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DIE MASKE Nr.3 als PDF

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EDITORIAL<br />

Imagination is needed…<br />

Die dritte Ausgabe der <strong>MASKE</strong> – Zeitschrift für<br />

Kultur- und Sozialanthropologie behandelt in den<br />

drei Schwerpunkt-Rubriken die Themen Rassismus<br />

(Salon), Queer Studies (Fachgebiet) und Europa (Region).<br />

Nicht nur das Aussehen des Heftes hat sich verändert (so<br />

wurden die Rubriken besser gekennzeichnet, die Bildsprache<br />

des Covers wurde überdacht und das Inhaltsverzeichnis ist<br />

jetzt übersichtlicher gestaltet), auch das Team ist gewachsen<br />

und die Arbeitsstrukturen wurden weiterentwickelt – wobei<br />

unser Anspruch an die Beiträge noch präzisiert wurde: Wir<br />

möchten Artikel veröffentlichen, die in einer leicht verständlichen<br />

Sprache geschrieben wurden, jedoch die wissenschaftliche<br />

Qualität nicht vermissen lassen. Dies gelingt uns auch<br />

in Nummer 3 nicht immer – aber wir bemühen uns weiterhin<br />

Autor Innen für diesen Ansatz zu begeistern. Das Experimentieren<br />

mit Schreibstilen ist dabei mehr <strong>als</strong> willkommen,<br />

der Polyphonie der Stimmen soll Raum gegeben werden. Die<br />

<strong>MASKE</strong> stellt sich dem Anspruch, anthropologische Inhalte<br />

an Interessierte zu vermitteln – wir möchten den muffigen<br />

Geruch der Völkerkunde und deren veraltete Konzepte loswerden.<br />

In der Fachgemeinschaft scheint – nach eingehender<br />

Ausdifferenzierung – ein gewisser Kanon zur Kritik der Postmoderne<br />

zu bestehen. Jetzt heißt es die Neuerungen nicht<br />

ewig wiederzukäuen, sondern sie umzusetzen.<br />

Im Salon findet sich das Thema Rassismus – doppeldeutiger<br />

hätte es nicht sein können. Die Anthropologie ist eine Disziplin,<br />

die sich ihrer kolonialen Vergangenheit und der Existenz<br />

eines vergangenen wissenschaftlichen Rassismus stellen<br />

muss – und dies auch tut. Nicht nur die Aufarbeitung der eigenen<br />

Fachgeschichte und das Vorstellen aktueller Projekte<br />

zum Thema war uns ein Anliegen, auch die spürbare „Islamophobie“<br />

in Wien wird thematisiert. Des Weiteren halten<br />

wir Kinderstimmen für relevant – im Salon betonen wir dies<br />

in Form eines Interviews. Kinder sollten weder in Forschungen,<br />

noch <strong>als</strong> potentielle RezipientInnen anthropologischen<br />

Wissens (das z.B. in Schulen vermittelt werden könnte) ausgeschlossen<br />

werden.<br />

Ein gutes Beispiel für das Vermittlungsproblem zwischen<br />

Wissenschaft und Öffentlichkeit ist die Gender-Debatte:<br />

Viele StudentInnen können weder das Binnen-I noch das<br />

Wort Gender länger ertragen. Rollende Augen und kollektives<br />

Aufstöhnen gehören scheinbar zum guten Ton. Das ist<br />

nicht nur gefährlich – da potentiell reaktionär – es wird auch<br />

vergessen, dass z.B. die Diskussionen um eine Schreibweise,<br />

die weder „sprachverstümmelnd“ noch „frauenblind“ ist,<br />

längst nicht abgeschlossen sind. Fantasie ist gefragt, Neuentwicklungen<br />

sind nötig und möglich. Feministisches Grundlagenwissen<br />

ist in den Medien oder in politischen Debatten<br />

noch längst nicht verankert – nicht nur diesem Vermittlungsproblem<br />

können AnthropologInnen durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit<br />

entgegen treten.<br />

Wir widmen uns dem Thema Gender in den Fachgebieten, allerdings<br />

in Form der Queer Studies – ein Gebiet, das die ganze<br />

Kreativität der Ordnungskategorie Gender aufzeigt und dabei<br />

die Normen sprengt. Unsere Beiträge stöbern hier vor allem<br />

theoretische Diskussionen „zu Hause“ auf, weder die Hijras<br />

in Indien noch die Muxe und Marimachas in Mexiko werden<br />

thematisiert. Die Beiträge zur Rubrik Region stellen einige Aspekte<br />

zum Thema Europa vor, wobei vermehrt auf Formen<br />

von Repräsentation und Identität eingegangen wird.<br />

Mit dieser interdisziplinären Ausrichtung steht die <strong>MASKE</strong><br />

Nummer 3 ganz im Zeichen der Zukunftsvision von Joanna<br />

Overing für die Anthropologie: „I think the discipline is wide<br />

open, it’s becoming much more interdisciplinary, which is<br />

good. You have much room to develope. Imagination is needed,<br />

well thought out imagination, and you need to be widely<br />

read broadly to make things more interesting.“<br />

Viel Spaß beim Lesen der neuen <strong>MASKE</strong>!<br />

Norma Deseke<br />

Chefredakteurin<br />

www.diemaske.at<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 1


INHALT<br />

V E R Z E I C H N I S<br />

Salon<br />

Rassismus<br />

Fachgebiet<br />

Queer Studies<br />

Region<br />

Europa<br />

5 Nahe Grenzen:<br />

Von Andre Gingrich<br />

9 „Wenn der Nachbar<br />

zum Feind wird…”<br />

Von Bettina Fleischanderl,<br />

Verena Kozmann<br />

und Thomas Schönberger<br />

12 Sudabeh Mortezai<br />

Von Ixy Noever und Julia Pontiller<br />

15 Die Helden von 1683<br />

Von Silvia Dallinger<br />

und Johanna Witzeling<br />

18 „Vergiß, mein Volk,…<br />

die treuen Toten nicht“<br />

Von Konstantin Ferihumer<br />

und Romana Klinger<br />

21 Die Wiener Völkerkunde<br />

Von Julia Gohm, Sarah Kwiatkowski,<br />

David Mihola und Gottfried Schürholz<br />

24 Das Schaf im Wolfspelz<br />

Von Linda Thornton<br />

31 Quer durch Queer<br />

Von Anna Babka<br />

34 Das geschlechtliche<br />

Kontinuum<br />

Von Iris Stern<br />

37 Demaskierte<br />

„Natürlichkeit“:<br />

Von Christine M. Klapeer<br />

40 Queer Politics!<br />

Von Julia Mitterbauer<br />

und Gerhild Perl<br />

43 Tunten zwecklos!<br />

Von Volker Woltersdorff<br />

46 Die Taube begehren<br />

Von Susanne Hochreiter<br />

49 Polyamory<br />

Von Christian Klesse<br />

52 „Was ist eine Frau?“<br />

Von Aline Oloff<br />

53 Nation Branding<br />

und Corporate Identity<br />

Von Judith Keppel<br />

56 Über Fußball<br />

Von Roman Horak<br />

57 Edutainment und<br />

Schaufensterqualität<br />

Von Malte Borsdorf<br />

60 Schwaz & der Bergbau<br />

Von Reinhard Bodner<br />

und Margret Haider<br />

63 Die Erschütterung<br />

der Gesellschaft<br />

Von Sven Hartwig<br />

66 K.u.K. Besatzung im<br />

Sandžak Novi Pazar<br />

Von Tamara Scheer<br />

69 Das Formular<br />

Von Klara Löffler<br />

71 Kinship and Social Security<br />

Von Gertraud Seiser<br />

2


VERZEICHNIS<br />

INHALT<br />

Wiener<br />

Institut<br />

KOLUMNE/<br />

REZENSIONEN<br />

maSKE/<br />

Vernetzung<br />

75 Interview mit<br />

Joanna Overing<br />

Von Norma Deseke, Jakob Hörtnagl,<br />

Birgit Pestal und Ursula Probst<br />

78 Kinder unserer Zeit<br />

Von David G.L. Weiß<br />

81 Tage der KSA<br />

Von Walter Feichtinger<br />

82 Die Ethnowelle 2008<br />

Von Frank Broszeit<br />

83 Erasmus, warum das?<br />

Von Florian Hahn<br />

84 Portrait Kühhas<br />

Von Hannes Schenk<br />

85 Austrian Studies<br />

in Social Anthropology<br />

Von Gabriele Habinger<br />

und Patrizia Zuckerhut<br />

28 Kolumne<br />

„Game Over!“<br />

Von Werner Zips<br />

27 Rezension<br />

Persepolis<br />

Von Thomas Altenhofer<br />

74 Rezension<br />

Die Fälscher<br />

Von Florian Widegger<br />

74 Rezension<br />

Ethnizität/Migration<br />

Von Malte Borsdorf<br />

86 Rezension: Diplomarbeit<br />

Nationalismus und<br />

Diskriminierung<br />

Von Nora Wiltsche<br />

86 Rezension:<br />

Die Wende der Titanic<br />

Von Lisa Ringhofer<br />

1 Editorial<br />

Imagination is needed<br />

Von Norma Deseke<br />

87 Antidiskriminierungsarbeit<br />

am Boltzmann Institut<br />

für Menschenrechte<br />

Von Katharina Köhler, Barbara Liegl<br />

90 Internationale Entwicklung<br />

Von Celeste Osborne und Jule Richter<br />

91 Bricolage<br />

Von Reinhard Bodner<br />

und Malte Borsdorf<br />

91 Dokumentationsarchiv<br />

Islamophobie<br />

Von Bettina Fleischanderl,<br />

Verena Kozmann,<br />

und Thomas Schönberger<br />

92 <strong>MASKE</strong> Projekttext<br />

Von Wilhelm Binder und Birgit Pestal<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

3


4<br />

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RASSISMUS<br />

SALON<br />

Nahe Grenzen<br />

Nationalismus, Frontier Orientalism & Rassismus<br />

Von Andre Gingrich<br />

Hegemoniale Verhältnisse beinhalten stets<br />

Ideologien, für deren anthropologische Kritik<br />

auch die Mythenanalyse benötigt wird<br />

(vgl. Oppitz 1975). Die heutige Welt ist mehr<br />

und mehr überlokal vernetzt und transnational<br />

verbunden. Das, was früher kulturelle<br />

Unterschiede externer Art waren, zwischen<br />

der einen Kultur hier und der anderen dort,<br />

ist auf diese Weise zu internen Unterschieden<br />

geworden, innerhalb der einen globalisierten<br />

Welt, die wir <strong>als</strong> globale Ökumene bewohnen<br />

(vgl. Hannerz 1996: 6-9, Lévi-Strauss<br />

2005: 20). Zugleich besteht die Tendenz zur<br />

eigenen Abschottung davon, oder auch zur<br />

isolationistischen, aber kompetitiven Beteiligung<br />

daran: Neben religiöser Revitalisierung<br />

sind das vor allem neue Nationalismen, von<br />

denen manche offen rassistisch sind und andere<br />

nicht. Hier diskutiere ich in drei kurzen<br />

Abschnitten den frontier orientalism (Gingrich<br />

1998) <strong>als</strong> Variante kultureller Abschottung,<br />

die sich mit Nationalismus oder Rassismus<br />

verbinden kann.<br />

Erstens: Wenn Rassismus weit definiert wird <strong>als</strong> jegliche Einstellung,<br />

mit der Menschengruppen diskriminiert und hierarchisiert werden,<br />

dann klingt dies zunächst radikal. In der Praxis wird so aber<br />

auf die konkrete Untersuchung bestimmter Hierarchien verzichtet, zugunsten<br />

einer allgemeinen moralischen Entrüstung, die sich schnell in ihr resignatives<br />

Gegen teil verkehrt. „Im weitesten Sinn“ wird somit fast jede Art<br />

menschlicher Hierarchisierung <strong>als</strong> Rassismus bezeichnet, was letztlich dazu<br />

führ en muss, ihn <strong>als</strong> Grundeigenschaft des menschlichen Daseins zu identifizieren.<br />

„Rassismus im engeren Sinn“ hingegen bezieht sich auf Konzepte<br />

über die gesamte Menschheit. Diese wurde empirisch ab dem späten 18.<br />

Jhd. mit den europäischen „Entdeckungen“ im Pazifik sichtbar. Rassismus<br />

<strong>als</strong> historisch verortetes Phänomen der Moderne meint daher körperbezogene<br />

Klassifikationen von wenigen, hierarchisierten menschlichen Großgruppen,<br />

denen systematische Charaktereigenschaften zugeschrieben sind.<br />

Zwischen dieser Hierarchisierung von Menschengruppen und jener nach<br />

Geschlechtern gibt es entscheidende logische und historische Zusammenhänge.<br />

In diesem Sinn bleibt die Arbeitsdefinition von Rassismus, die Claude<br />

Lévi-Strauss einst für die UNESCO erarbeitete, weiterhin nützlich (Lévi-<br />

Strauss 1987). Sie erlaubt auch zwischen Rassismus und anderen Formen<br />

von Hierarchisierung und Diskriminierung zu unterscheiden. Erst wenn<br />

etwas gut bestimmt und erkannt ist, lässt sich daran auch etwas ändern.<br />

Die ethnographischen Verhältnisse in Zentraleuropa, und speziell im Osten<br />

und Südosten Österreichs beinhalten einen älteren, historisch gewachsenen<br />

frontier orientalism, der nicht identisch ist mit Nationalismus oder Rassismus<br />

– sich aber leicht mit einem, oder auch mit beiden dieser Phänomene<br />

verbindet. Zur Illustration des frontier orientalism ziehe ich einen Fall aus<br />

den späten 1980er-Jahren heran. Der ehemalige UNO-Gener<strong>als</strong>ekretär Kurt<br />

Waldheim war 1986 zum österreichischen Staatspräsidenten gewählt worden.<br />

Angesichts seiner zweifelhaften Rolle in der Wehrmacht während des<br />

zweiten Weltkriegs und der Vertuschung und Verharmlosung dieser Vergangenheit<br />

hatten die meisten westlichen Länder einen Boykott über jegliche<br />

Kontakte mit Waldheim verhängt.<br />

Schließlich erwirkten seine Diplomaten, dass der polnische Papst Johannes<br />

Paul II. <strong>als</strong> erstes Staatsoberhaupt einem Besuch Waldheims zustimmte.<br />

Dies sollte auch der einzige Staatsbesuch Waldheims im Westen bleiben, von<br />

einzelnen Diktatoren abgesehen. Das wussten Waldheims AnhängerInnen<br />

zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht, daher stimmte sie der bevorstehende<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

5


Salon RASSISMUS Frontier Orientalism<br />

Besuch im Vatikan froh und optimistisch. Kurz davor<br />

veröffentlichte die Zeitung jener Partei, <strong>als</strong> deren Kandidat<br />

Waldheim Präsident geworden war, eine Schlagzeile am<br />

Titelblatt. Sie lautete:<br />

„Wieder rettet uns ein Pole!“<br />

Für die meisten nicht in Österreich aufgewachsenen Menschen<br />

wäre dies kaum verständlich. Für ein durchschnittliches<br />

österreichisches Publikum hingegen war klar, was mit<br />

dieser vieldeutigen Analogie gesagt wurde: So wie „wir“<br />

schon einmal von einem Polen gerettet wurden, nämlich 1683<br />

vom polnischen König Ian Sobieski bei der zweiten Wiener<br />

Türkenbelagerung, so rettet uns jetzt wieder ein Pole – der<br />

Papst. Zugleich vermittelte die Schlagzeile damit auch mehr:<br />

So wie „wir“ 1683 von Orientalen belagert wurden (den sogenannten<br />

„Türken“, <strong>als</strong>o korrekt: vom osmanischen Heer),<br />

so werden wir auch heute von Orientalen belagert – von<br />

„Juden“. Tatsächlich engagierte sich, neben vielen anderen<br />

Kräften in Österreich und der Welt, dam<strong>als</strong> auch aus verständlichen<br />

Gründen der World Jewish Congress aktiv für den<br />

Boykott Waldheims. Dessen AnhängerInnen denunzierten<br />

diesen Protest <strong>als</strong> Beispiel für die Macht jüdischer Verschwörungen.<br />

Damit implizierte die Schlagzeile eine deutlich<br />

antisemitische Anspielung, und eine Gleichsetzung der sogenannten<br />

Türkenbelagerung von 1683 mit der sogenannten jüdischen<br />

Verschwörung gegen Waldheim seit 1986. Zugleich<br />

kommunizierte dies auch eine illusionäre und größenwahnsinnige<br />

Erlösungsphantasie: So wie mit der sukzessiven Vertreibung<br />

der „Türken“ und ihrer Abdrängung in den Balkan<br />

ab 1683 der Aufstieg Österreichs unter Habsburg in Mitteleuropa<br />

begann, so wird es „uns“ unter Waldheim nun nach seinem<br />

Papst-Besuch auch bald besser gehen – und dem World<br />

Jewish Congress schlechter.<br />

Ähnliche Beispiele könnten dem hinzugefügt werden. Der<br />

Fall belegt zentrale Elemente der Mytho-Logik, um die es<br />

hier geht. Der frontier orientalism bietet sich <strong>als</strong> Erklärungsund<br />

Interpretationsmodell für aktuelle Ereignisse an, die auf<br />

bestimmte Weise mithilfe mythologischer Versionen der eigenen<br />

Geschichte <strong>als</strong> „Schicksal“ inszeniert werden. Das wiederum<br />

erlaubt, für eine eigene „Mission“ zu mobilisieren. In<br />

diesem Inszenierungs- und Interpretationsmodell spielt stets<br />

eine gefährliche Bedrohung die zentrale Rolle: Das kann eine<br />

Belagerung sein, oder allgemeiner jede Art von hautnaher<br />

Bedrohung entlang einer sehr nahen Grenze. Für dieses Bild<br />

einer umkämpften, veränderlichen Grenze bietet das amerikanische<br />

Englisch mit frontier einen geeigneten Begriff. Jene<br />

Standardfigur eines Orientalen, der diese Grenze bedroht<br />

und belagert, ist der Türke und im weiteren Sinn der Muslim.<br />

Die Schlagzeile hat belegt, dass dieser muslimische Orientale<br />

bei Bedarf auch ausgetauscht werden kann: in diesem<br />

Fall durch den jüdischen Orientalen, in anderen Fällen auch<br />

durch slawische (serbische oder russische) Orientalen, durch<br />

Tartaren, Mohren, usw.<br />

Es wäre kurzsichtig, die Schlagzeile nur <strong>als</strong> guten Propaganda-Trick<br />

zu charakterisieren. Denn eine Chance auf Wirksamkeit<br />

hatte sie nur in einem Land, in dem viele schon davor zu<br />

wissen glaubten, was 1683 und danach geschehen war. Funktionieren<br />

kann solcherlei nur, weil ein Mythos von „uns und<br />

den Türken“ schon lange vorher in die Gefühle und Denkweisen<br />

der öffentlichen Wahrnehmung eingegangen ist – bevor<br />

eine Schlagzeile wie diese, die bereits vorhandenen Register<br />

der öffentlichen Wahrnehmung aktiviert, mobilisiert und für<br />

bestimmte aktuelle Zwecke instrumentalisiert. Das Thema<br />

der „Türkenkriege“ ist zentraler Bestandteil des Pflichtschul-<br />

Unterrichts in Österreich, und weit mehr <strong>als</strong> das: Dorf-Chroniken<br />

in ganz Ost- und Südost-Österreich berichten davon,<br />

populäre Lieder und Redewendungen spielen darauf an,<br />

Ortsnamen und öffentliche Denkmäler nehmen darauf<br />

Bezug, der gesamte Stadtplan von Wien ist durchzogen von<br />

mehr oder minder deutlich mythologisierenden Zeichen der<br />

öffentlichen Erinnerung daran. Die Gesamtheit dieser Chroniken,<br />

Legenden, Schulbuch-Texte, Lieder (Prinz Eugen, der<br />

edle Ritter), Denkmäler, Museums-Artefakte, Flüche („Kruzitürken!“)<br />

und Redewendungen („getürkt“) konstituiert die<br />

mythologische Struktur des frontier orientalism.<br />

Zweitens<br />

Jene Art von Orientalismus, die Edward Said (1978) primär<br />

anhand der britischen und französischen Kolonialperioden<br />

und ihrer Kunst, Politik und Wissenschaft aufzeigte, nenne<br />

ich den „klassischen“ Orientalismus. Trotz berechtigter Kritiken<br />

daran halte ich Saids Befund in wesentlichen Punkten<br />

für gültig. Allerdings gibt es <strong>als</strong> Gegenstück dazu auch den<br />

„Okzidentalismus“ (Buruma/Margolieth 2003), und daneben<br />

auch „aufgeklärte“ Formen von Orientalismus. In Summe<br />

deckt der „klassische“ Orientalismus keineswegs alle wesentlichen<br />

Wahrnehmungsformen Europas vom „Orient“ ab, was<br />

Said selbst bewusst war. Gerd Baumann (2004) zeigte, dass<br />

allen „Orientalismen“ hierarchische Modalitäten der Exklusivität<br />

zugrunde liegen. Auf dieser Basis kommt dem frontier<br />

orientalism eine gewisse Eigenständigkeit der Mytho-Logik<br />

zu. Anders <strong>als</strong> die klassische Form bezieht er sich nicht auf<br />

6


Frontier Orientalism RASSISMUS SALON<br />

ferne, unterworfene Kolonien in Übersee, sondern auf nahe<br />

Eindringlinge an „unserer“ Grenze. Dies sind gefährliche,<br />

fast ebenbürtige Rivalen, aber kaum exotische Untergebene,<br />

DienerInnen und Sklaven. Auch Erotik und Frauen spielen<br />

deshalb in beiden Formen sehr unterschiedliche Rollen, obwohl<br />

stets aus der Perspektive der Männer berichtet wird.<br />

Aber ob es sich nun um Flaubert’s „Salambo“ handelt oder<br />

nur Erzeugnis imperialer Eliten, sondern zugleich tief verwurzelter<br />

Bestandteil der Volkskultur. Skulpturen von toten<br />

arabischen oder indischen Kriegern sieht man weder in englischen<br />

oder französischen Dörfern, noch in St. Paul’s Cathedral<br />

oder an der Notre Dame. Skulpturen von erschlagenen<br />

und gedemütigten türkischen Soldaten hingegen finden sich<br />

nicht nur prominent am Wiener Stephansdom, sondern auch<br />

in vielen kleineren Städten und Dörfern Österreichs.<br />

Demütigung und Triumph auf immer und ewig… Der sterbende, halbnackte Türke gleitet<br />

abwaerts samt Waffen. Dem verklärten Christenmenschen dient der Körper des Besiegten<br />

<strong>als</strong> Trittbrett, um himmelwärts zu schweben. Die barocke Apotheose (1738) über<br />

der Kapistrankanzel an der Nordseite des Wiener Stephansdoms zeigt den 1690 heilig gesprochenen<br />

Johannes Kapistran <strong>als</strong> Überwinder der Türken. Über dem Hauptportal des<br />

Doms prangte überdies bis nach 1945 die Aufschrift “1683 – schau Mahomet, du Hunt”:<br />

Erst Franz Kardinal König veranlasste ihre Entfernung.<br />

<br />

Bild: Hannah Indrak<br />

um Gemälde vom imaginären Harem: im klassischen Orientalismus<br />

geht es immer auch um eine voyeuristische Sicht auf<br />

die Frau im Orient, und auf alle Versionen von Erotik dort, die<br />

zugleich im Okzident verboten sind. Der frontier orientalism<br />

hingegen thematisiert Frauen und Erotik im Orient de facto<br />

kaum: Der orientalische Aggressor und Eindringling ist hier<br />

primär ein Mann, und dieser Mann ist gerade auch deshalb<br />

so gefährlich aus dieser tendenziell paranoiden Sicht, weil er<br />

„unsere“ Frauen, Schwestern und Töchter begehrt. Als vielleicht<br />

entscheidender Unterschied kommt noch ein Drittes<br />

hinzu: Der „klassische“ Orientalismus ist primär ein Produkt<br />

der heimischen Eliten, <strong>als</strong> Auftraggeber und Kernschicht der<br />

KonsumentInnen in den ehemaligen kolonialen Metropolen.<br />

Der frontier orientalism ist jedoch mehr <strong>als</strong> das. Er ist nicht<br />

Aus dem prototypischen mythologischen Grundmotiv einer<br />

nahen, umkämpften und veränderlichen Grenze, über die<br />

ein fast ebenbürtiger, gefährlicher und daher „böser“ Orientale<br />

eindringt, sind zwei Ableitungen möglich: In der einen,<br />

pessimistischeren Variante hält die Belagerung weiter an und<br />

erzielt immer größere Erfolge. In der anderen, etwas weniger<br />

pessimistischen Variante hingegen wird die Belagerung<br />

(etwa mithilfe polnischer oder anderer Helden) zurückgeschlagen.<br />

Die österreichische Fassung der zweiten Variante<br />

erweitert sie noch um die gloriose Phase der endgültigen<br />

Zurückdrängung der Osmanen nach Südosten, die identisch<br />

ist mit dem imperialen Aufstieg des Hauses Habsburg und<br />

einem weiteren orientalistischen Höhepunkt: Die Okkupation<br />

und spätere Annexion Bosniens zwischen 1878 und 1918.<br />

Der „Bosnier“ oder „Bosniake“ wurde damit zur Grundfigur<br />

des „guten Orientalen“ im frontier orientalism österreichischer<br />

Prägung. Dieser überschneidet sich in diesem Bereich partiell<br />

mit dem „klassischen“ Orientalismus, denn auch der<br />

„Bosnier“ symbolisiert den klassischen kolonialen Subalternen:<br />

den unterworfenen, integrierten, loyalen Orientalen, der<br />

die bedrohte imperiale Grenze <strong>als</strong> Vorposten bis zum Schluss<br />

(nämlich: bis 1918) beschützt und verteidigt hat. Noch in den<br />

1990er-Jahren wurde ein Gutteil der österreichischen Außenpolitik<br />

während der Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien mit<br />

medialen Rückgriffen auf derartige mythologische und nepotistische<br />

Elemente über „unsere Muslime“ abgesichert und<br />

legitimiert. Pro Kopf der Bevölkerung war in jenen Jahren die<br />

österreichische Unterstützung für die bosnisch-muslimische<br />

Bevölkerung größer <strong>als</strong> in jedem anderen Staat der EU.<br />

Solche älteren Formen von frontier orientalism bildeten sich<br />

nicht nur in Österreich heraus, sondern auch in anderen Teilen<br />

des ehemaligen Habsburgerreiches in Mitteleuropa – etwa<br />

in Ungarn, Slowenien, aber auch in Teilen von Norditalien.<br />

Ich meine, darüber hinaus ähnliche, ältere Parallelen in zwei<br />

anderen europäischen Zonen identifizieren zu können. Diese<br />

sind Russland in Bezug auf den Kaukasus und Zentralasien<br />

(Strasser 1998, Staudinger 2006) sowie Spanien gegenüber<br />

dem Nordwesten Afrikas (Bishko 1980). Der frontier orienta-<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

7


Salon RASSISMUS Frontier Orientalism<br />

lism greift in größeren Teilen Ost-, Mittel- und Südeuropas die<br />

historischen Interaktionen dieser Regionen mit der islamischen<br />

Welt vor Beginn der frühen Neuzeit und während ihrer<br />

ersten Phase (14.-17. Jhd.) auf, um daraus spezifische, re gionale<br />

mythologische Inventare für die Gegenwart bereit zu stellen.<br />

Er kann sich sehr leicht, muss sich aber nicht zwingend<br />

in dieser Gegenwart mit rassistischen Haltungen verbinden.<br />

Drittens<br />

In den USA ist frontier ohnedies ein Nationalmythos. Unter<br />

der Administration George W. Bush (2000-2008) wurde eine<br />

Fassung von frontier orientalism neu erfunden, für den Aufmarsch<br />

im Irak bereitgestellt und in dieser Form globalisiert.<br />

Unter Rückgriff auf Erinnerungen an den japanischen Angriff<br />

auf Pearl Harbour (1941) und auf das Motiv der mittelalterlichen<br />

Kreuzzüge wurde die verständliche Angst der eigenen<br />

Bevölkerung nach den Terroranschlägen vom 11. 09.2001<br />

missbraucht. Die pessimistischere Version (die „bösen Orientalen“<br />

belagern uns nicht bloß, sie morden längst unter<br />

uns) verband sich mit der optimistischeren Version. (Deshalb<br />

müssen wir in die Zentren des Bösen einmarschieren und<br />

dort „gute Orientalen“ finden und erziehen). Was Sigmund<br />

Freud über die Lüge und den Witz sagte, gilt auch für den<br />

Mythos: Er ist umso wirksamer, je höher der Anteil des Realen<br />

daran ist.<br />

„Wozu haben denn unsere Vorfahren gegen die Türken gekämpft?<br />

Doch nicht dafür, dass wir sie jetzt alle zu uns hereinlassen!“<br />

Die Migration thematisieren jene neueren Versionen<br />

des frontier orientalism in Europa aus Sicht des Neo-Nationalismus,<br />

wie wir dieses Phänomen nennen (Gingrich/Banks<br />

2005). Wenn dann die Rede davon ist, dass „man“ es diesen<br />

Menschen „doch von vorherein schon ansieht“ – wie ein<br />

oberösterreichischer Landeshauptmann es einmal im Wahlkampf<br />

formulierte – dass sie nicht dies, sondern das machen,<br />

und dass die Kriminellen und „nicht Anpassungswilligen“<br />

unter ihnen deshalb zurück auf den Balkan und die Türkei<br />

geschickt werden sollten: Dann verbindet sich Neo-Nationalismus<br />

mit rassistischen Slogans. Den Propheten des neuen<br />

Nationalismus geht es selten wirklich um die Frage der Migration.<br />

Im Kern wollen sie die Führung in einer neu gestalteten<br />

Nation, die isolationistisch und kompetitiv zu den<br />

Gewinnern in der globalisierten Konkurrenz aufsteigen soll.<br />

Mit Konfrontationen wird die Emotionalisierung der Nation<br />

betrieben, damit sie unter dieser neuen Führung zu „Opfern“<br />

bereit ist. Die neuen NationalistInnen benötigen <strong>als</strong>o<br />

die Figur des Migranten, um mit diesem Bild etwas ganz anderes<br />

zu denken, und denken zu lassen, nämlich sich selbst:<br />

die kompetitive, neu gestaltete Nation unter ihrer eigenen<br />

Führung. Die neuen Nationalismen verfahren daher auf formal<br />

ähnliche Weise mit der Figur des Migranten wie australische<br />

Aborigines mit ihrem Totem (Lévi Strauss 1962): Sie<br />

wollen mit diesem Thema und dieser Figur unverwechselbar<br />

identifiziert werden. Zugleich sind sie ihnen ein Sujet der<br />

Abgrenzung und der emotionalen Fokussierung, mit dessen<br />

Hilfe sie primär sich selbst denken. Die verdinglichte und<br />

entmenschlichte Figur des Migranten wird so zum totemistischen<br />

Känguru in der Mythologie der neuen Nationalismen. Sie ist auch<br />

unabdingbar und „gut zum Denken“ für die obsessiven nationalistischen<br />

Visionen von einer Zukunft.<br />

Andre Gingrich ist Leiter der Forschungsstelle Sozialanthropologie<br />

an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und O.<br />

Univ.Prof. fuer Kultur-und Sozialanthropologie an der Universitaet<br />

Wien. Neben seiner Leitung eines FWF-Projektes über die Wiener<br />

Völkerkunde zur NS-Zeit befasst er sich derzeit gemeinsam mit<br />

Eva-Maria Knoll und Fernand Kreff beim Frankfurter Suhrkamp-<br />

Verlag mit der Herausgabe von: „Handbuch Globalisierung. Anthropologische<br />

und sozialwissenschaftliche Zugänge zur Praxis“<br />

(erscheint 2009)<br />

Literatur:<br />

Baumann, Gerd (2004): Grammars of Identity/Alterity: A Structural Approach,<br />

in: Baumann Gerd, and Andre Gingrich (eds.): Grammars of Identity/Alterity:<br />

A Structural Approach, London-New York: Berghahn. S. 17-51<br />

Bishko, Charles J. (1980): Studies in Medieval Spanish Frontier History,<br />

London: Variorum Reprints.<br />

Buruma, Ian/Margolieth, Avishai (2004): Occidentalism: The West in the Eyes of<br />

its Enemies, New York: The Penguin Press.<br />

Gingrich, Andre (1998): Frontier Myths of Orientalism: The Muslim World in<br />

Public and Popular Cultures of Central Europe. In: Baskar, Bojan and Borut<br />

Brumen (eds.): Mediterranean Ethnological Summer School, Piran/Pirano Slovenia<br />

1996. MESS vol. II., Ljubljana. S. 99-127<br />

Gingrich, Andre/Banks, Marcus (eds.) (2006): Neo-Nationalism in Europe and<br />

Beyond: Perspectives from Social Anthropology, London-New York: Berghahn.<br />

Hannerz, Ulf (1996): Transnational Connections: Culture, people, places,<br />

London-New York: Routledge.<br />

Lévi-Strauss, Claude (1962): Le Totemisme aujourd‘hui, Paris: PUF.<br />

Lévi-Strauss, Claude (1987): Race et Histoire, Paris: Editions Denoël. (1. Ausgabe:<br />

UNESCO 1952)<br />

Lévi-Strauss, Claude (2005): Loin du Brésil. Entretien avec Véronique Mortaigne,<br />

Paris: Chandeigne.<br />

Oppitz, Michael (1975): Notwendige Beziehungen. Abriß der strukturalen<br />

Anthropologie, Suhrkamp: Frankfurt/M.<br />

Said, Edward (1978): Orientalism, New York: Pantheon.<br />

Staudinger, Karin (2006): Freie Nomaden, edle Räuber, skrupellose Sklavenjäger:<br />

zur Darstellung von Turkmenen in Reiseberichten aus dem 19. Jahrhundert.<br />

Diplomarbeit Wien.<br />

Strasser, Andrea (1998): „Das Krebsgeschwür der Kriminalität“: Ein ethnologischer<br />

Beitrag aus diskursanalytischer Sicht zum Tschetschenienfeindbild in<br />

der russischen Regierungszeitung „Rossijskaja Gazeta“ vor der Invasion 1994.<br />

Diplomarbeit Universität Wien.<br />

8


RASSISMUS<br />

SALON<br />

„Wenn der Nachbar zum Feind wird…“<br />

Zur Wahrnehmung von MuslimInnen in Österreich<br />

Von Bettina Fleischanderl, Verena Kozmann, Thomas Schönberger<br />

Der Islam und die MuslimInnen stehen auch<br />

in Österreich seit einigen Jahren im Blickpunkt<br />

der Öffentlichkeit. Mediale, politische oder<br />

gesellschaftliche Diskussionen sind geprägt<br />

von Vorurteilen, Stereotypen und polarisierten<br />

Darstellungen, die massiv zum vorherrschenden<br />

negativen Bild über Muslim Innen<br />

beitragen. Medien, Politik und Öffentlichkeit<br />

bedienen sich einer Vielzahl von Termini, die<br />

dem Diskurs inhärent sind. Islamophobie ist<br />

in diesem Zusammenhang einer und vielleicht<br />

der umstrittenste Begriff. Dessen Historie<br />

begann allerdings nicht erst mit 9/11.<br />

Dahingehend sollen auf den folgenden Seiten<br />

sowohl Denkanstöße zur Entstehung von<br />

Feindbildern rund um die Thematik Islam in<br />

Österreich <strong>als</strong> auch eine limitierte Begriffsgeschichte<br />

zu Islamophobie und dessen rezenter<br />

Auslegung aufgezeigt werden.<br />

Feindbilder sind die aus einem sozial vermittelten dichotomischen<br />

Wahr nehmungsmuster resultierenden negativen Einstellungen gegenüber<br />

einer anderen Gruppe.“ (vgl. Weller in Lueg 2002: 51ff.).<br />

Es ist eine anthropologische Tatsache, dass Individuen ihre soziale Umwelt<br />

kategorisieren. Bewusst oder unbewusst ordnen wir Menschen <strong>als</strong>o<br />

einer bestimmten Gruppe bzw. einer Kategorie zu. Diese Einordnung impliziert<br />

ein Bild von Charaktereigenschaften und Verhaltensnormen und<br />

„trägt den Keim zu verzerrenden Vergleichen zwischen positiven und negativen<br />

Fremdgruppen in sich“ (vgl. Lueg 2002: 51ff.). Anne Katrin Flohr<br />

gibt insgesamt sechs typische Wahrnehmungsmuster an, die ein Feindbild<br />

ausmachen: eine starke Homogenisierung der jeweiligen Gruppe (1), ein<br />

Worst-Case-Denken (2), einhergehend mit einem Schwarz-Weiß-Denken (3)<br />

und das Anlegen eines doppelten Maßstabes bei der Eigen- bzw. Fremdwahrnehmung<br />

(4). Außerdem finden Projektionen (5) bestimmter eigener<br />

Merkmale auf „die Anderen“ statt, wobei schließlich sich-selbst-erfüllende-<br />

Prophezeihungen (6) zum Tragen kommen, die das eigene (Feind)-Bild<br />

bestätigen (vgl. Schiffer 2005). Flohr kommt zu dem Ergebnis, dass Feindbilder<br />

sowohl durch individuelle, wie auch durch gesellschaftliche Faktoren<br />

entstehen.<br />

Die Gründe für die Entstehung von Feindbildern können sehr unterschiedlich<br />

sein. In Bezug auf das „Feindbild Islam“ in Österreich spielen historische<br />

Faktoren, die im frontier orientalism-Konzept von Andre Gingrich<br />

erläutert werden, eine zentrale Rolle (vgl. Gingrich 1999). Gingrich meint,<br />

verkürzt dargestellt, dass der klassische „Orientalismus“, wie ihn Edward<br />

Said propagiert, auf klassische Kolonialländer wie Frankreich, England etc.<br />

zutreffe, wohingegen auf Österreich aufgrund seiner historischen Berührungspunkte<br />

zum Orient ein so genannter „Grenzlandorientalismus“ zum<br />

Tragen komme. Dieser ist im Gegensatz zum klassischen „Orientalismus“<br />

nicht geprägt durch exotische und erotische Abenteuer, sondern durch Geschichten<br />

von Blut und Boden (vgl. Gingrich 1999: 29ff.).<br />

Darüber hinaus tragen eine Vielzahl an weiteren Faktoren zur Festschreibung<br />

des „Feinbildes Islam“ bei, wie etwa die Wahrnehmung muslimischer<br />

ZuwanderInnen, Fehl- bzw. Desinformation, die politische Instrumentalisierung<br />

und/oder die Gleichsetzung von Kultur und Religion. Bereits<br />

die erste „Gastarbeiterwelle“ der frühen 1960er Jahre brachte latente Stereotype<br />

und rassistische Ressentiments an die Oberfläche. In den 1980er<br />

Jahren wurden „die Ausländer“ <strong>als</strong> Sündenböcke für zunehmende Arbeits-<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 9


Salon RASSISMUS „Wenn der Nachbar…“<br />

losigkeit hingestellt (vgl. Weiss 2002: 17). Die neue Kategorie<br />

„MuslimInnen“ ersetzte in Folge der islamistischen Terroranschläge<br />

in New York, Madrid und London zumindest partiell<br />

das alte Feindbild „Ausländer“ und wird zusätzlich für<br />

die Bedrohung westlicher kultureller Werte verantwortlich<br />

gemacht (vgl. Rawi in Pelinka 2006: 20).<br />

Das Problem der Desinformation/Unwissenheit zeigt sich in<br />

den Alltagsdiskursen und den sozialen Begegnungen in Österreich.<br />

Weder im Bildungsbereich noch in den populären<br />

Medien wird fundiertes Wissen über die islamischen Glaubensrichtungen<br />

vermittelt. Basiswissen über „die Anderen“<br />

würde Berührungsängste mildern und einen ersten Schritt in<br />

Richtung Integration und Akzeptanz darstellen. „Das Image<br />

vom blutrünstigen Muslim wird an vielen Stellen immer noch<br />

kultiviert – und Terroristen liefern dafür ständig neues Futter“<br />

(Lueg 2002: 17). Die mediale Darstellung über den/die „Anderen“<br />

nimmt daher eine zentrale Stellung in der Meinungsbildung<br />

und Urteilsfindung ein. Durch das Herausgreifen<br />

eines <strong>als</strong> terroristisch, aggressiv, frauenfeindlich etc. interpretierten<br />

Islam wird eine differenzierte Betrachtung erschwert<br />

und ein Bedrohungs- bzw. Angstzustand <strong>als</strong> Reaktion hervorgerufen.<br />

Die Komplexität an kulturellen und gesellschaftlichen<br />

Gegebenheiten und die Vielfalt an Islamauslegungen<br />

werden hierbei weitestgehend ignoriert. „Eines der am weitesten<br />

verbreiteten Vorurteile gegenüber dem Islam und den<br />

Muslimen besteht darin, im Falle des Islam zwischen Religion<br />

und Kultur nicht zu unterscheiden, mithin <strong>als</strong>o Samuel<br />

Huntingtons eigentlichen Kardinalfehler unkritisch zu wiederholen“<br />

(Fragner in Pelinka 2006: 27). Kulturelle Praktiken<br />

türkischer MuslimeInnen werden beispielsweise mit jenen<br />

bosnischer MuslimeInnen gleichgesetzt, wodurch kulturelle<br />

Unterschiede negiert werden. Beispiele dafür sind Phänomene<br />

wie „Ehrenmorde“, „Zwangsverheiratung“ oder<br />

„Frauenbeschneidung“, die fälschlicherweise <strong>als</strong> Ausdruck<br />

„der Religion Islam“ präsentiert werden. Ein konstruktiver<br />

Dialog muss sowohl negative wie auch positive Erscheinungen<br />

rund um die Thematik aufgreifen. Eine Thematik in<br />

der allzu oft schwarz – weiß gemalt wird, die soziale Realität<br />

sich hingegen in bunten Farben widerspiegelt.<br />

Feindbild Islam – Ein Praxisbeispiel<br />

ZARA hat in Kooperation mit dem Dokumentationsarchiv<br />

Islamophobie, 2007, folgenden Fall dokumentiert:<br />

Herr P. empfängt eine Kettenmail, in der behauptet wird, dass an<br />

Linzer Schulen den SchülerInnen gelernt wird, dass die traditionelle<br />

Grußform „Grüß Gott“ diskriminierend gegenüber muslimischen<br />

MitbürgerInnen wäre. Um diese nicht zu beleidigen, sollte<br />

man diesen Gruß unterlassen. In der Mail wird aufgefordert keine<br />

„f<strong>als</strong>che Toleranz“ walten zu lassen. […] ZARA nimmt Kontakt<br />

zum Linzer Bezirksschulrat auf und findet heraus, dass diese Behauptungen<br />

f<strong>als</strong>ch sind. […] (vgl. URL 1, Fall <strong>Nr.3</strong>3)<br />

Szenenwechsel: Die im Jahr 1997 unter dem Namen „Runnymede<br />

Trust, Islamophobia A Challenge to Us All“ (vgl. URL<br />

2) in London veröffentlichte Abhandlung wurde von einigen,<br />

vor allem europäischen Ländern <strong>als</strong> Definitionsgeberin übernommen.<br />

Sie ist die momentan bekannteste Abhandlung zum<br />

„Phänomen“ Islamophobie. Auch in österreichischen Diskursen<br />

(siehe oben) orientiert sich der Begriff stark an diesem Bericht<br />

und der darin formulierten Definition. Im Wesentlichen bezeichnet<br />

er die unhaltbare Angst (Phobie) gegenüber AnhängerInnen<br />

des Islam, die auf stereotypen Zuschreibungen basiert.<br />

Der Muslim/die Muslima wird zur Projektions- und Angriffsfläche<br />

dieser Vorurteile. Die Folgen sind (unterschwellig oder<br />

offen) verbale und physische Angriffe. (vgl. Muir/Smith 2004).<br />

Ein Kritikpunkt an der Verwendung des Begriffs im heutigen<br />

Kontext wäre unter anderem, dass der/die <strong>als</strong> islamophob<br />

Bezeichnete durch die Verwendung von -phobie <strong>als</strong> Krankheitsfall<br />

stigmatisiert wird. Daraus leiten sich negative Assoziationen<br />

ab. (vgl.URL 3) KritikerInnen sehen (auch) dadurch<br />

die Gefahr der Tabuisierung von Religionskritik.<br />

Der Begriff Islamophobie wurde erstm<strong>als</strong> (nachlesbar) im Jahr<br />

1925 in einer französischen Publikation von Etienne Dinet<br />

und Slima Ben Ibrahim (vgl. Allen in Altermatt 2006: 68) verwendet.<br />

Die Autoren schreiben über acces de delire islamophobe<br />

(frei übersetzt: „Anwandlung von Verfolgungswahn“). In<br />

einem anderen Zusammenhang wird der Begriff Anfang der<br />

1980er Jahre im Zuge der iranischen Revolution angewandt.<br />

Hier gilt er <strong>als</strong> Bezeichnung von Mullahs für Muslima, die<br />

den Hijab (vgl. Höglinger 2002) verweigerten. (vgl. Fourest<br />

in Allen in Altermatt 2006: 68).<br />

Dieser historische Abriss belegt wie vielfältig dieser Terminus<br />

bisher eingesetzt wurde. Es wird sichtbar, dass Islamophobie<br />

sich je nach „Zeit und Raum“, gesellschafts- und geopolitischer<br />

Lage immer wieder neu mit Bedeutungen aufgeladen hat. In<br />

der heutigen Diskussion um das „Feindbild Islam“ wird die<br />

Verwendung des Begriffs Islamophobie entweder grundsätzlich<br />

gemieden, pauschal angewandt oder von Grund auf kritisiert.<br />

Um Islamophobie präzise verwenden zu können muss allerdings<br />

der jeweilige Kontext miteinbezogen werden.<br />

Anhand des von ZARA/DAI dokumentierten Falles bedeutet<br />

diese Praxis, dass unreflektierte EmpfängerInnen der hetze-<br />

10


„Wenn der Nachbar…“ RASSISMUS SALON<br />

rischen E-mail den Eindruck bekommen können, dass durch<br />

muslimische KlassenkameradInnen die gewohnte Grußformel<br />

verboten werden könnte. Emotionen wie Empörung, Aggression<br />

und Angst können die Folge daraus sein. Handelt<br />

der/die Betroffene nach diesen Emotionen und projiziert sie<br />

auf vermeintliche Aggressoren, <strong>als</strong>o MuslimInnen. Die daraus<br />

entstehenden Haltungen und Handlungen können <strong>als</strong><br />

islamophob bezeichnet werden, und die UrheberInnen können<br />

ihrerseits genauso islamophob wie islamfeindlich sein.<br />

Entscheidend dafür ist die Intention in der die E-mail verfasst<br />

und verbreitet wurde. Ist sie aus einer Verunsicherung<br />

heraus entstanden, so handelt es sich tendenziell um Islamophobie.<br />

Ist diese mutwillig erfunden, um ein friedliches Miteinander<br />

zu stören, besteht Islamfeindlichkeit.<br />

Internetquellen:<br />

URL 1: ZARA Zivilcourage & Anti-Rassismus-Arbeit<br />

http://www.zara.or.at/materialien/rassismus-report/Rassismus-Report%20<br />

2007.pdf 06.04.08, Fall <strong>Nr.3</strong>3<br />

URL 2: Zusammenfassung des Runnymede Trust<br />

http://www.runnymedetrust.org/uploads/publications/pdfs/islamophobia.<br />

pdf 09.04.08<br />

URL 3: Die islamische Glaubensgemeinschaft Österreich<br />

http://www.derislam.at/islam.php?name=Themen&pa=showpage&pid=60<br />

12.4.08<br />

URL 4: EUMC: Muslime in der europäischen Union – Diskriminierung und<br />

Islamophobie. http://fra.europa.eu/fra/material/pub/muslim/Manifestations_<br />

DE.pdf 10.04.2008<br />

Für nähere Informationen zum Dokumentationsarchiv<br />

Islamophobie siehe S. 91.<br />

Bettina Fleischanderl ist Studentin der KSA,<br />

ehrenamtliche Mitarbeiterin bei DAI & ZARA.<br />

ANZEIGE<br />

Verena Kozmann ist Studentin der KSA,<br />

ehrenamtliche Mitarbeiterin bei DAI & Polylog.<br />

Thomas Schönberger ist Student der KSA,<br />

ehrenamtlicher Mitarbeiter bei DAI & ZARA.<br />

Literatur:<br />

Altermatt, Urs/Delgado, Mariano/Vergauwen, Guido, Hrsg.<br />

(2006) : Der Islam in Europa – Zwischen Weltpolitik und Alltag.<br />

Kohlhammer.<br />

Gingrich, Andre (1999): Österreichische Identitäten und Orientbilder.<br />

Eine ethnologische Kritik. In: Dostal, Walter/Niederle, Helmut<br />

A./Wernhart, Karl R. [Hrsg.]: Wir und die Anderen: Islam,<br />

Literatur und Migration. Wien: WUV-Universitätsverlag. S.<br />

29-34.<br />

Hölinger, Monika (2002): Verschleierte Lebenswelten. Zur Bedeutung<br />

des Kopftuchs für muslimische Frauen. Ethnologische Studie.<br />

Wien: Edition Roesner.<br />

Lueg, Andrea/Hippler, Jochen (2002): Feindbild Islam oder Dialog<br />

der Kulturen. Hamburg, Konkret Lit. Verlag.<br />

Muir, Hugh/Smith, Laura (2004): Islamophobia: issues, challenges<br />

and action. A report by the Commission on British Muslims and<br />

Islamophobia.<br />

Pelinka, Anton/König, Ilse, Hrsg. (2006): Der Westen und die Islamische<br />

Welt: Fakten und Vorurteile. Wien: Braumüller.<br />

Said, Edward W. (1981): Orientalismus. Frankfurt am Main, 1981.<br />

Weiss, Hilde (2002): Ethnische Stereotype und Ausländerklischees:<br />

Formen und Ursachen von Fremdwahrnehmungen. In:<br />

Liebhart, Karin [Hrsg.]: Fremdbilder Feindbilder Zerrbilder:<br />

Zur Wahrnehmung und diskursiven Konstruktion des Fremden.<br />

Klagenfurt: Drava Verlag.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

11


Salon<br />

RASSISMUS<br />

Sudabeh Mortezai<br />

Eine Filmemacherin im Gespräch<br />

Von Ixy Noever und Julia Pontiller<br />

Sudabeh Mortezai ist 1968 in Ludwigsburg<br />

(BRD) geboren und in Teheran und Wien<br />

aufgewachsen. Sie studierte Theater-, Filmund<br />

Medienwissenschaft in Wien und absolvierte<br />

ein Filmstudium in Los Angeles an der<br />

UCLA. Seit 2007 ist sie Mitbegründerin der<br />

Produktionsfirma „Freibeuter Film“. Ihr neuester<br />

Film Children of the Prophet (2006) zeigt<br />

das schiitische Trauerfest Moharram, bei<br />

dem alljährlich dem Märtyrertod von Imam<br />

Hossein, dem Enkelsohn des Propheten Mohammad,<br />

gedacht wird. Dieses Ritual ist ein<br />

wichtiges Ereignis, das von der westlichen<br />

Welt oft kritisch betrachtet wird. Das Besondere<br />

an diesem Film ist die Feinfühligkeit,<br />

mit der sich die Regisseurin diesem Thema<br />

widmet und dabei differenziert die Be deutung<br />

des Ritu<strong>als</strong> offen zu legen versucht.<br />

Wie bist du nach Österreich gekommen?<br />

Ich bin mit meiner Familie emigriert, <strong>als</strong> ich 12 Jahre alt war. Das war 1980,<br />

<strong>als</strong>o ein Jahr nach der Revolution. Zuvor bin ich in die deutschsprachige<br />

Schule in Teheran gegangen und im Übrigen auch in Deutschland geboren<br />

– was ein Zufall war. Meine Eltern haben in Deutschland studiert und dort<br />

geheiratet, es gab <strong>als</strong>o immer einen deutschsprachigen Bezug. Wir waren<br />

relativ wohlhabend, mussten aber ohne Geld herkommen, weil man dam<strong>als</strong><br />

weder Geld noch Wertsachen ausführen durfte. Die Flughäfen waren<br />

gesperrt, <strong>als</strong>o sind wir auf dem Landweg gekommen, im Auto zu viert: meine<br />

Eltern, mein Bruder und ich, sowie unser Dackel und eine Pippi Langstrumpfpuppe.<br />

Pippi Langstrumpf war der Held meiner Kindertage. Im<br />

Kopf der Puppe war Schmuck von meiner Mutter versteckt, das war unser<br />

Startkapital für das neue Leben.<br />

Wie war die neue Kultur für dich?<br />

Es war ein riesiger Kulturschock, obwohl ich schon Deutsch gesprochen<br />

habe. Leider habe ich sehr viel Rassismus erlebt. Das hat sich erst später<br />

durch meinen sozialen Aufstieg gegeben. Ich glaube, wie man Rassismus<br />

<strong>als</strong> „Einwanderer“ erlebt, hat sehr viel mit der Klassenzugehörigkeit zu tun.<br />

Im Iran haben wir zu einer gebildeten, wohlhabenden Schicht gehört, aber<br />

das spielt dann keine Rolle mehr. Als „Ausländer“ wird man auch nur <strong>als</strong><br />

Ausländer wahrgenommen: das Unterste, in der untersten Kategorie. Es<br />

gab allerdings auch viele kulturelle Missverständnisse, so reicht es oft nicht,<br />

wenn man die Sprache kann, da die Menschen oft meinen, die Umgangsformen<br />

oder auch andere Dinge wären sehr verschieden. Die iranische Kultur<br />

ist ja sehr familienorientiert, auch mit den Nachbarn hat man ständig<br />

zu tun, alles wird gemeinsam gemacht, ob es einem gefällt oder nicht. Als<br />

Erwachsene finde ich es jetzt angenehm, dass ich meine Ruhe haben kann,<br />

aber dam<strong>als</strong> hatte ich das Gefühl der totalen Isolation – dass keiner wissen<br />

will, wie es dir geht. Wir wohnten in einer Wohnung mit Klo am Gang, was<br />

für mich eine Novität war: Das habe ich in meinem Leben noch nie gesehen,<br />

ein Klo am Gang, das man mit Fremden teilt, mit denen man sonst gar<br />

nichts teilt, auch nicht miteinander redet – aber man teilt das Klo. Alles war<br />

auf den Kopf gestellt. Im Iran wissen zwar meine Nachbarn alles über mich,<br />

aber das Klo würde ich nicht mit ihnen teilen.<br />

Du hast gesagt, dass du von Anfang an dem Rassismus ausgeliefert<br />

warst, wie hat sich das geäußert?<br />

Ich war das erste Jahr in Wien in einer Hauptschule. Ich war in dieser Klasse<br />

unterfordert und kam in den A Zug. Das ungeschriebene Gesetz der Schule<br />

12


Sudabeh Mortezai RASSISMUS SALON<br />

besagte aber „Tschuschen in den B Zug“ und da waren ausschließlich<br />

Türken, Jugoslawen und Kinder, die Lernprobleme<br />

hatten. Ich war die einzige ausländische Schülerin,<br />

die im A Zug war. Die Schüler waren extrem grausam, sie<br />

haben mich immer beschimpft <strong>als</strong> Tschuschenkind, Kamelreiter<br />

und was ich denn im A Zug suche. Irgendwann sagten<br />

sie, sie hätten mich im Supermarkt gesehen, wie ich stehle,<br />

ich wäre eine Diebin.<br />

Wie bist du damit umgegangen?<br />

Ich habe mich in mich selbst zurückgezogen, im Iran war ich<br />

allerdings ein extrem soziales Kind. Ich war everyone’s darling<br />

und bin dann ganz schweigsam geworden. Eine gute<br />

Schülerin musste ich sein, das war Teil meines Überlebens,<br />

ich konnte mir keine Fehler leisten, weil ich wusste, dass ich<br />

keine Freunde habe. Für mich war die Schulzeit wie eine Gefängnisstrafe,<br />

die abgesessen werden muss.<br />

Was verstehst du unter dem Begriff Rassismus?<br />

Dass man jemanden anders anschaut – abwertend – und auf<br />

Grund seiner Herkunft <strong>als</strong> menschlich anders definiert. Ich<br />

finde es problematisch, dass dies am Begriff der Rasse festgemacht<br />

wird. Bei dem Begriff Ausländerfeindlichkeit meinen<br />

die Leute oft, dass es gute und schlechte Ausländer gibt.<br />

Die Guten sind immer die Reichen und die Schlechten sind<br />

immer die, die man <strong>als</strong> Schmarotzer empfindet. Ich bin noch<br />

nie an einem Ort gewesen, an dem die, Leute nicht auch rassistisch<br />

gewesen wären, das muss man akzeptieren, dass das<br />

zum Mensch sein gehört. Die Frage ist, wie geht man damit<br />

um. Ich habe Rassismus überall erlebt und ich denke, er hat<br />

sehr viel mit einem sozialen Gefälle zu tun. Angst vor dem<br />

Fremden ist ja auch eine Angst vor dem Unbekannten. Das<br />

was man nicht kennt, kann ja auch beängstigend sein: es erscheint<br />

unkontrollierbar und ist schwer einzuordnen, das ist<br />

schon ein Urinstinkt.<br />

Wie hat sich persönlich der Rassismus für dich aufgelöst?<br />

Mit dem finanziellen Aufstieg. Man kann es sich dann leisten<br />

einen Schutzwall mit Hilfe des Geldes um sich aufzubauen.<br />

Das ist eine traurige Tatsache. Auf der anderen Seite<br />

gibt es Integration und das Verstehen einer Kultur. Dann gibt<br />

es so etwas wie ein gewisses Umfeld. Ich glaube, dass man<br />

sich keine Illusionen zu machen braucht, dass ich in einem<br />

Bereich arbeite, wo die Leute generell weltoffener sind. Ich<br />

habe schon sehr lange keine Erfahrung mehr mit Rassismus<br />

gemacht. Das ist etwas sehr Positives und ich hoffe, dass das<br />

auch etwas über die Gesellschaft aussagt. Ich glaube, dass<br />

durch das eigene Selbstbewusstsein rassistische Akte weniger<br />

passieren, weil die anderen merken, das geht nicht, da<br />

ist keine Einladung, da gibt es kein Opfer. Man wird auch<br />

überempfindlich, wenn man häufig rassistische Dinge erlebt,<br />

dann deutet man alles nur mehr rassistisch und das stimmt<br />

ja auch nicht.<br />

Wo fühlst du dich nun zu Hause?<br />

In Wien. Das ist auch eine bewusste Entscheidung und<br />

ich lebe gerne hier. Es gibt aber auch verschiedene andere<br />

Schichten in meiner Identität. Wenn ich gefragt werde, für<br />

welche Fußballmannschaft mein Herz schlägt und der Iran<br />

spielt, dann halte ich zum Iran, obwohl ich Fußball sonst gar<br />

nicht mag. Da merke ich plötzlich, dass es so etwas wie eine<br />

Zugehörigkeit gibt. Ich glaube bei vielen sogenannten „Ausländern“<br />

schlägt das Herz ganz woanders. Sie haben nie das<br />

Gefühl hier heimisch zu sein. Sie gehören dazu, kapseln sich<br />

aber oft selbst ab. Das kommt einerseits von außen, andererseits<br />

aber auch von innen. Es ist ein Schutzmechanismus, da<br />

man sich denkt, dass man ohnehin nicht akzeptiert wird.<br />

Was ist dir bei der Vermittlung fremder Kulturen im<br />

Film wichtig?<br />

Auf der ganzen Welt schauen Leute sich Hollywoodfilme an,<br />

in denen sie teilweise selbst die Bösewichte sind. Dann muss<br />

Sudabeh Mortezai<br />

Bild: Noever/ Pontiller<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 13


Salon RASSISMUS Sudabeh Mortezai<br />

man sich entweder ärgern oder sich mit dem Helden identifizieren.<br />

Irgendwann haben die Filme angefangen, in denen<br />

die Araber und Perser die „bösen Moslems“ sind. Die bösen<br />

Terroristen, die Barbaren, die Bösen waren immer Leute wie<br />

ich und die Guten waren immer die anderen. Das baut in der<br />

Psyche etwas auf. Die Leute, die wir <strong>als</strong> die „Guten“ wahrnehmen,<br />

haben ein Gesicht, haben eine Geschichte, man lernt<br />

etwas persönlich von ihnen kennen und die anderen bleiben<br />

abstrakt. Wenn man den Akteuren im Film erlaubt ein Gesicht<br />

und eine Geschichte zu haben, kann man sie nicht hassen, dann<br />

muss man sich mit ihnen <strong>als</strong> Menschen auseinandersetzen. Gerade<br />

diese kleinen Dinge sind eigentlich die großen Dinge.<br />

Was willst du mit diesem Film vermitteln?<br />

Was ich erreichen wollte ist ein Perspektivenwechsel: dass<br />

man ein stereotypes Ritual, das für etwas bestimmtes steht,<br />

auch ganz anders sehen kann. Normalerweise, wenn man<br />

dieses Ritual sieht, werden Menschen gezeigt, die sich die<br />

Stirn blutig schlagen. Das ist nicht eine Promille von dem,<br />

was tatsächlich passiert und außerdem nur an bestimmten<br />

Orten. Im Iran ist das verboten. Es gibt bestimmte Bilder, die<br />

sofort mit Islam und diesem Ritual verbunden werden. Und<br />

da habe ich natürlich meine Biographie benutzt. Dadurch,<br />

dass ich im Iran aufgewachsen bin, weiß ich, dass die Teilnehmer<br />

ganz normale Menschen sind, und so wollte ich diesem<br />

Ritual das Exotische nehmen.<br />

Wie ist deine filmische Arbeitsweise?<br />

Ich möchte gerne so wenig wie möglich eingreifen, auch<br />

wenn ich natürlich ständig eingreife. Ich lerne die Leute kennen<br />

und baue eine Beziehung mit ihnen auf. Erst dann filme<br />

ich. Natürlich verändert die Kamera die Situation immer beträchtlich,<br />

aber ich gebe den Leuten keine Anweisungen. Ich<br />

versuche auch nicht zu inszenieren, sondern schaue welche<br />

Schlüsselsituationen es gibt. Ich habe immer versucht Situationen<br />

zu zeigen, die nicht erfunden sind, sondern die die<br />

Menschen ohnehin erleben. Es geht darum, die großartige filmische<br />

Idee in ihrem eigenen Leben zu suchen.<br />

Screenshot Children of the Prophet<br />

Bild: Mortezai<br />

Was war dir bei der Darstellung des Islam in dem<br />

Film Children of the Prophet wichtig?<br />

Bei Children of the Prophet gab es einige ganz bewusste Entscheidungen:<br />

Ich zeige zum Beispiel kein einziges Massengebet<br />

im Film. In den meisten Fernsehbeiträgen über den Islam<br />

sieht man zwei Dinge: Leute beim Freitagsgebet von hinten<br />

und verschleierte Frauen. Wenn man das ständig sieht, baut<br />

das ein bestimmtes Bild auf. So wird die Distanz zu diesen<br />

Menschen nicht überwunden und sie will auch nicht überwunden<br />

werden.<br />

Ixy Noever, 17.7. 1969 in Wien geb., Studium: Ethnologie an der<br />

Uni. Wien, Selbstständige Tätigkeit <strong>als</strong> Mediatorin und Beraterin,<br />

