr lebt mehr als<br />

jeder zehnte Jugendliche von<br />

Hartz IV. Die meisten von ihnen<br />

arbeiten, doch es bleibt<br />

für sie am Ende so wenig übrig,<br />

dass sie zusätzlich Geld<br />

vom Staat brauchen. Mal ins<br />

Kino gehen oder Party in der<br />

Stadt ist für sie nicht drin. Im<br />

Hartz IV Regelsatz sind im Mo-<br />

nat zum Beispiel für Bildung<br />

1,39 Euro vorgesehen. Davon<br />

kann man sich nicht mal eine<br />

halbwegs lesbare Tageszeitung<br />

kaufen, geschweige denn ein<br />

Buch, eine CD oder einen Kurs<br />

an der Volkshochschule. Wer<br />

Menschen einen Euro im Monat<br />

für Bildung in die Hand drückt,<br />

nebenbei das Bildungssystem<br />

in die Krise führt und sich danach<br />

über „die Jugend von heute“<br />

aufregt, der muss zu blind<br />

oder zu bescheuert sein, um<br />

das selbstgemachte Problem<br />

dahinter nicht zu erkennen. Sowieso<br />

glaubt man beim Anblick<br />

der Hartz-IV-Aufschlüsselung<br />

öfters, dass man es hier mit<br />

einem bekloppten Witz zu tun<br />

hat – nur leider ist das Ganze<br />

Realität und trifft insbesondere<br />

Jugendliche.<br />

Für die Unternehmen ist das<br />

ein gutes Geschäft, denn sie<br />

können junge Menschen als<br />

billige Arbeitskräfte einsetzen.<br />

Die Angst vor dem Ende in<br />

der Abhängigkeit von Hartz IV<br />

treibt Jugendliche auch noch in<br />

den letzten schlechtbezahlten<br />

Scheißjob. Wer als LeiharbeiterIn<br />

arbeiten muss, bekommt<br />

im Vergleich zu fest Angestellten<br />

weniger Geld für die gleiche<br />

Arbeit und ist meist froh, überhaupt<br />

einen Job zu haben. Genauso<br />

geht es denen, die dazu<br />

gezwungen sind, unbezahlte<br />

Praktika zu machen, um vielleicht<br />

irgendwann mal ein bisschen<br />

was zu verdienen.<br />

Das System dahinter ist ekelhaft:<br />

Wenn deine Eltern nicht<br />

reich sind, du das falsche Geschlecht<br />

hast oder dein Name<br />

nicht deutsch genug klingt, bist<br />

du nichts weiter als billig ausbeutbare<br />

Arbeitskraft. Und anstelle<br />

offenzulegen, dass das<br />

ein Prozess ist, bei dem einige<br />

wenige von der beschissenen<br />

Lage vieler profitieren, wird<br />

dir eingeredet, deine Armut sei<br />

deine eigene Schuld. Du seist<br />

halt zu blöd, zu langsam, zu<br />

unflexibel, eigentlich müsstest<br />

du dich nur anstrengen, um aus<br />

deiner miesen Situation rauszukommen.<br />

Auf der einen Seite<br />

wird dabei verschleiert, dass<br />

Kapitalismus so nicht funktioniert.<br />

Er braucht immer billige<br />

Arbeitskräfte, und wer einmal<br />

im Armuts- und Ausbeutungskreislauf<br />

drin ist, kommt meistens<br />

nie wieder raus. Auf der<br />

anderen Seite wird vollkommen<br />

ignoriert, dass wo du in der Gesellschaft<br />

endest, hauptsächlich<br />

nicht von deinen Fähigkeiten<br />

abhängt, sondern davon,<br />

von wo du startest. Genauso,<br />

wie man nicht dumm oder faul<br />

ist, wenn man als Putzkraft arbeitet,<br />

braucht man für einen<br />

gutbezahlten Managerjob kein<br />

cooler Typ zu sein – sondern<br />

manchmal nur eine schmierige<br />

Koksnase mit den richtigen Eltern.<br />

>>


Krise<br />

9<br />

Am äußeren Rand der Gesellschaft<br />

Wer keinen Job hat, spürt<br />

