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Dr. Peter Geist „Da bin ich, mit allen Himmeln gewaschen“ - rennert.de

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<strong>Dr</strong>. <strong>Peter</strong> <strong>Geist</strong><br />

<strong>„Da</strong> <strong>bin</strong> <strong>ich</strong>, <strong>mit</strong> <strong>allen</strong> <strong>Himmeln</strong> <strong>gewaschen“</strong><br />

„Wen<strong>de</strong>“- und Deutschlandged<strong>ich</strong>te <strong>de</strong>r DDR-Achtundsechziger<br />

„Stiefmütterl<strong>ich</strong>“ wäre eine eher harmlose Umschreibung <strong>de</strong>r Aufmerksamkeit, die die Germanistik auf<br />

die Lyrik einer Generation verwandte, die man die „DDR-Achtundsechziger“ o<strong>de</strong>r die „ältesten Kin<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r DDR“ nennen könnte. Anges<strong>ich</strong>ts <strong>de</strong>r Qualität ihrer D<strong>ich</strong>tung ist <strong>de</strong>shalb zuallererst ein erhebl<strong>ich</strong>es<br />

Missverhältnis zwischen beeindrucken<strong>de</strong>n, literaturgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> relevanten Halb-Lebensleistungen und<br />

literaturwissenschaftl<strong>ich</strong>er Auseinan<strong>de</strong>rsetzung <strong>mit</strong> ihnen als Tatsache festzuhalten.<br />

Seit<strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts Avantgar<strong>de</strong>-Gruppierungen beanspruchten, die herkömml<strong>ich</strong>e<br />

Welt <strong>de</strong>r Lyrik zu revolutionieren, hatten s<strong>ich</strong> die öffentl<strong>ich</strong>en Sensorien <strong>de</strong>r Wahrnehmung<br />

darauf einzustellen verstan<strong>de</strong>n und ihre Messinstrumente beständig verfeinert. Expressionismus, Dadaismus,<br />

Konkrete Poesie involvierten immer auch die Produktion marktger<strong>ich</strong>teter Interaktion ihrer Protagonisten<br />

in Abschätzung größtmögl<strong>ich</strong>er Wirkung. Auch <strong>de</strong>shalb konnte in <strong>de</strong>r DDR ein geringerer<br />

Anspruch <strong>de</strong>r Lyrikergruppen als <strong>de</strong>r auf Totalbruch <strong>mit</strong> <strong>de</strong>m Herkömml<strong>ich</strong>en durch von außen angetragene<br />

i<strong>de</strong>ologische Aufpropfungen als ein short cut erscheinen. Die Kollektivauftritte <strong>de</strong>r „sächsischen<br />

D<strong>ich</strong>terschule“ im Gefolge <strong>de</strong>r „Lyrikwelle“ 1963, <strong>de</strong>r Durchbruch <strong>de</strong>r Lyrik <strong>de</strong>s „Prenzlauer Bergs“<br />

nach Erscheinen <strong>de</strong>r Anthologie „Berührung ist nur eine Ran<strong>de</strong>rscheinung“ 1985 konnten <strong>de</strong>swegen<br />

lyrikgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>e Eruptionen und Verwerfungen beglaubigen, die längst in die gängigen Literaturgesch<strong>ich</strong>ten<br />

eingetragen und gemeinhin Konsens gewor<strong>de</strong>n sind. Der Generationsauftritt <strong>de</strong>r <strong>Dr</strong>eißigjährigen<br />

in „Lyrik von Jetzt“ 2003 setzte diese Wahrnehmungsgesch<strong>ich</strong>te von Literaturkritik und Literaturwissenschaft<br />

unter Wegfall <strong>de</strong>r DDR-spezifischen, i<strong>de</strong>ologisch kontaminierten Auspizien fast i<strong>de</strong>altypisch<br />

fort. Die Kehrseite dieser Erfolgsgesch<strong>ich</strong>ten vernetzter Gruppen besteht darin, dass jeweils nachfolgen<strong>de</strong><br />

Generationskohorten fast nie die Chance erhielten, als solche wahrgenommen zu wer<strong>de</strong>n. Gegenwärtig<br />

ist das bei <strong>de</strong>n Talenten <strong>de</strong>r um 1980 herum Geborenen zu beobachten, wie es zuvor die in<br />

<strong>de</strong>n neunziger Jahren Debütieren<strong>de</strong>n schwer hatten, die ihnen angemessene Aufmerksamkeit zu erlangen.<br />

Wi<strong>de</strong>rfahren ist diese Rezeptionsgesch<strong>ich</strong>te in drastischer Weise auch jener Gruppe von Lyrikerinnen<br />

und Lyrikern, die zehn o<strong>de</strong>r auch nur fünf Jahre später geboren wor<strong>de</strong>n waren als Volker Braun,<br />

Karl Mickel, Rainer und Sarah Kirsch, Heinz Czechowski, R<strong>ich</strong>ard Leising, B.K. Tragelehn, Elke Erb.<br />

Die ihnen nachfolgen<strong>de</strong> Gruppe von D<strong>ich</strong>terinnen und D<strong>ich</strong>tem hat kräftig an <strong>de</strong>r Literaturgesch<strong>ich</strong>te<br />

<strong>mit</strong>geschrieben, und doch sind sie immer nur als Einzelne wahrgenommen wor<strong>de</strong>n: Zu dieser Gruppe<br />

gehören u.a. Thomas Rosenlöcher, Andreas Reimann, R<strong>ich</strong>ard Pietraß, Brigitte Struzyk, Jürgen Rennert,<br />

Wilhelm Bartsch, Hans Löffler, Christiane Grosz (1).<br />

1976 gab es <strong>de</strong>n Versuch einer Gruppenbildung, wie Brigitte Struzyk ber<strong>ich</strong>tet. Vornehml<strong>ich</strong> Berliner<br />

Autorinnen und Autoren, u.a. Brigitte Struzyk, Bernd Wagner, R<strong>ich</strong>ard Pietraß, Hans Löffler grün<strong>de</strong>ten<br />

<strong>mit</strong> Blick auf ihr gemeinsames Geburtsjahr und einem Seitenblick auf die „Gruppe 47“ die „Gruppe<br />

46“, die bis zu ihrer Auflösung 1979 einmal im Monat zusammenkam, um neue Texte zu diskutieren<br />

(2). Es gab also im Selbstverständnis <strong>de</strong>r Protagonisten die starke Überzeugung von <strong>de</strong>r W<strong>ich</strong>tigkeit <strong>de</strong>s<br />

Generationsbezuges.<br />

Allerdings ist diese Gruppenbildung vor 1989 n<strong>ich</strong>t in <strong>de</strong>r Öffentl<strong>ich</strong>keit kommuniziert wor<strong>de</strong>n. Über<br />

die Grün<strong>de</strong> kann nur. gemutmaßt wer<strong>de</strong>n, aber sie haben <strong>mit</strong> hoher Wahrscheinl<strong>ich</strong>keit <strong>mit</strong> <strong>de</strong>r akuten<br />

______________________<br />

(1) Einen Son<strong>de</strong>rfall stellt <strong>de</strong>r 1945 geborene Solitär Thomas Brasch dar, <strong>de</strong>r einzige Autor seines Jahrgangs, <strong>de</strong>r weltweite<br />

Beachtung erlangte. Wiewohl es etl<strong>ich</strong>e Schnittmengen in Erfahrungshintergrün<strong>de</strong>n und Poetologien gibt, ist Brasch, <strong>de</strong>r bereits<br />

1976 die DDR verlassen musste, einen so eigenen Weg gegangen, dass sein lyrisches Werk an dieser Stelle n<strong>ich</strong>t in die<br />

Betrachtung einbezogen wer<strong>de</strong>n muss.<br />

(2) Vgl.: Es war niemals so, dass wir zwei kunstbesessene Damen dargestellt hätte. Die D<strong>ich</strong>terinnen Elke Erb und Brigitte<br />

Struzyk. In: Felsmann, Barbara und Gröschner, Annett (Hg.): Durchgangszimmer Prenzlauer Berg. Eine Berliner Künstlersozialgesch<strong>ich</strong>te<br />

<strong>de</strong>r 1970er und 1980er Jahre in Selbstauskünften. Berlin 1999, S. 400f .


Verschärfung <strong>de</strong>r kulturpolitischen Situation im Herbst 1976, <strong>de</strong>n Turbulenzen nach <strong>de</strong>r Biermann-<br />

Ausbürgerung zu tun. In <strong>de</strong>r weiland hochnervösen Atmosphäre als „Gruppe“ aufzutreten hätte die bedingten<br />

Reflexe <strong>de</strong>r Staatsrnacht auf Nie<strong>de</strong>rschlagung geschaltet - in diesen Tagen, dann Monaten war<br />

die Macht wenig geneigt, zwischen Fraktionsbildung in <strong>de</strong>r Staats-Partei, politischen Gruppierungen<br />

und literarischen Zusammenschlüssen zu differenzieren. Zumal dieses dritte ver<strong>bin</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> gemeinsame<br />

Grun<strong>de</strong>rlebnis nach Mauerbau und 1968 eine Schutz- und Selbsthelfer-Gemeinschaft beför<strong>de</strong>rte, die<br />

alles an<strong>de</strong>re als unpolitisch gestimmt war, aber vors<strong>ich</strong>tig sein musste. Ein Generationsauftritt <strong>mit</strong> Aplomb<br />

war um 1976 n<strong>ich</strong>t mehr mögl<strong>ich</strong>, erst als die Krise <strong>de</strong>s DDR-Systems Mitte <strong>de</strong>r achtziger Jahre<br />

evi<strong>de</strong>nt wur<strong>de</strong>, konnte ein solcher <strong>mit</strong> neuen Protagonisten erfolgre<strong>ich</strong>er reüssieren.<br />

Generationsfixierte Zusammenschlüsse in <strong>de</strong>r Literatur haben zur Bedingung, dass stark nachwirken<strong>de</strong><br />

