Die Natur im Werk Marie Luise Kaschnitz - Monika Wolting
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<strong>Monika</strong> <strong>Wolting</strong> (Wrocław)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Natur</strong> <strong>im</strong> <strong>Werk</strong> <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong>´<br />
„Es wäre fesselnd, zu untersuchen, inwieweit und in welche Richtung hin sich unser Gefühl<br />
für die <strong>Natur</strong> in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. (...) <strong>Natur</strong> wäre in jedem Fall <strong>im</strong><br />
weitesten Sinne zu verstehen, also auch der Baum <strong>im</strong> Großstadthof, der Ölfleck auf dem<br />
Pflaster der Vorstadt, Regen, Wolken, Wind. Der Daseinsempfindung, die ersetzt wird durch<br />
die Empfindung der Bewegung und der Rolle, die den Elementen, den Landschaftsformen<br />
und den Pflanzen und Tieren in der modernen Literatur noch eingeräumt wird, wäre<br />
nachzugehen, auch der Frage, ob die systematische Verwandlung der <strong>Natur</strong>kräfte in<br />
menschengelenkte Energie, also der <strong>Natur</strong> in eine Ernährungsfabrik, überhaupt schon wirklich<br />
zur Kenntnis genommen wird.“ 1 Auf diese Art wird bereits die erste Frage aufgeworfen: Wie<br />
versteht <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong> den Begriff <strong>Natur</strong>? Hier kommt die studierte Biologin zum<br />
Vorschein, so wird sie schon von der Ausbildung her die <strong>Natur</strong> eher <strong>im</strong> weiteren Sinne<br />
verwenden. <strong>Natur</strong> gilt nicht nur als das, was sich aus eigenen Kräften ohne fremdes Zutun<br />
entwickelt 2 , sondern als all umfassender Ursprung des Kosmos und des Seins überhaupt.<br />
Auch „Angst“ und „Geborgenheit“ sind für die Literatin naturbedingt. <strong>Die</strong> Menschen<br />
unterliegen ständig den Kräften der <strong>Natur</strong>, zehren davon und, wie das vor allem aus ihren<br />
früheren <strong>Werk</strong>en herauszulesen ist, stellen zum Teil ihr Abbild dar. In ihrem Essay schreibt<br />
sie weiter: „Vielleicht käme man (bei der Untersuchung, MW) dahin, zu erkennen, daß<br />
eigentliche Betrachtung der <strong>Natur</strong> ein Anliegen des 19. Jahrhunderts war und daß an ihre<br />
Stelle ein Gefühl für das Magische der <strong>Natur</strong>vorgänge getreten ist: das nach ganz anderen<br />
Ausdrucksmitteln verlangt: Etwa nach Zeichen und Bildern, die anscheinend ohne<br />
Zusammenhang, mit der Wirklichkeit doch einen Eindruck vermitteln, der unserem eigenen<br />
Wirklichkeitsgefühl entspricht.“ 3 <strong>Die</strong>s schrieb 1955 <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong> in ihrem<br />
Römischen Tagebuch „Engelsbrücke“, also nach der von vielen Wissenschaftlern<br />
vorgenommenen Abwandlung von Motiven wie Geschichte, Mythen und eben <strong>Natur</strong>. 4<br />
<strong>Kaschnitz</strong> sieht eher eine Entwicklung in der Form des Sehens, und das bezieht sie nicht<br />
unbedingt auf die Ernüchterung durch den Zweiten Weltkrieg, sondern auf den Einbruch einer<br />
neuen Sichtweise vieler Elemente der Kultur, die sich zu Beginn der Moderne vollzog. <strong>Die</strong><br />
Dinge wurden nicht mehr einer direkten Beschreibung unterzogen, sondern kamen durch den<br />
Dichter selbst zur Sprache. <strong>Die</strong>sen Vorgang macht sie zum Thema eines kurzen Textes „Das<br />
rechte Hinschauen“, sie beschreibt die ihr geschenkte Blume in der Tradition des 19. Jhs. mit<br />
allen Details um die „Gehe<strong>im</strong>nisse“ ihrer „Lebensgesetze“ in ihrer „Struktur“ zu erkennen<br />
und wahrzunehmen. 5<br />
<strong>Die</strong> Erfahrungen mit der Landschaft um Königsberg eröffneten für <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong><br />
neue Möglichkeiten für das literarische Schreiben. In Orte schrieb sie: „Ostpreußen, die<br />
kargste Gegend, und wie dort die <strong>Natur</strong> die allermächtigste Wirkung auf mich ausgeübt hat.