schnell, dass in nur wer arbeitet<br />

auch als gesellschaftlich wertvoll<br />

angesehen wird. Die Arbeitsamt-Bürokratie<br />

schlägt zu.<br />

Unsinnige „Weiterbildungen“<br />

und Ein-Euro-Jobs tun ihren<br />

Teil, um Menschen von ihrer<br />

Nutzlosigkeit zu überzeugen.<br />

Dazu kommt stets die Angst im<br />

Nacken, dass das wenige Geld<br />

bis auf Null gekürzt wird.<br />

Neben die materiellen Auswirkungen<br />

von Armut treten die<br />

sozialen. Hartz IV wird in der Öffentlichkeit<br />

gezielt mit „asozial“<br />

gleichgesetzt. Ob Bildzeitung<br />

oder pseudo-seriöse Nachrichtensendungen<br />

- zu gerne werden<br />

Hartz-IV-BezieherInnen<br />

als „Schmarotzer“ dargestellt.<br />

Diejenigen, die Arbeit haben,<br />

werden gegen diejenigen, die<br />

keine Arbeit haben, aufgehetzt.<br />

Es wird der Eindruck vermittelt,<br />

dass Sozialleistungen bloß<br />

missbraucht würden und um<br />

dies zu verhindern, müsse der<br />

Druck auf die BezieherInnen<br />

halt stetig erhöht werden. Das<br />

Leitbild: Nur wer arbeitet, soll<br />

auch essen dürfen. Es wird das<br />

Gefühl vermittelt, dass es kein<br />

Recht auf ein Existenzminimum<br />

gibt, sondern dass man froh<br />

sein kann, überhaupt irgendetwas<br />

zu bekommen. Gleichzeitig<br />

wird die Angst vorm sozialen<br />

Abstieg geschürt – denn wer<br />

will schon so leben müssen?<br />

Also lieber weiter für einen<br />

Dreckslohn schuften und alles<br />

machen, was der Boss verlangt.<br />

Unter diesem Einfluss versuchen<br />

viele, die selbst oder<br />

deren Eltern auf Hartz IV angewiesen<br />

sind, ihre Situation<br />

nach außen zu verbergen. Sie<br />

haben das Gefühl, am Rande<br />

der Gesellschaft zu stehen und<br />

schämen sich - auch wenn sie<br />

für ihre Situation nichts können.<br />

Die Angst, andere könnten<br />

herausfinden, dass man zu<br />

„denen“, den angeblichen Alkoholikern<br />

und Verwahrlosten aus<br />

der Unterschicht, gehört, treibt<br />

dazu, lieber das Maul zu halten,<br />

anstatt auf seine miese Situation<br />

aufmerksam zu machen.<br />

Jung, billig, willig –<br />

Profit durch Armut<br />

Letztlich stellt sich die Frage,<br />

wem dieses perfide Spiel nützt.<br />

Die Antwort ist recht simpel:<br />

Wer reich ist, will auch reich<br />

bleiben. Auf der einen Seite<br />

kann durch billige Arbeitskräfte<br />

der Profit von Unternehmen<br />

weiter erhöht werden. Auf der<br />

anderen wollen die, die heute<br />

arm sind, aus ihrer Situation<br />

raus. Sie werden, weil sie<br />

sich schon jetzt als Bittsteller<br />

fühlen, jeden Job akzeptieren.<br />

Egal, ob der Chef einen<br />

schlecht behandelt, das Gehalt<br />

nicht zum Leben reicht und es<br />

keinen Ausbildungs- oder Studienplatz<br />

für einen gibt – alles<br />

ist besser als Hartz IV. Also<br />

egal, Hauptsache irgendeine<br />

bezahlte Arbeit.<br />

Mit dem Sparpaket und dem<br />

ständigen Druck auf Erwerbslose<br />

spielt die schwarz-gelbe<br />

Regierung diesem Prinzip in<br />

die Hände. Widerlich, denn eigentlich<br />

hat der Sozialstaat die<br />

Pflicht, allen Menschen ein menschenwürdiges<br />

Leben zu garantieren<br />

und nicht durch Steuersenkungen<br />

den Reichtum bei<br />

einigen wenigen zu erhalten.<br />

Doch es ist immer einfacher,<br />