Grun<strong>de</strong>rlebnisse ver<strong>bin</strong><strong>de</strong>n. Diese sind hier gegeben. Die Protagonisten wur<strong>de</strong>n um 1945 herum geboren,<br />

besuchten in <strong>de</strong>n aufbaueuphorischen Jahren Grundschule, Oberschule und in <strong>de</strong>n sechziger Jahren<br />

fast alle auch die Erweiterte Oberschule. Sie befan<strong>de</strong>n s<strong>ich</strong> an <strong>de</strong>r Schwelle zur Pubertät, als die Mauer<br />

gebaut wur<strong>de</strong>. Sie waren Jugendl<strong>ich</strong>e, als die .Beatlesmania" <strong>de</strong>n "Eisernen Vorhang" querte und einen<br />

tiefgreifen<strong>de</strong>n Bruch <strong>mit</strong> <strong>de</strong>r Elternkultur initiierte. Sie waren junge Erwachsene im schismatischen Jahr<br />

1968, als im Westen die Jugend rebellierte und in Prag sowjetische Panzer die Hoffnung auf einen "Sozialismus<br />

<strong>mit</strong> menschl<strong>ich</strong>em Antlitz" nie<strong>de</strong>rwalzten. Sie gingen in die erlernten o<strong>de</strong>r studierten Berufe<br />

und sammelten in ihnen Erfahrung für längere Zeit. Sie <strong>de</strong>bütierten an<strong>de</strong>rs als die Autoren <strong>de</strong>r Vorgängergeneration<br />

relativ spät. Alle waren sie jenseits <strong>de</strong>r <strong>Dr</strong>eißiger-Grenze, als ihre ersten Ged<strong>ich</strong>tbän<strong>de</strong><br />

erscheinen konnten, <strong>mit</strong> <strong>de</strong>r Ausnahme Andreas Reimann. Diese Tatsache hat s<strong>ich</strong>er da<strong>mit</strong> zu tun, dass<br />

<strong>de</strong>r Weg von Manuskripten durch die Institutionen seit Mitte <strong>de</strong>r siebziger Jahre ein immer längerer<br />

wur<strong>de</strong>, zu groß war das Misstrauen gegenüber nachrücken<strong>de</strong>n Lyrikern und ihrem per se vermuteten<br />

Subversionspotential. Schließl<strong>ich</strong> hatte man <strong>mit</strong> Volker Braun, Sarah Kirsch, AdolfEndler, Elke Erb und<br />

an<strong>de</strong>ren schon Scherereien genug.<br />

Seit Mitte <strong>de</strong>r siebziger Jahre erschienen sie dann doch, die ersten Ged<strong>ich</strong>tbän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r um 1946 herum<br />

geborenen Lyrikerinnen und Lyriker: Andreas Reimanns Weisheit <strong>de</strong>s Fleisches 1975 (3), Jürgen<br />

Rennerts Märkische Depeschen 1976 (4), Christiane Grosz' Scherben 1978 (5), Hans Löfflers Wege 1979<br />

(6), , R<strong>ich</strong>ard Pietraß Notausgang 1980 (7), Thomas Rosenlöchers Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz<br />

1982 (8), Brigitte Struzyks Leben auf <strong>de</strong>r Kippe 1984 (9), Wilhelm Bartschs Übungen im Joch 1986<br />

(10). Bereits die Debutbän<strong>de</strong> führen eine breite Fächerung lyrischer Handschriften vor Augen: Lakonische<br />

Paradoxie bei Hans Löffler, sinnl<strong>ich</strong>e Opulenz und Formenstrenge bei Andreas Reimann,<br />

vorgängl<strong>ich</strong>e Grotesken in romantischer Tradition bei Thomas Rosenlöcher, das Changieren zwischen<br />

Sprachspiel und existentiellem Anliegen bei Pietraß, beispielsweise. Gibt es <strong>de</strong>nnoch ver<strong>bin</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Momente,<br />

die es ja erst gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem Generationsauftritt zu sprechen? Ja, es<br />

gibt sie. Charakteristische, biographisch wie poetologisch fundierte Schnittmengen bestehen.<br />

Erstens: In einer grundlegend skeptischen Haltung zur näheren und ferneren Welt. Sie waren zu jung,<br />

um <strong>de</strong>n Aufbruchs-Optimismus <strong>de</strong>r Braun-Generation Anfang <strong>de</strong>r sechziger Jahre, erfahrbar etwa in <strong>de</strong>r<br />

"Lyrik-Welle" 1963, als Grun<strong>de</strong>rfahrung teilen zu können - auch hier Ausnahme Andreas Reimann -, sie<br />

hatten aber die zweite Hälfte <strong>de</strong>r sechziger Jahre <strong>mit</strong> ihren geopolitischen We<strong>ich</strong>enstellungen von Viet-<br />

______________________<br />

(3) Reimann, Andreas: Die Weisheit <strong>de</strong>s Fleisches. Halle-Leipzig 1975.<br />

(4) Rennert, Jürgen: Märkische Depeschen. Berlin 1976.<br />

(5) Grosz, Christiane: Scherben. Berlin und Weimar 1978.<br />

(6) Löffler, Hans: Wege. Berlin und Weimar 1979.<br />

(7) Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Notausgang. Berlin und Weimar 1980.<br />

(8) Rosenlöcher, Thomas: Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz. Halle-Leipzig 1982.<br />

(9) Struzyk, Brigitte: Leben auf <strong>de</strong>r Kippe. Berlin und Weimar 1984.<br />

(10) Bartsch, Wilhelm: Übungen im Joch. Berlin und Weimar 1986.


namkrieg, Prag 68, Jugendrevolten, kulturellen Paradigmawechseln, <strong>de</strong>r wissenschaftl<strong>ich</strong>-technischen<br />

Revolution als junge Erwachsene intensiv erlebt. Die siebziger Jahre erlebten sie als Befestigung von<br />

Verhältnissen in <strong>de</strong>r DDR, die dann in <strong>de</strong>n Achtzigern in eine Versteinerung übergehen sollte. Ihre Ent-<br />

Täuschungsgesch<strong>ich</strong>te kam ohne einen euphorischen Auftakt aus, war aber umso nachhaltiger. Beredt<br />

ist die Tatsache, dass sie an<strong>de</strong>rs als Sarah und Rainer Kirsch, Volker Braun, Karl Mickel o<strong>de</strong>r Heinz<br />

Czechowski n<strong>ich</strong>t mehr <strong>de</strong>n Eintritt in die SED für probat hielten, um aktiv an Verän<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r<br />

DDR <strong>mit</strong>wirken zu können. Im Umkehrschluss hieß dies aber n<strong>ich</strong>t, dass sie s<strong>ich</strong> vom I<strong>de</strong>al eines menschengerechten,<br />

<strong>de</strong>mokratischen Sozialismus als politischer Orientierung vehement abwandten. Es blieb<br />

w<strong>ich</strong>tig als Parameter im Werte-Raster zwischen I<strong>de</strong>al und Wirkl<strong>ich</strong>keit, aber die Akzente verlagerten<br />

s<strong>ich</strong> auf erfahrene Realität, und das hieß konkret: auf erlebten Alltag, auf die Wi<strong>de</strong>rsprüche zwischen<br />

I<strong>de</strong>ologie und Erfahrung. Wenn die Braun-Generation in <strong>de</strong>n siebziger Jahren <strong>de</strong>n Schwerpunkt auf<br />

I<strong>de</strong>ologie-Destruktion setzte, dann gew<strong>ich</strong>tete die Pietraß-Generation die gle<strong>ich</strong>en Wi<strong>de</strong>rsprüche an<strong>de</strong>rs:<br />

In <strong>de</strong>r Konstruktion von Alltag, Geschlechterbeziehungen, ökologischer Problematik, Freiheits<strong>de</strong>fiziten,<br />

und dies konsequent aus <strong>de</strong>m Blickwinkel <strong>de</strong>s Einzelnen heraus.<br />

Zweitens: in <strong>de</strong>r vorbehaltlosen Aufnahme und eigenständigen Verifikation <strong>de</strong>r hohen ästhetischen<br />

Standards, die die "sächsische D<strong>ich</strong>terschule" gesetzt hatte. Die etwas älteren D<strong>ich</strong>terinnen und D<strong>ich</strong>ter<br />

um Braun, <strong>de</strong>n Kirschs, Micke1, Erb waren n<strong>ich</strong>t Väter und Mütter, von <strong>de</strong>nen es s<strong>ich</strong> abzustoßen galt,<br />

sie wur<strong>de</strong>n als ältere Geschwister betrachtet - erst die nächste Generation <strong>de</strong>r Kolbe und Papenfuß durfte<br />

s<strong>ich</strong> dann in die Kunst <strong>de</strong>s Vatermords einüben. Die großen Brü<strong>de</strong>r und Schwestern hatten allerdings<br />

so starke Binnenbeziehungen entwickelt, dass die Aufmerksamkeit gegenüber <strong>de</strong>n Nachrücken<strong>de</strong>n<br />

merkl<strong>ich</strong> litt. Umso mehr galt es, diese neu zu erwecken. Die manchmal penibel wirken<strong>de</strong> Formstrenge<br />

bei Rosenlöcher, Bartsch o<strong>de</strong>r Pietraß dürfte vielle<strong>ich</strong>t auch <strong>mit</strong> diesem Umstand zusammenhängen.<br />

In <strong>de</strong>n spätsiebziger /achtzigerJahren bestärkten sie zusammen <strong>mit</strong> <strong>de</strong>r „Sächsischen D<strong>ich</strong>terschule“ in<br />

<strong>de</strong>r Außenwahrnehmung ein Bild <strong>de</strong>r DDR-Lyrik, das im schroffen Gegensatz bestand zum west<strong>de</strong>utschen<br />

Mainstream: Im Westen die Laberlyrik <strong>de</strong>r „Neuen Subjektivität“, im Osten Subjektivität und<br />

Genauigkeit im Versbau.<br />

Ver<strong>bin</strong><strong>de</strong>n<strong>de</strong> Grun<strong>de</strong>rfahrungen und charakteristische Merkmale, die <strong>de</strong>r Lyrik <strong>de</strong>r 46er Generation<br />

eignen, gestatten es <strong>de</strong>shalb, motivähnl<strong>ich</strong>e Ged<strong>ich</strong>te <strong>mit</strong>einan<strong>de</strong>r in Beziehung zu setzen, in <strong>de</strong>r Analyse<br />

von Texten generationsspezifische Aspekte herauszuarbeiten. Eine weitere gemeinsame Lebenserfahrung<br />

sollte in <strong>de</strong>r Lebens<strong>mit</strong>te hinzukommen: Die Implosion <strong>de</strong>r DDR, die Einverleibung Ost<strong>de</strong>utschlands<br />

in die BRD. Wie diese Wi<strong>de</strong>rfahrungen im Ged<strong>ich</strong>t reflektiert wer<strong>de</strong>n, ist <strong>de</strong>shalb genauerer Betrachtung<br />

wert. Genauer in <strong>de</strong>r Kontrastierung von in <strong>de</strong>n Umwälzungsprozessen geschriebenen Ged<strong>ich</strong>ten<br />

