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Ein Gang durchs Wuppertal in diesem Jahrhundert - Licht und Recht

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<strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>Gang</strong><br />

<strong>durchs</strong><br />

<strong>Wuppertal</strong><br />

<strong>in</strong><br />

<strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong><br />

von<br />

A. S<strong>in</strong>cerus.<br />

1887


Nennt man das <strong>Wuppertal</strong>, so tritt uns gleich e<strong>in</strong>e bestimmte, stark ausgeprägte Eigentümlichkeit<br />

vor die Seele: bei <strong>E<strong>in</strong></strong>igen, die e<strong>in</strong>er Gegend von hervorragend pietistischer Frömmigkeit, bei Anderen,<br />

die e<strong>in</strong>er großartigen Fabrik- <strong>und</strong> Arbeiterwelt mit fleißigem, aber unruhigem <strong>und</strong> aufgeregtem<br />

Leben. <strong>E<strong>in</strong></strong>e eigenartige Frömmigkeit <strong>und</strong> dabei e<strong>in</strong>e rastlose Geschäftstätigkeit s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Kennzeichen des merkwürdigen Tales; früher waren beide noch <strong>in</strong>niger <strong>und</strong> befre<strong>und</strong>eter verb<strong>und</strong>en:<br />

die Frömmigkeit belebte <strong>und</strong> segnete den Fleiß; neuerd<strong>in</strong>gs hat die Frömmigkeit empf<strong>in</strong>dlich<br />

abgenommen <strong>und</strong> das Arbeitsleben ist wilder <strong>und</strong> aufgeregter geworden bis zu den wie giftige Wellen<br />

aufschäumenden sozialistischen Stürmen. Der Plan, das Niederwald-Denkmal am denkwürdigen<br />

Tage <strong>in</strong> die Luft zu sprengen, ist im <strong>Wuppertal</strong> ausgesonnen worden.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> <strong>Gang</strong> durch die Geschichte des <strong>Wuppertal</strong>s <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>, namentlich im H<strong>in</strong>blick<br />

auf die kirchliche Entwicklung, ist e<strong>in</strong> <strong>Gang</strong> durch die Kirchengeschichte des <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s selbst.<br />

Hier hat sich dieselbe <strong>in</strong> ihrer Ersche<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> Vielem als e<strong>in</strong> beachtenswertes Gleichnis h<strong>in</strong>gestellt.<br />

Auch von großem psychologischen Interesse ist e<strong>in</strong>e solche Studie, denn der Volkscharakter des Tales<br />

ist e<strong>in</strong>er der seltsamsten <strong>und</strong>, wie der Pädagoge Diesterweg sagte: e<strong>in</strong>er der schwierigsten <strong>in</strong><br />

ganz Deutschland. Er hat Verschl<strong>in</strong>gungen <strong>und</strong> Rätsel, an deren Lösung man oft vergeblich arbeitet.<br />

Die als klares Wald- <strong>und</strong> Wiesenwasser von Osten here<strong>in</strong>flutende Wupper zeigt sich bald im Tale<br />

als e<strong>in</strong> mit allen Farben dunkel geschmückter Fluß, der, je schmutziger er wird, um so mehr das<br />

Zeugnis vielfacher Arbeit <strong>und</strong> nicht weniger reichlichen Goldstaubes mit sich trägt. Anfänglich umgeben<br />

ihn breite Wiesen <strong>und</strong> ziehen sich an beiden Seiten zu Bergen h<strong>in</strong>, die mit frischem Buchengrün<br />

bedeckt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> als „ruhmreiche Berge“ 1 von den Talleuten geehrt werden. Sie geben der ganzen<br />

Gegend e<strong>in</strong>en frischen <strong>und</strong> schönen Zug, den freilich <strong>in</strong> neuerer Zeit die zahllosen Fabrikstätten<br />

mit ihrem Rauch <strong>und</strong> Schmutz wesentlich verdorben, oder die Eisenbahnl<strong>in</strong>ien se<strong>in</strong>er friedlichen, an<br />

manchen Stellen e<strong>in</strong>st hervorleuchtenden Idylle beraubt haben. Steht man auf der gepflegten Aussichtshöhe<br />

der Haardt (d. h. Bergwald) <strong>und</strong> schaut nach rechts <strong>und</strong> l<strong>in</strong>ks <strong>in</strong> die Talausweitungen<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, so hat man das oft durch Qualm <strong>und</strong> Dunst halbverschleierte weite Bild e<strong>in</strong>es riesigen Arbeitsplatzes<br />

mit sausenden <strong>und</strong> schnurrenden Spulen <strong>und</strong> dem taktmäßigen Geklapper der Webstühle,<br />

auf dem jetzt e<strong>in</strong>e Bevölkerung von mehr als 220.000 Seelen <strong>in</strong> aller Mühe <strong>und</strong> kräftigster Leidenschaft<br />

<strong>in</strong> gleichmäßig verteilter Groß- <strong>und</strong> Kle<strong>in</strong><strong>in</strong>dustrie den Kampf ums Dase<strong>in</strong> führt: immer<br />

ruhelos, rücksichtslos, eifrig, unermüdlich, Ke<strong>in</strong>er den Anderen schonend, viel fordernd, Jeder e<strong>in</strong><br />

König, <strong>und</strong> das Tal die Welt. Überall sieht man noch die alten Formen der Häuser: glasierte Ziegel,<br />

Schieferbekleidung, grüne Läden <strong>und</strong> weiß gestrichene Schnitzwerkverbrämung um Haustür <strong>und</strong><br />

Fenster, zuweilen noch e<strong>in</strong> gerettetes Gärtle<strong>in</strong> <strong>und</strong> alte hohe Bäume. Ordentlich <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach: bezeichnend<br />

für den ganzen Volksstamm. Wie ist doch überall Volk, Bauart der Häuser <strong>und</strong> Natur harmonisch!<br />

Der kräftige Buchenwuchs auf den kuppelartigen Höhen, die r<strong>in</strong>nenden Bergwasser, die<br />

saftigen Wiesen, die orig<strong>in</strong>ellen Häuser stimmen mit dem Wesen des Volkes, das, tüchtig veranlagt,<br />

e<strong>in</strong>e frische Eigenart mit allen Untugenden <strong>und</strong> Härten derselben zeigt bis zur eigens<strong>in</strong>nigen, e<strong>in</strong>förmigen<br />

Beschränktheit, die dann wieder <strong>in</strong> der frostigen <strong>und</strong> langweiligen Ersche<strong>in</strong>ung der Fabriken<br />

verbildlicht wird. Schon Jung-Still<strong>in</strong>g rühmte wenigstens für die alte Zeit die Re<strong>in</strong>lichkeit „<strong>in</strong> dem<br />

paradiesisch gelegenen Tale“, <strong>und</strong> wenn am Sonnabend der Rumor der Schrubber <strong>und</strong> Besen beg<strong>in</strong>nt<br />

<strong>und</strong> die Mägde auf ihren schiffsschnäbeligen Holzschuhen oder holländischen Blotschen ihre<br />

hohen Fluten außen <strong>und</strong> <strong>in</strong>nen herumspritzen – so ist des Putzens fast zu viel 2 .<br />

1 Das Bergische Gesangbuch hieß sogar früher „Kl<strong>in</strong>gende u. s<strong>in</strong>gende Berge“.<br />

2 Wir nannten eben Still<strong>in</strong>g. Es ist doch <strong>in</strong> Vielem bezeichnend, was er über Elberfeld sagt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch: Die Lehrjahre;<br />

die Menge der Kaufleute empf<strong>in</strong>g ihn bloß höflich als e<strong>in</strong>en Mann, der ke<strong>in</strong> Vermögen hat <strong>und</strong> dem man<br />

gleich auf den ersten Blick den <strong>E<strong>in</strong></strong>druck beibr<strong>in</strong>gen muß: Habe nur ja niemals das Herz, Geld, Hilfe <strong>und</strong> Unterstützung<br />

von mir zu begehren; ich bezahle de<strong>in</strong>e Mühe nach Verdienst <strong>und</strong> weiter nichts. – Das Alles machte ihm doch<br />

3


Von dem Osten Barmens bis nach dem Westende Elberfelds zieht sich ununterbrochen e<strong>in</strong>e Stadt<br />

h<strong>in</strong> mit den Geme<strong>in</strong>den Wichl<strong>in</strong>ghausen (lutherisch), Wupperfeld (lutherisch), Gemarke<br />

(reformiert), Unterbarmen (uniert) <strong>und</strong> der reformierten <strong>und</strong> lutherischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld<br />

(mit 13 Kirchen <strong>und</strong> etwa 30 Pastoren <strong>und</strong> Hilfspredigern). <strong>E<strong>in</strong></strong>e geradl<strong>in</strong>ige Straße, die immer enger<br />

wird, <strong>durchs</strong>chneidet die Talsohle. Der große Verkehr der Orte bewegt sich auf ihr. <strong>E<strong>in</strong></strong>e lange<br />

Baumallee begleitet <strong>in</strong> Barmen den weiten Weg. Auf der Grenzscheide der beiden Städte liegt das<br />

Missionshaus (mit zwei Inspektoren). Neben den alten Häusern haben sich Prachtbauten erhoben<br />

mit schöner Außenersche<strong>in</strong>ung <strong>und</strong> großartigem Luxus <strong>in</strong>nen. Aber über Allem <strong>und</strong> auf Allem liegt<br />

der Kohlenstaub der Luft, oder wochenlang unablässig anhaltender Regen hüllt die ruhelose Gegend<br />

<strong>in</strong> nasse Decken <strong>und</strong> läßt die Straßen <strong>in</strong> Schmutz schwimmen. Poesie- <strong>und</strong> Gemütlosigkeit<br />

hauchen uns an; die Welt des Schönen <strong>und</strong> Angenehmen ist hier nicht vertreten; e<strong>in</strong> heißer, staubiger<br />

R<strong>in</strong>gkampf lebt <strong>in</strong> der geistigen Atmosphäre der Landschaft. „Die Sonne ist heiß,“ sagte Diesterweg,<br />

„<strong>und</strong> der Nebel drückt.“<br />

Die Zustände im Tale waren im Anfang dieses <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s noch sehr e<strong>in</strong>fache. Man lebte <strong>in</strong> stiller<br />

Abgeschlossenheit von der Welt, ganz befriedigt mit den kle<strong>in</strong>en D<strong>in</strong>gen um sich herum. Entwickelte<br />

sich auch von der Garnbleicherei auf den Wiesen <strong>und</strong> den Band-Webestühlen e<strong>in</strong>e vielseitige<br />

Industrie, namentlich als e<strong>in</strong> Sachse auf der Durchreise das Geheimnis der Garnfärberei mitbrachte,<br />

so hatte man doch ke<strong>in</strong> großes Bedürfnis, auf Reisen zu gehen <strong>und</strong> die Menschen h<strong>in</strong>ter<br />

den heimatlichen Bergen kennen zu lernen. Die notwendigen Reisen machte man mit dem Frachtfuhrwerk<br />

<strong>und</strong> g<strong>in</strong>g neben dem Fuhrmann e<strong>in</strong>her oder setzte sich auf e<strong>in</strong>en auf dem Frachtwagen angebrachten<br />

e<strong>in</strong>fachen Sitz. Bibel, Gebet- <strong>und</strong> Gesangbücher waren das notwendigste Reisegerät. In<br />

den Gasthäusern <strong>und</strong> am Ziel der Reise beschränkte man häufig die Unterhaltung auf das Unvermeidliche,<br />

weil das zu Hause ausschließlich gesprochene Platt kaum oder gar nicht verstanden wurde.<br />

So manches Orig<strong>in</strong>al des Kaufmannsstandes fand sich. Die Buchhalter <strong>in</strong> Perücken <strong>und</strong> Stripärmel<br />

hatten ihre ganze Welt <strong>und</strong> ihren ganzen Ideenkreis <strong>in</strong> dem ungeheuerlichen Folianten e<strong>in</strong>geschlossen,<br />

den man Hauptbuch nennt: sie dünkten sich e<strong>in</strong>e Art von höheren Wesen, wenn sie mit<br />

ängstlicher Sorgfalt die großen Züge der Überschriften malten. Man lebte im engen Kreise. Bis gegen<br />

das Ende des vorigen <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s war im ganzen Tal ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Buchhandlung gewesen.<br />

Fremde kamen selten hierher. Die Entwicklung der Menschheit stand hier fast still. Am Schluß des<br />

vorigen <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s war der erste Bankrott <strong>in</strong> Elberfeld geschehen: etwas damals Unerhörtes. Früher<br />

blieben die Verluste im Tal. Die reicheren Gläubiger strichen die fehlenden Summen: das ehrenhafte<br />

<strong>Wuppertal</strong> sollte ke<strong>in</strong>en bösen Leum<strong>und</strong> bekommen. Überall wurde das e<strong>in</strong>fach Gediegene,<br />

das Starke <strong>und</strong> Dauerhafte, das „Deftige“ geschätzt. Das Familienleben blühte. Bei großem Reichtum<br />

herrschte Sparsamkeit <strong>und</strong> <strong>E<strong>in</strong></strong>fachheit. Zuweilen statt des Sofas e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>faches hölzernes Geflecht.<br />

Man überschritt nie e<strong>in</strong>e bestimmte Zahl der Gerichte. Die Armenpflege war Sache der Kirchengeme<strong>in</strong>en.<br />

Es konnten sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Monat 500 Taler im Armenstock f<strong>in</strong>den. Wurden die<br />

kirchlichen Geme<strong>in</strong>debücher am Neujahr abgeschlossen, dann schickten manche Reiche e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

Summe zum besseren Abschluß. Gab Jemand e<strong>in</strong>en Sonntag e<strong>in</strong>en Dukaten <strong>und</strong> war er dann e<strong>in</strong>en<br />

oder zwei Sonntage abwesend, dann gab er den folgenden Sonntag drei. Das kirchliche Leben war<br />

e<strong>in</strong> lebendiges mit starkem calv<strong>in</strong>istischem Gepräge, dem sich auch die Lutheraner nicht entziehen<br />

konnten. Der ganze Volkscharakter, die Gewöhnung <strong>und</strong> Betrachtung des Lebens, der scharfe klare<br />

Verstand, der Mangel an reicherem poetischen Gefühlsleben förderte die Liebe zu der Lehre des<br />

das Herz schwer. Er sah sich auf e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e große, glänzende, kle<strong>in</strong>städtische, geldhungerige Kaufmannswelt<br />

versetzt, mit welcher er im Ger<strong>in</strong>gsten nicht harmonierte, wo man die Gelehrten nur nach dem Verhältnis ihres Geldvorrats<br />

schätzte, wo Empf<strong>in</strong>dsamkeit, Lektüre <strong>und</strong> Gelehrsamkeit lächerlich waren <strong>und</strong> wo nur Ehre genoß, der viel<br />

erwerben konnte.<br />

4


Genfer. <strong>E<strong>in</strong></strong>fach waren die Kirchen <strong>und</strong> ihre Ausstattungen: alles unnötige Putz- <strong>und</strong> Flitterwerk war<br />

im Geistlichen <strong>und</strong> Weltlichen gemieden. Geistliche Lieder erschollen von den Bleichen <strong>und</strong> aus<br />

den Werkstuben. Der Hausvater sammelte Morgens <strong>und</strong> Abends se<strong>in</strong> Ges<strong>in</strong>de zu Gebet <strong>und</strong> Bibellehre.<br />

Sonntags zog Alles, was nicht zur Bewachung der Bleichen <strong>und</strong> zum Hauswesen zurückbleiben<br />

mußte, zur Kirche <strong>und</strong> es störte die Feier des Tages nicht, wenn nach beendigter Predigt die<br />

Bleicherknechte schnell ihren Sonntagsrock abwarfen <strong>und</strong> das trockene Garn mit ihren breiten<br />

Gießschaufeln <strong>in</strong> hochspritzenden Bogen begossen. Auch Solche besuchten regelmäßig die Kirche,<br />

die ohne <strong>in</strong>neres Leben waren. Die meisten Familien waren e<strong>in</strong>heimische <strong>und</strong> standen unter dem<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>fluß tiefgewurzelter Sitte. Es kam vor, daß auch griechische N. T. sich <strong>in</strong> den Kirchstühlen der<br />

Gemarker Geme<strong>in</strong>de fanden. Die Erweckung förderte <strong>und</strong> stärkte die Frömmigkeit <strong>und</strong> Pastor Bartels<br />