Lehraufträge an verschiedenen Instituten österr. Universitäten (Visuelle<br />

Anthropologie, Scheidungen im Kulturvergleich), Filmregisseurin.<br />

Seit 2007 Gastprofessur an der Universität für angewandte<br />

Kunst in Wien.<br />

Julia Pontiller, 1974 in Innsbruck geb., ist diplomierte Ethnologin<br />

und Filmcutterin, sie arbeitet <strong>als</strong> selbständige Cutterin und<br />

freie Lektorin an den Universitäten in Wien und Innsbruck zu visueller<br />

Anthropologie und Schnitt. Seit 2007 Gastprofessur an der<br />

Universität für angewandte Kunst in Wien.<br />

Wie setzt du dich in deiner Arbeit mit deiner Herkunft<br />

auseinander?<br />

Es ist weniger die Auseinandersetzung mit der Heimat <strong>als</strong><br />

mit bestimmten Dingen, die mich seit meiner Kindheit fasziniert<br />

haben: In Children of the Prophet sind es die Rituale. Sie<br />

gehören zu meiner Biographie und sie haben mich <strong>als</strong> Phänomen<br />

interessiert. Die Phase „verlorene Heimat“ ist für mich<br />

vorbei. Wenn ich im Iran bin, sage ich immer: „Ich bin Tourist<br />

im Lande meiner Kindheit.“<br />

14


RASSISMUS<br />

SALON<br />

Die „Helden von 1683“<br />

Türkengedenken im 19. & 20. Jahrhundert<br />

Von Silvia Dallinger und Johanna Witzeling<br />

Der Jahrestag der Befreiung Wiens von osmanischen<br />

Truppen – der 12. September 1683<br />

– wurde immer wieder gefeiert und für unterschiedliche<br />

nationale, kirchen- und parteipolitische<br />

Interessen benutzt. Insbesondere<br />

das 100, 200, 250, und 300jährige Jubiläum<br />

stellte einen besonderen Anlass für Feierlichkeiten<br />

dar. In deren Rahmen wurden u.a.<br />

Pre digten abgehalten, Umzüge und Aufmärsche<br />

veranstaltet sowie Denkmäler errichtet.<br />

Dabei konkurrierten verschiedene Institutionen,<br />

wie etwa Staat oder Kirche, je nach<br />

den historischen und politischen Kontexten<br />

der jeweiligen Zeit um die Deutungshoheit<br />

über die Geschichte. Insbesondere Denkm<strong>als</strong>etzungen<br />

zur Ehrung der „eigenen Helden“<br />

von 1683 stellten dabei eine Möglichkeit der<br />

Demonstration von Macht durch eine Institution<br />

und der Konstruktion von Identität(en)<br />

dar. Das konstruierte Feindbild „der Türken“<br />

spielte im 19. und 20. Jahrhundert meist nur<br />

noch eine periphere Rolle ohne reellen Bezug.<br />

Vielmehr wurde es auf aktuelle „Feinde“<br />

übertragen.<br />

Das interdisziplinäre Forschungsprojekt „‘der Türkische Säbel ist<br />

vor der Thür…‘ (Abraham a Sancta Clara). Zur Neubewertung<br />

von Türkenbildern in Wien“ beschäftigt sich mit Entstehungs-,<br />

Deutungs- und Wertungszusammenhängen von Jubiläen und Denkmalen,<br />

sowie mit Kontexten der Abschaffung oder Entfernung von Denkmalen im<br />

öffentlichen Raum <strong>als</strong> Zeugnisse türkischer Präsenz in Wien (Projekt der<br />

Forschungsstelle Sozialanthropologie und Kommission für Kulturwissenschaften<br />

und Theatergeschichte der ÖAW).<br />

Denkmale und Jubiläen tragen dazu bei, ein kollektives „kulturelles Gedächtnis“<br />

(Halbwachs 1985 [1925], Assmann 1999), eine Erinnerungsgemeinschaft<br />

zu konstruieren und zu erhalten. Daraus resultiert die Ausbildung<br />

einer „Wir“-Identität, die in Gegensatz zu einem vermeintlich „Anderen“<br />

gesetzt werden kann. Denkmale und Jubiläen sind somit sinnstiftend und<br />

Identität gebend – über die Differenz zum „Anderen“, über die Konstruktion<br />

kultureller Unterschiede (vgl. z.B. Hall 2004).<br />

Das kollektive Gedächtnis ist nicht statisch, sondern muss <strong>als</strong> dynamisch<br />

gesehen werden. Es wird für die Gegenwart aktualisiert und setzt unterschiedliche<br />

Akzente zur Verfolgung bestehender Interessen, je nachdem<br />

welche AkteurInnen die Erinnerungshoheit für sich beanspruchen. Das kollektive<br />

Gedächtnis ist somit Re- und Uminterpretationen ausgesetzt, kann<br />

<strong>als</strong>o <strong>als</strong> vielschichtig angenommen werden (vgl. z.B. Bhatti 2003). Eine kritische<br />

Analyse von Denkmalen und der Erinnerung an bestimmte AkteurInnen<br />

und Ereignisse muss sich folglich auf den historisch-dynamischen<br />

Wandel der verschiedenen Schichten von Gedächtnis und Erinnerung konzentrieren.<br />

Erst wenn frühere, bereits verschüttete Schichten wieder freigelegt<br />

werden, so das Ziel des Projekts, ist es möglich, die machtpolitischen<br />

Interessen, die sich darunter verbergen, zu reflektieren.<br />

Ziel dieses interessengeleiteten Geschichtsbewusstseins war und ist die<br />

Stärkung des „Wir“ in Abgrenzung zum „Anderen“ durch die Konstruktion<br />

von Helden- und Feindbildern. Wie Helden- und Feindbilder mit Bezug<br />

zu 1683 durch Instanzen wie Kirche, Dynastie/Staat und städtisches Bürgertum<br />

benutzt wurden, sollen folgende Beispiele verdeutlichen.<br />

Gedenken und Erinnerung an den Entsatz 1683<br />

Türkendenkmal<br />

Bild: Dallinger/Witzeling<br />

Ab 1683 wurden vor allem Prozessionen am 12. September, dem Tag der „Befreiung<br />

von den Türken“, veranstaltet. Mit den säkularen Reformen von Joseph II.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 15


Salon RASSISMUS Die „Helden von 1683“<br />

wurde ab 1783 die Zahl der kirchlichen Feierlichkeiten eingeschränkt.<br />

Das Feiern von Jubiläen begann erst wieder mit den<br />

nationalen Spannungen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts.<br />

In dieser Zeit entstanden hauptsächlich Heldendenkmäler bzw.<br />

wurden auch Gedenktafeln gestiftet. Die Kirche hatte dabei<br />

nur eine marginale Stiftungsfunktion, war aber trotzdem ideologische<br />

Nutznießerin. Im 19. Jahrhundert wurden mit dem<br />

Erstarken des liberalen Bürgertums Identifikationsfiguren aktiviert.<br />

Anhand dieser werden der Konstruktionscharakter und<br />

die Instrumentalisierung der „Helden“ von 1683 im Spiel der<br />

politischen Machtkämpfe besonders deutlich.<br />

Kontexte im Jubiläumsjahr 1883<br />

Zum 200. Jubiläum der Befreiung Wiens konkurrierten insbesondere<br />

die Interessen der Dynastie und der Gemeinde Wien<br />

miteinander, die beide durch Denkm<strong>als</strong>etzungen zu Ehren<br />

der „eigenen Helden“ von 1683 ihre Rolle hervorzuheben<br />

versuchten. Dies spiegelt sich sowohl in den dargestellten<br />

Persönlichkeiten <strong>als</strong> auch in der Wahl der Standorte wider.<br />

Durch das vom Ministerium gesetzte Türkenbefreiungsdenkmal<br />

im Stephansdom (Enthüllung: 13.9.1894) sollten all jene<br />

geehrt werden, die maßgeblich am Entsatz beteiligt waren<br />

und damit der „Ruhm der Retter Wiens, Österreichs, Deutschlands<br />

und der abendländischen Christenheit für immer verkündet“<br />

werden (Truxa 1891: 9). Rund um das Jubiläumsjahr<br />

1883 gab es in den Kreisen nichtdeutscher Nationalitäten unterschiedliche<br />

Auslegungen und Hervorhebungen nationaler<br />

Helden von 1683. So wurde zum Beispiel in Krakau der Anteil<br />

des Polenkönigs Sobieski an der Befreiung Wiens besonders<br />

betont. Durch die Wahl des Standortes für das Türkenbefreiungsdenkmal<br />

im Stephansdom <strong>als</strong> Wahrzeichen Wiens<br />

konnte sowohl die Rolle der Dynastie <strong>als</strong> auch die der Kirche<br />

in den Vordergrund gerückt werden, ohne dabei andere Nationalitäten<br />

zu beleidigen (vgl. Weissenhofer 1956: 76).<br />

Zugleich planten Vertreter des liberalen Gemeinderates ein<br />

Denkmal, das an den Beitrag der BürgerInnen Wiens am Entsatz<br />

erinnern sollte. Zu diesem Zweck wurde Andreas von<br />

Liebenberg, dem Bürgermeister der Stadt Wien im Jahre<br />

1683, ein Denkmal auf der Mölkerbastei, am Kreuzungspunkt<br />

bürgerlicher Repräsentationen (Universität und Rathaus),<br />

gesetzt (Enthüllung: 12. 9.1890).<br />

Anlässlich der Jubiläumsfeier 1883 kam es unter anderem<br />

zur Schlusssteinlegung des neuen Rathauses. Zahlreiche Komitees<br />

entstanden, die sich die Planung von Erinnerungsorten<br />

und -denkmalen wie dem Türkenschanzpark und der St.<br />

Josefs-Votivkirche in Weinhaus zur Aufgabe setzten.<br />

Auffallenderweise wurde 1883 auf Darstellungen des Kapuzinermönchs<br />

Marco d‘Aviano, der insbesondere in Kirchenpredigten<br />

<strong>als</strong> zentraler Held und Retter des Christentums<br />

hervorgehoben wurde, in Form von Denkmalen gänzlich<br />

verzichtet. Erst 1933 wurde er <strong>als</strong> willkommene Identifikationsfigur<br />

der damaligen politischen Interessen „aktiviert“.<br />

Das 250-jährige Jubiläum von 1933<br />

Das Jubiläum von 1933 war geprägt von politischen Machtkämpfen<br />

zwischen den regierenden Christlichsozialen, den<br />

Sozialdemokraten und den Nation<strong>als</strong>ozialisten. Jedes politische<br />

Lager benutzte das „Türkengedenken“ in seiner<br />

Propaganda, um Parallelen zwischen dem Beginn des „Heldenzeitalters<br />

Österreichs“ 1683 (Miklas 1933) und der aktuellen<br />

Situation zu ziehen. Das zu Erinnernde wurde dabei <strong>als</strong><br />

etwas Statisches präsentiert: Gemäß dem Leitspruch „so wie<br />

dam<strong>als</strong>, so auch heute“ sollte „ein geglaubtes oder fiktives<br />

Bild der Vergangenheit <strong>als</strong> Legitimation der für die Gegenwart<br />

erhobenen Forderung“ dienen (Mitterauer 1982: 115).<br />

Heldenbilder 1683-1933<br />

Zu diesem Zweck wählte jedes politische Lager einen „Helden<br />

von 1683“, der sich am besten <strong>als</strong> Repräsentant für die<br />

eigenen aktuellen politischen und religiösen Interessen instrumentalisieren<br />

ließ.<br />

Die Christlichsozialen z.B. rückten 1933 besonders Graf Starhemberg,<br />

den Wiener Stadtkommandanten von 1683, in den<br />

Vordergrund. Der Grund dafür lag darin, dass einer seiner<br />

Nachkommen, Fürst Starhemberg, 1933 Bundesführer der<br />

Heimwehr und somit Verbündeter der Christlichsozialen<br />

war. Die österreichischen Nation<strong>als</strong>ozialisten wiederum betonten<br />

vor allem die Rolle des Wiener Bürgermeisters von<br />

1683, Andreas von Liebenberg. Diese ursprünglich liberale<br />

Identifikationsfigur diente 1933 einem neuen Zweck: Einer<br />

seiner Nachfahren war 1933 Parteimitglied der Nation<strong>als</strong>ozialisten<br />

und wurde im Rahmen der „Türkenbefreiungsfeiern“<br />

<strong>als</strong> einer „ihrer“ Helden gefeiert.<br />

Dollfuß-Aviano Kult<br />

Durch die Regierungsmacht der Christlichsozialen standen<br />

ihre Aufmärsche und öffentlichen Kundgebungen im Vor-<br />

16


Die „Helden von 1683“ RASSISMUS SALON<br />

dergrund der Feierlichkeiten. Den Höhepunkt bildete der<br />

Allgemeine Deutsche Katholikentag im September 1933 – ein<br />

Zeichen für den vorherrschenden politischen Katholizismus.<br />

Der 12. September, der Tag der staatlichen Türkenbefreiungsfeier,<br />

wurde sogar zum Feiertag erklärt (s. Reichspost<br />

13.9.1933). Bereits 1933, aber besonders ab 1934, nach der<br />

Ermordung Dollfuß‘, rückte der Kapuzinerpater Marco<br />

d’Aviano, Feldprediger, kaiserlicher Berater und päpstlicher<br />

Legat von 1683, in den Mittelpunkt der christlich-konservativen<br />

Propaganda. Es kam zu einer regelrechten Inszenierung<br />

eines Dollfuß-Aviano Kults: Parallelen zwischen den<br />

„Heldentaten“ von Aviano und Dollfuß, wie die „Rettung<br />

Österreichs sowie des gesamten christlichen Abendlandes“,<br />

wurden konstruiert (s. z.B. Reichspost 12.9.1934: 5). Als Ziele<br />

wurden die Schaffung eines neuösterreichischen Selbstbewusstseins,<br />

die Weiterführung der historischen Legitimation<br />

des autoritären „Ständestaats“ und die Abgrenzung gegenüber<br />

Nation<strong>als</strong>ozialismus und Kommunismus verfolgt. Im<br />

Juni 1935 kam es schließlich <strong>als</strong> Höhepunkt der Ehrung Avianos<br />

zur Enthüllung eines Denkm<strong>als</strong> vor der Kapuzinerkirche.<br />

Dieses Denkmal soll die Idee und ein großer Wunsch<br />

von Dollfuß selbst gewesen sein. Ein interessantes Detail ist<br />

der Aufruf an die Wiener Arbeitslosen 1934, Spenden für die<br />

Errichtung des Denkm<strong>als</strong> zu sammeln.<br />

Revitalisierung von Feindbildern<br />

Anlässlich des 300. Jubiläums 1983 wurde zwar versucht,<br />

sich von den propagandistischen Türkenfeiern von 1933<br />

zu distanzieren und das neutrale Österreich vor dem Hintergrund<br />

des Kalten Krieges <strong>als</strong> Brücke anstatt <strong>als</strong> Bollwerk<br />

zu präsentieren. Dennoch finden und fanden sich in öffentlichen<br />

Diskursen immer wieder polarisierende Bilder über<br />

„die Türken“. Die verwendete Bildersprache nimmt dabei<br />

Anleihen an älteren Redefiguren, die schon im Zusammenhang<br />

mit den „Türkenkriegen“ Anwendung fanden: Sich<br />

niederlassende „Gast“arbeiterInnen wurden in den 1960er<br />

und 1970er Jahren <strong>als</strong> wirtschaftliche und soziale Bedrohung<br />

identifiziert. Das Differenzmerkmal „Religion“ wird nach<br />

wie vor <strong>als</strong> zentrales Argument gegen einen EU-Beitritt der<br />

Türkei genannt und die Rede von der „3. Türkenbelagerung“<br />

im Kontext von Zuwanderung stellen dabei nur eine kleine<br />

Auswahl dar. Spätestens seit 9/11 kommt die Gefahr angeblich<br />

wieder eindeutig aus „dem Osten“.<br />

mit „ungeliebten Denkmalen“ (wie z.B. solchen, die in der<br />

NS-Zeit entstanden sind) umgegangen werden? Wir plädieren<br />

nicht für die Abschaffung solcher Denkmale, sondern für<br />

deren Neubewertung. Denn nur eine Offenlegung der vielschichtigen<br />

Kontexte ermöglicht einen reflexiveren Umgang<br />

mit Geschichte.<br />

Silvia Dallinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt<br />

„der türckische Säbel ist vor der Thür“… an der Forschungsstelle<br />

Sozialanthropologie (ÖAW) und Mitarbeiterin der asylkoordination<br />

österreich.<br />

Johanna Witzeling ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt<br />

„der türckische Säbel ist vor der Thür“… an der Forschungsstelle<br />

Sozialanthropologie (ÖAW) und lehrt an der Universität Wien.<br />

Projektförderung durch den Jubiläumsfonds der Stadt Wien:<br />

Projektleitung: Prof. Dr. Andre Gingrich<br />

Projektkoordination: Mag. Dr. Johannes Feichtinger<br />

(ÖAW, KKT), Dr. Johann Heiss (ÖAW, FS SozAnth)<br />

http://www.oeaw.ac.at/sozant, s. laufende Projekte<br />

Literatur:<br />

Assmann, Jan (1999): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische<br />

Identität in frühen Hochkulturen. München, Beck.<br />

Bhatti, Anil (2003): Kulturelle Vielfalt und Homogenisierung. In: Feichtinger,<br />

Johannes / Prutsch, Ursula / Csáky, Moritz (Hg.): Habsburg Postcolonial.<br />

Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis. Innsbruck/Wien/München, Studienverlag.<br />

S. 55-68.<br />

Halbwachs, Maurice (2006) [1925]: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.<br />

Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Hall, Stuart (2004): Wer braucht „Identität“? In: Hall, Stuart: Ideologie, Identität,<br />

Repräsentation. Hamburg, Argument Verlag. S. 167-187.<br />

Miklas, Wilhelm (1933): Das Heldenzeitalter Österreichs. Reden d. Bundespräs.<br />

Wilhelm Miklas b. d. Türkenbefreiungsfeier u. d. Allg. Deutschen Katholikentag<br />

am 12. Sept. 1933. Wien, Österr. Heimatdienst.<br />

Mitterauer, Michael (1982): Politischer Katholizismus, Österreichbewußtsein<br />

und Türkenfeindbild. Zur Aktualisierung von Geschichte bei Jubiläen. In: Beiträge<br />

zur historischen Sozialkunde 12, 4. Wien. S. 111-120.<br />

Reichspost: unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk. 12.-13.9.1933, 12.-<br />

13.9.1934, 3.6.+11.6.1935. Wien, Herold.<br />

Truxa, Hans Maria (1891): Erinnerungsdenkmäler der Befreiung Wiens aus der<br />

Türkennoth des Jahres 1683. Wien, Commissionsverlag von Mayer&Comp.<br />

Weissenhofer, Anselm (1956): Zur Geschichte des Türkenbefreiungsdenkmales<br />

im Stephansdom in Wien. In: Verein für Geschichte der Stadt Wien (Hg.): Wiener<br />

Geschichtsblätter 11. (71.) Nr.4. Wien, Wiener Stadt- u. Landesarchiv. S. 73-80.<br />

Welchen Beitrag leisten Denkmale im öffentlichen Raum zur<br />

Festschreibung von Geschichte und zur Abgrenzung imaginierter<br />

nationaler, kollektiver Identitäten? Wie kann oder soll<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

17


Salon<br />

RASSISMUS<br />

„Vergiss, mein Volk, die treuen Toten nicht“<br />

Kriegerdenkmäler und österr. Vergangenheitspolitik<br />

Von Konstantin Ferihumer und Romana Klinger<br />

„G’freit hab i mi scho… an den Tag, wo<br />

man’n bekommen ham… den Staatsvertrag…<br />

Da san ma zum Belvedere zogn…<br />

san dag’standen… unübersehbar…lauter<br />

Österreicher… wie im Jahr achtadreißig…<br />

eine große Familie…a bissel a klanare…<br />

weil’s Belvedere is ja klaner <strong>als</strong> der Heldenplatz.<br />

Und die Menschen waren auch reifer<br />

geworden… Und dann is er herausgetreten…<br />

der… der… Poldl und hat die zwa<br />

anderen Herrschaften bei der Hand genommen<br />

und mutig bekannt: ‚Österreich ist<br />

frei!’“ (Qualtinger/Merz 1964: 23).<br />

So wie Herr Karl <strong>als</strong> fiktiver Durchschnittsösterreicher in dieser Passage<br />

behauptet, würden auch viele ZeitzeugInnen bestätigen diese<br />

„Balkonszene“ erlebt zu haben. Die Besonderheit dieses Momentes<br />

österreichischer Geschichte liegt darin, dass er niem<strong>als</strong> so stattfand, sondern<br />

auf einer Montage der Sonderausgabe der Austria Wochenschau vom<br />

28. Oktober 1955 basiert (vgl. Uhl 2005: 278). Tief verwurzelt in der österreichischen<br />

Identität repräsentiert der Erinnerungsort „Staatsvertrag“ und mit<br />

ihm die „Balkonszene“ exemplarisch die Verschmelzung von rekonstruktiver<br />

Gedächtnisarbeit mit „materiellem Erbe“. Die daraus resultierenden<br />

Verkürzungen stellen kein Unikat dar, sondern begegnen uns unter anderem<br />

in den Symbolismen der Kriegerdenkmäler des Zweiten Weltkrieges,<br />

deren Formensprache wir uns anhand dreier Fallbeispiele aus Oberösterreich<br />

in Folge annähern werden.<br />

Dass die oberflächlich und voreilig konstatierte Beständigkeit der Geschichts<br />

darstellung einer Gruppe oder Gesellschaft der Orwell’schen Veränderbarkeit<br />

der Vergangenheit weichen muss, stellte schon Maurice Halbwachs in<br />

der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fest. Er führte diese Variabilität auf<br />

die rekonstruktive Funktion des Gedächtnisses zurück. Mit anderen Worten<br />

basiert das Vergangenheitsbild und damit die Identitätskonstruktion einer<br />

gegenwärtigen Gemeinschaft somit nicht auf einer objektiven Betrachtung<br />

ihrer Vergangenheit (sofern dies überhaupt möglich ist), sondern wurzelt in<br />

einer Rekonstruktion des Vergangenen. Gedächtnis ist immer gruppenbezogen<br />

und seine Inhalte sind auf eine selektive Auswahl einer bestimmten<br />

Quantität historischer Anhaltspunkte zurückzuführen (vgl. Halbwachs 1985).<br />

Sigmarkapelle<br />

Bild: Ferihumer/Klinger<br />

Damit die Überlieferung von „kulturellem Erbe“ haltbar gemacht werden<br />

kann, ist eine Beschränkung auf das Medium Sprache unzureichend, da<br />

diese Funktion einer Vielzahl von Medien zugeschrieben werden kann.<br />

So materialisiert sich die Vergangenheit einer Gemeinschaft etwa in Form<br />

von Schriften, Bauwerken, Denkmälern etc. oder wird etwa durch Riten<br />

und Feiertage in der Mitte der Gesellschaft verankert. Aus dem so angelegten<br />

riesigen Repertoire an Speicherwissen kann nun nach Bedarf geschöpft<br />

werden, um seine einzelnen Elemente im aktuellen Gedächtnis<br />

einer Gruppe, wie ein Mosaik, neu zusammenzusetzen. Dies führt allerdings<br />

zu einer selektiven Bestimmung der für die Gegenwart relevanten<br />

Überlieferungen, was wiederum eine Hierarchisierung von Wissen, gemessen<br />

an gruppenspezifischer Brauchbarkeit und Aktualität, mit sich<br />

bringt (vgl. Assmann 1988: 9-19).<br />

18


Kriegerdenkmäler RASSISMUS SALON<br />

Als zentrale Wegweiser der kollektiven Erinnerungsfähigkeit<br />

im gesellschaftlich vorgegebenen Rahmen fungieren<br />

Pierre Noras Lieux de mémoire, <strong>als</strong>o sowohl materielle<br />

<strong>als</strong> auch immaterielle Bilder der Vergangenheit, die<br />

über viele Generationen hinweg zentrale Bereiche der<br />

Erinnerungsarbeit und Identitätskonstruktion einer<br />

Gemeinschaft einnehmen (vgl. Nora 2005). Dabei muss<br />

allerdings betont werden, dass auch ihre transportierten<br />

Botschaften sowie deren hierarchische Positionierung im<br />

gesamten Wissenspool einer Gemeinschaft variabel sind,<br />

da „nicht das, was die Vergangenheit uns aufzwingt, zählt,<br />

sondern das, was wir in sie hineinlegen“ (Nora 2005: 553).<br />

Die Sigmarkapelle in Wels wurde 1962 <strong>als</strong> Gedenkstätte für die<br />

gefallenen Opfer des Ersten und Zweiten Weltkrieges eingeweiht.<br />

Schon der Innenraum der Kapelle führt durch die gotische<br />

Architektur zu einer „Sakralisierung“ des Denkmales<br />

und trägt zur Erhöhung der symbolischen Aura desselben<br />

bei. Die im Kopfbereich der Kapelle platzierte Bronzebüste<br />

trägt den Namen „In memoriam. Kopf eines sterbenden<br />

Kriegers“ und wurde ursprünglich vom Bildhauer Paul Bronisch<br />

gestaltet, einem der bevorzugten bildenden „Künstler“<br />

des nation<strong>als</strong>ozialistischen Regimes. Die Pose des Kopfes erinnert<br />

nicht zufällig an Darstellungen von Christi am Kreuz,<br />

es „[...] wird dadurch aber auch eine Ähnlichkeit des Sterbens<br />

Christi mit dem Sterben von Soldaten unterstellt. Es<br />

wird so das Leiden und Sterben Christi, das nach christlicher<br />

Auffassung der Heilslehre zwar notwendig aber unschuldig<br />

war, verglichen mit dem Leiden und Sterben von Soldaten“<br />

(Gärtner/Rosenberger 1991: 70-75). Der Tod im Krieg erfährt<br />

hier eine Heroisierung. Blut und Verletzungen werden ausgeblendet.<br />

Die Büste vermittelt ein Bild vom Leiden, das zwar<br />

keineswegs erfreulich, aber immerhin „notwendig“ sei: Wird<br />

hier versucht das Sterben der Soldaten in diesem vom Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

initiierten Vernichtungskrieg im Nachhinein<br />

zu legitimieren?<br />

Auf einer der Inschrifttafeln an der Seitenwand der Kapelle<br />

wird den „Kriegsopfer[n] in der Heimat“ gedacht. Als<br />

„Kriegsopfer“ können im weitesten Sinne, je nach Perspektive,<br />

Wehrmachtsoldaten, alliierte Soldaten, zivile Opfer durch<br />

Luftangriffe oder aber die Opfer der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Politik, <strong>als</strong>o Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, so genannte<br />

„Asoziale“, Homosexuelle, oder auch WiderstandskämpferInnen<br />

usw. verstanden werden.<br />

Durch die mangelnde Definition des Opferbegriffes wird von<br />

den BetrachterInnen vorausgesetzt, dass sie wüssten, wer mit<br />

„Opfer“ gemeint sei. Das zentrale Denkm<strong>als</strong>tück der Kapelle,<br />

die Soldatenbüste an der Kopfseite des Gebäudes, gibt die<br />

Richtung der mentalen Opferdefinition vor. Anstatt die Leichenberge<br />

von Auschwitz in die Köpfe der BetrachterInnen<br />

zu projizieren, dominiert das Bild des „tapferen, heroischen,<br />

deutschen (bzw. ‚österreichischen’) Wehrmachtsoldaten“ das<br />

Gedenken.<br />

In Hinsicht auf die österreichische Verdrängungsstrategie der<br />

Nachkriegszeit, die ihren materiellen Niederschlag in Kriegerdenkmälern<br />

fand, schreibt der Politologe Anton Pelinka<br />

im Vorwort des Buches „Kriegerdenkmäler“ pointiert: „Die<br />

‚Helden’ der Kriegerdenkmäler sind in deutscher Uniform<br />

gefallen, für die Kriegsziele des Großdeutschen Reiches, für<br />

die Ziele des Nation<strong>als</strong>ozialismus. Und diese Problematik<br />

wird durch die Kriegerdenkmäler verdrängt, verschwiegen.<br />

Das heißt, daß die dahinter stehenden Strukturen, daß <strong>als</strong>o<br />

die österreichische Gesellschaft verdrängt und verschweigt“<br />

(Gärtner/ Rosenberger 1991: 8).<br />

Das Kriegerdenkmal am Marktplatz Waizenkirchen wurde 1922<br />

ursprünglich im Gedenken der Opfer des Ersten Weltkrieges<br />

errichtet und später auch den Kriegsjahren des Zweiten.<br />

Weltkrieges 1939-1945 gewidmet (vgl. Heimat- und Kulturwerk<br />

Waizenkirchen: 36).<br />

Die Ausweitung des zu gedenkenden Opferkollektivs auf<br />

die Gefallenen des Ersten und Zweiten Weltkrieges ist jedoch<br />

eine fragwürdige. Denn dadurch kommt es zu einer<br />

Relativierung und Angleichung der beiden Weltkriege.<br />

Die Kriegshandlungen und mit diesen verbunden auch die<br />

einzigartigen – im negativen Sinne – Gräueltaten der Nation<strong>als</strong>ozialistInnen<br />

erscheinen in einer scheinbar kontinuierlichen<br />

Abfolge von unvermeidbaren Kriegen, die,<br />

Naturkatastrophen gleich, in mehr oder weniger regelmäßigen<br />

Abständen über die Menschheit hereinbrechen und<br />

ihnen somit den Charakterzug von Normalität, Kontinuität<br />

und Unausweichlichkeit verleihen.<br />

Des Weiteren offeriert dieser Denkmaltypus eine Sinn<br />

gebende und Legitimation stiftende Funktion für das Engagement<br />

der ehemaligen Soldaten in der deutschen<br />

Wehrmacht. Denn auf dem Denkmal finden wir den<br />

Satz „Vergiss, mein Volk, die treuen Toten nicht.“ Die<br />

Teilnahme am Krieg wird <strong>als</strong>o durch die Verteidigung<br />

des Volkes und den dadurch hervorgerufenen Heimatbezug<br />

legitimiert. Dies wird jedoch problematisch, wenn diese<br />

Männer in einem Angriffs- und Vernichtungskrieg fern<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 19


Salon RASSISMUS Kriegerdenkmäler<br />

der Heimat starben, und wirft die Frage auf, wie denn dieses<br />

Volk zu definieren, diese Heimat zu umgrenzen sei.<br />

Die im „Soldatengrab“ in Stillfüssing begrabenen 13 Männer<br />

waren Angehörige des SS-Panzergrenadier-Regiments 3, die<br />

bei einem Angriff auf die vorrückenden Befreier der Amerikanischen<br />

Armee noch am 04. 05. 1945 ums Leben kamen<br />

(vgl. Marktgemeinde Waizenkichen 1992: 71-72). Dieses<br />

Denkmal wird seit seiner Errichtung durch die Marktgemeinde<br />

Waizenkirchen von den OrtsbewohnerInnen, dem<br />

Kameradschaftsbund und der Kameradschaft IV gepflegt<br />

(vgl. Marktgemeinde Waizenkirchen 1995: 62). Zentral ist,<br />

dass die hier begrabenen SS-Angehörigen nicht aus Waizenkirchen<br />

oder Umgebung stammten und ihnen somit jegliche<br />

soziale Verankerung in dieser Ortschaft fehlt.<br />

Die Ehrung und Pflege erfährt hier ein transzendentes, heroisiertes<br />

(SS-)Soldatenbild. Die von ihm verkörperten, idealisierten<br />

Werte, wie etwa Ritterlichkeit oder Aufopferung,<br />

transportieren einen verklärenden Blick auf die Vergangenheit.<br />

Diese Perspektive spielt in der Verarbeitung der Kriegsgeschehnisse<br />

durch Hinterbliebene und Überlebende eine<br />

wichtige Rolle. Denn damit braucht nicht mehr nach der primären<br />

Aufgabe eines Soldaten im Angriffskrieg gefragt zu<br />

werden. Lieber eines ritterlichen Heroen gedenken, <strong>als</strong> sich<br />

eines Mörders schämen.<br />

Es finden auch heute noch so genannte Heldenehrungen und<br />

Kranzniederlegungen vor diesem Denkmal statt. Der geschichtliche<br />

Kontext scheint eher zu verbinden <strong>als</strong> Kontroversen<br />

aufzuwerfen: „Man ‚gedenke in Ehren der gefallenen<br />

Kameraden und ‚nur die, die sich nicht auskennen’, würden<br />

das kritisieren. […] ‚Gräueltaten? Blödsinn, das stimmt doch<br />

so alles nicht. Ich war zwei Jahre bei der Waffen SS und hab<br />

davon nichts bemerkt’“, so der K-IV-Obmann Ernst Kolar<br />

in der Standardausgabe vom 24. November 2006 auf dieses<br />

Denkmal angesprochen.<br />

Die hier vorgestellten Kriegerdenkmäler orientieren sich an<br />

einem scheinbar „harmlosen“ Gedenken bestimmter sozialer<br />

Gruppierungen deren Vergangenheitsvorstellungen spätestens<br />

seit der Erosion der „Opferthese“ ab den 1980er Jahren<br />

zunehmend Gegenstand wissenschaftlicher und politischer<br />

Auseinandersetzung wurden. Kriegerdenkmäler legen ein<br />

visuelles Zeugnis dieser Vergangenheitskonstruktionen ab<br />

und bestätigen die These der Selektion und nachträglichen<br />

Hierarchisierung historischer Ereignisse. Unsere Aufgabe im<br />

„Zeitalter des Gedenkens“ (Nora 2005: 575) besteht nicht in<br />

der blinden Erinnerung, sondern in der kritischen Betrachtung<br />

ebendieser: Wo bleiben denn nun die Denkmäler, wo<br />

die Kränze, die Schleifen für die ermordeten, gequälten, gedemütigten,<br />

vertriebenen Opfer der Männer, derer in der<br />

Sigmarkapelle, am Waizenkirchner Marktplatz und in Stillfüssing<br />

sehr wohl gedacht wird?<br />

Konstantin Ferihumer, geb. 1985, aufgewachsen in Waizenkirchen<br />

(OÖ), studiert Politikwissenschaft in Wien.<br />

Romana Klinger, geb. 1985, aufgewachsen in Wels (OÖ), studiert<br />

Politikwissenschaft, sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft<br />

in Wien.<br />

Literatur<br />

Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann,<br />

Jan/ Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Suhrkamp, Frankfurt<br />

am Main. S. 9-19.<br />

Gärtner, Reinhold (1996): Opfer oder Helden? Kriegerdenkmäler aus dem<br />

Zweiten Weltkrieg in Österreich. In: Manoschek, Walter (Hrsg.): Die Wehrmacht<br />

im Rassenkrieg. Der Vernichtungskrieg hinter der Front. Picus Verlag<br />

Ges.m.b.H., Wien. S. 206-220.<br />

Gärtner, Reinhold/ Rosenberger, Sieglinde (1991): Kriegerdenkmäler. Vergangenheit<br />

in der Gegenwart. Österreichischer Studien Verlag, Innsbruck.<br />

Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.<br />

Suhrkamp, Berlin – Neuwied.<br />

Heimat- und Kulturwerk Waizenkirchen (Hrsg.): Waizenkirchen. Das 20. Jahrhundert.<br />

Moserbauer Druck & Verlag, Ried im Innkreis.<br />

Marktgemeinde Waizenkirchen (Hrsg.) (1992): Waizenkirchen. Vergangenheit<br />

und Gegenwart. Moserbauer Druck & Verlag, Mattighofen.<br />

Marktgemeinde Waizenkirchen (Hrsg.) (1995): Kleindenkmäler in der Pfarre<br />

und Gemeinde Waizenkirchen. Moserbauer Druck & Verlag, Ried im<br />

Innkreis.<br />

Nora, Pierre (Hrsg.) (2005): Erinnerungsorte Frankreichs. C. H. Beck,<br />

München.<br />

Qualtinger, Helmut/ Merz, Carl (1964): Der Herr Karl und weiteres Heiteres.<br />

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei Hamburg.<br />

Uhl, Heidemarie (2005): Gedächtnisort der Republik. In: Mainmann, Helene<br />

(Hrsg.): Was Bleibt. Schreiben im Gedankenjahr. Czernin Verlag, Wien. S. 277-<br />

281.<br />

Internet<br />

Artikel „Lauter Protest am stillen SS-Gedenken. Kameradschaft IV unter<br />

schwerem Beschuss“. In der Tageszeitung „Der Standard“: www.derstandard.at,<br />

Zugriff am 23.11.2006, 2018 Uhr („Der Standard“ Printausgabe vom<br />

24.11.2006).<br />

20


RASSISMUS<br />

SALON<br />

Die Wiener Völkerkunde<br />

Vor und nach dem „Anschluß“<br />

Von Julia Gohm, Sarah Kwiatkowski, David Mihola und Gottfried Schürholz<br />

Wer im März diesen Jahres eine österreichische<br />

Zeitung aufgeschlagen hat, ist an<br />

der Berichterstattung über den „Anschluß“<br />

an das Deutsche Reich in den Märztagen<br />

des Jahres 1938 kaum vorbeikommen. Wie<br />

sehr die Deutungshoheit über die damaligen<br />

Geschehnisse gerade im akademischen<br />

Umfeld umkämpft war und ist, zeigt das<br />

wohl umstrittenste Objekt der Universität-<br />

Wien, der so genannte „Siegfriedskopf“.<br />

An lässlich seiner Neuaufstellung im Arkadenhof<br />

der Universität Wien im Jahr 2006,<br />

eingebettet in ein künstlerisches Konzept,<br />

wurde beim Säulengang eine audio-visuelle<br />

Einrichtung installiert. Die Installation verschafft<br />

einen kurzen Überblick über die historische<br />

Genese von Antisemitismus und<br />

antidemokratischem Deutsch-Nationalismus<br />

unter Studentenschaft und Lehrenden.<br />

Die unrühmliche Vorreiterrolle der Universitäten<br />

innerhalb der Gesellschaft spiegelt<br />

sich sowohl in der vergleichsweise frühen<br />

politischen Agitation an den Universitäten,<br />

<strong>als</strong> auch in der auffallend reibungslos ablaufenden<br />

„Gleichschaltung“ an den Universitäten<br />

nach dem „Anschluß“ wider.<br />

Der Austrofaschismus brachte nicht nur politische und gesellschaftliche<br />

Veränderungen mit sich, sondern auch eine Reihe von Umbrüchen<br />

für die Universitäten. Neue Gesetze ermöglichten z. B.<br />

direkte Eingriffe des Staates in die Leitung von Bildungseinrichtungen. Auf<br />

dem Gelände der Universität wurde eine kleine Polizeistation eingerichtet,<br />

was die öffentlichen Ausschreitungen gegen jüdische Studierende zurückdrängte<br />

(vgl. Posch/Ingrisch/Dressel 2008: 94). Der Zeitzeuge und emeritierte<br />

Professor für Romanistik Walter Sokel nennt diese Veränderung „eine Beruhigung<br />

gegenüber Juden nach außen“ (Sokel 2008). Für Sokel entwickelte sich<br />

dieser scheinbare Frieden zu einer „nicht offiziellen, stillschweigenden Ausgrenzung“<br />

jüdischer Studierender, die er sogar <strong>als</strong> „Ghettoisierung“ empfand.<br />

Für jüdische Lehrende und Studierende war die Situation „klar bzw.<br />

hätte klar sein sollen“ (Sokel 2008). Nachdem Mussolini seine schützende<br />

Hand entzog, die er zuvor über Österreich gehalten hatte und sich mit seinen<br />

Verbündeten überwarf, war der Grundstein für Hitlers Einmarsch gelegt.<br />

Das Institut für Völkerkunde war 1927/28 durch die Trennung des anthropologisch-ethnographischen<br />

Instituts hervorgegangen und seither in der<br />

Hofburg (Corps de Logis) <strong>als</strong> Nachbar des Museums für Völkerkunde beheimatet.<br />

Die (zu dieser Zeit ausschließlich männlichen) Mitarbeiter des<br />

Instituts waren dem Austrofaschismus gegenüber positiv eingestellt und<br />

versuchten, diesen mit ihren Mitteln zu unterstützen. Vor allem die beiden<br />

Hauptakteure dieser Zeit, Pater Wilhelm Schmidt und Pater Wilhelm Koppers,<br />

die dem Orden „Societas Verbi Divini“(SVD) angehörten, hielten die<br />

Verbindung zu Italien und dem Vatikan aufrecht. Die von Wilhelm Schmidt<br />

begründete Wiener Kulturkreislehre wurde vom Institut vertreten und<br />

auch weit darüber hinaus wahrgenommen. Als weitere Mitarbeiter am Institut<br />

sind zu nennen: Christoph von Fürer-Haimendorf, der die Stelle des<br />

ersten Assistenten innehatte, und Josef Haekel, der <strong>als</strong> wissenschaftliche<br />

Hilfskraft tätig war. Die Lehrtätigkeit wurde gemeinsam mit den Mitarbeitern<br />

des Museums, Direktor Fritz Röck und dem Kustos Robert Bleichsteiner<br />

sowie dem Institutspersonal um Wilhelm Koppers, Christoph von<br />

Fürer-Haimendorf und Josef Haekel, sowie Wilhelm Schmidt und Robert<br />

von Heine-Geldern wahrgenommen (vgl. Linimayr 1993: 51).<br />

Der „Anschluß“ und seine Folgen<br />

Kurz nach dem Anschluss an das Deutsche Reich am 12. März 1938 wurde<br />

die „Gleichschaltung“ (die Vereinheitlichung der Massen durch Regeln<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 21


Salon RASSISMUS Wr. Völkerkunde und „Anschluß“<br />

der Lehrenden aus dem Lehrkörper ausschieden,<br />

was eine völlig veränderte Situation<br />

an den Universitäten mit sich<br />

brachte (vgl. Posch/Ingrisch/Dressel 2008,<br />

Mühlberger 1989).<br />

Für das Institut für Völkerkunde bewirkte<br />

dieser Wandel, dass Wilhelm Koppers am<br />

22. April 1938 (bereits 43 Tage nach dem<br />

„Anschluß“) in den Ruhestand versetzt<br />

„Man weiß, dass<br />

es kommen wird,<br />

aber man glaubt<br />

es nicht recht.“<br />

(Walter Sokel)<br />

und Gesetze) der Universitäten in Angriff genommen. Um Position sogar dahingehend ausbauen, dass er inoffiziell die<br />

diese Maßnahme möglichst schnell umsetzen zu können, Geschicke des Institutes weitestgehend übernahm, da Viktor<br />

Christian aufgrund seiner vielfachen Leitungstätigkeiten<br />

wurde die Universität bis zum 25. April geschlossen; was in<br />

Deutschland Monate gedauert hatte, sollte in Österreich in kaum Zeit dafür hatte. Noch eine weitere personelle Veränderung<br />

stand am Institut für Völkerkunde an: Nach Wilhelm<br />

wenigen Wochen erledigt werden. In dieser Zeit wurde die<br />

Abstammung der Beamtenschaft sowie der StudentInnen Koppers‘ Suspendierung wurde ein Berufungsverfahren notwendig,<br />

um den frei gewordenen Platz eines Ordinarius wie-<br />

überprüft. Wer keine „rein arische“ Abstammung nachweisen<br />

konnte, verlor die Lehrbefugnis oder wurde in den Ruhestand<br />

versetzt, bzw. verlor die Studienberechtigung. Dies Person besetzt. Nach Konstituierung einer Berufungskomisder<br />

zu besetzen. Diese Stelle wurde mit einer regimegetreuen<br />

hatte zur Folge, dass 42% weniger Studierende<br />

zugelassen wurden und 45%<br />

von verschiedenen Seiten wurde<br />

sion und dem Einholen von Vorschlägen<br />

Anfang<br />

Oktober 1938 ein Dreiervorschlag<br />

bekannt gegeben, bei dem an erster und<br />

gleicher Stelle (wegen wissenschaftlicher<br />

Gleichwertigkeit) Hermann Baumann<br />

und Fritz Krause und an zweiter<br />

Stelle Hermann Trimborn genannt wurden<br />

(vgl. Gohm 2006: 16). Ein Berater der<br />

Berufungskommission nannte in seinem<br />

Brief sehr deutlich die Kriterien für die<br />

Neuberufung: „[...] dass der Kandidat<br />

wurde. Die kommissarische Leitung des Instituts übernahm das Potential für einen Umschwung am Institut mitbringen<br />

Viktor Christian, der gleichzeitig <strong>als</strong> Dekan und Institutsvorstand<br />

der Orientalistik tätig war. Außerdem bekleidete er das und außerdem über Auslandserfahrung verfügt und mög-<br />

und nicht den schon bekannten Theorien anhängen sollte<br />

Amt des Präsidenten der Anthropologischen Gesellschaft lichst Feldforschung getrieben“ (Gohm 2006) haben sollte.<br />

und war Leiter der Wiener Urania. Wilhelm Schmidt erging Nach einer langen Phase der Entscheidungsfindung seitens<br />

es ähnlich wie Koppers: Er wurde inhaftiert und einige Tage der Berufungskommission und nach zähen Verhandlungen<br />

unter Hausarrest gestellt, bevor er mit Unterstützung des mit Baumann, wurde dieser schließlich am 31. Jänner 1940<br />

Vatikans sicher ins Schweizer Exil gebracht werden konnte. offiziell zum ordentlichen Professor ernannt, womit das Ordinariat<br />

wieder ordnungs- und fachgemäß besetzt war (vgl.<br />

Der Ausschluss von Koppers und Schmidt war eine logische<br />

Folge der NS-Herrschaft, da sie <strong>als</strong> Vertreter der Kulturkreislehre<br />

und aufgrund ihrer katholischen Ausrichtung <strong>als</strong> Geg-<br />

Linimayr 1993: 59, Gohm 2006: 19).<br />

ner des Regimes gesehen wurden.<br />

Die Berufung Baumanns <strong>als</strong> Ordinarius brachte die gewünschte<br />

Veränderung für das Wiener Institut: Baumann<br />

Robert von Heine-Geldern befand sich zu dieser Zeit auf wandte sich von der von Schmidt und Koppers getragenen<br />

einer Vortragsreise in den USA. Er konnte aufgrund seiner universalistischen Idee der Kulturkreislehre ab und brachte<br />

jüdischen Abstammung und seiner monarchistischen Gesinnung<br />

nicht nach Österreich zurückkehren (vgl. Gingrich 2005: Der koloniale Gedanke Baumanns war dem NS-Regime will-<br />

einen starken kolonialen Bezug ein (vgl. Linimayr 1993: 185).<br />

264). In New York bekam er eine Stelle am American Museum<br />

of Natural History und engagierte sich im Exil für den ös-<br />

Chance gesehen, ihr Fach in ein besseres Licht zu rücken und<br />

kommen und wurde von den Vertretern der Völkerkunde <strong>als</strong><br />

terreichischen Widerstand gegen das NS-Regime. Erst nach die eigene wissenschaftliche Position zu stärken.<br />

Kriegsende kehrte Heine-Geldern zurück nach Österreich.<br />

Nach außen waren diese Veränderungen nicht sofort sichtbar,<br />

Für die restlichen Mitarbeiter am Institut verliefen die Umstrukturierungen<br />

weniger schwerwiegend. Christoph von sowohl an der Unterstützung durch Walter Hirschberg, der<br />

einzig die Lehrtätigkeit stellte sich vielfältiger dar. Dies lag<br />

Fürer-Haimendorf und Josef Haekel erfüllten die Kriterien sich in der Zwischenzeit habilitierte, <strong>als</strong> auch an dem Gastprofessor<br />

Masao Oka, der ebenfalls die Lehre bereicherte.<br />

für einen weiteren Verbleib an der Universität und konnten<br />

daher ihre Arbeit fortsetzen. Fürer-Haimendorf konnte seine Auffallend ist auch die Rolle von Christoph von Fürer-Hai-<br />

22


Wr. Völkerkunde und „Anschluß“ RASSISMUS SALON<br />

mendorf, der nach Baumanns Amtsantritt im Vorlesungsverzeichnis<br />

nicht mehr in Erscheinung tritt, aber erst relativ spät<br />

(1.Trimester 1941) <strong>als</strong> beurlaubt geführt wird.<br />

Dies ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Lücken und<br />

Ungereimtheiten, die im Zusammenhang mit der NS-Zeit<br />

immer wieder auftreten. Um die wichtigsten dieser Fragen<br />

zu klären, konnte ein vom FWF (Fond zur Förderung der<br />

wissenschaftlichen Forschung) finanziertes Projekt mit dem<br />

Titel „Rochaden – Systemerhalter, Überläufer und Verstoßene. –<br />

Das Institut für Völkerkunde in der NS-Zeit“ gestartet werden.<br />

Bei diesem Projekt sollen – aufbauend auf die bereits vorhandene<br />

Literatur – die ungeklärten Sachverhalte dieser Zeit ans<br />

Licht gebracht werden. Ob dies in allen Detailfragen möglich<br />

ist, kann erst nach intensiver Archivrecherche im In- und<br />

Ausland beurteilt werden.<br />

Ein weiterer Blick wird auch auf die so genannten Überläufer<br />

gerichtet, die sich zwar anfänglich erfolgreich ins NS-Regime<br />

einordneten, sich aber später von diesem abwandten.<br />

Hier sollen vor allem die Gründe für diese veränderte Haltung<br />

betrachtet werden.<br />

Außerdem wird in diesem Projekt auch organisatorischen<br />

und administrativen Ungereimtheiten nachgegangen werden,<br />

sowie der Rolle der StudentInnenschaft und deren Einfluss<br />

auf das Institut.<br />

Das Projekt läuft seit Anfang März 2008 und ist auf drei Jahre<br />

ausgelegt. Die Projektleitung obliegt o. Univ. Prof. Andre<br />

Gingrich, <strong>als</strong> wissenschaftliche MitarbeiterInnen sind Julia<br />

Gohm, Sarah Kwiatkowski, David Mihola und Gottfried<br />

Schürholz beschäftigt. Nähere Informationen zum Projekt<br />

können unter www.univie.ac.at/vk3r/ abgerufen werden.<br />

Julia Gohm ist Absolventin der Kultur- und Sozialanthropologie<br />

mit Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte, Archivforschung und<br />

Ozeanien.<br />

Sarah Kwiatkowski ist Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie<br />

und Biologie, mit Schwerpunkten in Wissenschaftsgeschichte<br />

und -theorie und regionalem Schwerpunkt Ozeanien.<br />

David Mihola ist Diplomand mit Schwerpunkt kognitive Anthropologie,<br />

Wissenschaftsgeschichte und -theorie.<br />

Gottfried Schürholz ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie<br />

mit Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte und -theorie sowie<br />

linguistischer Anthropologie.<br />

Literatur<br />

Siegfriedskopf im Innenhof des Hauptgebäudes der Uni Wien Bild: Hannah Indrak<br />

Die wichtigsten Themen der Aufarbeitung sind einerseits die<br />

Mitarbeiter des Institutes zwischen 1938 und 1945. Dabei soll<br />

ihre wissenschaftliche Tätigkeit, ihre ideologische Einstellung<br />

sowie ihr Wirken nach außen dargestellt werden. Andererseits<br />

soll der Fokus auch auf die Vertriebenen und deren<br />

Entwicklung im Exil gerichtet werden. Speziell geht es um<br />

die Frage, ob es Brüche oder Kontinuitäten in ihrer Arbeit<br />

gab und wie sie mit ihrer Vertreibung umgingen beziehungsweise<br />

diese <strong>als</strong> Chance nutzten.<br />

Gingrich, Andre (2005): Remigranten und Ehemalige. Zäsuren und Kontinuitäten<br />

in der universitären Völkerkunde Wiens nach 1945. In: Grandner, Margarete/Heiss,<br />

Gernot/Rathkolb Oliver (Hrsg.): Zukunft mit Altlasten. Die<br />

Universität Wien 1945-1955. Wien, Studienverlag.<br />

Gohm, Julia (2006): Hermann Baumann Ordinarius für Völkerkunde in Wien<br />

1940-1945. Sein Wirken und seine Lehrsammlung. Wien, Univ. Dipl.<br />

Linimayr, Peter (1993): Das Institut für Völkerkunde der Universität Wien<br />

1938-1945, unter besonderer Berücksichtigung des Museums für Völkerkunde<br />

Wien. Band 1+2. Wien Univ. Dipl.<br />

Mühlberger, (1989): Archiv der Universität Wien – Geschichte der Universität<br />

Wien im Überblick, http://www.univie.ac.at/archiv/rg/19.htm Zugriff:<br />

15.03.2006.<br />

Posch, Herbert/Ingrisch, Doris/Dressel, Gert (2008): „Anschluß“ und Ausschluss<br />

1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien.<br />

Lit-Verlag, Wien.<br />

Sokel, Walter Auszüge aus dem Vortrag: „Das provisorische Dasein: 1936-38.<br />

Universität und Ideologie“ vom 12. März 2008.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

23


Salon<br />

RASSISMUS<br />

Das Schaf im Wolfspelz<br />

Kein Märchen<br />

Von Linda Thornton<br />

Melisa* ist elf Jahre alt und lebt gemeinsam<br />

mit rund 190 Menschen aus Russland, Armenien,<br />

der Ukraine, Bosnien-Herzegowina,<br />

Afghanistan und zehn weiteren Nationen<br />

in einem betreuten Wohnheim für Flüchtlinge<br />

in Wien. Die Solidarität unter den<br />

Menschen aufgrund dieser gemeinsamen<br />

Lebenserfahrung ist leider gering – im Gegenteil<br />

sorgt das Aufeinanderprallen der<br />

vielen Kulturen zu Reibereien. Aufgrund<br />

ihrer dunklen Hautfarbe nimmt Melisa oft<br />

eine vorhersehbare Rolle in den Machtspielchen<br />

ein, die Kinder bereits beherrschen.<br />

Was ist „Rassismus“? Eine allgemeingültige<br />

Definition dafür zu finden ist schwierig. Auf<br />

den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ gebracht,<br />

liegt die Funktion von Rassismus in<br />

der Legitimierung von aggressiven Handlungen<br />

gegenüber den Opfern, um die Vorrangstellung<br />

gegenüber „dem Fremden“ zu<br />

sichern. Dabei werden erfundene oder tatsächliche<br />

Unterschiede, wie Hautfarbe, Herkunft<br />

und Gene, aber auch Sprache, Religion<br />

oder Kultur gewertet, verallgemeinert und<br />

verabsolutiert um <strong>als</strong> Rechtfertigung oder<br />

Motiv für die Hierarchisierung von Menschen<br />

zu dienen (Memmi, 1972: 915 f.).<br />

Diese Erklärung habe ich gemeinsam mit<br />

meiner Gesprächspartnerin Melisa in kindgerechter<br />

Sprache beleuchtet, bevor sie<br />

meine Fragen beantwortete.<br />

Erzähl mir ein bisschen von dir: Wie alt bist du, woher kommst du und<br />

seit wann lebst du in Österreich?<br />

Ich bin elf und komme aus der Ukraine. Seit fünf Jahren bin ich hier. Meine Mutter<br />

und meine kleine Schwester waren noch in der Ukraine, mein Vater hat mich<br />

dann abgeholt, weil die Leute in der Ukraine mögen keine dunklen Menschen.<br />

Ich war eine Zeit lang bei ihm im Sudan, bevor wir uns alle wieder in Wien getroffen<br />

haben. Als wir einmal mit dem Bus gefahren sind, sagte eine russische<br />

Dame: „Steh auf du Neger“, und wir mussten uns einen anderen Platz suchen.<br />

Hast du viele Freunde in der Schule und im Haus, in dem du lebst?<br />

Also im Wohnhaus nicht, aber in der Schule viele.Es ist nur hier (im Haus,<br />

Anm.) so schlimm, weil hier sind so viele Kinder und meine Geschwister und<br />

ich sind die einzigen, die braun sind. Nur diese Afghanistan-Mädchen, die sind<br />

meine Freundinnen, die anderen beschimpfen uns oft, wenn wir sie sehen. Das<br />

nervt mich und ich möchte sie hauen, so fest ich kann. Ich halte das nicht aus.<br />

Aus welchen Ländern kommen die Kinder in deinem Freundeskreis?<br />

Ein paar sind aus Wien, ein paar kommen aus der Türkei und aus Polen.<br />

Deine Mutter kommt aus der Ukraine, dein Vater aus dem Sudan, jetzt<br />

bist du in Österreich: fühlst du dich hier zu Hause oder glaubst du, dass<br />

dein Platz woanders ist?<br />

Ich glaube, woanders.<br />

Wo?<br />

Naja, ich fühl‘ mich hier nicht wohl, weil hier sind so viele Menschen weiß<br />

… ich will zurück, irgendwohin wo es normal ist.<br />

Dorthin zurück wo du schon warst oder ganz woanders hin?<br />

Ganz woanders.<br />

Denkst du manchmal, dass die Österreicher nicht wollen, dass du hier bist?<br />

Nein.<br />

Das ist gut. Aber wer sind die Leute, die dir mit Rassismus begegnen?<br />

Das sind Kinder, Erwachsene, ein paar alte Omas und Opas.<br />

Wie sehen die rassistischen Übergriffe aus? Sind das Beschimpfungen,<br />

körperliche Gewalt, versuchen diese Menschen auch, andere gegen dich<br />

aufzuhetzen?<br />

Ja, es tun sich oft mehrere zusammen und sie wollen mich dann schlagen<br />

und lachen über meine Farbe. Sie sagen auch sehr viele gemeine Dinge.<br />

24


Das Schaf im Wolfspelz RASSISMUS SALON<br />

Wie fühlst du dich dann?<br />

Ich bin traurig, ich hab‘ dann das Gefühl, dass‘ mir nimmer<br />

gut geht und ich will nach Hause.<br />

Wie reagierst du darauf? Wehrst du dich?<br />

Manchmal sag‘ ich was und manchmal sag‘ ich nix. Ich<br />

schimpf‘ zurück und ich hau‘ zurück.<br />

Glaubst du manchmal das, was sie sagen?<br />

(zögert) Ein bisschen schon, ich bin mir manchmal unsicher.<br />

Bei wem oder wie suchst du Trost?<br />

Bei meinen Freundinnen und meiner Lehrerin.<br />

Wir hatten einen Streit, ich weiß nicht mehr, worum es ging, und<br />

da hat sie angefangen mich zu beschimpfen. Sie hat gesagt: „Du<br />

Neger! Du hast gar nichts zu sagen, ich bin weißer <strong>als</strong> du, du bist ein<br />

Neger!“ Und das hat mich traurig gemacht. In der Schule hab‘ ich<br />

drei Wochen nicht mit ihr geredet. Dann hab‘ ich mit der Lehrerin<br />

gesprochen und auch mit ihr und wir haben uns wieder versöhnt<br />

und sind wieder gute Freunde. Seitdem hat sie mich nicht mehr beschimpft,<br />

aber dam<strong>als</strong> war das vor einigen Kindern, die ich kenne.<br />

Du hast zwei Geschwister, die auch zur Schule gehen.<br />

Sprichst du mit ihnen über Rassismus?<br />

Ja, wir erzählen es einander schon, wenn etwas vorgefallen<br />

ist und trösten uns gegenseitig.<br />

Wenn jemand unfair zu dir ist und nicht direkt sagt, dass<br />

es mit deiner Hautfarbe zu tun hat, denkst du dann manchmal,<br />

dass es deswegen ist?<br />

Ja.<br />

Hast du oft Angst, dass dich jemand attackieren wird, wenn<br />

du unter Menschen bist?<br />

Ja. Zum Beispiel am Wochenende hat mein Papa meine Haare gebürstet<br />

und dann hat er g’sagt: „Komm, wir gehen einkaufen, lass<br />

deine Haare offen“, und ich hab nein gesagt und geweint und<br />

dann bin ich in mein Zimmer gegangen. Als er weg war, hab‘ ich<br />

sie gleich wieder zugemacht. Weil ich will das nicht, ich weiß, dass<br />

mich dann alle auslachen und sagen: „Schau ihre Haare an!“<br />

Glaubst du, du wärest beliebter, wenn du weiß wärst?<br />

Nein. Ich glaub‘ aber nicht, dass ich schön bin. Ich will wie die<br />

anderen Wiener sein. Ich will auch blonde Haare haben, ich will<br />

nicht diese Haare haben, ich will glatte. Wie zum Beispiel die<br />

Sarah*, die hat blonde Haare, blaue Augen – ich hab‘ schwarze<br />

und ich hasse schwarz. Und ich mag meine Haare nicht. Sie<br />

kräuseln sich so, wenn ich sie aufmache – bam. Ich hasse das.<br />

Ich hab‘ mir überlegt, wenn ich groß bin schneid‘ ich sie ab.<br />

In der Schule hat man es schwer, wenn man „anders“ ist.<br />

Ganz ehrlich: ärgerst du selbst auch andere die z. B. dick<br />

sind, aus einem anderen Land kommen oder eine andere<br />

Religion haben?<br />

Überhaupt nicht. Ich bin das liebste Mädchen von der Schule!<br />

Hast du schon mal gedacht, dass jemand dein Freund ist, der<br />

dich dann aber auch wegen deiner Hautfarbe geärgert hat?<br />

Ja, schon. Da war ich sehr traurig. Ich hab‘ nicht erwartet, dass ein<br />

Freund oder eine Freundin von mir so etwas macht. In der zweiten<br />

Klasse habe ich eine meiner besten Freundinnen einmal beim<br />

Donaufest gesehen, sie war mit so „Hiphop-Kindern“ zusammen.<br />

Und deine Eltern? Was sagen sie dazu?<br />

Sie sagen, ich soll nicht zuhören und weitergehen.<br />

Wie reagieren andere, wenn sie mitbekommen, dass du attackiert<br />

wirst? Helfen sie dir? Verteidigen sie dich?<br />

Ja, sie helfen mir.<br />

Und deine Lehrer?<br />

Ja, die auch. Oft gehen meine Freunde zu meiner Lehrerin<br />

und sie hilft mir dann. Es ist auch schon vorgekommen, dass<br />

sie deswegen mit einem Kind zum Direktor gegangen ist.<br />

Haben deine Lehrer das Thema Rassismus schon einmal<br />

mit der ganzen Klasse besprochen oder habt ihr schon mal<br />

eine Projektwoche gemacht?<br />

Ja, auch eine Projektwoche. Wir haben über Afrika geredet und<br />

die Lehrerin hat uns erzählt, wie schwer es die Afrikaner in<br />

Wien haben. Wir spenden auch gemeinsam für ein Mädchen.<br />

Aber ich meine eigentlich nicht Afrika, sondern Rassismus<br />

und all diese Gemeinheiten.<br />

Ja, ich kann mich schon erinnern. In zwei Stunden war das.<br />

Über Afrika auch und über Menschen allgemein.<br />

Hast du das Gefühl, dass du dich besonders bemühen<br />

musst, um gemocht zu werden?<br />

Ja.<br />

Wenn dir die Leute die dich ärgern einmal wirklich aufmerksam<br />

zuhören würden, was würdest du ihnen sagen?<br />

(denkt nach) Ich würde sagen: „Ich will wieder nach Hause, weil<br />

das macht mich so traurig. Lass mich jetzt bitte in Ruhe.“<br />

Das sind schon alle meine Fragen. Möchtest du mir noch<br />

etwas von dir aus erzählen?<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 25