<strong>mit</strong> späteren Rück-S<strong>ich</strong>tungen seit Mitte <strong>de</strong>r neunziger Jahre, weil diese Aufschluss gibt über Kontinuitäten<br />

und Brüche, Eingesenktheiten in Generations- und Gesch<strong>ich</strong>tszusammenhänge.<br />

„Mein Land ist mir zerf<strong>allen</strong>“ - „Wen<strong>de</strong>“-Lyrik <strong>de</strong>r 46-er<br />

Weil sie von Jugend an hinre<strong>ich</strong>end <strong>de</strong>sillusioniert waren, weil sie wie selbstverständl<strong>ich</strong> auf die Freiräume<br />

<strong>de</strong>s Ich pochten, weil sie durch faule Kompromisse kaum mehr erre<strong>ich</strong>bar waren, allerdings auch<br />

n<strong>ich</strong>t bereit, eine <strong>de</strong>mokratische Umgestaltung in <strong>de</strong>r DDR von <strong>de</strong>r Agenda zu stre<strong>ich</strong>en, waren sie in<br />

<strong>de</strong>n Zeiten <strong>de</strong>s Umbruchs 1989/90 eher auf Seiten <strong>de</strong>s „Neuen Forums“ o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rer Bürgerrechtszusammenschlüsse<br />

politisch zu verorten. Die Lyrikerinnen und Lyriker hatten durchaus das Ihrige dazu<br />

beigetragen, <strong>de</strong>n Bürgeraufstand gegen das Ancien Regime im Herbst 1989 geistig vorzubereiten. Ihre<br />

in <strong>de</strong>n achtziger Jahren erschienenen Ged<strong>ich</strong>tbän<strong>de</strong> wiesen bereits in <strong>de</strong>n Titeln auf Erstarrungszustän<strong>de</strong>,<br />

generelle Lebensveruns<strong>ich</strong>erung, Verlustängste in Zeiten scheinbaren gesellschaftl<strong>ich</strong>en Stillstands,<br />

ökologischer Verheerungen und <strong>de</strong>r realen Gefahr atomaren overkills hin: Leben auf <strong>de</strong>r Kippe (Brigitte<br />

Struzyk), Freiheitsmuseum, Spielball (R<strong>ich</strong>ard Pietraß), Übungen im Joch (Wilhelm Bartsch), Scherben,<br />

Blatt vor <strong>de</strong>m Mund (Christiane Grosz). Andreas Reimann, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n achtziger Jahren faktisch Publikationsverbot<br />

hatte und s<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Texten für Lie<strong>de</strong>rmacher und Rockgruppen über Wasser hielt, brachte


dieses Lebensgefühl in einem Sonett auf <strong>de</strong>n Punkt, das sein Entstehungsdatum n<strong>ich</strong>t beiläufig als Titel<br />

ausweist:<br />

September 89<br />

Ist sommer auch von hinnen: am gemäuer<br />

erblauen wie vertraut die sanften trauben.<br />

Und mürbes laub - erstaunl<strong>ich</strong>! - färbt s<strong>ich</strong> feuer:<br />

verfall glänzt so, daß wir an ihn n<strong>ich</strong>t glauben.<br />

Doch kann <strong>de</strong>r baum <strong>de</strong>n apfel n<strong>ich</strong>t mehr halten.<br />

Und reife ist gle<strong>ich</strong> trennung. Ach, wie kam es,<br />

daß wir uns so in ein geäst verkrallten?:<br />

in <strong>allen</strong> fruchten ist was wan<strong>de</strong>rsames.<br />

Und wenn wir uns versprechen, hierzubleiben,<br />

so überre<strong>de</strong>n wir uns nur dazu,<br />

und sind doch längst aus unsrem planquadrat.<br />

So seh <strong>ich</strong> d<strong>ich</strong> zur zeit <strong>de</strong>r reifen eiben<br />

in rangsdorf wie<strong>de</strong>r: eine stun<strong>de</strong> ruh.<br />

In rangsdorf, freundin. N<strong>ich</strong>t in diesem staat. (11)<br />

Das Reimannsche Sonett vereint poetisch kongenial Indizes generationscharakteristischer Ineinan<strong>de</strong>rblendungen<br />

in einer einmaligen historischen Situation: In <strong>de</strong>r Diktion an Rilkes „Herbsttag“ angelehnt,<br />

situiert das Ged<strong>ich</strong>t über Naturbil<strong>de</strong>r gänzl<strong>ich</strong> unaufgeregt die innere Loslösung vom Staatswesen DDR<br />

als Klimax. Es sind Stufen <strong>de</strong>r Ent-Täuschung: „verfall glänzt so, daß wir an ihn n<strong>ich</strong>t glauben“ - „Ach,<br />

wie kam es, I daß wir uns so in ein geäst verkrallten?“ - „und sind doch längst aus unsrem planquadrat“<br />

- „In rangsdorf, freundin. N<strong>ich</strong>t in diesem staat.“<br />

Am En<strong>de</strong> sieht s<strong>ich</strong> <strong>de</strong>r lyrische Sprecher auf seine un<strong>mit</strong>telbare Erfahrung - „In rangsdorf, freundin“ -<br />

zurückverwiesen jenseits jedwe<strong>de</strong>r Bindung an einen Staat. Gegen die doch auch introspektiv gefärbte<br />

Klimax setzt er allerdings die Wie<strong>de</strong>rkehr <strong>de</strong>s Gle<strong>ich</strong>en im Naturkreislauf („am gemäuer I erblauen wie<br />

vertraut die sanften trauben“) und unterstützt <strong>mit</strong> semantischen („vertraut“, „sanften“) und onomatopoetischen<br />

Mitteln (Häufung <strong>de</strong>s Diphthongs ,au‘) eine solche Wi<strong>de</strong>rsetzung. So erhält das Ged<strong>ich</strong>t eine<br />

eigentürnl<strong>ich</strong>e Balance, die n<strong>ich</strong>t im Schiller'schen Sinne sentimentalisch wie in <strong>de</strong>n Herbst-89-Ged<strong>ich</strong>ten<br />

von Volker Braun und n<strong>ich</strong>t expressionistisch gefärbt wie in Vorwen<strong>de</strong>- und Wen<strong>de</strong>-Ged<strong>ich</strong>ten von<br />

Autorinnen und Autoren <strong>de</strong>r nächst jüngeren Generation wie etwa Mario Persch (12) daherkommt, son<strong>de</strong>rn<br />

artistisch durch und durch. Artistik, nüchterne Rück<strong>bin</strong>dung an Alltagsrealität und I<strong>de</strong>ologieabweis<br />

sind die Kurzchiffren, auf die die Lyrikergeneration <strong>de</strong>r 46-er zu vereidigen wäre, wenn es einen solchen<br />

Eid <strong>de</strong>nn je gegeben hätte.<br />

Andreas Reimann hat diesem fiktiven Eid in <strong>de</strong>n Wen<strong>de</strong>wirren treu bleiben können, nur färbt s<strong>ich</strong> jetzt<br />

mehr <strong>de</strong>nn je das Burleske ins Groteske, melancholische Ironie in Sarkasmus. „N<strong>ich</strong>t <strong>ich</strong> <strong>bin</strong>, meine<br />

zwei län<strong>de</strong>r / sind heimatlos“ (13), beschei<strong>de</strong>t er kühl seine Ankunft in <strong>de</strong>r „Schöne(n) neue(n) welt“<br />

(14). In <strong>de</strong>r er hells<strong>ich</strong>tig <strong>de</strong>n „saurier prolet“ beäugt, „<strong>de</strong>r aussterben geht“ (15)".<br />

Eine solche Distanznahme stand n<strong>ich</strong>t je<strong>de</strong>m D<strong>ich</strong>ter zu Gebote. Die „Wen<strong>de</strong>“-Erfahrungen, die sie im<br />

Alter jenseits <strong>de</strong>r Vierzig ereilten, zogen tiefgreifen<strong>de</strong> Veruns<strong>ich</strong>erungen nach s<strong>ich</strong>, <strong>de</strong>nn die rasanten<br />

Verwerfungen aller näheren und ferneren Lebensumstän<strong>de</strong> machten grundsätzl<strong>ich</strong>e Neuorientierungen<br />

notwendig, in <strong>de</strong>r Bewältigung <strong>de</strong>s Alltags ebenso wie in <strong>de</strong>r politischen Sphäre. Dies betraf selbstre-<br />

______________________<br />

(11) Reimann, Andreas: September 89. In: Reimann, Andreas: Zwischen <strong>de</strong>n Untergängen. Gesammelte Ged<strong>ich</strong>te. Leipzig<br />

2004, S. 8.<br />

(12) Vgl. Persch, Mario: Der Stand <strong>de</strong>r Dinge. In: <strong>Geist</strong>, <strong>Peter</strong> (Hg.): Ein Molotow-Cocktail auf frem<strong>de</strong>r Bettkante. Leipzig<br />

1991, S. 73f.<br />

(13) Reimann, Andreas: Schöne neue welt. In: Reimann, Andreas: Zwischen <strong>de</strong>n Untergängen, a.a.O., S. 14.<br />

(14) Ebenda, S, 13.<br />

(15) Reimann, Andreas: Immer noch, ewigl<strong>ich</strong>. In: Reimann, Andreas: Zwischen <strong>de</strong>n Untergängen, a.a.O., S. 16.