<strong>in</strong> Wupperfeld († 1827) konnte sagen, daß sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Zeit die äußerlich gute Sitte <strong>und</strong> Ordnung<br />

noch gehoben habe. – Es hatte lange gedauert, bis auch nur die K<strong>und</strong>e von den Lehren des Rationalismus<br />

<strong>in</strong>s Tal kam; brachten fremde Kaufleute Nachricht davon, so mußten sie ihre Weisheit<br />

für sich behalten. In Elberfeld war dann doch der <strong>E<strong>in</strong></strong>fluß des verehrten Direktors des Bürger<strong>in</strong>stituts<br />

Wilberg, dem man e<strong>in</strong> Denkmal auf der Haardt gesetzt hat, sehr schädlich. Diesterweg hatte <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Nähe das Gefühl, als ob man vor e<strong>in</strong>em Riesen der Urwelt stehe. Über der geschlossenen Lesegesellschaft<br />

<strong>in</strong> Elberfeld liegt e<strong>in</strong>e etwas rationalistische Gedankenluft. Aber <strong>in</strong> solcher verheerender<br />

Weise, wie anderwärts, hat der Rationalismus hier nie geherrscht. Seicht <strong>und</strong> leer war freilich<br />

das Bergische Gesangbuch. Es war noch 1841 vorhanden, wo Stier me<strong>in</strong>te, es sei das schlechteste,<br />

das ihm bekannt sei.<br />

Das Ansehen des geistlichen Amtes war e<strong>in</strong> großes. Der Pastor Bartels an der Wupperfelder Geme<strong>in</strong>de<br />

konnte, als e<strong>in</strong>e Seiltänzergesellschaft an e<strong>in</strong>em kirchlichen Feiertage auf dem Markte e<strong>in</strong>e<br />

Vorstellung gab <strong>und</strong> sich dafür auf die obrigkeitliche Erlaubniskarte berief, mit e<strong>in</strong>em großen Messer<br />

das ausgespannte Seil zerschneiden. Alles Volk trat auf se<strong>in</strong>e Seite <strong>und</strong> das Spiel mußte unterbleiben.<br />

Das kräftige kirchliche Leben war natürlich von vielen <strong>E<strong>in</strong></strong>seitigkeiten begleitet. Alles was<br />

über das gewöhnliche kahle Maß h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g, nannte man mit e<strong>in</strong>em Orig<strong>in</strong>alworte des Tales: Fisimatenten.<br />

In Haltung <strong>und</strong> Kleidung trat e<strong>in</strong>e fromme Methode hervor. Noch bis <strong>in</strong> unsere Tage fällt<br />

e<strong>in</strong>em hie <strong>und</strong> da der pastorale Schnitt bei den Geme<strong>in</strong>degliedern auf: e<strong>in</strong>e Neigung zu veralteten<br />

Hüten <strong>und</strong> langschößigen Rocken. Das glattrasierte Gesicht ruht mit se<strong>in</strong>em K<strong>in</strong>n auf e<strong>in</strong>er steif gew<strong>und</strong>enen<br />

Krawatte. Man glaubt noch heute, mehr Pastoren zu sehen, als im Amte s<strong>in</strong>d. Die konfessionellen<br />

Gegensätze waren, wie Alles, was im Tal e<strong>in</strong>mal Gegensatz ist, unübersteiglich. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Heirat<br />

zwischen Reformierten <strong>und</strong> Lutheranern galt als e<strong>in</strong>e unliebsame Mischehe. „Calv<strong>in</strong>ische Spitzköpfe“<br />

<strong>und</strong> „lutherische Dickköpfe“ schimpften sich gegenseitig die K<strong>in</strong>der auf den Gassen. Die reformierten<br />

K<strong>in</strong>der mußten bei dem öffentlichen Bekenntnis geloben, ke<strong>in</strong>e Lutheraner zu heiraten.<br />

Es galt als e<strong>in</strong>e „Kühnheit“, als e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> reformierter Pastor auf e<strong>in</strong>er lutherischen Kanzel predigte.<br />

Die Lutheraner schalt man <strong>E<strong>in</strong></strong>dr<strong>in</strong>gliche <strong>in</strong> das calv<strong>in</strong>istische Tal: e<strong>in</strong> dem Wuppertäler entsetzliches<br />

Wort, denn se<strong>in</strong>e Freiheit <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e <strong>Recht</strong>e gehen ihm über Alles. So kle<strong>in</strong> damals die <strong>E<strong>in</strong></strong>wohnerzahl<br />

des Tales auch war: Elberfeld <strong>und</strong> Barmen zählten 1816 etwa 39.614 Seelen, so<br />

herrschte doch zwischen den Schwesterstädten heftige Eifersucht. Barmen, von der die Wupper<br />

kam, „trübte“ Elberfeld das Wasser. Ungern g<strong>in</strong>gen die Elberfelder zu den Predigten Fr. W. Krummachers<br />

nach Gemarke, <strong>und</strong> als er bei der ersten Wahl den Ruf nach Elberfeld nicht annahm, we<strong>in</strong>te<br />

die Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> der Kirche <strong>in</strong> gekränktem Stolze. Oft nahmen diese <strong>in</strong> allen Beziehungen waltenden<br />

Eifersüchteleien e<strong>in</strong>en komischen Charakter an. Als 1816-1818 die Erweckung im Tale auftrat,<br />

war es <strong>in</strong> Elberfeld namentlich e<strong>in</strong> Lederhändler Peter Diedrichs, der e<strong>in</strong>en Mittelpunkt bildete.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> ziemlich enges Stübchen im H<strong>in</strong>terhause war der Versammlungsort. Vorn an e<strong>in</strong>em Tischle<strong>in</strong>,<br />

5


auf dem e<strong>in</strong> Lämpchen oder Talglicht brannte, hatte Diedrichs se<strong>in</strong>en Platz, um ihn e<strong>in</strong>ige ältere<br />

Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> r<strong>in</strong>gsumher dann <strong>in</strong> allen Räumen <strong>und</strong> W<strong>in</strong>keln die Erbauung suchenden Zuhörer. Er<br />

war e<strong>in</strong> Bild der Frömmigkeit des Tales mit ihrer orig<strong>in</strong>ellen Form <strong>in</strong> der Liebe zur Bildlichkeit.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>st kam er auf e<strong>in</strong>er Geschäftsreise ganz durchnäßt bei e<strong>in</strong>er Fähre an der Ruhr an <strong>und</strong> rief: „Hol<br />

über!“ Der Fährmann kam, holte ihn ab <strong>und</strong> tröstete ihn mit den Worten: „Seid unbesorgt, ich gebe<br />

Euch me<strong>in</strong>es Sohnes Kleider, bis Eure eigenen trocken s<strong>in</strong>d“, nicht ahnend, welchen Engelsdienst er<br />

durch dieses Anerbieten dem lieben Diedrichs leistete, der dabei an die Kleider unseres Mittlers <strong>und</strong><br />

an das letzte „Hol über!“ dachte. „Nur e<strong>in</strong> Stockwerk höher“, me<strong>in</strong>te er, zöge er beim Sterben.<br />

In Elberfeld wurde der <strong>E<strong>in</strong></strong>fluß des Rationalismus durch G. D. Krummacher gebrochen, der, von<br />

Tersteegen anfänglich berührt, sich immer mehr dem strengen System Calv<strong>in</strong>s zuwandte. Er war<br />

e<strong>in</strong>e stattliche Ersche<strong>in</strong>ung mit ernsten dunklen Augen, e<strong>in</strong>em gemauerten Gesichte, außen gemessen,<br />

kalt, abgeschlossen; e<strong>in</strong> geschworener Fe<strong>in</strong>d alles Sche<strong>in</strong>es <strong>und</strong> aller Tünche, aber lauter, nüchtern<br />

<strong>und</strong> voll Liebe <strong>und</strong> H<strong>in</strong>gebung für die Geme<strong>in</strong>de. <strong>E<strong>in</strong></strong> klares Unterweisen <strong>in</strong> der biblischen<br />

Wahrheit, e<strong>in</strong>e Benutzung der Schrift nach allen Seiten bis zur s<strong>in</strong>nigen Auslegung der Lagerstätten<br />

Israels erbaute die aufmerksamen Zuhörer <strong>und</strong> legte den guten Gr<strong>und</strong> zur Erneuerung der reformierten,<br />

der väterlichen Lehre. G. D. Krummachers Tätigkeit ist für das Tal so entscheidend gewesen,<br />

daß alle tieferen Anfassungen von ihm ausg<strong>in</strong>gen. <strong>E<strong>in</strong></strong>mal begrub er e<strong>in</strong>en heftigen Gegner se<strong>in</strong>es<br />

Neffen F. W. Krummacher <strong>und</strong> beschränkte sich auf die Worte: „Der Mann, den wir hier begraben,<br />

war Prediger <strong>und</strong> Konsistorialrat <strong>und</strong> was er mehr gewesen, das mögen Euch die Tränen der Umstehenden<br />

sagen. Amen.“ – Die Tränen fehlten. Als e<strong>in</strong>st e<strong>in</strong>e Kranke ihm ihr Sündenelend klagte, bekam<br />

sie den Bescheid: „Ja, leider bestätigen dies Ihre Nachbarn auch, daß Sie e<strong>in</strong>e arge Sünder<strong>in</strong><br />

ist.“ Jetzt brach der Hochmut h<strong>in</strong>ter der Demut hervor. – Namentlich <strong>in</strong> der hochbegabten Wilhelm<strong>in</strong>e<br />

von der Heydt, der Mutter der Gebrüder August, Daniel <strong>und</strong> Karl von der Heydt, gewann Krummacher<br />

e<strong>in</strong>e ergebene Schüler<strong>in</strong>, die von ihm tief <strong>in</strong> die reformierte Lehre e<strong>in</strong>geführt wurde <strong>und</strong> dieselbe<br />

<strong>in</strong> ihren Kreisen <strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrem Briefwechsel verbreitete: e<strong>in</strong>e Frau, wie Wenige <strong>in</strong> den Fragen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen des Glaubens geübt: der Mittelpunkt vieler Beziehungen. Will man e<strong>in</strong>e Geschichte<br />

des <strong>Wuppertal</strong>es schreiben, so darf man ihrer nicht vergessen. Sie verstand es auch, Menken <strong>und</strong><br />

CoIlenbusch, die ihre falschen Heiligungstheorien ihr aufdrängen wollten, entgegenzutreten. Das<br />

Weibliche war kaum mehr zu bemerken, wenn sie ihre klaren, großen Gedanken der Lehre <strong>in</strong> weit<br />

ausholenden Sätzen entwickelte.<br />

Neben se<strong>in</strong>em Onkel wirkte dann Fr. W. Krummacher, der mit se<strong>in</strong>en glänzenden Reden, die<br />

Goethe nicht ganz falsch charakterisiert hat, e<strong>in</strong>e große Geme<strong>in</strong>de von Nah <strong>und</strong> Fern heranzog. Se<strong>in</strong><br />

„Elias <strong>und</strong> Elisa“ waren damals überall gelesene Schriften. Wenn er die Bauern des zur Geme<strong>in</strong>de<br />

gehörigen ländlichen Kirchspiels besuchte, dann war er dort ebenso geehrt wie <strong>in</strong> der Stadt: lange,<br />

festlich gedeckte Tafeln mit hohen bl<strong>in</strong>kenden Kaffeekannen <strong>und</strong> appetitlichem Kuchen wurden<br />

aufgetragen <strong>und</strong> weith<strong>in</strong> schallten die vollstimmigen Chöre der S<strong>in</strong>genden. Der Schreibende ist ke<strong>in</strong><br />

Fre<strong>und</strong> der Predigten Krummachers: zu viel Redepracht <strong>und</strong> zu wenig Nüchternheit <strong>und</strong> <strong>E<strong>in</strong></strong>falt –<br />

aber es ist ke<strong>in</strong>e Frage, daß sie damals die tiefsten Wirkungen hervorriefen. Gar Manche freilich,<br />

die sie anfangs erregten, haben später ihre wahre Befriedigung bei Kohlbrügge gef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d<br />

von allem Gefühlsleben gründlich abgekommen. Als Friedrich Wilhelm IV. 1842 <strong>und</strong> 1848 im Tale<br />

war, hatte die kirchliche Regsamkeit die Höhe erreicht. „Lieberes,“ schrieb der König, „<strong>und</strong> Unvertilgbareres<br />

br<strong>in</strong>ge ich nirgends als Frucht der sturmesgleichen Reise mit, als aus Elberfeld <strong>und</strong> Barmen<br />

<strong>und</strong> aus den alten treuen Westfälischen Landen. Mir treten die Tränen <strong>in</strong> die Augen, wenn ich<br />

daran denke.“ Das Tal, das von Vielen durchwandert wurde, sah <strong>in</strong> den dreißiger Jahren auch F. L.<br />

Jürgens, von Amerika kommend, auf se<strong>in</strong>en Gassen: er erregte ungeme<strong>in</strong>e Aufregung, machte sich<br />

6


aber sittlicher Verbrechen schuldig. Der Fre<strong>und</strong> Goßners L<strong>in</strong>dl, der überall den Pastoren half, verfiel<br />

zuletzt auf e<strong>in</strong>e Vollkommenheitstreiberei, <strong>in</strong> der der alte Katholizismus wieder durchbrach. Die<br />

mannigfaltigsten Geister schwärmten so herum, als die neue Zeit anbrach.<br />

In diese glückliche <strong>und</strong> an weite Fernen heilsam mitteilende kirchliche Entwicklung trat zuerst<br />

tief störend <strong>und</strong> verwirrend die Union 1835 h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: lediglich e<strong>in</strong> Wunsch des Königs, weder von<br />

den lutherischen, noch reformierten Geme<strong>in</strong>den begehrt, die abgeschlossen von e<strong>in</strong>ander ihre Wege<br />

g<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> ihre konfessionellen Eigentümlichkeiten zäh bewahrten, wenn auch die Pastoren den<br />

brüderlichen Verkehr mit solcher Wärme <strong>in</strong>nehielten, wie uns das F. W. Krummacher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben<br />

Sanders schildert. Die Zusammenkünfte der Pastoren auf der Farbmühle zeigen e<strong>in</strong>e brüderliche<br />

fördernde Geme<strong>in</strong>schaft. Also friedlich-schiedlich lebte man mit e<strong>in</strong>ander. Die alte Schärfe war<br />

sogar gemildert worden. Das wollte nun der König gewaltsam ändern. Se<strong>in</strong> ergebenes Werkzeug,<br />

der Bischof Roß, drohte mit Absetzungen, wenn man nicht gehorche. Es gab e<strong>in</strong>en Sturm ohne Gleichen.<br />

Als die Agende endlich angenommen war, g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> guter Reformierter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Kirche<br />

<strong>und</strong> nahm das Buch vor den Augen der Geme<strong>in</strong>de wieder h<strong>in</strong>weg. Man mußte es doch zuletzt dulden<br />

– <strong>und</strong> so hatte man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em entscheidenden Augenblicke se<strong>in</strong>en Hals unter das staatskirchliche<br />

Joch gebeugt <strong>und</strong> die Freiheit <strong>und</strong> Selbständigkeit der alten Kirche aufgegeben. Nur 20 reformierte<br />

Männer traten aus der Kirche aus, ließen ihre K<strong>in</strong>der ungetauft <strong>und</strong> bildeten 1847 die freie niederländisch-reformierte<br />

Geme<strong>in</strong>de, die unter der Leitung des Pastor Dr. th. Hermann Friedrich Kohlbrügge<br />

e<strong>in</strong>e langdauernde unvergleichliche Blüte erreichte: e<strong>in</strong> Vorbild für alle Geme<strong>in</strong>den. Freie<br />

Selbstbesteuerung, Verwaltung durch Presbyter <strong>und</strong> Diakonen, vorzügliche, von der Stadt unabhängige<br />

Armenpflege, ernste Kirchenzucht <strong>und</strong> die gewaltige Predigt der freien Gnade waren die Kle<strong>in</strong>odien<br />

dieser Geme<strong>in</strong>de, die nach den Brüdergeme<strong>in</strong>den <strong>und</strong> denen von Kornthal <strong>und</strong> Wilhelmsdorf<br />

<strong>in</strong> Württemberg der <strong>in</strong> Deutschland so seltene <strong>und</strong> doch so gelungene Versuch war, e<strong>in</strong>e freie Geme<strong>in</strong>de<br />

zu bilden. Dr. Kohlbrügge ist der bedeutendste Theologe, den das Tal <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong><br />

gehabt: e<strong>in</strong> Mann von reformatorischer <strong>E<strong>in</strong></strong>sicht <strong>und</strong> Kraft. Nirgends s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong> <strong>in</strong><br />

solcher Herrlichkeit <strong>und</strong> Tiefe die Wahrheiten der Reformation verkündet worden wie auf der Kanzel<br />

der niederländisch-reformierten Kirche, die <strong>in</strong> der Deweerthstraße auferbaut ist: e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher<br />