Salon<br />

RASSISMUS<br />

Weißt du, wovor ich Angst habe? Wenn ich einmal groß bin<br />

und keine Eltern mehr habe, dann bin ich ganz alleine mit<br />

meiner Schwester und dann kann jemand über mich lachen<br />

und mich vielleicht hauen oder irgendwas machen. Ich bin<br />

froh, dass ich noch klein bin und noch meine Eltern habe.<br />

Wenn du keine Angst haben willst, musst du lernen, dich<br />

selbst zu mögen.<br />

Wie? Wie kann ich mich mögen? Zum Beispiel ein Mädchen<br />

vom Wohnhaus hat gesagt, ich bin hässlich und das stimmt<br />

auch. Meine Haare sind schiach, meine Augen und mein ganzer<br />

Körper. Wenn ich groß bin und so hässlich aussehe, dann<br />

krieg ich keinen Mann. Ich will eigentlich auch keine Kinder<br />

haben. Weil die werden dann so ähnlich (wie ich), mit diesen<br />

Haaren, und werden beschimpft, dann will ich lieber keine.<br />

Wenn ich weiß wie meine Mama wäre, hätte ich schon gern<br />

Kinder, aber mit meiner Hautfarbe will ich keine. Zu mir<br />

haben die Kinder gesagt: „Na Melisa, du brauchst keine Babies<br />

kriegen, weil dein Kind wird sooo schiach, das wird so<br />

schwarz wie du!“<br />

Weißt du, was das Schlimmste ist? Dass die Menschen das<br />

zu dir sagen, ist wirklich sehr böse. Aber wenn du selbst<br />

auch so denkst, ist das noch viel schlimmer. Denn das<br />

heißt, dass du denkst, es sollte Menschen wie dich gar nicht<br />

geben. Und das ist besonders übel.<br />

Wieso?<br />

Wieso soll es nicht solche Leute geben wie dich oder wie mich?<br />

(überlegt)<br />

Nach anfänglicher Skepsis, ob ein so genaues Nachhaken<br />

Melisa betrübt machen würde, bekam ich viel positive Rückmeldung<br />

in Form von selbst gebastelten Geschenken, Briefen<br />

und befreitem Lachen. Das Mädchen war mir zutiefst dankbar<br />

für das eingehende Gespräch. Erwachsenen, die sich mit<br />

Kindern beschäftigen und ihre Verantwortung zur Entgegenwirkung<br />

einer rassistischen Entwicklung erkennen, wird<br />

der Weg dazu womöglich mit Hilfe folgender Ursachentheorien<br />

erleichtert: Psychologisch orientierte Theorien sehen<br />

die Ursachen rassistischen Denkens vor allem in psychisch<br />

begründeten Abgrenzungstendenzen zwischen der eigenen<br />

Gruppe und „Fremdgruppen“, die der Stärkung des Identitäts-<br />

und Selbstwertgefühls dienen. Dabei spielt die Projektion<br />

eigener psychischer Komponenten auf die fremde Gruppe<br />

eine besondere Rolle bei der Bewältigung innerer Konflikte<br />

(Abwehrmechanismus). Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva<br />

meint dazu: „Der Fremde, Figur des Hasses und des anderen,<br />

ist weder das romantische Opfer unserer heimischen<br />

Bequemlichkeit noch der Eindringling, der für alle Übel des<br />

Gemeinwesens die Verantwortung trägt. [...] Auf befremdliche<br />

Weise ist der Fremde in uns selbst“ (Kristeva 1991: 11).<br />

Die Individualität der Menschen zu akzeptieren ist ein erster<br />

Schritt; Nivellierung, Ausgrenzung, Überhöhung oder Erniedrigung<br />

nicht die einzigen Wege der Bewältigung.Soziologisch<br />

orientierte Theorien erfassen Rassismus <strong>als</strong> Ideologie,<br />

die der Aufwertung der eigenen Gruppe und der Stabilisierung<br />

des Selbstgefühls dient und so eine Abwertung und<br />

Ausgrenzung anderer Menschen vornimmt (URL 1).Daher<br />

bleibt nur noch zu sagen: Kinder mit rassistischen Tendenzen<br />

und Betroffene verdienen Empowerment!<br />

Denkst du auch, dass andere Leute die schwarz sind keine<br />

Kinder kriegen sollen?<br />

(schüttelt den Kopf)<br />

Ja, aber wieso denkst du so über dich selbst?<br />

Weil… (seufzt) weil… Die werden schiach sein. Also, schiach<br />

wie ich jetzt bin. Sie werden ausgelacht und das will ich nicht.<br />

(Ich wiederhole noch einmal, dass rassistische Handlungen<br />

auf unfaire Weise zur Stärkung des Ausübenden dienen.<br />

Wenn das Opfer die Rechtfertigungen akzeptiert, wird die<br />

Ungleichheit Realität.)<br />

Ich glaube ich werde das versteh‘n wenn ich groß bin.<br />

Das kannst du jetzt auch schon verstehen. Ich hoffe, dass<br />

du weiterhin tapfer bleibst und so mutig, über dieses Problem<br />

zu sprechen.<br />

* alle Namen redaktionell geändert, Anm.<br />

Die ungekürzte Fassung des Interviews ist zu finden auf<br />

www.diemaske.at<br />

Linda Thornton arbeitet in der Flüchtlingsbetreuung u. a. <strong>als</strong> Lernund<br />

Freizeitbetreuerin mit Kindern. Ansatzgebend für die Gestaltung<br />

des Textes waren Erfahrungen mit Rassismus in der eigenen Kindheit<br />

aufgrund ihrer österreichisch-afroamerikanischen Herkunft.<br />

Literatur<br />

Interview mit Melisa* in Wien am 28.02.2008<br />

Memmi, Albert (1972): Racisme. In: Encyclopædia Universalis. Paris. S. 915.<br />

Kristeva, Julia (1991): Fremde sind wir uns selbst. (Dt. v. Xenia Rajewski.)<br />

Frankfurt a.M., Suhrkamp.<br />

URL 1: http://de.wikipedia.org/wiki/Rassismus Zugriff 30.3.2008<br />

26


Persepolis<br />

REZENSION<br />

„Woher kommen Sie?“<br />

Rezension zum Film Persepolis<br />

Regie: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud. F/USA, 2007.<br />

Rezensiert von Thomas Altenhofer<br />

Persepolis erzählt die autofiktive Geschichte eines jungen<br />

Mädchens namens Marjane Satrapi. Marji, wie<br />

sie von ihren Eltern und Freunden genannt wird,<br />

scheint auf den ersten Blick ein normales Mädchen zu sein.<br />

Sie ist aufmüpfig in der Schule, hört Punkmusik, trägt Nike-<br />

Turnschuhe – und will einmal Prophetin ihres Landes werden.<br />

Dies alles erscheint fast alltäglich, wäre Marji nicht im<br />

Iran zur Zeit Khomeinis aufgewachsen, dem politischen und<br />

spirituellen Führer der Islamischen Revolution.<br />

Anekdotenhaft werden Kindheit und Jugendjahre der heute<br />

in Paris lebenden Zeichnerin und Autorin Marjane Satrapi erzählt.<br />

Im Alter von zehn Jahren erlebt Marji die islamischen<br />

Kulturrevolution im Iran, der Schah wird gestürzt und eine<br />

neue Ordnung etabliert. Westliche Werte und Symbole werden<br />

von offizieller Seite zu Zeichen kapitalistischer Dekadenz<br />

verdammt. Hinter dem schweren Vorhang des Islams<br />

macht sich jedoch, vor allem bei der Jugend, ein Unbehagen<br />

breit, das am Beispiel der Hauptfigur ihren Ausdruck findet.<br />

Sie lehnt sich gegen das herrschende System auf, wirft der<br />

Obrigkeit unangenehme Fragen an den Kopf und zeigt, dass<br />

sich die Jugend im Iran eben auch an globale Pop- und Modecodes<br />

hält und nicht bereit ist sich ständig zu verhüllen und<br />

sich der Diktatur des Patriarchats zu unterwerfen. Doch ihre<br />

rebellische Art wird für Marji zur Gefahr.Sie wird von ihren<br />

Eltern in den kapitalistischen Westen geschickt, genauer gesagt<br />

nach Wien, wo sie sich, so hoffen ihre Eltern, zu einer<br />

unabhängigen, starken Frau entwickeln würde. Weit gefehlt.<br />

Der Wien-Aufenthalt wird für sie zur Probe ihres Selbst. Vom<br />

eigenen Land aufgrund ihrer „liberalen“ Einstellung vertrieben,<br />

findet sie auch in Europa nicht jene kulturelle Offenheit,<br />

die sie sucht: Denn „der Westen“ sieht „den Iran“ <strong>als</strong><br />

das Böse schlechthin. Iranerin zu sein wird somit zur Bürde.<br />

Marji driftet ab in ein Meer von Drogen und Hass gegenüber<br />

sich selbst und der Welt um sie herum.<br />

Der weise Rat ihrer Großmutter rettet sie immer wieder aus dem<br />

Sumpf ihrer Orientierungslosigkeit: „Bleib immer würdevoll und<br />

dir selber treu.“ Zauberwort: Integrität. Mit bissiger Ironie werden<br />

islamische Wertevorstellungen kritisiert und westliche Klischees<br />

aufgearbeitet. Scheinbar nebenbei wird den ZuseherInnen<br />

in kurzen, amüsanten Streiflichtern die 2500 Jahre alte „Geschichte<br />

der Tyrannei und Unterdrückung“ des Irans geschildert.<br />

An den holzschnittartigen Zeichnungen der Comicbuchvorlage<br />

wurde noch einmal das Hohleisen angelegt, um die<br />

Konturen zu verfeinern und zusätzliche Texturen hinzuzufügen.<br />

Das Ergebnis sind schnörkellose, fast ausschließlich<br />

in schwarz-weiß Kontrasten gehaltene Bilder, die erstaunlich<br />

erfrischend wirken, allerdings im Gegensatz zur Comicbuchvorlage<br />

etwas an Charme verloren haben.<br />

Mit Hilfe des bewegten Bildes gelingt es Marjane Satrapi und<br />

ihrem Kollegen Vincent Paronnaud diesen vielfach preisgekrönten<br />

Comic einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu<br />

machen. Ein Bekanntheitsschub, der für die vermittelte Botschaft<br />

in keinem Fall von Nachteil ist. Satrapis gesetztes Ziel,<br />

die „traditionsreiche Zivilisation“ des Irans, abseits von tradierten<br />

Vorstellungen und damit verbundenen -Ismen, wie<br />

Fundamentalismus, Fanatismus und Terrorismus, darzustellen,<br />

scheint von Erfolg gekrönt zu sein. Marjane Satrapi zeigt<br />

uns vor allem eines: das Leben einer jungen Frau im Iran.<br />

Persepolis ist eine ansprechende Erzählung über eine Iranerin,<br />

die sich in ihrem Land nicht zu Recht finden kann, aber dennoch<br />

zu ihrer Herkunft steht, obwohl ihr Gewissen und ihre Zugehörigkeitsgefühle<br />

immer wieder auf die Probe gestellt werden.<br />

Szenenbild Persepolis<br />

Bild: Polyfilm<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 27


K O L U M N E<br />

„Game Over!“ für die Parteiendemokratie<br />

Was funktioniert nicht mehr in der österr. Politik?<br />

Von Werner Zips<br />

„Game Over!“ Mit diesen Worten reagieren<br />

führende VertreterInnen der veröffentlichten<br />

Meinung im Februar 2008 auf das allumfassende<br />

Patt der beiden inhaltlich eben nicht<br />

koalitionären Parteien. Genüsslich sezieren<br />

Zeitungskommentare die fast schon Kabarett<br />

reife symbolische Interaktion der Regierungsspitzen.<br />

Fast könnte man glauben,<br />

Stermann und Grissemann haben sich maskiert<br />

und spielen Kanzler und Vize kanzler.<br />

Dahinter steht aber mehr <strong>als</strong> die persönlichen<br />

Antipathien zwischen selbst ernannten<br />

„Bürgerlichen“ und den von ihnen so<br />

genannten (proletarischen?) „Sozialisten“.<br />

„Little Austria“ <strong>als</strong> anachronistische Spielwiese<br />

eines Pseudo-Klassenkampfes. Die<br />

„feinen Unterscheide“ lassen grüßen.<br />

Vom Standpunkt der Theaterwissenschaft bietet sich ein vielleicht<br />

lohnendes, neues Betätigungsfeld einer hyper-reality Inszenierung<br />

des politischen Alltags. Aus kommunikationstheoretischer Sicht verbirgt<br />

sich dahinter jedoch eine Fortsetzungsgeschichte: die Krise des österreichischen<br />

Parlamentarismus. Ihre tieferen Ursachen liegen in der Missachtung<br />

der diskursiven Grundlagen von Demokratie. „Unsere“ Regierung setzt, wie<br />

von ihren Vorgängerinnen gewohnt, auf kommunikative Unvernunft, billige<br />

Show-Effekte, wechselseitige Polemiken und andere Versatzstücke aus dem<br />

beschränkten Repertoire von Sandkastenspielen. In eingeübter Wendung<br />

spielen sich die Partei-Granden von SPÖ und ÖVP den schwarzen Peter für<br />

die Ohnmacht der notwendigen politischen Gestaltung nach erfolgter Meinungs-<br />

und Willensbildung zu. Redundante Sprachspiele üben sich in der<br />

Umkehr von Opfern und Tätern. Die an (guten) Gründen zu orientierende<br />

Meinungs- und Willensbildung im Vorfeld der Entscheidungsfindung wird<br />

auf den vernünftigen Gehalt eines Pingpong-Spiels reduziert.<br />

Ein Fall für Gruppentherapie und systemische Aufstellung? Vermutlich nicht.<br />

Denn ohne ernste Besserungsabsicht geht damit gar nichts. Daher bleibt nur<br />

die zumindest langatmige Perspektive der demokratietheoretischen Kritik,<br />

wie sie etwa von Jürgen Habermas (1992) wortreich bereitgestellt wurde. Auf<br />

deren wichtigste Elemente stütze ich mich in der folgenden Kurzbetrachtung.<br />

Sie setzt nicht beim konstatierten „game over“ der derzeitigen parteiischen<br />

AkteurInnen an, sondern bei der längerfristigen Verkürzung des Repräsentationsauftrages<br />

jeder Demokratie. Denn die Blockade gemeinsamer Arbeitsvorhaben<br />

– wie in der jüngsten großkoalitionären Variante – stellt nicht den<br />

eigentlichen Sündenfall dar, sondern nur eine Neuauflage der permanenten<br />

„Verweigerung von Demokratie“. Und vielleicht nicht einmal eine besonders<br />

auffällige Version. Wer erinnert sich nicht gerne an die Selbstinszenierungs-Attacken<br />

eines blau belichteten Verkehrsministers? Willensbildung für<br />

Tempo 160? Aber wo! Wer langsamer weiterkommen will, hat ja eh die Bundesbahn.<br />

Doch auch weniger ausgefallene Eingebungen folgen einer eigentümlichen<br />

Logik parteiischer Interessen und seien diese auch nur eingebildet.<br />

Auf diese Weise untergräbt die praktizierte Form der Demokratie des nackten<br />

Parteieninteresses unablässig ihre eigene Basis. Ihr gilt es entgegen zu halten,<br />

dass demokratisches Handeln der durch kommunikative Vernunft begründeten<br />

Legitimität bedarf.<br />

Bei früheren Koalitionen litt die demokratische Rechtmäßigkeit an der bloßen<br />

Einhaltung des gesetzlich geregelten Abstimmungsmodus <strong>als</strong> sinnent-<br />

28


„Game Over” für die Parteiendemokratie<br />

KOLuMNE<br />

leerter Verfahrensaspekt. Dieser genügt(e) für das formale<br />

Zustandekommen von Entscheidungen, aber nicht für deren<br />

demokratische Legitimation. Dazu benötigt es die Einlösung<br />

von diskursiven Mindestanforderungen. Darunter sind Argumentationsprozesse<br />

zu vorgebrachten Geltungsansprüchen<br />

zu verstehen. Ihr Inhalt sind Vorschläge zur politischen<br />

Gestaltung, die gegeneinander kommunikativ zu gewichten<br />

wären. Von derartigen Prozeduren der öffentlichen Kommunikation<br />

scheint Österreich seit geraumer Zeit weiter entfernt<br />

<strong>als</strong> die deutschsprachigen Nachbarländer. Wenn normative<br />

Prozesse nach Kriterien der parteilichen Willkür ablaufen,<br />

darf man sich auch nicht wundern, dass sich Teile der Exekutive<br />

daran orientieren. Stichwort: Polizeiskandale, Amtsmissbrauch,<br />

Verwendung des Verwaltungsapparates für<br />

den Rosenkrieg der Parteien. Nicht nur Karikaturisten stellen<br />

da einen Zusammenhang mit „Bananenrepubliken“<br />

her. (Wobei hier der ethnologische Einwand angebracht ist,<br />

dass Bananenrepubliken immer schon europäische Schöpfungen<br />

waren.) Jedenfalls fügt sich die gegenwärtige Praxis<br />

von governance in das skurrile Gesamtbild eines kränkelnden<br />

(ailing) Staates ein.<br />

Es liegt <strong>als</strong>o nicht nur an den offensichtlichen Animositäten<br />

zwischen einzelnen politischen Mandataren, die in den meisten<br />

Medien so viel Raum einnehmen. Das eigentliche Problem<br />

ist eben grundlegender <strong>als</strong> ein bloßes Versagen der<br />

gerade im Amt befindlichen politischen RepräsentantInnen.<br />

Auch die Einsicht in die negative Auslese, dass nur PolitikerIn<br />

wird, wer sich für andere Aufgaben nicht eignet, greift zu<br />

kurz. Es geht vielmehr um die Verwirklichung einer Form<br />

von Demokratie, die im (nicht zufällig) ersten Artikel der<br />

Verfassung normiert wird: „Österreich ist eine demokratische<br />

Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Um dieser<br />

Bestimmung im Rahmen der seit dem EU-Beitritt deutlich<br />

reduzierten Gestaltungsspielräume der nationalen Gesetzeskompetenz<br />

Genüge zu tun, bedarf es der öffentlichen Willensbildung<br />

für politisches Handeln. Nur im öffentlichen<br />

Diskurs lassen sich die (verbliebenen) Selbstbestimmungsrechte<br />

„des Volkes“ – seine Souveränität – einlösen. Im erweiterten<br />

Sinn gilt diese Idee jedoch auch für supranationale<br />

Normen im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts,<br />

sofern deren Erlassung unter einem demokratischen Anspruch<br />

steht. Demokratie in diesem Sinn erfordert daher<br />

zwingend die Institutionalisierung und praktische Durchführung<br />

kommunikativ rationaler (diskursiver) Verfahren.<br />

Die vom „Volk“ gewählten RepräsentantInnen müssen sich<br />

auf diese Prozeduren der diskursiven Willensbildung einlassen,<br />

wollen sie verfassungskonform bleiben. In der zunehmenden<br />

Entkoppelung von Gesetzgebung und öffentlicher<br />

Willensbildung offenbart sich ein inhaltlicher Bruch mit der<br />

Verfassung. Denn der demokratische Entscheidungsmodus<br />

ist durch Verfassungsnormen dazu verpflichtet, durch einen<br />

rationalen, herrschaftsfreien Diskurs einen Ausgleich unterschiedlicher<br />

sozialer Interessen zu schaffen. Damit ist im<br />

Sinne der Habermas’schen Diskurstheorie eine Prozedur der<br />

vernünftigen (kommunikativ rationalen) Abwägung der jeweils<br />

von einer zu regelnden Materie berührten Interessen<br />

verbunden.<br />

Diese Prozedur inkludiert volle Information über anzustrebende<br />

Ziele der governance, rationale Begründungsverfahren<br />

für die ins Auge gefassten Handlungsoptionen, öffentliche<br />

Argumentationsprozesse und weitergehende demokratische<br />

Partizipationsmöglichkeiten. Das betrifft sowohl die unmittelbare<br />

parlamentarische Gesetzgebung <strong>als</strong> auch die vorbereitenden<br />

Aktivitäten der Ausschüsse und die demokratisch<br />

ebenfalls zwingenden Kontrollrechte. Letztere müssten, beispielsweise<br />

in Form von Untersuchungsausschüssen, auch<br />

gegen Regierungsmehrheiten durchsetzbar sein, um die<br />

Herrschaft des „Volkes“ über sich selbst sicherzustellen. Diese<br />

diskursiven Bedingungen sind in den Entscheidungsmodus<br />

der repräsentativen Demokratie eingelassen. Danach wirkt<br />

die Gesellschaft über demokratisch legitimierte Herrschaft<br />

auf sich selbst und ihre Entwicklung ein. Systemkritische Soziologen<br />

wie Jürgen Habermas warnen seit langem vor der<br />

Abspaltung der staatlichen Verwaltung (des „Systems“) von<br />

Gesellschaft (der so genannten „Lebenswelt“). Denn Staatsapparat<br />

und Gesellschaft sind in einem Kreislauf der politischen<br />

Macht aufeinander verwiesen. In einer Demokratie<br />

legitimiert sich die Gestaltungsmacht aus der öffentlichen<br />

Willensbildung. Via Gesetzgebung und Verwaltung sollte<br />

diese politische Macht durch den Staatsapparat hindurchfließen<br />

und zu ihrem janusköpfigen Publikum zurückkehren.<br />

Am Eingang des Staates stellt sich dieses <strong>als</strong> Publikum von<br />

StaatsbürgerInnen dar und an dessen Ausgang <strong>als</strong> eines von<br />

KlientInnen (vgl. z.B. Habermas 1985: 152ff.).<br />

Aber selbst bei schwerwiegenden und auffälligen rechtsstaatlichen<br />

Defiziten herrschen die parteipolitischen Reflexe<br />

über die zu vertretenden Anliegen der Gesamtbevölkerung.<br />

Eingeübte Floskeln der politischen Verantwortungslosigkeit<br />

bemühten schon in der Vergangenheit verkürzte funktionalistische<br />

Alibis für Untätigkeit. Denn sie verweisen auf Sachzwänge<br />

des politischen und wirtschaftlichen Handelns, die<br />

den Zielen von Standortstabilität, Wirtschaftswachstum, EU-<br />

Tauglichkeit oder internationale Wettbewerbsfähigkeit unbe-<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 29


KOLUMNE<br />

„Game Over” für die Parteiendemokratie<br />

dingten Gehorsam schuldeten. Gegenwärtig begnügen sich<br />

die Regierungsparteien mit den Befindlichkeiten wechselseitig<br />

erwiderter Animositäten. Sogar die zweifelhaften oder<br />

gänzlich fehlenden Lösungsvorschläge zu den Strukturproblemen<br />

im Gesundheitswesen, in der Bildungspolitik, bei<br />

der Altersvorsorge und der Umweltpolitik müssen ohne die<br />

legitimierende Kraft von rationalen Erwägungen und ihrer<br />

argumentativen Gewichtung auskommen. Problematische<br />

Entwicklungen im vorgeblichen Dienste der allgemeinen Sicherheit,<br />

die längst die Dimension der Orwell‘schen Vision<br />

sprengen (Stichwort: „Großer Lausch- und Observierungsangriff“),<br />

gehören ebenso zu den gravierenden Defiziten wie<br />

die internationale Menschenrechte gefährdende Asylpolitik<br />

oder die standhafte Verweigerung von partei-unabhängiger<br />

Kontrolle im Bereich von Administration und Exekutive.<br />

Beinahe hilflos beobachtet eine zunehmend politikmüde Öffentlichkeit<br />

die fortschreitende Verringerung der Legitimationskosten<br />

des politischen Systems. Damit steht es selbst<br />

um die geringen noch im nation<strong>als</strong>taatlichen Kontext „verwaltbaren“<br />

Schutzanteile der gesellschaftlichen Solidarität<br />

schlecht. Als gefährdete Ressource sind sie in den rechtlichen<br />

Strukturen aufbewahrt und können nur durch den Rückgriff<br />

auf die „radikalen“ Gehalte der Demokratie eingelöst<br />

werden. Diese Radikalität bewegt sich nicht nur innerhalb<br />

der Verfassung, sondern möchte vielmehr deren Erhaltung<br />

schützen. Unter „radikalen“ – an die Wurzel (lateinisch:<br />

radix) heran reichenden – Gehalten ist ein möglichst breiter,<br />

herrschaftsfreier und öffentlicher Diskurs zu verstehen.<br />

im Hinblick auf institutionelle Entscheidungszwänge abgebrochen<br />

worden ist – und im Prinzip wieder aufgenommen<br />

werden kann“ (Habermas 1992: 220).<br />

Ein Mindestmaß von Information, Diskurs und Kontrolle<br />

ist in diesem Sinne eine notwendige verfassungsmäßige Voraussetzung<br />

des demokratischen Rechtstaates. Ihre mehr <strong>als</strong><br />

mangelhafte Beachtung in der gegenwärtigen Parteipolitik<br />

stellt meines Erachtens aber auch den Hauptgrund für deren<br />

durchaus beunruhigende Dysfunktion dar. Jenseits aller demokratischen<br />

Apokalypse-Ahnungen. Denn die Frustration<br />

breiter Wählerschichten zeigt sich im statistisch nachweisbaren<br />

Anstieg der Nichtwähler. Dahinter steht zumindest<br />

anteilig auch eine prinzipielle Ablehnung der derzeitigen,<br />

politischen Praxis. Bevor diese in eine Abwendung vom demokratischen<br />

Prozess überhaupt umschlägt, gilt es die eigentlichen<br />

Ursachen der governance in crisis zu hinterfragen.<br />

Ein entsprechender Befund würde mit einer durch Neuwahlen<br />

zu lösenden Blockade der beiden Regierungsparteien<br />

zu kurzsichtig ausfallen. Bloße Neuwahlen werden an den<br />

eklatanten demokratiepolitischen Defiziten solange nichts<br />

ändern (können) <strong>als</strong> sie einfach ein neues Spiel zwischen den<br />

alten Parteien eröffnen – und damit sind nicht bloß die beiden<br />

größten gemeint. Demokratie <strong>als</strong> zweifellos komplexeste<br />

Regierungsform steht unter höheren Ansprüchen. Diese sind<br />

nicht auf dem hehren moralischen Niveau des „gerechten<br />

und guten“ Sozialvertrages anzusiedeln, sondern auf der<br />

pragmatischen Ebene der diskursiven Partizipation. Darauf<br />

beschränkt sich eine durchaus bescheidene Diskursethik.<br />

Für die politische Willensbildung <strong>als</strong> Grundlage gesetzlicher<br />

und administrativer Regelungen bedeutet das, auf jene Prozedur<br />

angewiesen zu sein, die zumindest die Vermutung der<br />

(kommunikativen) Vernunft für sich hat. Nur solche Regelungen<br />

können daher die demokratische Legitimität sozialer<br />

Gerechtigkeit beanspruchen, die einem rationalen öffentlichen<br />

Diskurs standgehalten haben. Die Mehrheitsregel der<br />

repräsentativen Demokratie ist der Königsweg der demokratischen<br />

Willensbildung, sofern ihre Funktions- und Geltungsbedingungen<br />

beachtet werden, wie Habermas (1985:<br />

116) überzeugend dargelegt hat: Denn ihre Legitimationswirksamkeit<br />

kann nur dann erhalten bleiben, wenn man<br />

sie unter Bedingungen anwendet, unter denen sie die Vermutung<br />

für sich haben darf, Willensbildungsprozesse so zu<br />

regeln, dass unter Zeitdruck und bei unvollständigen Informationen<br />

vernünftige Entscheidungen zustande kommen.<br />

Deren Inhalt kann „[...] <strong>als</strong> das rational motivierte, aber fehlbare<br />

Ergebnis einer Argumentation betrachtet werden, die<br />

Werner Zips, geboren 1958 in Wien, ist außerordentlicher Professor<br />

am Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie<br />

der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Rechtsanthropologie,<br />

Historische Anthropologie, Afrika, Afrikanische Diaspora, Visuelle<br />

Anthropologie.<br />

Literatur:<br />

Jürgen Habermas (1985): Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main,<br />

Suhrkamp.<br />

Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie<br />

des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt am Main, Suhrkamp.<br />

30


Queer Studies<br />

Fachgebiet<br />

Quer durch Queer<br />

Queer Studies|Queer Theory|Judith Butlers Performanz<br />

Von Anna Babka<br />

Der Begriff Queer bedeutet im englischen<br />

Sprachraum ursprünglich „eigenartig,<br />

schräg“ und wurde in den USA lange <strong>als</strong><br />

Schimpfwort für Homosexuelle oder für<br />

von heterosexuellen Normen abweichen<br />

de Menschen benutzt, im Laufe der Zeit<br />

jedoch resignifiziert. Die Resignifikation<br />

von queer bedeutet, dass das Wort von<br />

Lesben, Schwulen, Bisexuellen, von Intersexen<br />

sowie transgender und transsexuel -<br />

len Personen oder auch von heterosexuel len,<br />

Polyamorie oder S/M praktizierenden Menschen<br />

angeeignet, neubewertet und po sitiv<br />

besetzt wurde. Ein Prozess, der gleichwohl<br />

<strong>als</strong> notwendig, aber auch <strong>als</strong> unvollständig<br />

und brüchig zu bewerten ist, da die<br />

Geschichte der negativen Wedungen des<br />

Begriffs nicht vollständig ausgelöscht werden<br />

kann (vgl. Kroll 2002: 328). Wenn von<br />

queer die Rede ist, geht es jedoch nicht ausschließlich<br />

um Sexual praktiken, die von<br />

der Heteronormativität abweichen oder um<br />

Identitätsentwürfe, die jenseits der binär kodierten<br />

Geschlechterordnung angesiedelt<br />

sind.<br />

Queer hat sich während der letzten zwanzig Jahre zu einem semantisch<br />

vielschichtigen, notwendig unbestimmten und offenen<br />

Konzept entwickelt (vgl. Butler 1997: 301). Neben den angeführten<br />

Bedeutungen bezeichnet es politischen Aktivismus, wie ACT UP!,<br />

Queer Nation, Transgender Nation (vgl. Hark 2005: 292), ebenso wie eher unpolitische<br />

und konsumorientierte Partyaktivitäten, aber auch Zeitschriften<br />

und Verlagsprojekte (vgl. Jagose 2001: 7). Seine theoretische Ausformung<br />

findet der Begriff innerhalb der Queer Studies und der Queer Theory, die<br />

aus den Gay- und Lesbian Studies entstanden sind. Die wichtigsten theoretischen<br />

Impulse erhielten die Queer Studies aus dekonstruktiv orientierten<br />

Denkansätzen.<br />

Queer Theory<br />

Gegenstand der Queer Theory ist die Analyse und Subversion heteronormativer<br />

gesellschaftlicher Diskurse. Theoretikerinnen wie Monique<br />

Wittig, Theresa de Lauretis, Gayle Rubin, Eve Kosofsky Sedgwick und<br />

Judith Butler entwerfen im Widerstand gegen normative Identitätsmodelle<br />

prozessual-unabgeschlossene, performative Entwürfe von Identität. Sie versuchen<br />

<strong>als</strong>o Identität – nicht zuletzt im Hinblick auf die Verschränkung von<br />

weiteren Identitätsachsen wie „Ethnie“, „Klasse“, „Alter“ usf., – queer zu<br />

denken und in diesem Sinne identitätspolitisch zu handeln. Außerdem hinterfragen<br />

sie die Integrität des Körpers und stellen neue Denkmodelle zur<br />

Disposition, die die Fragmentierung und Dezentrierung des Körpers reflektieren<br />

– ein Zug, der Differenzen zwischen queeren und schwul- lesbischen<br />

Identitätskonzepten aufmacht, sofern letztere binär kodierte Identitätsmuster<br />

stabilisieren und nicht unterlaufen.<br />

Folgt man Heike Raab, wäre Queer Theory die Fortsetzung von Foucaults<br />

Programm einer Geschichte der Sexualität: „Denn für die Queer Theory ist<br />

der Kampf um Sexualität und ihre Regulierung unabdingbar verbunden<br />

mit der Entstehung und Etablierung sozialer Institutionen und staatlicher<br />

Politiken sowie mit der Genese und der Reproduktion der Geschlechterdifferenz<br />

und des Körpers“ (Raab 2005: 241). Annemarie Jagose bestimmt<br />

<strong>als</strong> zentrales Ziel der Queer Theory „Sexualität ihrer vermeintlichen Natürlichkeit<br />

zu berauben und <strong>als</strong> hegemoniales kulturelles Produkt sichtbar zu<br />

machen“ (Jagose 2001: 11). Im Rückbezug auf Judith Butler wird argumentiert,<br />

dass kulturelle Normen der Geschlechtlichkeit durch regulative Verfahren<br />

im Nexus von Macht und Diskurs entstehen. Nach Michel Foucault<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 31


Fachgebiet Queer Studies Quer durch Queer<br />

werden diskursive Konstruktionen, wie die Homosexualität,<br />

von Zuschreibungen, die auf eine Wesenhaftigkeit homosexueller<br />

Menschen abzielen, befreit und in ihrer historischen<br />

Entwicklung rekonstruiert (vgl. Kroll 2002: 138).<br />

Kernelemente der Queer Theory sind: 1. Theoretisierung der<br />

(Hetero-)Sexualität, 2. Infragestellung der Zweigeschlechtlichkeit<br />

<strong>als</strong> Naturtatsache, 3. Kritik der identitätslogischen<br />

Grundlagen emanzipatorischer Bewegungen im Allgemeinen<br />

und feministischer Theorie und Praxis im Besonderen<br />

(Raab 2005: 243, 247). Nach Raab besteht Judith Butlers zentrale<br />

Leistung darin, sex und gender <strong>als</strong> Kategorien kenntlich<br />

gemacht zu haben, die immer schon in ein (zwangs-)<br />

heterosexuelles und heteronormatives Bedeutungssystem<br />

eingeschrieben sind. Damit stellt sich für die feministische<br />

Genderforschung und Queerforschung nicht nur die Frage<br />

nach den „ausgeblendeten heterosexuellen Grundannahmen<br />

innerhalb der Kategorie Geschlecht“, sondern auch nach dem<br />

Verhältnis von Sexualität und Geschlecht <strong>als</strong> zwei miteinander<br />

verwobenen, aber getrennten Faktoren im Feld sozialer<br />

Regulierung“ (Raab 2005: 244 f.).<br />

Diese Verschränkung arbeitet Butler in ihrem performativen<br />

Gender-Konzept heraus. Indem sie gender und Sexualität<br />

(sowie den Körper) <strong>als</strong> soziokulturelle Konstruktionen begreift,<br />

die in einer reiterativen und/oder ritualisierten Praxis<br />

immer wieder von Neuem hervorgebracht werden müssen.<br />

Diese Konstruktionen ermöglichen das (geschlechtliche)<br />

Subjekt und bedingen es zugleich (Butler 1997: 138 ff.). Hieraus<br />

entwirft sie eine Vorstellung von Geschlecht, die die<br />

Kategorien des Körpers, des Geschlechts (sex/gender) und<br />

der Sexualität intrinsisch miteinander und innerhalb einer<br />

diskursiven Theorie der Macht situiert.<br />

Die Performativität der Geschlechtsidentität<br />

Bereits in Das Unbehagen der Geschlechter entwickelt Judith<br />

Butler für ihre Argumentation den Begriff des Performativen.<br />

Sie legt dar, dass sich Geschlechtsidentität <strong>als</strong> performativ<br />

erweist, „d.h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich<br />

ist“ (Butler 1991: 49). Dies bedeutet, dass es keine<br />

wahre, natürliche, richtige, eindeutige Geschlechtsidentität<br />

„hinter“ den Äußerungen und Ausdrucksformen von Geschlecht<br />

gibt, sondern dass diese Identität durch eben diese<br />

Äußerungen performativ hervorgebracht wird. Die scheinbare<br />

„Ursache“ der Geschlechtsidentität, das biologische<br />

Geschlecht und der Körper <strong>als</strong> Oberfläche kultureller Einschreibungen,<br />

sind performative Effekte einer diskursiven<br />

Praxis. Butler betrachtet damit sexualisierte und geschlechtliche<br />

Identitäten im Rückbezug auf sprachliche Prozesse <strong>als</strong><br />

konstruiert bzw. <strong>als</strong> durch performative Akte konstituiert.<br />

Butlers gesamte performative Theorie zielt darauf ab, dass<br />

zukünftige feministische Politik sich an der Einsicht in die<br />

Konstruiertheit und Veränderlichkeit von Identitäten orientieren<br />

muss. Auch hinsichtlich dieser Grundannahmen gilt:<br />

„[E]ine Voraussetzung [wie die stabiler Identitäten, Anm. A.B.]<br />

in Frage zu stellen ist nicht dasselbe, wie sie einfach abzuschaffen“<br />

(vgl. Butler 1993: 52.).<br />

Als Beispiel für die konstruktive und performative Macht der<br />

Diskurse nennt sie die Zuschreibungen, durch die ein Neugeborenes<br />

von einem geschlechtsneutralen „es“ zu einem<br />

vergeschlechtlichten Subjekt gemacht wird. Dabei handelt es<br />

sich keineswegs um einen einmaligen Akt der Benennung,<br />

sondern um sich immer wiederholende soziale (Rufname, geschlechtsspezifische<br />

Kleidung), pädagogische (Spielzeug, Bestrafung),<br />

medizinische (Geschlechtszuschreibung durch den<br />

Arzt, geschlechterspezifische Pathologisierungen), juridische<br />

(geschlechtsspezifische Formulare, Urkunden) Diskurse und<br />

Praktiken, die nie abgeschlossen sind. Die geschlechtliche<br />

Identität, die einem Neugeborenen oder bereits einem Fötus<br />

während der Ultraschalluntersuchung durch die Hebamme<br />

oder den Arzt oder die Ärztin verliehen wird, ist nichts unmittelbar<br />

Gegebenes (auch wenn dies in der Regel so erscheint),<br />

sondern eine soziale Entscheidung, in die bereits (insbesondere<br />

bei „Zweifelsfällen“ wie intersexuellen Menschen) eine<br />

ganze Reihe biologischer, bio-genetischer und medizinischer<br />

Kriterien einfließen, die selbst wiederum das Ergebnis wissenschaftlicher,<br />

politischer und ethischer Diskurse sind.<br />

Die Zuschreibung des biologischen Geschlechts unterliegt<br />

jedenfalls permanenten sozialen, biologischen und medizinischen<br />

Aushandlungsprozessen. Um die Zweigeschlechtlichkeit<br />

<strong>als</strong> naturgegeben erscheinen zu lassen, muss, so<br />

Butler, die Anrufung (interpellation) ins natürliche Geschlecht<br />

ständig wiederholt werden und die „Natur“ der Zweigeschlechtlichkeit<br />

immer wieder aufs Neue naturalisiert werden.<br />

Performativität kann demnach nicht <strong>als</strong> ein einzelner<br />

Akt aufgefasst werden, sondern <strong>als</strong> eine sich wiederholende<br />

und zitathafte Praxis innerhalb eines regulativen Systems,<br />

die die Identitäten, die sie bezeichnet, reproduziert und zugleich<br />

das Risiko ihrer Fehlbenennung in sich trägt.<br />

Dies bedeutet, dass aufgrund dieses Risikos Veränderungen<br />

innerhalb dieser Prozesse der Identitätskonstruktion<br />

immer auch möglich sind. Butler betont zudem die „zeit-<br />

32


Quer durch Queer Queer Studies Fachgebiet<br />

liche Bedingtheit“ und den zitathaften Charakter performativer<br />

Äußerungen und Anrufungen (Interpellationen). Nur<br />

indem eine performative Äußerung <strong>als</strong> Glied in einer zitathaften<br />

Kette vergangene Sprechakte anruft, zitiert und mobilisiert<br />

sowie auf zukünftige Sprechakte verweist, erhält sie<br />

performative Macht. Konstruktion <strong>als</strong> Performativität sollte jedoch<br />

nicht mit performance <strong>als</strong> Aufführung oder Inszenierung<br />

gleichgesetzt werden, obwohl auch dieser Aspekt Teil des<br />

per for mativen Effekts ist. Der Akt der Wiederholung ist<br />

„nicht in erster Linie theatralisch […]“ (Butler 1995: 35), weil<br />

das Theatralische ein Subjekt nahe legen würde, das intentional<br />

handelt. Performativität von Geschlecht bedeutet demnach<br />

nicht, dass man sich täglich ein Geschlecht seiner Wahl<br />

aussucht um dann, vor dem Kleiderschrank stehend, sich<br />

dementsprechend für einen Tag zu kleiden und diese Kleidung/dieses<br />

Geschlecht am Abend wieder abzulegen. Dennoch<br />

ist dieser Aspekt des Theatralischen, der mit weiteren<br />

Inszenierun gen der Geschlechtsidentität zusammen gedacht<br />

werden kann, wie etwa mit Travestie, drag, Parodie, sexuellen<br />

Stilisierungen (butch/femmes) bei Judith Butler bedeutsam.<br />

Zugleich ist dieser Blickwinkel ein kritisches Moment in ihrer<br />

Theorie der Performativität von Geschlecht, da er, wie Butler<br />

schreibt, „<strong>als</strong> unkritische Aneignung einer stereotypen Geschlechterrolle<br />

verstanden [wird]“ (Butler 1991: 202). Butlers<br />

Reflexion auf diese Kritik lautet wie folgt:<br />

Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit<br />

die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität <strong>als</strong> solcher – wie<br />

auch ihre Kontingenz. Tatsächlich besteht ein Teil des Vergnügens, das<br />

Schwindel-Gefühl der Performanz, darin, dass man entgegen den kulturellen<br />

Konfigurationen ursächlicher Einheiten, die regelmäßig <strong>als</strong><br />

natürliche und notwendige Faktoren vorausgesetzt werden, die grundlegende<br />

Kontingenz in der Beziehung zwischen Geschlecht (sex) und<br />

Geschlechtsidentität (gender) anerkennt. Statt des Gesetzes der heterosexuellen<br />

Kohärenz sehen wir, wie das Geschlecht und die Geschlechtsidentität<br />

ent-naturalisiert werden, und zwar mittels einer Performanz,<br />

die die Unterschiedenheit dieser Kategorien eingesteht und die kulturellen<br />

Mechanismen ihrer fabrizierten/erfundenen Einheit auf die<br />

Bühne stellt. (Butler 1991: 202f.)<br />

Butler geht es hier um die Parodie des vermeintlichen Origin<strong>als</strong>,<br />

das immer schon erfunden, konstruiert ist. Die Geschlechterparodie<br />

macht kenntlich, dass die imitierte Identität<br />

„selbst nur Imitation ohne Original ist“. Oder, wie sie präzisiert,<br />

„sie ist eine Produktion, die effektiv – d.h. in ihrem<br />

Effekt – <strong>als</strong> Imitation auftritt“ (Butler 1991: 203). Die Verschiebung<br />

und Vervielfältigung von Identität erzeugt nun auch<br />

„ein Gefühl der Offenheit für deren Re-Signifikation und<br />

Re-Kontextualisierung“ (Butler 1991: 202). Hier treffen zwei<br />

Formen der Verschiebung und der Öffnung zusammen, jene<br />

der Effekte der subversiven Performances und jene der Unterbrechungen<br />

von Identität <strong>als</strong> erzwungene und unentwegte<br />

Wiederholungen der Normen innerhalb der performativen<br />

Konstruktion des Subjekts. Diese Wiederholungen sind nicht<br />

an ein ausführendes, intentionales Subjekt gebunden, sondern<br />

an den prozessualen Modus der Hervorbringung.<br />

[…] Konstruktion ist weder ein Subjekt noch dessen Handlung, sondern<br />

ein Prozess ständigen Wiederholens, durch den sowohl ‚Subjekt‘<br />

wie ‚Handlungen‘ überhaupt erst in Erscheinung treten. Es gibt da<br />

keine Macht, die handelt, sondern nur ein dauernd wiederholtes Handeln<br />

[a reiterated acting], das Macht in ihrer Beständigkeit und Instabilität<br />

ist. (Butler 1995: 32).<br />

Die reiterative Macht der Konvention produziert und materialisiert<br />

die Subjekte, die vergeschlechtlichten Körper. Diese<br />

Macht, die eine diskursive Macht ist, ist ebenso dauerhaft<br />

wie unbeständig. Geschlechtsidentität kann damit quer durch<br />

queer gedacht werden, <strong>als</strong> unentscheidbare Spannung von<br />

Performance und Performativität, von „schwindelerregender“<br />

Aufführung und performativer, nicht-intentionaler, Konventionen<br />

zitierender Hervorbringung.<br />

Anna Babka, Studium der Komparatistik, Germanistik und Romanistik<br />

in Wien, Lausanne, Paris und Berkeley (USA), lehrt<br />

Literaturwissenschaft und Gender Studies an der Universität<br />

Wien, zur Zeit Hertha-Firnberg-Stelleninhaberin am Institut für<br />

Germanistik an der Universität Wien.<br />

Literatur<br />

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Butler, Judith (1993): Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage<br />

der ‚Postmoderne‘. Der Streit um die Differenz. Feminismus und Postmoderne<br />

in der Gegenwart. S. Benhabib, J. Butler, D. Cornell and N. Fraser. Frankfurt<br />

a. M., Fischer. S. 31-58.<br />

Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts.<br />

Berlin, Berlin-Verlag.<br />

Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts.<br />

Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt<br />

a. M., Suhrkamp.<br />

Hark, S. (2005): Queer Studies. Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-<br />

Theorien. Hg. C. v. Braun. Köln, Weimar, Wien, Böhlau. S. 285-303.<br />

Jagose, A. (2001): Queer Theory. Eine Einführung. Berlin, Querverlag.<br />

Kroll, R., Hrsg. (2002): Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung.<br />

Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Metzler.<br />

Raab, Heike (2005). ‚queer revisited‘ – Neuere Aspekte zur Verhältnisbestimmung<br />

von Queer Studies und Gender Studies. Die Kategorie Geschlecht im<br />

Streit der Disziplinen. Hrsg. M. Bidwell-Steiner und K. S. Wozonig. Innsbruck<br />

u.a., Studien-Verl.. S. 240-252.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

33


Fachgebiet<br />

Queer Studies<br />

Das geschlechtliche Kontinuum<br />

Geschlechtszuweisende Orientierungsmuster<br />

im Alltag und das Phänomen Transgender<br />

Von Iris Stern<br />

Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Freiheit<br />

selbst zu bestimmen, wer oder was Sie sind,<br />

unabhängig von jeglicher Zwangseinordnung<br />

in einen gesellschaftlich benannten<br />

Rahmen, der ausgefüllt wird von Erwartungs<br />

haltungen, Regeln und Norma litätsvorstellungen.<br />

Wie ist es möglich diese<br />

Freiheit zu erlangen, um ein selbstbestimmtes<br />

Leben führen zu können? Um Antworten<br />

auf diese Frage zu finden, ist es<br />

notwendig die Orien tierungsmuster,<br />

derer sich Gesellschaftsmitglieder bedienen,<br />

ausfindig zu machen und zu hinterfragen.<br />

Diese detektivische Suche wird mit<br />

dem Fokus auf das Phäno men Transgender<br />

und auf Geschlechts zuordnungen im Alltag<br />

in diesem Artikel diskutiert. Der Aspekt<br />

der Geschlechts dar stellung spielt hierbei<br />

eine zentrale Rolle, da dieser einen wesentlichen<br />

Bestandteil in der Zuordnung der Geschlechtszugehörigkeit<br />

ausfüllt.<br />

Fokussieren wir den Bereich von Geschlecht und Geschlechtlichkeit,<br />

begegnen wir vorerst einem dichotomen Ordnungssystem, aufgeschlüsselt<br />

in „Mann“ und „Frau“. Die Zuordnung zu einer der beiden<br />

Kategorien stellt im Regelfall keine wesentliche Herausforderung dar.<br />

Denn Gesellschaftsmitglieder lernen sich im Laufe ihrer Sozialisation eines<br />

Attributionsapparates zu bedienen, der ihnen diese Zuschreibungen wie<br />

auch die Selbstanwendung von geschlechtspezifisch konnotierten Erkennungsmerkmalen<br />

ermöglicht. Dazu werden „kulturelle Ressourcen“ genutzt,<br />

die ihre Geschlechtskonnotation im Laufe ihrer Geschichte verliehen<br />

bekamen und auch hinsichtlich dieser Zuweisung entsprechend verwendet<br />

werden. Sexualisierte Kleidungsstücke wie der Rock sind Beispiele hierfür<br />

(vgl. Villa 2000: 76).<br />

Die Geschlechtszuordnung orientiert sich an solchen Zeichen und nicht etwa<br />

an den primären Geschlechtsmerkmalen, die in der Öffentlichkeit (außer in<br />

speziellen Kontexten) verdeckt gehalten werden. Dadurch erhalten diese<br />

aber eine symbolische Bedeutung. Denn sie können nur <strong>als</strong> vorhanden oder<br />

nicht vorhanden angenommen werden, sozusagen <strong>als</strong> kulturelle Genitalien<br />

(vgl. Hirschauer 1993: 26). Eine derartige Zuordnung bezieht sich auf ein<br />

Kontextwissen von Zeichen, die sozial konstruiert sind. Diese können häufig<br />

nur den Kategorien „Mann“ oder „Frau“ zugeordnet werden, weil das<br />

System der Zweigeschlechtlichkeit keine andere Zuweisung erlaubt (vgl.<br />

Villa 2000: 84). Wird aber Geschlecht <strong>als</strong> ein Kontinuum angenommen, so<br />

verschwimmen diese Orientierungskennzeichen. Was kann ein Mensch tun,<br />

wenn er sich keiner dieser Kategorien zuordnen kann? Entweder anpassen,<br />

aussteigen oder eine eigene Kategorie kreieren.<br />

Begriffe und Definitionen<br />

Hier nähern wir uns dem Phänomen Transgender, mit dessen Hilfe die dichotome<br />

Geschlechterreproduktion nachvollziehbar gemacht werden kann<br />

(vgl. Villa 2000: 72). Je nach Wissenschaftsgebiet werden hierfür unterschiedliche<br />

Definitionen und Begrifflichkeiten verwendet. Im Bereich der<br />

Medizin und der Psychologie steht beispielsweise der Begriff Transsexualität<br />

im Vordergrund und wird <strong>als</strong> eine „Störung der Geschlechts identität“<br />

(Hartmann/Becker 2002: 11) verstanden. Diese Klassifizierung <strong>als</strong> Krankheit,<br />

ist Voraussetzung dafür, dass die Krankenkasse die Kosten für die<br />

geschlechtsangleichende Operation übernimmt (vgl. URL1). Von diesem<br />

pathologisierten Blickwinkel trennt sich der sozialkonstruktivistische Be-<br />

34


Gender und Transgender Queer Studies Fachgebiet<br />

reich der Gender Studies und versteht Transsexualität <strong>als</strong> ein<br />

Empfinden, sich dem jeweils anderen Geschlecht zugehörig<br />

zu fühlen und diesem auch in den körperlichen Merkmalen<br />

entsprechen zu wollen (vgl. Lindemann 1993: 9). Da Transsexualität<br />

das Wort Sexualität impliziert, wird in dessen Begrifflichkeit<br />

der sexuelle Aspekt hervorgehoben. Dieser steht<br />

aber im Sinne der Relevanzsetzung weit hinter dem Identitätsaspekt<br />

von Geschlecht. Um dieses Missverständnis zu<br />

vermeiden entstand der Begriff Transgender, der <strong>als</strong> Überbegriff<br />

für „die Lebensweisen von Homo-, Trans- und Intersexuellen<br />

(Hermaphroditen) sowie von Transvestiten […]“<br />

(Metzler Lexikon 2002: 392) benutzt wird. Der Schwerpunkt<br />

Deutungsmuster der Zweigeschlechtlichkeit<br />

Geschlecht ist das Ergebnis permanent reproduzierter Darstellungen<br />

der kulturellen Rollenmuster. Durch deren ständige<br />

Wiederholung wird die Existenz der Notwendigkeit<br />

einer eindeutigen Geschlechtszugehörigkeit sozial abgesichert.<br />

Aus diesen Konstruktionen werden geschlechtsbezogene<br />

Identitäten mit stereotypen Zuschreibungen wie z. B.<br />

männliche oder weibliche Verhaltensweisen, geschlechtsspezifisches<br />

Aussehen, differente Handlungsmuster etc. abgeleitet<br />

(vgl. Metzler Lexikon 2002: 160). TG+OP hebt weder<br />

die Geschlechterdichotomie auf, noch widerspricht es den<br />

lebensweltlichen Deutungsmustern von Zweigeschlechtlichkeit,<br />

doch offenbart es den Zwangscharakter von eindeutiger<br />

Geschlechtszugehörigkeit:<br />

•Es kann nur zwei Geschlechter geben.<br />

•Geschlecht ist eine konstante Variable.<br />

•Die Genitalien definieren das Geschlecht eines Menschen.<br />

•Abweichungen der Zweigeschlechtlichkeit bzw. vollzogener<br />

Geschlechtswechsel sind Parodien oder auf psychische<br />

Krankheiten zurückführbar.<br />

•Die Geschlechtszugehörigkeit zu „Mann“ oder „Frau“ ist naturgegeben<br />

und muss auch für die anderen Gesellschaftsmitglieder<br />

erkenntlich sein bzw. erkenntlich gemacht werden.<br />

•Diese Natürlichkeit ist objektiv und von keiner Instanz (z.B.<br />

der Wissenschaft) geprägt oder aus dieser entstanden (vgl.<br />

Kessler/McKenna 1978: 113-114).<br />

„Das Konzept […] besagt im Kern, dass Geschlechtszugehörigkeit<br />

und Geschlechtsidentität <strong>als</strong> fortlaufender Herstellungsprozess<br />

aufzufassen sind, der zusammen mit faktisch<br />

jeder menschlichen Aktivität vollzogen wird und in den unterschiedliche<br />

institutionelle Ressourcen eingehen“ (Gildemeister<br />

1992: 132).<br />

Geschlechtsdarstellung und Attribution<br />

Amanda Lepore – „the Number One Transexual”<br />

Bild: Hannah Indrak<br />

(amandaleporeonline.com) – am Lifeball<br />

soll in diesem Artikel aber auf Transgender-Gruppen basieren,<br />

die sich einer geschlechtsangleichenden Operation<br />

unterziehen. Im Folgenden werde ich hierfür den Begriff<br />

TG+OP verwenden (=Transgender mit bevorstehender bzw.<br />

bereits vollzogener geschlechtsangleichender Operation).<br />

Der Fokus auf die Transgender-Gruppe mit einer Operation<br />

wird deshalb gesetzt, da hierbei die gesellschaftliche<br />

Zwangseinordnung in eines der beiden vorgeschriebenen<br />

Geschlechter sichtbar wird.<br />

Geschlechtszugehörigkeit resultiert aus dem Wechselspiel<br />

zwischen Attribution und Darstellung, ist <strong>als</strong>o <strong>als</strong> interaktiver<br />

Prozess verstehbar, der zwischen DarstellerInnen und<br />

BetrachterInnen sowie der Beziehung zwischen Darsteller-<br />

Innen und kulturellen Ressourcen wechselseitig erklärbar ist<br />

(vgl. Villa 2000: 77).<br />

Diese Geschlechtszugehörigkeit ist aber in diesem Verständnis<br />

keine Naturangelegenheit, sondern wie Judith Butler es<br />

bezeichnet, eine „kulturelle Performance“. Es ist für TG+OP<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 35


Fachgebiet Queer Studies Gender und Transgender<br />

ein Erlernen des impliziten Wissens von Geschlechtsdarstellung,<br />

das andere Gesellschaftsmitglieder <strong>als</strong> selbstverständlich<br />

voraussetzen (vgl. Heintz 1993: 33 f.). In Österreich wird<br />

für Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem Geburtsgeschlecht<br />

übereinstimmt, ein sogenannter „Alltagstest“<br />

empfohlen, in dem die gewünschte Geschlechtsrolle im Alltag<br />

ausprobiert werden soll. Dies findet allerdings vor der<br />

geschlechtsangleichenden Operation sowie auch vor Beginn<br />

der Hormontherapie statt, wodurch die kulturellen Ressourcen<br />

in dieser Phase in den Vordergrund treten (vgl. URL2).<br />

Außerdem ist es in Österreich erst nach einer geschlechtsanpassenden<br />

Operation möglich, Personenstandsänderung zu<br />

beantragen. Dazu gehören die Änderung eines geschlechtsspezifischen<br />

Vornamens, die Änderung des Geschlechts<br />

in Dokumenten und Ausweisen sowie auch die Ehescheidung<br />

(vgl. URL3). Betrachtet man die Operation <strong>als</strong> Effekt<br />

der gesellschaftlichen Zwangseinweisung in ein System der<br />

Zweigeschlechtlichkeit, widerspricht das dem europäischen<br />

Grundrecht auf Unversehrtheit des menschlichen Körpers<br />

(vgl. URL4; Artikel 3/1).<br />

Körperliche Veränderungen<br />

TG+OP müssen in Österreich eine Vielzahl von Diagnoseverfahren<br />

durchstehen, bis die Operation durchgeführt wird.<br />

Dazu zählen psychiatrische, urologische bzw. gynäkolo -<br />

gische, endokrinologische und psychologische Gutachten (vgl.<br />

Fischl/Vlasich 1998: 12-13). Die Hormonbehandlung stellt zur<br />

Erreichung des Wunschgeschlechts einen wesentlichen Schritt<br />

dar, da hier die Transformation des Körpers (neben Darstellungsaspekten<br />

wie z.B. Kleidung), angefangen von der<br />

Verän derung der Körperformen bis hin zur Veränderung des<br />

psychischen Empfindens beginnt (vgl. ebd:19). Bei der Verweiblichung<br />

des Körpers ist darüber hinaus die Entfernung<br />

der Körperbehaarung durch teure Epilations- oder Laserbehandlungen<br />

notwendig, da die Einnahme von Hormonen<br />

diesbezüglich zumeist nicht ausreicht (vgl. ebd.: 24-25). Auch<br />

das Erlernen einer „weiblicheren“ oder „männlicheren“ Stimme<br />

ist ein wichtiger Aspekt für die Geschlechts attribution.<br />

Logopädie, eine Operation der Stimmlippen oder die Entfernung<br />

des Adamsapfels <strong>als</strong> optisches Gegenindiz, sind hier die<br />

zentralen Verfahren. Die plastische Operation stellt dann in<br />

dieser Hinsicht (abgesehen von den Nachsorgemaßnahmen)<br />

den letzten Schritt dar, um optisch dem Wunschgeschlecht<br />

angehören zu können (vgl. Neumann 2003: 35; URL2).<br />

Fazit<br />

Wird Zweigeschlechtlichkeit <strong>als</strong> ein Konstrukt sozialer Reproduktionsleistungen<br />

verstanden, kann Geschlecht <strong>als</strong><br />

Kontinuum aufgefasst und Geschlechtsidentität <strong>als</strong> Pool heterogener<br />