blind auf den gut artikulierten<br />

Willen von Wirtschaftslobbys<br />

zu hören, als sich einen Dreck<br />

um die gesellschaftlichen Underdogs<br />

zu scheren. Doch wie<br />

verhält man sich dazu als prekarisierter<br />

junger Mensch? Der<br />

erste Schritt wäre, sich zu organisieren,<br />

in Gewerkschaften,<br />

in Jugendverbänden wie der<br />

linksjugend[‚solid], in den Bildungsprotesten<br />

oder in sozialen<br />

Bewegungen. Zusammen kann<br />

man lauter sein und sichtbar<br />

machen, dass die eigene Armut<br />

nicht per se auch die eigene<br />

Schuld ist, sondern eine kleine<br />

Auswirkung eines riesigen<br />

Wirtschaftssystems, dass Hand<br />

in Hand mit der Politik in eine<br />

völlig falsche Richtung läuft.<br />

Jasper Prigge und<br />

Björn Buschbeck<br />

Gewerkschaften: Relikt aus der Vergangenheit<br />

oder Teil der Außerparlamentarischen Bewegungen ?<br />

In den Nachrichten hört man<br />

es immer wieder. Tarifverhandlungen<br />

zwischen Arbeitgeber<br />

und den Gewerkschaften.<br />

Doch was heisst das eigentlich?<br />

Besitzt die Gewerkschaft<br />

eigentlich noch die Macht die<br />

Arbeiter zu einen und für Verbesserungen<br />

der Lebensverhältnisse<br />

zu kämpfen. Brauchen<br />

wir überhaupt solche<br />

Vereinigungen oder sind sie<br />

längst überholt? Ich sage Ja!<br />

Wir brauchen Gewerkschaften<br />

immer noch! Gerade in der<br />

heutigen Zeit wo das Kapital<br />

mit allen Mitteln versucht uns<br />

an allen Ecken und Kanten zu<br />

schleifen. Doch zurück auf Anfang.<br />

Was sind eigentlich Gewerkschaften?<br />

Gewerkschaften<br />

sind ein Zusammenschluss<br />

der ArbeiterInnen und Auszubildenden<br />

in einer Branche früher<br />

sogar nur in einem Gewerk.<br />

Man hat sich getroffen und sich<br />

gegenseitig geholfen. Sie haben<br />

Geld zurückgelegt um sich<br />

gegenseitig zu helfen und Mindestbedingungen<br />

ausgehandelt<br />

unter sie ihre Arbeitskraft<br />

anbieten. So hatte man eine<br />

Gegenmacht etabliert. Diese<br />

Gegenmacht erreichte zu ihrer<br />

Hochzeit viele Verbesserungen<br />

für die ArbeiterInnen wie<br />

z.B Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen<br />

bei vollem<br />

Lohnausgleich. In den letzten<br />

Jahren jedoch wurden fast<br />

ausschließlich Abwehrkämpfe<br />

geführt um das bestehende zu<br />

erhalten. So wurden die Abschlüsse<br />

immer schlechter und<br />

die ArbeiterInnen sahen immer<br />

weniger die Notwendigkeit sich<br />

zu organisieren und begannen<br />

sich mit ihrem Schicksal abzufinden.<br />

Dies führte jedoch zu<br />

noch schlechteren Abschlüssen.<br />

Ihr seht es entstand und<br />

entsteht ein Teufelskreis. Doch<br />

nicht überall ist diese negative<br />

Entwicklung zu sehen. Letztes<br />

Jahr zum Beispiel konnte durch<br />

den Streik der GebäudereinigerInnen<br />

ein Zeichen gesetzt<br />

werden. Der „Aufstand der Unsichtbaren“<br />

hat gezeigt das es<br />

sich immer noch lohnt zu organisieren<br />

und für sein Recht zu<br />

kämpfen. Erfolge und Veränderungen<br />

wurden und werden<br />

niemals am Verhandlungstisch<br />

geführt sondern auf der Strasse<br />

und in den Betrieben.<br />

Deshalb ist es gerade jetzt<br />

wichtig sich in Gewerkschaften<br />