Nicht <strong>im</strong> Sinne einer Schwärmerei übrigens, sondern in dem des Feststellenmüssens.“ 6 Aus<br />
dieser Vertrautheit mit weiten, offenen Landschaften resultiert das Gedicht Licht des Ostens<br />
(1932). Hier wird die Weite des Landes, die Wildnis der zum Teil noch von Menschen nicht<br />
berührten <strong>Natur</strong> betont: „Lange scheint es, daß ich dich verlor / Licht des Ostens,<br />
windumwehtes Land. / Lange, daß ich über Wald und Moor / Graue Kraniche <strong>im</strong> Flug<br />
erkannt.“ 7<br />
<strong>Die</strong> Einsamkeit, die Dunkelheit, das Fehlen des Lichts, die Mühe der Arbeit auf dieser<br />
kargen Erde, das natürliche Fließen der Flüsse stand für <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong> in einem<br />
Kontrast zu ihren früheren Erfahrungen in „den süßen Ländern und den dunklen Meeren“ <strong>im</strong><br />
Süden, aus der Zeit wo sie sich länger in Rom und Athen aufhielte. Aus diesem Gegensatz<br />
entstand bei ihr das Erlebnis des Anderen, des Fremden: „<strong>Die</strong> schönen Früchte kannst du<br />
nicht mehr fassen / Der reichen Küste Gabe, Öl und Wein / Du bist derselben nicht, der so<br />
verlassen / Nun bilde ich dich und du bist schon mein. / Du glaubst dich noch ein Gast am<br />
fremden Herde / Und draußen doch <strong>im</strong> Wolkenzug und Licht / Stirbt und erneut und wandelt<br />
sich die Erde / Und wandelte auch dich und läßt dich nicht.“ 8<br />
Der letzte Vers betont die entstandene Bindung zwischen <strong>Kaschnitz</strong> und diesem Land, der<br />
Landschaft um Königsberg. <strong>Die</strong> <strong>Natur</strong> wird sie noch lange Jahre begleiten und wird sich in<br />
ihrem <strong>Werk</strong> widerspiegeln. Der Einfluss dieses Aufenthalts klingt noch einmal in dem<br />
Abschiedsgedicht Abschied vom Osten an. Hier wird noch einmal die Rolle der östlichen<br />
Landschaft für ihr <strong>Werk</strong> deutlich, wie auch für ihre Lebenseinstellung, die sich noch in späten<br />
Essays vernehmen lässt. Es ist eine Literatur, die die <strong>Natur</strong>, in diesem Fall die Landschaft<br />
personifiziert. Das Land übern<strong>im</strong>mt Rolle einer wirkenden, tätigen Person, es ist das<br />
Lyrische-Ich dieses Gedichts, das einen direkten und bewusst formulierten Einfluss auf die<br />
Reisende – auf das Du ausübt. „Ich schenke dir ein Hauch der Frühe / <strong>Die</strong> Traumgebilde<br />
dunkler Zeit / <strong>Die</strong> tiefe Lust bestandener Mühe / Den hohen Mut der Einsamkeit. / Du wirst<br />
dich meiner oft entsinnen / Wo Winde über Ebenen fliehen / Wo große Ströme meerwärts<br />
rinnen / Und Segel mit den Strömen ziehen / Und Wolken formen mein Gesicht / Zieh hin, du<br />
wirst nicht wiederkehren / Vergessen aber wirst du nicht.“ 9<br />
Wie vorausschauend <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong> die prägende Rolle der Königsberger Jahre<br />
und zum anderen den weiteren Verlauf ihres Lebens einschätzte, ist aus ihrem <strong>Werk</strong> (z.B. das<br />
Märchen Der alte Garten) und ihrer Biographie zu entnehmen. Sie ist tatsächlich nie mehr<br />