Lebensweisen praktiziert werden. Die Notwendigkeit<br />

in einem vorgefertigten Handlungsrahmen zu agieren<br />

und sich gezwungen zu fühlen, das eigene Sein, die eigene<br />

Identität einem der beiden vorgegebenen Geschlechter unterzuordnen<br />

und den normierten Rollenvorstellungen zu<br />

entsprechen, wäre damit nicht mehr gegeben. Doch aus Sicht<br />

heutiger politischer, institutioneller und medialer Zwangszuweisungen<br />

in ein System der Dichotomie scheint dieser<br />

Prozess, trotz dagegen ankämpfender politisch engagierter<br />

AktivistInnen, nur schleppend voranzuschreiten.<br />

Iris Stern, Studentin der Soziologie an der Universität Wien.<br />

Verfasst zurzeit ihre Diplomarbeit zum Thema Transgender.<br />

Literatur<br />

Fischl, Franz H. / Vlasich, Elisabeth (1998): Transsexuell-Transgender. Der Weg<br />

ins andere Geschlecht. Ein Leitfaden für Betroffene, Angehörige und Ärzte.<br />

Gablitz, Krause und Pachernegg GmbH.<br />

Gildemeister, Regine / Wetterer, Angelika (1992): Wie Geschlechter gemacht<br />

werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung<br />

in der Frauenforschung. In: Knapp, Gudrun-Axeli / Wetterer, Angelika<br />

(Hg.): Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Freiburg,<br />

Kore Verlag, 201-254.<br />

Hartmann, Uwe / Becker, Hinnerk (2002): Störung der Geschlechtsidentität:<br />

Ursachen, Verlauf, Therapie. Wien, Springer-Verlag.<br />

Heintz, Bettina (1993): Die Auflösung der Geschlechterdifferenz. Entwicklungstendenzen<br />

in der Theorie der Geschlechter. In: Bühler, Elisabeth: Ortssuche.<br />

Zur Geografie der Geschlechterdifferenz. Zürich/Dortmund, eFeF Verlag.<br />

Hirschauer, Stefan (1993): Sie soziale Konstruktion der Transsexualität. Über<br />

die Medizin und den Geschlechtswechsel. Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Kessler, Suzanne / McKenna, Wendy (1978): Gender. An ethnomethodological<br />

approach. Chicago/London, University of Chicago Press.<br />

Lindemann, Gesa (1993): Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld<br />

von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch.<br />

Metzler Lexikon (2002): Gender Studies. Geschlechter-Forschung. Ansätze,<br />

Personen, Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar, Verlag J.B. Metzler.<br />

Neumann, K., et al (2003): Operative Stimmerhöhung bei Mann-zu-Frau-<br />

Transsexuellen. Eine Übersicht der Ergebnisse mit eigener Technik. Halle-<br />

Wittenberg, Martin-Luther-Universität: http://www.transx.at/Dokumente/<br />

OpMFKehl.pdf. Zugriff: 09.04.08.<br />

Villa, Paula-Irene (2000): Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper.<br />

Opladen, Leske + Budrich.<br />

URL1: http://www.wien.gv.at/queerwien/urtrans.htm<br />

URL2: www.transx.at<br />

URL3: http://www.wien.gv.at/queerwien/geschlop.htm<br />

URL4: http://www.europarl.europa.eu/charter/pdf/text_de.pdf<br />

36


Queer Studies<br />

Fachgebiet<br />

Demaskierte „Natürlichkeit“<br />

Kritisch-innovative Potenziale von Queer Theory<br />

Von Christine M. Klapeer<br />

Seit Mitte der 1990er Jahre präsentiert<br />

sich das das Feld queerer Theorieansätze<br />

aus differenziert. Es hat sich <strong>als</strong> eigener<br />

akademischer Forschungsbereich in<br />

der internationalen wissenschaftlichen<br />

Diskussion um die Produktions- und<br />

Wirkungsweisen einer heteronormativzweigeschlechtlichen<br />

Gesellschaft etabliert.<br />

Doch welche Potenziale offerieren uns diese<br />

Ansätze für eine Analyse gesellschaftlicher<br />

Vorgänge und Prozesse? Welche Erkenntnisse<br />

aus den Queer Theorien sind insbesondere<br />

für eine sozialwissenschaftliche<br />

Herangehensweise zentral? Können wir in<br />

Zusammenhang mit queeren Ansätzen von<br />

einem Paradigmenwechsel sprechen oder<br />

sind viele Thesen vielleicht nur „Altes“ in<br />

einer „zeitgenössischen“ Verpackung?<br />

Besonders vor dem Hintergrund einer aktuell zu konstatierenden<br />

Queer-Euphorie in ausgewählten Räumen der akademischen<br />

Landschaft scheint die Frage nach den tatsächlichen<br />

Potenzialen dieser Ansätze mehr <strong>als</strong> angebracht. Wissenschaftliche Innovation<br />

ist immer eine Frage der Perspektive, auch im Fall der<br />

Queer Theory, und muss nicht zwangsläufig <strong>als</strong> Qualitätskriterium<br />

fungieren. Denn gerade bei Queer Theory liegt das kritisch-innovative<br />

Potenzial aus meiner Sicht weniger in der „Neuheit“ der Ansätze <strong>als</strong> in der<br />

Form und Intensität, in der Erkenntnisse aus feministischen Theorien, den<br />

Lesbian and Gay Studies und Poststrukturalismus verarbeitet und zusammengeführt<br />

werden und wurden (vgl. dazu Klapeer 2007). Und: Das kritische<br />

Potenzial eines theoretischen Ansatzes muss nicht unbedingt in der<br />

Präsentation immer neuer Ergebnisse liegen, sondern kann – wie bei Queer<br />

Theory – auch in der impliziten herrschaftskritischen Konsequenz ihrer<br />

Präsenz in einem androzentrisch geprägten Wissenssystem zu finden sein.<br />

Die analytisch fundierte Verortung des Konstruktionsprozesses von Zweigeschlechtlichkeit<br />

im Kontext eines heterosexuellen Dispositivs, gehört<br />

zu den zentralen Ergebnissen von Queer Studien seit den 1990ern. Daran<br />

schlossen sich viele Analysen an, wie und in welcher Form Heterosexualität<br />

<strong>als</strong> Heteronormativität in unsere westlichen Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse<br />

eingeschrieben ist, wie sie Subjektivitäten und Verhältnisse<br />

beeinflusst und gleichzeitig hervorbringt. Auf Grundlage bereits vorliegender<br />

Ansätze zur „sozialen Konstruktion von Geschlecht“ ebenso wie<br />

in Rekurs auf heteronormativitätskritische Erkenntnisse aus den Lesbian<br />

and Gay Studies, gelang es, Sexualität <strong>als</strong> eine Vergesellschaftungsform von<br />

Geschlecht sichtbar zu machen. Dies ist insbesondere für eine sozialwissenschaftliche<br />

Herangehensweise zentral. Die Theoreme die verwendet werden,<br />

sind zwar nicht unbedingt neu, innovativ ist jedoch der explizite Fokus auf<br />

den Prozess der Verschränkung von Sexualität/Begehren mit Geschlecht.<br />

Zum Begriff der Heteronormativität<br />

Der Begriff der Heteronormativität <strong>als</strong> Schlüsselbegriff innerhalb der Queer<br />

Theory, wird von TheoretikerInnen je nach Kontext, Forschungsgegenstand<br />

oder theoretischer/disziplinäre Verortung unterschiedlich verwendet. Insofern<br />

kann hier nur eine asymptotische Begriffklärung vorgenommen<br />

werden, die jedoch von dem Ziel geleitet ist, eine Verständigung über die<br />

Bedeutung von Heteronormativität zu ermöglichen.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 37


Fachgebiet Queer Studies Queer Innovativ<br />

Zentrale theoretische Referenzpunkte zur Klärung des Begriffes<br />

„Heteronormativität“ stellen zweifelsohne die Arbeiten<br />

der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler dar.<br />

Orientiert an ihre theoretischen Analysen verweist Heteronormativität<br />

<strong>als</strong> Beschreibung und Kritik eines gesellschaftlichen<br />

Ordnungssystems auf zwei zentrale interdependente<br />

Dimensionen: Zum einen beschreibt Heteronormativität ein<br />

binäres, dichotomes System der Zweigeschlechtlichkeit, in<br />

welchem „Männer“ und „Frauen“ <strong>als</strong> „natürliche“ Differenzkategorien<br />

hervorgebracht und gleichzeitig komplementär -<br />

hierarchisch aufeinander bezogen werden.<br />

diskursive Regeln beinhaltet, die der Zweigeschlecht lichkeit<br />

und Heterosexualität die Diskursmacht sichern. Damit<br />

steckt die „heterosexuelle Matrix“ den Bereich des Denk- und<br />

Lebbaren im Kontext der Geschlechtermöglichkeiten und Begehrensformen<br />

ab („Intelligibilität“), indem andere Optionen<br />

<strong>als</strong> nicht denk- oder lebbar erscheinen. „Gerade weil (…) bestimmte<br />

‚geschlechtlich bestimmte Identitäten‘ (gender identities)<br />

nicht den Normen kultureller Intelligibilität entsprechen,<br />

erscheinen sie innerhalb des Gebietes kultureller Intelligibilität<br />

nur <strong>als</strong> Entwicklungsstörung oder logische Unmöglichkeiten“<br />

(Butler 1991: 39).<br />

Überwindung bestehender Normen<br />

Bild: CrimethInc.<br />

Diese „heterosexuelle Matrix“ produziert und institutionalisiert<br />

in dieser Konsequenz Heterosexualität <strong>als</strong> einzig vorstellbare<br />

soziale Wirklichkeit, Begehrensform und Logik der<br />

Geschlechterordnung. Der Begriff der Heteronormativität<br />

verweist in seiner zweiten Bedeutungsdimension folglich<br />

darauf, dass Heterosexualität <strong>als</strong> „Norm“ Geschlechterverhältnisse,<br />

Subjektivitäten, Lebenspraxen, die symbolische<br />

Ordnung sowie das Gefüge gesellschaftlicher Organisation<br />

strukturiert und <strong>als</strong> „apriorische Kategorie des Verstehens“<br />

(Wagenknecht 2007, 17) damit in sämtliche gesellschaftlichen,<br />

politischen und ökonomischen Verhältnisse eingeschrieben<br />

ist.<br />

Nach Judith Butler (1991) entfaltet Heteronormativität ihren<br />

Zwangscharakter vor allem dadurch, dass die Triade Körpergeschlecht<br />

(sex), soziales Geschlecht (gender) und Begehren<br />

(desire) im Rahmen einer „heterosexuellen Matrix“ <strong>als</strong> kohärent<br />

und kontinuierlich konstruiert werden. Nach Butler’s<br />

Ansicht wird die Dichotomie „Mann“-„Frau“ durch die Forderung<br />

einer Übereinstimmung von körperlicher Erscheinung<br />

(sex), sozialem Geschlecht (gender) und gegengeschlechtlichem<br />

Begehren abgesichert. Damit ist die „heterosexuelle Matrix”<br />

„ein hegemoniales diskursives/epistemisches Modell der<br />

Geschlechter-Intelligibilität (…), das folgendes unterstellt:<br />

Da mit die Körper eine Einheit bilden und sinnvoll sind,<br />

muss es ein festes biologisches Geschlecht geben, das durch<br />

ein festes soziales Geschlecht (Maskulinität/Femininität) zum<br />

Ausdruck gebracht wird, das durch die zwanghafte Praxis<br />

der Heterosexualität gegensätzlich und hierarchisch definiert<br />

ist“ (Butler 1991: 220).<br />

Die „heterosexuellen Matrix“ bezeichnet nach Butler demnach<br />

ein Schema, welches die normativen Regeln, nach<br />

denen Geschlechter entstehen und sich dann <strong>als</strong> materialisierte<br />

„Frauen“ und „Männer“ aufeinander beziehen, vorgibt.<br />

Sie ist eine kulturspezifische Ordnungsstruktur, welche<br />

Mit Hilfe queerer Ansätze kann daher grundlegend eine Demaskierung<br />

des „Natürlichen“ innerhalb der Sozial- und<br />

Kulturwissenschaften vorangetrieben, und Geschlecht <strong>als</strong><br />

„natürliche“ Ordnungskategorie ebenso wie Heterosexualität<br />

<strong>als</strong> „unhinterfragte“ Mehrheitspraxis kritisch befragt<br />

werden. Die umfassende Theoretisierung und wissenschaftliche<br />

Infragestellung der heteronormativen Ordnung unserer<br />

Gesellschaft und der Geschlechterbinarität, können<br />

somit ein Korrektiv zu Theorien und gesellschaftlichen Verhältnissen<br />

sein, die die Kategorien „Frau“, „Mann“ und Heterosexualität<br />

<strong>als</strong> gegeben bzw. vorkulturell begreifen und<br />

Ungleichheit damit legitimieren. So kann eine verstärkte<br />

Beschäftigung mit Queer Theory <strong>als</strong> wissenschafts- und herrschaftskritischer<br />

Ansatz ein politisches Statement sein,<br />

geht es doch dabei um die Analyse und Aufdeckung gesellschaftlicher<br />

Normali sierungsanforderungen und Ausschlussverfahren,<br />

in denen Zweigeschlechtlichkeit und<br />

Heterosexualität die Lebensbedingungen von Menschen<br />

(auch gewaltsam) regulieren. Das Potenzial queerer Ansätze<br />

liegt für mich daher – auch wenn dies in der internationalen<br />

Rezeption keineswegs selbstverständlich ist – in<br />

diesem herrschaftskritischen Impetus. Denn nach Antke<br />

Engel verweist die wissenschaftliche Praxis des „queering“<br />

38


Queer Innovativ Queer Studies Fachgebiet<br />

„auf Praktiken, Prozesse und Erkenntnisse, die je spezifische<br />

Eingebundenheit in die Strukturen und Mechanismen der<br />

dominanten Ordnung zu nutzen versucht, um deren Normen<br />

und Hierarchien herauszufordern“ (Engel 2002: 40).<br />

Eine konsequente und radikale Demaskierung des „Natürlichen“<br />

scheint aufgrund aktueller politischer und wissenschaftlicher<br />

Entwicklungen auch notwendiger denn je zu<br />

sein. Nicht nur haben wir es in der Wissenschaft mit einem<br />

„biologistischen Backlash“ zu tun. Auch auf gesellschaftspolitischer<br />

Ebene ist die Zementierung von kohärenten und<br />

eindeutigen Identitäten noch und wieder vermehrt Ausgangspunkt<br />

politischer Partizipation, Artikulation und politischer<br />

Agenden. Queeres Denken versteht sich <strong>als</strong> Kritik<br />

gegen Herrschaftsverhältnisse, die mit eindeutigen und in<br />

einer vermeintlich natürlichen oder kulturellen Substanz<br />

wurzelnden Identitäten operieren. Es betont somit die<br />

Konstruiertheit derartiger Formationen. Identitäten gelten<br />

demnach <strong>als</strong> Effekte „komplexer Narrationen, mit denen Individuen<br />

und Kollektive sich politisch, historisch und kulturell<br />

situieren“ (Hark 1999: 65). Queer Theories beschäftigen<br />

sich dementsprechend mit der Analyse, wie Homosexualität<br />

und Hetero sexualität in wechselseitigem hierarchischen<br />

Verhältnis zu einem identitätskonstituierenden Merkmal<br />

avanciert, wie dieses mit sex und gender verknüpft ist und<br />

welche Exklusionsmechanismen und Verwerfungen damit<br />

einhergehen. Gerade in Hinblick auf aktuelle sozialwissenschaftliche<br />

Arbeiten im Bereich von Multikulturalismus,<br />

gesellschaftlicher Pluralität; Demokratie und Annerkennungspolitiken,<br />

kann es im Sinne einer radikalen queeren<br />

Gesellschaftsanalyse und - kritik daher nicht um die bloße<br />

Argumentation für die Rechte einer schwul- lesbischen<br />

„Minderheit“ oder einer einfachen „Gleichstellung“ von<br />

Frauen mit Männern gehen, sondern Geschlecht und Sexualität<br />

müssen <strong>als</strong> produzierte Kategorien der sozialen Differenz<br />

in ihrer gesamten strukturierenden Wirkungsweise in<br />

den Blick genommen werden. Denn wenn der Geschlechtskörper<br />

keine selbstverständliche Basis für gesellschaftliche<br />

Grenzziehungen mehr ist, wenn Sexualität <strong>als</strong> sich veränderndes<br />

Kontinuum gedacht wird, dann geht es nicht mehr<br />

nur um die Veränderung bestimmter Zuschreibungen,<br />

Stereotypen und Diskriminierun gen und darauf basierende<br />

Ausgrenzungen. Es werden dann viel mehr Ausschlüsse<br />

aufgrund des Geschlechts und Heteronormativität in einem<br />

ganz grundlegenden gesellschaftstheoretischen Sinn zu erklärungsbedürftigen<br />

Phänomenen. Es eröffnet sich ein neuer<br />

Raum, in dem kritische Gesellschaftstheorien ent wickelt<br />

und betrieben werden können.<br />

Dieser herrschaftskritische Gestus von queeren Ansätzen<br />

verweist <strong>als</strong> Ganzes auch darauf, dass sich diese – analog<br />

zu feministischen Theorien – nicht <strong>als</strong> bloße „akademische“<br />

Theoriekomplexe verstehen wollen, sondern ausgehend von<br />

ihrem politischen Entstehungskontext und wechselseitiger<br />

Bezogenheit auf einen queeren Aktivismus, eine Verbindung<br />

von Theorie und Praxis anstreben. Diese politische Verbundenheit<br />

ist ein Potenzial dieser Ansätze, erfordert es doch<br />

eine ständige Reflexion der eigenen Eingebundenheit in ein<br />

Wissenssystem, das nicht herrschaftsfrei ist; es verlangt nach<br />

einer Reflexion der eigenen „Abgehobenheit“ in Sprache<br />

und Begrifflichkeiten. Ich verstehe Queer Theory demzufolge<br />

auch weniger <strong>als</strong> inhaltliche oder methodische Festlegung<br />

eines Forschungsbereiches, sondern möchte im Anschluss<br />

an die anfängliche Intention ihrer akademischen Etablierung,<br />

queer mehr <strong>als</strong> kritische Auseinandersetzung mit der<br />

Produktion von Wissen, Konstruktion von wissenschaftlichen<br />

Objekten und Absichten sowie der „Natur“ des wissenschaftlichen<br />

Schreibens und Forschens verstanden wissen<br />

(vgl. Currid 2001: 377).<br />

Christine Klapeer, ist freie Sozialwissenschafterin und <strong>als</strong> Universitätslektorin<br />

an unterschiedlichen Universitäten tätig. 2007<br />

erschien ihre aktuelle Publikation „queer. contexts“ im Studienverlag;<br />

Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich feministische,<br />

lesbische und queere Theorie, (sexual) citizenship, Demokratie- und<br />

Staatstheorien.<br />

Literatur<br />

Butler, Judith (1991 [1990]): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M,<br />

Suhrkamp<br />

Currid, Brian (2001): Nach queer? In: Ulf Heidel / Stefan Micheler / Elisabeth<br />

Tuider (Hrsg.): Jenseits der Geschlechtergrenzen. Sexualitäten, Identitäten und<br />

Körper in Perspektiven von Queer Studies. Hamburg, MännerschwarmSkript.<br />

S. 365-385.<br />

Engel, Antke (2002): Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im<br />

Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt a. M./New York, Campus.<br />

Hark, Sabine (1999): Deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität.<br />

Opladen, Leske und Budrich.<br />

Klapeer, Christine M. (2007): Queer. contexts. Entstehung und Rezeption von<br />

Queer Theory in den USA und Österreich. Innsbruck/Wien/Bozen, Studienverlag.<br />

Wagenknecht, Peter (2007): Was ist Heteronormativität? Zu Geschichte und<br />

Gehalt des Begriffs. In: Hartmann, Jutta et al. (Hrsg.): Heteronormativität. Empirische<br />

Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht. Wiesbaden, VS Verlag<br />

für Sozialwissenschaften. S. 17-34.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

39


Fachgebiet<br />

Queer Studies<br />

Queer Politics!<br />

Betrachtungen queerer, feministischer und<br />

anti-nationalistischer Strategien in Belgrad<br />

Von Julia Mitterbauer und Gerhild Perl<br />

Der Artikel basiert auf Gesprächen mit VertreterInnen<br />

des Queer Beograd Collectives<br />

(QBC) und unserer Teilnahme an dem Festival<br />

Kvar – The Malfunction im Jahr 2006,<br />

das eine Beschäftigung mit queeren, feministischen<br />

und anti-nationalistischen Aktionismus<br />

in Belgrad initiierte. Durch die<br />

Herausarbeitung der Relevanz queer er Kritik<br />

an nationalistischer Ideologie gelangen<br />

wir zu der Diskussion über die bestehende<br />

Diskrepanz zwischen akademischem<br />

Diskurs der Queer Theory und queerem<br />

Aktionismus. Wo diese Widersprüche liegen,<br />

wie eine Zusammenführung theoretischer<br />

und praktischer Ansätze aussehen<br />

kann und welche subversiven Strategien<br />

und Utopien das QBC anwendet und entwirft,<br />

wird im Artikel dargestellt. Im Zuge<br />

der Diskussion anti-nationalistischer Politiken<br />

und Aktionsformen heben wir die<br />

enge Verwobenheit mit der Friedensbewegung<br />

der 1990er Jahre, die vor allem von<br />

Frauen getragen wurde, hervor. Mit unserem<br />

Beitrag sollen Allianzen und Formen<br />

des Widerstandes gegen die patriarchalen<br />

Strukturen des Nationalismus in Serbien<br />

sichtbar gemacht werden.<br />

Das QBC versteht sich <strong>als</strong> aktivistisches Kollektiv, das gegen die<br />

politische und gesellschaftliche Unterdrückung von Sexualitäten<br />

und Lebensführungen eintritt, welche die dominierende Heteronormativität<br />

nicht erfüllen und reproduzieren. Einerseits fordern die VertreterInnen<br />

des QBC das Recht auf sexuelle Diversität, andererseits sehen<br />

sie politischen Aktionismus in einem weiteren Kontext verortet, wenn sie<br />

Unterdrückungssysteme nicht <strong>als</strong> unabhängige und parallel stehende, sondern<br />

<strong>als</strong> korrelierende und konstituierende Dispositive begreifen. In unserem<br />

Gespräch wurde das QBC folgendermaßen positioniert: „Because we<br />

feel that all those -isms, that is nationalism, militarism, fascism, racism and<br />

gender roles are all deeply connected and we try to promote this kind of<br />

holistic politics that explains why all these things are connected, and we<br />

fight against all of them. And not only having one-agenda-politics.“ (M.)<br />

M. betont die Dringlichkeit dieser Verschränkungen, da der Nationalismus<br />

in Serbien dermaßen erstarkte und in ihr Leben eingedrungen war.<br />

Die nationalistische Propaganda definiert, wie ein „echter“ Serbe und eine<br />

„wirkliche“ Serbin zu sein hätte. Sie produziert und legitimiert damit auch<br />

Homo- und Transphobie in der serbischen Gesellschaft. „To be gay – during<br />

the nineties – meant to be a traitor, social garbage, responsible for all evil in<br />

the country. Homosexual identity was an instrument for political disqualification.<br />

More or less this kind of disqualification exists in Serbian political<br />

life even today.“ (Stojanovic 2007: 10)<br />

„queering the logic of normalization“<br />

Im Folgenden diskutieren wir das Verhältnis zwischen akademischem Diskurs<br />

der Queer Theory und queerem Aktionismus, wobei nach der Relevanz<br />

queerer Kritik an nationalistischen Ideologien gefragt wird. Grundlage<br />

dafür stellen Gespräche mit VertreterInnen des QBC und mit Jelisaveta<br />

Blagojevic, Queer-Theoretikerin des Women Studies Center Beograd sowie<br />

protokollierte Vorträge und Diskussionen des Party and Politics Festiv<strong>als</strong>,<br />

(2005) und des Kvar – The Malfunction Festiv<strong>als</strong> (2006) dar (vgl. URL 2).<br />

Ein Thema des Party and Politics Festiv<strong>als</strong> war die Klärung des Begriffs queer,<br />

der für die (Re-)Definition des Verhältnisses von Theorie und Praxis tragende<br />

Bedeutung hat. Für die Referentin Blagojevic stellt „queeres Denken“<br />

einen Paradigmenwechsel sowohl im akademischen Diskurs <strong>als</strong> auch in der<br />

politischen Arbeit dar. „It means that queer theory represents the possibility<br />

of think differently – to think in the sense – to queer logic of binarism, ex-<br />

40


Queer Beograd Collective Queer Studies Fachgebiet<br />

clusion, limits and territories – which means to queer logic of<br />

normalization.“ (Blagojevic 2006:10). Mittels dieses queerings<br />

von Binarismen und Dichotomien ergibt sich für Blagojevic<br />

die Möglichkeit, Grenzverläufe zwischen Theorie und Praxis,<br />

akademischen Diskursen und Aktivismus aufzubrechen. In<br />

diesem Sinne ist der Begriff queer ein Werkzeug zur Dekonstruktion<br />

von hegemonialen Unterdrückungssystemen.<br />

Im Herbst 2006 hatten wir Gelegenheit mit Jelisaveta<br />

Blagojevic zu sprechen. Sie beschäftigt sich mit gegenwärtiger<br />

(politischer) Philosophie, Gender und Queer Studies.<br />

Indem sie theoretische Auseinandersetzung <strong>als</strong> Aktivismus<br />

versteht, meint sie, die Diskrepanz von Theorie und Praxis<br />

zu überbrücken: „I think queer theory is very important,<br />

you know, it‘s opening us up for a future, for entering the<br />

new millennium. And in that sense, it‘s a very strong critique<br />

of nationalism, of social construction of any kind of identity<br />

that‘s understood as closed, and as based on the concepts<br />

of territory […]. It is characteristic of a modern period. So<br />

it is important as a theoretical approach, if we insist on making<br />

this difference between theory and activism, which is<br />

a very strong demand in Belgrade, I‘m not so sure about<br />

that. I‘m dealing with theory, you know, it‘s my activism. I<br />

cannot see this clear-cut division.“ (Dieselbe). Die Relevanz<br />

queerer Kritik am Nationalismus liegt für sie klar auf der<br />

Hand: Als starke und profunde Kritik an jeglicher Art von<br />

Identitätskonstruktion, greift Queer Theory <strong>als</strong> erstes den<br />

Nationalismus an. Mit dem Widerstand gegen hegemoniale<br />

Identitätspolitik und Heteronormativität würde der Boden<br />

(oder das Territorium) der AnhängerInnen des Nationalismus<br />

erschüttert: „I have a problem with you because you are<br />

shaking my ground. You are putting in danger my deepest<br />

believes!“ (Dieselbe)<br />

Miss Moon von QBC und Queeruption London kritisiert<br />

Blagojevic’s Verständnis des Begriffs queer dahingehend,<br />

dass der Begriff queer nicht in der Lage sei, die Diskrepanz<br />

von Theorie und Praxis zu überwinden. Schlichtweg deshalb<br />

nicht, weil Menschen, die keine universitäre Laufbahn eingeschlagen<br />

haben, oft die Sprache der akademisch verankerten<br />

Queer-TheoretikerInnen nicht verstehen. Für Miss Moon hat<br />

Theorie nur dann politische Relevanz, wenn sie in der alltäglichen<br />

Praxis angewendet werden kann. Und queer bedeutet<br />

in diesem Fall nicht Theorie, sondern „politics in practice“<br />

(Miss Moon 2006:16). Diese Kritik ist von Bedeutung, da sie<br />

die Macht von Sprache <strong>als</strong> Instrument der Ausschlussproduktion<br />

thematisiert. Das soll aber nicht bedeuten, dass diese<br />

ausgrenzenden Mechanismen der Sprache bewusst eingesetzt<br />

werden. Wenn man die Zeit und somit das Privileg hat,<br />

sich mit theoretischer Literatur á la Judith Butler auseinander<br />

zu setzen, prägt diese Beschäftigung politischen Aktivismus,<br />

kollektive und individuelle Lebensführung und somit auch<br />

den Sprachgebrauch. Sich von diesem Elfenbeinturm herunter<br />

zu schwingen ist eine der Aufgaben von Queer Politics,<br />

die jeden Tag von neuem geleistet wird.<br />

Auf der Homepage des QBC ist folgende Definition des Begriffs<br />

queer zu finden: „[…] to be queer means to refuse social<br />

rules and to constantly re-question supposed norms of<br />

patriarchal tradition. To create space beyond the rigid boxes<br />

of homo or hetero sexuality, allowing each other the ‚privilege‘<br />

of self definition. To present a radical politics that sees<br />

the interconnectedness of all forms of oppression“ (URL1).<br />

Plakat: „Boykot Referendum“ – Öffentlicher Protest in Belgrad Bild: Mitterbauer/Perl<br />

Orte der Umsetzung von radical politics sind Veranstaltungen<br />

wie das Kvar – The Malfunction Festival. Auch die Aneignung bestimmter<br />

Begriffe stellt einen Aspekt der politischen Strategie des<br />

QBC dar. So wurde das Wort Kvar in einen neuen Sinn- und Deutungszusammenhang<br />

gestellt, indem seine eigentliche Bedeutung<br />

– die Fehlfunktion in einer Maschine – in einen gesellschaftlichen<br />

Kontext übertragen nun Kritik und Widerstand meint. „In Serbia<br />

there is no word that means queer, so our festival was called<br />

‚Kvar‘, a technical term literally translating to mean ‚a malfunction<br />

in a machine‘, because in this world of capitalism, nationalism,<br />

racism, militarism, sexism and homophobia, we wanted to<br />

celebrate ourselves as a malfunction in this machine. Kvar festival<br />

presented our efforts in resisting conformity and going against<br />

what is accepted to create something about living and justice, not<br />

f<strong>als</strong>e productivity, war and money“ (QBC 2007: 5).<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 41


Fachgebiet Queer Studies Queer Beograd Collective<br />

Space of Resistance<br />

Selbstdefinition und Sichtbarmachung von lesbischen und<br />

schwulen Lebenswelten stehen im Zentrum des politischen<br />

Aktivismus des QBC. Der Austausch von Erfahrungen und<br />

Diskussionen über queere Strategien wird auf Festiv<strong>als</strong> wie<br />

Kvar gesucht. Direct Action, das Aufhängen von Transparenten<br />

mit subversiven Bildern und Inhalten sowie Streetparties,<br />

auf denen in Form von cross-dressing die dominierende<br />

Heteronormativität parodiert wird, sind Beispiele dafür, wie<br />

der öffentliche Raum angeeignet und destabilisiert wird.<br />

Auch die Bildung von Netzwerken stellt einen wichtigen Aspekt<br />

dar. Neben zahlreichen internationalen Kooperationen<br />

bestehen auch Kontakte zu in Belgrad situierten Gruppen,<br />

wie den Women in Black.<br />

Mit einem klaren anti-nationalistischen und feministischen<br />

Programm, nahmen Women in Black eine führende Rolle in<br />

der Anti-Kriegsbewegung ein. Sie verweigerten sich der auferlegten<br />

Mutterrolle und der Reduzierung von Frauen auf<br />

„weibliche“ Tätigkeiten innerhalb der Anti-Kriegsbewegung,<br />

die dem patriarchalen Modell folgend „für die Frauen vorbestimmt“<br />

wären: trösten, beistehen, Wunden versorgen und<br />

nähren. „We wanted our presence to be VISIBLE, not to be<br />

seen as something ‚natural‘, as part of a woman‘s role. We<br />

wanted it to be clearly understood that what we were doing<br />

was our political choice, a radical criticism of patriarchal, militarist<br />

regime and a non-violent act of resistance to policies<br />

that destroy cities, kill people, and annihilate human relations.“<br />

(Women in Black zit. in Mladenovic, Hughes 1993:8)<br />

Behält man den historischen und gegenwärtigen politischen<br />

Kontext Serbiens im Auge, so wird die Relevanz antination<br />

alistischer Praktiken deutlich. Seit dem Zusammenbruch<br />

der SFR Jugoslawien befinden sich die ehemaligen<br />

Republiken in einem Prozess der Transition, der den Übergang<br />

von einer kommunistischen Vergangenheit zu einer<br />

neoliberal und auch demokratisch orientierten Gegenwart<br />

und Zukunft beinhaltet. Die Zersplitterung der Teilrepubliken<br />

des ehemaligen Jugoslawien gipfelte in der Grausamkeit<br />

der Kriege. Nationalistische und ethnische Projekte<br />

erstarkten und nährten die Zerwürfnisse. Die nationalistische<br />

Ideologie wurde von der Intelligenz angetrieben und<br />

erhielt politischen wie gesellschaftlichen Zuspruch.<br />

Nation<strong>als</strong>taatliche Bestrebungen der ethnischen und nationalen<br />

Homogenisierung innerhalb eines (National-)Staates<br />

konstruieren ein feindliches Außen, das die eigenen Grenzen<br />

„bedroht“. „Serbs were constructing Serbian identity in opposition<br />

to Croatians, Bosnians, and Albanians. (…) I think in<br />

each country, and for the country’s biggest enemy, they have<br />

the same kind of stereotypes, like they are dirty, they are fucking<br />

so much in order to make so many babies that they<br />

outnumber us […]. It’s always this role of victims and conspiracy<br />

theories. You always have these stories about how in 50<br />

years in Serbia you will just have 10% Serbs!“ (M.).<br />

Albanien nimmt auf Grund des Kosovos einen besonderen<br />

Stellenwert in der nationalistischen Konstruktion des bedrohlichen<br />

und feindlichen „anderen“ ein. Die Schlacht am<br />

Amselfeld, Kosovo Polije, im Jahr 1389, die die Serben verloren<br />

hatten, wird im nationalistischen Diskurs mythologisiert.<br />

„It´s like the deepest fear that you grow up with, that Kosovo<br />

is not part of Serbia and Albanians will take it off, that Serbia<br />

is in danger because of Albania“ (K.) .<br />

Die Konstruktion der „nationalen“ und „ethnischen“ (serbischen)<br />

Identität, basiert auf der rigorosen Abgrenzung<br />

zu einem „feindlichen Außen“ sowie auf der Anrufung der<br />

„wirklichen“ Serbin und des „echten“ Serben Dieser nationale<br />

Identitätsentwurf, der sich auf eine geschlechtliche<br />

Eindeutigkeit verlässt, wird aufgrund von Aktionen und<br />

der bloßen Existenz von LGBTTIQ (Lesbian, Gay, Bisexual,<br />

Transgender, Transsexual, Intersexual, Queer people) nicht<br />

reproduziert, mitunter sogar bedroht oder zumindest doch<br />

ins Wanken gebracht. „We are the enemies from inside. So, if<br />

Albanians, Muslims and Croatians are from the outside we<br />

are the one from inside. Like lesbians they don´t want to have<br />

children“ (lacht) (K.).<br />

Julia Mitterbauer und Gerhild Perl sind Studentinnen der Kultur-<br />

und Sozialanthropologie, Mitorganisatorinnen des Ladyfest-<br />

Wien05.<br />

Literatur<br />

Blagojevic, Jelisaveta (2006): Defining Queer. In: Puaca, Majda (Hrsg.in): Preparing<br />

a Space. documentation of Party and Politics festival., Beograd, Ksenija<br />

Forca (publisher). S. 9-13.<br />

Miss Moon (2006): Defining Queer. In: Puaca, Majda (Hrsg.in): Preparing a<br />

Space. documentation of Party and Politics festival. Beograd, Ksenija Forca<br />

(publisher) S. 13-17.<br />

M. & K.: anonymisierte Interviewpartnerinnen<br />

QBC (2007): The Malfunction. Beograd, Ksenija Forca (publisher).<br />

Stojanovic, Boban (2007): Queer Resistance to Militarism. In: Puaca, Majda<br />

(Hg.): The Malfunction. Beograd, Ksenija Forca (publisher). S. 9-16.<br />

Women in Black (1993): zit. in: Mladenovic, Lepa & Hughes, Donna (1999): Feminist<br />

Resistance to War and Violence in Serbia. Frontline Feminism. Verfügbar<br />

über: http://www.uri.edu/artsci/wms/hughes/warvio1.htm [02.10.06]<br />

URL 1: queerbeogradeng.stanipanikolektive.com [25.3.2007]<br />

URL 2: www.queerbeograd.org<br />

42


Queer Studies<br />

Fachgebiet<br />

Tunten zwecklos!<br />

Schwule und/oder Männlichkeit<br />

Von Volker Woltersdorff alias Lore Logorrhöe<br />

Lange Zeit wurden männliche Homosexualität<br />

und männliche Weiblichkeit gleichgesetzt.<br />

Ausgehend von dem in emanzipatorischer<br />

Absicht entworfenen Modell Karl Heinrich<br />

Ulrichs, wurde im 19. Jahrhundert die gleichgeschlechtliche<br />

Orientierung durch die Präsenz<br />

einer weiblichen Seele erklärt, die in<br />

einen männlichen Körper eingesperrt sei. In<br />

der französischen Literatur des späten 19. und<br />

frühen 20. Jahrhunderts wurden homosexuelle<br />

Männer z.B. von Paul Verlaine und Marcel<br />

Proust <strong>als</strong> „Weibmänner“ bezeichnet. Inzwischen<br />

ist dies zwar nicht mehr die geltende<br />

Lehrmeinung, dafür wird diese Erklärungsformel<br />

jedoch nahezu unverändert für die Begründung<br />

von Transsexualität verwendet.<br />

Männliche Homosexualität, männliche Weiblichkeit<br />

und weibliche Transsexualität scheinen<br />

<strong>als</strong>o ein untergründiges und widersprüchliches<br />

Verhältnis zueinander zu unterhalten.<br />

Der neuere sexualwissenschaftliche Diskurs behauptet, dass sich<br />

geschlechtliche Nonkonformität im Kindesalter zu homosexueller<br />

Orientierung im Erwachsenenalter auswachse. 1987 veröffentlichte<br />

der Psychoanalytiker Richard Green eine Studie, in der er anhand der<br />

Figur des effeminierten sissy boy eine Entstehungsgeschichte des schwulen<br />

Mannes entwirft: Weil er wegen seines geschlechtsuntypischen Verhaltens<br />

von anderen Jungs und Männern abgelehnt wird, gelinge es dem jungen<br />

Schwulen nicht, eine männlich-heterosexuelle Identität zu entwickeln. Die<br />

Unsicherheit der eigenen Geschlechtsidentität und die Sehnsucht nach der<br />

<strong>als</strong> fremd und geschlossen erfahrenen Männergruppe übersetze sich dann in<br />

sexuelles Begehren (vgl. Green 1987). Dass aus sissy boys nicht nur Schwule,<br />

sondern auch Transen – hetero- wie homosexuelle – werden könnten, wird<br />

in diesen Ansätzen nicht berücksichtigt.<br />

Sexuelles Anderssein wird <strong>als</strong>o in dieser Vorstellungswelt durch die Abweichung<br />

von der männlichen Geschlechterrolle sichtbar gemacht. Straight<br />

sissies kommen in diesen Theorien daher nicht vor, obwohl sie sehr wohl<br />

existieren. Damit wird männliche Homosexualität <strong>als</strong> Feminisierung festgeschrieben<br />

und umgekehrt Feminisierung an männliche Homosexualität<br />

gekoppelt. Martin Dannecker rät jedoch, feminine Wünsche und homosexuelle<br />

Wünsche von Männern analytisch zu trennen: „Mir ist diese Differenzierung<br />

deshalb wichtig, weil ich glaube, dass die Bezeichnung der<br />

femininen Wünsche <strong>als</strong> homosexuell die Bedeutung der Homosexualität<br />

auch für die Entwicklung des homosexuellen Mannes viel zu sehr aufgeladen<br />

hat.“ (Dannecker 2008: 100) Tunten werden nämlich im Zuge dieser Aufladung<br />

zu einer allegorischen Verkörperung männlicher Homosexualität,<br />

die von den Medien z.B. anlässlich der CSD-Paraden gerne aufgegriffen<br />

wird, um für die Mehrheitsgesellschaft Homosexualität zu illustrieren und<br />

sichtbar zu machen.<br />

Schwule (und) Tunten<br />

Polette 1988<br />

Bild: Jürgen Baldiga<br />

Laut Duden bezeichnet der Begriff „Tunte“ umgangssprachlich einen Homosexuellen<br />

mit femininem Gebaren. Die Schwulenaktivisten der 1970er Jahre<br />

sprachen deshalb pauschal von allen Schwulen <strong>als</strong> „den Tunten“ in der Absicht,<br />

sich mit denjenigen zu solidarisieren, die wegen ihres effeminierten<br />

Habitus nicht <strong>als</strong> heterosexuell durchgehen konnten und deshalb homophoben<br />

Angriffen ausgesetzt waren. Sie wollten aber auch der Tuntenfeindlichkeit<br />

in der eigenen Szene begegnen. Der sich 1975 entzündende<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 43


Fachgebiet Queer Studies Tunten und Männlichkeit<br />

„Tuntenstreit“ zeigt, dass diese Politik auch innerhalb der<br />

Schwulenbewegung umstritten blieb. Denn die allegorische<br />

Repräsentation der männlichen Homosexualität durch die<br />

Tunte ist bei Schwulenpolitikern, die für die Akzeptanz durch<br />

die Mehrheitsgesellschaft werben, nicht gern gesehen. Die<br />

Tunte gilt <strong>als</strong> Integrationshemmnis.<br />

Anders <strong>als</strong> in der lesbischen gibt es in der schwulen Szene<br />

keine – zumindest öffentlich wahrnehmbare – erotische Kultur<br />

des Spiels mit Geschlechterpolaritäten, die mit butch/fem<br />

vergleichbar wäre. Schwule Paarkonstellationen mögen Differenzen<br />

des Alters, der Klasse oder der ethnischen Herkunft<br />

zulassen und erotisieren, Differenzen von Gender werden<br />

nicht begehrt. Hier gibt es nur butch loving butch, wenn man<br />

einen englischen Ausdruck der lesbischen Subkultur aufgreifen<br />

möchte. „Tunten zwecklos“ heißt es standardmäßig in der<br />

überwältigenden Mehrzahl von schwulen Kontaktanzeigen<br />

in den Printmedien und im Cyberspace.<br />

er sich einmal im Jahr diese Normen zu überschreiten gestattet.<br />

Er agiert dann seine weiblichen bzw. unmännlichen Anteile<br />

übertrieben aus und schafft ein vorübergehendes Ventil<br />

für die Anspannung, die ihm die männliche Selbstdisziplinierung<br />

sonst abnötigt: „Einmal im Jahr erlaube ich der Tunte<br />

in mir, sich in einer schummrigen Schwulenbar hemmungslos<br />

auszukreischen. Die restlichen 364 Tage stopft der Kerl<br />

in mir der Tunte das Maul. Reißt ihr das grelle Lachen vom<br />

Gesicht und setzt ein knappes, hartes Lächeln in den rechten<br />

Mundwinkel. Der Kerl leistet ganze Arbeit. Leicht ist es<br />

die verschreckte Tunte einzuschüchtern“ (Wirz 1994: 20). Bereits<br />

in den 1970er Jahren haben Dannecker und Reiche argumentiert,<br />

dass Schwule genaue Kenner der Grenze sind, die<br />

in der öffentlichen Wahrnehmung eine gepflegte männliche<br />

Erscheinung von einer schmierigen Tunte trennt (Dannecker/<br />

Reiche 1974: 341).<br />

Der butch shift<br />

Dieser auffällige Unterschied zur lesbischen Subkultur erklärt<br />

sich durch die gesellschaftliche Abwertung von Weiblichkeit<br />

und Unmännlichkeit, die auch von der schwulen<br />

Community reproduziert wird. Martin Dannecker und<br />

Reimut Reiche behaupteten bereits 1974: „Eine Tunte, das<br />

ist stets der andere, nämlich derjenige, der im Moment, wo<br />

ihn der eine <strong>als</strong> solche wahrnimmt, die Norm stärker verletzt<br />

<strong>als</strong> dieser. Anders ausgedrückt: je stärker die Identifizierung<br />

eines Homo sexuellen mit den Männlichkeitsidealen<br />

und Rollen normen seiner Gesellschaft, desto größer ist die<br />

Zahl der Tunten in seinem Kopf.“ (Dannecker/Reiche 1974:<br />

354) Ihre statistischen Erhebungen zur schwulen Tuntenfeindlichkeit<br />

aus der Bundes republik Mitte der 1970er Jahre<br />

sind 2001 für die USA durch Jod Kittiwut Taywaditep in sehr<br />

ähnlicher Weise bestätigt worden (Taywaditep 2001). Trotz<br />

oder gerade wegen der Normalisierung von Homosexualität<br />

hat die Tunten feindlichkeit homosexueller Männer nicht<br />

abgenommen.<br />

Vor diesem Hintergrund erscheint es folgerichtig, dass Tunten<br />

und feminine bzw. unmännliche Männer nicht hoch im<br />

Kurs stehen. Die Verweiblichung von Männern ist innerhalb<br />

dieser Logik eine Abwertung. Da, wie Judith Halberstam festgestellt<br />

hat, Männlichkeit eine begrenzte Ressource ist, gibt es<br />

aus diesem Grunde in der schwulen Szene einen Überschuss<br />

an Weiblichkeit und Unmännlichkeit, der allerorten lauert<br />

(Halberstam 1998: 287). Tuntig zu sein, muss man sich nicht<br />

erkämpfen. Man muss sich erkämpfen, davon ausgenommen<br />

zu werden. Mario Wirz erzählt in seiner Autobiografie, wie<br />

Die Schwelle von Tuntigkeit hat sich im Laufe der Jahre allerdings<br />

verändert. In den 1960er und 1970er Jahren wurde<br />

Androgynität bei Männern sehr viel eher toleriert <strong>als</strong> heute.<br />

Die späten 1970er verzeichneten dagegen eine verstärkte<br />

Hinwendung schwuler Männer zu Verkörperungen traditioneller<br />

Männlichkeitsideale, den so genannten butch shift<br />

(Woltersdorff 2007). Michael Bronski (1993) spricht davon,<br />

dass schwule Männer zu dem geworden seien, was sie begehrten,<br />

indem sie sich wie die Objekte ihrer Begierde<br />

stylen und an einer idealisierten heterosexuellen Männlichkeit<br />

ausrichten. Diese schwule „Vermännlichung“ oder diese<br />

Orientierung an Hetero-Männlichkeit fand vor einem gesellschaftlichen<br />

Hintergrund statt, der Männlichkeit in ihrer<br />

modernisierten Form rekonsolidiert hat. Damit einhergehend<br />

ist Homosexualität normalisiert worden, sodass sich<br />

auch Schwule vermehrt <strong>als</strong> „Männer“ erfahren können. Als<br />

ein Ergebnis wird Schwulsein für die Gesamtgesellschaft<br />

verdaulich – allerdings nur, sofern es gelingt, die Differenz<br />

zur heterosexuellen Männlichkeit auf ein Maß unterhalb der<br />

Wahrnehmungsschwelle zu minimieren.<br />

Als Reaktion auf die Beschädigung ihrer Männlichkeit begannen<br />

schwule Männer <strong>als</strong>o, Männlichkeit einzufordern und<br />

sich anzueignen. Die Ablehnung von Tuntigkeit – zumindest<br />

für den eigenen Selbstentwurf – muss deshalb immer<br />

im Zusammenhang mit dem homophoben Stigma gesehen<br />

werden, das Homosexualität und Effeminiertheit gleichsetzt<br />

und dem zufolge Schwule allein durch ihre sexuelle Orientierung<br />

keine richtigen Männer sind. Tom of Finland, der mit<br />

44


Tunten und Männlichkeit Queer Studies Fachgebiet<br />

seinen erotischen Zeichnungen erheblichen Einfluss auf die<br />

Maskulinisierung schwuler Selbstdarstellungen hatte, erinnert<br />

sich: „Ich fing damit an, meine Fantasien von freien und<br />

glücklichen schwulen Männern zu zeichnen. Bald begann<br />

ich, ihre Männlichkeit absichtlich zu übertreiben und zu betonen,<br />

dass nicht alle Schwulen notwendig ‚nur diese verdammten<br />

Perversen‘ [queers] sein müssen, dass sie genauso<br />

schön, stark und männlich wie jeder andere Mann sein können.“<br />

(zit. nach Simpson 1994: 133, Übers. vom Verf.)<br />

Die Maskulinisierung der Schwulen hat ihren Preis, nämlich<br />

die Entwertung eigener weiblicher oder <strong>als</strong> weiblich fantasierter<br />

Anteile. Dieses Phänomen, das Tim Bergling (2001)<br />

Sissyphobia nennt, hat Dirck Linck (2000: 136 f.) scharf verurteilt:<br />

„Systematisch entwertet wurden in der Community <strong>als</strong><br />

weiblich metaphorisierte Eigenschaften, Handlungsmuster,<br />

Sprachformen, Denkfiguren, weil sie der Integration in eine<br />

männlich dominierte Gesellschaft im Wege stehen. Wer an<br />

ihnen eigensinnig festhält, gerät <strong>als</strong> Gemeindemitglied unter<br />

Generalverdacht, Entwicklung zu behindern. Jetzt gilt auch<br />

unter Schwulen nur der Mann <strong>als</strong> ganzer Mann, der sich <strong>als</strong><br />

halber Mensch inszeniert. Tunten zwecklos.“ Waren Schwule<br />

früher mehrheitlich Verräter ihres Geschlechts, so sind sie<br />

heute mehrheitlich Verräter ihrer Weiblichkeit oder all dessen,<br />

was sie sich <strong>als</strong> vermeintlich weiblich verbieten.<br />

Tunten und/oder Weiblichkeit<br />

Doch können Tunten überhaupt mit Recht „weiblich“ genannt<br />

werden? Weiblichkeit und Unmännlichkeit sind nicht<br />

not wendig deckungsgleich. In einer heteronormativen zweige<br />

schlechtlichen Ordnung wird jedoch ein Weniger an<br />

Männ lichkeit automatisch mit einem Mehr an Weiblichkeit<br />

gleichgesetzt. Dass Tunten wenig mit Weiblichkeit zu tun<br />

haben, dafür aber umso mehr mit verdrängten Möglichkeiten,<br />

Männlichkeit zu leben, erhärtet eine Theorie von Thomas A.<br />

King (1994). King behauptet, dass Tunten gar keine Frauen<br />

kopieren, sondern männliche Aristokraten des Ancien Régime,<br />

deren Verhaltensweisen nach der bürgerlichen Revolution<br />

von den Männern des Bürgertums zurückgewiesen wurden.<br />

In diesen Zusammenhang passt auch das englische Wort für<br />

Tunten: Queens.<br />

Tunten sind in erster Linie Kunstfiguren und Bühnenexistenzen<br />

und keine ernst gemeinten Abbilder real existierender<br />

Weiblichkeiten. Und wenn Tunten nicht gerade auf<br />

einer Bühne sind, dann machen sie den Ort, an dem sie sich<br />

befinden, zu einer Bühne. Sie schaffen damit ein Setting, in<br />

dem männliche Weiblichkeit akzeptabel wird. Nach Ansicht<br />

der Transgender-Frau Michelle de Ville befinden sich Tunten<br />

deshalb in einer Art goldenem Käfig (zit. nach Namaste 1996:<br />

186). In diesem goldenen Käfig werden sie innerhalb der<br />

schwulen Szene toleriert, ja sogar gefeiert, dürfen aber diese<br />

engen Verhaltensvorgaben nicht verlassen. Auf diese Weise<br />

gelingt es denjenigen schwulen Männern, die keine Tunten<br />

sind oder sein wollen, ihre Männlichkeit <strong>als</strong> echt, ungespielt<br />

und authentisch zu erleben. Die Tunte funktioniert dann <strong>als</strong><br />

Negativfolie. Würde sie eine gleichberechtigte, ebenso begehrenswerte<br />

Identität repräsentieren, würde sie dagegen<br />

<strong>als</strong> Bedrohung erlebt. So aber erlaubt sie schwulen Männern,<br />

eigene Ängste vor Verweiblichung, Unmännlichkeit und der<br />

damit verbundenen Abwertung an die Tunte zu delegieren<br />

und in ihr totemistisch zu entschärfen.<br />

Dr. Volker Woltersdorff alias Lore Logorrhöe ist wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Institut für Komparatistik der Freien Universität<br />

Berlin und im Sonderforschungsbereich „Kulturen des<br />

Performativen“ (Teilprojekt: „Prekarisierung sexueller und geschlechtlicher<br />

Identitäten“).<br />

Literatur<br />

Bergling, Tim (2001): Sissyphobia. Gay Men and Effeminate Behavior. New<br />

York u.a., Southern Tier.<br />

Bronski, Michael (1993) [engl. 1991]: Ein Traum ist ein Wunsch Deines Herzens.<br />

In: Thompson, Mark (Hrsg.): Lederlust. Berlin, Bruno Gmünder. S. 91-100.<br />

Dannecker, Martin (2008): Freuds Dekonstruktion der sexuellen Normalität.<br />

In: Eggeling, Tatjana/Feddersen, Jan (Hrsg.): Queer Lectures 1-4. Hamburg,<br />

Männerschwarm. S. 79-107.<br />

Dannecker, Martin/Reiche, Reimut (1974): Der gewöhnliche Homosexuelle.<br />

Frankfurt a.M., S. Fischer.<br />

Green, Richard (1987): The “Sissy Boy Syndrom” and the Development of Masculinity<br />

and Femininity. New Haven, Yale UP.<br />

Halberstam, Judith (1998): Transgender Butch. Butch/FTM Border Wars and<br />

the Masculine Continuum. In: GLQ 4.2. Durham, Duke Univ. Press. S. 287-<br />

310.<br />

King, Thomas A. (1994): Performing “Akimbo” In: Meyer, Moe (Hrsg.): The Politics<br />

and Poetics of Camp. London/New York, Routledge. S. 23-50.<br />

Linck, Dirck (2000): Die Literatur und die Außenseiter – die Außenseiter und<br />

die Literatur. In: Setz, Wolfram (Hg.): Die Geschichte der Homosexualitäten<br />

und die schwule Identität an der Jahrtausendwende. Berlin, rosa Winkel. S.<br />

115-140.<br />

Namaste, Ki (1996): ‘Tragic Misreadings’. Queer Theory’s Erasure of Transgender<br />

Subjectivity. In: Beemyn, Brett/Eliason, Mickey (Hrsg.): Queer Studies.<br />

New York/London, New York UP. S. 183-203.<br />

Simpson, Mark (1994): A World of Penises. Gay Videoporn. In: Simpson, Mark<br />

(Hrsg.): Male Impersonators. London/New York, Routledge, S. 131-149.<br />

Taywaditep, Kittiwut Jod (2001): Marginalization Among the Marginalized:<br />

Gay Men’s Anti-Effeminacy Attitudes. In: Journal of Homosexuality 42.1, S.<br />

1-28.<br />

Wirz, Mario (1994) [zuerst 1992]: Es ist spät, ich kann nicht atmen. Berlin, Aufbau<br />

Taschenbuch Verlag.<br />

Woltersdorff, Volker (2007): »I Want to Be a Macho Man.« Schwule Diskurse<br />

über die Aneignung von Männlichkeit in der Fetisch- und SM-Szene.<br />

In: Bauer, Robin et al. (Hrsg.): Unbeschreiblich männlich. Hamburg, MännerschwarmSkript.<br />

S. 107-120.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

45


Fachgebiet<br />

Queer Studies<br />

Die Taube begehren<br />

Zu Dea Lohers „Manhattan Medea“<br />

Von Susanne Hochreiter<br />

Queere Lektüren bedienen sich eines Theorieund<br />

Methodenrepertoires, das sich aus feministischer<br />

Theorie, Gender Studies, Cultural<br />

Studies sowie Gay und Lesbian Studies speist.<br />

In den letzten Jahren gewinnen auch Postkoloniale<br />

Theorien im Kontext der Queer Studies<br />

an Bedeutung. Texte re/produzieren bestimmte<br />

Identitätskonzepte und können – beabsichtigt<br />

oder nicht – hegemoniale Strukturen bedienen.<br />

Zugleich lassen sie sich auch gegen den<br />

Strich lesen, umlesen und immer neu befragen.<br />

Texte sind niem<strong>als</strong> „fertig“ oder abgeschlossen.<br />

Sie eröffnen einen Raum für die Ideen und Assoziationen,<br />

für die Fragen und die Kritik ihrer<br />

Leser_innen. Jeder Text lässt sich „queer“ lesen.<br />

Es braucht keine „schwule“ oder „lesbische“<br />

Ge schichte. Es reicht, dass uns <strong>als</strong> Leser_innen<br />

eine (hetero-)normativitätskritische Perspektive<br />

interessiert, dass wir danach fragen, welche<br />

Konzepte von Gender, Sexualität, Race, Klasse<br />

einem Text eingeschrieben sind und danach,<br />

welche subversiven Lektüren er ermöglicht.<br />

Dea Loher beschäftigt sich in ihrem Stück „Manhattan Medea“ mit<br />

dem antiken Mythos von Medea und setzt sich damit auseinander,<br />

wie eine so oft wieder- und neuverfasste Erzählung für die<br />

Gegenwart ins Bild gesetzt werden kann, und zwar so, dass der Mythos<br />

nicht einfach reproduziert wird; wohl wissend, dass die „Arbeit am Mythos“<br />

nicht nur Kritik beinhaltet, sondern auch eine mythosstiftende Leistung.<br />

(vgl. Catani 2007: 316)<br />

Loher versetzt die Szenerie in die Gegenwart und nach Manhattan. Der<br />

Titel des Stücks sagt uns bereits, worum es geht. Wir kennen die Voraussetzungen<br />

dieser Erzählung. Medea ist mit Jason auf der Flucht vor dem<br />

Balkankrieg auf einem Schiff <strong>als</strong> illegale Einwanderin nach New York gekommen.<br />

Hier lebt sie mit ihm und dem gemeinsamen Sohn in heruntergekommenen<br />

Motelzimmern. Das Stück setzt ein mit Medea, die vor einem<br />

reichen Haus in der 5th Avenue steht. Sie sucht Jason, der hier seit kurzem<br />

mit seiner neuen Freundin Claire, der Tochter eines skrupellosen Fabrikanten,<br />

lebt. Am nächsten Tag soll Hochzeit sein. Medea will Jason von diesem<br />

Schritt abhalten. Er kann sich nicht entscheiden. Sie fügt sich scheinbar und<br />

führt durch, was ihr Name immer schon ankündigt: Sie tötet Claire und sie<br />

tötet das Kind.<br />

Das Stück variiert den Mythos um gegenwärtige Ereignisse und Zustände:<br />

der Balkankrieg der 90er Jahre, Flucht, Illegalisierung von Migrant_innen, soziales<br />

Elend in Großstädten, Ausgrenzung von minoritären Gruppen. In der<br />

Figur der Medea überkreuzen sich diese Ereignisse und die damit verbundenen<br />

Diskurse. Das Stück setzt zugleich den Mythos voraus, der sich gleichsam<br />

gegen den Willen der Protagonist_innen erfüllt. Beinah resignativ, kaum<br />

anders <strong>als</strong> durch den Mythos selbst motiviert, nimmt Medea ihr Schicksal auf<br />

sich, tötet Claire und erstickt am Schluss das Kind mit einem Müllsack. Es ist<br />

derselbe Müllsack, den Velazquez, ein Türsteher und Maler, verwendet, um<br />

sein Bild von Medeas Sohn, das er ihr schenkt, zu verpacken. Das Bild nun ist<br />

kein Porträt des „echten“ Kindes, sondern eine „Kopie“ des „echten“ Diego<br />

Velazquez, das den Infanten Philipp Prosper zeigt (1659). Mit der Figur des<br />

Velazquez und den Bildern, die im Stück genannt sind, ist das poetologische<br />

Thema des Stücks veranschaulicht: die Frage nach Original und Kopie sowie<br />

die mythopoietischen Möglichkeiten von Kunst. (vgl. Catani 2007: 328)<br />

Ebenfalls <strong>als</strong> „Kopie“ eines fragwürdigen (Geschlechts-)Origin<strong>als</strong> erscheint<br />

Deaf Daisy, ein tauber Transvestit. Vermittels dieser Figur wird nicht nur<br />

46


Queer Reading Queer Studies Fachgebiet<br />

die Vorstellung vom Ursprung einer Erzählung zurückgewiesen,<br />

sondern auch jene vom Ursprung oder Original eines<br />

Geschlechts. Sie repräsentiert einen Prozess der Repräsentation<br />

(von Geschlecht), der statt normativer Eindeutigkeit eine<br />

identitäre Uneindeutigkeit hervorbringt.<br />

ein Mensch der Gegenwart und alles andere <strong>als</strong> sozial privilegiert<br />

ist. Sie kramt im Müll nach alten Kleidern. Die gewaltsame<br />

Geschichte vom Verlust ihres Gehörs erzählt sie so, <strong>als</strong><br />

entstammte sie einem schlechten Film: „Die Jacke [der Vater]<br />

schoß dem Wickelrock [der Mutter] das Gehirn aus der Fassung.“<br />

(Loher 1999: 43)<br />

Deaf Daisy kennt Medea. Der Name und Medeas Geschichte<br />

scheinen ihr vertraut. Das Lied, das sie singt, ein altes mazedonisches<br />

Volkslied, ist das Leitmotiv dieser Geschichte,<br />

schon bevor sie mit Medea spricht. In dem Lied wird der/die<br />

Liebste besungen, der/die in der Fremde gesucht wird. Die/<br />

der Liebste aber sagt sich los, vergisst ihr/sein Versprechen<br />

und muss dafür sterben: „Was du besitzt, mein Herz, will ich<br />

in Flammen sehen, / dein Haus soll brennen, / und dein Gesicht<br />

eines Engels, / meine Taube, meine Taube, in meine offenen<br />

Hände / soll es fallen.“ (Loher 1999: 62)<br />

Zitat auf Velazquez’ Las Meninas<br />

Illustration: Judith Keppel<br />

Die Taube Daisy ist es, die für Medea das säurehaltige rote<br />

Kleid besorgt, das tödliche Hochzeitsgeschenk für Claire.<br />

Ihre Rolle besteht aber nicht allein in diesem Dienst bzw. ist<br />

dieser Dienst vielmehr <strong>als</strong> Dienst am Mythos zu verstehen,<br />

durch den sich der Mythos erfüllt und erneuert, aber auch<br />

um eine Nuance verschoben wird.<br />

Deaf Daisy ist taub, aber hört, was sonst niemand zu hören<br />

vermag: die Stille, die dem Tod voraus geht (vgl. Loher 1999:<br />

43). Sie weiß, wie schmerzhaft es ist, eine Frau zu „sein“. Er<br />

ist die Frau, die auf Beerdingungen singt, die Frau, „die mit<br />

dem Tod tanzt, ohne zu verstummen“ (Loher 1999: 44). Dass<br />

Medea den Namen zuerst missversteht – „Death Daisy“ –<br />

ist kein Irrtum. Diese Wahrnehmung von Geräuschen oder<br />

besser der Stille jenseits des für Menschen sonst Wahrnehmbaren<br />

lässt sie <strong>als</strong> transzendente Figur erscheinen, die den<br />

Eindruck erweckt, sich jenseits der sonst bestehenden Grenzen<br />

bewegen zu können: zwischen den Welten, jenseits von<br />

Zeit und Raum, zwischen Leben und Tod. Zugleich bleibt<br />

kein Zweifel, dass Deaf Daisy, ebenso wie Medea und Jason,<br />

Das „Hören“ und „Singen“ weisen über die Gegenwart des<br />

Stücks hinaus. Im 4. und 6. Abschnitt singt Deaf Daisy jeweils<br />

die erste Strophe des Liedes, das ein Kommentar und<br />

eine Vorausdeutung in Bezug auf das Geschehen zugleich ist:<br />

„Als ich in dieses Land kam, / dich zu suchen, mein Herz,<br />

dich zu suchen […]“. Erst nachdem Medea das Kind getötet<br />

hat, kann Deaf Daisy das Lied zu Ende singen oder besser:<br />

weitersingen. Die Narration, die immer schon und noch<br />

nicht weiß, ist die Arbeit des Mythos und des Logos. Mythen<br />

re/produzieren wie jede Erzählung eine Ordnung, die, wie<br />

Theodor Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik<br />

der Aufklärung“ zeigen, eine Ordnung des Logos ist, oder<br />

wie Hans Blumenberg formuliert: „Der Mythos selbst ist ein<br />

Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.“ (Blumenberg 1979:<br />

18) Charakteristisch für die „logozentrische“ Ordnung ist,<br />

dass sie ein Denken in Oppositionen ist, die einander bedingen,<br />

einander ausschließen und das „Dazwischen“ nicht benennen.<br />

Deaf Daisy ist eine Figur des Dazwischen, die die<br />

binäre Ordnung provoziert. Dass sie trotzdem oder deswegen<br />

zur Erzählinstanz und zur Stimme des Mythos wird,<br />

stellt in Frage, was der Mythos zu beantworten und zu erklären<br />

vorgibt: die komplexe und darin zuweilen bedrohliche<br />

Vielfalt der Erscheinungen.<br />

Im Lied wird „meine Taube, meine Taube“ angerufen. Die<br />

„Taube“, das „Täubchen“, das „Vögelchen“ ist im Text aber<br />

Claire. Claire ist demnach nicht nur Medeas verhasste Rivalin,<br />

sondern auch eine begehrte Frau. Medea selbst sagt:<br />

„Sie ist jung. Sie ist schön. Ihre Haut ist weiß.“ (Loher 1999:<br />

37) Statt „Jason und Medea“ sehen wir „Medea und Jason<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 47