Tempel, an die französischen Kirchen er<strong>in</strong>nernd. Dr. Kohlbrügge gründete die e<strong>in</strong>zige reformierte<br />

Schule <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>, die an dem Bekenntnis der Väter ohne Abzug festhält. Mit <strong>Recht</strong><br />

konnte er <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong>e sagen, daß sie die seien, die das Erbe der reformierten bergisch-märkischen<br />

Kirche sich nicht hätten rauben lassen. Die Parteigegensätze drängten den bedeutenden Mann<br />

<strong>in</strong> die Ecke <strong>und</strong> ließen ihn nur für Wenige – nicht aber für das Große <strong>und</strong> Ganze der Kirche segensvoll<br />

werden. Se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de war e<strong>in</strong>e Ersche<strong>in</strong>ung, wie sie nur das <strong>Wuppertal</strong> hervorbr<strong>in</strong>gen konnte<br />

<strong>und</strong> Kohlbrügge hat das selbst immer dankbar anerkannt: <strong>in</strong> Holland wäre so etwas nicht möglich<br />

gewesen. Für Holland, Deutschland, die Schweiz <strong>und</strong> Amerika bildete die Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dungsglied<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Quelle ges<strong>und</strong>er Lehre. Sie besteht noch jetzt mit 1138 Seelen <strong>in</strong> Elberfeld <strong>und</strong><br />

19 <strong>in</strong> Barmen (1885), dazu Auswärtige <strong>in</strong> Köln <strong>und</strong> Wermelskirchen. – Wie wichtig der Augenblick<br />

war, wo die Union <strong>in</strong>s Tal trat, hat nachher das vielfach vergebliche R<strong>in</strong>gen der großen landeskirchlichen<br />

reformierten Geme<strong>in</strong>de gezeigt, wieder die alten Gottesdienstordnungen (die selbständige<br />

Synodalverfassung war durch die Kirchenordnung von 1835 völlig verloren) zurückzugew<strong>in</strong>nen.<br />

Man stand bei den Bemühungen immer auf schwankendem <strong>Recht</strong>sboden <strong>und</strong> wurde selbst von denen<br />

<strong>in</strong> der Kreissynode <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Prov<strong>in</strong>zialsynode bestritten, die doch das Tal nicht ger<strong>in</strong>g achteten,<br />

wenn es galt, e<strong>in</strong>e Kollektenwanderung zu machen. Es ist e<strong>in</strong> übere<strong>in</strong>stimmendes Urteil Aller,<br />

die das Tal liebten: die Union hat wesentlich wie die Autorität, so den <strong>E<strong>in</strong></strong>fluß der altväterlichen<br />

Kirche gebrochen <strong>und</strong> ist der erste große Anstoß des Niederganges des geistlichen Lebens im Tal<br />

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gewesen. So urteilt selbst Fr. W. Krummacher, der sich doch später als Königlicher Hofprediger<br />

ganz wohl gefiel. Die Union entzog auch allen reformierten Stiftungen den rechtlichen Bestand, <strong>und</strong><br />

so begann dann später der Kampf um das reformierte Gymnasium <strong>und</strong> Anderes. Der Eigens<strong>in</strong>n des<br />

Königs, der auf se<strong>in</strong>em wohlgeme<strong>in</strong>ten frommen <strong>E<strong>in</strong></strong>fall bestand, hat unendlich der Kirche des Tales<br />

geschadet, denn der fortwährende äußere Hader um das Bekenntnis zog von der Pflege der <strong>in</strong>neren<br />

Bedürfnisse der Geme<strong>in</strong>de ab <strong>und</strong> veräußerlichte.<br />

Dann kamen die Stürme von 1849, die <strong>in</strong> Elberfeld e<strong>in</strong>en wilden Aufstand brachten: durch e<strong>in</strong>e<br />

Bande ausgebrochener Züchtl<strong>in</strong>ge, die unter demokratischer Führung standen <strong>und</strong> die Ordnung für<br />

e<strong>in</strong>e kurze Zeit umstürzten, verursacht. Die Bauern haben sich selbst gegen sie erhoben <strong>und</strong> ihrer<br />

Viele gefangen. Aber Barrikaden hat das Tal doch gesehen, e<strong>in</strong> Tages-Plakat hat ausdrücklich vor<br />

den Pietisten gewarnt, <strong>und</strong> der Oberbürgermeister versteckte sich <strong>in</strong> der Kanzel des Betsaales der<br />

niederländisch-reformierten Geme<strong>in</strong>de. Daniel v. d. Heydt konnte mit e<strong>in</strong>em gewissen <strong>Recht</strong> sagen,<br />

als Friedlich Wilhelm IV. 1855 Gast <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Hause war: „Der Aufruhr wurde <strong>in</strong> Elberfeld e<strong>in</strong>geführt,<br />

aber der Aufruhr war <strong>in</strong> Elberfeld, nicht Elberfeld <strong>in</strong> Aufruhr.“ Der König erwiderte: „Ich<br />

danke Ihnen für die alten angenehmen Er<strong>in</strong>nerungen, die Sie wieder erweckt haben. Wollte Gott,<br />

alle Städte <strong>und</strong> alle Häuser me<strong>in</strong>es Landes wären wie diese Stadt <strong>und</strong> dieses Haus, wo die K<strong>in</strong>der<br />

erzogen werden <strong>in</strong> der Furcht des Herrn.“ Indessen hatte doch der Sturm das Tal tief bewegt, viele<br />

Pietät <strong>und</strong> Ordnung benagt <strong>und</strong> das sich daran anschließende, mehr <strong>und</strong> mehr erwachende Treiben<br />

der Politik warf Interessen <strong>in</strong> die stille Gegend, die sie h<strong>in</strong>ausrissen <strong>in</strong> die Ferne, <strong>in</strong>wendig aber zu<br />

den kirchlichen Parteien auch noch die politischen brachten, die weiterh<strong>in</strong> die furchtbarsten Aufregungen<br />

<strong>und</strong> Kämpfe br<strong>in</strong>gen sollten. Die politische Presse stand bis zur Gründung der Rhe<strong>in</strong>isch-Westfälischen<br />

Post (1876) fast ganz im Dienste des Unglaubens.<br />

Das kirchliche Leben blieb noch lange e<strong>in</strong> lebhaftes <strong>und</strong> angeregtes. Überall auffallend durch<br />

se<strong>in</strong>e Eigentümlichkeiten.<br />

Als Stier nach Wichl<strong>in</strong>ghausen g<strong>in</strong>g, schrieb ihm e<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> sehr richtig: „Du kommst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

seit Menschengedenken mit dem lauteren Gotteswort bearbeitete, dogmatisierende, zum Teil sektiererische,<br />

disputiersüchtige, gleich von vornhere<strong>in</strong> sich bäumende, äußerst lebhafte Geme<strong>in</strong>de, h<strong>in</strong>gestellt<br />

an die Grenze e<strong>in</strong>es kor<strong>in</strong>thisch bewegten, zum Teil durch Parteiungen <strong>und</strong> konfessionelle<br />

Reibungen zersplitterten Tales. <strong>E<strong>in</strong></strong> von dem sächsischen durchaus verschiedenes Völkchen umgibt<br />

Dich täglich, e<strong>in</strong>e eigentümliche Gestaltung des christlichen Lebens tritt Dir entgegen. Oftmals wird<br />

auf Kosten der praktischen Innerlichkeit viel zu viel dogmatisiert <strong>und</strong> auf willkürliche Art schibolethisiert.<br />

Wer nicht gewisse Ausdrucksweisen zu den se<strong>in</strong>igen macht, wird leicht mit mißtrauischen<br />

Augen als e<strong>in</strong> Halb- oder Viertelschrist betrachtet, worunter gerade die Aufrichtigen, die weder<br />

ohne Weiteres adoptireen, noch antizipieren mögen <strong>und</strong> können, viel zu leiden haben. Es ist selten<br />

der warme Hauch der Bruderliebe, der e<strong>in</strong>em von den Christen hiesiger Gegend entgegenweht, es<br />

ist vielmehr sehr häufig e<strong>in</strong> skeptisch-dogmatischer Prüfungsblick, der e<strong>in</strong>em begegnet <strong>und</strong> da wird<br />

Dir dann bald dieser, bald jener auf den Zahn fühlen wollen.“ Das ist sehr wahr. Man hat von dem<br />

Tale die Vorstellung e<strong>in</strong>er muckerischen Frömmigkeit, man verb<strong>in</strong>det damit den Begriff e<strong>in</strong>es<br />

sche<strong>in</strong>heiligen, kopfhängerischen Wesens: Nichts ist verkehrter: man ist vielmehr überall verstandesnüchtern,<br />

kritisch, prosaisch, offen heraus mit der freisten Äußerung bis zur leidenschaftlichen<br />

Frechheit. Von e<strong>in</strong>em weichlichen Pietismus nirgends e<strong>in</strong>e Spur. Der Bauer <strong>und</strong> der Fabrikarbeiter<br />

<strong>in</strong> ihren blauen Kitteln geben sich natürlich <strong>und</strong> kräftig: so ist auch ihre Frömmigkeit. Wie sie selbst<br />

e<strong>in</strong> arbeitsames <strong>und</strong> hartes Leben führen, so machen sie auch an jeden Anderen hohe Forderungen.<br />

Nirgends wird mehr gefordert, mehr beansprucht wie hier. Tag <strong>und</strong> Nacht soll der Pastor zur Verfügung<br />

stehen: der gehetzte Sklave se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de. Er soll immerdar die Geme<strong>in</strong>de umschweben.<br />

8


Man verlangt e<strong>in</strong>en tadellosen Mann, der sich für die Geme<strong>in</strong>de aufopfert. Wie man ihn stets beobachtet,<br />

immer von ihm spricht – so darf er sich ke<strong>in</strong>e, auch nicht die ger<strong>in</strong>gste Blöße geben, sonst<br />

erwacht alsbald das Mißtrauen, der Tadel – <strong>und</strong> wie nahe ist die Schmähung <strong>und</strong> Lästerung. Aber<br />

wie man fordert, so gibt man auch: man hat nicht nur wahre Freude an der Predigt, sondern trägt<br />

sich auch mit derselben herum, überlegt, überdenkt sie mit allem Ernst, lernt aus ihr, wächst <strong>in</strong> der<br />

Erkenntnis <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Erfahrung. <strong>E<strong>in</strong></strong>e großartige Schriftkenntnis durchzog das ganze Tal wenigstens<br />

bis <strong>in</strong> die Mitte dieses <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s. Man verstand es wohl, den Prediger <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Geist abzuschätzen.<br />

Man g<strong>in</strong>g dabei <strong>in</strong> die Tiefe. Man brauchte oft nicht von dem Pastor zu lernen, sondern<br />

er hatte von den Gliedern der Geme<strong>in</strong>de zu lernen. Sie standen ebenbürtig neben ihm. Mit ausfallendem<br />

Scharfblick <strong>durchs</strong>chauten sie se<strong>in</strong>e Schwächen: <strong>in</strong> der besseren Zeit, um sie mit Liebe <strong>und</strong><br />

Gebet zu verbessern, später, um sie schonungslos ans <strong>Licht</strong> zu ziehen. <strong>E<strong>in</strong></strong> falscher Ausdruck, e<strong>in</strong><br />

verkehrtes Wort konnte mit e<strong>in</strong>emmal das Vertrauen zerstören. Es fehlte dann die Liebe <strong>und</strong> die<br />

Weisheit, die mit e<strong>in</strong>em Fehler nicht den ganzen Mann wegwirft. Wer aus gleichgültigen Gegenden<br />

<strong>in</strong>s Tal kam, fand fast zu viel Teilnahme <strong>und</strong> Bewegung. Von tausend Augen sah er sich umgeben<br />

<strong>und</strong> beachtet. Überall wurde er gesichtet <strong>und</strong> geprüft. Worte von ihm drangen <strong>in</strong> weite Kreise. Das<br />

Gerücht trug sie blitzschnell zu Allen. Als Kohlbrügge e<strong>in</strong>mal an der unierten Kirche von Unterbarmen<br />

vorbeig<strong>in</strong>g <strong>und</strong> Jemand sagte: „Diese Kirche hat ke<strong>in</strong>e Farbe“ <strong>und</strong> er erwiderte: „Aber die<br />

Blutfarbe muß sie doch anerkennen“ – flackerte das zündende Wort überall h<strong>in</strong>. Mit e<strong>in</strong>em so lebhaft<br />

<strong>in</strong>teressierten, aufmerksamen <strong>und</strong> geistig arbeitenden Volke war etwas anzufangen. Beugte es<br />

sich auch vor ke<strong>in</strong>er Autorität: das Wort Gottes war doch e<strong>in</strong>e Macht, die es niederschlug. Wer dasselbe<br />

zu handhaben verstand, konnte Gehorsam f<strong>in</strong>den – <strong>und</strong> dies oft <strong>in</strong> heiliger, zarter, von Gott gewirkter<br />

Weise. Es hat e<strong>in</strong> großer Segen bis <strong>in</strong> die Mitte dieses <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s über dem <strong>Wuppertal</strong>e<br />

geruht. In ke<strong>in</strong>er Gegend Deutschlands, weder <strong>in</strong> Württemberg, noch <strong>in</strong> Pommern, noch <strong>in</strong> der Lüneburger<br />

Haide, noch <strong>in</strong> Ostfriesland haben sich <strong>in</strong> dieser kräftigen Weise die Wahrheiten der Reformation<br />

erneuert <strong>und</strong> <strong>in</strong> der Erfahrung belebt <strong>und</strong> vertieft. Am meisten ähnelt noch das Siegener<br />

Land dem <strong>Wuppertal</strong>e. Das Verhältnis von Sünde <strong>und</strong> Gnade, die Alle<strong>in</strong>wirksamkeit Gottes <strong>in</strong> Bekehrung<br />

<strong>und</strong> Heiligung, die hohe <strong>und</strong> entscheidende Bedeutung der <strong>Recht</strong>fertigung, die guten Werke<br />

als allezeit mit vielen Sünden befleckt: dies Alles ist hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Tiefe <strong>und</strong> Klarheit nicht nur gelehrt,<br />

sondern auch erfahren <strong>und</strong> geübt worden, wie sonst nirgends <strong>in</strong> Deutschland. Der über se<strong>in</strong>e<br />

oft kostbare, den Orient schmückende Arbeit gebeugte Weber dachte viel <strong>und</strong> ernst über die Schrift<br />

nach, hatte sie neben sich den ganzen Tag liegen <strong>und</strong> wollte ihre Geheimnisse nicht nur verstehen,<br />

sondern auch an sich im Verkehr mit der ihm nahen unsichtbaren Welt erleben. Arbeit <strong>und</strong> Wort<br />

Gottes: darauf beschränkte er sich. <strong>E<strong>in</strong></strong>mal kam e<strong>in</strong> frommer Bruder zu e<strong>in</strong>em stillen Weber <strong>und</strong> erzählte<br />

ihm von <strong>diesem</strong> <strong>und</strong> jenem Christen, was dieser <strong>und</strong> jener tue, da sagte der Weber kurz abbrechend<br />

<strong>und</strong> der Menschenverherrlichung müde: „Ik kenn’ man eenen Christ (Ich kenne nur e<strong>in</strong>en<br />

Christus“). <strong>E<strong>in</strong></strong> bezeichnendes Wort für die ernsten <strong>und</strong> tiefen Gemüter im Tal: sie wollten nicht von<br />

Menschen unterrichtet se<strong>in</strong>, nicht Menschen verehren, sondern Christus alle<strong>in</strong> sollte ihr Lehrer se<strong>in</strong>.<br />

Auf ihm die Salbung. Viele Gebetserhörungen, merkwürdige Erfahrungen, Errettung aus Sünde,<br />

Not <strong>und</strong> Tod, mächtige Erweisungen Gottes kräftigten die Frommen <strong>und</strong> so war das <strong>Wuppertal</strong> für<br />