<strong>de</strong>nd so zieml<strong>ich</strong> alle DDR-Bürger, für die 46er Lyriker traten nun allerdings sehr spezifische Schwierigkeiten<br />

hinzu: Un<strong>mit</strong>telbar nach <strong>de</strong>r Währungsunion begannen die Noch-DDR-Verlage, <strong>allen</strong> voran<br />

<strong>de</strong>r „Aufbau“-Verlag, s<strong>ich</strong> in Win<strong>de</strong>seile von <strong>allen</strong> für das Geschäft "unrentablen" Lyrikerinnen und<br />

Lyrikern zu trennen. Bis auf Thomas Rosenlöcher, <strong>de</strong>r <strong>mit</strong> seinem „Wen<strong>de</strong>“- Tagebuch Die verkauften<br />

Pflastersteine' (16) Aufnahme bei „Suhrkamp“ fand und danach auch <strong>mit</strong> Ged<strong>ich</strong>tbän<strong>de</strong>n dortselbst<br />

veröffentl<strong>ich</strong>en konnte, stan<strong>de</strong>n alle hier zur Diskussion stehen<strong>de</strong>n Autoren <strong>bin</strong>nen kurzer Zeit ohne<br />

Verlag da. Es nimmt <strong>de</strong>shalb n<strong>ich</strong>t wun<strong>de</strong>r, wenn in lyrischen Zeitreflexionen eher gedämpfte Töne<br />

Dominanz erhielten. Auch und gera<strong>de</strong> in jenen Ged<strong>ich</strong>ten, die lyrische Nachrufe darstellten auf jenen<br />

Staat, in <strong>de</strong>m sie aufwuchsen, wie hier bei Jürgen Rennert:<br />

"Mein Land ist mir zerf<strong>allen</strong>.<br />

Sein' Macht ist abgetan.<br />

Ich hebe, gegen <strong>allen</strong><br />

Verstand, zu klagen an.<br />

Mein Land ist mir gewesen,<br />

Was <strong>ich</strong> trotz seiner <strong>bin</strong>:<br />

Ein welterfahrnes Wesen,<br />

Mit einem Spalt darin.<br />

Mein Land hat m<strong>ich</strong> verzogen,<br />

Und gehe doch n<strong>ich</strong>t krumm.<br />

Und hat m<strong>ich</strong> was belogen,<br />

Und <strong>bin</strong> doch gar n<strong>ich</strong>t dumm.<br />

Mein Land hat m<strong>ich</strong> <strong>mit</strong> Wi<strong>de</strong>r-<br />

Willn an die Brust gepreßt.<br />

Und kam am En<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>r<br />

Mit mir, <strong>de</strong>r es n<strong>ich</strong>t läßt.<br />

Mein Land trägt meine Züge,<br />

Die Züge tragen m<strong>ich</strong>.<br />

Ich <strong>bin</strong> die große Lüge<br />

Des Lan<strong>de</strong>s. (Wir meint: <strong>ich</strong>.)“ (17)<br />

(14. Januar 1990)<br />

Jürgen Rennert, <strong>de</strong>ssen Lyrik bis dato eher eine geschliffene Metaphorik in Huchels und kryptische<br />

Daseinssiglen in Bennscher Tradition präferierte, wählt hier eine dreihebigjambische Volkslied-Folie,<br />

schließt bewusst an jene bis zu Brecht führen<strong>de</strong> Tradition <strong>de</strong>s „Profanen“ an. Das anaphorische „Mein<br />

Land“, das je<strong>de</strong> Strophe eröffnet, ist insofern genauerer Aufmerksamkeit wert, als es s<strong>ich</strong> doch auch<br />

durch das ebenso einsilbige Wort „Staat“ ersetzen ließe. Hat er aber n<strong>ich</strong>t ins Werk gesetzt. In einer<br />

historischen Situation, in <strong>de</strong>r s<strong>ich</strong> DDR-Selbstbewusstsein auflöste zugunsten eines „Deutschland - ei<br />

nig Vaterland“, setzt er trotzig „Mein Land“ an <strong>de</strong>n Beginn je<strong>de</strong>r Strophe. Mehr noch, durch <strong>de</strong>n zweifachen<br />

Rückbezug auf <strong>de</strong>n lyrischen Sprecher („Mein“; „mir“) wird ausdrückl<strong>ich</strong> die eigene Betroffenheit<br />

akzentuiert. Da diese enge Beziehung in je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r fünf Strophen im Eingangsvers wie<strong>de</strong>rholt wird,<br />

ergibt s<strong>ich</strong> ein d<strong>ich</strong>tes semantisches Geflecht, das durch Kreuzreim und Enjambement zusätzl<strong>ich</strong> verstärkt<br />

wird. Die „Ich“-„Land“-Konstellation wird als Dialektik von Anziehung und Abstoßung, als<br />

Kampf und Einheit von Wi<strong>de</strong>rsprüchen ausgewiesen. Wer<strong>de</strong>n bis Strophe vier die Gegensätze betont,<br />

hebt die Schlussstrophe die eigene Geprägtheit durch das zerf<strong>allen</strong>e Land hervor, in ihr übernimmt <strong>de</strong>r<br />

Sprecher Verantwortung auch:für das Zerf<strong>allen</strong>: „Mein Land trägt meine Züge, / Die Züge tragen m<strong>ich</strong>.“<br />

______________________<br />

(16) Rosenlöcher, Thomas: Die verkauften Pflastersteine. Frankfurt a.M. 1990.<br />

(17) Rennert, Jürgen: Mein Land ist mir zerf<strong>allen</strong>. In: Conrady, KarlOtto (Hg.): Von einem Land und vom an<strong>de</strong>m. Ged<strong>ich</strong>te zur<br />

<strong>de</strong>utschen Wen<strong>de</strong>. Frankfurt a.M. 1993, S. 34.


An<strong>de</strong>rs übrigens als die Mehrheit <strong>de</strong>r DDR-Bevölkerung, die zieml<strong>ich</strong> unerwachsen glaubte, s<strong>ich</strong> durch<br />

bedingungslose Kapitulation von <strong>de</strong>r Last <strong>de</strong>r vierzig Jahre DDR-Gesch<strong>ich</strong>te befreien zu können - auch<br />

dies s<strong>ich</strong>er ein Produkt obrigkeitsstaatl<strong>ich</strong>er Entmündigung. Rennerts Ged<strong>ich</strong>t führt nun vor, dass diese<br />

Persönl<strong>ich</strong>keits<strong>de</strong>pravierungen keine Zwangsläufigkeiten waren, dass entgegen <strong>de</strong>m Staatswillen das<br />

„Training <strong>de</strong>s aufrechten Gangs“ (18) sehr wohl mögl<strong>ich</strong> war. Das Ich <strong>de</strong>s Ged<strong>ich</strong>tes rüstet s<strong>ich</strong>, aufrecht<br />

und selbstbewusst in eine ungewisse Zukunft zu gehen.<br />

Neun Monate später, am 30. September 1990, schreibt Rennert ein Komplementärged<strong>ich</strong>t - wie<strong>de</strong>r ist es<br />

ein fünfstrophiges „Lied“ <strong>mit</strong> Kreuzreim und jambischen <strong>Dr</strong>eihebern:<br />

"Lied vom fröhl<strong>ich</strong>en Inzest<br />

Die starken Brü<strong>de</strong>r wissen,<br />

Was ihrer Schwester frommt.<br />

Sie wird erst aufgerissen,<br />

Bevor sie unter kommt.<br />

Sie wird erhoben wer<strong>de</strong>n,<br />

Wenn sie s<strong>ich</strong> f<strong>allen</strong>läßt<br />

Und aufuört zu gebär<strong>de</strong>n<br />

Als Deutschlands <strong>Dr</strong>eister Rest.<br />

Hat alles abzulegen,<br />

Vom Stirnband bis zum Schuh.<br />

Der Mantel <strong>de</strong>r Gesch<strong>ich</strong>te<br />

Deckt ihre Blöße zu<br />

Und auf: Die schwache Schwester<br />

Ist aus <strong>de</strong>mselben Holz.<br />

Auf andre Art gehobelt,<br />

Auf gle<strong>ich</strong>e Art dumm stolz,<br />

Auf gle<strong>ich</strong>e Art verdrängend,<br />

Auf andre Art verdrängt ...<br />

Es ist ein Schnee gef<strong>allen</strong>,<br />

Der in <strong>de</strong>n Lüften hängt.<br />

(30. September 1990) (19)<br />

Hintergrund <strong>de</strong>s Ged<strong>ich</strong>tes ist die Tatsache, dass in <strong>allen</strong> allegorischen Karikaturen zur <strong>de</strong>utsch<strong>de</strong>utschen<br />

Schnellkopulation 1990 potenter West-Mann ältl<strong>ich</strong>e Ost-Jungfer aufs Kreuz legt, wobei die<br />

Repräsentanten bei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utscher Staaten, Kohl und <strong>de</strong> Maiziere, die Steilvorlagen für wenig phantasievolle,<br />

dafür aber ressentimentgela<strong>de</strong>ne Ze<strong>ich</strong>ner liefern. Die Symbolkraft <strong>de</strong>s Bil<strong>de</strong>s ist schwerl<strong>ich</strong> zu<br />

bestreiten. Rennert spitzt es auf einen inzestuösen Vergewaltigungsakt zu, <strong>de</strong>r Tabubruch, Gewalt, Demütigung,<br />

Erniedrigung impliziert. Nach allem, was zwanzig Jahre später über die Einzelheiten <strong>de</strong>s<br />

Vereinigungsprozesses bekannt gewor<strong>de</strong>n ist, <strong>mit</strong>hin zutreffen<strong>de</strong> Zuschreibungen, die aber 1990 als<br />

euphorieverhageln<strong>de</strong> Provokation wirken mussten. Doch „Deutschlands <strong>Dr</strong>eister Rest“ - spr<strong>ich</strong> DDR -<br />

ist <strong>mit</strong>n<strong>ich</strong>ten nur Antipo<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn Teil <strong>de</strong>s Verhängnisses. „aus <strong>de</strong>mselben Holz“ ist die Mehrheit <strong>de</strong>r<br />

Einwohnen<strong>de</strong>n offens<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong> geschnitzt, „Auf gle<strong>ich</strong>e Art verdrängend, Auf andre Art verdrängt ...“.<br />

Jürgen Rennerts zwischen Melancholie und Sarkasmus pen<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> Einre<strong>de</strong>n sind eher eine Ausnahme<br />

insofern, als es <strong>de</strong>n meisten Lyrikern 1990/91 eher die Sprache verschlagen hatte. Symptomatisch hierfür<br />

ist eine Auskunft von R<strong>ich</strong>ard Pietraß:<br />

______________________<br />

(18) Ged<strong>ich</strong>tbandtitel von Volker Braun (Braun, Volker: Training <strong>de</strong>s aufrechten Gangs. Halle-Leipzig 1979).<br />

(19 Rennert, Jürgen: Lied vom fröhl<strong>ich</strong>en Inzest. In Jürgen Rennert: Verlorene Züge. Ged<strong>ich</strong>te. München 2001, S. 28.