Fachgebiet Queer Studies Queer Reading<br />

und Claire“. Jason selbst deutet im Text diese Möglichkeit<br />

an, wenn er vorschlägt, dass alle zusammen leben könnten.<br />

(Loher 1999: 37) Das Modell des „erotischen Dreiecks“ von<br />

Eve Kosofsky Sedgwick (vgl. Sedgwick 1992: 21) lehrt uns,<br />

dass hier in der erotischen Konkurrenz um den Mann ein<br />

äquivalenter und ebenso starker Bund zwischen den Rivalinnen<br />

besteht wie jener zwischen den Liebenden. Vielleicht<br />

handelt es sich um ein homoerotisches Begehren, gewiss um<br />

ein homosoziales Begehren: Medea begehrt die Unschuld<br />

und die Jugend Claires und den privilegierten Status der<br />

„Weißen“ Frau. Claire begehrt das, was „Medea“ bedeutet:<br />

die Rächerin, die Fremde, die Mörderin, aber auch: die weise<br />

Frau, die starke Frau, die sexuell aktive Frau, die virile Frau.<br />

Dea Loher zeigt durch diesen dem Stück immanenten Diskurs<br />

über Original und Kopie, dass die Repräsentation von Geschichten,<br />

(Geschlechter-)Ordnungen, (Sexualitäts-)Normen<br />

nie ganz vollständig und nie ohne Abweichung ist. Es sind<br />

diese Abweichungen, Variationen, „Fehler“, die einen Raum<br />

für das Nicht-Erzählte und das Dazwischen eröffnen.<br />

Susanne Hochreiter arbeitet <strong>als</strong> Literaturwissenschaftlerin am<br />

Institut für Germanistik der Universität Wien. Sie ist derzeit<br />

Visiting Assistant Professor am German Department der Wake<br />

Forest University in North Carolina.<br />

Literatur:<br />

Es ist die Taube, Deaf Daisy, die von diesen komplexen Beziehungen<br />

weiß und sie mit ihrem Lied besingt, begleitet,<br />

kommentiert, vorausdeutet: erzählt. Mehr noch: Über die im<br />

Wortspiel „Taube“ – der Vogel und die taube Person – enthaltene<br />

Selbstreferenz im Lied, das Daisy singt, entsteht ein<br />

Erzähl- und Reflexionsraum, der über die Grenzen des Mythos<br />

hinausweist: Welche Stimme hören wir dann, wenn<br />

„meine Taube“ besungen wird?<br />

Loher, Dea (1999): Manhattan Medea. Blaubart – Hoffnung der Frauen. Zwei<br />

Stücke. Frankfurt am Main, Verlag der Autoren.<br />

Blumenberg, Hans (1979): Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main, Suhrkamp.<br />

Catani, Stephanie (2007): Vom Anfang und Ende des Mythos. Medea bei Christa<br />

Wolf und Dea Loher. In: Monatshefte, Vol. 99, No. 3. S. 316-332.<br />

Kosofsky Sedgwick, Eve (1992): Between Men. English Literature and Male<br />

Homosocial Desire. New York, Columbia Univ. Press.<br />

Stephan, Inge (2006): Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen<br />

Figur. Köln (u. a.), Böhlau.<br />

Vermittels der Figur des Transvestiten etabliert Loher<br />

eine Bedeutungsebene, die den durch die Figur<br />

Velazquez re prä sentierten Diskurs über Kunst und<br />

Nachahmung um die Dimension von Geschlecht,<br />

Sexualität und Begehren er weitert. Zugleich ist diese<br />

materialisierte Erzählstimme des Mythos sichtbar<br />

und „hörbar“ eine des Dazwischen, der Veränderung<br />

und Variation. Das Lied zitiert und variiert den<br />

Mythos ebenso wie der neue Kontext „Manhattan<br />

in der Gegenwart“ den Mythos zitiert und variiert.<br />

Zudem verdeutlichen die im Stück erwähnten<br />

Bilder diese Bewegung und Entwicklung. Während<br />

„Philipp Prosper“ ein Gemälde ist, das einen Jungen<br />

porträtiert, zeigt der historische Diego Velazquez in<br />

seinen „Las Meniñas“ die Infantin in Zentrum eines<br />

Raums, für den sich durch verschiedene Blick- und<br />

Bedeutungsachsen ganz und gar nicht präzise sagen<br />

lässt, ob es ein Zentrum gibt und wo es sein könnte.<br />

Picassos Bilderserie „Las Meniñas“ zu zitieren ist<br />

eine gelungene Wendung am Ende des Textes: Es<br />

gibt eben nicht nur ein Bild, ein Original, dieses<br />

Titels, sondern viele „Originale“, die Variationen des<br />

Velazquez-Bildes darstellen.<br />

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48


Queer Studies<br />

Fachgebiet<br />

Polyamory<br />

Im Zerrspiegel heteronormativer Beziehungskultur<br />

Von Christian Klesse<br />

Polyamory beschreibt ein Beziehungskonzept,<br />

das es ermöglicht, romantische und/oder<br />

se xuelle Beziehungen mit mehreren Partner-<br />

Innen einzugehen. Das Wort ist seit den<br />

1970er Jahren im Englischen gebräuchlich<br />

und wird heute zunehmend in deutschsprachigen<br />

Diskussionen um Nichtmonogamie<br />

und Mehrfachbeziehungen verwendet.<br />

Etymologisch betrachtet, kombiniert der Begriff<br />

die lateinische Wortwurzel amor (Liebe)<br />

mit dem griechischen Wort poly (viele). Er<br />

kann wörtlich mit „viele Lieben“ oder „mehr<br />

<strong>als</strong> eine Liebe“ übersetzt werden. Polyamory<br />

versteht sich <strong>als</strong> eine ethische Praxis, die auf<br />

dem wissenden Einverständnis der in einem<br />

polyamourösen Arrangement miteinander<br />

verbundenen Personen beruht. Menschen<br />

unterschiedlicher sexueller Identitäten und<br />

Präferenzen fühlen sich von dieser Beziehungs<br />

philosophie angesprochen. Poly amory<br />

verarbeitet das gegenkulturelle Wissen verschiedener<br />

sexualpolitsicher Bewegungen<br />

und Subkulturen. Die Zurückweisung von<br />

Zwangsmonogamie und der These einer universellen<br />

Überlegenheit der Paarbind ung<br />

begründet das heteronormativitätskritische<br />

Potenzial polyamouröser Praxis.<br />

Die Verbindung mit einem geliebten Menschen in einer dauerhaften<br />

heterosexuellen Paarbeziehung – und im besten Fall Eheschließung<br />

mit anschließender Familiengründung – ist nach<br />

gängi ger Meinung nach wie vor entscheidender Indikator eines glücklichen<br />

und „erfolgreichen“ Lebensweges. Heterosexuelle Beziehungskultur<br />

orientiert sich an einem idealisierten Bild der Liebe und einem Intimitätsverständnis,<br />

das monogame Zweisamkeit zu einem essenziellen Kriterium<br />

authentischer Nähe stilisiert. Obwohl Forschungen eine Zunahme von<br />

Beziehungsfluktuation und Lebensweisen, die auf einem „Single“-Status<br />

beruhen, auch unter heterosexuellen Menschen (insbesondere jüngerer Generationen)<br />

bestätigen, ist der Wunsch nach einer verbindlichen Paarbeziehung<br />

für viele weiterhin ungebrochen (vgl. Schmidt et al. 2006: 23-64).<br />

Sex außerhalb klar definierter Beziehungsgrenzen wird immer noch von<br />

vielen <strong>als</strong> ein ethisches Problem erachtet. Monogamie markiert einen wichtigen<br />

Wert in einer christlich geprägten europäischen Beziehungskultur.<br />

Diese tiefe kulturelle Verankerung basiert jedoch nicht nur auf einer religiös<br />

begründeten Sexualablehnung (vgl. Bronski 1999). Texte der frühen europäischen<br />

Sexualwissenschaft verdeutlichen, dass heterosexuelle Monogamie<br />

<strong>als</strong> Zeichen einer zivilisatorischen Errungenschaft gedeutet wurde. In<br />

seinem einflussreichen Werk Psychopathia Sexualis (1886) feierte z.B. Richard<br />

Krafft-Ebing die Institutionalisierung der Ehe in den christlichen Nationen<br />

<strong>als</strong> ein Zeichen ihrer moralischen, intellektuellen und „rassischen“ Überlegenheit<br />

über sexuell freizügigere oder „polygame“ nicht-westliche oder<br />

nicht-weiße Bevölkerungen (vgl. Willey 2006: 531-33). Hierin verdeutlicht<br />

sich die tiefe Durchdringung europäischen Sexualwissens mit rassialisierten<br />

und rassistischen Annahmen (vgl. Somerville 2000: 15-38): eine Verquickung,<br />

die auch gegenwärtige Sexualitätsdiskurse (einschließlich derer<br />

über Polyamory) kennzeichnet (vgl. Haritaworn et al. 2006: 521-23). Das Beziehungs-<br />

und Sexualitätsverständnis in euro-amerikanischen Kulturen hat<br />

sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark gewandelt, ein Prozess, den Steven<br />

Seidman <strong>als</strong> eine „Sexualisierung der Liebe“ und eine „Erotisierung der Sexualität“<br />

bezeichnet (Seidman 1991: 63-91). In den Nachkriegsjahrzehnten,<br />

insbesondere in den 1960ern und 1970ern begann der körperliche Aspekt<br />

von Liebe und Intimität in den Vordergrund zu rücken. Das öffnete den<br />

Raum für eine Rekonzeptualisierung der Sexualität <strong>als</strong> Ausdruck sinnlicher<br />

Lust, des Selbstausdruckes und der Kommunikation. In verschiedenen kulturellen<br />

Milieus artikulierte sich eine Unzufriedenheit mit der Beschränktheit<br />

dominanter Beziehungspraxen. Unterschiedliche soziale Bewegungen<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 49


Fachgebiet Queer Studies Polyamory<br />

entwickelten spezifische Spielarten einer Kritik an Paarkultur,<br />

Monogamieforderung und gängiger Sexualverneinung.<br />

FeministInnen attackierten ein entsexualisiertes Femininitätsverständnis<br />

und die Unterminierung weiblicher erotischer<br />

Selbstbestimmung im heteropatriarchalen Beziehungsbild.<br />

Die Ideologiekritik der neuen Linken sah in der Monogamieforderung<br />

eine Fortsetzung bürgerlichen Besitzdenkens.<br />

KommunardInnen unterschiedlicher Weltanschauungen erprobten<br />

Freie Liebe und Sexualität <strong>als</strong> eine Dimension kollektiver<br />

Erfahrung und gemeinschaftlichen Lebens. Lesbian<br />

and gay liberationism entlarvte Monogamie und Zweierkult <strong>als</strong><br />

Kernelemente einer heteronormativen Zwangskultur. Unter<br />

den Bedingungen der Tabuisierung gleichgeschlechtlichen<br />

Begehrens und Lebens hatten sich in lesbischen und schwulen<br />

Räumen und Netzwerken ohnehin nicht- konventionelle<br />

Beziehungsformen und Lebensweisen entwickelt. Nichtmonogamie<br />

und ein freizügiger Umgang mit Sexualität war ein<br />

fester Bestandteil insbesondere schwuler subkultureller Sozialität<br />

(z.B. um cruising und Saunas). Eine Fülle von Forschungen<br />

zeigt ganz deutlich, dass Nichtmonogamie ein<br />

wichtiger Bestandteil des Beziehungslebens vieler schwuler<br />

(und bisexueller) Männer ist (vgl. Weeks et al. 2001: 33-35).<br />

Auch in der frühen lesbischen Bewegung war Monogamiekritik<br />

ein durchaus wichtiges Thema, wie es unter anderem<br />

im Lesbian Polyamory Reader, einer der ersten wichtigen Publikationen<br />

zu Polyamory, dokumentiert ist (vgl. Munson/ Stelboum<br />

1999). Die frühe politische bisexuelle Bewegung erhielt<br />

ebenso sehr starke Impulse durch sexradikale Bisexuelle, die<br />

sich unter anderem im Umfeld der BDSM (Bondage & Discipline,<br />

Dominance & Submission, Sadism & Masochism) und<br />

Swinger Subkulturen verorteten (vgl. Queen 1997: 39-47). Sowohl<br />

in queeren, <strong>als</strong> auch in heterosexuellen BDSM-Szenen<br />

sind nichtmonogame Lebensweisen und Beziehungsformen<br />

recht weit verbreitet (vgl. Elb 2000). Da Polyamory sich aus<br />

dem kulturellen Wissen und der ideologiekritischen Arbeit<br />

vielfältiger Bewegungen speist, kann dieser spezifische Diskurs<br />

der Nichtmonogamie nur im Kontext einer solch komplexen<br />

Genealogie zureichend begriffen werden.<br />

Auch politisch wäre es meines Erachtens wünschenswert,<br />

wenn die Polyamorybewegungen und die weitere Öffentlichkeit,<br />

die vor einigen Jahren begann von Polyamory Notiz zu<br />

neh men, sich mit diesem historischen Erbe auseinandersetzen<br />

würden. Es ist jedoch auffällig, dass Poly-AktivistInnen in<br />

ihrem gegenwärtigen Bestreben, Öffentlichkeit und Akzeptanz<br />

zu gewinnen, oft versuchen, ein Bild von Polyamory<br />

zu entwerfen, das eine zu starke Nähe zu sexradikalen oder<br />

queeren Milieus vermeidet. So grenzten sich viele der polyamourösen<br />

TeilnehmerInnen meiner Studie in Großbritannien<br />

offensiv von stärker durch Sex definierten kulturellen<br />

Praxen ab (wie z.B. swinging, dogging oder cruising) (vgl. Klesse<br />

2007a: 107-114). Bis vor kurzem war Polyamory nur einem<br />

kleinen Kreis von Eingeweihten ein Begriff. Vor allem über<br />

das Internet haben sich Diskussionen zu Polyamory intensiviert.<br />

Während es in den USA schon seit einigen Jahrzehnten<br />

etablierte polyamouröse Szenen in vielen größeren Städten<br />

gibt, hat eine stärkere Vernetzung in europäischen Ländern<br />

erst in den letzten Jahren stattgefunden. Ein Teil der sich formierenden<br />

Polyamorybewegungen bemüht sich dabei stark<br />

um eine „Politik der positiven Bilder“, um die gängigen Klischees<br />

und Vorurteile zu entkräften. Dies beinhaltet auch eine<br />

Strategie bewusster Medienarbeit. In den letzten Jahren sind<br />

zum Thema sowohl in Print- <strong>als</strong> auch in elektronischen Medien<br />

vermehrt Beiträge erschienen (vgl. Ritchie/Barker 2006:<br />

584-585). Auch wenn viele Berichte und Dokumentationen<br />

„Viel Liebe“<br />

Bild: Hannah Indrak<br />

vor allem ein voyeuristisches Interesse bedienen und einen<br />

sensationalistischen Tonfall haben, gibt es auch unter JournalistInnen<br />

offensichtlich das Bedürfnis, ein letztendliches, normatives<br />

Bild der Polyamory zu entwerfen. Pal, ein Teilnehmer<br />

meiner Studie zu Nichtmonogamie in Großbritannien, der in<br />

den letzten Jahren viel Pressearbeit geleistet hat, beschreibt<br />

zwei gegenläufige Tendenzen der Herangehensweisen unter<br />

JournalistInnen. Während ein kleiner Prozentsatz nach möglichst<br />

„extremen“ und „erregenden“ Beispielen sucht, ist der<br />

Großteil an einem Kontakt mit möglichst „unauffälligen“<br />

oder „normalen“ Personen interessiert. Ihr Interesse galt vor<br />

allem einer Vermittlung von weißen, englischen, heterosexuellen<br />

Mittelklassepaaren, die vielleicht eine weitere Person in<br />

ihre Beziehung aufgenommen hatten. „Sie sprechen oft von<br />

Polypaaren, was eigentlich ein Warnsignal ist, denn Poly-<br />

Leute kriegt man gewöhnlich nicht in Paaren“. Als ich letztes<br />

Jahr mit einer Journalistin über meine Forschung zu Polyamo-<br />

50


Polyamory Queer Studies Fachgebiet<br />

ry sprach, kommentierte sie meine Worte über die Relevanz<br />

schwuler, lesbischer und BDSM Beziehungsformen mit dem<br />

Hinweis, dass das alles sehr interessant sei, aber bei weitem<br />

zu radikal, um in einem Beitrag für das Magazin der großen<br />

Tageszeitung, für welches sie schrieb, Berücksichtigung<br />

zu finden. Die begrenzten Kontakte, die ich aufgrund meiner<br />

Publikationen in den letzten Jahren mit JournalistInnen<br />

während ihrer Recherche für verschiedenste Beiträge zu Polyamory<br />

hatte, belegen vor allem ein Interesse an heterosexuellen<br />

Mehrfachbeziehungen. Queere Polyamory ist nach wie<br />

vor außerhalb des im mainstream Mediendiskurs Sagbaren<br />

verortet. Das Thema wird erst seit kurzem in einer breiteren<br />

Öffentlichkeit behandelt und bisher liegen nur wenige Studien<br />

zu Polyamory vor. In der kritischen Sexualforschung,<br />

ganz zu schweigen von anderen Wissenschaftsfeldern, hat es<br />

bisher wenig Auseinandersetzung mit diesem Konzept gegeben<br />

(vgl. Klesse 2007b). Polyamory ist ein potenziell offener<br />

Diskurs mit einer komplexen Geschichte, in der das<br />

gegenkulturelle Wissen verschiedener Bewegungen<br />

miteinander in Berührung kommt. Als WissenschaftlerInnen,<br />

Kulturschaffende, Textproduzent Innen,<br />

Intellektuelle oder AktivistInnen können wir alle<br />

dazu beitragen, die queeren und sexradikalen Elemente<br />

dieser Diskurse nicht aus dem Blickfeld geraten<br />

zu lassen. Geschichte ist auch eine Frage der<br />

Repräsentation(en) – und es macht einen großen<br />

Unterschied, welche Geschichten das sind – und<br />

wie sie erzählt werden.<br />

Do or How we Feel So we have to Make them Up”: Constructing Polyamorous<br />

Languages in a Culture of Compulsory Monogamy. In: Sexualities, 9(5).<br />

S. 584-601.<br />

Schmidt, Gunter / Matthiesen, Silja/ Dekker, Arne/ Starke, Kurt (2006): Spätmoderne<br />

Beziehungswelten. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften.<br />

Seidman, Steven (1991): Romantic Longings. Love in America, 1830-1980. London,<br />

Routledge.<br />

Somerville, Shiobhan B. (2000): Queering the Coulour Line. Race and the Intervention<br />

of Homosexuality in American Culture. London and Durham, Duke<br />

University Press.<br />

Weeks, Jeffrey / Heaphy, Brian/ Donovan, Catherine (2001): Same-Sex Intimacies.<br />

Families of Choice and Other Life Experiments. London, Routledge.<br />

Willey, Angela (2006): ”Christian Nations”, “Polygamic Races” and Women’s<br />

Rights: Towards a Genealogy of Non/Monogamy and Whiteness, Sexualities,<br />

9 (5), 530-546.<br />

ANZEIGE<br />

Christian Klesse: Cultural Studies, Manchester Metropolitan<br />

University, UK. Forschungsinteressen: Sexuelle Lebensweisen,<br />

soziale Bewegungen, sexuelle Politiken, body<br />

modification. [Kontakt: c.klesse@mmu.ac.uk]<br />

Literatur<br />

Bronski, Michael (1999): The Pleasure Principle. Sex, Backlash, and<br />

the Struggle for Gay Freedom. New York, St. Martins Press.<br />

Elb, Norbert (2006): SM-Sexualität. Selbstorganisation einer sexuellen<br />

Subkultur. Gießen, Psychosozialverlag.<br />

Haritaworn, Jin/ Lin, Chin-ju / Klesse, Christian (2006): Poly/Logue. A<br />

Critical Introduction to Polyamory. In: Sexualities 9 (5). S. 515-529.<br />

Klesse, Christian (2007a): The Spectre of Promiscuity. Gay Male and<br />

Bisexual Non-Monogamies and Polyamories. Aldershot, Ashgate.<br />

Klesse, Christian (2007b): Polyamory – von dem Versprechen, viele<br />

zu lieben. Ein Kommentar zum Forschungsstand. In: Zeitschrift für<br />

Sexualforschung, 20. S. 316-330.<br />

Munson, Marcia/ Stelboum, Judith P. (Hg.) (1999): The Lesbian Polyamory<br />

Reader. Open Relationships, Non-Monogamy and Casual Sex.<br />

London, Harrington Park Press.<br />

Queen, Carol (1997): Real Live Nude Girl. Chronicles of Sex-Positive<br />

Culture. San Francisco, Cleis Press.<br />

Ritchie, Ani / Barker, M. (2006): ”There Aren’t Words for What we<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

51


Fachgebiet queer studies Simone de Beauvoir<br />

„Was ist eine Frau?“<br />

Simone de Beauvoir zum 100. Geburtstag<br />

Von Aline Oloff<br />

Simone de Beauvoir war eine der bedeutendsten Intellektuellen<br />

des 20. Jahrhunderts. Sie war Philosophin, Schriftstellerin,<br />

Vordenkerin des Feminismus und politisch Aktive. Heute<br />

wird sie vor allem <strong>als</strong> Denkgefährtin Jean-Paul Sartres wahrgenommen<br />

und <strong>als</strong> Autorin des feministischen Grundlagentextes<br />

Das andere Geschlecht gewürdigt.<br />

Im Jahr 1908 geboren, gehörte Simone de Beauvoir zur ersten<br />

Generation von Frauen, die Zugang zur bis dahin ausschließlich<br />

Männern vorbehaltenen universitären Bildung hatte. Für<br />

die Tochter aus gutem, allerdings verarmtem Hause, stand<br />

früh fest, dass sie einen Beruf ergreifen musste. Den damaligen<br />

Vorstellungen entsprechend, lag der Lehrberuf nahe. So<br />

studierte sie Literatur und Mathematik und ab 1926 Philosophie<br />

an der Sorbonne. 1929 bestand sie die schwierige Zulassungsprüfung<br />

für die universitäre Lehre, die Agrégation. Damit<br />

wurde sie eine der ersten weiblichen agrégées der Philosophie<br />

in Frankreich. Simone de Beauvoir absolvierte den Concours<br />

<strong>als</strong> Zweitbeste – Bester des Jahrgangs wurde der drei Jahre<br />

ältere Jean-Paul Sartre, mit dem sie zu diesem Zeitpunkt bereits<br />

unzertrennlich war. Interessanterweise ist es diese Platzierung,<br />

die in der Erzählung des Lebens der Beauvoir immer<br />

wieder auftaucht – und weniger die Tatsache, <strong>als</strong> eine der ersten<br />

Frauen in der Männerdomäne Philosophie erfolgreich gewesen<br />

zu sein.<br />

Simone de Beauvoir selbst beschrieb sich zeitlebens <strong>als</strong> Schriftstellerin,<br />

die große Philosophie überließ sie, zumindest in der<br />

Außendarstellung, Jean-Paul Sartre. Mit diesem war sie ein<br />

Leben lang vor allem in geistiger Nähe und intellektuellem<br />

Austausch verbunden. Bereits im Jahr der Agrégation hatten<br />

beide in ihrem berühmten Pakt die „notwendige Liebe“ besiegelt,<br />

die wechselseitige Loyalität, nicht aber sexuelle Treue<br />

bedeutete. Andere Liebesbeziehungen waren zugelassen, ihre<br />

Verbindung aber sollte die bleibende sein.<br />

Sartre weiterhin an seinem philosophischen System arbeitete,<br />

veröffentlichte Simone de Beauvoir erste Romane und wurde<br />

damit überaus erfolgreich. Für ihr zweibändiges Werk Die<br />

Mandarins von Paris erhielt sie 1954 den wichtigsten französischen<br />

Literaturpreis, den Prix Goncourt. Neben ihrer schriftstellerischen<br />

und philosophischen Arbeit, engagierten sich<br />

beide auch politisch: gegen den Krieg in Algerien, später gegen<br />

den Vietnamkrieg und Ende der 1960er Jahre für die Sache der<br />

Arbeiterschaft und StudentInnen. In dieser Zeit wurde Simone<br />

de Beauvoir auch <strong>als</strong> Vordenkerin des Feminismus entdeckt.<br />

Bereits im Jahr 1949, in einer Zeit, in der der Feminismus des<br />

19. und frühen 20. Jahrhunderts nahezu in Vergessenheit geraten<br />

war, hatte sie die umfassende empirisch-historische<br />

Bestandsaufnahme der Situation der Frau und deren philosophische<br />

Begründung vorgelegt: Das andere Geschlecht. Sie war<br />

damit zunächst auf Unverständnis gestoßen. Die detaillierten<br />

Beschreibungen weiblicher Lebensumstände wurden höchstens<br />

<strong>als</strong> Skandal empfunden und lösten Widerstand seitens<br />

der katholischen Kirche aus. Zwanzig Jahre später wurde das<br />

Buchzu einem der Leittexte der Frauenbewegung.<br />

Ausgehend von der Frage: „Was ist eine Frau?“ trägt Beauvoir<br />

im ersten Band Fakten und Mythen aus Biologie, Literatur, Geschichte,<br />

Politik und Psychoanalyse zusammen, um anschließend<br />

am Beginn des zweiten Buches zu folgern: „Man kommt<br />

nicht <strong>als</strong> Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, psychische<br />

oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest,<br />

die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt“ (Beauvoir<br />

1997: 334). Darauf folgt die ausführliche Beschreibung<br />

davon, wie ein Mensch zur Frau wird. Die Quintessenz der<br />

von Simone de Beauvoir unternommenen Untersuchung, dass<br />

es die Situation und „nicht irgendein geheimnisvolles Wesen“<br />

(ebd.: 880) ist, welche die Handlungsmöglichkeiten von Frauen<br />

begrenzt, war 1949 revolutionär und ist bis heute von ungebrochener<br />

Aktualität.<br />

Nach einer kurzen Zeit <strong>als</strong> PhilosophielehrerInnen in der Provinz,<br />

lebten beide <strong>als</strong> Intellektuelle in Paris und überstanden<br />

dort Krieg sowie die deutsche Besatzung relativ unbeschadet.<br />

Die während dieser Zeit entwickelte existenzialistische Philosophie<br />

wurde ab den 1940er Jahren sehr einflussreich. Während<br />

Aline Oloff studierte Romanistik und Gender Studies in Berlin und Paris<br />

und arbeitet an einer Promotion über Gender-Theorien in Frankreich.<br />

Literatur<br />

Beauvoir, Simone de (1997): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau.<br />

Neuübersetzung. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt.<br />

52


EUROPA<br />

REGION<br />

Corporate Identity & Nation-Branding<br />

Von der Markenführung politischer Institutionen<br />

Von Judith Keppel<br />

Unmittelbar nach Beginn der österreich ischen<br />

Ratspräsidentschaft 2006 konnte man in der<br />

österreichischen Öffentlichkeit das plötzliche<br />

und massenhafte In-Erscheinung Treten<br />

eines neuen Symbols beobachten. Es fand<br />

sich an verschiedenen Orten und in unzähligen<br />

Anwendungen und markierte so den Zeit-<br />

Raum Österreichs im ersten Halb jahr 2006.<br />

Das Logo, das in der Zusam menstellung der<br />

Flaggenfarben aller Mitgliedsländer der EU<br />

ein buntes und auffälliges Streifenmuster ergibt,<br />

durchdrang innerhalb kürzester Zeit unzählige<br />

Bereiche des Alltagslebens und hatte<br />

einen wiederkehrenden Auftritt in Nachrichtenmagazinen<br />

und Werbeschaltungen. In dieser<br />

Weise löste es etwas ein, das das neue<br />

marketing-technische Konzept des Nation-<br />

Branding dem öffent lichen Auftritt von Nationen,<br />

Verwaltungen, Orten, politischen<br />

Institutionen und Veranstaltungen explizit<br />

empfiehlt, nämlich eine visuelle Repräsentation<br />

nach dem Muster werbetechnischer Corporate<br />

Designs und Kommunikationspolitiken.<br />

Im Jahr 2001 wurde der niederländische Star-Architekt Rem Koolhaas<br />

und seine Agentur OMA (Office for Metropolitan Architecture) von der<br />

Europäischen Kommission damit beauftragt, über die architektonischen<br />

Repräsentationen der Europäischen Union in Brüssel zu reflektieren.<br />

Ergebnis dieser Überlegungen war nicht nur eine kritische Beurteilung<br />

der architektonischen Einrichtungen der EU, sondern darüber hinaus auch<br />

die Diagnose eines generellen „ikonographischen Defizits“ der Union. Laut<br />

der Agentur fehle es der EU an starken, emotionalen Symbolen sowie der<br />

Verankerung solcher Symbole im Alltagsleben der Menschen. Konsequenz<br />

dieses Defizits seien Image- und Legitimationsprobleme, die sich nur durch<br />

einen erneuerten öffentlichen Auftritt beheben ließen. Die Agentur machte<br />

es sich daher weiter zur Aufgabe, einen Lösungsvorschlag für dieses Defizit<br />

zu erarbeiten und entwarf ein Konzept für ein Re-Design im Stil zeitgenössischer<br />

Corporate Designs betriebswirtschaftlicher Markenführungen. Geleitet<br />

war diese Konzipierung von dem Gedanken, dass ein neues starkes<br />

Symbol gestaltet werden müsse, das die Union Europas in ihrer „bunten<br />

Vielfalt“ darstelle – ein Zeichen, das positiv und inspirierend wirke, sich<br />

massenmedial verbreiten ließe und ein neues Europa-Bewusstsein erzeugen<br />

könne (vgl. Koolhaas 2004).<br />

Im Geiste dieses Vorsatzes gestaltete die Agentur ein neues EU-Logo, das in<br />

einer Aneinanderreihung der Flaggenfarben der Mitgliedsländer zu einem<br />

„Barcode“ ein fröhliches, buntes und facettenreiches Miteinander der europäischen<br />

Nationen visualisierte. Obwohl für die Gestaltung keine tatsächliche<br />

Realisierung vorgesehen war, sondern die Entwürfe eher einen Impuls<br />

zur kritischen Reflexion über die visuellen Repräsentationen der EU darstellen<br />

sollten, wurde das hier entworfene grafische Konzept bereits für<br />

verschiedene Anwendungen ausgeführt. Neben den üblichen Gestaltungen<br />

eines Corporate Designs, wie etwa Visitenkarten und Geschäftsdrucksorten,<br />

wurden auch TV-Bildschirmhintergründe, Reisepässe sowie Sublogos<br />

für die halbjährlich ihren Vorsitz wechselnden Ratspräsidentschaften entworfen.<br />

Hierfür wurden die Flaggenfahnen des jeweiligen Mitgliedslandes<br />

nach unten verlängert und so akzentuiert. 2006 bekam die österreichische<br />

Version dieser Sublogos die Gelegenheit zur kommunikationspolitischen<br />

Realisierung. Sie wurde im Vorfeld der Vorbereitungen für die österreichische<br />

Ratspräsidentschaft vom Bundespressedienst gekauft und mit Hilfe<br />

der österreichischen Werbeagentur PKP proximity zu einem umfassenden<br />

Werbe- und PR-Konzept ausgearbeitet.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 53


REGION EUROPA Corporate Identity & Nation Branding<br />

Das Logo der österreichischen Ratspräsidentschaft<br />

2006<br />

Wenngleich heute allgemein ein Einfließen marketing-technischen<br />

Know-Hows in die Politik festgestellt werden kann<br />

(vgl. Filzmaier 2006: 45) und somit auch eine EU- Ratspräsidentschaft<br />

nicht mehr ohne Logo auskommen möchte,<br />

war die österreichische Ratspräsidentschaft 2006 ein besonderes<br />

Beispiel für die weitreichenden Möglichkeiten von<br />

marketing-technischen Gestaltungen im Rahmen politischer<br />

Veranstaltungen. Das Logo wurde dabei nicht nur auf Geschäftsdrucksorten,<br />

Arbeitsunterlagen und Informationsmaterial,<br />

für den Internetauftritt und für eine umfassende<br />

Gestaltung der Konferenzen angewendet. Es fand sich auch<br />

auf den vielfältig produzierten Give-Aways und wiederkehrend<br />

in den die Präsidentschaft begleitenden Werbekampagnen<br />

unter den selbstredenden Slogans „Was hat uns die EU<br />

gebracht“ und „Die EU hört zu“, die im Zeitraum 2005 bis<br />

2006 in Printmedien, TV und Internet geschaltet wurden.<br />

Des Weiteren sorgten die Verantwortlichen der Kommunikationspolitik<br />

für eine Be-Zeichnung wichtiger Knotenpunkte<br />

des Nah- und Fernverkehrs, gewährleisteten mit regelmäßigen<br />

Inszenierungen für die Presse eine wiederkehrende Präsenz<br />

in den Abendnachrichten und Tageszeitungen und<br />

verteilten das Logobild durch Werbegeschenke und beiläufig<br />

platzierte Anwendungen (wie etwa auf Supermarkt-Tragetaschen)<br />

unter der Bevölkerung. Darüber hinaus gab es aber<br />

noch einige spezielle Werbeideen, die selbst diese weitgehenden<br />

kommunikationspolitischen Dimensionen übertrafen.<br />

Zu erwähnen ist hier etwa die gänzlich im Logo-Muster<br />

gestaltete Außenwand der Ausstellung The Image of Europe,<br />

die im Frühjahr 2006 am Heldenplatz im Innenraum eines<br />

Großzeltes installiert worden war und die/eine Geschichte<br />

Europas und der EU nachzeichnete. Eine weitere, außergewöhnliche<br />

Anwendung war die Kreation von „Sublogos“ für<br />

die Auftaktkonferenz The Sound of Europe in Salzburg sowie<br />

für den EU-LAK-Gipfel gegen Ende der Ratspräsidentschaft,<br />

wobei das Ausgangslogo in beiden Fällen leicht modifiziert<br />

wurde, um die Leitthemen dieser beiden besonderen<br />

Konferenzen zu visualisieren. In dieser sehr umfassenden<br />

Werbe- und Kommunikationsgestaltung der österreichischen<br />

Ratspräsidentschaft wurde somit in mehrfacher Weise jene<br />

Forderung eingelöst, die Koolhaas 2001 im Rahmen seiner<br />

– rein zur Provokation einer kritischen Reflexion gedachten<br />

– Gestaltungen formuliert hatte: „Look beyond Europe‘s current<br />

symbols (the flag, passport, and the Euro); develop a visual<br />

language for all Europe’s appearances (advertisements,<br />

commerci<strong>als</strong>, publications, websites, etc …); make Europe<br />

invade daily life: boost Europe‘s media presence …“ (Koolhaas<br />

2004: 384). Die Formulierung dieser Forderung macht<br />

deutlich, dass es sich um die Forderung nach einem markenhaften<br />

Auftritt der politischen Institution der EU handelt<br />

– eine rezente kulturelle Praxis, die bereits unter dem marketingtechnischen<br />

Begriff des Nation-Branding (oder auch<br />

Place-Branding) zusammengefasst wurde.<br />

Nation-Branding <strong>als</strong> Markenführung politischer<br />

Institutionen<br />

Beim so genannten Nation-Branding werden Überlegungen<br />

der Werbelehre und des Marketing auf die Planung des öffentlichen<br />

Auftritts von Verwaltungen, Orten, politischen Institutionen<br />

und Veranstaltungen angewandt. Einer der führenden<br />

VertreterInnen dieser Anwendung unternehmerischer Planungen<br />

auf politische Öffentlichkeiten ist Wally Olins, der in<br />

seinem 2004 verfassten Buch Marke, Marke, Marke – den Brand<br />

stärken explizit empfiehlt, Nationen <strong>als</strong> Marke zu definieren,<br />

um Direktinvestitionen, Export und Tourismus anzukurbeln<br />

sowie Investoren vom jeweiligen Standort zu überzeugen<br />

(vgl. Olins 2004: 141 ff.). Ein solches Place-Branding wurde vor<br />

drei Jahren auch mit der Stadt Manchester durchgeführt, mit<br />

deren „Relaunch“ der anerkannte Designer Peter Saville beauftragt<br />

wurde. In einem Interview für die Design Zeitschrift<br />

form antwortete der <strong>als</strong> „Creative-Director Brand-Manche-<br />

Das Logo <strong>als</strong> „Schlüsselreiz” der EU|AT 2006<br />

Illustration: Judith Keppel<br />

54


Corporate Identity & Nation-Branding EUROPA REGION<br />

ster“ bezeichnete Designer auf die Frage, ob er jede Stadt<br />

generell für einen „Brand“ halte: „Ja, wenn wir uns klar machen,<br />

was ein Brand ist. Nämlich etwas, an das die Menschen<br />

glauben. Etwas, worüber sie eine Meinung haben […] Die<br />

Stadt Essen ist genauso eine Marke: Wenn ich ,Stadt Essen‘<br />

auf etwas schreibe, bedeutet dies etwas, bestimmte Werte.<br />

Vor diesem Hintergrund sind Städte eben auch Brands“ (Terstiege<br />

2005: 46).<br />

Die Gestaltung von Corporate Identities im Rahmen so genannter<br />

Nation-Brandings umfasst <strong>als</strong>o mehrere Aspekte: Erstens<br />

geht es darum, den Auftritt einer politischen Institution<br />

unter einem gemeinsamen Zeichen zusammenzufassen, <strong>als</strong>o<br />

ein regelmäßiges und gleichbleibendes Zeichenverhalten für<br />

eine in dieser Weise mitgestalteten Sache durchzusetzen.<br />

Zweitens wird innerhalb dieser Praxis eine massive Steigerung<br />

der öffentlichen Präsenz angestrebt, in dem die durch<br />

das Corporate-Design repräsentierte Körperschaft einheitlich<br />

und eindrucksvoll in den verschiedenen Medien plaziert<br />

wird. Drittens wird aber auch die Vermittlung einer ganz<br />

bestimmten Vorstellung angestrebt, die die Einstellung der<br />

Menschen gegenüber der repräsentierten Institution verbessern<br />

soll. Eine solche Botschaft, in den Worten der Werbelehre<br />

ein „Leitbild“, stand auch hinter den Entwürfen einer der<br />

neuen EU-Flagge der Agentur OMA.<br />

Corporate Identity und ideales Selbstbild<br />

Bei der Kreation von Corporate Designs werden noch vor<br />

jeder Gestaltung Vorstellungen und Mythen eines Unternehmens<br />

gesammelt, um darauf aufbauend ein „Leitbild“ –<br />

<strong>als</strong> zu Grunde liegende ideale Selbstbeschreibung und Basis<br />

aller weiteren Kommunikationsmaßnahmen – zu verfassen.<br />

Ein solches Selbstbild referiert oft weit in die Vergangenheit<br />

zurück und verweist gleichzeitig auf eine erfolgreiche, bereits<br />

in Angriff genommene Zukunft. Weiters stellt das Unternehmen<br />

hier seine Besonderheiten heraus, jene Eigenschaften<br />

und Wesenheiten, die es positiv von anderen unterscheidet<br />

und einzigartig macht. Im Fall der von der Agentur OMA entworfenen<br />

neuen Corporate Identity für die EU lehnt sich die<br />

Gestaltung an dem (seit 2004 auch in der Verfassung der Europäischen<br />

Union verankerten) Motto der EU an, „in Vielfalt<br />

geeint“ zu sein. Zentrale Idee dieses Mottos ist die Konzeption<br />

der EU <strong>als</strong> ein Zusammenwirken der unterschiedlichen<br />

Nationen, wobei die Eigenständigkeit jeder Nation einer<br />

Vereinigung nicht im Wege steht, sondern eine Facette des<br />

vielfältigen Ganzen darstellt. In der visuellen Übersetzung<br />

dieses Mottos <strong>als</strong> Leitbild hinter den Gestaltungen des Corporate<br />

Designs und der Kommunikationspolitik werden die<br />

einzelnen Mitgliedsländer symbolisch in einer einfachen<br />

formalen Differenz nebeneinandergestellt, wobei in dieser<br />

Zusammenstellung gleichzeitig die Eigenständigkeit der unterschiedlichen<br />

Nationen wie auch die übergeordnete Einheit<br />

der Union veranschaulicht wird. Das von OMA entworfene<br />

neue EU-Logo ist eines der eindrucksvollsten Beispiele dieser<br />

Form der symbolischen Integration, die sich in den verschiedenen<br />

Formen der aktuellen visuellen Repräsentationen der<br />

EU immer wieder findet. In der Reduktion auf die Flaggenfarben<br />

werden die einzelnen Mitgliedsstaaten hier einerseits<br />

jeweils eigenständig zitiert, während sie sich gleichzeitig im<br />

Raster der einfachen, bloß farbwertigen Differenz zum Nachbarstaat<br />

in einer Einheit auflösen. In diesem Sinn soll das<br />

Logo der österreichischen Ratspräsidentschaft 2006 nicht einfach<br />

nur <strong>als</strong> Akkumulation der Flaggenfarben verstanden<br />

werden, sondern <strong>als</strong> positiver Zusammenschluss einer bunten<br />

Vielfalt des „eigentlich schon immer Gleichen“.<br />

Mag.a Judith Keppel, geboren 1980, hat Kultur und Sozialanthropologie<br />

mit den Schwerpunkten Visuelle Kultur und Repräsentation<br />

studiert und ihr Studium im März 2008 mit der Arbeit „Logo<br />

und Corporate Design – Identitätskonstruktion durch visuelle Zeichen“<br />

abgeschlossen. Sie ist außerdem, nach ihrer Ausbildung an<br />

„Der Grafischen“, seit über zehn Jahren in verschiedenen Agenturen<br />

und freiberuflich <strong>als</strong> Grafik- und Kommunikationsdesignerin<br />

tätig. Mehr Info: www.judithkeppel.at<br />

Literatur:<br />

Graaf, Reiner de/ Koolhaas, Rem (2004): €-conography: How to undo Europe’s<br />

iconographic deficit? In: Koolhaas, Rem/ McGetrick, Brendan (Hrsg.): Content.<br />

Köln, Taschen Verlag. S. 376-389.<br />

Filzmaier, Peter: Wag the Dog? Amerikanisierung der Fernsehlogik und mediale<br />

Inszenierungen in Österreich. In: Filzmaier Peter/ Karmasin Matthias/<br />

Klepp Cornelia (Hrsg.): Politik und Medien – Medien und Politik. Wien,<br />

Facultas. S. 9-51.<br />

Olins, Wally (2004): Marke, Marke, Marke. Den Brand stärken. Frankfurt a.M.,<br />

Campus Verlag.<br />

Terstiege, Gerrit (2006): Saville, der Zauberer. Manchester rising. In: form – The<br />

Making of Design. Ausgabe 207. S. 46-51.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

55


REgion EUROPA Fußball<br />

Über Fußball<br />

Atavistisches Spiel und modernes Spektakel<br />

Von Roman Horak<br />

Fußball ist ein massenkulturelles Phänomen, das<br />

nicht nur aus einem rein sportlichen Blickpunkt heraus<br />

begriffen werden kann. Das Spiel bezieht seine<br />

Attraktivität und Spannung aus der Wechselwirkung von<br />

Konkurrenz und Kooperation, aus der Dynamik sich stets<br />

ändernder Konfigurationen. Jedes Fußballspiel schafft eine<br />

jeweils eigene Narration, erzählt von SpielerInnen, SchiedsrichterInnen<br />

und dem Publikum (um die wichtigsten AutorInnen<br />

zu nennen). Aus dieser entstehen wiederum eine<br />

Vielzahl von weiteren Narrativen und Diskursen. So gesehen<br />

symbolisiert Fußball „das ganze Leben“, entlang der Inszenierungen<br />

und Metaphorisierungen klassischer Mythen und<br />

Polaritäten wie David gegen Goliath, arm gegen reich, Helden<br />

gegen Gehilfen, Ungerechtigkeit gegen Gerechtigkeit,<br />

Hoffnung gegen Enttäuschung und so weiter.<br />

Fußball <strong>als</strong> multikulturelle und internationale Erscheinung<br />

bietet geografische wie soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Zugleich<br />

konzentrieren sich um das Spiel <strong>als</strong> gesellschaftliches<br />

Phänomen exemplarisch auch Marginalisierung, Nationalismus,<br />

Rassismus oder Chauvinismus. Fußball ist ein traditionell<br />

maskulin dominierter Sport der unteren sozialen<br />

Schichten, in dem nun im Zuge seiner Modernisierung und<br />

Globalisierung auch für Frauen Zugänge geschaffen werden.<br />

Dies geschieht sowohl im Segment der Aktiven, <strong>als</strong> auch in<br />

jenem der Anhängerschaft. Diese „Integration“ verläuft jedoch<br />

widersprüchlich und im Spannungsfeld konkreter<br />

Sexismen.<br />

Die Behauptung, dass Fußball Freude bereiten soll, basiert<br />

auf einem kulturindustriell vermittelten Missverständnis.<br />

Gedacht <strong>als</strong> Gegenargument zur bildungsbürgerlichen Zurückweisung<br />

des Spiels <strong>als</strong> „Proletensport“ geht eine solche<br />

Sichtweise jedoch am Kern der Sache vorbei. Als (besonderes)<br />

populärkulturelles Massenspektakel lebt der Fußball speziell<br />

von der uneingeschränkten Parteilichkeit derer, die nicht<br />

bloß das Spiel, sondern vor allem eine bestimmte Mannschaft<br />

lieben – und damit von deren Leidensfähigkeit. Bereits vor<br />

mehr <strong>als</strong> drei Jahrzehnten hat der englische Kultursoziologe<br />

Chas Critcher die Gesamtmenge der so genannten Fußballinteressierten<br />

in die Subkategorien der Angehörigen,<br />

der KundInnen und der KonsumentInnen differenziert.<br />

Die Angehörigen verstehen sich <strong>als</strong> Teil einer historisch gewachsenen<br />

Kultur, verkörpert von der Mannschaft, die sie<br />

unterstützen. Die KundInnen gustieren gelegentlich das,<br />

was sie ein gutes Spiel nennen. Die KonsumentInnen schließlich<br />

verstehen und gebrauchen Fußball <strong>als</strong> eines von vielen<br />

möglichen Unterhaltungsangeboten, die gegebenenfalls Anlass<br />

zur kontrollierten Exaltiertheit bieten. Umgelegt auf die<br />

Niederungen der österreichischen Fußballwirklichkeit – wir<br />

bleiben auf der Ebene der Bundesliga – fänden sich die Angehörigen<br />

beispielsweise bei Traditionsvereinen wie dem SK<br />

Rapid und die KonsumentInnen idealtypisch bei Red Bull<br />

Salzburg. Die PropagandistInnen von massenmedialen Großinszenierungen<br />

wie der Fußball-Europameisterschaft zielen<br />

vordringlich auf die versammelte Klientel der KundInnen<br />

und KonsumentInnen ab. Mit ihren Versprechungen von<br />

fairen und schönen Spielen vermögen sie diese zu täuschen.<br />

All jene aber, die wissen, dass Fußball eine sich ständig wiederholende<br />

Passionsgeschichte mit wenigen Momenten der<br />

(vorübergehenden) Erlösung erzählt, werden sie nicht täuschen<br />

können.<br />

Mit der herannahenden EURO 2008 in der Schweiz und in<br />

Österreich wird erneut sichtbar, dass Fußball nicht so sehr<br />

ein Sportspiel, sondern vielmehr ein globales Medienspektakel<br />

ist. Und doch wäre es eine ziemliche Unterschätzung der<br />

atavistischen Kraft dieses Spiels, seine massenmediale Seite<br />

allzu schnell für das Ganze zu nehmen. Immer noch wird<br />

Fußball in seinen lokalen und regionalen Artikulationen <strong>als</strong><br />

ein Moment politischer und kultureller Identitätsbildungsprozesse<br />

wirksam.<br />

Roman Horak ist Professor an der Universität für angewandte<br />

Kunst Wien. Neuere Publikationen zum Thema Fußball: Gem. mit<br />

W. Reiter, T. Bora (Hrsg.): Futbol ve Kültürü, Istanbul 2004 (4.<br />

Auflage); gem. mit W. Maderthaner (Hrsg.): Die Eleganz des runden<br />

Leders. Göttingen, 2008.<br />

56


eUROPA<br />

Region<br />

Edutainment und Schaufensterqualität<br />

Tendenzen bei der Musealisierung von Nahrung<br />

Von Malte Borsdorf<br />

Die Currywurst ist typisch für Berlin. Das<br />

suggerieren zumindest viele Reiseführer,<br />

Fernsehsendungen und andere Medientexte<br />

(vgl. Borsdorf 2008: 31 f., 45ff.). PolitikerInnen<br />

essen ähnlich bewusst und<br />

kameratauglich die Wurst an der Bude, wie<br />

die TouristInnen vor ihren Fotoapparaten.<br />

Der Journalist Michael Angele führt Reisende<br />

an Berlins Imbisse. Sein Kollege Jon von<br />

Wetzlar erstellt eine Typologie der Wurstbude<br />

(vgl. Wetzlar / Buckstegen 2003: 41ff.).<br />

Und der Schriftsteller Uwe Timm legt dar,<br />

dass die Currywurst nicht aus Berlin, sondern<br />

aus Hamburg stamme (vgl. Timm<br />

2003), eine Ansicht, die zu heftigen Diskussionen<br />

führte. An diese Aufmerksamkeiten<br />

knüpft das Currywurstmuseum an,<br />

das derzeit in Berlin aufgebaut wird. Die<br />

vorliegende Arbeit versucht das Ausstellungskonzept<br />

dieses Museums mit frühen<br />

Ausstellungspraxen zu vergleichen und ist<br />

somit eine Ergänzung zu Gottfried Korff.<br />

Seit einigen Jahren werden in Deutschland die so genannten „Langen<br />

Museumsnächte“ ausgerichtet. Die mediale Kritik tat sie oft <strong>als</strong><br />

„Kunstparty“ und „Museumskasperei“ ab (vgl. Schüle 2007: 55). Doch<br />

in seinem Aufsatz Omnibusprinzip und Schaufensterqualität sucht der empirische<br />

Kulturwissenschaftler Gottfried Korff die Gegenthese zu der Diskursbestimmenden<br />

Ansicht zu formulieren, „daß das was man mit Begriffen<br />

wie Kulturinszenierungen, Bilderkult, Ausstellungsspektakel, Erlebnisort<br />

Museum, oder wie auch immer zu fassen versucht, Erscheinungen einer<br />

event-hungrigen Gegenwart sind […]“ (Korff 1999: 728). Denn der Wunsch<br />

museal unterhalten zu werden, so Korff, hat eine lange Geschichte.<br />

Schon Georg Simmel spricht von einer „Schaufensterqualität“ des Museums.<br />

Er nimmt damit auf die „gesteigerte Kultur der Dinge“ Bezug, die<br />

einen anderen Blick auf die materielle Kultur bewirke. Insofern sei das<br />

„Medium Ausstellung auch ein Ort der Wahrnehmungsschulung“ (ebd.:<br />

736), um die vielen industriellen Produkte unterscheiden zu können.<br />

Walter Benjamin äußert die Ansicht, dass es im 20. Jahrhundert in Europa<br />

zu einer Demokratisierung der Kultur komme. Dabei verweist auch er auf<br />

die erzieherische Funktion jener Ausstellungen, die sich der europäischen<br />

Alltagskultur widmeten. „Eine ,neue‘, der Popularisierung verpflichtete<br />

Volksbildung habe von der ,Tatsache des Massenbesuchs‘ auszugehen […].<br />

Dabei gehe es […] um die Entwicklung massenwirksamer Bilder“ (ebd.:<br />

731). Benjamin richtet sich damit gegen langweilige Ausstellungen. „Nicht<br />

gelehrter sollen sie [die BesucherInnen, Anm.] die Ausstellung verlassen,<br />

sondern gewitzter“ (Benjamin 1980: 559).<br />

Unternehmenskultur<br />

Seit wenigen Jahren entdecken immer mehr europäische Unternehmen das<br />

Museum für sich. Das hat einerseits mit dem Wunsch zu tun, die Unternehmenskultur,<br />

die corporate culture (Götz 1997: 39 f.) repräsentiert und museal<br />

nobilitiert zu wissen, wie etwa beim Schokoladenmuseum der Firma Lindt<br />

(vgl. URL 3) oder dem Alimentarium. Museum der Ernährung von Nestlé<br />

(vgl. URL 2). Andererseits findet diese museale Repräsentation auch subtiler<br />

statt. Das Westfalen Culinarium in Nieheim inszeniert beispielsweise in<br />

Dokumentarfilmen und anhand von Ausstellungsobjekten die Biermarke<br />

Herforder Pils (vgl. URL 4). Es ist in dem Punkt mit der Langen Nacht der<br />

Museen vergleichbar, die in Deutschland beispielsweise von Telekommu-<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 57


REgion EUROPA Edutainment<br />

nikationsunternehmen gesponsert wird (vgl. Schüle 2007:<br />

55). Ähnlich verhält es sich offenbar auch mit dem Berliner<br />

Currywurstmuseum, das bewusst nach Sponsorgeldern sucht.<br />

„Seit Anfang des vergangenen Jahres werden Gespräche<br />

mit potentiellen Museumspartnern aus der Wirtschaft geführt“,<br />

heißt es in einer Presseaussendung des Museums, aus<br />

dem Jahre 2006 (URL 2). Die Projektmanagerin Meike-Marie<br />

Thiele erklärt im Interview: „Also ohne jetzt Namen zu nennen,<br />

kann man sagen, dass das deutsche Unternehmen sind,<br />

<strong>als</strong>o national operierende Unternehmen, die eine Nähe zum<br />

Produkt haben […].“<br />

Wurstbude/Urban Loritz Platz, Wien 15<br />

Bild: Malte Borsdorf<br />

Frau Thiele versucht seit einigen Jahren, mit Unterstützung<br />

der privaten Fachhochschule Göttingen und der Humboldt<br />

Universität Berlin, das Currywurstmuseum aufzubauen. Die<br />

Medienfirma Edutainment International, für die sie tätig ist,<br />

gründete dafür eigens die Tochterfirma Knowledge (vgl. URL<br />

2). Am 25. Mai 2007 führte ich ein Expertinneninterview mit<br />

Frau Thiele, in ihrem Büro am Berliner Kurfürstendamm<br />

(vgl. Borsdorf 2008: 47ff., 78f.). „Was wir ja machen, normalerweise<br />

ist, dass wir ja auch Marken inszenieren“, erklärte<br />

sie im Gespräch. „[D]iese traditionelle Markenkommunikation<br />

funktioniert halt so nicht mehr, die Leute wollen auch<br />

mehr wissen über das Produkt, was sie kaufen, konsumieren<br />

und so und trotzdem wollen sie das auch mit einem positiven<br />

Erlebnis verbinden.“<br />

Edutainment<br />

Mit dem Ausdruck „Edutainment“ beschreibt die Medienpädagogik<br />

die Verknüpfung von Education und Entertainment,<br />

wie sie von Werbung und Medien angestrebt wird (vgl. URL<br />

5). Frau Thiele erklärt auch, dass „es in diesem Museum auf<br />

jeden Fall darum geht, in erster Linie wirklich Spaß zu haben.<br />

Also deshalb auch Edutainment, oder das was wir machen, es<br />

geht halt schon darum, dass man halt Wissen vermittelt, aber,<br />

dass dieser Spaß- und Erlebnisfaktor auch ganz stark im Vordergrund<br />

steht.“ Der „Fun-Faktor“ (Dietrich 2003: 128) von<br />

Nahrung, soll durch die Darbietung von Dingen entstehen,<br />

die emotionale Bedeutungen aufweisen. „Und was jetzt die<br />

Currywurst betrifft, das war eben die Idee zu sagen: man hat<br />

ein Thema was emotional ist, zum einen, das werden Sie ja<br />

sehr wohl wissen, dass das solche / solche Gerichte, Nationalgerichte<br />

oder lokal, regional relevante Sachen, dass die eben<br />

immer auch emotional behaftet sind.“ Frau Thiele nimmt<br />

hier Bezug auf meine Rolle <strong>als</strong> Vertreter des Faches Europäische<br />

Ethnologie. Die Funktion eines solchen Faches sieht sie<br />

scheinbar darin, von ihr so genannte „Nationalgerichte“ zu<br />

untersuchen. So unternahm sie sozialwissenschaftliche Erhebungen<br />

um herauszufinden, wie emotional die Currywurst<br />

besetzt ist. „Wir haben einfach Umfragen auf der Straße gemacht.<br />

Sind einfach mit dem Fragebogen los und, so gewisse<br />

Kategorien halt abgefragt und das dann ausgewertet.“ Die<br />

Wurst wird von ihr offenbar in der „ästhetisierte[n] Ethnie“<br />

einer „Konsumheimat“ (Köstlin 1999: 52) eingefügt. Eine der<br />

Ursprungsgeschichten um die Currywurst wird museal aufbereitet:<br />

„Also […], dass Herta Heuwer, die das dann erfunden<br />

hat, in der englischen Besatzungszone ihr Würstchen /<br />

ihre Würstchenbude hatte und […] natürlich das Currypulver,<br />

oder im Tausch dann mit den englischen Soldaten und<br />

dann hat sie das alles zusammengehauen und so kam dann<br />

eben die Currywurst bei raus, ne.“ Dieses nicht von ungefähr<br />

in Berlin verortete Ursprungsnarrativ der Wurstkreation,<br />

deckt sich mit der oben zitierten Suche nach „national<br />

operierende[n] Unternehmen, die eine Nähe zum Produkt<br />

haben“. Es kann hier die Frage gestellt werden, was das Produkt<br />

ist – die Wurst oder das Museum?<br />

Das Produkt und die Aura des Museums<br />

Egal ob Unternehmen eigene Museen gründen oder sponsern,<br />

beide Arten des Umgangs mit Ausstellungen eint die<br />

Tatsache, dass die Ware im Museum beworben wird. Andererseits<br />

kann in der PR-Arbeit darauf verwiesen werden,<br />

wie die jeweilige Firma Museen unterstütze oder gar voll-<br />

58


Edutainment Europa REgion<br />

ends finanziere. Das Museum wiederum erhält die finanzielle<br />

Möglichkeit, Ausstellungen auszurichten. „T-Mobile<br />

<strong>als</strong>o ist Hauptsponsor der Kölner Langen Nacht [der Museen,<br />

Anm.] und Garant für regulierte Marktgesetze“, so der<br />

Journalist Christian Schüle in einem Artikel der deutschen<br />

Wochenzeitung Die Zeit. Schüle zitiert denn auch den Organisator<br />

der Langen Nacht Urban Armbrost mit den Worten:<br />

„Zum Glück, sonst würden die Karten nicht 13, sondern 25<br />

Euro kosten, und dann hätte man nur finanzkräftiges Publikum<br />

[…]“ (Schüle 2007: 55).<br />

Beim Westfalen Culinarium und dem geplanten Currywurstmuseum<br />

ist das Ausstellungssponsoring jedoch subtiler <strong>als</strong><br />

bei der Langen Nacht der Museen. Denn diese zeigt allenfalls<br />

das „magentafarbene T [, das] mittlerweile selbst zum omnipräsenten<br />

Zeichen der Kolonisierung des öffentlichen Raums<br />

durch Werbung geworden [ist]“ (Schüle 2007: 55). Beim Westfalen<br />

Culinarium hingegen ist die Sponsoring betreibende<br />

Marke subtil neben jenen anderen „Museumsdingen“ (Korff<br />

2007) ausgestellt, die keiner offensichtlichen Marke angehören.<br />

Dadurch wird erst bei genauem Besehen die Rolle der<br />

Wurst- oder Biermarke, des Verpackungsherstellers oder<br />

einer anderen Firma deutlich. Es liegt somit auf der Hand,<br />

dass die interessengeleitete Edutainment-Ausstellungspraxis<br />

nur wenig mit dem erzieherischen Konzept von Benjamin<br />

und Simmel vereinbar zu sein scheint. Denn bei Benjamin<br />

speist sich die erzieherische Funktion aus einem humanistischen<br />

Verständnis, das eine Bildung der Allgemeinbevölkerung<br />

anstrebt (vgl. Schmidt / Schischkoff 1991: 183f., 78f.).<br />

Und in Georg Simmels Begriff der „Schaufensterqualität“<br />

klingt zwar der Verweis auf Reklame an doch deshalb, da<br />

laut Simmel Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

Dinge aufkamen die neu waren und in gesellschaftlichen Diskursen<br />

ausgedeutet werden sollten.<br />

So sieht auch Gottfried Korff den Zweck von Ausstellungen<br />

darin, Diskurse zu eröffnen und nicht in der alleinigen Produktreklame.<br />

„Denn historische Ausstellungen sollen nicht<br />

ein Geschichtsbild auf Hochglanz und im Fixativ anbieten,<br />

sondern sie sollen tatsächlich ein Forum sein, wo der Diskurs<br />

über die Vergangenheit sich am Gegenständlichen entwickelt“<br />

(Korff 2007: 123). Im Falle von Edutainment wird dieser<br />

Diskurs jedoch offenbar so klein gehalten, dass die Inszenierung<br />

weniger Marken aufrechterhalten werden kann. Denn<br />

das Herforder Pils bleibt im Westfalen Culinarium die einzige<br />

hervorgekehrte Biermarke, damit andere Firmen nicht von<br />

ihr ablenken. Wie sich die Ausstellung im geplanten Currywurstmuseum<br />

ausnehmen wird, bleibt abzuwarten.<br />

Malte Borsdorf, *1981 in Reutlingen. Studium Europäische Ethnologie,<br />

Philosophie in Innsbruck und Wien. Forschungsinteressen:<br />

Stadtforschung, Religiosität, Nahrungsethnologie, Müllforschung,<br />

Erzählforschung.<br />

Literatur:<br />

Benjamin, Walter (1980): Bekränzter Eingang. Zur Ausstellung „Gesunde Nerven“<br />

im Gesundheitshaus Kreuzberg. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. IV.<br />