zu organisieren. Auch in den<br />

Gewerkschaften beginnt ein<br />

Veränderungsprozess. Dieser<br />

Veränderungsprozess kann und<br />

muss allerdings von den Mitgliedern<br />

also von Euch kritisch<br />

begleitet werden, damit auch<br />

in den nächsten es heisst: Gewerkschaften<br />

das sind Wir Gewerkschaften<br />

sind ein Teil der<br />

Außerparlamentarischen Bewegung<br />

weil wir ein Teil davon<br />

sind. Also auf Holt Euch Euer<br />

Leben zurück! Join the Union!<br />

weiter Infos :<br />

www.dgb.de<br />

Ben Brusniak


10<br />

Polizeigewalt<br />

Darum lieb ich ...<br />

Mit dem massiven Polizeieinsatz<br />

am 30. September gegen<br />

Stuttgart-21-GegnerInnen wurde<br />

das Image des „Freund und<br />

Helfers“ erschüttert. Hunderte<br />

Verletzte und Schwerverletzte,<br />

vorrangig SchülerInnen und<br />

ältere Menschen, gaben Anlass<br />

zu breiter Empörung. Seitdem<br />

melden sich wöchentlich Polizeibeamte<br />

zu Wort und haben<br />

so eine Debatte über die Rolle<br />

der Polizei bei Großeinsätzen<br />

entfacht.<br />

Aufstand der<br />

Gehorsamen?<br />

Konrad Freiberg, Bundesvorsitzender<br />

der Gewerkschaft der<br />

Polizei (GdP), kritisierte, dass<br />

fehlende politische Überzeugungskraft<br />

nicht durch polizeiliches<br />

Handeln ersetzt werden<br />

kann und gestand ein, dass die<br />

Polizei bei Großeinsätzen wie in<br />

Stuttgart oder im Rahmen der<br />

Castor-Proteste überfordert sei.<br />

„Durch den Beschluss der<br />

Bundesregierung, die Laufzeiten<br />

der Kernkraftwerke zu<br />

verlängern, ist ein weiterer<br />

gesellschaftlicher Brandherd<br />

entstanden, der sich nicht zu<br />

einem Flächenbrand ausweiten<br />

darf.“ Konrad Freiberg<br />

(GdP)<br />

sichert. Jede und jeder, die oder<br />

der eine entsprechende Ausbildung<br />

wählt, muss sich dieses<br />

Dilemmas bewusst sein. Wer<br />

die Praxis der Polizei öffentlich<br />

infrage stellt, muss mit Konsequenzen<br />

rechnen. So geschehen<br />

im Falle des Polizeibeamten und<br />

Gewerkschafters Thomas Mohr,<br />

der den Einsatz in Stuttgart als<br />

eskalierend bezeichnete und<br />

dem Innenministerium Baden-<br />

Württembergs diese Eskalation<br />

als gewollt vorwarf. Er sieht sich<br />

nun aufgrund seiner Aussagen<br />

mit Disziplinarmaßnahmen konfrontiert.<br />

It‘s a free, free world.<br />

Grenzüberschreitungen<br />

durch die<br />

Polizei?<br />

Ein anderer Polizist, der – wie<br />

man sieht, aus guten Gründen<br />

– seine Identität nicht preisgeben<br />

will, hat sich zudem darüber<br />

beschwert, dass immer<br />

öfter sogenannte „agents provocateurs“<br />

eingesetzt würden:<br />

„Ich weiß, daß wir bei brisanten<br />

Großdemos verdeckt agierende<br />

Beamte, die als taktische<br />

Provokateure, als vermummte<br />

trationsfreiheit ernst meint,<br />

kann nicht gleichzeitig den Einsatz<br />

von „agents provocateurs“<br />

anordnen. Oder was meinen die<br />

Herren Innenminister dazu?<br />

Doch dies ist nicht die einzige<br />

Grenzüberschreitung. Immer<br />

wieder kommt es auch zu brutaler<br />

Polizeigewalt gegenüber<br />

DemonstrantInnen, die in der<br />

Regel nicht geahndet wird, weil<br />

das Opfer den Täter hinter seiner<br />

Polizeihelm-Vermummung<br />