Jeden, der ihm nahte, e<strong>in</strong> Stahlbad der <strong>in</strong>neren Erneuerung <strong>und</strong> Belebung. Wie gewaltig redeten <strong>in</strong><br />

den besseren Zeiten <strong>in</strong> die Stille des Sonntags die Glocken h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: wer damals unter den tiefen <strong>E<strong>in</strong></strong>drücken<br />

e<strong>in</strong>er erhebenden Predigt stand, wurde w<strong>und</strong>erbar davon ergriffen. Es lag e<strong>in</strong>e oft erschütternde<br />

Macht des Geistes über dem Tale. Es war ke<strong>in</strong>e Phrase, wenn e<strong>in</strong>mal Jemand vor e<strong>in</strong>er Pfarrwahl<br />

schrieb: „Sie glauben nicht, welch e<strong>in</strong>e Sorge <strong>in</strong> Gebet <strong>und</strong> Hoffen durch die Geme<strong>in</strong>de geht<br />

<strong>und</strong> wie sich Alles um den <strong>E<strong>in</strong></strong>en Punkt dreht, e<strong>in</strong>en erfahrenen christlichen Prediger zu bekommen.“<br />

Dabei im Verkehr e<strong>in</strong>e Vorliebe für bildliche Redeweise, symbolische Andeutungen <strong>und</strong><br />

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Handlungen. <strong>E<strong>in</strong></strong>e gewisse Geheimnistuerei <strong>in</strong> vieldeutigen Beziehungen, die man nicht gleich begreift.<br />

Oft bis zum prophetischen Volltone mit hochmütigem Bewußtse<strong>in</strong>. Man kann den Pastor<br />

kommen lassen, damit er sehe, wie gut man zu beten verstehe, oder schickt ihn stolz fort, wenn er<br />

nicht zur rechten Zeit erschien, oder läßt zwei oder drei nach e<strong>in</strong>ander kommen, um zu vergleichen,<br />

wer besser zu beten verstehe. Überall die Selbständigkeit mit ihren großen Vorzügen <strong>und</strong> großen<br />

Mängeln: das presbyteriale Leben mit se<strong>in</strong>er Wohltat <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em heißen Druck. Presbyteriensitzungen<br />

können aus der schwülen Luft bald den Donner des heißen Streites sich entwickeln lassen. Wie<br />

wir sahen, war das vorwiegende Gepräge des Tales das des Calv<strong>in</strong>ismus: nun dieser regte sich hier<br />

noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> alter Freudigkeit <strong>und</strong> Macht. Der volkstümliche Witz, das energische Niederdeutsch,<br />

die Heftigkeit der Charaktere schärften die markige Bezeugung der evangelischen Gr<strong>und</strong>wahrheiten.<br />

„Der ist noch nicht unter die Mörder gefallen“, konnte man wohl von e<strong>in</strong>em Prediger sagen.<br />

„Dat hört sich wohl gut an, aber brucken kann man’t nit, dat kann man wol saien, aber nit poten.<br />

Der schusselt bloß, aber grävt nit!“ Und so <strong>in</strong> tausendfachen orig<strong>in</strong>ellen Wendungen. <strong>E<strong>in</strong></strong>e geistige<br />

Atmosphäre lagerte über dem Tal, <strong>in</strong> der himmlische <strong>und</strong> dämonische Mächte um die Seelen stritten.<br />

Das ganze Leben war e<strong>in</strong> stetes Gefecht. Was von den Athenern gesagt wurde: der Streit um die<br />

Wahrheit war ihnen wichtiger als die Wahrheit, galt öfter auch hier. Man packt rücksichtslos den<br />

Nächsten an, ist aber selbst so empf<strong>in</strong>dlich, daß man den ger<strong>in</strong>gsten Vorwurf nicht ertragen kann.<br />

Das energische Völkle<strong>in</strong> ist im höchsten Grade unversöhnlich <strong>und</strong> vergißt nie e<strong>in</strong>e Kränkung. Nirgends<br />

mehr Familienhader als im Tale – eben hier, wo man soviel auf Familienleben gibt, wo jedes<br />

Geschlecht wie e<strong>in</strong>e Burg <strong>in</strong> sich abgeschlossen <strong>und</strong> für jeden Fremden une<strong>in</strong>nehmbar ist, wo die<br />

Familientage <strong>in</strong> jeder Woche die Angehörigen sammeln <strong>und</strong> der Vater <strong>und</strong> der Großvater im Kreise<br />

der Se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e hochgeachtete Stellung e<strong>in</strong>nimmt. Tritt dann aber e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Riß <strong>in</strong> diese geheiligten<br />

Beziehungen, so ist er unheilbar. Die Tüchtigkeit, die Charakterbildung wird zur Schärfe, zur<br />

Verzerrung, zum eigens<strong>in</strong>nigen Starrs<strong>in</strong>n, der – ehe er sich beugt, lieber sich die Hand abschneidet.<br />

Dies wieder nach dem vorwiegend bäuerischen Elemente des Tales, denn Bauernfe<strong>in</strong>dschaft ist die<br />

schlimmste Fe<strong>in</strong>dschaft. Dazu kommt e<strong>in</strong> stark kommunistischer Zug, der alle Talleute beherrscht.<br />

Aber diese leidenschaftlichen Naturen werden ebenso tief von den Wahrheiten der Schrift bewegt<br />

<strong>und</strong> können sich beschämt unter die Strafe derselben beugen. Sie stellen sich dann nüchtern<br />

<strong>und</strong> ruhig h<strong>in</strong>, bekennen ihre Sünde – aber halten auch <strong>in</strong> Aufrichtigkeit daran fest, daß <strong>E<strong>in</strong></strong>er gekommen<br />

wäre: alle Sünden wegzunehmen. Man kann viel von ihnen lernen – namentlich von der<br />

Bestimmtheit <strong>und</strong> Gewißheit, mit der sie die Gnade preisen, alle Hilfe außer ihr verdammen, alles<br />

Heil alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Christo suchen. <strong>E<strong>in</strong></strong> großer Schatz evangelischer Lehre <strong>und</strong> Erfahrung ist hier aufgetan<br />

gewesen <strong>und</strong> hat weite Kreise befruchtet. Strauß kam von der Elberfelder lutherischen Geme<strong>in</strong>de<br />

nach Berl<strong>in</strong> an den Dom <strong>und</strong> brachte die St<strong>und</strong>e der Erweckung mit. Nachher ist Fr. W. Krummacher<br />

an der Dreifaltigkeilskirche <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Emil Frommel kommt von Wupperfeld eben dorth<strong>in</strong><br />

an die Garnisonskirche, Hülsmann von der Elberfelder lutherischen Geme<strong>in</strong>de geht als Konsistorialrat<br />

nach Düsseldorf, Jaspis von derselben Geme<strong>in</strong>de als Generalsuper<strong>in</strong>tendent nach Stett<strong>in</strong>, Pastor<br />

Köllner wird Probst <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Sander Direktor des Wittenberger Sem<strong>in</strong>ars, Rogge von Wupperfeld<br />

Generalsuper<strong>in</strong>tendent <strong>in</strong> Altenburg, Schulze von derselben Geme<strong>in</strong>de Konsistorialrat <strong>in</strong> Posen,<br />

dann Generalsuper<strong>in</strong>tendent <strong>in</strong> Magdeburg. Stier <strong>in</strong> Wichl<strong>in</strong>ghausen wird zum Doktor der Theologie<br />

von Bonn kreiert, von Gemarke geht Ernst als Professor nach Herbon, jetzt Generalsuper<strong>in</strong>tendent<br />

<strong>in</strong> Wiesbaden, Snethlage von Unterbarmen wird Hofprediger <strong>und</strong> vertrauter Fre<strong>und</strong> Friedrich<br />

Wilhelms IV., Pastor Gräber von Gemarke Generalsuper<strong>in</strong>tendent von Westfalen, Taube von Unterbarmen<br />

Konsistorialrat <strong>in</strong> Bromberg, jetzt Generalsuper<strong>in</strong>tendent <strong>in</strong> Westpreußen, Pastor Achelis<br />

Professor der Theologie <strong>in</strong> Marburg. Ich weiß nicht, ob ich alle die ehrenvollen Versetzungen aus<br />

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dem Tal <strong>in</strong> e<strong>in</strong>flußreiche Stellen genannt habe, es genügt, was ich mitteilen kann, um die hohe Bedeutung<br />

des Tales für die ganze evangelische Kirche hervorzuheben. Diese bekam auch immer dann<br />

ihren Ausdruck, wenn sich <strong>in</strong> der Augustwoche aus aller Welt her die große Schar der Festgenossen<br />

zusammenfand <strong>und</strong> die vielen Vere<strong>in</strong>e ihre Berichte erstatteten oder berühmte Redner ihre Vorträge<br />

hielten. Der Rhe<strong>in</strong>isch-westfälische Jüngl<strong>in</strong>gsb<strong>und</strong>, die Bergische Bibelgesellschaft, der Rhe<strong>in</strong>ischwestfälische<br />

Vere<strong>in</strong> für Israel, die Evangelische Gesellschaft, die Rhe<strong>in</strong>ische Missionsgesellschaft,<br />

die Allgeme<strong>in</strong>e kirchliche Konferenz, der Rhe<strong>in</strong>isch-westfälische Sonntagsschulverband, die <strong>Wuppertal</strong>er<br />

Traktatgesellschaft, die Evangelische Gesellschaft für die protestantischen Deutschen <strong>in</strong><br />

Amerika tagten <strong>in</strong> dieser Festwoche. Die Gastfre<strong>und</strong>schaft war bei dieser Gelegenheit e<strong>in</strong>e große.<br />

Manche Berufung <strong>in</strong>s Tal schloß sich an die gehörten Predigten an.<br />

Wie manchen Pastoren ist es aber dann bei ihrem <strong>E<strong>in</strong></strong>zug <strong>in</strong>s <strong>Wuppertal</strong> so gegangen, wie uns<br />

dies von Rudolph Stier erzählt wird. Er war nach Wichl<strong>in</strong>ghausen berufen worden, nachdem e<strong>in</strong>e<br />

starke Opposition gegen ihn besiegt war, <strong>und</strong> nun wird er schon <strong>in</strong> Hagen drei Meilen von Barmen<br />

von Presbytern <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>degliedern begrüßt, dann empfängt ihn e<strong>in</strong> unabsehbarer Zug von Wagen<br />

<strong>und</strong> Reitern, <strong>in</strong> Schwelm reden ihn der Super<strong>in</strong>tendent <strong>und</strong> Präses der Prov<strong>in</strong>zialsynode an, <strong>in</strong><br />

Wichl<strong>in</strong>ghausen selbst s<strong>in</strong>d alle Fenster mit Schaulustigen, alle Straßen mit wogendem Volk bedeckt.<br />

Es wird das Willkommensmahl gefeiert <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Festgedicht vorgetragen. Diese feierliche<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>holung des Pastors wurde öfter noch dadurch vollendet, daß er <strong>in</strong> Stuben des neuen Pastorats<br />

kam, die vollständig mit Teppichen, Bildern <strong>und</strong> Spiegeln e<strong>in</strong>gerichtet waren oder wo er sich e<strong>in</strong>es<br />

Kellers voll von gestifteten guten We<strong>in</strong>es erfreuen konnte. Nun mit allem Eifer tritt Stier se<strong>in</strong> Amt<br />

an: <strong>in</strong> weiten Kreisen war alles se<strong>in</strong>es Lobes voll, er ist mit Arbeit überhäuft; die über Berg <strong>und</strong> Tal,<br />

Feld <strong>und</strong> Wald im weiten Umkreise zerstreute Geme<strong>in</strong>de erfordert es, daß er fast immer unterwegs<br />

ist; man kann ihm ke<strong>in</strong>en rechten Vorwurf machen, wenn nicht, daß er Unbiblisches über e<strong>in</strong>en<br />

Zwischenort, se<strong>in</strong>e verkehrte Liebl<strong>in</strong>gstheorie, verträgt, aber je länger er weilt, je mehr fühlt er die<br />

Schwierigkeit <strong>und</strong> Härte se<strong>in</strong>er Stellung. Man stellte immer schärfere Forderungen an ihn. Da er<br />

knapp <strong>und</strong> abgemessen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Reden war, verlangte man bequemeres <strong>E<strong>in</strong></strong>zelgespräch. Die Kranken<br />

sollte er häufiger besuchen; immer mehr macht sich der Tadel gegen se<strong>in</strong>e Amtsführung breit.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> schweres Nervenleiden fällt auf ihn: er ist oft ganz erschöpft <strong>und</strong> ermüdet. Endlich stellt man<br />

e<strong>in</strong>e vollkommene Anklage gegen ihn auf, weil er Änderungen <strong>in</strong> den Katechisationen traf. Er soll<br />

sich unter den Willen der Geme<strong>in</strong>de demütigen. Die Verleumdungen <strong>und</strong> Lästerungen mehren sich<br />

– <strong>und</strong> der von weit hergeholte Mann legt se<strong>in</strong> Amt nieder. „Vielleicht ist der Eklat e<strong>in</strong>es solchen<br />

Schrittes noch das kräftigste Saatkorn, das ich zurücklassen kann“ – schreibt Stier an e<strong>in</strong>en Fre<strong>und</strong>.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> Barmer Amtsbruder sagte zu ihm: „Sie haben sehr ehrenwert gegen Ihre Geme<strong>in</strong>de gehandelt,<br />

<strong>in</strong>dem Sie unter den vorliegenden Umständen Ihr Amt niederlegten. Mir geht es besonders nahe, da<br />

ich e<strong>in</strong> Gleiches tun sollte, da auch me<strong>in</strong>e Ges<strong>und</strong>heit im hiesigen Amte zu Gr<strong>und</strong>e geht, aber ich<br />

kann nicht so wie Sie.“ <strong>E<strong>in</strong></strong>ige Jahre darauf war dieser tot. Als Stier von der Geme<strong>in</strong>de schied, hat<br />

man ihm noch e<strong>in</strong> feierliches Geleit gegeben – denn nachdem die Talleute e<strong>in</strong>en Pastor gemißhandelt<br />

haben, bekommen sie dann zuletzt noch e<strong>in</strong> gewisses Schamgefühl 3 . Ja sie können e<strong>in</strong>en Mann,<br />

den sie geistig getötet haben, um Verzeihung bitten: e<strong>in</strong>e grausame Komödie. Ähnliche Erfahrungen<br />

wie Stier haben viele Andere gemacht, namentlich <strong>in</strong> der Zeit, wo das kirchliche Leben im Niedergange<br />

war: große Erwartungen, freudige Aufnahme, viele Arbeit Tag <strong>und</strong> Nacht, manche erhebende<br />

3 Die Schilderung e<strong>in</strong>es Pfarrhauses im <strong>Wuppertal</strong>e, die <strong>in</strong> „Gold <strong>und</strong> Blut“ von Samarow sich f<strong>in</strong>det (1879), ist, was<br />

se<strong>in</strong>e Bewohner betrifft <strong>und</strong> den ganzen geistigen Hauch, völlig albern <strong>und</strong> unwahr. – In der Zeitschr. v. Fels z. Meer<br />

hat Paul L<strong>in</strong>dau <strong>in</strong> dem frivolen Roman „Der Zug nach dem Westen“ mit Blicken <strong>in</strong> die Wirklichkeit nicht ganz ungeschickt<br />

e<strong>in</strong> Pastorenhaus im <strong>Wuppertal</strong>e geschildert. – In dem Tischgespräch auf dem Rhe<strong>in</strong>dampfer von S. M.<br />

Arouet (1884) tritt auch e<strong>in</strong> Pastor aus dem Tale auf, der sich se<strong>in</strong>er reichen Heirat freut.<br />

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<strong>und</strong> liebliche Erfahrung, mehr aber Widerwärtigkeiten, Mißtrauen, Anklage <strong>und</strong> Not – <strong>und</strong> zuletzt<br />

Enttäuschung <strong>und</strong> Ermüdung. Weber wurde von Stendal nach Wupperfeld gerufen, entwickelte e<strong>in</strong>e<br />

große Tätigkeit, auch literarisch, erregte dann die Kritik der Geme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> seufzte unter der schweren<br />

Last: er wird e<strong>in</strong> nervöser Mann <strong>und</strong> welkt mitten im Leben h<strong>in</strong>. Mit e<strong>in</strong>em gewissen Schmerz<br />

hatte er an se<strong>in</strong>e alte Geme<strong>in</strong>de gedacht 4 .<br />

Aus der klugen <strong>und</strong> energischen Bevölkerung tauchen auch auf dem Gebiete der kirchlichen Laien,<br />

oder besser geredet der Ältesten <strong>und</strong> der Geme<strong>in</strong>de, bedeutende Männer hervor. In Barmen ist<br />

weit über die Grenzen des Tales h<strong>in</strong>aus mit se<strong>in</strong>em gastfreien vielgeräumigen Hause Karl Friedrich<br />

