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31.12., 18.00 Uhr, Silvester, Pfr. Gilch-Messerer

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<strong>Silvester</strong> 2008 Ansprache Kreuzkirche Reutlingen<br />

Liebe Gemeinde,<br />

auf meinem Schreibtisch steht diese Sanduhr.<br />

Manchmal schaue ich ihr zu, wie sie läuft.<br />

Das Rinnen des feinen Sandes beruhigt, und es ist beunruhigend<br />

zugleich.<br />

Dieses schöne, gleichmäßige Rinnen der Zeit. Immer läuft durch die<br />

schöne schmale Taille des Glaskörpers die gleiche Menge, in stoischer<br />

Ruhe und in sprichwörtlichem Gleichmaß.<br />

Dann aber, gegen Ende, obwohl doch immer die gleiche Menge Sand<br />

rinnt, bekommt das Rinnen eine schier beängstigende<br />

Geschwindigkeit. Und ich spüre: Die Zeit rinnt – manchmal<br />

langsamer, manchmal schneller. Sie zerrinnt in meinen Fingern, sie ist<br />

einfach weg, wer weiß wohin versickert, ich kann es nicht sagen,<br />

wohin.<br />

Ich meine jetzt nicht die schönen Zeiten im Leben. Sie gehen ohnehin<br />

ja ganz schnell vorbei, die Augenblicke, in denen wir so gerne sagen<br />

möchten: Verweile doch, du bist so schön! - Zeiten des Glückes, des<br />

Gelingens, des Erfolges. Im Nu sind diese Zeiten Erinnerung,<br />

1


vergangen, und wir leben auch im Rückblick von solch schönen<br />

Zeiten<br />

Die zerrinnende Zeit: Ich gebe zu, dass ich dringend noch ein wenig<br />

Zeit brauche, Lebenszeit, um zu üben, wie Leben gelingt, und<br />

Lebenszeit, um mein Leben zu ordnen und aufzuräumen.<br />

Fang ich mit dem Letzteren an: mit dem Aufräumen.<br />

Angenommen, ich würde heute den Tod sterben, den sich viele<br />

wünschen und den, wenn es eine Bestellliste gäbe, die meisten<br />

ankreuzen würden – wenn mich also der Tod eines Tages gesund<br />

vorfände und mich trotzdem nachts im Schlaf mitnähme:<br />

Was würde ich den Meinen hinterlassen!<br />

Einen Schreibtisch, der verschiedene Stapel von Unerledigtem trägt,<br />

einen Hausstand, der sich von den Umzügen der letzten Jahre noch<br />

nicht ganz erholt hat.<br />

Einmal ganz abgesehen von meinen Kindern, die mich noch brauchen:<br />

aber da kann ich kaum im Voraus ordnen und aufräumen – ich weiß ja<br />

nicht, welchen Weg sie einmal einschlagen.<br />

Patientenverfügung und Betreuungsvollmacht, die ich anderen<br />

dringend empfehle, habe ich selbst noch nicht vollständig ausgefüllt,<br />

und der Ordner mit allen wichtigen Akten ist auch noch nicht so<br />

beisammen, dass andere damit zu Recht kämen.<br />

Abgesehen von diesem Materiellen schulde ich ganz vielen<br />

Menschen Briefe und Gespräche, Telefonate und Besuche. Einer<br />

handvoll Menschen (oder sind es vielleicht wesentlich mehr, als ich<br />

mir eingestehe), denen schulde ich eine ausgestreckte Hand, klärende<br />

Gespräche, Versöhnung oder wenigstens den Versuch dazu.<br />

„Was du tun willst, das tue bald!“ Diese Klugheit aus der Bibel gilt<br />

sicher auch in dem Sinne, dass wir unsere Aufräumarbeiten nicht allzu<br />

oft vertagen sollten, weil Zeit ja immer auch höchste Zeit ist.<br />

Ach, im Grunde brauche ich aber auch noch Zeit, um zu üben, wie<br />

Leben gelingt. Zu üben also, wie man aufmerksam lebt, achtsam lebt,<br />

liebevoll lebt.<br />

2


Vieles geht in der Hektik des Alltags unter. „Du hörst ja gar nicht zu!“<br />

Wenn meine Kinder mir so etwas sagen, zucke ich zusammen.<br />

Wirklich, ich war in Gedanken ganz anderswo. Bei der Predigt, die ich<br />

noch schreiben muss, bei dem alten Mann, den ich im Lauf des Tages<br />

besucht habe, bei der Wäsche, die noch gewaschen werden muss.<br />

Aufmerksam leben, achtsam leben, liebevoll leben:<br />

Im Hier und Jetzt leben. Sich nicht von Vergangenem gefangen<br />

nehmen lassen. Sich nicht von den Sorgen um den morgigen Tag<br />

niederdrücken lassen.<br />

Liebevoll umgehen – mit den Bedürfnissen der Menschen um mich<br />

herum, aber auch mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen.<br />

Aufmerksam leben: auf den eigenen Körper und seine Bedürfnisse<br />

hören, ihm den Wechsel von Anspannung und Entspannung gönnen,<br />

nicht angestrengt und verbissen, sondern leicht und spielerisch.<br />

Die eigene Seele pflegen, meinen Glauben üben. Das können Zeiten<br />

der Stille sein, Spaziergänge in Gottes Schöpfung oder Gespräche mit<br />

Freunden. Auch das Zwiegespräch mit Gott, das Gebet, gehört dazu.<br />

Die Verbindung zu Gott, sollte sie nicht ähnlich gepflegt werden wie<br />

die Verbindung zu lieben Menschen?<br />

Liebe Gemeinde,<br />

die Zeit rinnt davon – wie der Sand in der Sanduhr. Und am Ende<br />

unseres Lebens oder schon in der zweiten Lebenshälfte geht es noch<br />

schneller.<br />

Wie gehen wir mit der Zeit um, die uns geschenkt ist?<br />

Ein berühmter Mensch hat einmal gesagt:<br />

„Du kannst dein Leben nicht verbreitern oder verlängern,<br />

Du kannst es nur vertiefen.“<br />

Ja, das ist es, denke ich.<br />

Ich muss nicht alles haben. Ich muss nicht alles machen. Ich muss vor<br />

allem nicht allem hinterher rennen, bloß weil es die anderen tun.<br />

Ich möchte die Gabe trainieren, herauszufinden, was für mich gerade<br />

„dran“ ist.<br />

3


Ich weiß: Um das herauszufinden, brauche ich andere Menschen, die<br />

mich auf meinem Weg begleiten. Und ich brauche Gott, der mich<br />

besser kennt als ich mich selbst.<br />

Beim Propheten Jeremia heißt es:<br />

„Gesegnet der Mensch, der sich auf den HERRN verlässt und dessen<br />

Zuversicht der HERR ist.<br />

Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum<br />

Bach hinstreckt.“ (Jeremia 17, 7 und 8)<br />

Liebe Gemeinde,<br />

tiefe Wurzeln zu haben, die uns fest stehen lassen, Wurzeln, die uns<br />

einen festen Halt geben, Halt in Gott, Halt im Ewigen angesichts der<br />

Zeit, die uns zwischen den Händen zerrinnt – das wünsche ich uns<br />

allen heute Abend, an dem die letzen Stunden des Jahres 2008<br />

zerrinnen und das Jahr 2009 schon anfängt. Amen.<br />

Pfarrerin Astrid <strong>Gilch</strong>-<strong>Messerer</strong><br />

4

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