„<strong>Dr</strong>ei Jahre hatte <strong>ich</strong> Ged<strong>ich</strong>te geschwiegen: ohne es zu merken, das ganze Jahr 1989, das ganze 1990 und 1991. Als Freiberufler<br />

war <strong>ich</strong> weit vom Schuß, am Scharfseh- aber Schonrand, konnte <strong>ich</strong> m<strong>ich</strong> le<strong>ich</strong>t arbeits- und antwortlos in die Büsche schlagen.<br />

Daß es mir wie<strong>de</strong>rkam, das Meine zu sagen, danke <strong>ich</strong> zunehmen<strong>de</strong>r Trauer jenseits glückl<strong>ich</strong> gef<strong>allen</strong>er Mauer. Sie<br />

brachte das Seelenfaß zum Überlaufen. Mehr will <strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t sagen zum mir gemäßen Ort, meiner n<strong>ich</strong>t aufgebbaren Randlage.“<br />

(20)<br />

1992 aber mel<strong>de</strong>te s<strong>ich</strong> <strong>de</strong>r Lyriker R<strong>ich</strong>ard Pietraß wie<strong>de</strong>r zu Wort, u.a. <strong>mit</strong> <strong>de</strong>m Ged<strong>ich</strong>t „Randlage“,<br />

das <strong>mit</strong> <strong>de</strong>n Versen en<strong>de</strong>t:<br />

,,( ...)<br />

Die Bauern motten<br />

Pflüge ein.<br />

Dem Schafstall<br />

Blüht ein Quellewun<strong>de</strong>r.<br />

Wohin <strong>ich</strong> Habn<strong>ich</strong>t sehe<br />

Sieht m<strong>ich</strong> das En<strong>de</strong> an.<br />

Ich stehe und verstehe.<br />

Wen<strong>de</strong> s<strong>ich</strong>, wer kann." (21)<br />

(1992)<br />

Mehr konsterniert <strong>de</strong>nn interessiert registriert <strong>de</strong>r lyrische Sprecher die Inbesitznahme ehemaligen Gemeineigentums<br />

durch die neuen Herren. Was er von ihrem Tun hält, hat er zuvor in allegorischen Bil<strong>de</strong>rn<br />

- „Ellenbogen / Vermessen das Land“; „Zins- und Pfer<strong>de</strong>fuß / Gehen zur Hand“ (22) beschie<strong>de</strong>n.<br />

Welches „En<strong>de</strong>“ aber meint <strong>de</strong>r „Habn<strong>ich</strong>t“ in seiner „Randlage“? Das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r DDR? Der Hoffnungen?<br />

Der Welt? Dabei ist zu be<strong>de</strong>nken, dass das Ged<strong>ich</strong>t eine Verweiskette von Kryptozitaten durchzieht.<br />

Hatte Kanzler Kohl n<strong>ich</strong>t gera<strong>de</strong> für die „neuen Län<strong>de</strong>r“ „blühen<strong>de</strong> Landschaften“ („Blüht ein<br />

Quellewun<strong>de</strong>r“) prophezeit und Francis Fukuyama „das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Gesch<strong>ich</strong>te“ („Sieht m<strong>ich</strong> das En<strong>de</strong><br />

an“)? Hatte n<strong>ich</strong>t Pietraß selbst schon in "Spielball" 1988 in mehreren Ged<strong>ich</strong>ten das Szenario globaler<br />

Zerstörung durch ökologische o<strong>de</strong>r atomare Katastrophen beschworen? Auflösen lässt s<strong>ich</strong> die Emblematik<br />

<strong>de</strong>s „En<strong>de</strong>s“ n<strong>ich</strong>t, aber diese Hinweise lassen die Deutung zu, dass sie über das DDR-En<strong>de</strong> hinausweist,<br />

das dann als Menetekel für weitere zu erwarten<strong>de</strong> zivilisatorische Zusammenbrüche stün<strong>de</strong>.<br />

Dem <strong>mit</strong>n<strong>ich</strong>ten morbi<strong>de</strong>r Lust am Verfall zugetanen D<strong>ich</strong>ter bleibt in dieser missl<strong>ich</strong>en Situation vor<br />

allem <strong>de</strong>r Selbstzuspruch <strong>mit</strong>tels „Honigrute“ (23) („Gebier die Liebe aus wiehern<strong>de</strong>m Haß / In Honig<br />

ertränke <strong>de</strong>n schlechten Spaß“ (24) und Haltsuche in vertrauten festen Formen, wie die Ged<strong>ich</strong>te aus<br />

<strong>de</strong>n Jahren 1992 bis 1996 belegen. Eine <strong>de</strong>r Stoa verbun<strong>de</strong>ne Haltung, die <strong>allen</strong>thalben auch in Ged<strong>ich</strong>tbän<strong>de</strong>n<br />

etwa von Wilhelm Bartsch, Andreas Reimann o<strong>de</strong>r Thomas Rosenlöcher begegnet. Die Lyrik<br />

<strong>de</strong>s H<strong>allen</strong>ser Enzyklopä<strong>de</strong>n und Weltenwan<strong>de</strong>rers Wilhelm Bartsch ze<strong>ich</strong>net s<strong>ich</strong> vorzugsweise durch<br />

unver<strong>mit</strong>telte Übergänge philosophisch-gesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>er Anspielungen zu plebejisch-<strong>de</strong>rbem Sarkasmus<br />

aus, egal, ob sie akribisch die historienbela<strong>de</strong>ne anhaltinische Landschaft erkun<strong>de</strong>t, das „Ginnungagap“<br />

<strong>de</strong>r „Edda“ o<strong>de</strong>r „Die Mauern von Damaskus“ (25). In <strong>de</strong>m Ged<strong>ich</strong>t „M<strong>ich</strong>els Blitzregeln“ nimmt er<br />

s<strong>ich</strong> Anfang <strong>de</strong>r neunziger Jahre auf bösfröhl<strong>ich</strong>e Weise <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utsch-<strong>de</strong>utschen Vereinigungsthemas an:<br />

,,(...)<br />

Dann trau nie <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschen E<strong>ich</strong>en<br />

Auch ein Stammbaum ist n<strong>ich</strong>t gut<br />

selbst die Fahnenstange<br />

Jüngst ein Blitz hat ganz zerknallt<br />

______________________<br />

<strong>de</strong>nn sie warten auf Blitzle<strong>ich</strong>en!<br />

wenn es ringsum blitzen tut,<br />

fackelt n<strong>ich</strong>t lange<br />

<strong>de</strong>n inner<strong>de</strong>utschen<br />

Schlagbaumwald<br />

(20) Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Die wie<strong>de</strong>rgefun<strong>de</strong>ne Stimme. In: Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Kippfigur. Ein Kiebitzbuch über die Schulter von<br />

R<strong>ich</strong>ard Pietraß geschaut. Berlin 2009, S. 65.<br />

(21) Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Randlage. In: Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Schattenwirtschaft. Leipzig 2002, S. 29.<br />

(22) Ebenda.<br />

(23) Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Honigrute. In: Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Schattenwirtschaft. A.a.O., S. 34.<br />

(24) Ebenda, S. 35.<br />

(25) Bartseh, Wilhelm: Die Mauern von Damaskus. In: Bartseh, Wilhelm: Gen Ginnungagap. Halle 1994, S. 52.


Hier ein M<strong>ich</strong>el<br />

Mit Gest<strong>ich</strong>el<br />

Hier gespalten<br />

Ganz <strong>de</strong>r Alte<br />

Zwillinge,<br />

Manchmal reimt s<strong>ich</strong> was zusammen ... ” (26)<br />

da ein M<strong>ich</strong>el<br />

Hammer / S<strong>ich</strong>el<br />

da erleuchtet<br />

bierbefeuchtet.<br />

die s<strong>ich</strong> verdammen.<br />

Dass <strong>de</strong>r letzte Vers die gegenüberstehen<strong>de</strong>n Versblöcke überbrückt, ist mehr als eine figurale Pointe.<br />

Trotz <strong>de</strong>r ironischen Konnotation („s<strong>ich</strong> was zusammenreimen“) meint es Bartsch <strong>mit</strong> <strong>de</strong>r brückenschlagen<strong>de</strong>n<br />

Mögl<strong>ich</strong>keit <strong>de</strong>r Poesie durchaus ernst. Mit einer an Mickel und Leising angelehnten heiteren<br />

Souveränität vermag er auch ambivalente Gesch<strong>ich</strong>tsfel<strong>de</strong>r überzeugend ins poetische Visier zu<br />

nehmen, so etwa im Anges<strong>ich</strong>t <strong>de</strong>s Kyffhäuser Barbarossa-Denkmals:<br />

,,( ...)<br />

Niemand kommt zu sehen<br />

Die <strong>de</strong>utschen Kaiser jetzt! Aus wieviel Lüge<br />

Konnte je ein Land zu so viel Wahrheit<br />

S<strong>ich</strong> verhärten, o Deutschland, d<strong>ich</strong> zu lieben<br />

War und ist und heißt Abtrünnigkeit. …“ (27)<br />

Das Verhältnis <strong>de</strong>s Sprechers zum Deutschland <strong>de</strong>r frühen neunziger Jahre ist verbun<strong>de</strong>n <strong>mit</strong> Haltungen<br />

(„Abtrünnigkeit“) und politisch-moralischen Fragen („Lüge“ / „Wahrheit“). Weil Verschweigen und<br />

Lügen zu <strong>de</strong>n Standards <strong>de</strong>r DDR-Propaganda-Medien gehörten, tragen viele DDR-Schriftsteller das<br />

ernste moralische Amt <strong>de</strong>r Wahrheitssuche in die Nach-„Wen<strong>de</strong>“-Zeit, auch wenn s<strong>ich</strong> die Adressaten<br />

<strong>de</strong>r Suche nun vervielfältigt haben. Eine postmo<strong>de</strong>rne Entlastung zugunsten Spieltrieb, Artistik und<br />

