Romane/Hohlbein, Wolfgang - Das zweite Gesicht.pdf
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standen einen Spaltbreit offen, aber sein Pupillen bewegten sich nicht.<br />
Selbst, als sich Denkrad vorbeugte und nicht besonders sanft zuerst die<br />
Kanüle aus seiner Flanke und dann den Plastikschlauch aus seinem<br />
Maul zog, reagierte es nur mit einem schwächlichen Maunzen; und<br />
vielleicht der Andeutung einer Bewegung, aber sein Blick blieb starr.<br />
Denkrad schubste es leicht mit dem Zeigefinger an, richtete sich auf<br />
und sah einen Moment lang ratlos aus. Erschrocken? Nein – wenn<br />
überhaupt, dann eher wütend.<br />
«Sie reagiert nicht», sagte Martin.<br />
«<strong>Das</strong> kann an der Narkose liegen», sagte einer der anderen Ärzte. «Sie<br />
ist benommen. Leichte Sehstörungen sind nichts Besonderes, wenn<br />
man aus einer Narkose erwacht. In einer halben Stunde ist sie wieder<br />
auf den Beinen und schnorrt Sie um eine Schale Milch an.»<br />
«Wir haben aber keine halbe Stunde», sagte Denkrad gepresst. «Sie<br />
haben das Mittel zu hoch dosiert, Sie Idiot.»<br />
Der Mann war klug genug, nicht darauf zu antworten. Denkrad starrte<br />
einen Moment lang wütend ins Leere, dann beugte er sich vor und<br />
versetzte der Katze einen <strong>zweite</strong>n, deutlich derberen Stoß. Diesmal<br />
klang ihr Miauen kräftiger, und sie hob sogar den Kopf. Aber als<br />
Denkrad die Hand vor ihren Augen auf und ab bewegte, erfolgte keine<br />
Reaktion.<br />
«Sind Sie sicher, dass Sie alles richtig gemacht haben?», fragte Martin.<br />
Er hatte mit einer wütenden Antwort gerechnet, aber Denkrad nickte<br />
nur. «Wir haben ihr Sehzentrum komplett entfernt», sagte er.<br />
«Zusammen mit den Sehnerven, den Augäpfeln und den<br />
dazugehörigen Muskelsträngen. Danach haben wir die entfernten Teile<br />
durch die einer anderen Katze ersetzt. Die Operation ist ohne<br />
Komplikationen verlaufen.» Er zuckte mit den Schultern. «Es müsste<br />
alles funktionieren.»<br />
Seine Worte machten Martin wütend. Er sollte enttäuscht sein, aber er<br />
empfand nur Wut auf Denkrad, der über das Tier sprach wie über ein<br />
beschädigtes Automobil, das er repariert hatte. Er beugte sich vor, hielt<br />
die Hand vor das <strong>Gesicht</strong> der Katze und bewegte die Finger hin und<br />
her.<br />
Ihre Ohren zuckten. Für einen ganz kurzen Moment folgten die Pupillen<br />
der Bewegung seiner Finger, ehe sie wieder starr wurden.<br />
«Da!» Denkrad zog triumphierend die Luft ein. «Haben Sie gesehen?<br />
Sie hat reagiert.»<br />
Er war nicht sicher, ob er es wirklich gesehen hatte. Vielleicht hatte er<br />
es gesehen, vielleicht hatte er aber auch nur geglaubt, es zu sehen,<br />
weil er es erwartete. Er streckte die Hand noch einmal aus, und ein<br />
weißglühender Pfeil aus reinem Schmerz schoss mit solcher Gewalt<br />
durch sein Gehirn, dass er nach vorne taumelte und gestürzt wäre,<br />
hätte er sich nicht im letzten Moment am Rand des Glasbehälters<br />
festgeklammert.<br />
«Was ist?», fragte Denkrad erschrocken.<br />
«Es... geht los», murmelte Martin mit zusammengepressten Zähnen.<br />
Der Schmerz ebbte allmählich ab, aber er wusste, dass er<br />
wiederkommen würde, sehr bald und sehr viel schlimmer. Die wenigen<br />
Farben begannen bereits zu verblassen, und die Schatten waren tiefer<br />
geworden.<br />
«Jetzt schon? <strong>Das</strong> Mittel müsste noch – «<br />
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