Frankfurt a. M., Suhrkamp. S. 557-561.<br />

Borsdorf, Malte (2008): Die Poesie der Bude. Schnelles Essen in populären<br />

Medientexten. Wien, Univ. Dipl.<br />

Dietrich, Nicole (2003): Schnell Essen in Wien. Das Entschleunigungsdilemma<br />

rund um Espresso, Würstel und Burger. In: Breuss, Susanne (Hrsg.): Die Sinalco<br />

Epoche. Essen, trinken, konsumieren nach 1945. Wien, Selbstverlag des<br />

Wien Museums. S. 122-129.<br />

Götz, Irene (1997): Unternehmenskultur. Die Arbeitswelt einer Großbäckerei<br />

aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Münster, Waxmann.<br />

Korff, Gottfried (1999): Omnibusprinzip und Schaufensterqualität: Module<br />

und Motive der Dynamnisierung des Musealen im 20. Jahrhundert. In: Grüttner,<br />

Michael / Hachtmann, Rüdiger / Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Geschichte<br />

und Emanzipation. Frankfurt a. M., New York, Campus-Verlag. S. 728-754.<br />

Korff, Gotfried (2007): Museumsdinge. deponieren – exponieren. 2. Aufl. Köln,<br />

Wien, Böhlau.<br />

Köstlin, Konrad (1999): Die ästhetisierte Ethnie: Konsumheimat. In: Johler,<br />

Reinhard / Nikitsch, Herbert / Tschofen, Bernhard (Hrsg.): Ethnische Symbole<br />

und ästhetische Praxis in Europa. Wien, Selbstverlag des Instituts für Europäische<br />

Ethnologie. S. 52-75.<br />

Schmidt, Heinrich / Schischkoff, Georgi M. (1991): Philosophisches Wörterbuch.<br />

22. Aufl. Stuttgart, Kröner.<br />

Schüle, Christian (2007): Wenn Kunst uns den Schlaf raubt. In: Die Zeit Nr.<br />

13. S. 55.<br />

Timm, Uwe (2003): Die Entdeckung der Currywurst. Novelle. München, dtv.<br />

von Wetzlar, Jon/Buckstegen, Christoph, Hrsg. (2003): Urbane Anarchisten.<br />

Die Kultur der Imbissbude. Marburg, Jonas-Verlag.<br />

Expertinneninterview mit Meike-Marie Thiele, 25.05.07, 45 Minuten.<br />

Internet:<br />

URL 1: www.alimentarium.ch/ Zugriff: 23.03.2008.<br />

URL 2: www.currywurstmuseum.com Zugriff: 22.03.2008.<br />

URL 3: www.schokoladenmuseum.de/ Zugriff: 23.03.2008.<br />

URL 4: www.westfalen-culinarium.de Zugriff: 22.03.2008.<br />

URL 5: www.hdm-stuttgart.de/ifak/medientipps/edutainment/definition/ Zugriff:<br />

28.03.2008.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

59


Region<br />

e u r o pa<br />

„Schwaz und der Bergbau sind eins“?<br />

Zu ihrer Entzweiungsgeschichte seit 1999<br />

Von Reinhard Bodner und Margret Haider<br />

Der nachfolgende Text berichtet über eine<br />

volkskundlich-kulturwissenschaftliche Studie<br />

zu den Felsstürzen am Eiblschrofen <strong>als</strong><br />

dem vorläufigen Ende der Schwazer Bergbaugeschichte,<br />

die derzeit im Rahmen des<br />

Projektteils Cultural Tendencies and Dominants<br />

in Modern Mining des Spezialforschungsbereichs<br />

HiMAT („The History of Mining Activities<br />

in the Tyrol and Adjacent Areas: Impact on<br />

Environment and Human Societies“) der Universität<br />

Innsbruck durchgeführt wird. Die zitierten<br />

Stellen stammen, wenn nicht anders<br />

angegeben, aus einem Korpus von Zeitungsartikeln<br />

aus den Jahren 1999-2001. Darüber<br />

hinaus wird auf eine Sammlung von 54 narrativen<br />

(lebensgeschichtlichen und themenzentrierten)<br />

Interviews Bezug genommen,<br />

die im Zeitraum von Juni bis November 2007<br />

durchgeführt wurden.<br />

Wer sich dem historischen Zentrum von Schwaz in Tirol annähert,<br />

sieht sich beinah unvermeidlich mit Reminiszenzen an<br />

die Vergangenheit der einst blühenden „Silberstadt“ konfrontiert:<br />

Entlang einer über den Inn führenden Straßen- und Fußgängerbrücke,<br />

der so genannten Barbarabrücke, grüßt ein Fahnenspalier mit dem Stadtwappen,<br />

in dem sich Schlägel und Eisen kreuzen, Transparente kündigen<br />

den „Schwazer Silbersommer“ an, und Plakate laden dazu ein, mit Hilfe<br />

der „Silbercard“ die „Silberregion Karwendel“ zu erwandern. Schließlich,<br />

am südwestlichen Ende der Brücke, wird der Blick auf eine Bronzestatue<br />

freigegeben, die 1986 hier aufgestellt wurde: „Hl. Barbara, Schutzpatronin<br />

aller Bergleute“, verrät eine Tafel an ihrem Sockel. Und beim Weiterlesen<br />

lässt sich in Erfahrung bringen, dass namentlich zwei Spender zum Erhalt<br />

des Kunstwerks beigetragen haben: die Montanwerke Brixlegg, die den<br />

Bergbau im Revier Falkenstein seit 1957 betreiben, und das 1990 eröffnete<br />

Schwazer Schaubergwerk. Zusammen mit der Stadtgemeinde Schwaz, die<br />

sich für die finanzielle Unterstützung bedankt, sind damit jene drei Institutionen<br />

genannt, in deren Einflussbereich ein volkskundliches Forschungsprojekt<br />

der Universität Innsbruck seit 2007 Untersuchungen zur jüngsten<br />

Vergangenheit des Schwazer Bergbaues durchführt. Welches Erkenntnisinteresse<br />

dabei mit welchen Methoden verfolgt wird, soll in diesem Beitrag<br />

herausgearbeitet werden.<br />

Doch blicken wir zunächst nochm<strong>als</strong> vom Sockel auf die Figur zurück. Im<br />

Jahr 1999 ereignete sich nämlich eine auffällige Szene um sie: In den Morgenstunden<br />

des 3. Dezembers näherten sich drei Bergarbeiter und zwei leitende<br />

Mitarbeiter der Montanwerke der Statue und gingen daran, sie mit<br />

einem schwarzen Tuch zu verhüllen. Eine Kordel wurde soweit festgezurrt,<br />

bis nur noch ein Detail sichtbar blieb und damit sichtbarer wurde:<br />

ein Knappe, der, am Rocksaum der Heiligen kniend, einen Klumpen Erz in<br />

Händen hält. Lang jedoch währte diese „symbolische Trauerphase“ nicht:<br />

Auf Anweisung des Bürgermeisters wurde der „Trauerflor“ wenig später<br />

entfernt. Seitens der Stadtgemeinde sah man die Verhüllung <strong>als</strong> Störung<br />

ihrer offiziellen Barbarafeier mit Kranzniederlegung an, die tags darauf an<br />

einer zweiten Barbarastatue im Stadtzentrum stattfinden sollte. Die „echten<br />

Knappen“ indes, die sich am Vortag an der Barbarabrücke einfanden, hatten<br />

die Einladung dazu „mit allergrößter Wut und Entrüstung“ ausgeschlagen.<br />

Die Stadtführung, ließen sie wissen, „unternehme alle Anstrengungen,<br />

um den jahrhundertelangen Bergbau in Schwaz für immer schließen zu lassen“.<br />

Wie könne der Bürgermeister da einen Kranz vor „ihrer“ Heiligen<br />

60


Bergbau Europa Region<br />

niederlegen? „Gott sei Dank ist die Barbara […] aus Stein,<br />

wäre sie aus Fleisch und Blut, würde sie sich ob dieser fiesen<br />

Scheinheiligkeit übergeben!“<br />

Die Leserin/der Leser ahnt vielleicht schon die Vorgeschichte<br />

der Szene. Denn immerhin schlugen die Felsstürze am Eiblschrofen<br />

sich nicht nur vor Ort, sondern monatelang auch<br />

in den Medien nieder. Dass im Juli 1999 tausende Kubikmeter<br />

Dolomitgestein „lebendig“ wurden und vom Hausberg<br />

der Stadt brachen, stieß auf internationales Interesse.<br />

Im Fokus standen dabei jene knapp 300 Bewohner der Ortschaft<br />

Ried am Fuße des „Unglücksberges“, die auf Veranlassung<br />

der Stadtgemeinde evakuiert wurden. Die Rückkehr<br />

in ihre Häuser blieb ihnen solange verwehrt, bis im Herbst<br />

zwei Betondämme zum Schutz der Siedlung fertig gestellt<br />

waren. Zwischenzeitlich – und gut ein Jahr nach dem Grubenunglück<br />

von Lassing – hatte die Suche nach den „Schuldigen“<br />

längst begonnen: Laut Auffassung der Stadtgemeinde,<br />

der Landesgeologie und einer Bürgerinitiative, die die Anliegen<br />

der Evakuierten vertrat, bestand ein eindeutiger „Zusammenhang“<br />

zwischen dem Dolomitabbau unterhalb und<br />

den Felsstürzen oberhalb der Ortschaft. Die Montanwerke<br />

dagegen, die den Bergbau auf behördliche Anweisung vorübergehend<br />

einstellen mussten, beriefen sich einerseits auf<br />

den „Souverän Natur […], der sich durch Menschenhand<br />

weder beeinflussen noch bezwingen läßt“: Seit Jahrhunderten<br />

habe es am Eiblschrofen Felsstürze gegeben. Erst in<br />

den letzten Jahrzehnten aber sei das Bauland darunter durch<br />

die Stadtgemeinde freigegeben worden, ohne Rücksicht auf<br />

mögliche Risiken. Andererseits wurde bisweilen verlautbart,<br />

dass Bergbau nicht gleich Bergbau sei: Wenn man den Abbau<br />

unter Tage schon zum „Sündenbock“ machen wolle, dann<br />

nicht den aktuellen auf Dolomit, sondern den historischen<br />

auf Erz, der den Berg in früheren Jahrhunderten durchwühlt<br />

und zerlöchert habe.<br />

Bis heute sind sich die Gutachter beider Seiten uneins, ob und<br />

wie sich ein Kausalzusammenhang zwischen Felssturz und<br />

Bergbau in natur- und ingenieurswissenschaftlicher Hinsicht<br />

objektivieren lässt. Umso bemerkenswerter scheint deshalb<br />

im Rückblick die Heftigkeit, mit der ein Großteil der Stadtbevölkerung<br />

dam<strong>als</strong> gegen den Bergbau aufbegehrte: „Schwaz<br />

will endlich Ruhe haben“, „Mit aller Kraft gegen Wiederinbetriebnahme“,<br />

„Eine überwältigende Mehrheit lehnt Dolomit-<br />

Abbau ab“, titelten die Zeitungen. Mit am deutlichsten entlud<br />

sich diese Stimmung in den Herbstmonaten, <strong>als</strong> die Evakuierten<br />

nach und nach in ihre Häuser zurückkehren konnten:<br />

Unter Hinweis auf ein den Bergbau entlastendes Gutachten<br />

erklärten die Montanwerke dam<strong>als</strong>, den Abbau wieder<br />

aufnehmen zu wollen. Daraufhin kündigte ein Sprecher der<br />

Bürgerinitiative an, sich an die Schienen der Grubenbahn zu<br />

ketten und in einen Sitzstreik zu treten. Um eine Eskalation<br />

der Situation zu verhindern, ließ der Bürgermeister die<br />

Stadtpolizei vor dem „Mundloch“ Aufstellung nehmen und<br />

erklärte den Vorplatz des Bergwerks zum Sperrgebiet. Der<br />

Wille, „Schluß mit dem Bergbau“ zu machen, kam so prägnant<br />

zum Ausdruck. Der Satz „Schwaz und der Bergbau<br />

sind eins“ scheint seither nur noch im Schaubergwerk zu<br />

gelten, das <strong>als</strong> „Schwazer Silberbergwerk“ sein ,Mundloch‘<br />

für Besucher öffnet, wenige hundert Meter unterhalb der in<br />

Ruhe erstarrten „unterirdischen Schottergrube“ der Montanwerke.<br />

Statue der Hl. Barbara/Schwaz<br />

Bild: Betriebsarchiv der Montanwerke Brixlegg AG.<br />

Um dieser Entzweiungsgeschichte auf die Spur zu kommen,<br />

wurden im Rahmen unseres Projektes zwei Interviewserien<br />

durchgeführt: eine, die den 14 letzten Beschäftigten des Bergbaubetriebs<br />

galt, und eine andere, in der an die 50 der 1999<br />

Evakuierten zu Wort kamen. Aufs Ganze gesehen gelangt in<br />

den daraus entstandenen Dokumenten eine besondere Ambivalenz<br />

zum Ausdruck: Aus Sicht der Bergarbeiter ließ die<br />

Einstellung des Betriebs auf einen Entfremdungsprozess<br />

zwischen der Stadt und „ihrem“ Bergbau schließen: „Genau<br />

die Leut’, die Schwaz reich gemacht haben, die werden jetzt<br />

verdammt.“ (Interview 1) Indem die Kontinuität des Dolo-<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 61


Region Europa Bergbau<br />

mitabbaus mit der Historie betont wird, kommt die Schließung<br />

dem Ende einer jahrhundertealten Tradition gleich: Die<br />

Stadt Schwaz verliere damit ihr „geschichtliches Rückgrat“<br />

und ihre „Identität“, ja ihre „Seele“: „Wenn der letzte Bergmann<br />

aus Schwaz verjagt ist, verkommen Bezeichnungen<br />

wie ‚Knappenstadt‘, ‚Knappenmusik‘, ‚Silbersommer‘, aber<br />

auch das Schaubergwerk zu billigem Disney-Kitsch.“<br />

Demgegenüber bestritten zahlreiche der dam<strong>als</strong> Evakuierten<br />

die Kontinuität des Kleinstbetriebs, den einer von ihnen <strong>als</strong><br />

„Mickey-Mouse-Bergbau“ bezeichnete, mit dem Silberbergbau:<br />

„Ich möchte diese Zeit der Knappen nicht aus Schwaz<br />

verleugnen, die war ja sicher in Ordnung. Aber die danach<br />

waren Sprengmeister, die sind vom Knappensein Millionen<br />

Kilometer weg gewesen. […] Das waren Mineure, die mir irgendwann<br />

einmal die Hütt’n hinuntergesprengt hätten in ein<br />

Loch, wenn sie weitergetan hätten. Das waren keine Knappen,<br />

die mit Ehrfurcht in den Berg hineinfahren. Da ist es um<br />

Steine gegangen, nicht um den Bergbau selber. Das war gar<br />

nichts anderes wie ein Steinbruch, ein innerlicher. Aus! Das<br />

hat mit dem alten Bergbau überhaupt nichts mehr zu tun.“<br />

(Interview 2)<br />

In beiden Interviewserien klingt damit ein Moment des „Frevels“<br />

an: Da ist einerseits der Vorwurf mangelnden Respekts<br />

vor jener Kultur, die aus dem menschlichen Stoffwechsel<br />

mit dem Berg hervorgeht. Und da ist andererseits die Anschuldigung<br />

des Raubbaues an der Natur <strong>als</strong> Basis dieses<br />

Stoffwechsels. Gerade weil beide Auffassungen gänzlich entgegengesetzt<br />

erscheinen, ist es aus kulturwissenschaftlicher<br />

Sicht notwendig, ihre gleichzeitige Anwesenheit zur Kenntnis<br />

zu nehmen. So wenig die Volkskunde dabei zu einer eindeutigen<br />

Klärung des „objektiven“ Zusammenhangs von<br />

Bergbau und Felssturz beitragen kann, so sehr gilt ihr Interesse<br />

deren seelischen Zusammenhängen, die sich kulturell<br />

objektivieren – und insofern nicht „bloße“ Subjektivationen<br />

jenseits aller geschichtlichen Prägung und sozialen Bedingtheit<br />

sind. Was etwa die Bergbaukritik betrifft, die den Bergbau<br />

seit dem Mittelalter und verstärkt seit der frühen Neuzeit<br />

begleitet, so aktualisiert sie sich besonders dann, wenn Katastrophales<br />

sich ankündigt oder ereignet. Die Kultur, so<br />

scheint es dann, wächst dem Menschen über den Kopf, und<br />

die Natur nimmt Rache an dem, der ihr Gewalt angetan hat.<br />

All jene, die den Bergbau positiv bewerten, geraten dabei oft<br />

in die Defensive. Aus „Expertensicht“ üben sie Kritik an „laienhaften“<br />

Auffassungen in der Bevölkerung und weisen auf<br />

die Kultur stiftende und umweltfreundliche Bedeutung des<br />

Bergbaues hin – im Schwazer Fall etwa auf die hohe Wertigkeit<br />

des Dolomits, der <strong>als</strong> Straßenbaumaterial „nicht weniger<br />

wichtig <strong>als</strong> seinerzeit Silber“ sei; oder auf die landschaftsschonenden,<br />

lärm- und staubarmen Vorzüge des Abbaus<br />

unter Tage, den man <strong>als</strong> zukunftsweisend für die Transitregion<br />

Tirol ansehen müsse.<br />

Damit sind einige Grundzüge des Konflikts angedeutet, den<br />

die Felsstürze am Eiblschrofen ins Rollen brachten: zwischen<br />

einem geschlossenen Bergbaubetrieb mit Abbauambitionen<br />

und einem Bergwerksgegner mit Bergbauvergangenheit;<br />

zwischen einstigen Bergleuten und ehemaligen Evakuierten,<br />

die in Ried oft Tür an Tür leben. Das Interview stellt dabei<br />

nur einen möglichen methodischen Zugang dar: Zu bedenken<br />

ist, dass dessen Dokumente, wie alle Kultur, nicht nur<br />

Symbole des Sagbaren, sondern auch Symptome des Unaussprechlichen<br />

sind. Bekräftigen lässt sich diese Ahnung (die<br />

freilich nicht ohne Ertrag ist) namentlich durch das Hinzuziehen<br />

von Archivquellen wie Zeitungsartikeln, Firmendokumenten,<br />

Korrespondenzen, literarischen Werken, Fotografien<br />

und Kinderzeichnungen. Eine ausführliche Untersuchung<br />

dieser Materialien soll in absehbarer Zeit an anderer Stelle<br />

veröffentlicht werden. Dieser Beitrag versteht sich deshalb<br />

<strong>als</strong> kleine Stoffsammlung und erster Versuch einer Stoffgliederung<br />

– und erhofft sich, bei manchem Leser/mancher Leserin<br />

Neugier auf unser Projekt geweckt zu haben.<br />

Margret Haider und Reinhard Bodner haben an der Universität<br />

Innsbruck Europäische Ethnologie (Volkskunde) studiert und<br />

arbeiten derzeit <strong>als</strong> Doktoranden im SFB „The History of Mining<br />

Activities in the Tyrol and Adjacent Areas: Impact on Environment<br />

and Human Societies“ (HiMAT).<br />

Quellen<br />

Zeitungsartikelkorpus „Eiblschrofen“ (1999-2001), Universität Innsbruck.<br />

Interview 1: Herr G., Hauer (1984-1999), Jg. 1956; 16.10.2007.<br />

Interview 2: Herr F., Leiter der Bürgerinitiative (seit 1993), Jg. 1953; 06.09.2007.<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Alexander, Helmut (Hrsg.) (2003): Schwaz. Der Weg einer Stadt. Innsbruck,<br />

Edition Löwenzahn.<br />

Lackner, Helmut (2001): „Es ist die Bestimmung der Menschen, dass sie die<br />

Berge durchwühlen“. Bergbau und Umwelt. In: Hahn Sylvia / Reith, Reinhold<br />

(Hg.): Umwelt-Geschichte. Arbeitsfelder – Forschungsansätze – Perspektiven.<br />

Wien, Verlag für Geschichte und Politik. S. 77-98.<br />

Löden, Sönke (Hrsg.) (2003): Montanlandschaft Erzgebirge. Kultur, Symbolik,<br />

Identität. Leipzig, Leipziger Universitätsverlag.<br />

Moser, Johannes (Hrsg.) (1997): Eisenerz. Eine Bergbaugemeinde im Wandel.<br />

Frankfurt a. M., Kulturanthropologie Notizen.<br />

62


EUROPA<br />

REGION<br />

Die Erschütterung der Gesellschaft<br />

Terrorismus <strong>als</strong> soziales System<br />

Von Sven Hartwig<br />

„Terrorismus“, heißt es in der Europäischen<br />

Sicherheitsstrategie, „gefährdet Menschenleben,<br />

verursacht hohe Kosten, sucht<br />

die Offen heit und Toleranz unserer Gesellschaften<br />

zu untergraben und stellt eine<br />

zunehmende strategische Bedrohung für<br />

Gesamteuropa dar. Terroristische Bewegungen<br />

sind in wachsendem Maße gut ausgestattet,<br />

elektronisch vernetzt und gewillt,<br />

unbegrenzt Gewalt anzuwenden, um in<br />

gro ßem Maßstab Menschen zu töten“ (EU<br />

2003: 3). Terrorismus wird hier anhand seiner<br />

schrecklichen Resultate identifiziert, anhand<br />

seiner beabsichtigten menschlichen,<br />

ökonomischen und politischen Destruktionen.<br />

Doch warum produziert Terrorismus<br />

eigentlich solche Destruktionen? Wie geht er<br />

dabei vor? Und: Was kann überhaupt unter<br />

Terroris mus verstanden werden? Die folgenden<br />

Überlegungen versuchen Antworten<br />

auf diese drei Fragen zu skizzieren, indem<br />

sie Terrorismus <strong>als</strong> soziales System rekonstruieren<br />

sowie die Gewalt des Terrorismus<br />

<strong>als</strong> Provokation und <strong>als</strong> Kommunikationsmedium<br />

analysieren.<br />

I. Terrorismus <strong>als</strong> soziales System des Terrorisierens.<br />

Es steht außer Frage“, schreibt der Soziologe Peter Fuchs, „die Gesellschaft<br />

wird durch den Terrorismus massiv erschüttert“ (2006: 1). Terror<br />

gleicht einem Erdbeben, dessen plötzliche Eruption Hochhäuser,<br />

öffentliche Verkehrsmittel und Menschenleben zerstört. Und „wie Erdbeben“,<br />

so die Philosophin Susan Neiman, „schlagen Terroristen von ungefähr zu: Wer<br />

lebt, wer stirbt, hängt von Zufällen ab, die weder verdient noch zu verhindern<br />

sind“ (2004: 412). Der Terror macht die Menschen, wie Fuchs (2006: 1) in Anlehnung<br />

an Hannah Arendt formuliert, zu „tötbaren Gleichgültigkeiten“. Doch<br />

anders <strong>als</strong> ein Erdbeben ist Terrorismus keine Naturkatastrophe, er ist, wie<br />

Durkheim sagen würde, wie die Gesellschaft die er bedroht, eine „soziale Tatsache“.<br />

Terror mag grausam, sinnlos, dysfunktional erscheinen, aber er ist nicht<br />

asozial: „Terror ist sozial immanent“ (Fuchs 2004: 16). Terror <strong>als</strong> gesellschaftlich<br />

zu verstehen heißt aus systemtheoretischer Sicht, ihn <strong>als</strong> soziales System zu<br />

verstehen. Soziale Systeme sind, so Niklas Luhmann (1998, u.a.), Kommunikationssysteme,<br />

denn Kommunikation ist insofern eine soziale Operation, <strong>als</strong> sie<br />

eine Mehrheit an mitwirkenden Personen voraussetzt, aber <strong>als</strong> Einheit keiner<br />

dieser Personen zugerechnet werden kann. Soziale Systeme bilden <strong>als</strong> Verkettungen<br />

von Kommunikationen somit eine emergente Realität sui generis. Das<br />

umfassende soziale System, <strong>als</strong>o jenes System das alle anderen sozialen Systeme<br />

und damit alle Kommunikationen in sich einschließt, kann wiederum <strong>als</strong><br />

Gesellschaft bezeichnet werden. Das bedeutet auch, dass Gesellschaft heute,<br />

im Zeitalter der Globalisierung (auch des Terrors), eine Weltgesellschaft ist,<br />

da eine Mehrheit von Gesellschaften nur denkbar wäre, „wenn es keine kommunikativen<br />

Verbindungen zwischen ihnen gäbe“ (Luhmann 1997: 78). Soziale<br />

Systeme innerhalb dieser Weltgesellschaft sind daher auch nicht andere<br />

Gesellschaften, sondern weltweit operierende Sozi<strong>als</strong>ys teme wie Wirtschaft,<br />

Wissenschaft, Politik, Massenmedien etc., die sich durch die jeweilige Spezifikation<br />

ihrer Kommunikationen (Zahlungen im Wirtschaftssystem, Publikationen<br />

im Wissenschaftssystem etc.) voneinander unterscheiden. Auch<br />

Terror wäre dann <strong>als</strong> solch ein Kommunikationssystem in der Gesellschaft<br />

anzudenken, womit sich die Frage stellt, welche kommunikative Operation<br />

Terrorismus spezifiziert. Als Elementaroperation kann das Terrorisieren betrachtet<br />

werden, der gewaltsame Abbruch von Kommunikation, z.B. beim<br />

Selbstmordanschlag (dazu Asad 2007), der durch den Schrecken, den er erzeugt,<br />

weitere Kommunikation über den Abbruch erzwingt (vgl. Fuchs 2004:<br />

18ff.). Ein Führungsmitglied der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP)<br />

hat diese Operation des Terrorismus, die Erzwingung von Kommunikation<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 63


REGION EUROPA Terrorismus<br />

durch die Beendigung von Kommunikation, bereits 1967 konkretisiert:<br />

„Wir müssen die israelische Armee mit Qualität, nicht<br />

mit Quantität schlagen. […] Ich meine spektakuläre Einzeloperationen.<br />

Diese werden die Aufmerksamkeit der Welt auf die<br />

Palästina frage lenken. Die Welt wird fragen: Was ist das Problem<br />

in Palästina? Wer sind diese Palästinenser? Warum tun<br />

sie sowas? […] Am Ende wird die Welt das Problem satt haben.<br />

Sie wird zu dem Schluß kommen, daß mit Palästina etwas geschehen<br />

muß.“ Drei Jahre später, nach zahlreichen internationalen<br />

Terroranschlägen, stellte der Begründer der PFLP fest:<br />

„Jahrzehntelang war die Weltmeinung weder für noch gegen<br />

die Palästinenser. Man hat uns einfach ignoriert. Jetzt wenigstens<br />

redet die Welt über uns“ (zit. n. Schneckener 2006: 43f.).<br />

II. Terrorismus <strong>als</strong> politische Provokation<br />

Wer Gewalt androht oder ausübt, bekommt es in der heutigen<br />

Gesellschaft automatisch mit dem politischen System<br />

zu tun, denn die Politik hat sich <strong>als</strong> jenes System ausdifferenziert,<br />

das für sich beansprucht „allein über die Anwendung<br />

physischer Gewalt disponieren zu können“ (Fuchs 2002: 233).<br />

Das bedeutet, dass andere Systeme der Gesellschaft ihre jeweiligen<br />

gesellschaftlichen Funktionen nicht durch die Androhung<br />

oder Anwendung von Gewalt erfüllen können. Die<br />

Wirtschaft z.B. reguliert Knappheit nicht mittels Mord und<br />

Totschlag, sondern durch Geldzahlungen, und selbst in der<br />

Religion ist es nicht möglich zur Sinnfindung im Diesseits<br />

„den Glauben an metaphysische Instanzen herbeizubomben“<br />

(Fuchs 2002: 231). Nur die Politik löst ihr funktionales Bezugsproblem,<br />

die effektive Durchsetzung kollektiv bindender<br />

Entscheidungen, durch die Drohung mit physischer Gewalt.<br />

Nur die Politik hält somit in der modernen Gesellschaft das<br />

Gewaltmonopol – und was immer Terrorismus sonst noch trifft<br />

(Flugzeuge, Hochhäuser, Menschen), seine Gewalt trifft immer<br />

auch dieses Monopol. Umgekehrt gilt aber auch, dass Terrorismus<br />

erst mit der Ausdifferenzierung des politischen Systems<br />

„schlagartig die Szene betritt“ (Fuchs 2002: 233). Denn erst in<br />

dem Moment, in dem Gewalt politisch monopolisiert ist, fällt<br />

Gewalt an und auf, die sich diesem Monopol nicht fügt. Aus<br />

der Perspektive der Politik erscheint Terrorismus dann <strong>als</strong> eine<br />

„De-Monopolisierungsgewalt“ (Fuchs 2004: 40), eine Gewalt,<br />

die das Gewaltmonopol der Politik in der Gesellschaft negiert.<br />

Politik muss deswegen auf terroristische Gewalt reagieren, da<br />

sonst ihr Gewaltmonopol erodieren würde. Gleichzeitig ist es<br />

aber gerade die Reaktion der Politik auf die terroristische Provokation,<br />

die den Anspruch der Politik auf das Gewaltmonopol<br />

in der Gesellschaft untergraben kann. Denn die Provokation<br />

des Terrorismus ist genau darauf angelegt, sie stellt einen intendierten<br />

und überraschenden Normbruch dar (z.B. das Steuern<br />

von Zivilflugzeugen in Hochhäuser), „der den anderen in<br />

einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer Reaktion veranlassen<br />

soll, die ihn, zumal in den Augen Dritter, moralisch<br />

diskreditiert und entlarvt“ (Paris 1998: 58). Die Reaktion auf<br />

die terroristische Aggression soll die Politik <strong>als</strong> eigentlichen<br />

Aggressor demaskieren, so dass sich die Rollen von Opfer und<br />

Schuldigem umkehren, und das terroristische Vorgehen für<br />

Dritte gerechtfertigt erscheint. Die RAF hat 1977 dieses Kalkül<br />

so formuliert, dass durch „die reaktion des systems, die eskalation<br />

der konterrevolution, die umwandlung des politischen<br />

ausnahmezustands in den militärischen ausnahmezustand der<br />

feind sich kenntlich macht, sichtbar – und so, durch seinen eigenen<br />

terror, die massen gegen sich aufbringt, die widerstände<br />

verschärft, den revolutionären kampf zwingend macht“<br />

(zit. n. Schneckener 2006: 24). Anvisiert wird eine Überreaktion<br />

der Politik, das Sichtbarwerden eines Missverhältnisses zwischen<br />

Auslöseaktion und Sanktion, die geeignet ist, den Sanktionierenden<br />

zu diskreditieren und die vom Terrorismus „<strong>als</strong><br />

interessiert unterstellten Dritten“ (Münkler 2003: 14ff.) zur Unterstützung<br />

des Terrorismus zu mobilisieren. Diese Überreaktion<br />

besteht letztlich darin, dass es für die Politik nur noch<br />

„tote Terroristen oder mutmaßliche Terroristen“ (Beck 2008:<br />

195) gibt. Das heißt, dass die terroristische Provokation „von<br />

unten“ einen Terrorismus „von oben“ evoziert, die Politik in<br />

ihrem War on Terrorism selbst zum Terrorismus mutiert, und<br />

sich dadurch delegitimiert.<br />

III. Terroristische Gewalt <strong>als</strong> Medium der<br />

Kommunikation<br />

Terrorismus ist aber nicht Gewalt um der Gewalt willen. Die<br />

Gewalt des Terrorismus transportiert vielmehr – und das unterscheidet<br />

terroristische von krimineller Gewalt – eine Botschaft:<br />

Terror will die Gesellschaft verändern. Die Gewalt des<br />

terroristischen Systems fungiert dann <strong>als</strong> Medium der Kommunikation<br />

(vgl. Schneider 2007: 125). Kommunikationsmedien<br />

bilden sich allgemein in der sozialen Evolution aus, wenn<br />

die Annahme einer Kommunikation unwahrscheinlich und<br />

die Ablehnung entsprechend wahrscheinlich wird (vgl. Luhmann<br />

1997: 316ff.). Beispiele für solche Medien, die Ablehnungs-<br />

in Annahmewahrscheinlichkeit transformieren, sind<br />

Geld im Wirtschaftssystem oder Macht im politischen System.<br />

Terrorismus benutzt Gewalt um zur Annahme seiner Forderungen<br />

zu motivieren (vgl. Baecker 2007: 60). Aber warum gerade<br />

Gewalt? Die Vermutung ist, dass die Gewalt des Terrorismus<br />

„Ausdruck eines fundamentalen (extrem modernen) Kommunikationsproblems“<br />

(Fuchs 2002: 236) ist. Dieses Problem lässt<br />

sich <strong>als</strong> „In-Adressabilität der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme“<br />

(Fuchs 2006: 3) bezeichnen. Die heutige Weltgesell-<br />

64


Terrorismus Europa Region<br />

schaft ist keine segmentär oder stratifikatorisch differenzierte<br />

Gesellschaft mehr, sondern eine funktional differenzierte Gesellschaft.<br />

Sie ist ein Ensemble ungleicher, aber in ihrer Ungleichheit<br />

gleicher, auf die Erfüllung einer gesellschaftlichen<br />

Funktion spezialisierter Systeme (Wirtschaft, Recht, Politik,<br />

Wissenschaft etc.). Eine Konsequenz dieser neuartigen Gesellsc<br />

ruktur ist: „Die funktional differenzierte Gesellschaft operiert<br />

ohne Spitze und Zentrum“ (Luhmann 1997: 803). Weder<br />

in der Gesellschaft <strong>als</strong> Ganzes, noch in den einzelnen Funktionssystemen<br />

gibt es eine Instanz, die die Einheit des jeweiligen<br />

Systems repräsentiert. Das bedeutet, Terrorismus kann seine<br />

Forderungen an niemanden adressieren, er kann nicht mit der<br />

Gesellschaft und ihren Funktionssystemen kommunizieren.<br />

Man kann sich an die Gesellschaft und die Funktionssysteme<br />

nicht wenden: „Kein Brief, kein Anruf, keine E-Mail, kein Fax<br />

erreicht die Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft, die Politik, die<br />

Kunst, die Erziehung und auch nicht: die Gesellschaft“ (Fuchs<br />

2002: 234). Und: Terrorismus ist selbst Teil des Problems: „Auch<br />

an den Terror kann man nicht schreiben“ (Fuchs 2002: 236). Die<br />

Gewalt des Terrorismus ist dann, anders <strong>als</strong> der Protest der Protestbewegungen,<br />

die in der Gesellschaft ihren Protest gegen die<br />

Gesellschaft kommunizieren, in gewisser Weise „das Ergebnis<br />

der Einsicht, daß Kommunikation (gerichtet an die Gesellschaft,<br />

an die Funktionssysteme) ‚nichts bringt’ “ (Fuchs 2004:<br />

48). Die terroristische Operation des gewaltsamen Kommunikationsabbruchs<br />

ist mithin der Ausweg, durch den<br />

Terrorismus versucht Gesellschaftsveränderungen zu<br />

initiieren – und zwar über den Umweg der gewaltsamen<br />

Vernichtung von Menschen. Denn die Gesellschaft und<br />

ihre Funktionssysteme sind <strong>als</strong> Kommunikationssysteme<br />

nicht in einem physischen Sinne angreifbar. Das<br />

Gesellschaftssystem selbst lässt sich nicht destruieren,<br />

aber es lässt sich durch die Destruktion der menschlichen<br />

Kommunikanden in seiner Umwelt irritieren.<br />

Terror trifft damit zwar nicht „die Schuldigen“, die Gesellschaft<br />

und ihre Funktionssysteme, sondern nur „die<br />

Unschuldigen“, die Menschen, die eben nicht die Gesellschaft<br />

sind. Aber erst durch den Tod dieser Unschuldigen<br />

wird die Gesellschaft erschüttert, die „gesellschaftliche<br />

Kommunikation irritiert, insofern sich niemand (sozusagen<br />

durch Unschuld geschützt) sicher fühlen kann“<br />

(Fuchs 2006: 5) – fast wie ein Erdbeben schlägt Terror<br />

über die Umwelt der Gesellschaft zu.<br />

Literatur<br />

Asad, Talal (2007): On Suicide Bombing. New York, Columbia UP.<br />

Baecker, Dirk (2007): Wozu Gesellschaft? Berlin, Kadmos.<br />

Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen<br />

Sicherheit. Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

EU (2003): Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie.http://consilium.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIDE.pdf<br />

(Zugriff: 24.04.08)<br />

Fuchs, Peter (2002): „Kein Anschluß unter dieser Nummer oder: Terror ist wirklich<br />

blindwütig.“ In: Baecker, Dirk et. al. (Hrsg.): Terror im System. Der 11. September<br />

und die Folgen. Heidelberg, Carl Auer. S. 223-238.<br />

Fuchs, Peter (2004): Das System „Terror“. Versuch über eine kommunikative Eskalation<br />

der Moderne. Bielefeld, Transcript.<br />

Fuchs, Peter (2006): Die „bösen“ Anonyma – Zur sozialen Funktion des Terrors.<br />

http://www.hannah-arendt-hannover.de/media/fuchs_vortrag.pdf (Zugriff:<br />

16.04.08).<br />

Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.,<br />

Suhrkamp.<br />

Münkler, Herfried (2003): „Grammatik der Gewalt.“ In: Hitzler, Ronald/Reichertz,<br />

Jo (Hrsg.): Irritierte Ordnung. Die gesellschaftliche Verarbeitung von Terror.<br />

Konstanz, UVK. S. 13-29<br />

Neiman, Susan (2004): Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie.<br />

Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Paris, Rainer (1998): Stachel und Speer. Machtstudien. Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Schneckener, Ulrich (2007): Transnationaler Terrorismus. Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Schneider, Wolfgang L. (2007): Religio-politischer Terrorismus <strong>als</strong> Parasit. In:<br />

Kron, Thomas/Reddig, Melanie (Hrsg.): Analysen des transnationalen Terrorismus.<br />

Wiesbaden, VS. S. 125-165.<br />

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Sven Hartwig ist Soziologe und war bis Jänner 2008 <strong>als</strong><br />

wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Sozialanthropologie<br />

(ÖAW) tätig. Derzeit arbeitet er an seiner<br />

Dissertation zum Thema Terrorismus.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 65


Region<br />

e u r o pa<br />

K.u.K. Besatzung im Sandžak Novi Pazar<br />

Gesellschaft, Kontakt und Erfahrung<br />

Von Tamara Scheer<br />

Der Sandžak war früher eine osmanische<br />

Verwaltungseinheit. Jener von Novi Pazar<br />

erstreckt sich heute auf Gebiete in Serbien,<br />

Montenegro und im Kosovo. Er ist eine<br />

jener europäischen Regionen, die nur selten<br />

in der medialen Berichterstattung auftauchen.<br />

Dementsprechend wenig bekannt sind<br />

seine Kultur und Geschichte. Im Berliner<br />

Vertrag des Jahres 1878 gewährten die europäischen<br />

Großmächte Österreich-Ungarn<br />

nicht nur das Recht auf die Okkupation Bosnien-Herzegowinas,<br />

sondern auch auf den<br />

Unterhalt von Truppen im Sandžak (südlich<br />

von Bosnien). Diese Präsenz währte 30<br />

Jahre. Die vorliegende Darstellung gibt einen<br />

kurzen Überblick über die Kontakte der österreichisch-ungarischen<br />

Soldaten mit der<br />

Bevölkerung, die Auswirkung der fremden<br />

militärischen Präsenz auf die Gesellschaft<br />

und die Beurteilung der Bevölkerung durch<br />

die Besatzungsmacht. Die Schilderung bezieht<br />

sich dabei auf die bisherigen Ergebnisse<br />

eines Forschungsprojekts am Institut<br />

für Zeitgeschichte. In den kommenden Monaten<br />

wird der Gegenfrage nach der Rezeption<br />

und Beurteilung durch die Bevölkerung<br />

des Sandžak nachgegangen werden.<br />

Nach dem Ende des Russisch-Türkischen Krieges 1878 kamen<br />

in Berlin die Staatsmänner der führenden Großmächte Europas<br />

zusammen. Das Ergebnis, der Berliner Vertrag, ermächtigte<br />

Österreich-Ungarn nicht nur zur Besetzung und Verwaltung Bosnien-Herzegowinas.<br />

Im Sandžak Novi Pazar, der im Süden an Bosnien grenzt, räumte<br />

der Artikel 25 der Donaumonarchie auch ein Besatzungsrecht ein, wie er<br />

den Unterhalt kommerzieller Kommunikationslinien gestattete. 1892 hatte<br />

der Sandžak rund 300.000 EinwohnerInnen, von denen etwa 177.000 MuslimInnen<br />

waren (vgl. Ippen 1892: 10, 46). Während im südlichen Teil viele<br />

AlbanerInnen lebten, war die Bevölkerung im Norden großteils serbischer<br />

Herkunft (vgl. Kosančić 1912). Die weiteren Modalitäten der Besetzung<br />

sowie deren Einschränkungen regelte das bilaterale Abkommen von Konstantinopel<br />

vom 21. April 1879. Darin vereinbarten das Osmanische Reich<br />

und Österreich-Ungarn, dass die Anwesenheit der k.u.k. Truppen in keiner<br />

Weise die Tätigkeit sämtlicher administrativer, gerichtlicher und finanzieller<br />

osmanischer Behörden behindern dürfe. Dies bedeutete für die Besatzungs<br />

macht das Verbot jeglicher Einmischung in Verwaltungsangelegenheiten.<br />

Der Anhang zur Konvention beschränkte die österreichisch-ungarische Militärpräsenz<br />

auf 4.000 bis 5.000 Mann und geographisch auf den nördlichen<br />

Teil des Sandžak, das so genannte Lim-Gebiet (vgl. Strupp 1911: 167-168).<br />

Vor dem Einmarsch wurde eine aus Offizieren und Beamten bestehende<br />

Kommission ausgeschickt. Ihre Mitglieder waren nicht nur beauftragt,<br />

die Lebensmittel- und Rohstofflage im Sandžak in Erfahrung zu bringen,<br />

sondern hatten sich gleichzeitig über die „Stimmung aller Klassen<br />

der Bevölkerung zu orientieren“. Das bedeutete sowohl den Auftrag die<br />

„einflussreichen Persönlichkeiten für unsere Sache zu gewinnen“, <strong>als</strong><br />

auch „überall die beruhigende Versicherung auszusprechen, dass unsere<br />

Mission der Hebung und Förderung der allgemeinen Sicherheit gilt“<br />

(ÖSTA/KA/AFA). Interessant ist vor allem, durch welche Zuwendungen<br />

erwartet wurde, die Menschen gewinnen zu können. Die Kommissionsmitglieder<br />

sollten die muslimische und christliche Geistlichkeit auf das<br />

Schicksal ihrer Standesgenossen in Bosnien aufmerksam machen. Diese<br />

seien sehr einflussreich und vom Kaiser mit Auszeichnungen überhäuft<br />

worden (ÖSTA/KA/AFA). Die Vorarbeiten waren wohl mit ein Grund<br />

dafür, dass der britische Konsul in Sarajevo, Edward B. Freeman, über<br />

den darauffolgenden Einmarsch berichten konnte: „In spite of sundry<br />

prognostications to the contrary, the occupation by the Austrian troops<br />

[…] seems to have been effected so far without bloodished or any oppo-<br />

66


Novi Pazar Europa Region<br />

Geographische Lage des Sandžak Novi Pazar<br />

Graphik: Karte von CC Gavran CC, nachbearbeitet von Wilhelm Binder<br />

sition on the part of the population. […] The Austrian troops<br />

are said to have been well received by the inhabitants”<br />

(Kroiher 1998: Anhang).<br />

Die österreichisch-ungarischen Soldaten bezogen ab September<br />

1879 ihre Garnisonen, darunter die größte, ca. 2.000 Mann,<br />

in der Stadt Plevlje. Ihre Lager bestanden aus selbst gebauten<br />

Baracken und umfassten, z.B. jenes in Plevlje, eine kleine katholische<br />

Kapelle, ein Offizierskasino und ein Mili tärspital.<br />

Viele Soldaten brachten ihre Familien mit in den Sandžak<br />

(vgl. Ippen 1892: 49, 62, 67). Wie sich den Besatzungssoldaten<br />

die vorgefundene Gesellschaftsstruktur darstellte,<br />

davon legte der im Sandžak eingesetzte österreichisch-ungarische<br />

Offizier Josef Graf Stürgkh Zeugnis ab: „Den ersten<br />

Rang nahmen unstrig die geborenen Osmanen ein, die Nachkommen<br />

der einstigen Eroberer dieses Landes. […] Ihnen zunächst<br />

standen die zum Islam übergetretenen Slawen, bzw.<br />

deren Nachkommen. Unter ihnen fand man vielfach reiche<br />

Grundbesitzer und Handelsleute. Dies waren die eigentlich<br />

und ausschließlich herrschenden Klassen. Wo der Christ begann,<br />

hörte Recht und Gesetz auf und trat schrankenlose Willkür<br />

und Bedrückung an deren Stelle“ (Stürgkh 1922: 59). Die<br />

christliche Bevölkerung erwartete sich eine Besserung ihrer<br />

rechtlichen Situation und „drängte sich demonstrativ“ an die<br />

Truppen heran, wie einem zeitgenössischen Bericht zu entnehmen<br />

ist. Im Umgang mit ihnen „gehört unsererseits viel<br />

Takt dazu“, hieß es doch auf ein gutes Verhältnis mit dem<br />

Osmanischen Reich Rücksicht zu nehmen. (ÖStA/KA/AFA).<br />

Neben Sicherungsdiensten wurden die österreichisch-ungarischen<br />

Soldaten zu verschiedenen Arbeiten herangezogen<br />

(Stürgkh 1922: 66). So wurde etwa der Weg von Plevlje nach<br />

Prijepolje von den Truppen zu einer befahrbaren Straße ausgebaut<br />

(Ippen 1892: 92). „Zum Zeitvertreib“, so der spätere<br />

Albanien-Experte Franz Baron Nopcsa, kam es schon einmal<br />

vor, dass die Soldaten an Berghängen das Mono gramm<br />

des Kaisers mit Steinen legten oder mit Kalk aufmalten. Die<br />

osmanischen Soldaten standen ihnen mit dem Namenszug<br />

des Sultans um nichts nach: „Jetzt glänzen österreichische<br />

und türkische Zeichen friedlich nebeneinander“, so Nopcsa<br />

(Nopcsa 2001: 10).<br />

Als Folge der Anwesenheit der österreichischen Truppen<br />

erhob die türkische Regierung 1880 das Gebiet um Plevlje<br />

zu einem eigenen Sandžak und entsandte einen General<br />

<strong>als</strong> Kommandanten und Gouverneur (Stern 1916: 50). In seiner<br />

Hand vereinte er die zivile und militärische Macht dieser<br />

Region. Zugleich wurde eine größere osmanische Garnison<br />

in den zuvor weniger wichtigen Ort verlegt. Die steigende<br />

Bedeutung hatte Auswirkungen: 1880 wurden in Plevlje<br />

das erste Krankenhaus und 1889 eine Brauerei errichtet.<br />

Nach dem Zeitgenossen Theodor Ippen sorgte „der Aufenthalt<br />

einer größeren, an europäisches Kulturleben gewöhnten<br />

Garnison [Anm.: die österreichisch-ungarische], welche beinahe<br />

alle ihre Bedürfnisse sich im Orte beschaffen mußte“<br />

für einen finanziellen Aufschwung in der Bevölkerung; auch<br />

Handel und Gewerbe blühten auf (Ippen 1892: 62-63). Die<br />

meisten Offiziere wohnten nicht in Kasernenbauten, sondern<br />

bei der Bevölkerung im Ort „in ganz erträglichen Miethäusern,<br />

die der rege Gewerbssinn der serbischen Städter<br />

erbaut hatte. Auch ein Teil unserer Mannschaft war hier untergebracht“<br />

(Stürgkh 1922: 57). Gleichzeitig stiegen durch<br />

die enorme Nachfrage aber die Preise an. Der Bedeutungszuwachs<br />

und die veränderten Konsumwünsche führten zur<br />

Transformation einer orientalischen zu einer vermehrt mitteleuropäisch<br />

geprägten Stadt (vgl. URL 1). Über die Meinung<br />

der Bevölkerung zu diesen Veränderungen äußerte sich<br />

Ippen aus der Sicht eines Angehörigen des Besatzerstaates:<br />

„Die Mohammedaner hängen zumeist mit großer Zähigkeit<br />

an allem Hergebrachten und schließen sich dementsprechend<br />

gegen Neuerungen und fremde Einflüsse streng ab,<br />

unter den Christen macht sich jedoch allmählich eine kulturfreundliche<br />

Strömung geltend, sie wünschen fortschrittliche<br />

Reformen und sind dem Einflusse des Westens zugänglicher,<br />

da sie von einer besseren Zivilisation auch eine Besserung<br />

ihrer Lage erhoffen“ (Nordendorf 2005: 126).<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 67


Region Europa Novi Pazar<br />

Über die Kontakte zwischen Besatzern und Besetzten muss<br />

festgehalten werden, dass unabhängig davon, wie „human“<br />

sich die Präsenz letztlich gestaltete, diese dennoch auf Unterdrückung<br />

basierte. Zu dieser Feststellung kam auch Joseph<br />

Stürkgh: „Im Übrigen waren wir nur fremde und nicht gera de<br />

gern geduldete Gäste im Lande.“ Aber nicht nur, weil sie zum<br />

Teil inmitten der Bevölkerung wohnten, berichteten viele<br />

öster reichisch-ungarische Zeitgenossen gleichzeitig von unzähligen<br />

Begegnungen mit türkischen Funktionären und Offizieren,<br />

teilweise im privaten Rahmen. Franz Baron Nopcsa,<br />

ein Sandžak-Reisender und späterer Albanien-Experte, revidierte<br />

die Aussage Joseph Stürgkhs: „Jedoch bleibt die Kultur<br />

der Bevölkerung fremd, und dies hauptsächlich deshalb, weil<br />

wir mit der Bevölkerung in gar keinem Kontakt sind und übrigens<br />

auch gar keinen Kontakt suchen“ (Nopcsa 2001: 15).<br />

sellschaft aus: Sie schufen einen Markt für neue Güter und<br />

stärkten damit die Kaufkraft der Bevölkerung. Es waren<br />

aber nicht nur die Sachgüter, an denen die Militärs Interesse<br />

zeigten, sondern auch „Freizeitformen“. Diese Veränderungen<br />

fanden nicht nur im Sandžak des ausgehenden 19.<br />

Jahrhunderts statt, sondern geschehen ebenso aufgrund der<br />

internationalen Präsenzen (EU, UN, OSCE) im Kosovo und<br />

in Bosnien-Herzegowina des 21. Jahrhunderts.<br />

Dr. Tamara Scheer, Forschungsassistentin am Institut für Zeitgeschichte<br />

der Universität Wien, dzt. Bearbeitung eines Projekts der<br />

Landesverteidigungsakademie Wien/Institut für Strategie und Sicherheitspolitik<br />

über „Die Besatzungspolitik Österreich-Ungarns<br />

im Ersten Weltkrieg“ (erscheint im Herbst 2008). E-Mail: scheer.<br />

tamara@gmx.at<br />

Die österreichisch-ungarische Präsenz im Sandžak Novi<br />

Pazar dauerte insgesamt drei Jahrzehnte. 1908, im Gefolge<br />

der Jungtürkischen Revolution und der Annexion Bosnien-<br />

Herzegowinas, endete sie abrupt. Kaiser Franz Joseph <strong>als</strong><br />

offizieller Vertreter Österreichs versuchte diese Aufgabe <strong>als</strong><br />

„Geste des Guten Willens“ im Hinblick auf die Einverleibung<br />

des Okkupationsgebietes zu verkaufen. Bis zum Beginn des<br />

Balkankrieges waren dem Osmanischen Reich und mit ihm<br />

dem Sandžak aber nur eine kurze Verschnaufpause gegönnt,<br />

denn am 9. Oktober 1912 überschritt die montenegrinische<br />

Armee den Lim. Schließlich drang sie so weit vor, dass sie<br />

sich mit den serbischen Truppen vereinigen konnte. Infolgedessen<br />

wurde Plevlje von den Montenegrinern besetzt. Das<br />

Ergebnis war die Aufteilung des Sandžaks zwischen Serbien<br />

und Montenegro. Ab dem Ende des Ersten Weltkrieges und<br />

der Gründung des SHS-Staates, aber auch während der Zeit<br />

„Tito-Jugoslawiens“ befand sich der Sandžak in einem gemeinsamen<br />

Staat. Erst seit 2003, <strong>als</strong> Montenegro seine Unabhängigkeit<br />

erklärte, ist der Sandžak erneut zwischen zwei<br />

souveränen Ländern geteilt. Mit der Unabhängigkeitserklärung<br />

des Kosovo im Februar 2008 ergibt sich sogar eine faktische<br />

Dreiteilung dieser Region.<br />

Resümee<br />

Eine fremde militärische Präsenz hatte stets Auswirkungen<br />

auf die Bevölkerung des besetzten Gebietes. Veränderungen<br />

basierten aber nicht ausschließlich auf jenen Maßnahmen,<br />

die bewusst und geplant durch die Besatzungsmacht herbeigeführt<br />

wurden, wie etwa der „Modernisierung“ der<br />

Wirtschaft oder der Bildung. Die Soldaten übten mit ihren<br />

Familien einen großen und langfristigen Einfluss auf die Ge-<br />

Literatur- und Quellenangaben<br />

Friedrichsmeier, Helmut (1999):<br />

Das versunkene Bosnien. Graz,<br />

Wien, Köln, Styria.<br />

Ippen, Theodor (1892): Novibazar<br />

und Kossovo (Das alte Rascien).<br />

Eine Studie. Wien, Hölder.<br />

Kosančić, Ivan (1912): Novo-Pazarski<br />

sandžak i njegov etnički<br />

problem [Der Sandžak Novi<br />

Pazar und sein ethnisches Problem].<br />

Belgrad.<br />

Nopcsa, Franz (2001): Reisen in<br />

den Balkan. Die Lebenserinnerungen<br />

des Franz Baron Nopsca.<br />

ed. Elsie Robert. Priština, Dukagjini.<br />

Sauer von Nordendorf, Josef (2005):<br />

Das Schicksal des letzten Militärkommandanten<br />

des Sandžak<br />

Novi Pazar. In: Pallasch: Zeitschrift<br />

für Militärgeschichte, Heft<br />

19 (Frühjahr 2005). S. 124-145.<br />

Stern, Georg (1916): Das alte Rascien,<br />

der Sandschak Novipazar<br />

und dessen Anland unter der<br />

k.u.k. Militärverwaltung. Wien,<br />

Hölder.<br />

Strupp, Karl (1911): Urkunden<br />

zur Geschichte des Völkerrechts.<br />

Vom Berliner Kongress bis 1911.<br />

Bd. II, Gotha, Sack.<br />

Stürgkh, Josef (1922): Politische<br />

und militärische Erinnerungen<br />

aus meinem Leben. Leipzig, List.<br />

URL 1: www.pljevlja.cg.yu/istorija.html<br />

Sowie Dokumente aus den Beständen<br />

Neue Feldakten, Alte<br />

Feldakten und Armeeoberkommando<br />

des Österreichischen<br />

Staatsarchivs/Kriegsarchiv.<br />

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68


europa<br />

Region<br />

Das Formular<br />

Ein Medium des europäischen Alltags<br />

Von Klara Löffler<br />

Über Europa und die EU kann man geteilter<br />

Meinung sein: Das politische Prinzip findet<br />

man eventuell richtig, die Vorteile gemeinsamer<br />

Märkte nimmt man dann gerne mit,<br />

was aber die Organisation und Verwaltung<br />

anlangt, so ist man sich in seinem Unmut der<br />

Zustimmung anderer Unzufriedener sicher.<br />

Die Schelte über die EU-Bürokratie ist jenes<br />

Stück Erzählkultur, das nicht nur in allen<br />

EU-Ländern präsent ist und gepflegt wird,<br />

sondern das wiederum ein schönes, wenn<br />

auch paradoxes Beispiel für die Existenz<br />

transnationaler Interessenlagen und Erfahrungsdimensionen<br />

abgeben könnte.<br />

So konzentrieren sich die folgenden Überlegungen<br />

auf ein Formular, das in einem<br />

spezifischen Kontext steht: Es geht um die<br />

Projektbewerbungen im Zusammenhang des<br />

Titels Kulturhauptstadt Europas, <strong>als</strong>o um eine<br />

Form der Aktivierung und Beteiligung der<br />

EU-BürgerInnen an einer transnational modellierten<br />

Kulturpolitik.<br />

Der in diversen Varianten bekundete Ärger entzündet sich häufig<br />

an Situationen der konkreten Kommunikation. Formulare sind<br />

zen tra le Medien, das Ausfüllen von Formularen gehört zum Erfahrungsbereich<br />

eines großen Teils der EU-BürgerInnen. Formulare sind<br />

jene Textformen, über die die EU im Alltäglichen manifest wird, <strong>als</strong> kontrollierende<br />

sowie för dernde Instanz.<br />

Kultur und Verwaltung<br />

„Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht. Die Zusammenfassung<br />

von so viel Ungleichnamigem wie Philosophie und Religion,<br />

Wissenschaft und Kunst, Formen der Lebensführung und Sitten, schließlich<br />

dem objektiven Geist eines Zeitalters unter dem einzigen Wort Kultur<br />

verrät vorweg den administrativen Blick [...]“ (Adorno 1980: 122). Es ist<br />

eine Klar stellung, mit der Theodor W. Adorno seinen Aufsatz zum Thema<br />

Kultur und Verwaltung beginnt, eine Klarstellung, die gerade auch vor dem<br />

Hintergrund der kritischen Folklore über die EU hilfreich ist. Der aufgeregte<br />

Ton, mit dem über die EU-Kulturpolitik in Österreich wie in Deutschland<br />

räso niert und resümiert wird, rührt unter anderem daher, dass<br />

„Kultur“ entsprechend der Genealogie des Begriffs im Deutschen jenseits<br />

und entge gengesetzt zu lebensweltlichen Sphären wie Politik und Wirtschaft<br />

verstan den wird. Und der Ton, so scheint es, wird zunehmend schriller,<br />

wenn sich das Offensichtliche nicht mehr tarnen lässt, wenn, wie im Fall<br />

der Ausschrei bungen und Bewerbungen zur „Kulturhauptstadt Europas“<br />

Kultur(-politik) <strong>als</strong> Form der Verwaltung auftritt.<br />

Masse und Maße<br />

Aus zeitgenössischen Alltagen ist man ja an einiges gewöhnt, an mehrseitige<br />

Fragebögen und Formulare, vorsorglich versehen mit Begleittexten, die<br />

uns das Ausfüllen erleichtern sollen. Was aber eine Bewerbung mit einem<br />

Projekt im Kontext einer Kulturhauptstadt Europas umfasst – einen Leitfaden<br />

von 38 Seiten, eine Ausfüllhilfe von 15 Seiten und das eigentliche Formular<br />

von 12 Seiten und zusätzlichen Anhängen – geht über das alltägliche<br />

Maß weit hinaus und wird schon in dieser Steigerung <strong>als</strong> Überforderung<br />

und Skandal empfunden. Die beigefügte Checkliste, die ja <strong>als</strong> Hilfestellung<br />

gedacht ist, signalisiert den AntragstellerInnen nichts anderes <strong>als</strong> die Komplexität<br />

des Unterfangens. Mit der Checkliste ist die Summe aller Anforderungen<br />

ins Bild gesetzt und gleichzeitig in ein moralisches Format gerückt:<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 69


