16.11.2013 Aufrufe

Meißnernacht – Nachtgedanken

Meißnernacht – Nachtgedanken

Meißnernacht – Nachtgedanken

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Meißnernacht</strong> <strong>–</strong> <strong>Nachtgedanken</strong><br />

von Isabel Sahm<br />

Nebel.<br />

Dichter Nebel empfängt uns auf dem Hohen Meißner. Dunkelheit und feuchte Kälte, ein scharfer<br />

Kontrast zum hell-warmen Bustransfer vom Ludwigstein aus. Ein Nebel von der Art und<br />

Weise, wie er sich auch an sonst klaren Nächten an Bergkuppen sammelt und verdichtet.<br />

Auf kurzem Weg gehen wir von der Straße zum Gedenkstein, wo uns eine unerwartete Überraschung<br />

empfängt: ein Tonband, auf dem jeder seine Botschaft für die Meißnerfeier 2013<br />

hinterlassen soll. Jetzt merkt man deutlich, dass der lange diskussionsreiche Tag schon Spuren<br />

an der Fähigkeit zu spontanen Geistesblitzen hinterlassen hat. Ich muss an einen kürzlich gehörten<br />

Vortrag denken, in dem erläutert worden war, dass Bilder und Worte mit starker Symbolkraft<br />

nur selten völlig spontan entstehen, sondern intensiver Vorbereitung bedürfen. Bewegend<br />

aber die Frage: wird das Tonband fünf Jahre Eingegrabensein in der Nähe des Gedenksteins<br />

überstehen? Was werden sich die Feiernden beim Abhören denken?<br />

Dann klingen einzelne Lieder in die Nacht hinaus, treffen sich mit den grauen Nebelschleiern,<br />

die jedes Geräusch abdämpfen, bis es vollständig verklingt. Nebelnächte sind stille Nächte.<br />

Die Wanderung zurück zum Ludwigstein beginnt <strong>–</strong> 17 km sollten es werden. Die Frage, warum<br />

die Ankunft gegen 8 Uhr morgens angesetzt war, sollte sich im Lauf der Nacht noch deutlich<br />

genug beantworten.<br />

Wie würde es sein, mit einer so großen und mir nahezu unbekannten Gruppe durch die Nacht<br />

zu wandern? Es ist lange her, geht auf meine Schulzeit zurück, das letzte mal mit so vielen<br />

Menschen gemeinsam draußen unterwegs gewesen zu sein, später fast immer allein oder in<br />

einer Kleingruppe. Schon damals hatte ich den Alleingang als eine eigene, ganz besondere Erlebniswelt<br />

entdeckt, denke nun zurück an andere, vergangene Nächte in Wald und Natur.<br />

Ja, es ist anders. Man spürt den Wald nicht so intensiv, nimmt seine feinen Geräusche und<br />

Stimmungsschwankungen nicht wahr, die überlagert werden von menschlichem Zusammensein,<br />

Schritten, Worten. Der Wald als komplexes Lebewesen zieht sich zurück und wird Kulisse,<br />

Bühne für den Menschen als Gruppenwesen, baut einen Kontrast, eine Trennlinie auf, die eine<br />

größere Menschenzahl wohl nur schwer überschreiten kann.<br />

Der Nebel bleibt allmählich genauso zurück wie die Lichter der Straßenlaternen und eines einzelnen<br />

Hauses auf der Kuppe. Gespräche verwickeln sich, anfangs noch zu den Themen des<br />

Tages, werden dann aber intensiver und persönlicher, gleiten auf andere Ebenen ab, suchen<br />

Gemeinsames und Trennendes zu bestimmen, weisen auf Verbundenheiten und Sympathien<br />

trotz mancher <strong>–</strong> auch scharfer <strong>–</strong> Gegensätze. Der Weg ist leicht zu gehen, ein breiter Waldweg<br />

mit einzelnen betonierten Abschnitten. In der jetzt klaren Nacht scheint immer wieder der<br />

Mond durch die Stämme. Es ist eine von den Nächten, in denen man Schatten wirft.<br />

An einer Kiesgrube machen wir halt und singen, das Mondlicht beleuchtet Boden und Gesichter.<br />