Kle<strong>in</strong>-Schlatter bekannt gewesen († 1884). Sohn e<strong>in</strong>es württembergischen Pfarrers, hatte er <strong>in</strong> Barmen<br />

<strong>in</strong> dem Hause des Kaufmanns Röhrig, der mit e<strong>in</strong>er Tochter von Anna Schlatter verheiratet<br />

war, den Anstoß für se<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Entwickelung bekommen. <strong>E<strong>in</strong></strong> geschäftstüchtiger Kaufmann war er<br />

auch für alle christlichen Interessen eifrig tätig. Er gab den Anlaß zur Gründung der Brucher Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>derschule<br />

1836, sowie des ersten Jüngl<strong>in</strong>gsvere<strong>in</strong>es. Im Presbyterium der Geme<strong>in</strong>de Unterbarmen<br />

veranlaßte er die Entstehung e<strong>in</strong>es Asyls für Waisenk<strong>in</strong>der, aus dem das große Unterbarmer<br />

Waisenhaus heranwuchs. Als 1848 die Evangelische Gesellschaft sich bildete, zählte er zu ihren<br />

Mitarbeitern. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Reise zu den Waldensern belebte se<strong>in</strong>e Teilnahme für die Sache derselben. Auch<br />

für Spanien hat er das Se<strong>in</strong>e getan. In der Bergischen Bibelgesellschaft, <strong>in</strong> der Deputation der Rhe<strong>in</strong>ischen<br />

Missionsgesellschaft hat er se<strong>in</strong>en Platz. 1866 wird das große Evangelische Vere<strong>in</strong>shaus <strong>in</strong>s<br />

Leben gerufen. Er ist Mitglied der Handelskammer von Elberfeld <strong>und</strong> Barmen, des Barmer Gewerbegerichtes.<br />

In se<strong>in</strong>en letzten Jahren hat er noch den Bau der neuen Pauluskirche betrieben. In se<strong>in</strong>em<br />

stets offenen Hause hat er Gästen aus allen Weltgegenden fre<strong>und</strong>liche <strong>E<strong>in</strong></strong>kehr gewährt.<br />

In Barmen ist auch Karl Ludwig Wesenfeld zu nennen, der der geme<strong>in</strong>nützigen Gesellschaft von<br />

„Kunst <strong>und</strong> Gewerbe“ präsidierte <strong>und</strong> <strong>in</strong> den Preußischen Volkswirtschaftsrat berufen wurde. In der<br />

reformierten Geme<strong>in</strong>de war er ununterbrochen Repräsentant, Scholarch <strong>und</strong> Kirchmeister, auch Deputierter<br />

zur Prov<strong>in</strong>zial- <strong>und</strong> außerordentlichen Generalsynode 1875, Mitglied der Deputation der<br />

Rhe<strong>in</strong>ischen Missionsgesellschaft usw. Er stirbt 1883. <strong>E<strong>in</strong></strong> Ludwig R<strong>in</strong>gel stiftete bei se<strong>in</strong>em Tode<br />

e<strong>in</strong>e Million Mark für wohltätige <strong>E<strong>in</strong></strong>richtungen, Philipp Barthels-Feldhoff war auf allen Gebieten<br />

der <strong>in</strong>nern Mission <strong>und</strong> Heidenmission tätig.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> Eduard Mol<strong>in</strong>eus sei auch erwähnt. Am Anfang des <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s begegnet uns überall Rüttger<br />

Abrah. Evertsen Siebel. In Elberfeld war e<strong>in</strong> hervorragender Bürger Wilhelm Meckel, e<strong>in</strong> großes<br />

kaufmännisches Talent, reich an neuen Ideen, namentlich begeistert für die Errichtung e<strong>in</strong>es volkswirtschaftlichen<br />

Senates für Deutschland <strong>und</strong> für den durch denselben gepflegten Schutz der nationalen<br />

Arbeit. Lange Zeit Mitglied des Presbyteriums der reformierten Geme<strong>in</strong>de stiftete er das<br />

Evangelische Vere<strong>in</strong>shaus <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit e<strong>in</strong>er Gesellenherberge. Wohltätig <strong>und</strong> freigebig half<br />

er Vielen <strong>und</strong> zeichnete sich im gesellschaftlichen Leben bei sonst üblicher schablonenartiger Weise<br />

durch Orig<strong>in</strong>alität aus. Louis Frowe<strong>in</strong> war neben ihm e<strong>in</strong> Mann von schlichtem, e<strong>in</strong>fachem S<strong>in</strong>n;<br />

nachdem er die niederländisch-reformierte Geme<strong>in</strong>de verlassen hatte, wieder vielfach <strong>in</strong> der alten<br />

Geme<strong>in</strong>de tätig, wo er namentlich die Stiftungen der Schule verdienstvoll verwaltete. Am bekanntesten<br />

s<strong>in</strong>d die Brüder August, Daniel <strong>und</strong> Karl von der Heydt, alle drei gleich begabt, Söhne des<br />

rechtschaffenen Bankiers Daniel von der Heydt <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er so bedeutenden <strong>und</strong> e<strong>in</strong>flußreichen Frau<br />

Wilhelm<strong>in</strong>e von der Heydt. August, Handels- <strong>und</strong> später F<strong>in</strong>anzm<strong>in</strong>ister, e<strong>in</strong> Mann von großer Arbeitskraft<br />

<strong>und</strong> erf<strong>in</strong>dungsreichem Organisationstalent, hat auch als Kirchmeister der reformierten<br />

Geme<strong>in</strong>de e<strong>in</strong>en Vortrag auf der Versammlung der Berl<strong>in</strong>er Allianz halten können. Daniel, Kirch-<br />

4 Vgl. Weber, Theod., Betrachtungen über die Predigtweise <strong>und</strong> geistliche Amtsführung unserer Zeit. 2. Aufl. Mit Vorwort<br />

von Wilh. Fabri. 1881.<br />

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meister der niederländisch-reformierten Geme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> Direktor der Elberfelder Armenverwaltung,<br />

hat <strong>in</strong> der <strong>E<strong>in</strong></strong>richtung der letzteren e<strong>in</strong>e Wohltat für alle Welt gespendet. Das System Elberfeld mit<br />

se<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Kreisen der Armen <strong>und</strong> den vielen Besuchen <strong>in</strong> denselben ist vorbildlich für alle<br />

Lande geworden. <strong>E<strong>in</strong></strong>e begeisterte edle Natur von hohem Schwung <strong>und</strong> klarem Verstande, hat er mit<br />

tiefstem Gefühl an der glorreichen Vergangenheit der bergischen, synodal so freien Kirche gehangen,<br />

deren <strong>Recht</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>in</strong>nung er alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der niederländisch-reformierten Geme<strong>in</strong>de bewahrt<br />

sah. Er ist auch der Schöpfer der bergisch-märkischen Eisenbahn <strong>und</strong> der Düsseldorfer Dampfschifffahrtgesellschaft.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong> Mann altbergischen Wesens, doch weit <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Empfänglichkeit für alles<br />

Schöne <strong>und</strong> Gute über die allgeme<strong>in</strong>e Durchschnittsnatur der Talleute h<strong>in</strong>ausgehend 5 . Als ihn<br />

se<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Lehrer Kohlbrügge beerdigte (1874), hob er hervor, daß mit ihm e<strong>in</strong>e schöne Geschichte<br />

Elberfelds zu Ende gehe, <strong>und</strong> als Kohlbrügge selbst im Jahr darauf starb, schied e<strong>in</strong> Geist<br />

der Fürbitte <strong>und</strong> des stellvertretenden Flehens von der Stadt, wie sie ihn noch nie gehabt hatte. Karl,<br />

der Bruder Daniel von der Heydts, mehr logisch kalt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>fach scharf reflektierend, e<strong>in</strong> unermüdlicher<br />

Bibelforscher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fachen Studierstube <strong>in</strong> prachtvollem Hause, hat neben dem glänzenden<br />

<strong>und</strong> fruchtbaren Banquiergeschäft <strong>in</strong> stiller <strong>E<strong>in</strong></strong>samkeit noch e<strong>in</strong>en populären Kommentar<br />

über neun Briefe Pauli ausgearbeitet, der sich durch Klarheit, Eleganz <strong>und</strong> überraschende Kenntnis<br />

des Griechischen auszeichnet. In fester Konsequenz baute er das System der Lehre auf mit bestimmten<br />

Abweisungen aller falschen Auslegung der Pastoren. Viele Jahre e<strong>in</strong> Führer der niederländisch-reformierten<br />

Geme<strong>in</strong>de, riß er sich mit bitterer Entschiedenheit von der ihm so lange befre<strong>und</strong>eten<br />

Geme<strong>in</strong>schaft Dr. Kohlbrügges los, um die alten Plätze <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>st so energisch bekämpften<br />

alten Geme<strong>in</strong>de wieder e<strong>in</strong>zunehmen. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Ersche<strong>in</strong>ung, wie sie nur das Tal gehabt hat: e<strong>in</strong> hochgelehrter<br />

Ältester, der die Pastoren oft mit <strong>Recht</strong> übersehen konnte. <strong>E<strong>in</strong></strong>mal sagte er zu e<strong>in</strong>em, der <strong>in</strong><br />

dem Evangelium vom Schächer die Worte, die im Griechischen lauten: – wenn Du <strong>in</strong> De<strong>in</strong>em Reiche<br />

kommst, also <strong>in</strong> De<strong>in</strong>er Wiederkunft <strong>in</strong> Macht – nach Luther genommen hatte: – wenn Du <strong>in</strong><br />

De<strong>in</strong> Reich kommst – „verstehen Sie auch griechisch?“ Diese Weise war, wenn auch nicht im Gebiet<br />

des Griechischen, nicht selten.<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>e ganz andere Ersche<strong>in</strong>ung als diese kirchlich ges<strong>in</strong>nten Männer war im Anfang des <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s<br />

Gerhard Siebel, der Gründer der Loge <strong>und</strong> des Museums, der als Schriftsteller unter dem Namen<br />

Götz vom Rhe<strong>in</strong> überall Mitarbeiter war. <strong>E<strong>in</strong></strong> verständnisvoller Schwärmer für die Kunst, namentlich<br />

von Rubens begeistert, hat er auch die Größe von Peter Cornelius erkannt <strong>und</strong> die Wegführung<br />

der Düsseldorfer Galerie nach München bedauert. Vere<strong>in</strong>samte, schriftstellerische <strong>und</strong> künstlerische<br />

Kreise haben sich immer, wenig geschätzt, bilden können. Es gab auch Stadtpoeten, die feierliche<br />

Gelegenheiten besangen, <strong>in</strong> deren Mitte der junge Hackländer, als er Lehrl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Seidengeschäft<br />

war, Aufnahme fand. Als e<strong>in</strong>mal Elberfeld 3 M<strong>in</strong>ister gleichzeitig besaß, Simons <strong>und</strong><br />

August v. d. Heydt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Wien Bruck, war unter ihnen Simons der auch ästhetisch gebildete,<br />

der als Abt Beda Immermann e<strong>in</strong>e stille Arbeitszelle h<strong>in</strong>ter ruhig säuselnden Bäumen <strong>und</strong> friedlichdunklen<br />

Nachwelten auftat. <strong>E<strong>in</strong></strong>en Kreis von Dichtern bildeten später Freiligrath, Hackländer, Püttmann,<br />

Köster <strong>und</strong> der Buchhändler Langewiesche, Als Freiligrath <strong>in</strong>s Tal kam, schrieb er: „Die<br />

Kunst geht nach Brot. Wir s<strong>in</strong>d des Himmels Pr<strong>in</strong>zen <strong>und</strong> der Erde Lumpen. Lieber A. – ich b<strong>in</strong><br />

wieder Komptoirist im pietistischen <strong>Wuppertal</strong>e, verdiene jährlich 500 Tlr. <strong>und</strong> b<strong>in</strong> betrübt bis <strong>in</strong><br />

den Tod.“ <strong>Recht</strong> wohl ist es ihm nie geworden <strong>in</strong> Barmen: e<strong>in</strong> vermaledeites Nest sei es, prosaisch,<br />

kle<strong>in</strong>städtisch, dünkelhaft <strong>und</strong> verketzernd wie ke<strong>in</strong> anderes: e<strong>in</strong> vertraktes Traktätle<strong>in</strong>stal. Hackländer<br />

war <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> Kreise der Grazioso, e<strong>in</strong> Fre<strong>und</strong> der Frauen <strong>und</strong> unbezahlten Rechnungen, e<strong>in</strong><br />

vortrefflicher Erzähler. Der Kreis, der sich um Freiligrath bildete, sammelte 1869 für ihn 49.294 Ta-<br />

5 Über die Elberfelder Armenverwaltung besitzen wir schon e<strong>in</strong>e ganze Literatur. Am besten Böhmert <strong>in</strong> der Denkschrift:<br />

„Das Armenwesen <strong>in</strong> 77 deutschen Städten“. 1886.<br />

13


ler. Neuerd<strong>in</strong>gs s<strong>in</strong>d Emil Ritterhaus <strong>und</strong> Roeber als Dichter bekannt. Die Gedichte des Ersteren haben<br />

5 Aufl. erlebt: freigeistig <strong>und</strong> von hohem Schwung. In dem Liede „Sie nennen de<strong>in</strong>e Jünger<br />

sich“, sagte er:<br />

„Nicht Jene s<strong>in</strong>d’s, die heuchelnd stehen<br />

Und beten ohne Unterlaß,<br />

Die immerfort gen Himmel sehen<br />

Und deren Brust voll Gifte saß.“<br />

Bei der Fichtefeier 1862 hat er den Talleuten gesagt, daß dieser e<strong>in</strong> Weberk<strong>in</strong>d war. Die Weihnachtfeier<br />

se<strong>in</strong>er Seele besteht dar<strong>in</strong>, daß er <strong>in</strong> sich selbst den schönsten Edelste<strong>in</strong> fand. Was <strong>in</strong> ihm als<br />

Glaube starb, ist <strong>in</strong> ihm als Liebe auferstanden. In der Nähe von Elberfeld, <strong>in</strong> Sonnborn ist auch<br />

Joh. Peter Lange geboren; nachher Professor <strong>in</strong> Bonn, war er bis zum zwanzigsten Jahre Fuhrknecht<br />

<strong>und</strong> hat <strong>in</strong> Theologie <strong>und</strong> Dichtkunst viel geschwärmt. <strong>E<strong>in</strong></strong>e halb komische, halb tragische<br />

Ersche<strong>in</strong>ung war der Kandidat Krug, der auch dichtete <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e urteils- <strong>und</strong> geschmackloseste Geschichte<br />

der Sektierereien im Tale schrieb. Die Porträts im Tale malte Adolf Köttgen: er selbst e<strong>in</strong><br />

Bild im blauen Frack mit goldenen Knöpfen. Kunst <strong>und</strong> Wissenschaft haben die geschwärzten Orte<br />

doch nur immer vorübergehend gestreift, <strong>und</strong> als der Oberbürgermeister Dr. ph. Emil Lischke neben<br />

se<strong>in</strong>em Amte die Conchilien liebte <strong>und</strong> sammelte, war er damit <strong>in</strong> stiller Ecke beschäftigt.<br />

Das Tal wurde immer mehr im Laufe des <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s wegen se<strong>in</strong>er Frömmigkeit berühmt. Es<br />

f<strong>in</strong>g an sich selbst wohlzugefallen. Das Lob, von außen her ihm zugebracht, wurde gerne <strong>in</strong> Empfang<br />

genommen <strong>und</strong> durch <strong>in</strong>neren Hochmut noch vermehrt. Auf die Zeit der Erweckung mit ihrem<br />

Ernste <strong>und</strong> Troste folgte die Zeit der Selbstverherrlichung. Überall las man ja, überall hörte man ja,<br />

was das <strong>Wuppertal</strong> für e<strong>in</strong>e Bedeutung im Reiche Gottes habe. Bei den Festtagen überschütteten die<br />

Redner aus aller Welt die gesegnete Stätte. Berühmte Lehrer troffen gleichsam von dem über sie<br />

ausgegossenen Ruhme. Bei jeder Pastorenwahl wurden die berühmtesten <strong>und</strong> angesehensten Männer<br />