nach Königsberg zurückgekehrt.<br />
Aus den vorangestellten Textbeispielen wird deutlich, dass es sich bei <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong><br />
<strong>Kaschnitz</strong> nicht um eine Form der Verherrlichung der <strong>Natur</strong> handelt, sondern dass die<br />
Beschäftigung mit ihr aus best<strong>im</strong>mten Erlebnissen, Erfahrungen resultierte und sich in einem<br />
ständigen Wandeln und Dazulernen befand. Jahre später spricht die Schriftstellerin jedoch<br />
von dem „Verlust des engen <strong>Natur</strong>verhältnisses“ aus der Königsberger Zeit: „Während der<br />
vorangegangenen ostpreußischen Jahre (...) war ich von der <strong>Natur</strong> bis zur Besessenheit<br />
angerührt worden, diese Besessenheit hatte mich auch zu Courbet hingeführt, aber sie war<br />
vorüber. <strong>Die</strong> Politik, als Schicksal, der Mensch <strong>im</strong> Räderwerk historischer Ereignisse, der
Mensch überhaupt – die Courbet-Biographie bildet einen Wendepunkt in meiner<br />
künstlerischen und menschlichen Entwicklung.“ 10 Das starke Interesse an den Menschen<br />
evozierte in ihr eine neue Auffassung der <strong>Natur</strong>, die <strong>Natur</strong> nicht als Selbstzweck der<br />
Schöpfung, sondern <strong>im</strong> <strong>Die</strong>nste des Menschen, als Garten, als Landschaft für Spaziergänge,<br />
als Arbeitsfeld. <strong>Die</strong> Mythologisierung und Utopiesierung der <strong>Natur</strong> lässt sich in ihrem<br />
späteren <strong>Werk</strong> nicht mehr nachweisen. <strong>Die</strong> Frage nach dem Verhältnis Mensch – <strong>Natur</strong> bleibt<br />
aber für sie nach wie vor aktuell. Dazu äußert sie in den 70er Jahren in einem Essay ihre<br />
Verbitterung über die Einstellung ihrer Zeitgenossen zur <strong>Natur</strong>.<br />
<strong>Kaschnitz</strong> schreibt: „Leute, die sich für die Landschaft begeisterten, ihre Reize<br />
schilderten und das Glücksgefühl hervorhoben, das sie ihr verdankten, galten schon um die<br />
Mitte unseres Jahrhunderts als weltfremde Schwärmer, als Spitzweg-Sonderlinge, bestenfalls<br />
als Gesundheitsapostel.“ 11 Auch die Zuordnung aller Kulturmenschen, die sich in ihrem <strong>Werk</strong><br />
der <strong>Natur</strong> zugewendet haben, zur Blut-und-Boden-Richtung bedeutete einen Verlust für die<br />
Entwicklung der deutschen Kultur, auch der Alltagskultur nach 1945. Es wird auch deutlich<br />
an anderen Schriftstellern, wie z.B. Hermann Hesse, der „Gartenzwerg“ genannt, lange Jahre<br />
für die deutsche Literaturgeschichte von geringem Interesse war. Aus der „Umwertung der<br />
Werte“ Ende der 60er und Anfang der 70er resultiert folgende Äußerung: „(...) daß jetzt die<br />
alte <strong>Natur</strong> den Namen Umwelt bekommen hat, zeigt, daß sie uns wieder angeht, nicht für sich<br />
da ist, sondern um uns herum, zu unserem Gedeih und Verderb.“ 12 Es wird damit offenbar,<br />
dass für <strong>Kaschnitz</strong> die Frage der <strong>Natur</strong> in ihrem <strong>Werk</strong> und Leben <strong>im</strong>mer präsent war. Sie hat<br />