nicht erkennen kann. Anzeigen<br />

gegen Unbekannt sind nicht gerade<br />

Erfolg versprechend und<br />

müssen meist früher oder später<br />

als ungeklärt zu den Akten<br />

gelegt werden. Laut Amnesty<br />

International gab es allein 2009<br />

2955 Ermittlungverfahren gegen<br />

PolizistInnen, davon knapp<br />

die Hälfte wegen Gewaltausübung.<br />

Noch werden bundesweit<br />

keine Statistiken darüber<br />

angelegt, wieviele dieser Fälle<br />

auch zu einer Verurteilung führen.<br />

Doch lassen Beispiele aus<br />

den Bundesländern schlechte<br />

Quoten erahnen: In Berlin kam<br />

es zwischen 2006 und 2008 zu<br />

gerade mal 13 Verurteilungen<br />

bei über Tausend Anzeigen, in<br />

Hessen waren es innerhalb von<br />

zwei Jahren sechs Verurtei-<br />

und dass es schon jetzt Seiten<br />

im Internet gäbe, wo PolizistInnen<br />

namentlich und mit Adresse<br />

genannt und bedroht werden.<br />

Sie übersehen dabei gern,<br />

dass es längst andere Vorschläge<br />

gibt, die nicht mit diesem<br />

vermeintlichen Risiko verbunden<br />

sind. So könnten anstelle<br />

der Namen auch Nummern vergeben<br />

werden. Wichtig ist nur,<br />

und das zeigen beispielsweise<br />

die Erfahrungen aus Berlin, wo<br />

ganze Einheiten dieselbe Nummer<br />

tragen, dass die schwarzen<br />

Schafe individuell identifizierbar<br />

sind – es also am Ende eines Ermittlungsverfahrens<br />

eben nicht<br />

heißen kann: Anzeige gegen<br />

Unbekannt zu den Akten gelegt,<br />

weil Täter nicht ermittelbar.<br />

„Der größte Lump<br />

im ganzen Land, das<br />

ist und bleibt der<br />

Denunziant.“<br />

Zu dem Problem der Anonymität<br />

hinter Uniform und Helm<br />

kommt ein weiteres, das maßgeblich<br />

zur schlechten Aufklärungsquote<br />

bei Strafanzeigen<br />

... alles was so grün ist<br />

Doch die nachvollziehbare Empörung<br />

mutet irgendwie auch<br />

seltsam an. Es ist kaum verwunderlich,<br />

dass PolizistInnen<br />

nicht, wie in Stuttgart geschehen,<br />

als Kinderschläger und<br />

Verräter beschimpft werden<br />

wollen und sich wünschen,<br />

nicht stellvertretend für die PolitikerInnen<br />

den Kopf hinhalten<br />

zu müssen. Doch die Durchsetzung<br />

von Gesetzen – seien diese<br />

noch so beschissen und nicht<br />

im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung<br />

- gehört nunmal zu<br />

den primären Aufgaben der Polizei,<br />

die eines der repressiven<br />

Instrumente des bürgerlichen<br />

Staates darstellt, mit dem dieser<br />

das Funktionieren des allseits<br />

geliebten Kapitalismus ab-<br />

Steinewerfer fungieren, unter<br />

die Demonstranten schleusen.<br />

Sie werfen auf Befehl Steine<br />

oder Flaschen in Richtung der<br />

Polizei, damit die dann mit<br />

der Räumung beginnen kann.“<br />

Die Polizei soll also regelmäßig<br />

selbst für Eskalation sorgen,<br />

um dann mit Verweis auf gewalttätige<br />

DemonstrantInnen<br />

massiver vorgehen zu können?<br />

Für viele nichts Neues. Neu ist<br />

jedoch, dass sich Polizeibeamte<br />

zu dieser Praxis bekennen und<br />

selbige sogar kritisieren. Immerhin<br />

rechtfertigen Eskalationen<br />

– egal durch wen – immer<br />

auch das repressivere Vorgehen<br />

gegen Demonstrationen und<br />