Region europa Formular<br />

Dies alles muss erledigt werden. Ergänzt wird diese Auflistung<br />

durch einen ausführlichen Kurztext Der Schlüssel zum<br />

Erfolg, auch dies eine Textform der Reduktion und Zusammenfassung,<br />

die wir aus der zeitgenössischen Ratgeberliteratur<br />

und -pädagogik kennen.<br />

Diese, das Formular flankierenden Textteile sind in Sprache<br />

und Inhalt durchaus unterschiedlich, hier kann leider nicht im<br />

Detail darauf eingegangen werden. Das Entscheidende aber<br />

scheint mir in der Fülle, in der Überfülle an Texten zu liegen,<br />

über die die AutorInnen versuchen, Transparenz – was<br />

Zielsetzungen, Verfahrensschritte etc. anlangt – herzustellen<br />

und zu Bewerbungen zu ermutigen. Gleichzeitig dürfte<br />

diese Überfülle an Texten den gegenteiligen Effekt zeitigen.<br />

Die schiere Masse an Statements, Informationen und Fragen<br />

schafft Distanz, so dass die eigene künstlerische und kulturelle<br />

Arbeit nicht in diesem Kontext der EU-Politik, sondern<br />

jenseits dieses Kontexts verstanden wird.<br />

Einfüllen und Einfügen<br />

Das Problem verschärft sich mit der grundsätzlichen Spezifik<br />

eines Formulars. Denn wir nehmen Formulare <strong>als</strong>, so Rainer<br />

Paris, „materialisierte Bürokratie“ (Paris 2005: 189) wahr und<br />

projizieren Erfahrungen oder auch nur Bilder und Stereotypen<br />

von Verwaltungsformen wie Steuern und Steuererklärungen<br />

insgesamt auf diese kommunikative Gattung. Paris<br />

beschäftigt sich in einer kleinen, sehr anregenden Skizze im<br />

Allgemeinen mit dieser „Soziologie des Formulars“. Er charakterisiert<br />

deren Text <strong>als</strong> eine Form „standardisierter Schriftlichkeit“,<br />

über die sich ein Geflecht sozialer Beziehungen,<br />

Machtbeziehungen realisiert. Was das Formular für eine kulturwissenschaftliche<br />

Alltagsforschung darüber hinaus besonders<br />

aufschlussreich erscheinen lässt, ist die Kulturtechnik<br />

des Ausfüllens, genauer: des Einfügens und Anpassens von<br />

mehrdeutigen, widersprüchlichen Erfahrungen und Wissensbeständen<br />

in eine Form, die auf Eindeutigkeit besteht,<br />

die der Logik der Verwaltbarkeit und Vergleichbarkeit folgt<br />

und unsere Angaben und damit auch uns <strong>als</strong> Personen in<br />

einen zu bearbeitenden Fall verwandelt.<br />

Diese Logik muss umso mehr zu Irritationen führen, je deutlicher<br />

ein Lebensbereich in Distanz zu bürokratischen Vorgängen<br />

gedacht wird. Das Formular für Projektbewerbungen<br />

steht in diesem Kontext. Dem Selbstverständnis derer, die<br />

mit dieser Ausschreibung angesprochen werden sollen, stehen<br />

die Fragen, wie überhaupt das Abfragen, konträr gegenüber.<br />

Da werden etwa Taxonomien eingefordert, wie eine<br />

Selbsteinschätzung des Innovationsgrades des vorgeschlagenen<br />

Projekts. Da müssen Vernetzungen sozusagen festgeschrieben<br />

werden, die eher <strong>als</strong> informell verstanden und<br />

gelebt werden. Da werden Arbeits- und Verwaltungsformen<br />

im Modell einer betriebswirtschaftlich organisierten Rationalität<br />

schematisiert, während potenzielle ProjektnehmerInnen<br />

ihren Vorstellungen und Idealen nach eher jenseits solcher<br />

Logiken agieren.<br />

Das Einfügen in Vorgaben und Maßstäbe, die auf Vergleichbarkeit<br />

hin konzipiert sind, erfordert <strong>als</strong>o erhebliche Anpassungsleistungen.<br />

Das Ausfüllen eines derartigen Formulars<br />

setzt zudem das Beherrschen spezifischer Sprachpolitiken<br />

voraus. Schon in dieser Phase der Bewerbungen werden <strong>als</strong>o<br />

über das Formular und dessen Aufbau Exklusionen produziert.<br />

Ähnlich wie EU-Statistiken, wie sie Reinhard Johler<br />

analysiert (vgl. Johler 1999), sind derartige Bewerbungsunterlagen<br />

zentraler Bestandteil der grundlegenden Logik der<br />

EU-Politik. Folgt man der Aufforderung Armin Nassehis zu<br />

einer „Kulturtechnikfolgenabschätzung“ (vgl. Nassehi 2007:<br />

127), so stellt sich das Formular in seiner Mikrophysik <strong>als</strong> Instrument<br />

bürokratischer Macht und <strong>als</strong> eine hochbrisante<br />

Quelle kulturwissenschaftlicher Forschung dar.<br />

Klara Löffler, ao. Univ. Prof.in am Institut für Europäische Ethnologie<br />

der Universität Wien. Fakultätsbeauftragte für Gleichbehandlung.<br />

Arbeitsschwerpunkte: Biographie und alltägliches<br />

Erzählen, Methodik/Methodenkritik und deren Theorie, Demokratisierung<br />

und Popularisierung von Wissensordnungen, Tourismus-<br />

und Freizeitforschung, Stadtethnographie.<br />

Literatur:<br />

Bewerbungsunterlagen EU-Kommission http://ec.europa.eu/culture/pdf/<br />

doc633.de.pdf (Zugriff: 4.04.08)<br />

Adorno, Theodor W. (1980): Kultur und Verwaltung. In: Ders.: Soziologische<br />

Schriften I. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M., Suhrkamp, 122-146.<br />

Johler, Reinhard (1999): „Europa in Zahlen“. Statistik - Vergleich- Volkskunde<br />

- EU. In: Zeitschrift für Volkskunde 95, H. II. S. 246-263.<br />

Nassehi, Armin (2007): Denker in die Produktion! In: Ludger Heidbrink,<br />

Harald Welzer (Hrsg.): Das Ende der Bescheidenheit. Zur Verbesserung der<br />

Geistes- und Kulturwissenschaften. München, C. H. Beck. S.124-128.<br />

Paris, Rainer (2005): Soziologie des Formulars. In: Ders.: Normale Macht. Soziologische<br />

Essays. Konstanz, UVK-Verlag. S. 189-192.<br />

70


europa<br />

Region<br />

Forschung & Lehre in einem EU-Projekt<br />

Erfahrungen aus einer Feldforschung<br />

Von Gertraud Seiser<br />

Am EU-Projekt KASS (Kinship and Social<br />

Security) sind 16 Universitäten und Forschungsinstitute<br />

in acht verschiedenen<br />

Ländern beteiligt, insgesamt 54 WissenschaftlerInnen<br />

aus mehreren Disziplinen,<br />

die diversen ForschungsassistentInnen<br />

und Studier enden nicht mit gerechnet.<br />

Der folgende Bericht beruht auf den Erfahrungen<br />

eines Teiles des sozialanthropologischen<br />

Teams in Österreich und bezieht<br />

sich auf Fragen, die aus meiner Auseinan<br />

dersetzung mit Studierenden entstanden<br />

sind. Die Projektberichte werden 2008/2009<br />

in drei Bänden erscheinen, einzelne Teilergebnisse<br />

liegen bereits publiziert vor.<br />

Schon seit dem 19. Jahrhundert ist vom allgemeinen Bedeutungsverlust<br />

der Verwandtschaft in Europa die Rede. Die Großfamilie<br />

hätte im Laufe der Industrialisierung ihre zentralen ökonomischen<br />

und sozialen Funktionen an andere – meist öffentliche – Institutionen<br />

abgegeben und sich zunehmend auf einen kleinen Kern, die Nuklearfamilie,<br />

beschränkt. Die für Europa vorhandenen demografischen Daten<br />

untermauern die These von der schwindenden Relevanz familiärer und<br />

verwandtschaftlicher Bindungen. Die Fertilitätsraten sind im Laufe des<br />

20. Jahrhunderts massiv gesunken, ebenso die durchschnittlichen Haushaltsgrößen;<br />

der Anteil an Einpersonenhaushalten ist überall drastisch<br />

angestiegen. Gleichzeitig wird ein kontinuierlicher Anstieg der Lebenserwartung<br />

beobachtet, die Politik spricht von Überalterung und Pflegenotstand.<br />

Aufgaben, die historisch der Familie zugeordnet wurden, wie<br />

die Sorge für jene Personen, die nicht im Stande sind, ganz oder teilweise<br />

für sich selbst aufzukommen, wurden an öffentliche Einrichtungen<br />

delegiert: Kinderkrippen und Altersheime, Versorgungs- und Therapieeinrichtungen<br />

für Beeinträchtigte, um nur wenige zu nennen, sollen die<br />

Familien „entlasten“. All diese Institutionen, familiäre, private wie öffentliche,<br />

werden zum System der sozialen Sicherheit zusammengefasst. Auf<br />

politischer Ebene hat die Verlagerung dieser gesellschaftlichen Aufgaben<br />

aus dem privaten in den öffentlichen Bereich in Kombination mit den bereits<br />

angesprochenen demografischen Entwicklungen die Frage der Finanzierbarkeit<br />

sozialer Sicherheit in den Vordergrund gerückt. Umfassende<br />

quantitative Erhebungen wurden in Auftrag gegeben. Die Bedeutung<br />

quantitativer Analysen liegt darin, dass – sind die Begründungszusammenhänge<br />

hinreichend bekannt – mathematische Modelle zu Prognosezwecken<br />

aufgesetzt werden können. Diese Umfragen werden inzwischen<br />

auf EU-Ebene vergleichbar und standardisiert durchgeführt. Dabei hat<br />

sich gezeigt, dass die Rolle der Familie in den einzelnen Ländern Europas<br />

sehr unterschiedlich und zudem im Laufe der Zeit starken Veränderungen<br />

unterworfen ist. Die schnell ablaufenden Transformationsprozesse in den<br />

Ländern des ehemaligen Ostblocks haben darüber hinaus zum Vorschein<br />

gebracht, dass manche der unterstellten Erklärungen für Prognosen unzureichend<br />

sind. Die stattgefundenen demografischen Veränderungen<br />

haben sich nicht den Prognosen konform verhalten. Ein detaillierter Blick<br />

auf die Bedeutung von familiären Netzwerken für die soziale Absicherung<br />

und gegenseitige Unterstützung von Menschen schien geboten.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 71


Region europa KASS-Projekt<br />

Das Projekt KASS<br />

KASS, ein EU-Projekt im 6. Rahmenprogramm der Europäischen<br />

Union, hat sich zum Ziel gesetzt, die Rolle familiärer<br />

und nicht-familiärer sozialer Netzwerke in Hinblick<br />

auf die Gewährleistung sozialer Sicherheit in acht europäischen<br />

Ländern vergleichend zu untersuchen. Das Projekt<br />

wurde am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung<br />

in Halle/Saale unter der Koordination von Patrick Heady entwickelt.<br />

Auch wenn der Schwerpunkt sozialanthropologisch<br />

ist, wurde doch das Gesamtprojekt interdisziplinär angelegt:<br />

Die gegenwärtigen Strukturen, Trends und Entwicklungen<br />

können nicht unabhängig von ihrem sozialhistorischen Kontext<br />

gesehen werden. Nicht nur ökonomische Dynamiken<br />

wirken auf die persönlichen sozialen Bindungen von Menschen<br />

ein, sie sind auch massiv staatlichen und kirchlichen<br />

Interventionen (über Gebote, Verbote und finanzielle Anreizsysteme)<br />

ausgesetzt. In den acht an KASS beteiligten<br />

Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Kroatien, Österreich,<br />

Polen, Russland und Schweden) wurden daher zuerst<br />

von sozialhistorischen Forschungsteams Sekundäranalysen<br />

der vorhandenen Quellen über das 20. Jahrhundert durchgeführt.<br />

Zeitgleich entwickelten NetzwerkspezialistInnen<br />

ein umfassendes quantitatives Erhebungsinstrumentarium<br />

zur Dokumentation sozialer Netzwerke von Individuen, den<br />

KNQ (Kinship Network Questionnaire). In eine grafische Darstellung<br />

des persönlichen Netzes, das computergestützt mit<br />

den InterviewpartnerInnen erstellt werden sollte, wurde ein<br />

umfangreicher Fragebogen zu den gegenseitigen Unterstützungsbeziehungen<br />

integriert. In den Jahren 2005 und 2006<br />

führten SozialanthropologInnen in den beteiligten acht Ländern<br />

ethnografische Feldforschungen von einer Dauer zwischen<br />

acht und zwölf Monaten in jeweils einem ruralen und<br />

einem urbanen Erhebungsgebiet durch, in Italien und Frankreich<br />

zusätzlich in zwei mittleren Städten von etwa 100.000<br />

EinwohnerInnen. Bei der konkreten Auswahl der Erhebungsgebiete<br />

ging es nicht um Repräsentativität im Sinne<br />

des Findens von Orten, die möglichst nah an den nationalen<br />

Durchschnittswerten liegen, sondern um das Ausloten von<br />

Unterschieden. Die Feldforschungen selbst bestanden aus<br />

der Durchführung der quantitativen Erhebung unter Einsatz<br />

des KNQs auf der Basis einer Zufallsstichprobe, qualitativen<br />

Interviews, informellen Gesprächen und teilnehmenden Beobachtungen.<br />

Dabei sollte erfasst werden, in welchen sozialen<br />

Netzen von Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft<br />

Individuen involviert sind, welche Bedeutung diesen Netzen<br />

zukommt und wen die einzelnen Personen überhaupt für<br />

verwandt halten. Erwartungen und Verpflichtungen, Normen<br />

und Werte, Erzählungen wie beobachtete Handlungen<br />

standen dabei im Mittelpunkt. Wenn in einem Erhebungsgebiet<br />

die Meinung dominierte, dass Kleinkinder und alte<br />

Menschen in der Familie betreut werden sollten, dann galt es<br />

herauszufinden, ob dies tatsächlich auch der Fall ist und wer<br />

die konkrete Betreuungsarbeit leiste.<br />

Die Tatsache, dass im 6. Rahmenprogramm der EU ein Projekt<br />

bewilligt wurde, das 18 mal 8 Monate bezahlter sozialanthropologischer<br />

Feldforschung vorsieht, zeigt eine Trendwende.<br />

Das Fach wird von außen nicht mehr ausschließlich <strong>als</strong> Orchideenfach<br />

wahrgenommen, das sich exotischer Völkchen<br />

und ferner Sitten annimmt. Es wird uns zunehmend zugetraut,<br />

Beiträge zu anstehenden gesellschaftlichen Fragen zu<br />

liefern, die in politischen Beratungsprozessen bedeutsam<br />

sein können.<br />

Forschung und Lehre<br />

In Österreich wurden die ethnografischen Erhebungen im<br />

Karl-Marx-Hof in Wien von Elisabeth Strasser und von mir<br />

in Schönau, Mühlviertel, unter der Supervision von Peter<br />

Schweitzer durchgeführt. Thomas Fillitz <strong>als</strong> Institutsvorstand<br />

regte an, Studierende im Rahmen ihrer forschungspraktischen<br />

Ausbildung in das Projekt mit einzubeziehen.<br />

Sowohl die rurale <strong>als</strong> auch die urbane Feldforschung fanden<br />

daher im Zusammenhang mit einem vollständigen Vorbereitungsseminar<br />

(Wissmeth), dem Feldpraktikum und einem<br />

Auswertungsseminar statt. Im Karl-Marx-Hof nahmen 17<br />

Studierende an der Feldforschung teil, in Schönau 18. Ich<br />

möchte jetzt am Beispiel von Schönau näher auf die Feldforschungssituation<br />

eingehen.<br />

Was bedeutet es, im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären<br />

EU-Projekts unter Einbeziehung von 18 Studierenden<br />

in einer Lehrsituation zu forschen? Das Projekt<br />

KASS zielt auf Vergleich und methodische Vergleichbarkeit<br />

der Daten. Dies bedeutet, dass auch das ethnografische Forschungsdesign<br />

stark strukturiert und vereinheitlicht sein<br />

muss. Insbesondere der KNQ liefert nur dann sinnvolle<br />

Ergeb nisse, wenn auch seine Anwendung in ähnlicher Weise<br />

erfolgt. Die qualitativen Interviews und die teilnehmenden<br />

Beobachtungen eröffnen zwar wesentlich mehr Spielraum,<br />

erfordern aber trotzdem auch Abstimmung in Bezug auf die<br />

Fragestellungen, denen nachgegangen wird. Forschung im<br />

Rahmen eines größeren EU-Projekts bedeutet auch, dass Vorgaben<br />

und Ablieferungsverpflichtungen genau definiert und<br />

vertraglich festgelegt sind. Da der vergleichende Teil vom<br />

72


KASS-Projekt europa Region<br />

Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung ausgewertet<br />

wird, war das dortige Team darauf angewiesen, die erhobenen<br />

Daten in entsprechender Form, Qualität und vor allem<br />

zu einem vorher festgelegten Zeitpunkt zu erhalten. Dadurch<br />

ergab sich sowohl vom Inhalt <strong>als</strong> auch vom Zeitplan her<br />

wenig Spielraum. Studierende sind in Lehrveranstaltungen,<br />

vor allem wenn es sich um „Lehrforschung“ handelt, ein wesentlich<br />

größeres Maß an Freiwilligkeit, Handlungsspielraum<br />

und Gestaltungsfreiheit gewöhnt. Verlieren sie die Lust<br />

an einem Vorhaben, so kann dies höchstens im Zuge der Benotung<br />

sanktioniert werden. Das Feldpraktikum in Schönau<br />

sah vor, dass jeweils zwei bis vier Studierende durchgehend<br />

drei Wochen im Feld verbringen. Ich selbst war zwischen<br />

dem 2. April und dem 4. Dezember vor Ort. Die Erhebungen<br />

gestalteten sich für mich <strong>als</strong> kontinuierlicher Prozess in regelmäßiger<br />

Abstimmung mit dem Projektkoordinator in<br />

Halle, die immer wieder Anpassungen an das Gesamtvorhaben<br />

zur Folge hatten. Auf Kontextrecherchen folgten ExpertInneninterviews,<br />

dann die Ziehung des Randomsamples, die<br />

Information der Bevölkerung und der Samplepersonen über<br />

das Projekt, die Durchführung der KNQs und der qualitativen<br />

Interviews. Die Teams von Studierenden mussten sich<br />

dem Projektverlauf entsprechend einklinken und waren mit<br />

den Tätigkeiten konfrontiert, die je nach Phase gerade anfielen.<br />

Wöchentliche Kurzberichte an die Gesamtgruppe der<br />

Studierenden sollten den Überblick über den Gesamtverlauf<br />

erleichtern und auch den später Hinzukommenden den<br />

Einstieg ermöglichen. Die meisten Studierenden hatten zum<br />

Zeitpunkt ihrer Ankunft im Feld noch wenig Interviewerfahrung<br />

und besaßen in vielen Fällen eine ausgesprochene<br />

Scheu, die Kommunikation mit ihren Forschungssubjekten<br />

aufzunehmen. Dies führte zu einer starken Dramatisierung<br />

des einzelnen Interviews. Hinzu kommt, dass die Kulturund<br />

Sozialanthropologie in Wien ein Massenstudium ist, in<br />

dem die einzelnen Studierenden in den ersten Jahren in Massenvorlesungen<br />

verschwinden. Auch in den Proseminaren<br />

und Seminaren sind Gruppengrößen von 30 bis 40 Personen<br />

die Regel. Kontaktsituationen, in denen zwei bis vier Studierende<br />

mit einer Lehrenden drei Wochen durchgehend verbringen,<br />

sind extrem gewöhnungsbedürftig.<br />

Mit den ersten zwei Gruppen tat ich mir schwer, gruppendynamische<br />

Prozesse standen im Vordergrund, die Einarbeitungsphasen<br />

waren zu lang. Es ging mehr darum, von wem<br />

und wie das, was zu tun war, getan werden sollte, <strong>als</strong> um das<br />

Tun selbst. Die Endlosschleifen der Gruppen von warming,<br />

storming, forming, Abreise, waren nur durch eine, manchmal<br />

recht harte Streichung der Aufwärmphase zu bewältigen.<br />

Der Ablauf Sonntagabend Anreise, Montagfrüh Dienstbeginn<br />

mit im Regelfall zwei mehrstündigen Interviews pro<br />

Tag, dann Reflexion, Protokolle, etc. hat sich in etwa ab dem<br />

dritten Team <strong>als</strong> Regel etabliert. Das war sicher nicht von<br />

mir gewünscht, sondern hat sich aus der Dynamik im Feld<br />

und dem steigenden Druck durch die Projektkoordination<br />

in Halle, die der Einbindung von Studierenden misstrauisch<br />

gegenüberstand, ergeben. Für mich war es ein Wechsel von<br />

einer Lehrumgebung in eine Arbeitssituation mit gleichzeitiger<br />

Umorientierung von Innengerichtetheit zu einer Reaktion<br />

auf Druck von außen. Was mich heute noch erstaunt,<br />

ist, wie gut alle damit zurecht gekommen sind und welchen<br />

Drive die Forschung dadurch erhalten hat.<br />

Fazit<br />

KASS war für mich nicht irgendein Projekt, es war ein intensiver<br />

Lernprozess, wobei ich keineswegs alle Erfahrungen,<br />

seien sie nun beruflich oder privat, nochm<strong>als</strong> wiederholen<br />

möchte. Ich bin überzeugt davon, dass es der Lehre am Institut<br />

gut täte, vermehrt mit Studierenden in nicht-fiktiven<br />

Forschungsprojekten zu arbeiten. Wenn man will, lernt man<br />

einander auf gleicher Augenhöhe kennen und schätzen, oder<br />

auch nicht. Inzwischen lässt sich sagen, dass die Mitarbeit in<br />

KASS einigen Studierenden etwas gebracht hat. Exzellente<br />

Diplomarbeiten sind entstanden, zwei bis drei warten noch<br />

auf ihre Fertigstellung. Aber nicht alle am Projekt Beteiligten<br />

haben die Chance nützen können.<br />

Trotzdem, für mich hat das Projekt <strong>als</strong> Versuch einer integrierten<br />

Forschung und Lehre etwas gezeigt: Eine bessere<br />

Ausbildung der Studierenden ist möglich, forschungsgeleitete<br />

Lehre ist realisierbar, allerdings nicht unter Bedingungen, in<br />

denen 10 Fixangestellte 3000 Studierenden gegenüberstehen.<br />

Erste inhaltliche Ergebnisse des Projekts sind bereits auf folgenden<br />

Homepages zugänglich:<br />

http://www.eth.mpg.de/kass/index.html<br />

http://www.eth.mpg.de/kass/eu/index.html<br />

Gertraud Seiser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut<br />

für Kultur- und Sozialanthropologie und aufgrund ihrer derzeitigen<br />

Stellvertretungsfunktion in der Studienprogrammleitung besonders<br />

an Möglichkeiten der Verschränkung von Forschung und<br />

Lehre interessiert.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

73


Rezensionen Die Fälscher Ethnizität und Migration<br />

Die Fälscher<br />

Regie: Stefan Ruzowitzky; Darsteller: Karl Markovics, August Diehl, Devid Striesow<br />

Verleih: Filmladen; Österreich, Deutschland 2006, 98 Min<br />

Rezensiert von Florian Widegger<br />

Österreich ist stolz auf Stefan Ruzowitzky, der den Auslandsoscar<br />

erhielt. Grund genug sich diesen Film näher<br />

anzusehen: Die Fälscher handelt vom Unternehmen Bernhard,<br />

der größten Geldfälschaktion in der Geschichte, die gegen<br />

Ende des Zweiten Weltkriegs stattfand. Mit Millionen von<br />

f<strong>als</strong>chen Pfund- und Dollarscheinen wollen die Nazis so die<br />

internationale Wirtschaft lahm legen. Salomon Sorowitsch<br />

(Karl Markovics) wird <strong>als</strong> jüdischer Gefangener im KZ und<br />

Meisterfälscher unfreiwillig zu einer der Schlüsselfiguren des<br />

Projekts. Die Mitarbeiter genießen Sonderbehandlung, leben<br />

in abgeschotteten Baracken, und spielen in ihren Pausen Ping-<br />

Pong, während „draußen“ Gefangene gequält und ermordet<br />

werden. Dennoch hebt sich Widerstand in den Reihen der<br />

Häftlinge und sie versuchen die Aktion gezielt zu sabotieren.<br />

Auf den Erinnerungen Adolf Burgers basierend, die unter<br />

dem Titel Des Teufels Werkstatt <strong>als</strong> Buch erschienen, kreiert<br />

Ruzowitzky ein bis zum Ende packendes und authentisches<br />

Gefühl, das vor allem von den hervorragenden Darstellern<br />

getragen wird. Dabei stehen die inneren Konflikte der einzelnen<br />

Figuren der dokumentarischen Schilderung des „Goldenen<br />

Käfigs“ im KZ gegenüber. Das grobkörnige 16mm<br />

Bild und die lebhafte Kamera verstärken diesen Eindruck<br />

und sorgen auch auf visueller Ebene für entsprechend realistische,<br />

fast schon dreckige Bilder. Dennoch ist Die Fälscher<br />

ein Film, der das Publikum zwar für die Dauer seiner Laufzeit<br />

sehr bewegt, doch kaum Anknüpfungspunkte für sein<br />

„Danach“ bietet.<br />

Ethnizität und Migration<br />

Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Ethnizität und Migration. Einführung in Wissenschaft und Arbeitsfelder.<br />

Berlin, Reimer, 2007, 320 Seiten.<br />

Rezensiert von Malte Borsdorf<br />

Mit Ethnizität und Migration gehen meist Probleme des<br />

Rassismus einher. Interkulturelle Abgrenzungen werden<br />

aufgebaut, Kulturgrenzen festgeschrieben. So ist es Martin<br />

Sökefeld, der nach Brigitta Schmidt-Laubers einleitendem<br />

Kapitel zu Beginn des Buches feststellt, dass der Begriff<br />

„Kultu r“ mehr und mehr den Begriff „Rasse“ ablöse. „Die<br />

Grundthese dieses Beitrages ist, dass es wichtiger ist, den Gebrauch<br />

der […] diskutierten Konzepte zu untersuchen <strong>als</strong> sie<br />

zu definieren“ (S. 31).<br />

Tsylpylma Darieva gibt einen Überblick zur „Migrationsforschung<br />

in der Ethnologie“, nicht ohne die Dichotomie<br />

aus eigen und fremd zu kritisieren. Eine Kritik, die auch Ulf<br />

Hannerz in seinem Beitrag „Das Lokale und das Globale“<br />

vornimmt.<br />

Auf diesen theoretischen Teil folgt ein praktischerer, in dem<br />

verschiedene Möglichkeiten der Forschung vorgeführt werden.<br />

So weist etwa Regina Römhild auf Ethnisierungen im<br />

Alltag hin. Gezeigt wird, wie im Frankfurter Gallus-Viertel<br />

„vor allem die migrantischen Jugendlichen […] das Fast<br />

Food-Lokal <strong>als</strong> einen Kommunikationsraum [schätzen], in<br />

dem keine Nationalität dominiert – auch die deutsche nicht“<br />

(S. 165, 166).<br />

Den Band rundet ein Kapitel zu „Aufgaben und Praxisfeldern“<br />

ab. Hier werden beispielsweise Ansätze zu ethnologischer<br />

Gesundheitsarbeit und transkultureller Pflege von<br />

Charlotte Uzarewicz aufgezeigt. Dieter Kramer zeigt Praxisfelder<br />

und anthropologische Berufsperspektiven in Staat und<br />

Kommunen auf, während Christian Giordano die Schwierigkeiten<br />

einer transkulturellen Rechtsanthropologie erörtert.<br />

Entstanden ist ein lesenswertes Buch, das versucht nahezu<br />

alle Probleme und Phänomene um „Ethnizität und Migration“<br />

zu behandeln.<br />

74


wiener institut<br />

Anthropology of the Senses<br />

Joanna Overing about social philosopoy<br />

Interviewführung: Norma Deseke, Birgit Pestal, Ursula Probst<br />

Interviewbearbeitung: Jakob Hörtnagl, Ursula Probst<br />

Joanna Overing in Wien, Jänner 2008 Bild: Norma Deseke<br />

Joanna Overing (Professor Emeritus at St.<br />

Andrews University, Scotland) is a well known<br />

female anthropologist, famous not only for her<br />

pioneer fieldwork in Amazonian studies, but<br />

<strong>als</strong>o for her highly intellectual theoretical writings<br />

on methodological approaches in cultural<br />

and social anthropology. During her stay in<br />

Vienna to teach a three week lecture course in<br />

January 2008, we met with her to talk about her<br />

specific interests in anthropology and some of<br />

her explorations in an anthropology of emotions,<br />

and its linkage with society, myth and<br />

cosmology.<br />

We have heard you have studied in Vienna: When was that and what were<br />

your experiences back then?<br />

This was in 1963. It was an experience that came by chance. My sister was married<br />

to a Wiener and they lived on Schottenring. I stayed with her that year because<br />

her husband was away in Germany, working, and she was pregnant, in need of<br />

company. I had been planning to go to Istanbul, but instead stayed here in Vienna<br />

– and had a wonderful time, in part because of the time I spent studying at the<br />

University of Vienna. At that time, I already had a BA and Master’s degree (both in<br />

history) from my studies in the States. Thus the university here allowed me to<br />

join its Master’s program in anthropology. I managed to follow one semester at<br />

the university, but found that my knowledge of the German language was simply<br />

insufficient to the task of properly following a university course taught through<br />

it! What I thoroughly enjoyed was the international climate of the student body<br />

at the University of Vienna at that time. I <strong>als</strong>o enjoyed, though with trepidation,<br />

the strange lift that carried us to and fro the students’ dining hall. A memorable<br />

experience.<br />

Did you actually start anthropology in Vienna?<br />

No, my first anthropology course was much earlier, in my first year at university,<br />

at Duke University in North Carolina, where I was able, as one of my options, to<br />

take Weston La Barre’s year long course in anthropology. Weston La Barre (author<br />

of The Peyote Cult) was a very charismatic fellow, who thought it his duty to teach<br />

his students to become more worldly in their politics, and sophisticated in their<br />

cultural pursuits. His classes were large, and I, as the other students, adored him.<br />

The important point here is that La Barre considered successful anthropology to<br />

be only possible through minds exceedingly open to the world. Thus, for him,<br />

anthropology demanded a wealth of experience, both in academics and in personal<br />

life. It was because of La Barre’s encouragement that my first 2 degrees were<br />

in history, not anthropology. At the end of my first year of undergraduate studies,<br />

I asked La Barre about the possibilities of majoring in anthropology. At that time,<br />

there were, in fact, very few undergraduate programs in anthropology in America,<br />

and La Barre was the only anthropologist teaching at Duke. His strong advice<br />

was to train in another field for my undergraduate work, and then later seek<br />

a PhD programme in anthropology. „Achieve knowledge in other fields – and<br />

then turn your attention to anthropology“, he said. It was true that there were<br />

very few undergraduate courses in anthropology in America at that time, with<br />

anthropology being a field that was usually taught only at the postgraduate level,<br />

and thus a discipline that was generally „transferred into“. Years later, when I<br />

began the process of applying for postgraduate studies in anthropology, Weston<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 75


Wiener institut<br />

Interview Joanna Overing<br />

La Barre remembered me, and supported me through with (what<br />

I thought to be!) amazing references for my entry into what were<br />

at that time the most exciting anthropology programs in the U.S.<br />

I can truly say that Weston La Barre was a major influence in the<br />

development of my academic career.<br />

How many years have you spent on the road doing fieldwork?<br />

I wish I could have done more! My first fieldwork was in British<br />

Honduras, now Belize. This was back in about 1966, I guess. I was<br />

there only for about four months, collecting data for my Master’s<br />

dissertation at Brandeis University, which would allow me then<br />

to enter it’s PhD programme. For my PhD thesis at Brandeis, my<br />

main fieldwork was in Venezuela, in the Orinoco basin, among<br />

a people called Piaroa. My first fieldwork in the Orinoco was<br />

in 1968, all of 1968, when much was going on elsewhere in the<br />

world. While travelling along a tributary of the Orinoco, I learned<br />

of Robert Kennedy’s death from the boatman’s small radio. When<br />

settled in a village, the people with whom I lived kindly put a wire<br />

to reach up to the top of the trees in the deep jungle – so we could<br />

receive information on BBC World News as it was happening<br />

during that startling year. After completing my doctorate thesis<br />

(which I wrote while teaching at Vanderbilt University, I transferred<br />

to London in 1974, and got settled there at the London School<br />

of Economics, where I taught for 21 years), I went back to the Orinoco<br />

in 1977 for 6 more months of fieldwork among the people I<br />

worked with in 1968. Further trips became extremely difficult for<br />

various reasons: the distance, the cost – and most importantly, the<br />

politics. In 1976, I was the organizer of a very large symposium<br />

on Amazonia within the International Conference of Americanists<br />

meeting in Paris that year. There, one of the researchers of the<br />

Yanomami passed around a petition for us all to sign (my signature<br />

first, as I was the „Organizer“), because some Yanomami had<br />

killed a couple of gold miners. (Piaroa, the group where I worked,<br />

and Yanomami live next to each other.) The anthropologists who<br />

have been working with Yanomami, and neighbouring groups,<br />

were afraid that the government would punish the Yanomami<br />

who had taken action against what they themselves understood<br />

to be the violence of the gold miners. So the petition was for the<br />

government to take care in the handling of the matter. It is my<br />

understanding that because of this petition, many of us, including<br />

me, were blacklisted from further research in Venezuela, the government<br />

at that time being keen on development on a large scale.<br />

The possible reporting by foreign researchers (such as on dams<br />

being built on the tributaries of the Orinoco) to an international<br />

audience was not desired. At any rate, I wasn’t allowed back for<br />

many years. Then, somewhere in the late 1990s, I received a letter<br />

from a kind Venezuelan researcher saying that a new political<br />

party was in power, and that I would be very welcomed back to<br />

continue my research – but by then I was discouraged about the<br />

enormity of the changes – and the harshness of the long exile. I was<br />

planning to begin new fieldwork in Southern Brazil. But because<br />

I got a Professorship in Social Anthropology at St. Andrews<br />

University, I found I needed to use my energy to further develop<br />

the department and its PhD programme, and create a centre for<br />

Amerindian studies. I had a heavy load of research students to supervise,<br />

so didn’t have time for new research. On the other hand, I<br />

still have extensive material from my fieldwork in 1968 and 1977 to<br />

continue to work through. It takes years to see, years to under stand<br />

and then translate – on deeper levels at least – the ways of knowing<br />

and practicing of Amazonian peoples. It would have been wonderful,<br />

if I could have gone to visit them every year.<br />

Do you actually prefer to be in the field or to be in the process<br />

of reflection of what you have learned in your fieldwork?<br />

Being in the field is probably one of the most amazing experiences<br />

that you can experience. You can be very lonely, you can be very<br />

happy. For me it was a highly intellectual project, first of all because<br />

Piaroa people are so intellectually inclined. Fieldwork was a reflective<br />

process. It was <strong>als</strong>o the case that where I lived there was<br />

only one person who more-or-less knew a workable Spanish. All<br />

others were monolingual… As a result it was necessary to be dealing<br />

simultaneously with Piaroa, Spanish, and English, constantly<br />

juggling, translating between them. The biggest problem for me,<br />

however, was that the area was one of the hottest places you can<br />

possibly imagine. I survived by splashing in the ice-cold tributary,<br />

and otherwise prayed for rain. Nevertheless, I loved being in the<br />

field with these people, who always treated me with care and kindness.<br />

It might have been more difficult if they had been in the process<br />

of coping with intensive change caused by government development<br />

and the entrepreneureal forces of globalism – all destructive<br />

of well-being, and working against indigenous knowledges<br />

and values. But Piaroa people were not so involved at the time<br />

of my fieldwork. When people are distraught, trying to cope with<br />

unwanted intrusions, they may not have the possibility, the room,<br />

for the processes of caring that they themselves feel should typify<br />

everyday life with others. I think fieldwork today is much trickier<br />

than it was in my experience. Life might even be more violent, as<br />

in, for instance, some communities in the North West coastal areas<br />

of the Americas, where their own favoured ways of living have<br />

been brutally dismantled. The researcher there must be „tough“,<br />

in a street-wise sort of way. Where I was, it was idyllic, but you<br />

had to be physically tough.<br />

Can you tell us something about your understanding of myths?<br />

What I’m working on now is to understand Amazonian material<br />

better. What I have been trying to develop is a way of understan-<br />

76


Interview Joanna Overing<br />

Wiener Institut<br />

ding Amazonian people in such a way that you don’t just create<br />

a void: they don’t have this, they don’t have that. In fact, intellectually,<br />

psychologically, they can be very powerful. But how do<br />

you go about understanding that? You understand it by understanding<br />

the relation between everyday talk and their mythic talk.<br />

You have to learn the language of both, which for Piaroa people is<br />

one that is full of punning and play. And all is about the cosmos.<br />

Thus you have to understand a philosophy of life that includes<br />

continual cosmic happenings interfering with their proper ways<br />

of living together. To cope with such directions of thought, I found<br />

that we needed to develop an anthropology of aesthetics, of poetics,<br />

of performance, of the everyday. And an anthropology of the<br />

senses as well. Once you start looking at these concerns, such as<br />

the importance of the cosmic on everyday work, and the work<br />

of a creative use of language upon cosmic intrusions, you find<br />

much more exciting and powerful things going on. The senses<br />

are power ful, and it is interesting to consider how knowledge and<br />

the senses go together – from their point of view. I think this is a<br />

very exciting field to explore, but it takes much work. Again, it is<br />

<strong>als</strong>o is a political task. It is <strong>als</strong>o through such topics that you learn<br />

about Amazonian polity, where women and men are equally present.<br />

Just try to talk about the dignity of the political power of an<br />

Amazonian woman to a western academic community. How do<br />

you translate the delicacy of the politics that views Amazonian<br />

woman to be just as political as the man. Having as much freedom,<br />

for instance. In much Amazonian oratory, this point is made<br />

clear. Indeed, women have their own oratory. A topic yet to be<br />

explored in full.<br />

Can you tell us more about your interests in the field of<br />

emotions?<br />

Let’s just go back to Lévi-Strauss, who in the last chapter of his<br />

Mythologique argues, in a sparing section with Victor Turner. He<br />

makes the following distinction: „I’m interested in sense (reason<br />

and thought), while he’s interested in sensibility (the emotions).<br />

Lévi-Strauss is interested in unconscious thought underlying<br />

myth, and therefore pure mind, while Turner, who is interested in<br />

the life of ritual, is concentrating on the body, and not mind. In Lévi-<br />

Strauss’ way of understanding, you cannot scientifically deal with<br />

sensibilities and the body. You can, on the other hand, uncover<br />

through science the abstract structure of the mind (e.g. underlying<br />

the order of myths). Lévi Strauss is insisting that if anthropology<br />

is to be a science, its subject must be the life of the mind alone<br />

– and not include the body. This was a very nineteenth/early twentieth<br />

century way of understanding the distinction between mind<br />

and body – as separated entities. The body, and therefore the emotions,<br />

were considered without reason, as wild. However, how do<br />

we know another’s mind, and their thoughts? If someone is telling<br />

you what they think, you still must wonder whether they really<br />

think what they say. Nevertheless, you usually can tell whether<br />

they really think something or not simply by watching how they<br />

say it – their body language, for instance. Of course there are probably<br />

underlying, unconscious structures of the mind. But you<br />

cannot understand a narration if it’s written down and just handed<br />

to you. You have to see it performed. Performance is crucial<br />

to meaning. To understand the humour and the tragedy delivered<br />

through narration, you have to see the humour and the tragedy<br />

performed, and that performance is part and parcel of that<br />

narration’s meaning. In other words, emotive factors can often<br />

direct meaning. You can’t get to the meaning unless you understand<br />

the intentionalities of the narrator as he enacts them through<br />

his/her performance of them – through rhyming and its rhythm,<br />

for instance. The importance of poetics to the meaning of the message<br />

has been taught us by Dell Hymes. John Leavitt, in his foundational<br />

article on anthropological understanding of the subject<br />

of the emotions, ends up by saying: „What’s important about the<br />

emotions is that they are both thought and felt.“ „And that’s what<br />

makes them important – and very interesting.” (This is an <strong>als</strong>o an<br />

Amerindian point of view!) Emotions can go either way: either<br />

the intellect is affecting the emotions, or the emotions affecting<br />

the intellect. On the other hand, in the West we usually assume<br />

that the emotive is on the side of the child – or of the wild. Outside<br />

the West, and especially the world of Western academic talk,<br />

people think differently. For instance, Piaroa have their own<br />

philosophy about these issues, and train their children from five<br />

years on how to master their own thoughts. So that mastered<br />

thoughts can in turn be the master of emotions (thus becoming<br />

emotions carefully reflected upon). In Amazonia, and in many<br />

other parts of the world, you will find that emotions are being constantly<br />

talked about in daily discourse, because their expression<br />

is considered to be so important to the quality of to their life as<br />

lived within a community of relations. In other words, emotions<br />

are considered as a relational, and not ego-centred matter. This is<br />

what I write about. It is about indigenous social philosophy.<br />

Do you have any last comments on anthropology itself or<br />

its future?<br />

I think the discipline is wide open, it’s becoming much more interdisciplinary,<br />

which is good. You have much room to develop. Imagination<br />

is needed, well thought out imagination, and you need to<br />

be widely read broadly (the wisdom of Weston La Barre) to make<br />

things more interesting for yourselves and your audiences.<br />

Die vollständige Version des Interviews mit Joanna Overing steht<br />

auf www.diemaske.at zum Download bereit.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

77


wiener i n s t i t u t<br />

Kinder unserer Zeit<br />

SchriftstellerInnen <strong>als</strong> KulturanthropologInnen<br />

Von David G.L. Weiss<br />

Erstaunt schrieb Sigmund Freud zur Zeit der<br />

vorigen Jahrhundertwende einen Brief an<br />

Arthur Schnitzler. Er hatte nicht damit gerechnet,<br />

wie viele Parallelen die Ergebnisse<br />

des Wissenschaftlers und die Erkenntnisse<br />

des Künstlers zeitigten. Beide hatten ein fast<br />

identisches Bild ihrer ZeitgenossInnen verfasst.<br />

Gibt es auch 100 Jahre später, in Zeiten<br />

der so genannten Globalisierung, ähnliche<br />

vergleichbare Parallelen zwischen der Kulturanthropologie<br />

und der Literatur? Wie<br />

werden die jeweiligen Darstellungen der Gesellschaft<br />

entworfen, wie werden sie von dieser<br />

wahrgenommen?<br />

Seit jeher machen sich Menschen Bilder von sich selbst und von der<br />

Welt, die sie umgibt. Im Folgenden werde ich versuchen, meine<br />

Überlegungen dazu mit der aktuellen Lebenswelt in Einklang und<br />

zu Papier zu bringen. Warum? Weil mir die Unmittelbarkeit notwendig erscheint,<br />

da ich <strong>als</strong> Kind meiner Zeit direkt betroffen bin. Wie übrigens jede<br />

und jeder Einzelne.<br />

Wie äußert sich diese persönliche Betroffenheit? In einem Text für die ORF-<br />

Sendung Einfach zum Nachdenken habe ich meine Sichtweise folgendermaßen<br />

formuliert:<br />

Ich bin mir <strong>als</strong> Zeitzeuge und Nutznießer der herrschenden Wirtschaftsstruktur,<br />

der Politik und ihrer Auswirkungen bewusst, ärgere und grause mich im Stillen<br />

aber tue nichts dagegen […].<br />

Was werde ich <strong>als</strong>o antworten, wenn in einer gar nicht so fernen Zukunft meine<br />

Enkelkinder zu mir kommen werden, wie ich selbst einst zu meinem Großvater, und<br />

mich betroffen fragen, warum ich, obwohl ich gewusst habe in welchem Regime ich<br />

gelebt habe, nichts gegen dessen Taten unternommen habe?<br />

Werde ich etwa antworten: „Das verstehst Du nicht, mein Kind. Das war eine ganz<br />

andere Zeit. Ein sicherer Arbeitsplatz, Kranken- und Pensionsversicherung waren<br />

nicht gewiss. Was hätte ich <strong>als</strong> Einzelner tun können? Hilflos, <strong>als</strong> Arbeitnehmer,<br />

habe ich nur meine Pflicht getan, um zu überleben.“ (URL 1)<br />

Aber wodurch unterscheidet sich unsere Zeit von den vorangegangenen?<br />

Ich persönlich neige dazu, in der vernetzten Welt keine Innovation der<br />

letzten Generationen zu sehen. Ein Blick in die Geschichte macht deutlich,<br />

dass in fast jeder Epoche der Menschheitsgeschichte ein reger Austausch<br />

von Handelsgütern, Wissen und Ideen zwischen den Kulturen stattgefunden<br />

hat. So erstreckte sich z.B. das Imperium Romanum von den Britischen<br />

Insel n bis zur Sahara und überzog diesen ethnisch heterogenen Raum mit<br />

einer leistungsfähigen einheitlichen Infrastruktur. Die römische Zivilisation<br />

hätte es sich nicht träumen lassen, dass ihre Expansion, oder gar ihre bloße<br />

Existenz, einmal enden würde. Der Ewigkeitsgedanke, begründet auf dem<br />

Glauben der technischen Überlegenheit, ist ebenfalls keine Erfindung der<br />

letzten beiden Jahrhunderte. Lediglich das Tempo der Transfers, sei es<br />

Kommunikation oder Verkehr, hat sich seit den Tagen der Industriellen Revolution<br />

und des Imperialismus massiv beschleunigt, wodurch auch die<br />

Reichweite der nachhaltigen Beeinflussung vervielfacht werden konnte.<br />

78


Kinder unserer Zeit<br />

wiener institut<br />

Ohne Zweifel knüpfen sich an diese Entwicklung enorme<br />

Vorteile, aber der Gedanke an das beschleunigte Tempo, die<br />

verringerten Distanzen und die scheinbar weltweite Nivellierung<br />

der Lebensumstände macht auch Angst. Ist diese Furcht<br />

gemessen an unserem heutigen Wissensstand berechtigt?<br />

Im Jahr 2002 präsentierte Ian Pearson, ein populärer Zukunftsforscher<br />

der British Telecom, der staunenden Weltöffentlichkeit<br />

insgesamt 500 Prognosen. Sie wurden mit einer Zeitleiste<br />

(„technology timeline“) versehen, wodurch Pearson veranschaulichen<br />

wollte, wann seine Vorhersagen Wirklichkeit<br />

werden würden. Demnach erwartete er das emotionale Spielzeug<br />

2006. Für das Jahr 2003 prophezeite Pearson Brillen mit<br />

virtuellen Displays zur direkten Projektion von Bildern auf<br />

die Netzhaut. Ebenfalls 2006 sollte es zur ersten Wiederbelebung<br />

eines toten Organismus kommen. Und im Jahr 2010<br />

würde ihm zufolge der erste Roboter mit künstlicher Intelligenz<br />

die Matura bestehen (vgl. Illetschko 2002: 48).<br />

Einige haben vor fünf Jahren bei diesen Versprechen wahrscheinlich<br />

eine Gänsehaut bekommen. Tatsächlich scheint<br />

2007 kaum jemand an die Reanimation eines toten Organismus<br />

mithilfe der Technologie zu glauben.<br />

Im Jahr 2007 schickt Afrika mit Reverend Martyn Minns seinen<br />

ersten afrikanischen Missionar in den Westen. Also hunderte<br />

Jahre nachdem die ersten Missionare aus dem Westen nach Nigeria,<br />

Kenia und Ruanda kamen. Zweck des Unterfangens ist es, die<br />

moderne anglikanische Kirche, die seit der Ernennung eines homosexuellen<br />

Priesters zum Bischof in den USA vom Teufel besessen<br />

scheint, wieder auf Linie, <strong>als</strong>o weg vom Darwinismus, der Schwulenehe,<br />

oder der Abtreibung zu bringen.<br />

Andere Priester werden ihm folgen. Für ihr Bemühen haben<br />

sie bereits einen Begriff geprägt, sie sprechen vom theologischen<br />

Offshoring (Hujer 2007: 174f).<br />

Faszinierend, aber was hat das mit „SchriftstellerInnen <strong>als</strong><br />

KulturanthropologInnen“ zu tun?<br />

Sigmund Freud und Arthur Schnitzler zeigten sich zur Zeit<br />

der vorigen Jahrhundertwende erstaunt darüber, wie viele<br />

Parallelen die Ergebnisse des methodisch und analytisch vorgehenden<br />

Wissenschaftlers einerseits und die Erkenntnisse<br />

des intuitiv beobachtenden Künstlers andererseits zeitigten.<br />

In diesem Sinne finde ich die Selbstdefinition des Schriftstellers<br />

Frederik Morton bemerkenswert. Der Exilösterreicher<br />

empfand sich <strong>als</strong> Literat immer <strong>als</strong> Zwitterwesen: Zum<br />

einen war er Gast einer Festivität, zum anderen der Beobachter<br />

derselben durch das Schlüsselloch. Eine Metapher, die an<br />

die teilnehmende Beobachtung denken lässt. So gesehen versuchen<br />

KulturanthropologInnen und LiteratInnen mithilfe<br />

derselben Methode ein möglichst stimmiges Bild einer Gesellschaft<br />

und ihrer Zeit zu definieren.<br />

In diesem ehrgeizigen Versuch existiert allerdings ein nicht<br />

unwesentliches Problem: Beobachtungen gelten immer nur<br />

für die Situation, in der man sie macht. An einem Beispiel<br />

aus den so genannten exakten Naturwissenschaften lässt sich<br />

diese Unschärferelation eindrucksvoll verdeutlichen: Um ein<br />

Elektron sichtbar zu machen, muss man es mit mindestens<br />

einem Photon beleuchten, das im Falle eines Aufpralls die<br />

Bahn des Elektrons verändern würde. Ein österreichisches<br />

PhysikerInnenteam hat nachgewiesen, dass sie ihre Schwingungsrichtung<br />

erst dann erhalten, wenn sie gemessen werden<br />

(Albig 2007: 190f.). Wir fälschen demnach das Universum, sobald<br />

wir unsere Hände danach ausstrecken.<br />

Nun verhält es sich für AutorInnen so, dass sie seit Aristoteles<br />

nur einen sehr begrenzten Aktionsradius zur Verfügung<br />

haben. Die Dramaturgie einer funktionierenden Geschichte<br />

erfordert lediglich einen Protagonisten, einen Antagonisten<br />

und einen Konflikt. Die Bandbreite der zur Auswahl stehenden<br />

Konflikte ist mehr <strong>als</strong> beschränkt. Daraus ergab sich<br />

zwingend, dass jede Problemkonstellation bereits in abertausenden<br />

Variationen und millionenfach wiederholt zum<br />

Inhalt von Bühnenwerken, Erzählungen, Epen, Liedern, Romanen<br />

und Filmen geworden ist.<br />

Einer der beliebtesten Konflikte ist der Ehebruch. Nicht zuletzt<br />

ein kulturelles Problem. Abgesehen davon, dass unterschiedliche<br />

Kulturen variantenreiche Beurteilungen dieses<br />

Phänomens ausgeprägt haben, treffen hierbei zwei Partner<br />

aufeinander, die unterschiedlichen Familienkulturen und<br />

Sozialisationen entstammen. Zum Beispiel stellt für Herrn<br />

XY Sex nur einen körperlichen Akt dar, seine Eltern hatten<br />

gleichfalls Affären und haben sich arrangiert, wobei Frau XY<br />

Sex <strong>als</strong> emotionales und seelisches Erleben definiert, und in<br />

ihrem Elternhaus die eheliche Treue nicht nur moralisch hoch<br />

eingeschätzt, sondern diese auch konsequent praktiziert<br />

wurde. An diesem Beispiel wird meiner Meinung nach deutlich,<br />

dass sich LiteratInnen nicht nur <strong>als</strong> PsychologInnen, sondern<br />

auch <strong>als</strong> KulturanthropologInnen zu betätigen haben,<br />

um Handwerk und Material zu beherrschen.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 79


wiener institut<br />

Kinder unserer Zeit<br />

Diese Facettenarmut im Bereich der Konflikte beschränkt<br />

sich allerdings keinesfalls auf den europäischen Einflussbereich,<br />

sondern ist weltweit zu beobachten. Daraus lässt sich<br />

der Schluss ableiten, dass sich die grundlegenden Verhältnisse<br />

im sozialen Leben, unabhängig von äußeren Umständen,<br />

Zeit und Raum, weder verändert haben, noch jem<strong>als</strong><br />

eine Mutation durchmachen werden. Zur Überprüfung dieser<br />

gewagten Theorie empfehle ich, die so genannte Weisheitsliteratur<br />

zu lesen, die einen wesentlichen Teil des Alten<br />

Testamentes der Bibel einnimmt. Unter „Weisheit“ hat man in<br />

diesem Kontext „das Verstehen der (verborgenen) Ordnung<br />

dieser Welt“ zu verstehen (siehe: Sprichwörter 1). Als Themen<br />

dienten den verschiedenen Autoren eine Vielzahl von<br />

Alltags- und Lebenserfahrungen, die Freundschaft, Arbeit,<br />

Familie und das Verhalten innerhalb der Gemeinschaft umfassten.<br />

Der Zeitraum der Entstehung der Bücher der Weisheit<br />

wird mit der Zeit Jesu veranschlagt, <strong>als</strong>o zeitgleich mit<br />

der Entstehung der Psalmen, dem Hohelied, Ijob, den Klageliedern,<br />

Kohelet, Esra, Nehemia, dem ersten und zweiten Buch<br />

der Chronik und Daniel. Im alten Orient waren die Autoren<br />

meist höfische Beamte oder Angehörige der gebildeten Oberschicht.<br />

Beim Lesen ihrer Texte kann man schnell, so man<br />

sich darauf einlässt, von der ungebrochenen Aktualität ihrer<br />

Beobachtungen und Erfahrungen im sozialen Zusammenleben<br />

überrascht werden.<br />

In der Literatur scheinen die materielle Kultur und der Grad<br />

der Globalisierung einer Gesellschaft nur Kulisse zum Zweck<br />

der Identifikation der individuellen RezipientInnen mit den<br />

jeweiligen ProtagonistInnen zu sein. Worin besteht aber nun<br />

der Unterschied im persönlichen Erleben zwischen dem Konsum<br />

von Fiktion und Information? Sind nicht die diversen<br />

Informationsmedien die einzigen Quellen, durch die die meisten<br />

von uns mit der Globalisierung bewusst konfrontiert<br />

werden, und mit deren Methoden uns die eigene weltweite<br />

Verstrickung erst verdeutlicht wird? Sind nicht ansonsten<br />

nur jene, in ihrer Bandbreite zutiefst eingeschränkte Konflikte<br />

des menschlichen Zusammenlebens der natürliche, egoistische<br />

Suppentellerrand unseres Horizontes? Inter essieren<br />

uns tatsächlich die „großen“ Zusammenhänge? Nein, denn<br />

auch die Nachrichten berichten uns von Einzelschicksalen<br />

vor dem Bühnenbild des Weltgeschehens, vermitteln uns<br />

ProtagonistInn en, mit denen wir uns identifizieren können.<br />

Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an das Schicksal<br />

der fünfzehnjährigen Arigona, die einem juristischen Problemsektor,<br />

dem Asylgesetz der Republik Österreich, ein<br />

Gesicht gab und ihn erst damit in der breiten Öffentlichkeit<br />

greifbar machte.<br />

Was aber verbirgt sich hinter einem Gesicht? Die Römer<br />

waren der Meinung: So viele Köpfe, so viele Meinungen.<br />

Jeder Mensch setzt sich auch nach Ansicht der Kultur- und<br />

Sozialanthropologie aus den Komponenten einer individuellen<br />

Sozialisation zusammen. Diese Bausteine sind die<br />

Sprache, die Familie, das Lebensumfeld, kurz: die prägende<br />

Kultur, die wiederum individuell interpretiert und gelebt<br />

wird. Die Aufgabe der AutorInnen ist es demnach, diese Einzelteile<br />

zu analysieren, um eine Figur zum Leben erwecken<br />

zu können, die es in einem virtuellen Universum, gebaut aus<br />

Universalobjekten, mit einem Konflikt zu konfrontieren gilt,<br />

um die Identifikation, und damit das Verständnis durch die<br />

unterschiedlichsten RezipientInnen, zu ermöglichen. Auf<br />

diese Weise kann, im Bauch eines trojanischen Pferdes verborgen,<br />

jede Art von Information an den Mann oder an die<br />

Frau gebracht werden.<br />

Um sich aber die Realität der eigenen Verstrickung in die<br />

Globalisierung zu vergegenwärtigen, reicht ein kritischer<br />

Blick auf die uns umgebenden Alltagsgegenstände und die<br />

Frage nach ihrem Ursprung: Die Rechte wie vieler indigener<br />

Völker wurden wohl verletzt, um an Erdöl für die Petrochemie<br />

zur Produktion von Kunststoffen zu gelangen? Wie viele<br />

Kilometer hat mein Essen unnötig zurückgelegt, um Kosten<br />

sparend erzeugt zu werden? Wie viel Kinderarbeit war notwendig,<br />

damit ich meine Kleidung günstig zum Diskontpreis<br />

erwerben konnte?<br />

Ich weiß, diese Fragen haben kein Gesicht, gerade darum ist<br />

es Zeit, Verantwortung dafür zu übernehmen.<br />

David G. L. Weiss, geboren am 4.2.1978, lebt <strong>als</strong> freier Schriftsteller<br />

in Wien und im Waldviertel. Nach regelmäßigen Publikationen<br />

im ORF-Radio (Ö3 und Ö1) wird demnächst im Vier Viertel Verlag<br />

sein Debütroman „Miasma oder Der Steinerne Gast“ erscheinen.<br />

Literatur:<br />

Albig, Jörg-Uwe: Wer weiß, ob es wahr ist? In: GEO 11/2007. S. 176-200.<br />

Hujer, Marc: Scheidung auf Afrikanisch. In: Der Spiegel Nr. 43/ 22.10.07. S.<br />

174-178.<br />

Illitschko, Peter: Wenn der Roboter Matura macht. In: VISA – Magazin 5/2002.<br />

S. 48-49.<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Berg, Eberhard/Fuchs, Martin (1999) (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. 3. Aufl.<br />

Frankfurt a. M., Suhrkamp.<br />

Lützeler, Paul Michael (1997) (Hg.): Der postkoloniale Blick. Frankfurt a. M.,<br />

Suhrkamp.<br />

URL 1:<br />

Weiss, David. http//religion.orf.at/radio/einfachznachd/ei_archiv.htm (oder:<br />

http://religion.orf.at/projekt03/tvradio/ra_einf_zum_nachd.htm), 4.11.2007<br />

80


Tage der KSA<br />

wiener institut<br />

Die 4. Tage der Kulturund<br />

Sozialanthropologie<br />

Von Walter Feichtinger<br />

Sechzehn Workshops und rund 90 Vortragende: Damit<br />

waren die 4. Tage der Kultur- und Sozialanthropologie<br />

am 10. und 11. April ähnlich umfangreich konzipiert<br />

wie im letzten Jahr. Gemeinsam vom Institut, der<br />

Forschungsstelle für Sozialanthropologie der Akademie der<br />

Wissenschaften und dem Museum für Völkerkunde veranstaltet,<br />

dienen sie der Vernetzung der Fachgemeinschaft. Sie<br />

stellen vor allem für junge WissenschaftlerInnen eine wichtige<br />

Möglichkeit dar, ihre Arbeiten zu präsentieren. Das Echo<br />

seitens der unteren Semester blieb jedoch leider gering.<br />

Den Auftakt zur Veranstaltung gab Dr. Mareile Flitsch von<br />

der Technischen Universität in Berlin. Sie sprach über „die<br />

Chancen einer Erforschung praktischen Alltagswissens für<br />

die moderne Ethnologie“. Herkömmliche Fertigkeiten werden<br />

zunehmend verdrängt, wertvolle Wissenspotenziale<br />

gehen verloren. Am Beispiel Chinas zeigte Dr. Flitsch auf,<br />

welchen Beitrag Technikethnologie zum Erhalt dieser Potenziale<br />

leisten kann.<br />

Die folgenden Workshops können aufgrund ihrer großen<br />

Bandbreite nur skizzenhaft wiedergegeben werden.<br />

„Anthro pologie des Pilgerns“ zeigte in vielen Regionen die<br />

Zunahme volksreligiöser Praxis aufgrund neuer technischer<br />

Möglichkeiten und die damit einhergehende „spirituelle<br />

Globalisierung“ auf. Der Workshop „Jenseits der Anthropologie“<br />

verdeutlichte, dass Ansätze wie Hybridisierung und<br />

Kreolisierung zur Erklärung postkolonialer Gegenwart oft<br />

nicht mehr ausreichen.<br />

Der erste Tag schloss mit einer Reihe von Buchvorstellungen:<br />

Prof. Elke Mader präsentierte ihr aktuelles Buch Anthropologie<br />

der Mythen und Dr. Christian Feest ein Reihe von Publikationen<br />

von Museum und dem Archiv für Völkerkunde.<br />

Dr. Marie-France Chevron stellte die finale Publikation der<br />

Wiene r Ethnohistorischen Blätter „Erscheinungsformen des Wandels“<br />

vor und kündigte anschließend eine Folgezeitschrift<br />

an, die sie gemeinsam mit Prof. Werner Zips herausbringen<br />

wird.<br />

Am zweiten Tag zeigte eine Reihe von ReferentInnen, dass<br />

„Kultur- und sozialanthropologisches Know-how in unterschiedlichen<br />

Berufsfeldern“ außerhalb des Wissenschaftsbetriebes<br />

Anwendung findet. Der Workshop „Dagegen!“<br />

untersuchte Subkulturen, Jugendkulturen und Szenen wie<br />

das „Schwarze Wien“ mittels anthropologischer Ansätze. Details<br />

zu den erwähnten und weiteren Workshops finden sich<br />

im „Book of Abstracts“ (vgl. URL 1).<br />

In der abschließenden Podiumsdiskussion zum „ungeliebten,<br />

verkannten und vergessenen“ Museum für Völkerkunde<br />

in Wien wurde unter der Moderation von Dr. Thomas<br />

Fillitz heftig über dessen Zukunft debattiert. Dr. Paul Frey,<br />

kaufmännischer Geschäftsführer des Kunsthistorischen<br />

Museums, hob den potenziellen Eventcharakter hervor.<br />

Wir leben in einer „Erlebnisgesellschaft“, wird das berücksichtigt,<br />

könnten Museen zukünftig boomen. Ein Konzept,<br />

das offenbar auch bei der aktuellen Tutanchamun Ausstellung<br />

verfolgt wird. Dr. Dieter Bogner, der Moderator der<br />

Zukunfts diskussion über die Bundesmuseen, hob hervor,<br />

wie dringend es ist, eine neue Identität und ein neues Profil<br />

zu finden. Es schloss sich eine Diskussion um einen möglichen<br />

neuen Namen des Museums an, nicht zuletzt wegen<br />

des belasteten Begriffes Volk. „Kulturhistorisches Museum“<br />

würde Gleichreihung mit den Kunst- und Naturhistorischen<br />

Museen bedeuten. Prof. Gingrich schlug „Museum der Weltkulturen“<br />

vor. Weitgehend ausgespart wurde in der Diskussion<br />

die Rückgabe geraubter Kulturschätze. Das ist jedoch<br />

eine Frage, die noch beantwortet werden sollte, bevor man<br />

sich ein „Weltkulturmuseum“ nennen darf.<br />

Wie Prof. Gingrich sagte, der Streit um das Völkerkundemuseum<br />

muss ein öffentlicher sein. Eine Öffentlichkeit, die ich<br />

auch den Tagen der Kultur- und Sozialanthropologie in ihrer<br />

Gesamtheit wünschen möchte.<br />

Ing. Walter Feichtinger studiert – nach harten Lehrjahren in der<br />

Technik – nun lieber die Menschen in ihren kulturellen und sozialen<br />

Dimensionen. Regionaler Schwerpunkt: Himalaya<br />

Literatur:<br />

URL 1: Book of Abstracts:<br />

http://www.univie.ac.at/ksa/html/inh/aktu/aktu_files/Abstracts08.pdf<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 81


wiener institut<br />

Ethnowelle<br />

Die Ethnowelle 2008<br />

Let‘s Make Things Happen!<br />

Von Frank Broszeit<br />

Vom Lesekreis zum Rundfunk<br />

Das Team stellt sich vor<br />

Katharina Hammerle<br />

Studium der KSA & Vollzeitstelle <strong>als</strong> MAMA<br />

Schwerpunkte: Medical Anthropology, Europa,<br />

Generationen, Methoden<br />

Hobbys: Musik & Malerei<br />

Lena Gruber<br />

Studium der KSA<br />

Schwerpunkte: ENTOUR, Afrika<br />

Hobbys: Garten & Gesellschaftsspiele<br />

Wolfgang Lischka<br />

Studium der KSA und der Sinologie<br />

Schwerpunkte: Asiatische Metaphysik<br />

Hobby: Schlafforschung<br />

Die [media anthropology group] bietet seit SoSe 04 Workshops aus dem Bereich<br />