ästhetischer Selbstreferentialität können und wollen sie n<strong>ich</strong>t annehmen. Beze<strong>ich</strong>nen<strong>de</strong>rweise koppelt<br />

auch ein Ged<strong>ich</strong>t Thomas Rosenlöchers aus dieser Zeit DDR-Abriss und die Antinomie Wahrheit - Lüge.<br />

Das Ged<strong>ich</strong>t „Die Giftfabrik“ en<strong>de</strong>t <strong>mit</strong> <strong>de</strong>n Zeilen:<br />

„(...)<br />

Abriß steht hier wie allem bevor.<br />

Doch blinkert da oben noch einmal <strong>de</strong>r Stern<br />

tief unten im Wasser samt Fenster und Schlot,<br />

Als wür<strong>de</strong> in eisiger Klarheit die Lüge<br />

zur Wahrheit, zur Schönheit das Gift. -<br />

Im Kreml brennt noch L<strong>ich</strong>t.“ (28)<br />

Wenn bei Bartsch heiterer Ingrimm die Tonlage vieler Ged<strong>ich</strong>te bestimmt, so bei Rosenlöcher <strong>de</strong>r Umschlag<br />

traditioneller, oft romantischer Bildfindungen in die Groteske. In „Die Giftfabrik“ nimmt <strong>de</strong>r<br />

„Stern“ über eine Toposkette „Lenin“ - „Kommunistengespenst“ - „Auf zum letzten Gefecht“ - „Kreml“<br />

zusätzl<strong>ich</strong> die Symbolbe<strong>de</strong>utung „roter Stern“ in s<strong>ich</strong> auf. Die Szenerie allerdings ist gespenstisch, sie<strong>de</strong>lt<br />

sie doch in einer abrissbereiten Fabrik. In <strong>de</strong>r Erinnerung <strong>de</strong>s Sprechers gab es in ihr einen einzigen<br />

Arbeiter <strong>mit</strong> märchenhaften Attributen („Einarmig, ein Riese, <strong>mit</strong> langem Bart“), überdies auch noch<br />

„Lenin genannt“ (29). Schon vor 1989 erschienen I<strong>de</strong>ale zur Lüge <strong>de</strong>praviert, I<strong>de</strong>ologeme ihrer Sinnhaftigkeit<br />

beraubt und ins Unheiml<strong>ich</strong>-Groteske gerutscht. Der Konjunktiv <strong>de</strong>utet einen Moment <strong>de</strong>r Sehnsucht<br />

nach Selbsttäuschung an, nach 1990 nunmehr „in eisiger Klarheit“. Doch wie wird er gerahmt:<br />

„<strong>de</strong>r Stern“ blinkt n<strong>ich</strong>t, er „blinkert“, und die das Ged<strong>ich</strong>t eröffnen<strong>de</strong> wie schließen<strong>de</strong> Er<strong>ich</strong>-Weinert-<br />

______________________<br />

(26) Bartseh, Wilhelm: M<strong>ich</strong>els Blitzregeln. In: Bartseh, Wilhelm: Gen Ginnungagap, a.a.O., S. 58.<br />

(27) Bartseh, Wilhelm: Das Denkmal auf <strong>de</strong>r Re<strong>ich</strong>sburg Kyffuausen. In: Bartseh, Wilhelm: Gen Ginnungagap, a.a.O., S. 7.<br />

(28) Rosenlöcher, Thomas: Die Giftfabrik. In: Rosenlöcher, Thomas: Die <strong>Dr</strong>esdner Kunstausübung. Frankfurt a.M.<br />

1996, S. 23.<br />

(29) Ebenda, S. 22.


Zeile Stalin zu ehren (30) wur<strong>de</strong> schon in <strong>de</strong>n letzten Dezennien <strong>de</strong>r DDR ausschließl<strong>ich</strong> ironisch verwen<strong>de</strong>t.<br />

Wehmütig fällt <strong>de</strong>r Blick zurück beileibe n<strong>ich</strong>t aus. In an<strong>de</strong>ren Ged<strong>ich</strong>ten offenbart <strong>de</strong>r Sprecher<br />

an<strong>de</strong>rerseits erhebl<strong>ich</strong>e Irritationen im nunmehr einigen Deutschland. Er sieht s<strong>ich</strong> als „Irrfahrer“<br />

(31), als „Ostbarbar“ (32) <strong>mit</strong> „Russenmütze“ (33). Rosenlöcher zelebriert beson<strong>de</strong>rs in etl<strong>ich</strong>en Ged<strong>ich</strong>tschlüssen<br />

Abgesänge und Untergangsängste: „Abschied vom Prinzipiellen / heißt auch nur Gute<br />

Nacht“ (34); „Was aber untergeht, scheint zukunftsgewandt“ (35); „Groß meine Mühe, wür<strong>de</strong>voll zu<br />

fliehn. / In johlen<strong>de</strong> Jahrtausendfinsternisse. / Da paßte das Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>mit</strong> hinein.“ (36); „Engel hab<br />

<strong>ich</strong> mir abgewöhnt“ (37). Gera<strong>de</strong> letztere Sentenz dünkt gera<strong>de</strong>zu bitter, war es doch Rosenlöcher, <strong>de</strong>r<br />

<strong>mit</strong> seinen Engel-Ged<strong>ich</strong>ten Rilkes Vorgaben traumwandlerisch am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts aufzunehmen<br />

verstand.<br />

Ziehen wir ein Zwischenfazit: In <strong>de</strong>n zwischen 1990 und Mitte <strong>de</strong>r neunziger Jahre entstan<strong>de</strong>nen Ged<strong>ich</strong>ten<br />

zur Deutschland-Problematik aus <strong>de</strong>n Reihen <strong>de</strong>r 46er dominieren Befindungen <strong>de</strong>r Heimatlosigkeit,<br />

Verstörung, <strong>de</strong>r tiefen Skepsis bis zu Kundgaben endgültigen Hoffnungsverlustes auf eine Humanisierung<br />

<strong>de</strong>r Gesellschaft - ohne allerdings das Ancien Regime nachträgl<strong>ich</strong> aufzuwerten. Die zivilisationskritische<br />

Verve gegen die „Megamaschine“ (Lewis Mumfort), die <strong>de</strong>n Menschen einer zerstörerischen<br />

Fortschrittsi<strong>de</strong>ologie unterwirft, wird <strong>mit</strong> <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>s Ostblocks modifiziert und<br />

eher geschärft in die Reflexion <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-<strong>de</strong>utschen Zusammenwucherung einbezogen. Umbauten an<br />

ihren inhärenten Poetiken nehmen die Lyrikerinnen und Lyriker n<strong>ich</strong>t vor, eher wer<strong>de</strong>n zuvor entwickelte<br />

Schreibweisen verfeinert, da diese zu <strong>de</strong>n wenigen verbliebenen S<strong>ich</strong>erheiten zählen. Und doch gilt<br />

auch das bange Fragen nach <strong>de</strong>n Perspektiven <strong>de</strong>r Lyrik, wie es etwa Christiane Grosz am 4.3.1990<br />

kundgibt: „worauf wird es ankommen / im ged<strong>ich</strong>t / ( ... ) / kommt es auf <strong>de</strong>n flügeln einer taube I o<strong>de</strong>r<br />

auf einer eisscholle I (...)“ (38)<br />

Ten Years after - Deutschland-Reflexionen seit <strong>de</strong>n späten neunziger Jahren<br />

Wir unternehmen einen Zeitsprung an das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r neunziger Jahre und ins neue Jahrhun<strong>de</strong>rt, um erfassen<br />

zu können, ob, und wenn ja, Deutschland-Bil<strong>de</strong>r im Ged<strong>ich</strong>t modifiziert o<strong>de</strong>r gar revidiert wer<strong>de</strong>n,<br />

s<strong>ich</strong> Haltungen und Schreibweisen verän<strong>de</strong>rt haben. Die Zeit <strong>de</strong>s großen Umbruchs ist vorbei, man hat<br />

lernen müssen, <strong>mit</strong> <strong>de</strong>n neuen Verhältnissen zurechtzukommen, man ist auch in <strong>de</strong>r Welt herumgereist.<br />

Nach <strong>de</strong>m Zusammenbruch <strong>de</strong>s Ostblocks erfolgt in <strong>de</strong>n neunziger Jahren allmähl<strong>ich</strong> <strong>de</strong>r Gesellschaftsumbau<br />

West - unter so positiv wie harmlos klingen<strong>de</strong>n Zuschreibungen wie Risiko-, Informations- o<strong>de</strong>r<br />

Wissensgesellschaft wer<strong>de</strong>n unter neoliberalen Maßgaben alle Daseinsbere<strong>ich</strong>e durchökonomisiert. Die<br />

Folgen <strong>de</strong>r faktischen Machtübernahme <strong>de</strong>s Finanzkapitals über Politik und Gesellschaft wer<strong>de</strong>n zu<br />

Beginn <strong>de</strong>s 21. Jahrhun<strong>de</strong>rts in die Lebensperspektiven je<strong>de</strong>s einzelnen eingreifen, aber dies ist En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

neunziger Jahre <strong>allen</strong>falls ahnbar. Immerhin hatten die 46er bereits hinre<strong>ich</strong>end Erfahrungen <strong>mit</strong> jähen<br />

Umbrüchen gesammelt und wussten die Vorze<strong>ich</strong>en zu <strong>de</strong>uten:<br />

______________________<br />

(30) Das Weinert-Ged<strong>ich</strong>t aus <strong>de</strong>m Jahre 1940 en<strong>de</strong>t: "Spät leg <strong>ich</strong> meine Fe<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Hand, / als schon die Dämmerung aus<br />

<strong>de</strong>n Wolken br<strong>ich</strong>t. / <strong>ich</strong> schau zum Kreml. Ruhig schläft das Land. / Sein Herz bleibt wach. Im Kreml ist noch L<strong>ich</strong>t." Vgl.:<br />

Weinert, Er<strong>ich</strong>: Gesammelte Ged<strong>ich</strong>te, Bd. 5, Berlin und Weimar 1975, S. 473.<br />

(31) Rosenlöcher, Thomas: Irrfahrer. In Rosenlöcher, Thomas: Die <strong>Dr</strong>esdner Kunstausübung. A.a.O., S. 62.<br />

(32) Rosenlöcher, Thomas: Ostbarbar. In: Ebenda, S. 69.<br />

(33) Rosenlöcher, Thomas: Die Flaschenpost. In: Ebenda, S. 91.<br />

(34) Rosenlöcher, Thomas: Abschied vom Prinzipiellen. In: Rosenlöcher, Thomas: Die <strong>Dr</strong>esdner Kunstausübung. A.a.O., S.<br />

63.<br />

(35) Rosenlöcher, Thomas: Auf einen Lastkraftwagen. In: Ebenda, S. 67.<br />

(36) Rosenlöcher, Thomas: Ostbarbar. In: Ebenda, S. 70.<br />

(37) Rosenlöcher, Thomas: Engelsbalance. In: Ebenda, S. 66.<br />

(38) Grosz, Christiane: worauf wird es ankommen. In: Grosz, Christiane: Die asoziale Taube. Berlin und Weimar 1991, S. 60.