vereinfachen ihre Kriminalisierung.<br />

Wer es mit der Demons-<br />

lungen bei 490 Verfahren. Der<br />

Hauptgrund für diese schlechte<br />

Quote ist nicht, wie einer der<br />

GdP-Bundesvorsitzenden Rainer<br />

Wendt annimmt, dass die<br />

meisten Anzeigen unberechtigt<br />

sind, sondern dass der Täter in<br />

vielen Fällen aufgrund der Uniformierung<br />

nicht identifiziert<br />

werden kann. Deswegen fordern<br />

Organisationen seit Jahren<br />

schon die Einführung einer<br />

Kennzeichnungspflicht für PolizistInnen.<br />

Sie soll im Falle eines<br />

brutalen Übergriffs die Identifizierung<br />

erleichtern und ein realistisches<br />

Ermittlungsverfahren<br />

möglich machen. GegnerInnen<br />

dieser Kennzeichnung argumentieren<br />

mit der Gefahr, die<br />

von Namensschildern ausgehe<br />

gegen PolizistInnen beiträgt.<br />

Wenn ein Ermittlungsverfahren<br />

eingeleitet wird, erfolgt dies gemeinsam<br />

durch Staatsanwaltschaft<br />

und Polizei. Ein Schelm,<br />

wer Böses dabei denkt. Fakt<br />

ist, dass in vielen Fällen PolizistInnen<br />

gegen ihre eigenen<br />

KollegInnen ermitteln müssen.<br />

So wie ZeugInnen nicht gegen<br />

Familienmitglieder aussagen<br />

müssen, fühlen sich mitunter<br />

auch KollegInnen verpflichtet,<br />

den Mund zu halten. Von einer<br />

unparteiischen Aufarbeitung<br />

eines entsprechenden Vorfalls<br />

kann demnach nicht die Rede<br />

sein. Es wird dringend Zeit,<br />

dass in Deutschland unabhängige<br />

Untersuchungskommissionen<br />

geschaffen werden, die<br />

>>


Polizeigewalt 11<br />

im Falle von Strafanzeigen gegen<br />

PolizistInnen ermitteln. In<br />

anderen Ländern gibt es solche<br />

unabhängigen Einrichtungen<br />

übrigens schon, unter anderem<br />

in England, Norwegen und Kanada.<br />

Sie sind auch deswegen<br />

wichtig, weil die Polizei für Viele<br />

eine Autorität darstellt und das<br />

Aufgeben einer Anzeige eine<br />

große Hürde ist.<br />

Die individuelle Kennzeichnungspflicht<br />

und unabhängige<br />

Untersuchungskommissionen<br />

bei Ermittlungsverfahren gegen<br />

PolizistInnen – dies sind<br />

nur zwei Vorschläge, wie durch<br />

die Aussicht auf erfolgversprechende<br />

Strafverfolgung Fälle<br />

von Polizeigewalt seltener werden<br />

sollten.<br />

Letztlich muss man sich aber<br />

die einfache Frage stellen: Ist<br />

weniger Repression beispielsweise<br />

gegenüber DemonstrantInnen<br />

durch die Polizei überhaupt<br />

gewollt? Oder soll, wie<br />

jüngst in Stuttgart, aber auch<br />

bei vielen anderen Demos vorher,<br />

ein „hartes Durchgreifen“<br />

andere abschrecken, sich an<br />

Protesten zu beteiligen? Man<br />

sollte sich nicht der Illusion hingeben,<br />

dass Forderungen nach<br />

Kennzeichnungspflicht und unabhängigen<br />

Untersuchungskommissionen<br />

breit mitgetragen<br />

werden, weil ein Ende der<br />

Straffreiheit im Interesse aller<br />

ist. Vielmehr gilt es, in Diskussionen<br />

und anderen Auseinandersetzungen<br />

um Mehrheiten<br />

für diese Positionen zu ringen<br />

und diesen Mehrheiten dann<br />

politische Konsequenzen folgen<br />

zu lassen.<br />

Katharina Dahme<br />

Wer wir sind:<br />

Die <strong>Linksjugend</strong> [’solid] ist ein sozialistischer, antifaschistischer,<br />