sich der Botschaft, die die <strong>Natur</strong> <strong>im</strong>mer beständig verkündet, von dem Gedeihen und<br />
Verderben, oder um mit Goethe zu sprechen, von dem „Stirb und Werde“, nie abgewendet.<br />
In dem Essay Von der <strong>Natur</strong> bezeichnet <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong> die <strong>Natur</strong> als „Sinnbild<br />
eines seliges Lebens“ 13 . Der Mensch leistet ihr gegenüber oft Widerstand, will sie zerstören,<br />
vernichten, um nicht in das „selige Gesicht“ zu schauen. „Fremd und feindlich erscheint dem<br />
Leidenden die Gelassenheit der <strong>Natur</strong>“. <strong>Die</strong> „wunderbare“ und zugleich „schreckliche<br />
Unberührtheit, mit der sich hart neben den Leiden und Ängsten der Menschen das<br />
<strong>Natur</strong>geschehen vollzieht“ 14 , kommt dem zuschauenden Menschen befremdlich und<br />
abstoßend vor, er findet in der <strong>Natur</strong> keine Linderung seiner Qualen und Leiden. Aber durch<br />
das dauerhafte Dasein der <strong>Natur</strong> und ihre unbekümmerte Existenz gibt sie andererseits einen<br />
Halt und ein Beispiel.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Natur</strong> bei <strong>Kaschnitz</strong> beinhaltet eine Dichotomie in sich: Sie ist „wunderbar“ und<br />
„schrecklich" zugleich, verbreitet sowohl heilende als auch zerstörerische Kräfte. <strong>Die</strong> <strong>Natur</strong><br />
führt ihre Existenz neben der Existenz des Menschen. Der Mensch fühlt sich von ihr nicht <strong>im</strong><br />
seinen Leiden aufgefangen, er kann von ihr keine Hilfestellung erwarten. Aus dieser<br />
grundlegenden Enttäuschung, auch in den Gesetzen der <strong>Natur</strong> keinen Trost gefunden zu<br />
haben, entstand das Gedicht unter dem schon <strong>im</strong> oben genannten Essay anklingenden Titel:<br />
Gelassene <strong>Natur</strong> (1944): „Was kümmert dich, <strong>Natur</strong>, / Des Menschen Los? / Du hegst und<br />
achtest nur / <strong>Die</strong> Frucht in deinem Schoß / Nicht stören deine Ruh / Der Lärm der Schlacht; /<br />
Nicht weinst und wachest du / Mit dem der wacht“ 15
Derselbe Gedanke wird noch einmal in dem Text Von der <strong>Natur</strong> angedeutet: „Nur dem<br />
Werden gilt das menschliche Bemühen, wie einen Mantel schlägt sie das Nicht-Wissen um<br />
die zukünftige Frucht.“ 16 <strong>Die</strong> <strong>Natur</strong> verfügt über eigene Gesetze, führt die eigene Best<strong>im</strong>mung<br />
aus. Der Schrecken der Ausgewogenheit, der Gelassenheit, das Fehlen des Raumes für Freude<br />
und Schmerz, das zyklische Geschehen, das Fehlen von Ausnahmen sind weitere Vorwürfe,<br />
die der <strong>Natur</strong> gemacht werden. <strong>Kaschnitz</strong>´ Gedanken bleiben jedoch sowohl in diesem Text<br />
als auch in dem Gedicht Gelassene <strong>Natur</strong> nicht einseitig: <strong>Die</strong> Autorin, bzw. das lyrische Ich<br />
preisen die Gesetzmäßigkeit der <strong>Natur</strong>, ihre starke Bindung an den Menschen. <strong>Die</strong> Erde<br />