<strong>in</strong> aller Welt <strong>in</strong>s Auge gefaßt. Es war e<strong>in</strong>e Ehre für die, welche wählten, noch mehr für die, welche<br />

gewählt wurden. Ins <strong>Wuppertal</strong> zu kommen, galt als e<strong>in</strong> Vorzug vor Vielen. Die Geme<strong>in</strong>deboten<br />

g<strong>in</strong>gen dann <strong>in</strong> die Weite aus, um die Pastoren zu hören <strong>und</strong> zu prüfen <strong>und</strong> diese traten mit gespannter<br />

Erwartung <strong>in</strong> die aufgeregten Wahlversammlungen e<strong>in</strong>. Noch immer wirkten die <strong>Licht</strong>er reicher<br />

Erkenntnis nach, die man e<strong>in</strong>mal angezündet bekommen hatte, <strong>und</strong> gaben Wegweisung genug, um<br />

die Geister zu prüfen <strong>und</strong> zu scheiden. Noch war die Orthodoxie e<strong>in</strong>e Macht, aber sie verlor mehr<br />

<strong>und</strong> mehr die Weihe, die <strong>E<strong>in</strong></strong>falt <strong>und</strong> den Hauch der Liebe <strong>und</strong> Demut. Sie wurde zu e<strong>in</strong>em Schwerte<br />

der <strong>Recht</strong>haberei. Wir sahen, daß diese Untugend <strong>in</strong> dem ganzen Charakter des Volkes begründet<br />

liegt <strong>und</strong> die dunkle Kehrseite mancher vortrefflichen Eigenschaft ist. Sie wurde das herrschende<br />

Element, als die Not um der Seelen Seligkeit abnahm <strong>und</strong> man nur noch die Felsstücke der Orthodoxie<br />

<strong>in</strong> den Händen hatte. Diese schleuderte nun <strong>E<strong>in</strong></strong>er gegen den Andern. <strong>E<strong>in</strong></strong> Parteikampf von e<strong>in</strong>er<br />

unerhörten Heftigkeit <strong>und</strong> Leidenschaftlichkeit begann <strong>und</strong> zerriß namentlich die große reformierte<br />

Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld. <strong>E<strong>in</strong></strong> schwerer Mißbrauch der Bibel gab die Waffen, die persönlichen<br />

Empf<strong>in</strong>dlichkeiten zu kräftigen <strong>und</strong> zum starken Ausbruch zu br<strong>in</strong>gen. Der Lügengeist wurde e<strong>in</strong>e<br />

f<strong>in</strong>stere bestrickende Macht. Selbst mit Berufungsurk<strong>und</strong>en trieb man e<strong>in</strong> tödliches Spiel. Man wurde<br />

lebhaft <strong>in</strong> die Geme<strong>in</strong>den des Jakobus, des Bruders des Herrn, versetzt. Tiefen Schaden brachte<br />

dann weiter das Ärgernis der sogenannten Erweckung <strong>in</strong> dem städtischen Waisenhaus (1861). Es<br />

war nichts als e<strong>in</strong>e krankhafte, mit epileptischen Anfällen begleitete Ersche<strong>in</strong>ung, durch geistliche<br />

Überfütterung <strong>und</strong> Dressur hervorgerufen. Von dem Kladderadatsch dann mit Hohn überschüttet.<br />

Überall <strong>in</strong> der Kirchengeschichte f<strong>in</strong>det man diese nervösen, erzwungenen Bekehrungen ohne Dau-<br />

14


er 6 . – Die Rohheit der Sitten stieg immer weiter, die völlige Schrankenlosigkeit der <strong>E<strong>in</strong></strong>zelnen, der<br />

wilde harte Kopf der persönlichen Unabhängigkeit hob sich überall empor. Die Agitatoren des Sozialismus<br />

Marx <strong>und</strong> Fritz Engels kamen nach Elberfeld <strong>und</strong> gründeten unter der Redaktion von Heß<br />

e<strong>in</strong>e kommunistische Zeitschrift, der „Gesellschaftspiegel“.<br />

Seit den fünfziger Jahren vollzieht sich dieser Niedergang des kirchlichen <strong>und</strong> geistigen Lebens,<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>e große Anzahl hervorragender Männer, die durch ihre Beteiligung an der kirchlichen Verwaltung<br />

e<strong>in</strong> Bedeutendes zur Förderung des Geme<strong>in</strong>delebens beitragen konnten, mieden den <strong>E<strong>in</strong></strong>tritt <strong>in</strong><br />

die Presbyterien. Die eigentümliche Ersche<strong>in</strong>ung des Tales, daß man sehr zurückhaltend zum<br />

Abendmahl geht – man scheute gerade <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> Punkte jede Gewohnheitsmäßigkeit – wurde zum<br />

Übel <strong>und</strong> zur Verachtung. Die Zahl der Kommunikanten nahm erschreckend ab. Bei e<strong>in</strong>er Seelenzahl<br />

von 25-26.000 waren es <strong>in</strong> Wupperfeld nur 3880 (1877); <strong>in</strong> der reformierten Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld<br />

2599 (1885) bei e<strong>in</strong>er Seelenzahl von 35.000; <strong>in</strong> der lutherischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld bei<br />

e<strong>in</strong>er Seelenzahl von 40.000 4277 (1884). Auch andere lokalen Gründe wirkten störend. Die Schulen<br />

hatten aufgehört kirchliche Institute zu se<strong>in</strong>; die kirchliche Armenpflege konnte nicht weiter<br />

fortgeführt werden, weil die Mittel fehlten, <strong>und</strong> g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die bürgerliche Armenpflege über (1857 <strong>in</strong><br />

Elberfeld, 1863 <strong>in</strong> Barmen), die <strong>in</strong> Barmen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Elberfeld musterhaft geordnet wurde <strong>und</strong> <strong>in</strong> der<br />

glücklichsten Weise sich mit e<strong>in</strong>em Frauenvere<strong>in</strong> verband. Der „Tägliche Anzeiger“ <strong>in</strong> Elberfeld<br />

dient Armenzwecken <strong>und</strong> warf 1885 e<strong>in</strong>e Summe von 90.000 Mark ab. Wohl bestand noch neben<br />

der bürgerlichen die kirchliche Armenpflege, aber ihre Bedeutung war doch auf die der Nebendienste<br />

gesunken. Die sich überall vollziehende Loslösung der Kommunen von der kirchlichen Bee<strong>in</strong>flussung<br />

wirkte tief schwächend auf die Kirche. Der großartige Aufschwung der Industrie überschwemmte<br />

das Tal mit e<strong>in</strong>er gewaltig anwachsenden Fabrikbevölkerung. Von allen Seilen kamen<br />

die Zuzüge. Die Geme<strong>in</strong>de von Wupperfeld betrug bei ihrer Gründung 2000 Seelen, 1877 20.000.<br />

In ähnlichem Verhältnis wuchsen alle Geme<strong>in</strong>den. Die Abgeschlossenheit, die <strong>E<strong>in</strong></strong>fachheit, die guten<br />

Sitten wurden durchbrochen. Die reichen Emporkömml<strong>in</strong>ge waren unleidliche Gesellen. Das Tal<br />

wurde bald der Sitz des ausgesprochensten Sozialismus. Er hatte hier se<strong>in</strong>en Hauptherd. Er bestimmte<br />

die politischen Wahlen. Jetzt vertritt das Tal e<strong>in</strong> Sozialist im Reichstag. Er bekam 1887<br />

18.428 Stimmen. Er wohnt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en, sehr bescheidenen Häuschen. In den wildesten Agitationen<br />

bebte das Tal, welches e<strong>in</strong>st aus den Fabriken den weith<strong>in</strong> schallenden Gesang der Kirchenlieder<br />

gehört hatte. Die Gottlosigkeit mehrte sich. Der Kampf um die Existenz ward heißer. Die<br />

Rücksichtslosigkeit stieg auf die Höhe. Das Tal wurde mehr als je e<strong>in</strong> Kessel aller Leidenschaften.<br />

Auch bei den Besseren brach wieder hervor, was e<strong>in</strong>st die Predigt niedergehalten hatte. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Zeit<br />

lang hat e<strong>in</strong>e ganz radikale Majorität <strong>in</strong> dem Geme<strong>in</strong>derat geherrscht <strong>und</strong> ist nur mit Hilfe der Katholiken<br />

gebrochen. Die Söhne der Reichen pflanzten den Glauben der Vorfahren nicht fort. Sie<br />

bauten sich Paläste mit großen Auffahrten <strong>und</strong> den prachtvollsten Ausstattungen, aber der Glaube<br />

wohnte nicht <strong>in</strong> denselben. Sie behandelten denselben oft ganz pietätslos. Der Gr<strong>und</strong>stock ihres Erbes<br />

war Gottesfurcht gewesen: die Vermehrung Arbeit, Spekulation <strong>und</strong> weltlicher Genuß. Dabei<br />

glänzten sie immer noch durch Wohltätigkeit <strong>und</strong> hochherzige Stiftungen namentlich <strong>in</strong> den Jahren<br />

1870-71, wo Großartiges geleistet wurde; der Geheime Kommerzienrat Boedd<strong>in</strong>ghaus schenkte<br />

e<strong>in</strong>en Bauplatz für die dritte lutherische Kirche im Werte von 16.140 Talern <strong>und</strong> weiterh<strong>in</strong> noch für<br />

den Bau 36.000 Mark: die größte Gabe, die die lutherische Geme<strong>in</strong>de seit ihrer Entstehung empfangen;<br />

e<strong>in</strong> Vermächtnis brachte für Glocke <strong>und</strong> Orgel 20.000 Mk. Der Kommerzienrat Neviandt stiftete<br />

200.000 Mark für e<strong>in</strong> von ihm schon längere Zeit begründetes Neviandtstift. 1875 wurden<br />

252.067 Mark für kirchliche Zwecke geschenkt; Stöcker fand e<strong>in</strong>e reichere Gabe im <strong>Wuppertal</strong>e als<br />

6 Vergl. Die Erweckungen im städt. Waisenhause zu Elberfeld. Barmen 1861.<br />

15


<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>; dabei lag den Männern immer noch das Beste der Stadt am Herzen, aber die Kirche ihrer<br />

Väter verödete, auch die Erziehung der K<strong>in</strong>der wurde nicht mit gleicher Sorgfalt gepflegt. Die Verwilderung<br />

der Jugend nahm <strong>in</strong> der Arbeiterwelt maßlos zu: wilde Exzesse trieb man selbst <strong>in</strong> den<br />

Predigerst<strong>und</strong>en. – Etwas ärgerlich Neues war es doch, als 1886 <strong>in</strong> der Fastenzeit e<strong>in</strong> Narrenzug das<br />

Tal <strong>durchs</strong>chwärmte <strong>und</strong> viele Tausende herbeizog. Das Theater konnte nie <strong>in</strong> Elberfeld gedeihen,<br />

aber gegenwärtig baut man e<strong>in</strong> prächtiges Haus dafür: die Zeit ist anders geworden. Zu Gunsten des<br />

Theaterfonds zeigte man im Cas<strong>in</strong>o e<strong>in</strong> Stück von der Himmelsleiter, die Jakob im Traume sah: e<strong>in</strong>e<br />

Frivolität, die doch noch Entrüstung hervorrief. Er<strong>in</strong>nerte sich e<strong>in</strong> Alter an die Vergangenheit, so erzählte<br />

er mit Schmerz, wie früher am Sonntage die Straßen voll gewesen wären von solchen, die<br />

sich über die gehörten Predigten unterhalten hätten, wie die Predigt der Mittelpunkt des häuslichen<br />

Gespräches gewesen, wie dabei das Familienleben e<strong>in</strong> vorzügliches, die Beobachtung <strong>und</strong> Erziehung<br />

der K<strong>in</strong>der e<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>gebende gewesen. Als <strong>in</strong> der Zeit, wo es anf<strong>in</strong>g Abend zu werden, e<strong>in</strong>e<br />

Vergleichung alter <strong>und</strong> neuer Zeit im reformierten Wochenblatt durch Pastor Schröder geschah,<br />

me<strong>in</strong>te er, das Salz <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de habe sich überall <strong>in</strong> W<strong>in</strong>keln <strong>und</strong> Ecken verkrümelt. Der<br />

große Strom modernen Lebens brach über die Berge here<strong>in</strong> <strong>und</strong> riß das Tal nach allen Seiten auf:<br />

mit vielen Eisenbahnfäden die Welt eröffnend, die Aussichten mehrend <strong>und</strong> h<strong>in</strong>ausfegend, was e<strong>in</strong>st<br />

<strong>in</strong> verborgener Stille <strong>und</strong> <strong>E<strong>in</strong></strong>fachheit sich pflegte <strong>und</strong> erbaute. Auch der Romanismus faßte gewaltigen<br />

Fuß im Tale <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e auf schönem Platze gelegene Kirche <strong>in</strong> Elberfeld war von Besuchern<br />

überströmt. Alle Tage g<strong>in</strong>gen die Kapläne aus, um ihre Geme<strong>in</strong>dek<strong>in</strong>der zu behüten; die Pfarrer<br />

selbst waren kluge Leute. Angesehene katholische Beamte kamen <strong>in</strong>s Tal. Bei den politischen – <strong>und</strong><br />

bei den Geme<strong>in</strong>dewahlen mußte man mit den Römischen rechnen. Sie erfreuten sich hoher Protektion.<br />

Bei e<strong>in</strong>em Besuch des Bischofs sah man reich geschmückte Straßen. Man kannte den calv<strong>in</strong>istischen<br />

Erdw<strong>in</strong>kel nicht mehr! Wie anders war alles geworden! Am 15. September 1884 geschah<br />

durch den Bischof Thiel von Costarica die feierliche Gr<strong>und</strong>ste<strong>in</strong>legung zu zwei großen neuen katholischen<br />

Kirchen <strong>in</strong> Elberfeld. Dieselben s<strong>in</strong>d jetzt vollendet. In der Oststadt ist e<strong>in</strong>e Basilikenkirche<br />

St. Marien entstanden, im Nordosten die Herz-Jesu-Kirche <strong>in</strong> gotischem Stil erbaut. Sie liegt<br />

auf der höchsten Stelle der Stadt <strong>und</strong> überragt mit ihrem hohen Turm alle übrigen Gebäude der<br />

Stadt. Als sie am 30. September 1886 e<strong>in</strong>geweiht wurde, prangten die Straßen der Nordstadt im<br />

herrlichsten Schmuck. <strong>E<strong>in</strong></strong>e Ausstattung von kostbaren Paramenten im Saale des Gesellenhauses<br />

g<strong>in</strong>g voran. Am Abend des <strong>E<strong>in</strong></strong>weihungstages strahlte die neue Hardt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em brillanten Feuerwerk.<br />

Neben den drei Kirchen besteht dann auch die geräumige Spitalkapelle. Es gibt 8 Pfarrer (Rektoren)<br />

<strong>und</strong> 62 katholische sehr eifrige Lehrer. Das kräftige westfälische Element herrscht <strong>in</strong> den Geme<strong>in</strong>den<br />

vor. In dem Vaterunser hat man bei der Bitte: Vergib uns unsere Sünden – merkwürdiger Weise<br />

e<strong>in</strong>geschaltet: Bitte für uns Sünder. Also noch e<strong>in</strong> Übergott über Gottvater. In Barmen wird ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>e neue katholische Kirche gebaut. Man zählt 27.000 Katholiken <strong>in</strong> Elberfeld <strong>und</strong> 16.076 <strong>in</strong><br />

Barmen. Es war Adolph Kolp<strong>in</strong>g, erst Schuhmacher, dann <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em 23. Lebensjahre <strong>in</strong> den Priesterstand<br />

getreten, der, 1845 Kaplan <strong>in</strong> Elberfeld, den ersten Gesellenvere<strong>in</strong> gründete. Se<strong>in</strong> Wahlspruch:<br />

Religion <strong>und</strong> Arbeit der goldene Boden des Volkes. Mit bew<strong>und</strong>ernswerter Zähigkeit führte<br />

er se<strong>in</strong>e Idee durch. <strong>E<strong>in</strong></strong>e derbe gerade Natur, voll Wohlwollen gegen Alle, mit wuchtiger Sprache<br />

<strong>und</strong> mit kurzen Sätzen. Er schuf die „Rhe<strong>in</strong>ischen Volksblätter“. Durch se<strong>in</strong>e Anregung verbreiteten<br />

sich die Gesellenvere<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Deutschland für das Jahr 1880 bis auf die Zahl von 411 mit etwa 40.000<br />

Mitgliedern 7 . Als Organ der Römischen bestehen jetzt die „<strong>Wuppertal</strong>er, Volksblätter“ 8 (Redakteur<br />