basisdemokratischer und feministischer<br />

Jugendverband.<br />

Er greift in die gesellschaftlichen Verhältnisse ein<br />

und ist Plattform für antikapitalistische und selbstbestimmte<br />

Politik.<br />

Als Teil emanzipatorischer Bewegungen sucht der<br />

Jugendverband die Kooperation mit anderen BündnispartnerInnen.


12<br />

Kultur<br />

Genuss statt Leistung –<br />

Ein Plädoyer fürs Abhängen<br />

Gammeln gehört sich nicht.<br />

Den Tag einmal komplett im<br />

Bett zu verbringen auch nicht.<br />

Es ist falsch, sich stundenlang<br />

Serien anzuschauen oder am<br />

Computer zu spielen. Genauso<br />

wie öfters exzessiv feiern zu<br />

gehen, abends einfach bloß unproduktiv<br />

mit seinen Freunden<br />

abzuhängen und am nächsten<br />

Morgen Schule, Uni oder Arbeit<br />

auch mal ausfallen zu lassen.<br />

Ein bisschen Spaß ist zwar gesellschaftlich<br />

akzeptiert, aber<br />

bitte niemals zu viel. Die Logik<br />

wirtschaftlicher Verwertungsprozesse<br />

erstreckt sich hierbei<br />

bis ins Privatleben. Warum, ist<br />

relativ klar: Wer seine freie Zeit<br />

nicht dazu nutzt, sich zum Beispiel<br />

beruflich weiterzubilden<br />

oder Überstunden zu machen,<br />

sondern stattdessen ein laxes<br />

Genussleben führt, entzieht<br />

sich dabei meist unbewusst<br />

dem Druck der kapitalistischen<br />

Leistungsgesellschaft, sich<br />

selbst zu einem immer gewinnbringenderen<br />

Arbeitstier auszubilden<br />

– zu Recht. Denn einmal<br />

ganz ehrlich: Wir alle lieben das<br />

genussvolle Gammeln und machen<br />

gerne Dinge, die objektiv<br />

sinnlos sind, aber Spaß machen.<br />

Warum auch nicht?<br />

Mozart nervt –<br />

Party nicht<br />

Diese Frage ist fast schon ein Kapitalverbrechen<br />

gegen den vorherrschenden<br />

bürgerlichen Kulturbegriff.<br />

Das, was am meisten<br />

geachtet und geschätzt wird,<br />

ist eine angebliche „Hochkultur“,<br />

die nach strengen Regeln<br />

funktioniert und immer eine<br />

gewisse Genussfeindlichkeit<br />

mit einschließt. Es ist allgemein<br />

akzeptiert und gibt wahrscheinlich<br />

sogar Anerkennung, in ein<br />

klassisches Konzert zu gehen,<br />

eine Kunstausstellung zu besuchen<br />

oder ein bisschen Dostojewski<br />

zu lesen. Herumhängen,<br />

Technopartys bis zum nächsten<br />

Mittag feiern oder Graffiti malen<br />

dagegen wird immer als ein<br />

bisschen anrüchig angesehen.<br />

Das liegt nicht daran, dass das<br />

eine irgendwie qualitativ hochwertiger<br />

wäre als das andere<br />

– nur stellt „Hochkultur“ im<br />

Gegensatz zum genussvollen<br />

Exzess keine potentielle Gefahr<br />

für die Leistungsfähigkeit<br />

und Produktivität des Einzelnen<br />

dar. Und ist todlangweilig. Hand<br />

aufs Herz: Bevor man sich bei<br />

den Bayreuther Wagnerfestspielen<br />

zu Tode gähnt - dann<br />

doch lieber Skateboard fahren,<br />

Wodka trinken, raven gehen,<br />

auf der Couch fernsehen oder<br />

sonst irgendetwas tun, wonach<br />

man gerade ein Bedürfnis hat.<br />

Das linke<br />

Spaßproblem<br />