"Wen<strong>de</strong><br />

Es kamen aber an<strong>de</strong>re Zeiten.<br />

Immer kündigen s<strong>ich</strong><br />

an<strong>de</strong>re Zeiten<br />

<strong>mit</strong> <strong>de</strong>m Weglaufen<br />

ganzer Völkerstämme an,<br />

<strong>mit</strong> <strong>de</strong>m Ausbleiben<br />

unserer Katzen,<br />

verän<strong>de</strong>rten Erdbeerpreisen.<br />

Zu diesen Zeiten<br />

konnten keine weiteren<br />

kommen.<br />

Aber sie kamen<br />

und gingen,<br />

r<strong>ich</strong>tige Kommund<br />

Gezeiten.<br />

Komm, lieber Mai.<br />

lass es sein<br />

wie es sei.“ (39)<br />

An<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>n un<strong>mit</strong>telbar nach <strong>de</strong>r Epochenzäsur geschriebenen Ged<strong>ich</strong>ten wird ein unprätentiösironischer<br />

Gestus avisiert. Schnörkellos greifen Alltagsbeobachtung, gesch<strong>ich</strong>tsträchtige Erinnerungssplitter<br />

und Sprachspiel (etwa statt „Gehzeiten“ - „Gezeiten“) ineinan<strong>de</strong>r. Die „Wen<strong>de</strong>“ kann nun aus<br />

<strong>de</strong>r Distanz gera<strong>de</strong>zu gelassen („lass es sein / wie es sei“) als epochales Fast-Naturschauspiel („Gezeiten.<br />

/ Komm, lieber Mai.“) reflektiert wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Lyrik <strong>de</strong>r Brigitte Struzyk verbün<strong>de</strong>ten s<strong>ich</strong> stets<br />

schon lakonische Deskription und wun<strong>de</strong>rsame Entgrenzung. In einem Ged<strong>ich</strong>t aus Anlass <strong>de</strong>s USA-<br />

Überfalls auf <strong>de</strong>n Irak schlägt diese Ver<strong>bin</strong>dung aber auch mal in fröstelnmachen<strong>de</strong> Groteske aus, wenn<br />

sie <strong>de</strong>n „Beginn <strong>de</strong>s dritten Golfkriegs / am Ran<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Pfälzer Wal<strong>de</strong>s, / hinter <strong>de</strong>m Ramstein liegt“<br />

kurzschließt <strong>mit</strong> <strong>de</strong>m „Kalten Krieg“: „Der rote Zeiger steht auf Zwölf / Treibgut <strong>de</strong>s Kalten Krieges /<br />

erwärmt, erhitzt s<strong>ich</strong>, / explodiert woan<strong>de</strong>rs“ (40). Hier wie auch in an<strong>de</strong>ren Ged<strong>ich</strong>ten (41) <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s<br />

wird die <strong>de</strong>utsche Verstrickung in die neuen Weltaufteilungskriege in sprö<strong>de</strong>, <strong>de</strong>shalb umso<br />

bestürzen<strong>de</strong>re Sprechgesten und Bil<strong>de</strong>r eingefangen.<br />

Die ausgeprägte Fähigkeit gera<strong>de</strong> in dieser D<strong>ich</strong>tergeneration, Alltägl<strong>ich</strong>es und Politisches auf kleinstem<br />

Raum zusammenzusehen, zeigt s<strong>ich</strong> in Texten <strong>de</strong>r 1944 geborenen Lyrikerin Christiane Grosz auf spezifische<br />

Weise. In ihre neueren Ged<strong>ich</strong>tbän<strong>de</strong> integriert sie sprachl<strong>ich</strong>e Fundstücke von frem<strong>de</strong>r Hand und<br />

verleiht ihnen, in<strong>de</strong>m sie als Ged<strong>ich</strong>te ausgewiesen wer<strong>de</strong>n, zusätzl<strong>ich</strong>e Poetizität. Als Textfundstück<br />

am „Palast <strong>de</strong>r Republik“ vom 15.3. 1999 ausgewiesen ist folgen<strong>de</strong>s Ged<strong>ich</strong>t: „Am Bauzaun vor <strong>de</strong>m<br />

P.d.R // Ihr billigen dummen <strong>Dr</strong>ecksäue!!! / Wer bezahlt mir meinen finanziellen Scha<strong>de</strong>n? / Job ruiniert<br />

/ Beziehungen versaut!!! / Wohnung verloren!!! / Für Eure billige / dreckige Märchenwelt!!!“ (42). Die<br />

Wutausrufe eines frustrierten Wen<strong>de</strong>-Verlierers wären <strong>de</strong>s Aufhebens n<strong>ich</strong>t wert, wenn sie n<strong>ich</strong>t im<br />

Kontext <strong>de</strong>s „P.d.R“ verortet gewesen wären. Denn in dieser Ver<strong>bin</strong>dung wird <strong>de</strong>m individuellen<br />

Schicksalsschrei eine symbolische Be<strong>de</strong>utung unterlegt. So wie <strong>de</strong>r „Palast <strong>de</strong>r Republik“ aus i<strong>de</strong>ologisch<br />

motivierter DDR-Nachvern<strong>ich</strong>tungshysterie <strong>de</strong>m Abriss anheimgegeben wor<strong>de</strong>n war, stehen diese<br />

Verse nun stellvertretend für abertausen<strong>de</strong> zerstörter Nachwen<strong>de</strong>biographien. Der Text erhält ten<strong>de</strong>nziell<br />

<strong>de</strong>n Charakter einer Zwischenbilanz.<br />

Unter die Überschrift „Zwischenbilanz“ sind n<strong>ich</strong>t wenige Ged<strong>ich</strong>te zu stellen, die Rückblicke auf die<br />

„Wen<strong>de</strong>“-Zeit und die neunziger Jahre versuchen. In „Solch ein Gewimmel“ erinnert Wilhelm Bartsch<br />

<strong>mit</strong> Goethes „Osterspaziergang“ <strong>de</strong>n Mauerfall: „Mit freiem Volk auf Bebras Grund stand <strong>ich</strong> / Novem-<br />

______________________<br />

(39) Struzyk, Brigitte: Wen<strong>de</strong>. In: Struzyk, Brigitte: alles offen. Ged<strong>ich</strong>te. Hamburg 2011, S. 13.<br />

(40) Ebenda.<br />

(41) Vgl."Am Hindukusch", "Dann, danach". In: Ebenda, S. 88 und 94ff..<br />

(42) Grosz, Christiane: Am Bauzaun vor <strong>de</strong>m P.d.R.. In: Grosz, Christiane: Schwarz am Meer. Friedr<strong>ich</strong>shagen 2002, S. 55.


er Neunzehnhun<strong>de</strong>rtneunundachtzig“ (43), beginnt das Ged<strong>ich</strong>t, aber es en<strong>de</strong>t <strong>mit</strong> Dante („Laßt fahren“)<br />

und Goethes Türmerlied („Lynceus“) aus <strong>de</strong>m „Faust II“:<br />

„(...) Deutschlands Zukunft ging<br />

Verschütt hier, sah <strong>ich</strong> bei <strong>de</strong>r großen Fütterung<br />

Der Alten - sie verschwand im Ammenschwarm <strong>de</strong>r<br />

Bahnhofsmission. - Als Letzter stieg <strong>ich</strong> ein.<br />

Laßt fahren! - Lokschuppen viel lieber hätt' <strong>ich</strong><br />

Vor Augen, Lynceus - schließ <strong>de</strong>in Stellwerk ab.<br />

So ging <strong>ich</strong> auf Transport und kam nie wie<strong>de</strong>r.<br />

Wo keines Bleibens länger war, da blieb <strong>ich</strong>.“ (44)<br />

Kein an<strong>de</strong>rer <strong>de</strong>utscher Lyriker hat in <strong>de</strong>n letzten zwanzig Jahren so viele „Reise“-Ged<strong>ich</strong>te übereignet<br />

wie Wilhelm Bartseh, kein an<strong>de</strong>rer auch hat präzise, umfassend und tiefenscharf <strong>de</strong>r Landschaft zwischen<br />

Kyffhäuser und Bitterfeld, Mansfeld und Harz poetische Konturen und ihren Menschen poetische<br />

Stimme verliehen. Der da rückblickend 2011 feststellt: „Ich konnte meine inneren Landkarten alle / nur<br />

wegschmeißen, geschweige die Seekarten, Anfang / <strong>de</strong>r Neunziger.“ (45), sieht s<strong>ich</strong> transzen<strong>de</strong>ntal obdachlos<br />

auf - welch eine Wortschimäre! - „Transport“. Aber längst schon ist er ein Weltenwan<strong>de</strong>rer gewor<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>r Göttl<strong>ich</strong>es und Sardonisches, Chaos und Versordnung, Mythenschwere und schweben<strong>de</strong><br />

Le<strong>ich</strong>tigkeit zu ver<strong>bin</strong><strong>de</strong>n weiß, wie im Ged<strong>ich</strong>t „Kurz vor <strong>de</strong>m Supergaudi“ (!), das <strong>mit</strong> <strong>de</strong>n Versen<br />

en<strong>de</strong>t:<br />

,,( ...)<br />

Ich stand auf Sizilien <strong>ich</strong> sann und <strong>ich</strong> sann<br />