Capallo). Kohlbrügge hat e<strong>in</strong>mal gesagt: das <strong>Wuppertal</strong> kommt kirchlich noch e<strong>in</strong>mal wieder unter<br />

die Herrschaft Roms. Es sieht fast so aus. Die Höhen der „evangelisch-rohmriken Berge“ s<strong>in</strong>d mit<br />

7 Die kathol. Gesellenvere<strong>in</strong>e <strong>in</strong> Deutschland von Paul Dehn (Deutsche Zeit- <strong>und</strong> Streitfragen 1882).<br />

8 Die ref. Kirchenztg. hat e<strong>in</strong>e Aufl. von 500, die <strong>Wuppertal</strong>er Volksblätter von 4000.<br />

16


ömischen Burgen gekrönt. Die Ultramontanen rühmen: Aus unserer Geme<strong>in</strong>de s<strong>in</strong>d 3 Bischöfe hervorgegangen<br />

<strong>und</strong> der Präses des Gesellenvere<strong>in</strong>s ist der geschäftstüchtigste <strong>und</strong> vielseitig gebildetste<br />

Mann Elberfelds! Wir können auch <strong>in</strong> der Entwicklung des Vere<strong>in</strong>swesens, die im Tal wie überall<br />

e<strong>in</strong>e großartige war, nur e<strong>in</strong>e Schädigung der Kirche sehen, die Kapellen neben sich entstehen<br />

ließ, die sie selbst oft unbewußt abbrachen. Die immer mehr wachsende Selbstständigkeit der Vere<strong>in</strong>e<br />

zerteilt die Kirche <strong>in</strong> lauter kle<strong>in</strong>e Kreise, die sich mit ihren Sammelbüchsen den Rang ablaufen.<br />

Der <strong>Gang</strong> der Entwicklung wird der se<strong>in</strong>, daß nach der Verödung der Kirche auch die Vere<strong>in</strong>e veröden.<br />

– In <strong>diesem</strong> Niedergang des väterlichen Glaubens ist e<strong>in</strong> Mann von vielen Gaben ermattet: Es<br />

ist der Pastor an der reformierten Geme<strong>in</strong>de Paul Geyser. Die reformierte Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld<br />

hat <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong> reich begabte Männer gehabt: nach den beiden Krummacher s<strong>in</strong>d Ball,<br />

Künzel, Schröder 9 , der hochgelehrte Dr. th. u. ph. Krafft, der Meister <strong>in</strong> der Kenntnis der rhe<strong>in</strong>ischen<br />

Kirchengeschichte, wie se<strong>in</strong>e geschichtlichen Arbeiten beweisen, <strong>und</strong> Dr. th. Hasenkamp<br />

(Verfasser e<strong>in</strong>er Kirchengesch. Hessens) zu nennen. An Orig<strong>in</strong>alität übertraf sie Alle Geyser, e<strong>in</strong><br />

Schweizer, schon <strong>in</strong> Amerika tätig, dann im Bremischen. Mit volkstümlicher gleichnisartiger Rede,<br />

kräftiger Schriftauslegung, vortrefflicher Kenntnis der klassischen <strong>und</strong> orientalischen Sprachen ausgerüstet,<br />

trat er <strong>in</strong> die bewegte Geme<strong>in</strong>de h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, um e<strong>in</strong>en Parteikampf zu erfahren, wie er nicht<br />

heißer se<strong>in</strong> konnte. Dabei politisch antipreußisch <strong>und</strong> antibismarckisch, me<strong>in</strong>te er auch dafür<br />

Schriftgründe zu haben. Es kam e<strong>in</strong>mal zu e<strong>in</strong>em ordentlichen Volksaufstand, als er gegen das Lied:<br />

„Deutschland, Deutschland über Alles“ gesprochen halte, <strong>und</strong> Polizisten mußten se<strong>in</strong> Haus bewachen.<br />

Mit Talent <strong>und</strong> Erkenntnis wollte er D<strong>in</strong>ge erzw<strong>in</strong>gen, die nicht möglich waren, <strong>und</strong> so wurde<br />

er zuletzt menschenscheu <strong>und</strong> e<strong>in</strong>sam <strong>und</strong> g<strong>in</strong>g mit trübem Gesicht durch die haderlustige Stadt.<br />

Geyser war von 1861-1882 <strong>in</strong> Elberfeld, <strong>in</strong> welchem Jahre er am 19. Februar starb, erst 56 Jahre alt.<br />

In der letzten Zeit ist die Anerkennung der ref. Geme<strong>in</strong>de gesunken. Zwei gewählte Pastoren<br />

nahmen die Wahl nicht an. Darauf wählte man den Sohn von Geyser, erst 25 Jahre alt. Nach neuesten<br />

Mitteilungen wären die Zustände jetzt friedlich, Seelenzahl 35.000, Abendmahlsgäste 2279<br />

(8 %) 10 , 1322 reformiert-römische Mischehen, davon 659 mit reformierter, 409 mit römischer K<strong>in</strong>dereiziehung.<br />

Als im August 1886 der „reformierte B<strong>und</strong>“ <strong>in</strong> Elberfeld se<strong>in</strong>e erste Hauptversammlung<br />

hielt, trug Dr. Ebrard das als Wahrheit vor, was Calv<strong>in</strong>, Krummacher <strong>und</strong> Kohlbrügge als den<br />

größten Irrtum bekämpft. Woh<strong>in</strong> war man geraten! Die Entwicklung der lutherischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong><br />

Elberfeld war nur durch den Austritt des Pastor L. Feldner gestört worden, der sich 1858 der lutherischen<br />

Separation anschloß <strong>und</strong> die „alt-lutherische St. Petri-Geme<strong>in</strong>de“ mit e<strong>in</strong>em Gotteshaus auf<br />

der Wilhelmshöhe gründete. Er hat mit seltener Frische bis 1883 se<strong>in</strong> Amt verwaltet. Feldner war<br />

deshalb ausgetreten, weil das Konsistorium die Abendmahlsgeme<strong>in</strong>schaft als rechtlich gültig <strong>und</strong><br />

gesetzlich bestehend auffaßte <strong>und</strong> das Presbyterium den Standpunkt der Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> den Bekenntnis-Paragraphen<br />

der Kirchenordnung vollkommen bezeichnet <strong>und</strong> gewahrt fand. 200 Geme<strong>in</strong>demitglieder<br />

folgten ihm. Neuerd<strong>in</strong>gs ist aus der Separation noch e<strong>in</strong>e zweite Separation hervorgegangen.<br />

Man zählt 483 Altlutheraner. Sonst waren die Gemüter der Lutheraner nicht so streitlustig wie <strong>in</strong> der<br />

Schwesterkirche. Von großer Bedeutung ist <strong>in</strong> ihrem Leben der Pastor F. Strauß gewesen: e<strong>in</strong>e äußerst<br />

gutmütige, wohlwollende Natur von großer Beredsamkeit, der nachher den Samen der Erweckung<br />

nach Berl<strong>in</strong> trug <strong>und</strong> sich neben den wohltätigen <strong>E<strong>in</strong></strong>flüssen für die damals noch fast ganz<br />

im Rationalismus gefangene Hauptstadt auch <strong>in</strong> der Feierlichkeit der Hofliturgien gefiel. In se<strong>in</strong>en<br />

„Abendglockentönen“ hat er die Zeit von 1814-22 im Tale beschrieben. Als er dort auftrat, verwun-<br />

9 Er hat im Lange’schen Bibelwerk das 5. Buch Mosis <strong>und</strong> den Propheten Ezechiel erklärt. Auch e<strong>in</strong>e sehr nützliche<br />

Auslegung der Genesis hat er gegeben <strong>in</strong> Stimmen verschiedener Exegeten.<br />

10 Die luth. Parochie Elberfelds, die zur Breslauer Synode gehört, zählt 635 Gememdeglieder <strong>und</strong> 898 Kommunikanten!<br />

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derte man sich, daß er die als veraltet <strong>und</strong> abgestorben beiseite gelegten alten Dogmen neu belebte<br />

<strong>und</strong> mit Fleisch <strong>und</strong> Blut bekleidete. K. A. Dör<strong>in</strong>g, se<strong>in</strong> Kollege, hat die Jüngl<strong>in</strong>gsvere<strong>in</strong>e <strong>in</strong>s Leben<br />

gerufen <strong>und</strong> war e<strong>in</strong> hochbegabter Dichter 11 ; Sander (aus dem Fr. W. Krummacher <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Dienst<br />

der Phrase e<strong>in</strong>e „Prophetengestalt“ machen mußte) <strong>und</strong> Jaspis galten für Leuchter der Geme<strong>in</strong>de<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> der letzten Zeit hat namentlich H. W. R<strong>in</strong>k († 1881) auch literarisch e<strong>in</strong>e große Tätigkeit ausgeübt.<br />

Neben ihm Köllner <strong>und</strong> Andere. Der viele Zuzug von Außen hat die lutherische Geme<strong>in</strong>de<br />

vermehrt <strong>und</strong> ihr den Bau e<strong>in</strong>er neuen, mehr stattlichen Kirche gebracht. Der Charakter des Tales ist<br />

vielfach geändert. Das calv<strong>in</strong>istische Element ist zurückgetreten. In breiter Masse lagert oder besser<br />

wimmelt e<strong>in</strong>e gleichgültige <strong>und</strong> farblose Arbeiterwelt, die auch nicht lutherisch ist. Die Gegensätze<br />

der Konfessionen haben aufgehört, aber mit ihnen auch das <strong>in</strong>nere Leben: das Ende dieses <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s<br />

reicht dem Anfange nur noch <strong>in</strong> schwachen traditionellen Fäden die verb<strong>in</strong>dende Hand.<br />

Fast alle von der Kirche getrennten Geme<strong>in</strong>schaften f<strong>in</strong>den sich im Tale. Gräfe <strong>und</strong> Neviandt<br />

schufen 1854 die Freie evangel. Geme<strong>in</strong>de von Elberfeld <strong>und</strong> Barmen mit Missionen <strong>in</strong> die Umgegend.<br />

Die Baptisten hatten unter sich den begabten Dichter Julius Köbner <strong>und</strong> den geistlichen Raufbold<br />

Ribbeck, der 1856 <strong>in</strong> die Landeskirche zurücktrat <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schrift über den Donatismus<br />

sich rechtfertigte. Die Collenbuschianer zählen immer noch Mitglieder <strong>und</strong> bekämpfen die kirchliche<br />

Genugtuungslehre. <strong>E<strong>in</strong></strong> Brüdervere<strong>in</strong> besteht mit e<strong>in</strong>em eigenen Pfarrer. Darbysten, Herrnhuter,<br />

Nazarener usw. f<strong>in</strong>den sich neben e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en protestanten-vere<strong>in</strong>lichen Partei, die sich Vorträge<br />

von Bremer Pastoren <strong>und</strong> von dem Mecklenburger Baumgarten halten läßt. Neuerd<strong>in</strong>gs hat sich<br />

e<strong>in</strong>e buddhistische Sekte gebildet. Aber auch für die Sektenbildung ist der Boden dürre geworden. –<br />

Als neuerd<strong>in</strong>gs der schwedische methodistische Prediger Franzon die Leute zur Bekehrung anschrie,<br />

hat das auf die geistliche Urteilslosigkeit e<strong>in</strong>en packenden <strong>E<strong>in</strong></strong>druck gemacht <strong>und</strong> die Methodisten<br />

vermehrt. Die Matten wurden doch ordentlich e<strong>in</strong>mal angefahren. In Elberfeld s<strong>in</strong>d 847 Dissidenten,<br />

<strong>in</strong> Barmen 970.<br />

Es ist ke<strong>in</strong>e Frage, daß im <strong>Wuppertal</strong> noch e<strong>in</strong>e Anzahl aufrichtiger wahrer Christen s<strong>in</strong>d – aber<br />

die große Menge wird von ganz anderen Mächten bestimmt, als wie es am Anfang des <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong>s<br />

der Fall war. Es ist hier geschehen, wie <strong>in</strong> ganz Deutschland. Die Macht der Erweckung, die e<strong>in</strong> Leben<br />

des Glaubens hervorrief, erlosch mehr <strong>und</strong> mehr. Ihre Kraft wurde durch Mißbrauch ihrer Gaben<br />

geschwächt. Das Interesse für Politik erwachte. Das Geschäftsleben erhob sich mit ungeahnter<br />

Lebendigkeit <strong>und</strong> Fruchtbarkeit. Es erregte auch den Sturm der Leidenschaft bei den Arbeitern. Die<br />

alten heilsamen Schranken brachen. Mit dem Glauben der Väter wich ihre Sitte <strong>und</strong> Zucht. Der Abfall<br />

trat an die Stelle der Gottesfurcht – <strong>und</strong> wie e<strong>in</strong> Meer breitete sich auch über die e<strong>in</strong>st geschützten<br />

Stätten Ungehorsam <strong>und</strong> Empörung. Das Gefühl, was unsere Zeit auf jedem Boden hat, hat man<br />

doch besonders im Tale: es bereiten sich unten die zerstörenden Stoffe vor, die unser ganzes Kirchen-<br />

<strong>und</strong> Staatsgebäude zersprengen wollen.<br />

Die Bewegung, die durch den Antrag v. Kleist-Hammerste<strong>in</strong> sich erhoben hat, brachte <strong>in</strong> Barmen<br />

(Oktober 1886) e<strong>in</strong>e ansehnliche Versammlung zusammen. Man hoffte, doch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e wirkliche<br />

Wohltat dem Staate für die Kirche abzur<strong>in</strong>gen. Es ist aber doch e<strong>in</strong> rechtes Zeichen der Zeit, daß die<br />

religiösen Fragen nur noch e<strong>in</strong> Interesse haben, wo sie auf den politischen Kampfplatz geworfen<br />

werden <strong>und</strong> mit politischen Fragen vermengt. Sie bekommen die Agitationsfarbe der Gegenwart.<br />

11 Von ihm hier e<strong>in</strong> Denkspruch:<br />

„<strong>E<strong>in</strong></strong>e Lehrer<strong>in</strong> rühm’ ich vor Allen, die streng mich behandelnd Mich das Beste gelehrt; fragst du mich: welche?<br />

Die Not.“<br />

<strong>E<strong>in</strong></strong>e Grabschrift:<br />

„Sie liebten Weiber, We<strong>in</strong> <strong>und</strong> Gesang<br />

Und blieben doch Narren ihr Leben lang.“<br />

18


S<strong>in</strong>d sie nur noch dadurch zu beleben <strong>und</strong> zu unterhalten? Das Politische überwiegt <strong>und</strong> das Christliche<br />

wird nur so nebenbei geduldet, wie der Sperl<strong>in</strong>g, der an dem Futter des Pferdes naschen darf.<br />

Auch im Tale wird man, <strong>in</strong>dem man sich für evangelisch gefärbte, politische Bewegungen begeistert,<br />

an <strong>in</strong>nerem Gehalt nicht gew<strong>in</strong>nen. Welchen Wert hat auch alle Selbstständigkeit der evangelischen<br />

Kirche <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e bessere Dotation, wenn die evangelischen Fakultäten die Autorität der Schrift<br />

vernichten <strong>und</strong> sittliche Systeme aufbauen, statt die Gr<strong>und</strong>wahrheiten von Sünde <strong>und</strong> Gnade zu treiben<br />

12 ! Man gew<strong>in</strong>ne erst die Lehre der Wahrheit wieder, dann wird diese auch die wahre <strong>in</strong>nere<br />

Freiheit br<strong>in</strong>gen. Ohne diese ist Alles Knechtschaft. Man erwarte übrigens nichts von der Zukunft,<br />

wir treiben e<strong>in</strong>er völligen Religionslosigkeit entgegen.<br />

* * *<br />

Als der „Evangelische B<strong>und</strong>“ mit se<strong>in</strong>em bunten Geflügel von der weißen Taube der Orthodoxie<br />

bis zum schwarzen Raben der äußersten Neologie Deutschland durchflatterte, fand er <strong>in</strong> Elberfeld<br />

nur 1, <strong>in</strong> Barmen 5 Unterzeichner.<br />

Man will Rom bekämpfen <strong>und</strong> ist schon längst geschlagen.<br />

__________<br />

Literarischer Nachtrag.<br />

Um dem Traktat e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en gelehrten Wert zu geben, will ich hier die Literatur nennen, die für<br />

die Zustände im <strong>Wuppertal</strong> <strong>in</strong> unserem <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong> wertvoll ist. Von den politischen Zeitschriften<br />

nenne ich die Elberfelder Zeitung, den Täglichen Anzeiger, die Rhe<strong>in</strong>isch-westfälische Post (jetzt<br />