Leider wird diese Vorstellung einer<br />

leistungsorientierten „richtigen“<br />

Kultur auch unter Linken<br />

viel zu oft kritiklos übernommen.<br />

Anstelle einer elitären<br />

„Hochkultur“ tritt unter linken<br />

Aktivist_innen eine linke Gegenkultur,<br />

die mindestens genauso<br />

stark reglementiert ist.<br />

Gute Kultur ist hier das, was<br />

angeblich der politischen Sache<br />

dient, also Arbeiterlieder<br />

lernen, Marx lesen, im Plenum<br />

hocken und sich die allmonatliche<br />

Vortragsveranstaltung der<br />

lokalen Antifagruppe antun.<br />

Nicht, dass das irgendwie verwerflich<br />

wäre, im Gegenteil.<br />

Nur herrscht auch hier viel zu<br />

oft eine ablehnende Haltung<br />

gegenüber allem, was aus dem<br />

Raster der politischen Verwertbarkeit<br />

und political correctness<br />

fällt. Schade, dass viele Linke<br />

noch spießigere Spaßbremsen<br />

sind als die Meinungsmacher<br />

einer bildungsbürgerlichen Elitenkultur.<br />

Am Ziel des selbstbe-<br />

stimmten Lebens wird hier weit<br />

vorbeigeschossen.<br />

GammlerInnen<br />

aller Länder –<br />

vereinigt euch!<br />

Eine linke Kulturpolitik muss<br />

auch die Forderung nach einem<br />

Recht auf Müßiggang und Ausschweifung<br />

mit einschließen.<br />

Zoras<br />

CD-Tipps<br />

Irie Révoltés –<br />

Mouvement Mondial<br />

Irie sind zurück. Seit ihrem<br />

letzten Album Voyage von<br />

2006 war es um die Band aus<br />

Heidelberg ruhig geworden.<br />

Jetzt ist sie wieder da: Auf<br />

Mouvement Mondial wird irgendwo<br />

zwischen HipHop,<br />

Ska, Reggae und Dancehall<br />

getextet was das Mikro<br />

hergibt. Die Texte sind auf<br />

deutsch und französisch, die<br />

Beats fett und die Themen<br />

hochpolitisch. Eine coole Platte,<br />

die irgendwie Sommerlaune<br />

macht.<br />

Das soll kein Aufruf dazu<br />

sein, ab jetzt nur noch träge<br />

zu versauern oder sich<br />

durchgängig daneben zu benehmen<br />

– das wäre verfehlt.<br />

Trotzdem muss es für Linke<br />

politisches Ziel bleiben, einen<br />

Gesellschaftszustand zu<br />

erreichen, in dem das Leben<br />

Spaß macht. Und dieser Spaß<br />

darf nicht verboten sein.<br />

Björn Buschbeck<br />

Herrenmagazin: Das Wird<br />

Alles Einmal Dir Gehören<br />

Nach dem Aufschlagsalbum<br />

„Atzelgift“, das die<br />

Herzen der Kritiker_innen<br />

höher schlagen lies, bringt<br />

die Hamburger Indierockband<br />

Herrenmagazin nur<br />

ihr zweites Album auf den<br />

Markt. Jede Zeile, jeder Takt<br />

klingt ein bisschen nach dem<br />

Soundtrack einer irrenden<br />

Jugend. Mit einer Mischung<br />

aus nervöser Melancholie<br />

und bissiger Ironie gehen<br />

die Texte tief ins Herz, ohne<br />

dabei nur eine Sekunde kitschig<br />

zu sein. Der Sound<br />

ist weniger glatt als der des<br />

Vorgänger, dafür um einiges<br />

abwechslungsreicher. „Und<br />

in den dunkelsten Stunden<br />

/ Wirft der Schatten das /<br />

Löscht das Feuer die Brände<br />

/ Schweigt man sich aus<br />

über dich“

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