Komm rein! Rief Susanne Das Chaos! Rief <strong>ich</strong><br />

Wie war das in China? Das <strong>mit</strong> <strong>de</strong>m Reis?<br />

Sie sagte leis bauz und komm rein jetzt du Sack<br />

Schlagartig und le<strong>ich</strong>t geht doch alles ganz an<strong>de</strong>rs“ (46)<br />

Man lasse s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t täuschen: Im Wort „Supergaudi“ lauert das Wort „Supergau“, und Wilhelm<br />

Bartsch ist es <strong>mit</strong> diesem gegenwärtigen Weltszenario ernst, gera<strong>de</strong> auch weil er Spezialist ist für die<br />

Schreckensorte <strong>de</strong>r Verdammnis, Läuterung und Erkenntnis von Homer über Dante bis Poe. In einer<br />

konzisen Re<strong>de</strong> auf Wolfgang Hilbig 2005 charakterisiert er die heutige Zeit „als eine Zeit zunehmen<strong>de</strong>r<br />

Infantilität und eines verschlagenen Jugendwahns - bei gle<strong>ich</strong>zeitig allgemeiner und schläul<strong>ich</strong>er Selbstvertrottelung,<br />

ein rasen<strong>de</strong>s Uhrwerk, ein durchgedrehter Kronos, <strong>de</strong>r n<strong>ich</strong>t nur Gäas ge<strong>de</strong>ckte Tafeln<br />

abräumt und verschlingt, son<strong>de</strong>rn auch noch die eigene Nachkommenschaft.“ (47)<br />

„Nach <strong>de</strong>m Krieg“ (48) ist ein Ged<strong>ich</strong>tband von Hans Löffler, „Zwischen <strong>de</strong>n Untergängen“ (49) einer<br />

von Andreas Reimann überschrieben - auch in ihnen fin<strong>de</strong>t man lyrische Dystopien, Löffler entwirft gar<br />

ein postapokalyptisches Szenario. Sie, die <strong>de</strong>n Untergang „<strong>de</strong>r verrotteten staaten“ (50) <strong>mit</strong>erlebten,<br />

sehen neue Untergänge heraufziehen: von Tierarten und <strong>de</strong>r Natur überhaupt (Löffler, Reimann,<br />

Bartsch), <strong>de</strong>r globalisierten Finanzwelt (Bartsch), <strong>de</strong>r Arbeiterklasse (Reimann): ,,(... ) und treten ans<br />

l<strong>ich</strong>t / aus <strong>de</strong>n schon lange entmenschten fabriken und / treiben die hinterbliebnen <strong>de</strong>r fortgeschrittnen<br />

______________________<br />

(43) Bartsch, Wilhelm: Solch ein Gewimmel. In: Bartsch, Wilhelm: Mittel<strong>de</strong>utsche Ged<strong>ich</strong>te. Halle/Saale 2010, S. 33.<br />

(44) Ebenda, S. 34.<br />

(45) Bartsch, Wilhelm: Das Land Vierecken. In: Bartsch, Wilhelm: Die alte Marke Wan<strong>de</strong>rer. Bucha bei Jena 2011, S. 15.<br />

(46) Bartsch, Wilhelm: Kurz vor <strong>de</strong>m Supergaudi. In: Ebenda, S. 59.<br />

(47) Bartsch, Wilhelm: Laudatio auf Wolf gang Hilbig zur Verleihung <strong>de</strong>s Walter-Bauer-Preises 2005. Manuskript.<br />

(48) Löffler, Hans: Nach <strong>de</strong>m Krieg. Ged<strong>ich</strong>te. München 1996.<br />

(49) Reimann, Andreas: Zwischen <strong>de</strong>n Untergängen. Leipzig 2004.<br />

(50) Reimann, Andreas: Untergänge. In: Ebenda, S. 117.


ins / re<strong>ich</strong> <strong>de</strong>s schlußverkaufswahnsinns. Denn wer n<strong>ich</strong>ts besetzt, wird besitzen n<strong>ich</strong>ts“ (51) "zwischen<br />

<strong>de</strong>n untergängen / (... ) noch immer in fahrt“ (52), sieht das sprechen<strong>de</strong> Ich die Zeit nach 1990 sezierend<br />

als „Nie<strong>de</strong>rlage“ (53), be<strong>de</strong>nkt in einem „letzte(n) Rangsdorfer Sonett“ die - St<strong>ich</strong>wort „Rückgabe vor<br />

Entschädigung“ - Neuvertriebenen und die Altvertriebenen: „Hier war ihr, <strong>de</strong>r vertriebenen, geblieben /<br />

ein zufluchtsort. - Nun sind an diesen ort / zurückgekehrt, die man zuvor vertrieben.“ (54) Die für die<br />

Lyrik von Andreas Reimann charakteristische Union von Wahrnehmungswachheit, hohem Kunstbewusstsein<br />

und Wahrheitssinn verhin<strong>de</strong>rt dabei stets Räsonnement und Larmoyanz. Dies gilt ebenso für<br />

das Bilanzged<strong>ich</strong>t „Halbzeit“ von R<strong>ich</strong>ard Pietraß, das an die Yvan-Gollschen Johann-Ohneland-Ged<strong>ich</strong>te<br />

ebenso anknüpft wie an Volker Brauns <strong>„Da</strong>s Eigentum“ und eingangs anhebt: <strong>„Da</strong> <strong>bin</strong> <strong>ich</strong>, <strong>mit</strong><br />

<strong>allen</strong> Wassern gewaschen / Kommunar<strong>de</strong> ohne Kommune, Revoluzzer ohne Re<strong>ich</strong>“ (55). Wie bei seinen<br />

Generationsgefährten konstatiert auch hier <strong>de</strong>r Sprecher <strong>de</strong>n Verlust eines Hoffnungsortes für eine gerechtere<br />

Gesellschaft, sieht er <strong>de</strong>m Treiben <strong>de</strong>r „Pokergemüter“ aus hinre<strong>ich</strong>en<strong>de</strong>r Distanz zu, reflektiert<br />

<strong>de</strong>n Repräsentanzzerfall <strong>de</strong>r „Poesie“: „Ich sitze in Frie<strong>de</strong>n, ein La<strong>de</strong>nhüter / Und meine Canossaaktien<br />

f<strong>allen</strong> / In <strong>de</strong>n Bilanzenkeller. Die Pokergemüter / Haben längst andres in Onlinekr<strong>allen</strong>" (56) Und doch<br />

ist Pietraß' Resümee kein bitterer Ton unterlegt, son<strong>de</strong>rn durchwoben von melancholischer Heiterkeit.<br />

Das Ged<strong>ich</strong>t en<strong>de</strong>t:<br />

,,(...)<br />

Der Westen will gefressen sein<br />

Schrieb ein entw<strong>ich</strong>ener Schachfreund.<br />

Wir Lemminge folgten hinterdrein.<br />

Da wars n<strong>ich</strong>t halb so gemeint.<br />

Da <strong>bin</strong> <strong>ich</strong>, <strong>mit</strong> <strong>allen</strong> <strong>Himmeln</strong> gewaschen.<br />

Landregen spült mir <strong>de</strong>n Schalkschä<strong>de</strong>l we<strong>ich</strong>.<br />

Die Löcher wachsen in <strong>de</strong>n Taschen.<br />

Ich singe, also <strong>bin</strong> <strong>ich</strong> re<strong>ich</strong>.“ (57)<br />

Die Gegenre<strong>de</strong>n individueller Behauptung im Dennoch und Trotz<strong>de</strong>m lassen sogar verhaltenes Pathos<br />

zu, wenn die erste Verszeile <strong>de</strong>s Ged<strong>ich</strong>ts („<strong>mit</strong> <strong>allen</strong> Wassern <strong>gewaschen“</strong>) symbolisch abgewan<strong>de</strong>lt<br />

wird („<strong>mit</strong> <strong>allen</strong> <strong>Himmeln</strong> <strong>gewaschen“</strong>) und schlusshin Poesie als Bere<strong>ich</strong>erung <strong>de</strong>s Lebens gegen die<br />

eindimensionalen Zurüstungen <strong>de</strong>s Utilitarismus gehalten wird.<br />

Der Gang durch ausgewählte Ged<strong>ich</strong>te <strong>de</strong>r „DDR-68er“ zur „Wen<strong>de</strong>“ - und Deutschlandproblematik<br />

gewärtigt auff<strong>allen</strong>d viele Koinzi<strong>de</strong>nzen, die die These <strong>de</strong>r Generationslagerung erhärten. Eine hochpolitisierte<br />

Lyrikergeneration, die die Vorstellung von <strong>de</strong>r Gesellschaft <strong>de</strong>r Freien und Gle<strong>ich</strong>en we<strong>de</strong>r<br />

verleugnen noch verabschie<strong>de</strong>n will. Eine Lyrikergeneration von Individualisten, die s<strong>ich</strong> hohen Kunstansprüchen<br />

verpfl<strong>ich</strong>tet fühlt. Eine Lyrikergeneration von Nonkonformisten, die vor allem die Misshelligkeiten<br />

<strong>de</strong>r <strong>de</strong>utsch-<strong>de</strong>utschen Vereinigungsobliegenheiten ins Ged<strong>ich</strong>t bringt und diese im wachsen<strong>de</strong>n<br />

Abstand zur „Wen<strong>de</strong>“-Zäsur <strong>mit</strong> gattungsgesch<strong>ich</strong>tl<strong>ich</strong>en Fragen nach <strong>de</strong>s Menschen Zukunft in <strong>de</strong>r<br />

globalisierten Welt verknüpft. Es ist Zeit, ihr mehr Gehör zu schenken.<br />

______________________<br />

(51) Reimann, Andreas: Brief nach karlsbad an k.m .. In: Ebenda, S. 80.<br />

(52) Reimann, Andreas: Dialog. In: Ebenda, S. 6.<br />

(53) Reimann, Andreas: nach <strong>de</strong>r Nie<strong>de</strong>rlage. In: Reimann, Andreas: Gräber und drüber. Ged<strong>ich</strong>te. Leipzig 2010, S. 22f.<br />

(54) Reimann, Andreas: Das letzte Rangsdorfer Sonett. In: Ebenda, S. 128.<br />

(55) Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Halbzeit. In: Pietraß, R<strong>ich</strong>ard: Freigang. Ged<strong>ich</strong>te. Leipzig 2006., S. 12.<br />

(56) Ebenda.<br />

(57) Ebenda, S. 13.

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