Westdeutsche Post), die ultramontanen <strong>Wuppertal</strong>er Volksblätter; dann die kirchlichen Blätter: das<br />

reformierte Wochenblatt, die reformierte Kirchenzeitung, den ref. Pilger, den kirchlichen Anzeiger<br />

der lutherischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld. Wichtig ist auch die Monatsschrift für die evangelischen<br />

Kirchen der Rhe<strong>in</strong>prov<strong>in</strong>z <strong>und</strong> Westfalens (seit 1842). <strong>E<strong>in</strong></strong>e weitere Quelle ist die Zeitschrift des<br />

Bergischen Geschichtsvere<strong>in</strong>s von 1863 an. Krug hat 1851 <strong>in</strong> urteilsloser Weise e<strong>in</strong>e Kritische Geschichte<br />

der protestantisch-religiösen Schwärmerei usw. im Wupperthale gegeben. <strong>E<strong>in</strong></strong> Buch, das<br />

sogenannte Gelehrte immer noch ausschreiben. Über Fr. W. Krummacher besitzen wir die von ihm<br />

herausgegebenen „Palmblätter“ (seit 1844), auch se<strong>in</strong>e Selbstbiographie (1869) <strong>und</strong> das Buch: „Unsere<br />

Mutter“ von se<strong>in</strong>er Tochter. Er selbst hat das Leben von Sander beschrieben. „Abendglockentöne<br />

s<strong>in</strong>d 1868 von Strauß erschienen. Über Wilhelm<strong>in</strong>e von der Heydt Frauenbriefe von A. Zahn<br />

(1862). Anna Schlatters Reise <strong>in</strong>s Wupperthal <strong>und</strong> ihren Briefwechsel von Michael Zahn (1864).<br />

Vergl. auch Abriß e<strong>in</strong>er Geschichte der evangelischen Kirche aus dem europäischen Festlande im<br />

19. Jahrh. von A. Zahn. S. 51 ff. G. D. Krummachers Leben hat se<strong>in</strong> Bruder Emil <strong>und</strong> Goebel <strong>in</strong> der<br />

Realencyklopädie behandelt. Die Literatur über Kohlbrügge f<strong>in</strong>det man <strong>in</strong> dem Buche: Aus dem Leben<br />

e<strong>in</strong>es reformirten Pastors (1885). Das Leben Dör<strong>in</strong>gs hat Pöls gezeichnet. Von demselben auch<br />

e<strong>in</strong>e Auswahl der Gedichte Dör<strong>in</strong>gs (1861). Über ihn <strong>und</strong> Peter Diedrichs auch Krummacher <strong>in</strong> der<br />

Schrift: Lebensbilder von Fre<strong>und</strong>en u. Förderern von evangelischen Jüngl<strong>in</strong>gsvere<strong>in</strong>en (1882). Die<br />

Geschichte der lutherischen Geme<strong>in</strong>de <strong>in</strong> Elberfeld hat Pöls 1868 <strong>und</strong> 1878 geschrieben. Leipoldt<br />

hat die Lebensgeschichte von Pastor Rauschenbusch gegeben (1840). Die Geme<strong>in</strong>de Wupperfeld<br />

12 <strong>E<strong>in</strong></strong> Pfleiderer <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> Beyschlag <strong>in</strong> Halle, e<strong>in</strong> Ritschl <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong> Bender <strong>in</strong> Bonn, e<strong>in</strong> Herrmann <strong>und</strong><br />

Harnack <strong>in</strong> Marburg, e<strong>in</strong> Weizsäcker <strong>in</strong> Tüb<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong> Holtzmann <strong>in</strong> Straßburg, e<strong>in</strong> Schürer <strong>in</strong> Gießen, e<strong>in</strong> Lipsius <strong>in</strong><br />

Jena, e<strong>in</strong> Schweizer <strong>in</strong> Zürich etc. stehen ganz außerhalb der evangelischen Gr<strong>und</strong>wahrheiten – <strong>und</strong> das s<strong>in</strong>d die, die<br />

am lautesten <strong>in</strong> der kirchlichen <strong>E<strong>in</strong></strong>öde rufen <strong>und</strong> Rom bestreiten wollen. Wenn hier die Lüge mit großer Anmaßung<br />

auftritt, so sagt darüber Calv<strong>in</strong>, daß dies zu allen Zeiten das Kennzeichen der Irrlehrer gewesen.<br />

19


hat Rogge 1877 dargestellt. Thümmel gab e<strong>in</strong>e Geschichte der vere<strong>in</strong>igten evangelischen Geme<strong>in</strong>de<br />

Unterbarmens von 1822-1872. Zur Feier des fünfzigjährigen Jubiläums. Über Pastor Wichelhaus e<strong>in</strong>ige<br />

Notizen <strong>in</strong> dem Leben se<strong>in</strong>es Sohnes, des Professors Joh. Wichelhaus, <strong>in</strong> der <strong>E<strong>in</strong></strong>leitung zu den<br />

dogmatischen Vorlesungen desselben (1885). Die Literatur <strong>und</strong> Kunst im <strong>Wuppertal</strong> hat Roeder behandelt<br />

(1886). Die Beschreibung <strong>und</strong> Geschichte von Elberfeld <strong>und</strong> Barmen lieferte Langewiesche<br />

(1863). Von Sonderland ist e<strong>in</strong>e Geschichte von Barmen vorhanden (1821). Oberbürgermeister Brün<strong>in</strong>g<br />

hat Elberfeld <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e bürgerliche Verfassung vom 15. Jahrh. bis auf die neueste Zeit dargestellt<br />

(1888). Coutelle, Elberfeld topographisch-statistisch (1852). Knapp, Geschichte, Statistik <strong>und</strong><br />

Topographie der Städte Elberfeld <strong>und</strong> Barmen (1835), Bouterweck hat die Geschichte der late<strong>in</strong>ischen<br />

Schule <strong>in</strong> Elberfeld geliefert (1865). In der Realencyklopädie von Herzog die Artikel Gräber,<br />

G. D. Krummacher. F. W. Krummacher <strong>und</strong> Andere. Ausführliche Mitteilungen über Geyser f<strong>in</strong>den<br />

sich <strong>in</strong> dem 1. Heft der von ihm veröffentlichten Predigten über den Epheserbrief. Über H. W. R<strong>in</strong>k<br />

die Gedächtnißreden von Barner <strong>und</strong> <strong>Licht</strong>enste<strong>in</strong> (1881). Vergl. auch Höpfner, Das Werk der <strong>in</strong>neren<br />

Mission <strong>in</strong> der evangelischen Kirche der Rhe<strong>in</strong>prov<strong>in</strong>z (1876). Langenberg, Adolf Diesterweg,<br />

se<strong>in</strong> Leben <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Schriften (1868). Was Ritschl <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geschichte des Pietismus <strong>in</strong> der reformierten<br />

Kirche über Krummacher <strong>und</strong> Kohlbrügge sagt, ist ohne Wert. Die Allgeme<strong>in</strong>e Ev. lutherische<br />

Kirchenzeitung brachte 1880 Nr. 46 <strong>und</strong> 47 Nachrichten über die kirchlichen Verhältnisse des<br />

<strong>Wuppertal</strong>es. Die Publicistik der Gegenwart von Woerl (1881) gibt als erbauliche Zeitschriften im<br />

Tale noch an: Der Säemann, Der K<strong>in</strong>derbote des Erziehungsvere<strong>in</strong>es, Der Jüngl<strong>in</strong>gsbote (von Pastor<br />

Krummacher redigiert), Das rhe<strong>in</strong>isch-lutherische Wochenblatt (von Pastor Feldner lange redigiert),<br />

Die Mittheilungen der evangel. Gesellschaft für Deutschland, Der Botschafter des Heils <strong>in</strong> Christo,<br />

Die Berichte der Rhe<strong>in</strong>ischen Missionsgesellschaft, Der kle<strong>in</strong>e Mssionsfre<strong>und</strong>, Das Missionsblatt<br />

des Rhe<strong>in</strong>isch-Westfälischen Vere<strong>in</strong>s für Israel, der Barmer Haus- <strong>und</strong> K<strong>in</strong>derfre<strong>und</strong> (von Pastor<br />

Thümmel redigiert, † 1886), Das Barmer Missionsblatt.<br />

__________<br />

Zum reformierten B<strong>und</strong>e.<br />

Als sich 1884 der reformierte B<strong>und</strong> <strong>in</strong> Marburg bildete, hatte der Verfasser dieses Schriftchens<br />

auch die Hand dazu gereicht. Er sah dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vere<strong>in</strong>igung auf Gr<strong>und</strong> des Heidelberger Katechismus.<br />

Dieser wurde auch als Bekenntnisschrift angenommen.<br />

Aber schon bei der Festpredigt von Dr. Ebrard merkte ich, daß die eigentliche Gr<strong>und</strong>lehre der reformierten<br />

Kirche, ihr <strong>in</strong>nerster Herzschlag, totgeschwiegen wurde. Dies entfremdete mich der Sache<br />

<strong>und</strong> ich trat aus dem Moderamen zurück, mit dem ganz richtigen Gefühl, daß der reformierte<br />

B<strong>und</strong> immer mehr unter die Führung <strong>und</strong> Verführung von Dr. Ebrard treten würde. Dieser wurde zu<br />

e<strong>in</strong>em Referat über die Bekenntnisschriften bei der ersten Hauptversammlung des reformierten<br />

B<strong>und</strong>es <strong>in</strong> Elberfeld (1886) aufgefordert, <strong>und</strong> benutzte die Gelegenheit, um se<strong>in</strong>e fanatisch gepflegten<br />

Irrtümer von dem „großen“ Amyrant <strong>und</strong> der relativen Willensfreiheit, nach der der Mensch das<br />

angebotene Seil der Gnade ergreifen kann, zu wiederholen. Es handelt sich bei den hier obwaltenden<br />

Streitigkeiten gar nicht um allgeme<strong>in</strong>e <strong>und</strong> besondere Gnade (man kann beides <strong>in</strong> der Schrift<br />

f<strong>in</strong>den <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geheimnis Gottes ruhen, der Vielen se<strong>in</strong> Heil anbietet <strong>und</strong> doch nur Wenigen<br />

wahrhaft mitteilt), sondern um die relative Freiheit des menschlichen Willens, welche die ganze<br />

evangelische Kirche <strong>in</strong> allen ihren Bekenntnisschriften als die Gr<strong>und</strong>lüge verworfen hat. Vergeblich<br />

beruft sich Ebrard auf Johannes a Lasco; hätte dieser Ebrardisch gelehrt, so hätte ihm Calv<strong>in</strong> die<br />

Fre<strong>und</strong>schaft aufgesagt, <strong>und</strong> auch Bull<strong>in</strong>ger kann nicht helfen, da dieser, wie uns die Realencyklopädie<br />

belehrt, durch die <strong>E<strong>in</strong></strong>flüsse von Peter Martyr zur ausgesprochendsten Prädest<strong>in</strong>ation fortge-<br />

20


schritten ist. Er spricht das Gesamtbekenntnis der reformierten Kirche aus, wenn er <strong>in</strong> der Confessio<br />

Helvetica II lehrt: „Der Glaube ist e<strong>in</strong> re<strong>in</strong>es Geschenk, welches Gott alle<strong>in</strong> aus fe<strong>in</strong>er Gnade se<strong>in</strong>en<br />

Auserwählten nach se<strong>in</strong>em Maß, <strong>und</strong> wann <strong>und</strong> wem <strong>und</strong> wie viel er selbst will, verleiht.“ Dasselbe<br />

sagen auch die lutherischen Bekenntnisschriften schon vor der Konkordienformel. Augustana Art. 5<br />

(vgl. Marburger <strong>und</strong> Schwabacher Artikel 6 <strong>und</strong> 8), Luth. großer Katechismus zum dritten Artikel d.<br />

Symb. Die relative Willensfreiheit von Ebrard ist e<strong>in</strong> moderner Wahn, der die ganze neuere Theologie<br />

<strong>in</strong> ihrem F<strong>und</strong>ament verdorben hat <strong>und</strong> steht <strong>in</strong> vollem Widerspruch mit der Confessio gallicana,<br />

die das Bekenntnis der französisch-reformierten Kirche <strong>in</strong> Erlangen ist. Auch Amyrant hat dieselbe<br />

nicht gelehrt, wie Schweizer <strong>und</strong> Herzog nachgewiesen. Wenn dessen Lehre von e<strong>in</strong>er französischen<br />

Synode als „ganz orthodox“ anerkannt wurde, so e<strong>in</strong>fach darum, weil sie es wirklich war, vor<br />

e<strong>in</strong>er Synode, die beim Beg<strong>in</strong>n die Confessio gallicana beschworen hatte. Gerade <strong>in</strong> der Prädest<strong>in</strong>ation<br />

wissen sich alle französischen Synoden vollkommen <strong>in</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung mit allen reformierten<br />

Bekenntnisschriften des ganzen Kont<strong>in</strong>ents. Die klare Tatsache ist die: Ebrard fälscht nach se<strong>in</strong>em<br />

Irrtum das Bekenntnis der Kirche. In die Hände dieses Mannes hat man nun die Herausgabe<br />

der Harmonia-Confessionum von Salnar gelegt. Er hat auch hier se<strong>in</strong>e Kuckuckseier niedergelegt,<br />

<strong>und</strong> so geht <strong>in</strong> die geschlossene <strong>E<strong>in</strong></strong>heit der reformierten Bekenntnisse der moderne Wahn h<strong>in</strong>e<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> wird auf die Kosten des reformierten Schriftenvere<strong>in</strong>s <strong>in</strong> die Welt gesandt! Das soll nun Erbauung<br />

der reformierten Kirche se<strong>in</strong>! Ganz vergeblich deckt man dieses Vorgehen mit den deutsch-reformierten<br />

Bekenntnissen. Wo lehren diese die relative Willensfreiheit? Auch das ist falsch, daß<br />

man zur Lehre der Gnadenwahl <strong>in</strong> Deutschland wohl berechtigt, aber nicht verpflichtet sei. Was will<br />

man dann den K<strong>in</strong>dern sagen bei Frage 52 <strong>und</strong> 54 des Heidelberger, wo von den Auserwählten die<br />

Rede ist? Will man das etwa auch wieder nach se<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>n fälschen <strong>und</strong> anders erklären, als Urs<strong>in</strong>us<br />

<strong>und</strong> Olevianus? Oder will man <strong>in</strong> Frage 8 die relative Willensfreiheit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>lügen?<br />

Dorner sagt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Geschichte der protestantischen Theologie, daß alle neueren Theologen,<br />

auch die reformierten, die beschränkte Willensfreiheit lehren. Das ist aber durch <strong>und</strong> durch unevangelisch.<br />

Will man nun reformiert se<strong>in</strong>, so sei man zunächst evangelisch <strong>und</strong> scheide sich von allen<br />

Elementen, die die Gr<strong>und</strong>wahrheit der ganzen Reformation <strong>in</strong> Frage stellen <strong>und</strong> verwirren. Es ist<br />

e<strong>in</strong>e häufige Ersche<strong>in</strong>ung, daß, wenn durch Gottes Gericht e<strong>in</strong>e herrliche Kirche weggewischt ist,<br />

dann kommen Epigonen <strong>und</strong> setzen e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong>gebilde an ihre Stelle <strong>und</strong> schmücken dasselbe mit<br />

alten Namen. Aber jede ehrliche Natur wendet sich davon ab. Gott hat uns <strong>in</strong> <strong>diesem</strong> <strong>Jahrh<strong>und</strong>ert</strong><br />

wahre reformierte Lehrer <strong>in</strong> G. D. Krummacher, Kohlbrügge <strong>und</strong> Wichelhaus gegeben: man studiere<br />

dieselben <strong>und</strong> lerne von ihnen. Von den vergifteten Brunnen wird man ke<strong>in</strong> Wasser des Lebens<br />

holen können. Mit <strong>Recht</strong> hat der Heraut <strong>in</strong> Holland gesagt: der reformierte B<strong>und</strong> trägt den Keim se<strong>in</strong>er<br />

Auflösung <strong>in</strong> sich selbst, denn er will gr<strong>und</strong>verschiedene Elemente verb<strong>in</strong>den.<br />

__________<br />

Leider ist von mir der gelehrteste Mann des <strong>Wuppertal</strong>es vergessen worden: Der Historiker Dr.<br />

W. Crecelius.<br />

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