Pfade der Freiheit - auf Fluchthilfe.de
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Franka<br />
sah Kunz in <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Reihe <strong><strong>de</strong>r</strong> Demonstranten,<br />
oft neben Edith, mit Hut und gutgelaunt. Heute<br />
erinnert er sich nicht ohne Stolz: »Da dabeigewesen<br />
zu sein, und in dieser Besetzung – das war schon<br />
Klasse.« Ein Tonangeber <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Stun<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn<br />
als Kreuzchorknabe kann er die »Internationale«<br />
genauso perfekt intonieren wie das oft gesungene<br />
Motto »Montag sind wir wie<strong><strong>de</strong>r</strong> da / je<strong><strong>de</strong>r</strong> bringt<br />
noch einen mit.« Politisiert von <strong>de</strong>n Ereignissen,<br />
aber skeptisch gegenüber I<strong>de</strong>ologien, tritt er <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
SPD bei und organisiert <strong>de</strong>n Parteitag mit, <strong><strong>de</strong>r</strong> in<br />
Leipzig stattfin<strong>de</strong>t – <strong><strong>de</strong>r</strong> erste im Osten seit <strong>de</strong>n<br />
Zeiten <strong><strong>de</strong>r</strong> Weimarer Republik. Kunz drückt Willy<br />
Brandt die Hand, organisiert für Egon Bahr ein<br />
Mittagessen und bringt Parteipersonal, für das es<br />
sonst keine Übernachtung gibt, in seinem Eltern-<br />
viele von ihnen Jungendliche wie Mike, zusammengepfercht,<br />
Eltern suchen nach ihren Kin<strong><strong>de</strong>r</strong>n und<br />
fin<strong>de</strong>n sie erst nach Tagen wie<strong><strong>de</strong>r</strong>. Die Polizei hat<br />
das Gelän<strong>de</strong> abgesperrt, läßt ihn und seinen Freund<br />
Les aber passieren. Bei<strong>de</strong> spüren <strong>de</strong>n Druck, <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
<strong>auf</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> ganzen Stadt lastet, weichen aber nicht aus.<br />
Junge Männer wie sie sind die ersten, die sich <strong>de</strong>n<br />
Militärfahrzeugen in <strong>de</strong>n Weg stellen.<br />
Sie sind auch die ersten, die <strong>auf</strong> sehr persönliche<br />
Weise mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Freiheit</strong> konfrontiert wer<strong>de</strong>n, als<br />
die aus <strong>de</strong>m Graben steigt und wie neugeboren<br />
im diffusen Licht einer wetterleuchten<strong>de</strong>n Epoche<br />
steht. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Schule bekennt <strong><strong>de</strong>r</strong> Staatsbürgerkun<strong>de</strong>lehrer,<br />
nun nicht mehr weiter zu wissen und<br />
viel falsch gemacht zu haben. Die vorgezeichneten<br />
Lebensbahnen zerbröseln mit <strong>de</strong>n politischen<br />
Musikhochschule studiert. Der Refrain eines ihrer<br />
Lie<strong><strong>de</strong>r</strong> hat das Zeug zum Lebensmotto: »Es ist das<br />
Fest <strong><strong>de</strong>r</strong> Freu<strong>de</strong> / und es tanzt die ganze Welt.«<br />
Kunz<br />
ist wie elektrisiert von <strong>de</strong>m Aufruf zur Gründung<br />
einer SPD in <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR, <strong><strong>de</strong>r</strong> im August ’89 bekannt<br />
wird. Das Abitur darf er nicht machen, also hat er<br />
Schlosser gelernt. Und singt in einer Punkband.<br />
Als er zum Wehrkreiskommando bestellt wird,<br />
verweigert er sich <strong>de</strong>m Staat total, vom Knast in<br />
Bautzen hat er schon gehört. Ein Offizier brüllt:<br />