Multi media an. Vom einfachen Lesekreis ausgehend entwickelten sich praxisnahe<br />

Projekte, die sich u.a. dem Drehen von Dokumentarfilmen oder der Nutzung<br />

freier Software widmeten. Das Radioprojekt Ethnowelle entstand aus einem<br />

energiereichen Tutorium für Erstsemestrige. Im WS 06/07 organisierten schließlich<br />

Wanako Oberhuber, Aleksandra Kolodziejczyk, Katharina Hammerle und<br />

Frank Broszeit einen Workshop bei Radio Orange. So entstand mit Murphys Law<br />

und 12 TeilnehmerInnen die erste Sendung, auf die wir sehr stolz waren. Unterstützt<br />

wurden wir dabei von Margit Wolfsberger, die uns immer wieder hilfreich<br />

zur Seite stand, wenn Not an der Frau war.<br />

Der Pegel steigt<br />

Zwischen Juni 07 und März 08 haben wir kontinuierlich acht Sendungen ausgestrahlt<br />

und uns <strong>als</strong> RadiomacherInnen weiterentwickelt. Kostproben gibt es<br />

im Online-Radioarchiv von O94. Ohne Konflikte blieb das allerdings nicht, denn<br />

mit straffem Sendeprogramm und personeller Unterbesetzung hatten wir uns<br />

selbst sehr unter Druck gebracht. Unser Kernteam setzt sich glücklicherweise aus<br />

fünf starken Persönlichkeiten zusammen, die sich gegenseitig ergänzen und auch<br />

Konflikte austragen können. So nutzen wir das SoSe 08, um uns neu zu organisieren<br />

und eine Minisendereihe zum EU-Jahr des Interkulturellen Dialogs zu planen.<br />

Angedacht sind vorerst drei Sendungen, die sich dem Themenkomplex aus<br />

recht unkonventionellen Richtungen annähern.<br />

Thomas Gasser<br />

Studium der KSA und Sportwissenschaften<br />

Schwerpunkte: Ethnomedizin und Performance<br />

Studies<br />

Hobbys: Capoeira Angola,<br />

“Guitarcircle of Vienna”<br />

Frank Broszeit<br />

Studium der KSA und der EE<br />

In Ausbildung zum Shiatsu-Praktiker<br />

Schwerpunkte: Medical Anthropology, Public<br />

Health, Lernen<br />

Hobbys: Aikido<br />

Hast Du Lust bekommen?<br />

Dann hast Du die Möglichkeit uns kennen zu lernen und einzusteigen. Ernsthaft<br />

Interessierte sind herzlich willkommen. Die Termine für den Einstieg findet ihr<br />

auf Aushängen im Institut, im KSA-Forum oder auf unserer Website. Es besteht<br />

auch die Möglichkeit uns für Vertonungen und Produktionen anzuheuern. Anfragen<br />

per Mail beantworten wir gerne. Doch bitten wir um Verständnis, dass<br />

nicht immer alles sofort erledigt werden kann.<br />

Kontakt:<br />

mediaanthropology@gmail.com<br />

www.ethnowelle.bplaced.net<br />

www.o94.at/programs/ethnowelle<br />

82


Erasmus<br />

wiener institut<br />

Erasmus, warum das?<br />

Von Florian Hahn<br />

Es gibt viele Gründe, sich für Erasmus zu entscheiden.<br />

Ein anderer Blickwinkel auf das Austauschprogramm<br />

abseits von gängigeren Überlegungen und<br />

vor dem Hintergrund persönlicher Erfahrungen.<br />

Erasmus hat viele Gesichter, nicht nur, weil daran Studierende<br />

aus ganz Europa teilnehmen. Es fängt schon bei den Motiva<br />

tionsgründen an. Die eine sucht dort, was sie hier nicht<br />

findet, der andere möchte bloß raus und weg, ein Dritter<br />

seine Fremdsprachenkenntnisse aufpolieren, eine Vierte von<br />

allem etwas – und vielleicht lohnt es sich schon wegen der<br />

berüchtigten Erasmusfeiern? Könnte es noch andere Gründe<br />

geben, sich für Erasmus zu entscheiden?<br />

Das wirkliche Europa der Universitäten<br />

Erasmus bedeutet, auf ganz eigene und eindrückliche Weise<br />

ein anderes System kennenzulernen, sei es ein anderes Universitätssystem<br />

oder eine andere Bürokratie. Vielleicht wird<br />

Erasmus einmal – so zumindest die heutige Absicht – zu<br />

einem europäischen Hochschulraum beigetragen haben.<br />

Noch führt es einem bloß Unterschiede, Eigenheiten, Unverträglichkeiten<br />

und fehlende Kommunikation vor Augen.<br />

Recht bald wird klar, dass hinter einem ECTS-Punkt dort<br />

etwas anderes stecken kann <strong>als</strong> hier – auch wenn hinter beiden<br />

womöglich letzten Endes gleich wenig steckt. Und nicht<br />

erst bei der Anrechnung der im europäischen Ausland absolvierten<br />

Lehrveranstaltungen merkt man, dass irgendwo in<br />

der Übersetzung von Noten zwischen zwei Systemen etwas<br />

verlorengehen kann. Gleich zu Anfang verwirrt das andere<br />

Verständnis des eigenen Faches im Gastland und überrascht<br />

der Stellenwert von Universität in der Gesellschaft. Durch<br />

die Unterschiede und Überschneidungen zwischen den verschiedenen<br />

Systemen erinnert Erasmus daran, dass alle Regeln<br />

bloß menschliche Produkte und <strong>als</strong> solche änderbar und<br />

beugsam sind (wie etwa durch den berühmt-berüchtigten<br />

Erasmusbonus). Oder zumindest sollten sie das sein, wenn<br />

wir nicht etwas schaffen wollen, das uns später Kopf und<br />

Kragen kosten könnte.<br />

Das letzte bisschen Freiheit<br />

Im Zuge des Bologna-Prozesses und unter dem Druck der<br />

Politik auf die Universitäten, möglichst viele aktive Studierende<br />

vorzuweisen und mehr Abschlüsse bei kürzerer Studienzeit<br />

und wenigeren Drop-Outs zu produzieren, werden<br />

unsere Studien immer rigider, durchplanter und unflexibler,<br />

bis wir zuletzt vielleicht darin feststecken und nicht mehr<br />

weiterkommen werden. Zu einer Zeit, in der die Universität<br />

immer mehr zu einer Quotenerfüllerin verkommt und Studierende<br />

<strong>als</strong> bloße Zahlen in Statistiken auf- und untergehen,<br />

kann man sich wenigstens noch für ein Erasmussemester<br />

oder -jahr mehr oder weniger ausklinken. Nicht, dass diese<br />

Entwicklung an anderen europäischen Ländern vorbeigehen<br />

würde, aber so durchwegs decken sich die Studien meistens<br />

doch (noch) nicht, <strong>als</strong> dass man an der Gastuniversität<br />

zur Gänze in den starren Raster eines Studienplanes passen<br />

könnte. Man ist eben „Erasmus“ und damit eine eigene Kategorie<br />

für sich. Außerdem sind die Anforderungen für das<br />

Erasmusstipendium und das zusätzlich zur Studienbeihilfe<br />

angebotene Auslandsstipendium der Studienbeihilfenbehörde<br />

relativ gering und durch einen Erasmusaufenthalt verliert<br />

kaum Zeit für das Studium an der eigenen Universität, denn<br />

der Anspruch auf Studien- und Familienbeihilfe verlängert<br />

sich dadurch.<br />

Wofür <strong>als</strong>o Erasmus oder überhaupt ein Auslandsstudium?<br />

Für Studium, Berufsaussichten, zum Erlernen einer Fremdsprache,<br />

zum Kennenlernen einer anderen Gesellschaft und<br />

Kultur? Erasmus ist zwar ein bürokratischer Hürdenlauf sondergleichen,<br />

die Schwierigkeiten, die man bewältigen muss,<br />

sind allerdings den Aufwand wert. Nicht, um ein abstraktes<br />

Europa von morgen zu formen, sondern, neben all diesen anderen<br />

Gründen, um das Europa von heute und ein Stück relativer<br />

Freiheit und Ungebundenheit zu finden.<br />

Florian Hahn ist gewählter Studierendenvertreter und zurzeit auf<br />

Erasmus in Paris. Die räumliche Distanz hält ihn nicht davon ab,<br />

seinen Pflichten <strong>als</strong> Studierendenvertreter nachzukommen.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

83


wiener institut<br />

Porträt Barbara Kühhas<br />

Barbara Kühhas im Porträt<br />

Eine Ethnologin für Menschenrechtsfragen<br />

Von Hannes Schenk<br />

Das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte<br />

(BIM) in Wien befasst sich im außeruniversitären<br />

Rahmen mit menschenrechtlicher Lehre, Forschung<br />

und Praxis. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit<br />

fungiert es <strong>als</strong> Beraterpool für die ADA (Austrian Development<br />

Agency). 1992 gegründet, befinden sich im Institut vor allem<br />

MitarbeiterInnen mit rechtswissenschaftlichem Hintergrund.<br />

Barbara Kühhas allerdings, ihres Zeichens Development Cooperation<br />

Coordinator im BIM, schloss 1993 ihr Diplomstudium<br />

im Fach Kultur- und Sozialanthropologie ab und stellte<br />

1998 auch ihre Dissertation am Institut fertig.<br />

Die Multidisziplinarität ist ein bereichernder Faktor an<br />

einem Institut wie dem BIM – und hier schafft es gerade die<br />

Kultur- und Sozialanthropologie, einen zusätzlichen Blickwinkel<br />

hinzuzufügen, der für das Gelingen eines Projektes<br />

ausschlaggebend sein kann. „Für Leute, die keinen ethnologischen<br />

Hintergrund haben, ist es viel schwieriger, aus<br />

der eigenen Perspektive auszusteigen und wirklich Dinge<br />

im Zusammenhang, sowie die Struktur dahinter zu begreifen“,<br />

meint Barbara Kühhas. „Die eigene Kultur relativieren<br />

zu können ist die Grundvoraussetzung, andere zu verstehen<br />

und Zusammenhänge besser zu verknüpfen – das bringt im<br />

Programm- und Projektbereich und natürlich gerade in der<br />

Entwicklungszusammenarbeit sehr viel“.<br />

Die Auseinandersetzung mit den Menschenrechten, die ihren<br />

jetzigen Beruf prägt, war ihr von den ersten Studienjahren<br />

an ein Anliegen. Ein Feldforschungsaufenthalt 1987 im venezolanischen<br />

Grenzgebiet zu Kolumbien, bei den Yukpa,<br />

stellte ein einschneidendes Erlebnis für sie dar. Diese großen<br />

Eindrücke <strong>als</strong> junge Studentin gaben den Impuls für Barbara<br />

Kühhas’ folgenden beruflichen Werdegang. Zehn Jahre<br />

ehren amtlicher Tätigkeit bei der Gesellschaft für bedrohte<br />

Völker und drei Jahre Feldforschung in Mexiko zwischen<br />

1990 und 1994 führten zu einer zunehmenden Spezialisierung<br />

auf die Rechte indigener Völker. Nach dem Diplomstudium<br />

folgte ein AkademikerInnentraining bei der AÖF<br />

(Autonome Österreichische Frauenhäuser). Dieses diente <strong>als</strong><br />

Vorbereitung für die UN Weltmenschenrechtskonferenz für<br />

Frauen-NGOs 1993 in Wien, das vom BIM organisiert wurde.<br />

Der mexikanische Bürgerkrieg, der 1994 begann, sorgte<br />

dafür, dass Barbara Kühhas ihren Forschungsaufenthalt für<br />

ihre Dissertation in Südmexiko nicht wie geplant antrat.<br />

Dafür landete sie 1995 in Guatemala, nachdem sie sich im<br />

Außenministerium beworben hatte. Bis 1997 war sie dort <strong>als</strong><br />

Menschenrechtsbeobachterin in einer Peace Keeping Mission<br />

der Vereinten Nationen tätig. Ihre Erfahrungen verarbeitete<br />

sie schließlich in ihrer Doktorarbeit. Die Geburt ihres Sohnes<br />

im Jahr 2000 schränkte ihre räumliche Flexibilität ein. Aus<br />

diesem Grund kündigte sie zwei Jahre später ihren Job bei<br />

CARE Österreich, den sie nach ihrem Doktorabschluss ausgeübt<br />

hatte. Nach dem Umzug aufs Land, wo Barbara Kühhas<br />

für einen regionalen Entwicklungsverein tätig war und<br />

an Wahlbeobachtungen in Guatemala und Indonesien mit<br />

der Europäischen Kommission teilgenommen hat, wurde sie<br />

schließlich im Mai 2005 in Wien sesshaft und arbeitet seitdem<br />

beim BIM. Manfred Nowak, einer der Gründer und nun<br />

führenden Köpfe des BIM, ist ihr seit der UN-Konferenz von<br />

1993 bekannt. „Das Ganze fügt sich <strong>als</strong>o nach 15 Jahren wieder<br />

zusammen“, meint Barbara Kühhas heute.<br />

Ethnologische Inhalte sind laut Kühhas überall dort gefragt,<br />

wo es um multikulturelle Sensibilität geht. Ein gutes Beispiel<br />

hierbei liefert das derzeit laufende Projekt des BIM in Mazedonien,<br />

in Zuge dessen der Menschenrechtsansatz in der Armutsbekämpfung<br />

verankert wird. Kommt die multiethnische<br />

Komponente ins Spiel, bringt der Ethnologe oder die Ethnologin<br />

andere Perspektiven mit, die gerade im Projektbereich<br />

„irrsinnig hilfreich“ sind. „Damit man Dinge so beginnt, dass<br />

sie auch zu einem positiven Ende führen“. Als Erweiterung<br />

rein ethnozentristischer Perspektiven und Vermittlung mehrerer<br />

Blickwinkel ist die Kultur- und Sozialanthropologie<br />

eine gerade in Menschenrechtsfragen immens wichtige Disziplin,<br />

wie sie beispielsweise vom BIM behandelt werden.<br />

Hannes Schenk ist Absolvent der Kultur- und Sozialanthropologie<br />

in Wien. Er hat durch Praktika am Paulo Freire Zentrum<br />

in Wien und an der Tageszeitung „Le Pays“ in Ouagadougou/<br />

Burkina Faso erste Erfahrungen im Verfassen journalistischer Texte<br />

gesammelt.<br />

84


ASSA<br />

wiener Institut<br />

Austrian Studies in Social Anthropology<br />

Das Online-Journal des AbsolventInnenverbands<br />

Von Patricia Zuckerhut und Gabriele Habinger<br />

Das Online-Journal Austrian Studies in Social Anthropology<br />

(ASSA) wird vom AbsolventInnenverband<br />

des Wiener Instituts für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

(Plattform für Kulturen, Integration und Gesellschaft) herausgegeben.<br />

Es ist ein Publikationsforum für die Mitglieder<br />

des Vereins und dient somit einerseits der Verbreitung der<br />

wissenschaftlichen Aktivitäten der AbsolventInnen, andererseits<br />

auch <strong>als</strong> Möglichkeit für gegenseitigen inhaltlichen Austausch<br />

und Diskussionen.<br />

das sich in relativ neuen räumlichen Sphären bewegt (vgl.<br />

Luger 2007).<br />

Darüber hinaus erschienen im Rahmen der ASSA die Sondernummern<br />

INTERCULTURAL EDUCATION, herausgegeben<br />

von Binder/Luciak (2005), und Ethnologische Feldforschung<br />

im Südburgenland. Ein hochschuldidaktisches Experiment,<br />

herausgegeben von Frieser/Kolm/Seiser/Six-Hohenbalken<br />

(2006) sowie eine Reihe von Rezensionen ethnologisch relevanter<br />

Bücher.<br />

Seit seiner Gründung im Herbst 2004 ist eine Reihe von interessanten<br />

und lesenswerten Beiträgen erschienen, sowohl<br />

von AutorInnen, die schon länger im wissenschaftlichen Feld<br />

tätig sind, <strong>als</strong> auch von solchen, die am Beginn ihrer Karriere<br />

stehen.<br />

Beispielsweise im Journal 1/2005 veröffentlichte Brigitte<br />

Fuchs einen Artikel zu „Kultur“ und „Hybridität“: Diskurse<br />

über „Rasse“, Sexualität und „Mischung“ in Österreich 1867 bis<br />

1914. Ein anderer, von Gabriele Habinger verfasster Beitrag,<br />

widmete sich dem Thema weiblichen Reisens und thematisiert<br />

in diesem Zusammenhang – wie auch jener von Brigitte<br />

Fuchs – die Problematik von epistemischer Gewalt und Rassismus<br />

(vgl. Habinger 2005, Fuchs 2005). Barbara Grubner<br />

hingegen fokussiert das Thema der sexualisierten Gewalt,<br />

dem sie sich einerseits theoretisch, andererseits anhand einer<br />

Analyse der Literatur zu indigenen Gemeinschaften im Amazonasraum<br />

widmet (Grubner 2005).<br />

Die Beiträge im Journal 1 und 2/2006 gingen zum einen auf<br />

die Thematik der Reproduktion im Sinne der Neuen Fortpflanzungstechnologien<br />

ein (vgl. Weikert 2006). Zum anderen<br />

ging es beispielsweise um die Thematik Menstruation<br />

und Menarche (vgl. Jirovsky 2006) und auch um das Konzept<br />

des Parianismus, wie es von Clément Mutombo entwickelt<br />

wurde (vgl. Mutombo 2006).<br />

Die Journale von 2007 schließlich thematisieren die Problematik<br />

von Adivasi und Hindunationalismus (Martina Irmgard<br />

Bogensberger) sowie das Thema Ethnologie und Cyberspace,<br />

Wir hoffen weiterhin zahlreiche spannende und wissenschaftlich<br />

fundierte Beiträge mit einer breiten Themenvielfalt zu erhalten<br />

(und fordern AutorInnen hiermit auf, uns ihre Artikel<br />

an die Adresse redaktion.alumni.ethnologie@univie.ac.at zuzusenden),<br />

damit auch in Zukunft die AbsolventInnen des<br />

Wiener Institutes die Heterogenität unseres Faches nachdrücklich<br />

und beredt in diesem Forum unter Beweis stellen<br />

können. Unsere Richtlinien findet ihr auf unter: www.univie.<br />

ac.at/alumni.ethnologie/journal/einreich.htm<br />

Literatur:<br />

Fuchs, Brigitte (2005): „Kultur“ und „Hybridität“: Diskurse über „Rasse“, Sexualität<br />

und „Mischung“ in Österreich 1867 bis 1914. In: ASSA Journal 1/2005,<br />

Artikel 1.<br />

Grubner, Barbara (2005): Sexualisierte Gewalt. Feministisch-anthropologische<br />

Überlegungen zur „neuen Gewaltsoziologie“. In: ASSA Journal 2/2005<br />

Habinger, Gabriele (2005): „Der Westen und der Rest“: Zwischen abschreckender<br />

Physiognomie, Trägheit, Sinnlichkeit und Schutzbedürftigkeit oder<br />

wie Ida Pfeiffer (1797-1858) die Welt sah. In: ASSA Journal 1/2005, Artikel 2.<br />

Jirovsky Elena (2006): „Eine natürliche Angelegenheit“. Ethnologische Untersuchungen<br />

zum Erleben von Menstruation und Menarche von Frauen in Wien.<br />

In: ASSA Journal 2/2006.<br />

Martin Alois Luger (2007): Rhetorik, Sinnlichkeit und kulturelle Stoffwechselprozesse<br />

in virtuellen Räumen. In: ASSA Journal 2/2007<br />

Mutombo Clément (2006): From “parianism” to the intrusion complex. In:<br />

ASSA Journal 3/2006.<br />

Weikert, Aurelia (2006): Schneiden, Veredeln, Verjüngen – von der Idee zur Praxis.<br />

Oder: Welche Möglichkeiten bieten künstliche Fortpflanzungstechnologien?In:<br />

ASSA Journal 1/2006.<br />

Binder, Susanne/Luciak, Mikael (2005): Report „Intercultural Education“. In:<br />

ASSA Sondernummer 1/2005.<br />

Astrid Frieser/Eva Kolm/Gertraud Seiser/Maria Anna Six-Hohenbalken (Hrsg.)<br />

(2006): Ethnologische Feldforschung im Südburgenland. Ein hochschuldidaktisches<br />

Experiment. ASSA Sondernummer 2006.<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

85


Rezensionen Textfeld Die Wende der Titanic<br />

Nationalismus und Diskriminierung<br />

Veronika Brandt/Stephan Rutkowski: Nationalismus und Diskriminierung am Beispiel von Roma in Wien.<br />

Univ. Diplomarbeit. Wien 2003. www.textfeld.at.<br />

Rezensiert von Nora Wiltsche<br />

Die Studie von V. Brandt und S. Rutkowski untersucht<br />

das Konzept der „Nationen“. Dabei sehen sie <strong>als</strong><br />

Hauptmerkmal deren konstruierten Charakter, bei dem es<br />

sich hierbei um vorgestellte Gemeinschaften mit politischem<br />

Willen handelt. Durch die Fixierung auf nationale Symbole<br />

ergibt sich die Gewissheit der Zusammengehörigkeit und<br />

damit auch die einer Abgrenzung zu anderen.<br />

Der Staat wird <strong>als</strong> grundlegend für das Be- oder Entstehen<br />

von Nationen gesehen, da er im Besitz von Kontrollmechanismen<br />

ist, die sich auf die in ihm lebenden Personen auswirken.<br />

Damit streben diese Nation<strong>als</strong>taaten scheinbar eine<br />

größtmögliche Homogenität der Bevölkerung an. Da eine<br />

solche Gleichheit aber eine Ausnahme darstellt, werden diese<br />

heterogenen politischen Gebilde auch <strong>als</strong> (Pseudo-) Nation<strong>als</strong>taaten<br />

bezeichnet.<br />

Um diese eigentliche Idee der Nation zu erreichen, bedarf es<br />

laut Brandt einer bestimmten Politik. Auf diese wird in Hinblick<br />

auf Minderheiten, ihre Rechte und Diskriminierung in<br />

diversen Lebensbereichen näher eingegangen; besonders herangezogen<br />

werden dabei die unter dem Namen Roma und<br />

Sinti subsumierten Gruppen. Da vor allem Gesetze den Umgang<br />

mit diesen marginalisierten Gemeinschaften regeln,<br />

werden das Fremdengesetz sowie das Volksgruppengesetz<br />

untersucht. Doch nicht nur diese Rechte sind ausschlaggebend<br />

für den Alltag, ebenso die Situation am Arbeits-, und<br />

Wohnungsmarkt sowie im Schulsystem. All diese Themen<br />

werden einzeln betrachtet, Vorurteile werden benannt, hinterfragt<br />

und widerlegt. Durch Interviewsequenzen wird der<br />

Blick weg von der Theorie, hinein in den Alltag der Betroffenen<br />

gelenkt. Die beiden WissenschaftlerInnen legen eine<br />

umfangreiche Studie über Nationalismen und ihren Begleiterscheinungen<br />

vor, die mit Theorien vom dualen Arbeitsmarkt,<br />

vom menschlichen Kapital sowie den Diskriminierungstheorien<br />

solide untermauert wird.<br />

Die Wende der Titanic<br />

Herbert Rauch, Alfred Strigl. Oekom Verlag 2005, München. 320 S. ISBN 3-86581-005-5.<br />

Rezensiert von Lisa Ringhofer<br />

Wie der Titel bereits verrät, gibt dieses Buch Mut zur<br />

Wende. Die beiden Autoren zeigen Visionen und<br />

Konzepte auf, die jenseits von links und rechts mögliche<br />

Lösungsan sätze für eine globale Kurswende anbieten.<br />

Die so genannte Wiener Deklaration, ein Produkt aus<br />

mehrmonatigen Vernetzungs- und Diskussionsprozessen<br />

mit verschiedensten staatlichen und nicht-staatlichen Institutionen,<br />

soll einen Entwurf und Beitrag darstellen, diesen<br />

nachhaltigen Paradigmenwechsel anzustreben. Anstelle des<br />

stetigen Strebens nach Kapitalwachstum, Konsum-Manie<br />

und zunehmend individualistischer Weltanschauung werden<br />

von den Autoren durchwegs interessante und nachhaltige<br />

Leitlinien suggeriert: das VEGA- Prinzip. Verfeinerung<br />

anstelle von Expansionsdenken, Erdung anstatt steten Fortschrittsdenkens,<br />

Glob<strong>als</strong>olidarität anstelle von Individualismus<br />

sowie „Vergötzung“ und Aktiv verantwortung anstelle<br />

von Apathie und Verdrängung.<br />

In diesem Sinne wird im ersten Teil des Buches die Ausgangssituation<br />

und Zielrichtung dargestellt. Diese umfasst<br />

verschiedene Bereiche und Skalenebenen, die unser heutiges<br />

Leben zu einem großen Teil vereinnahmen. Das Kapitel Das<br />

historische Dilemma von Kapital und Arbeit zeigt besonders<br />

bildlich die Gefahren, die sich hinter den immer rasanter<br />

scheinenden und vermeintlich unaufhaltbaren Negativfolgen<br />

der Globalisierungstendenzen verbergen. Der zweite<br />

Teil des Buches bringt den Mut zur Veränderung, indem es<br />

zehn konkrete Anforderungen an ein zukunftsfähiges Gesellschaftssystem<br />

stellt.<br />

Die Bereiche sind vielschichtig und umfassend; ein Wagnis,<br />

das vielleicht gerade aus diesem Grunde teilweise zur Oberflächlichkeit<br />

neigt. Dennoch ein informatives, datenreiches<br />

und spannendes Buch, das auf eine nachhaltige Zukunft nicht<br />

nur hoffen lässt, sondern diese auch greifbar macht. Auch die<br />

Gedanken von Richard von Weizsäcker, Mathis Wackernagel<br />

und Tobias Moretti <strong>als</strong> Einstieg in die Lektüre verdeutlichen<br />

das breite Interesse an unserer Zukunft und tragen zur interdisziplinären<br />

Ausrichtung des Buches bei. Denn die Botschaft<br />

lautet, dass jede/r von uns die Möglichkeit hat, Wege<br />

zu beschreiten, um somit den Eisbergen unseres Weltmeeres<br />

entgegenzusteuern.<br />

86


vernetzung<br />

Alle Menschenrechte für alle!<br />

Beiträge eines Menschenrechtsinstituts<br />

Von Katharina Köhler und Barbara Liegl<br />

Die Angestellte, die sich von ihrem Kolle<br />

gen anzügliche Bemerkungen gefallen las<br />

sen muss, die „afrikanischen“ Jugendlichen,<br />

die anders <strong>als</strong> ihre „österreichischen“<br />

Freund In nen am Eingang zu einer Diskothek<br />

abgewiesen werden, der Fünfzigjährige,<br />

der trotz seiner überdurchschnittlichen<br />

Qualifikationen keinen Job mehr bekommt,<br />

die Rollstuhlfahrerin, die ihre Bankgeschäfte<br />

nicht erledigen kann, weil der Zugang zur<br />

Filiale nicht mit einer Rampe ausgestattet ist,<br />

der/die homosexuelle LebensgefährtIn, der/<br />

die von der Mitversicherung ausgeschlossen<br />

ist – so unterschiedlich diese Personen auch<br />

sind, haben sie doch eine Erfahrung gemeinsam:<br />

Sie haben eine diskriminierende Behandlung<br />

erfahren.<br />

Was klingt wie eine Forderung von einem Demotransparent,<br />

war vor zehn Jahren das Motto der Vereinten Nationen zur<br />

Feier des fünfzigsten Jahrestages der Allgemeinen Erklärung<br />

der Menschenrechte: Alle Menschenrechte für alle! Nach wie vor verwendet<br />

amnesty international diesen Slogan <strong>als</strong> Titel für Seminare, die den internationalen<br />

Menschenrechtsschutz vorstellen. Er bringt den zentralen<br />

Anspruch auf den Punkt, dass die Menschenrechte ein unteilbares (alle<br />

Menschenrechte) und universelles (für alle) System sind. Gleichbehandlung<br />

ist ein zentrales Element des Menschenrechtsystems: Diskriminierung ist<br />

eine Menschenrechtsverletzung. Internationale staatliche Organisationen,<br />

Nicht-Regierungsorganisationen und wissenschaftliche Institutionen, die<br />

sich mit Menschenrechten befassen, treffen sich in diesem Punkt. Das gilt<br />

auch für das Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte (BIM). Anti-<br />

Diskriminierung ist <strong>als</strong> Querschnittsmaterie und eigener Schwerpunktbereich<br />

am Institut verankert.<br />

Antidiskriminierungsarbeit am BIM<br />

Das von Felix Ermacora sowie Manfred Nowak und Hannes Tretter vor 15<br />

Jahren gegründete BIM ist ein außeruniversitäres Forschungsinstitut und<br />

Teil der Ludwig Boltzmann Gesellschaft. Unter den rund 40 Mitarbeiter-<br />

Innen finden sich neben RechtswissenschafterInnen auch eine Vielzahl<br />

an Personen mit anderen Ausbildungshintergründen wie Politikwissenschaft<br />

oder Ethnologie. Zusammenarbeit und Kommunikation mit anderen<br />

wissenschaftlichen Institutionen, staatlichen Einrichtungen und NGOs,<br />

in Österreich aber auch international, sind ein wesentliches Charakteristikum<br />

der Arbeit am BIM. Diese ist zu 90% auf Projektbasis finanziert und<br />

die Beschäftigung mit dem zentralen Menschenrechtsthema Diskriminierungsschutz<br />

wird nicht unwesentlich von den Konjunkturen der Politikund<br />

Rechtsentwicklung beeinflusst.<br />

Die wichtige Rolle der EU<br />

Seit dem Beitritt Österreichs 1995 spielt die EU in diesem Zusammenhang<br />

auf mehreren Ebenen eine bedeutende Rolle für die Antidiskriminierungsarbeit<br />

des BIM. Die inhaltlichen Schwerpunkte im Bereich Antidiskriminierung<br />

werden wesentlich von den Vorgaben mitbestimmt, gegen welche<br />

Gründe für Ungleichbehandlung rechtlich vorgegangen werden kann. Das<br />

Gebot der Gleichbehandlung ohne Unterschied des Geschlechts gehört von<br />

Anfang an zum Gemeinschaftsrecht. Mit dem Vertrag von Amsterdam, der<br />

1999 in Kraft getreten ist, wurde eine Rechtsgrundlage für gemeinschafts-<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie 87


vernetzung<br />

Boltzmann Institut für Menschenrechte<br />

rechtliche Maßnahmen gegen weitere Diskriminierungsgründe<br />

geschaffen Nunmehr ist es möglich im Europarecht<br />

Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierung „aus<br />

Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft,<br />

der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung,<br />

des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ zu treffen<br />

(Artikel 13 Absatz 1 EG-Vertrag in der Fassung des Vertrags<br />

von Amsterdam). Es ist leicht, an dieser Bestimmung<br />

etwas auszusetzen – etwa an der kritiklosen Verwendung<br />

des „Rasse“-Begriffs, oder daran, dass andere Arten von real<br />

exis tierender Ungleichbehandlung – zum Beispiel wegen der<br />

sozialen Herkunft – nicht erfasst sind. Solche Kritikpunkte<br />

sollten jedoch nicht den Blick auf die Bedeutung des Artikels<br />

13 für die Weiterentwicklung des Diskriminierungsschutzes<br />

im EU-Europa verstellen. Auf diesem Artikel beruhende<br />

Rechtsakte bewirkten eine beispiellose Überprüfung und<br />

Änderung von Antidiskriminierungsvorschriften in sehr vielen<br />

europäischen Ländern.<br />

Im Jahr 1999 war absehbar, dass es auf der Grundlage der<br />

Ermächtigungsnorm im EG-Vertrag zwei konkrete EU-Antidiskriminierungsrichtlinien<br />

geben würde, die von den Mitgliedsstaaten<br />

in nationales Recht umgesetzt werden müssten.<br />

Die – im Jahr 2000 tatsächlich verabschiedeten – Richtlinien<br />

betreffen verschiedene Lebensbereiche, einerseits Diskriminierung<br />

in der Arbeitswelt, andererseits Diskriminierung<br />

beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen. Vor dem Hintergrund<br />

der entsprechenden Richtlinienentwürfe hat das<br />

Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte 1999/2000<br />

einen Vorschlag für ein österreichisches Antidiskriminierungsgesetz<br />

erstellt. Ausgearbeitet wurde er gemeinsam<br />

mit VertreterInnen von verschiedenen NGOs, ExpertInnen<br />

von der Universität Wien und VertreterInnen aus Ministerien.<br />

Der Vorschlag wurde zwar nie zu einem Gesetz, dennoch<br />

war die Arbeit daran eine wichtige Grundlage für den<br />

Aufbau von Kompetenz – in der Rechtsmaterie genauso wie<br />

in der Vernetzung mit AkteurInnen aus Wissenschaft, öffentlicher<br />

Verwaltung sowie Organisationen, die direkten Kontakt<br />

zu den Betroffenen haben bzw. diese vertreten und die<br />

realen gesellschaftlichen Problemstellungen bestens kennen.<br />

Von dieser Zusammenarbeit hat aber nicht nur das BIM profitiert,<br />

die aufgebauten Netzwerke und Kontakte sind auch<br />

für die anderen Beteiligten weiter von Nutzen. Heute ist das<br />

BIM Mitglied im Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte<br />

von Diskriminierungsopfern, einem Dachverband von einschlägig<br />

tätigen NGOs. Eine gut vernetzte Institutionenlandschaft<br />

im Bereich Antidiskriminierung kann der Sache nur<br />

dienlich sein.<br />

Monitoring und Berichterstellung<br />

Das BIM hat seither zahlreiche Antidiskriminierungs projekte<br />

durchgeführt, die von der wissenschaftlichen Erforschung<br />

von Diskriminierung und deren Bekämpfung bis zu praxisorientierten<br />

Trainings reichen. Die vertragliche Zusammenarbeit<br />

mit einer EU-Einrichtung ermöglicht dem BIM einen<br />

Teil der kontinuierlichen Weiterarbeit auf diesem Gebiet.<br />

Die EU hat Ende der 1990er Jahre eine eigene Agentur zur<br />

Sammlung und Analyse einschlägiger Daten eingerichtet:<br />

die Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus<br />

und Fremdenfeindlichkeit (European Monitoring Centre on<br />

Racism and Xenophobia, EUMC). Um einen Überblick über<br />

die Lage in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu gewinnen,<br />

gibt es ein Informationsnetzwerk aus sogenannten Focal<br />

Points in jedem Land. Diese Vertragspartner werden über öffentliche<br />

Ausschreibungen ermittelt, um eine gewisse Unabhängigkeit<br />

von den Darstellungen zu bekommen, die direkt<br />

von den Staaten selbst geliefert werden. In Österreich ist das<br />

BIM seit Beginn seines Bestehens im Jahr 2000 in unterschiedlichen<br />

Konstellationen an diesem Informationsnetzwerk beteiligt.<br />

In einem interdisziplinär ausgerichteten Konsortium<br />

waren lange Jahre die Sprachwissenschaft (Universität Wien)<br />

und die Politikwissenschaft (Institut für Konfliktforschung)<br />

vertreten. Seit 2007 ist die NGO ZARA – Zivilcourage und<br />

Anti-Rassismus-Arbeit Kooperationspartner des BIM. Auch<br />

die Auftraggeberin für das Sammeln und Aufbereiten von<br />

Informationen zu Diskriminierung, ihrer rechtlichen und<br />

praktischen Bekämpfung und zur Lebenssituation von MigrantInnen<br />

und Minderheiten hat sich im Jahr 2007 verändert.<br />

Das EUMC wurde zur Agentur der Europäischen Union<br />

für Grundrechte (FRA) umgewandelt.<br />

Der Focal Point hat über die Jahre zahlreiche Berichte erstellt,<br />

die die wichtigsten Entwicklungen in den Bereichen Gesetzgebung,<br />

rassistische Gewalt, Arbeitswelt, Bildung, Wohnen<br />

und Gesundheits- und Sozialwesen abbilden sowie aktuelle<br />

politische Diskussionen und neue gesetzliche Entwicklungen<br />

im Bereich Anti-Diskriminierung nachzeichnen. Damit hat<br />

das BIM auch die Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien<br />

in österreichisches Recht jahrelang mitverfolgt.<br />

Die entstandenen Berichte, die zum Teil öffentlich zugänglich<br />

sind, in erster Linie aber <strong>als</strong> Grundlage für die weitere<br />

Arbeit von EUMC/FRA gedacht sind, werden die Probleme<br />

der gesellschaftlichen Diskriminierung zwar nicht lösen. Die<br />

mit den Ansprüchen wissenschaftlicher Seriosität durchgeführte<br />

Dokumentation der Gegebenheiten ist aber ein wichtiger<br />

Puzzlestein in einem größeren Ganzen zur Bekämpfung<br />

88


Boltzmann Institut für Menschenrechte<br />

vernetzung<br />

von Diskriminierung. Der Nachweis, dass Diskriminierung<br />

überhaupt existiert, muss immer wieder neu geführt werden,<br />

um allen, die ihre Existenz leugnen oder nicht sehen wollen,<br />

etwas entgegen halten zu können. Auch für eine Beobachtung<br />

von Veränderungen zum Besseren oder zum Schlechteren ist<br />

eine Sammlung der bestmöglichen Daten unerlässlich.<br />

Praxisorientierte Trainings<br />

Das BIM engagiert sich auch in der Verbreitung des Wissens<br />

um bestehende Rechte. Besonders die neuen Bestimmungen,<br />

die durch die Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien<br />

entstanden sind, waren Thema mehrer Trainings für<br />

verschiedene Zielgruppen – darunter SchülerInnen in Berufsschulen<br />

ebenso wie RichterInnen. Ohne das Aktionsprogramm<br />

der EU zur Bekämpfung von Diskriminierung,<br />

das die Rechtsentwicklung ergänzte, und die entsprechende<br />

EU (Teil-)Finanzierung wären viele dieser Trainings nicht<br />

zustande gekommen. Die Trainingskonzepte sind stets<br />

darauf ausgerichtet, zielgruppenadäquate rechtliche Information<br />

mit Sensibilisierungskomponenten zu verbinden<br />

und ExpertInnen über das BIM hinaus aus staatlichen und<br />

nichtstaatlichen Organisationen der jeweiligen Region mit<br />

einzubeziehen.<br />

Trainings und Wissenstransfer im Zuge der<br />

EU-Erweiterung<br />

Die sogenannten Twinning-Projekte der Europäischen Kommission<br />

unterstützen Kandidatenländer, EU-Nachbarländer<br />

und neue Mitgliedstaaten bei der Übernahme und Umsetzung<br />

des EU-Rechtsbestandes durch themenzentrierte<br />

Zusammenarbeit mit ExpertInnen aus einem alten Mitgliedstaat.<br />

Im Allgemeinen sind die „Zwillinge“ in diesen<br />

Projekten auf beiden Seiten MitarbeiterInnen staatlicher Einrichtungen.<br />

Allerdings hat auch das BIM im Jahr 2002 von<br />

der Kommission die Berechtigung erhalten, Twinning Projekte<br />

durchzuführen. Darunter waren auch Projekte zur Umsetzung<br />

der EU-Antidiskriminierungsrichtlinien in Polen,<br />

Slowenien und Ungarn.<br />

Wissenschaft und Menschenrechtsarbeit<br />

Für die vielfältige Arbeit im Antidiskriminierungsbereich ist<br />

das wissenschaftliche Renommée des Instituts ein Schlüsselfaktor.<br />

Die wissenschaftliche Kompetenz vermittelt so<br />

zwischen verschiedenen Welten – nämlich Ministerien und<br />

NGOs. Beide haben jeweils ein gewisses Vertrauen in wissenschaftliche<br />

Institutionen, bringen einander aber oft eine<br />

gehörige Portion Misstrauen entgegnen. Dem BIM wird<br />

diese Kompetenz zugeschrieben, sie muss aber immer wieder<br />

konkret unter Beweis gestellt werden. Die eigene Argumentations-<br />

und Überzeugungsfähigkeit wird nicht zuletzt<br />

dadurch geschult, dass die BIM-MitarbeiterInnen sich über<br />

weite Strecken nicht im Elfenbeinturm aufhalten. Die so geübte<br />

Kontakt- und Kommunikationsfähigkeit in verschiedenste<br />

Richtungen hat einen weiteren Effekt: Sie beugt der<br />

Entwicklung von Scheuklappen und Schwarz-Weiß-Denken<br />

vor, was wiederum wissenschaftlichen Objektivitätsansprüchen<br />

entgegen kommt. Die Expertise der PraktikerInnen und<br />

Betroffenen wird vom BIM anerkannt, und das dürfte wiederum<br />

dazu beitragen, dass im Sinne gegenseitigen Respekts<br />

die wissenschaftliche Expertise des BIM Anerkennung von<br />

außen findet.<br />

Die entstehende Identität des Instituts widersetzt sich einfachen<br />

Zuordnungen – das BIM ist keine staatliche Einrichtung,<br />

sondern ein Teil der Zivilgesellschaft, zugleich arbeitet<br />

es eng mit staatlichen Institutionen zusammen, wird finanziell<br />

direkt oder indirekt weitgehend aus staatlichen Quellen<br />

gespeist oder übernimmt, wie im Fall von Twinning, sogar<br />

Behördenaufgaben. Gerade diese vielfältige Identität ist aber<br />

zugleich der beste Schutz der geistigen Unabhängigkeit. So<br />

wie es auch bei der Diskriminierungsbekämpfung in den<br />

Köpfen darum geht Unterstützung zu finden für das Motto:<br />

für Diversität – gegen Diskriminierung!<br />

Mag.a Katharina Köhler ist Sprachwissenschafterin und Mitarbeiterin<br />

des BIM im Bereich Antidiskriminierung. Z. Zt. arbeitet<br />

sie am Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches<br />

Recht der WU Wien an ihrer Dissertation zum Thema Sprache und<br />

Recht am Beispiel des österreichischen Gleichbehandlungsrechts.<br />

Zuletzt erschienen: Vom sprachbegabten Mädchen zur sprachlosen<br />

Migrantin. In: Maria Buchmayr (Hrsg.in) (2008): Geschlecht lernen.<br />

StudienVerlag Innsbruck.<br />

Mag.a Barbara Liegl ist Politikwissenschafterin, Geschäftsführerin<br />

von ZARA und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des<br />

Netzwerks Soziale Verantwortung. Am BIM leitet sie den Bereich<br />

Antidiskriminierung und ist Direktorin des RAXEN Focal Point<br />

für Österreich der EU Agentur für Grundrechte. Barbara Liegl und<br />

Georg Spitaler (2008) Legionäre am Ball. Migration im österreichischen<br />

Fußball nach 1945, Braumüller Wien.<br />

Links zu weiterführenden Informationen<br />

http://www.univie.ac.at/bim<br />

http://www.univie.ac.at/bim/focalpoint<br />

http://www.sinnfabrik.at/ADGentwurf.htm<br />

http://www.klagsverband.at<br />

http://www.zara.or.at<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

89


Vernetzung<br />

Internationale Entwicklung<br />

Der Widerstand der IE<br />

Eine Studierendenbewegung mit Aussicht<br />

Von Celeste Osborne und Jule Fischer<br />

Demonstration am 11. März 2008<br />

Bild: Celest Osborne<br />

Wir lassen die IE nicht hängen!“ Unter diesem<br />

Motto versammelten sich am Dienstag, dem<br />

11. März, 2008, Studierende der „Internationalen<br />

Entwicklung“ um ihren Unmut über die nicht länger<br />

tragbare Situation innerhalb ihres Studiengangs kundzutun.<br />

Bunt und motiviert startete die ca. 350-köpfige Menge<br />

in Richtung Hauptuni, um dort ihre schon seit Jahren erhobenen<br />

Forderungen Nachdruck zu verleihen. Nach dem<br />

Einzug der lautstark skandierenden Menge schien die Uni<br />

endlich in Student_innenhand zu sein. In der Hoffnung, den<br />

nicht abreißenden Lärm zu beenden, übernahm Vizerektor<br />

Jurenitsch die Forderungen der Studierenden, und berieselte<br />

sie mit den gewohnten leeren Versprechen … .<br />

Warum dieser Protest?<br />

Die Forderungen ergaben sich aus dem mittlerweile unerträglichen<br />

Zustand innerhalb der „Internationalen Entwicklung“<br />

selbst, aber auch aus der gesamtuniversitär immer deutlicher<br />

spürbaren Ökonomisierung der Bildung. So fallen auf<br />

etwa 2000 Studierende eine halbe Professur und eine Administrationsangestellte.<br />

Wie bei vielen anderen Studienrichtungen<br />

sind Seminarplätze rar und die wenigen Hörsäle zu<br />

klein. Nach vorangegangenen Protestaktionen wurde zwar<br />

die Aufrechterhaltung des Studienbetriebs zugesagt, dennoch<br />

fehlt ein eigenes Institut und die Lehrenden der IE sind<br />

weiterhin auf einer unsicheren 6-Monatsbasis beschäftigt.<br />

Dies, sowie fehlende konkrete Übergangsszenarien für die<br />

kommende BA/MA-Umstellung, machen die Situation auf<br />

der IE untragbar für Studierende wie für Lehrende. Durch<br />

das Projekt IE sollten bereits seit den 1970ern auch transdisziplinäre<br />

und kritische Inhalte in der Uni Platz finden. Da<br />

die IE bis heute das einzige Grundstudium ist, das sich mit<br />

Entwicklungs forschung auseinandersetzt, ist auch ihr Werdegang<br />

verständlich: Seit dem Ws 2002/03 stieg die Zahl der<br />

Studierenden von 40 auf nun 1939 Inskribierte, die Anzahl<br />

der Lehrenden blieb jedoch gleich.<br />

Jahrelang wurde versucht, auf bürokratischem Weg etwas<br />

zu verbessern. Dem Rektorat wurde im November 2007 ein<br />

Forderungskatalog unterbreitet, der Dialog aktiv angestrebt.<br />

Erst nachdem eine Liste mit über 1300 Unterschriften vorgelegt<br />

wurde, kam überhaupt eine Reaktion: mit völlig unzureichenden<br />

Zugeständnissen. So kann die Qualität der Lehre<br />

nicht aufrechterhalten werden.<br />

Unser Ziel ist es <strong>als</strong>o, an die Öffentlichkeit zu gehen und aktiv<br />

für unser Studium einzutreten. Alle beteiligten Lehrkräfte<br />

und das überlastete Personal haben ihre Unterstützung zugesichert.<br />

Doch es geht uns nicht allein um die „Internationale<br />

Entwicklung“. Im gesamtuniversitären System wird offensichtlich,<br />

dass kritische Wissenschaften nicht mehr erwünscht<br />

sind. Die Universität läuft Gefahr, zu einem Unternehmen zu<br />

werden, die das Thema Bildung verkauft und kommerzialisiert.<br />

In diesem zunehmend durch die Marktlogik geprägten<br />

Prozess wird Studiengängen, die nicht ökonomisch verwertbar<br />

scheinen, wenig Beachtung geschenkt. Deshalb meinen<br />

wir, Bildung sollte frei, für jede und jeden zugänglich und<br />

mitgestaltbar sein! Wir haben uns dazu entschlossen, unser<br />

Studium zu sein, die Uni zu sein, die wir uns wünschen, die<br />

eine kritische Lehre unterstützt und das freie Denken fördert.<br />

Deshalb rufen wir Interessierte dazu auf, mit uns gemeinsam<br />

in einer Bewegung zu arbeiten!<br />

Das nächste Widerstands-Café findet wie gewohnt im<br />

Einbaumöbel (www.1bm.at) statt: Jeden Mittwoch ab 18.00 h<br />

(außer in den Ferien). Alle, die Lust haben mitzumachen,<br />

sind herzlich Willkommen! Infos unter: www.univie.ac.at/ie<br />

Jule Fischer, geboren am 09.06.1984, studiert Internationale Entwicklung<br />

und Politikwissenschaft an der Universität Wien.<br />

Celeste Osborne, geboren am 28.04.1987, studiert ebenfalls Politikwissenschaft<br />

und Internationale Entwicklung.<br />

90


DAI bricolage Vernetzung<br />

bricolage – Zeitschrift für Europäische Ethnologie<br />

Von Reinhard Bodner und Malte Borsdorf<br />

Am Innsbrucker Institut für Europäische Ethnologie erscheint<br />

seit 2003 die bricolage. Als Taufpate des Begriffs Bricolage<br />

gilt Claude Lévi-Strauss. In seinem Buch Das wilde<br />

Denken erklärt er, der Bricoleur schaffe sich aus verschiedenen<br />

mythischen Versatzstücken ein ästhetisch geschlossenes<br />

und sinnstiftendes Gesamtbild. Dadurch möchte der<br />

Begriff an den häufig <strong>als</strong> Vorwurf geäußerten Vorbehalt eines<br />

wissenschaftlichen Eklektizismus erinnern.<br />

Als ein ursprünglich studentisches Projekt sieht sich die<br />

bricolage in der Tradition der Zeitschrift Ethnopostille, die<br />

zwischen 1996 und 2000 von Studierenden des Instituts herausgegeben<br />

wurde. Diese war eine Plattform für StudentInnen<br />

und Lehrende des Instituts. Die bricolage möchte zusätzlich<br />

trans disziplinäre Zugänge fördern. Sie veröffentlicht deshalb<br />

neben den Texten von WissenschaftlerInnen anderer Fächer<br />

zum Teil auch künstlerische Arbeiten.<br />

Die im Verlauf dieses Jahres erscheinende bricolage 5 stellt<br />

beispielsweise eine Kooperation zwischen den Geschichtswissenschaften<br />

und dem Fach Europäische Ethnologie dar.<br />

Analysiert werden darin gesundheits- und krankheitsbezogene<br />

Vorstellungen und Handlungen verschiedener sozialer<br />

Gruppen aus sozialgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher<br />

Sicht. Statt an den Begrifflichkeiten der älteren „Volksmedizinforschung“<br />

orientieren sich die AutorInnen am<br />

Konzept der „medikalen Kultur“. Besondere Berücksichtigung<br />

findet dabei die Perspektive der PatientInnen. Bislang<br />

fehlt eine Publikation, die sich diesem Thema in Hinblick<br />

auf österreichische Verhältnisse und Entwicklungen widmet.<br />

bricolage 5 versucht, diese Lücke zu füllen.<br />

Ebenso wie diese Ausgabe bearbeiteten auch die anderen<br />

Hefte aktuelle Themen der Kulturwissenschaften. Den Anfang<br />

machte 2003 das Thema Jugendkulturen, während sich<br />

das zweite Heft 2004 dem Thema Müll annahm. Es ging dabei<br />

z. B. um die Entsorgung und Weiterverwertung von Nahrung<br />

oder um die Garbology des Journalisten A. J. Weberman, der<br />

den Müll Bob Dylans untersuchte.<br />

Die dritte Ausgabe erschien 2005 zum Thema Kulturelles<br />

Erbe. Dieses 240 Seiten umfassende Heft setzt sich kritisch<br />

mit der Wiederkehr von Erbebegriffen auseinander, die zum<br />

Teil in einem starren Kulturverständnis verhaftet bleiben.<br />

Aufgrund gestiegener Druckkosten konnte in den letzten<br />

Jahren keine Ausgabe erscheinen. Dafür werden in den<br />

nächsten Monaten die Ausgaben vier und fünf kurz hintereinander<br />

veröffentlicht. Dabei widmet sich bricolage 4<br />

einem bisher vernachlässigten Kapitel der Farbenforschung:<br />

„Grau“. Im Unterschied zu anderen Farben scheint Grau nur<br />

eine geringe kulturelle Bedeutung zu besitzen. Häufig wird<br />

sie mit Langeweile, Pessimismus, Elend und Alter in Verbindung<br />

gebracht. Von etwas Grauem geht scheinbar nur ein<br />

schwacher Impuls für die Sinne aus.<br />

Seit der dritten Ausgabe erscheint die bricolage im Verlag<br />

Innsbruck University Press und kann daher über den Buchhandel<br />

zum Preis von fünf Euro bezogen werden.<br />

Dokumentationsarchiv Islamophobie<br />

Von Bettina Fleischanderl, Verena Kozmann, Thomas Schönberger<br />

Das Dokumentationsarchiv Islamophobie (DAI) ist eine studentische<br />

Initiative, die im Frühjahr 2006 gegründet wurde.<br />

Die Debatte rund um MuslimInnen in Österreich und auch<br />

in globalen Beziehungen wurde in den letzten Jahren immer<br />

hitziger und polemischer geführt. Vorurteile, Ausgrenzungen<br />

und Diskriminierungen sind oftm<strong>als</strong> Folgen dieser<br />

Entwicklun gen für MuslimInnen in Österreich. Das DAI versucht<br />

sinnvoll und produktiv zu dieser Debatte beizutragen.<br />

Dementsprechend sind die Ziele des DAI die Beobachtung<br />

und Thematisierung von, eine Aufklärung über und eine Sensibilisierung<br />

der Gesellschaft auf Islamophobie. Auf dieser<br />

Basis können Dialoge stattfinden, aufgrund derer Lösungsansätze<br />

erarbeitet werden sollen. Unruhe stiftenden, extremen<br />

Kräften auf allen Seiten wird dadurch der Wind aus den<br />

Segeln genommen. Zu diesem Zweck werden sowohl die individuellen<br />

Diskriminierungserfahrungen von Muslim Innen<br />

sowie gesellschaftspolitische Entwicklungen dokumentiert.<br />

In Zusammenarbeit mit ZARA sollen Opfer und ZeugInnen<br />

von Diskriminierung eine entsprechende Betreuung erhalten.<br />

Aus diesen Beobachtungen und einer wissenschaftlichen<br />

Auseinandersetzung rund um Diskriminierung, Islam und<br />

angrenzenden Themen können Schlüsse gezogen werden,<br />

die bei der Erfüllung der Ziele des DAI helfen sollen. Interesse<br />

aktiv zu werden? Kontakt: info@dai.or.at<br />

Zeitschrift für Kultur- und Sozialanthropologie<br />

91


Projekt<br />

i n s i d e<br />

Ein Blick hinter die <strong>MASKE</strong><br />

Eine Periodika ist eine Periodika ist eine Periodika…<br />

Von Wilhelm Binder und Birgit Pestal<br />

„Am Puls ethnologischer Diskurse. Ethnologische Forschungserfahrungen<br />

aus etwas subjektiverer Sicht, <strong>als</strong> es wissenschaftliche<br />

Produktionsweisen mitunter zulassen.“ So kommentierte Prof.<br />

DDr. Werner Zips unsere Zeitschrift. Wir seien ein äußerst elaboriertes<br />

Projekt, meinte Dr in Erika Neuber. Viel Lob und auch<br />

einige Verbesserungsvorschläge haben uns im Laufe des vergangenen<br />

Semester ereilt. Wir bleiben am Ball. Unsere Vorhaben,<br />

den Arbeitsprozess neu zu strukturieren und effizienter zu gestalten<br />

konnten wir großteils umsetzen. Erheblichen Beitrag leisteten<br />

dabei unsere neuen MitarbeiterInnen, die wir auf unserem offenen<br />

Redaktionstreffen im März kennengelernt haben. Ein größeres<br />

Team heißt mehr personelle Ressourcen aber auch mehr<br />

Koordi nationsarbeit. Das Medium Internet ist in unserer Kommunikation<br />

wesentlich, unser Forum zentrale Anlaufstelle. Doch<br />

eine Tendenz zu Arbeitstreffen außerhalb der virtuellen Welt ist<br />

zu bemerken und wir begrüßen dies. Dadurch können wir unser<br />

kollektives Potenzial noch mehr nutzen und <strong>als</strong> Team wachsen.<br />

Mittlerweile ist es 14 MitarbeiterInnen stark und bekommt immer<br />

wieder Unterstützung von interessierten und engagierten Personen,<br />

die sich gelegentlich einbringen sowie Beiträge und Ideen<br />

liefern. Wer Interesse an ehrenamtlicher Mitarbeit hat, besuche<br />

bitte unsere Homepage (Menüpunkt „Interaktiv“) oder wende<br />

sich an office@diemaske.at. Besonders willkommen sind derzeit<br />

all jene unter euch, die bereits eine Vorstellung davon haben, wie<br />

sie sich einbringen wollen.<br />

Eine weitere Neuerung gab es in unserer Web-Präsenz: Die<br />

Homepage www.diemaske.at ging in verändertem Aussehen im<br />

Jänner online und wird seither ständig aktualisiert. Ein regelmäßiger<br />

Blick auf unsere Seite lohnt sich! An einer Möglichkeit,<br />

Beiträge online zu veröffentlichen und fachrelevante Diskussionen<br />

in Form eines Weblogs zu führen wird gearbeitet.<br />

Zusammenarbeit mit anderen Organisationen bieten. Synergien<br />

mit dem Moving Anthropology Student Network (MASN) wurden<br />

angedacht und wir hoffen auf eine Umsetzung gemeinsamer<br />

Ideen und Interessen. Mit besonderer Freude blicken wir der<br />

Vernetzung mit den anderen deutschsprachigen kultur- und sozialanthropologischen<br />

Zeitschriften entgegen, deren Mitarbeiter-<br />

Innen wir bei Treffen in München und Heidelberg im Juni 2008<br />

das erste Mal persönlich kennenlernen werden.<br />

An dieser Stelle gebührt auch dem Institut und der Studierendenvertretung<br />

der KSA Dank für die basale finanzielle Rückendeckung,<br />

die ein Projekt wie dieses dringend braucht. Eine<br />

Redaktion hat viele laufende Kosten und unser finanzieller Spielraum<br />

ist noch immer eng, vor allem da wir den Verkaufspreis<br />

unter allen Umständen niedrig halten wollen. Wir freuen uns<br />

auch weiterhin über jede ideelle Unterstützung durch das Institut,<br />

sei es durch Beiträge, Kontakte oder ernsthafte Auseinandersetzung<br />

mit uns und unserem Produkt. Übrigens: Dass die<br />

Mitarbeit bei der <strong>MASKE</strong> <strong>als</strong> Individualpraktikum anrechenbar<br />

wird, ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich ab dem Wintersemester<br />

2008/09 möglich sein.<br />

Ein besonderer Fokus liegt für uns derzeit auch in der Öffentlichkeitsarbeit,<br />

der Vernetzung und der Erkundung breiterer<br />

Vertriebswege. Medienresonanz gab es z.B. durch Ö1, das<br />

Südwind-Magazin und sogar durch ORF2. Medienpräsenz im<br />

Online- und Printbereich wollen wir verstärkt auch durch Anzeigen-<br />

und Bannertausch erreichen. Verkauft wird die <strong>MASKE</strong><br />

zudem jetzt nicht mehr nur im Facultas, dem ÖGB-Verlag und im<br />

Handverkauf am Institut sondern auch über unsere Homepage,<br />

in Literaturcafes (wie dem Cafe Berg), bei Diavorträgen, in der<br />

Delikatessen-Videothek 8-einhalb und dem Morawa.<br />

Viele Kooperationen mit anderen jungen Initiativen in Wien<br />

haben sich aufgetan, so versuchen wir z.B. der Plattform<br />

textfeld.ac.at Raum zu geben um Publikationen vorzustellen. Mit<br />

Ethnocineca – der ethnologischen Filmwerkschau – ist ein gemeinsames<br />

Sonderheft der <strong>MASKE</strong> geplant. Das Format der<br />

Sonderedition ist in einem jährlichen Zyklus geplant und soll<br />

neben der regulären Ausgabe Möglichkeiten zur thematischen<br />

Die <strong>MASKE</strong> streckt sich <strong>als</strong>o in viele Richtungen und wir versuchen<br />

dieses vom Engagement der Mitwirkenden und der<br />

Ko operationspartner getragene Projekt in jeglicher Hinsicht<br />

wachsen zu lassen. Gute Ideen haben Viele – auf die Umsetzung<br />

kommt es an. Das was im Heft steht zählt, der Rest der Arbeit<br />

wird – wie im Übrigen auch alle ausgebesserten Fehler – für den<br />

Großteil aller Leser und Leserinnen unsichtbar bleiben.<br />

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