Einzelne Nebelfetzen tauchen im Gegenlicht auf und ziehen wie ein kurzer Hauch vorbei.<br />

Dann gehen wir weiter. Nach einiger Zeit verändert sich der Untergrund. In den letzten Wochen<br />

müssen Holzfällarbeiten stattgefunden haben, die Wege sind zerfurcht von den Rädern<br />

schwerer Fahrzeuge, die Erde ist mit Ästen, Zweigen und Steinen übersät. Der Regen der vergangenen<br />

Tage tut sein Übriges <strong>–</strong> das Gehen beginnt, Konzentration zu fordern, wird stellenweise<br />

zum Tasten und Stolpern, immer wieder rutschen die Füße auf feuchtem Holz oder an


Furchenrändern ab. Die Gespräche werden leiser und unterbrochener, gleichzeitig nimmt die<br />

Schwärze der Nacht zu, nähert sich ihrer tiefsten Finsternis.<br />

Wir legen eine Vesperpause ein, allmählich machen sich Müdigkeit und Mangel an Schlaf bemerkbar.<br />

Weiter geht es auf schwierigem Untergrund. Der dichte Fichtenwald erzeugt eine<br />

Dunkelheit, die die Augen kaum noch durchdringen können. Immer wieder passiert es, dass<br />

man einen Stehenbleibenden nicht bemerkt und mit ihm zusammenstößt. Die Gespräche verändern<br />

sich, drehen sich um blendende Fackeln an der Gruppenspitze oder ebensolche, zeitweise<br />

aufblinkende Taschenlampen. Irgendwann setzt die Erkenntnis ein: ein falscher Abzweig,<br />

fehlgegangen.<br />

Allmählich wird klar, warum für 17 km eine ganze Nacht eingeplant worden war. Es wird der<br />

Entschluss gefasst, die nächste Fahrstraße aufzusuchen und dort bis zum nächsten Abzweig<br />

Richtung Ludwigstein zu gehen. Zwar würde das den Weg verlängern, aber man käme auch<br />

schneller voran. Und wirklich <strong>–</strong> eine Erleichterung, auf Asphalt gehen zu können, ohne zu rutschen,<br />

zu gleiten und zu stolpern. Jetzt klingen auch wieder einige Lieder auf, der Abzweig<br />

zum Ludwigstein ist schneller erreicht als zunächst angenommen. Nun folgen nochmals einige<br />

Kilometer auf zwar dunklen, aber guten Waldwegen. Ein kurzes Zwischenspiel wartet noch auf<br />

uns: einer der beiden begleitenden Hunde ist verloren gegangen, ein kleiner weißer Chihuahua.<br />

Keine ungefährliche Situation für so einen winzigen Hund im nächtlichen Wald <strong>–</strong> aber<br />

glücklicherweise ist er schon bald wieder aufgefunden, hatte nur das Tempo nicht mehr mithalten<br />

können und begleitet uns von nun an in der Tragetasche seiner Besitzerin.<br />

Noch ein paar letzte Steigungen, dann sehen wir den Ludwigstein vor uns. Über die letzte<br />

Wiese gehen wir in der beginnenden Morgendämmerung hinauf, und es ist wie bei jeder Ankunft<br />

an jenem Ort eine Art Heimkommen, ein Gefühl des Dort-hin-Gehörens, Beheimatetseins,<br />

die letzten Meter zu gehen, den Burghof zu betreten.<br />

Die <strong>Meißnernacht</strong> klingt aus im Gedenkraum für die gefalllenen Wandervögel der letzten beiden<br />

Weltkriege. Für viele von uns bedeutete schon die nächtliche Wanderung in einem uns<br />

friedlich umgebenden, schweigenden, gefahrlosen Wald Mühe und Anstrengung <strong>–</strong> was haben<br />

jene Wandervögel vor ihrem gewaltsamen Sterben erlebt? Vielleicht ebenfalls nächtliche Wälder,<br />

aber Wälder der Feindseligkeit und des Todes?<br />

Dankbar, im Frieden aufgewachsen zu sein und leben zu können, singen wir „Schließ Aug und<br />

Ohr“, anschließend „Was ließen jene“. Waren auch jene Wandervögel „letztes Scheit“ gewesen<br />

<strong>–</strong> und wofür?

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!