»Das ist ein Fall für <strong>de</strong>n Militärstaatsanwalt!« Ruhig<br />
entgegnet Kunz, das sei ihm egal, er sei Zivilist.<br />
»Sie haben mich rausgeschmissen«, erinnert er<br />
sich und lacht. »Ich habe nichts mehr von <strong>de</strong>nen<br />
gehört, dann kam <strong><strong>de</strong>r</strong> Herbst.« Und dieser Herbst<br />
Mike<br />
Kunz<br />
haus unter. Sein Engagement wird jedoch nicht<br />
zum Karrierefundament, Kunz bleibt Schlosser,<br />
bleibt in <strong><strong>de</strong>r</strong> SPD, bleibt kritisch und i<strong>de</strong>ologieresistent.<br />
Wohnt, wo er immer gewohnt hat, und ist<br />
verheiratet mit einer Frau aus Düsseldorf, die er<br />
ohne Mauerfall nicht kennengelernt hätte. Einmal<br />
im Jahr klettert er <strong>auf</strong> einen Berg, keinen will er<br />
zweimal erobern. Nur im Fall <strong>de</strong>s Kilimandscharo<br />
macht er perspektivisch eine Ausnahme: »Fünf<br />
Tage Aufstieg und dann diese Aussicht, das ist so<br />
einmalig, das kann ich wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen.« Im Gepäck<br />
hatte er übrigens Tellkamps Roman »Der Turm«.<br />
Les und Mike<br />
sind seit ihrer Schulzeit befreun<strong>de</strong>t und reiten heute<br />
noch gern zusammen aus. Die <strong>Freiheit</strong> <strong>auf</strong> <strong>de</strong>m Rücken<br />
<strong><strong>de</strong>r</strong> Pfer<strong>de</strong> – im September ’89 scheint sie für<br />
immer in <strong>de</strong>n Graben gefallen. Bei<strong>de</strong> sind fünfzehn<br />
Jahre alt, Mike wohnt <strong>auf</strong> <strong>de</strong>m Gelän<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Agra. In<br />
<strong>de</strong>n Pfer<strong>de</strong>ställen <strong>auf</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Agra wer<strong>de</strong>n Inhaftierte,<br />
Strukturen: Ikarus darf nun fliegen, aber bei Absturz<br />
steht keine Briga<strong>de</strong> mit Fangnetz am Bo<strong>de</strong>n.<br />
Mike lernt Klempner, langweilt sich, will Lehrer<br />
wer<strong>de</strong>n, sucht sich selbst, versucht sich, verliert<br />
sich dabei fast. Experimentiert mit <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Freiheit</strong>, die<br />
ihn das Einmaleins <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbständigkeit lehrt: Der<br />
Mensch ist ein Beziehungswesen. Heute schätzt<br />
er die Brü<strong><strong>de</strong>r</strong>lichkeit, die alltäglichen Halterungen.<br />
Er arbeitet wie<strong><strong>de</strong>r</strong> als Klempner, nun aber in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />
Schweiz. Seine Tochter hat reiten gelernt <strong>auf</strong><br />
jenem Reiterhof bei Leipzig, <strong>de</strong>n Les vor einigen<br />
Jahren mit seiner Freundin gegrün<strong>de</strong>t hat. Für Les<br />
ein ausgleichen<strong>de</strong>s Pendant zu seinem Leben als<br />
fahren<strong><strong>de</strong>r</strong> Theatermann, zu <strong>de</strong>m er <strong>auf</strong> Umwegen<br />
gewor<strong>de</strong>n ist, nach<strong>de</strong>m auch ihn die <strong>Freiheit</strong> über<br />
die Aspekte ihrer Scheinbarkeit belehrt hat. Als<br />
Fotograf ein erfolgreicher Autodidakt, hat ihn ein<br />
angeborenes Gespür für Inszenierungen, für Stil<br />
und Ästhetik zu einem in <strong><strong>de</strong>r</strong> freien Szene gefragten<br />
Allroun<strong><strong>de</strong>r</strong> wer<strong>de</strong>n lassen. Ein langer Weg, <strong>de</strong>n er<br />
Leipziger Blätter · Ausgabe 55 · 2009 15