n<strong>im</strong>mt jeden Leichnam in sich auf, „gleichviel (...) wer wen erschlagen hat.“ Das ist jene<br />
Gesetzmäßigkeit der <strong>Natur</strong>, die trostspendend wirkt. <strong>Die</strong> Kräfte des Vergessens, des schnellen<br />
Heilens der Wunden, werden in beiden Texten gewürdigt. „Aber morgen schon ist alles wie<br />
anders! Trost über Trost weht von dem jungen Baum, von den zarten Halmen der Acker, von<br />
den Wasserschleiern des Baches in das entmutigte Herz.“ 17 Das Geschehen in der <strong>Natur</strong> ist für<br />
den Menschen „das ergreifende Zeugnis dafür, daß das Leben weitergeht, ruhig atmend,<br />
unschuldig und stark.“ 18 Und er, der Mensch ist ein unzertrennlicher Teil der <strong>Natur</strong>, sie<br />
gebiert und sie vernichtet und „der Mensch ist ein Teil der Schöpfung, unterliegt ihrem<br />
Gesetz.“ 19 Zu ihrem Gesetz gehört, so <strong>Kaschnitz</strong> weiter in ihrem Essay, das Vernichten, das<br />
Bringen des Todes und wieder die Aufnahme in die Erde. Als Beispiel dieser vernichtenden<br />
Kraft fügt sie das Bild eines verwildernden Gartens an: „Kein Inferno der Phantasie kann die<br />
Qualen wiedergeben, denen in einem verwilderten Garten die von ihresgleichen<br />
umklammerten und erstickten Gewächse preisgegeben sind.“ 20 Eine ähnliche Darstellung<br />
befindet sich <strong>im</strong> Essay Das Gesicht der He<strong>im</strong>at. Hier wird die Gewalt der wilden <strong>Natur</strong> über<br />
den von Menschen Hand angelegten Garten deutlich: „<strong>Die</strong> Fortschritte, welche die Zerstörung<br />
und der Verfall in einem unbehüteten Garten machen, treten nicht unmittelbar in Erscheinung.<br />
Erst wenn man eine ganze Weile umhergegangen ist, entdeckt man die Spuren der furchtbaren<br />
und vergeblichen Anstrengung, mit der sich die edleren Gewächse gegen die wuchernde<br />
<strong>Natur</strong> aufrecht zu halten versuchen. Denn nun hilft ihnen niemand mehr, sich aus der<br />
tödlichen Umklammerung der zähen Ranken zu befreien, niemand schützt ihre Wurzeln vor<br />
dem nagenden Zahn der Mäuse.“ 21 In dieser Beschreibung fällt eine Abgrenzung der wilden,<br />
wuchernden <strong>Natur</strong> von den „edlen Pflanzen“ auf, die des Gärtners Hand gepflanzt hatte. <strong>Die</strong>se<br />
Ausdifferenzierung ist für das Spätwerk seit den 50er Jahren) von größter Bedeutung.<br />
<strong>Kaschnitz</strong> plädiert für die Bejahung der <strong>Natur</strong>, für die Bereitschaft, die „Erscheinungen<br />
des Kosmos´ hinzunehmen“. <strong>Die</strong>s schafft ihrer Meinung nach, aus den Menschen die „Kinder<br />
der <strong>Natur</strong>“, die an den „ewigen Rhythmen von Tag und Nacht, Frühling und Herbst, Ebbe und<br />
Flut“ 22 Teil nehmen dürfen.<br />
In die so verstandene Welt fügt <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong> das Phänomen der<br />
„unsterblichen Seele“ ein, „die Vernunft, die sich der <strong>Natur</strong> entzieht, in der (der Vernunft)<br />
kein Platz für das Unbewußte, Dumpfe, Ungerade, Geschwungene, Wilde“ 23 findet. <strong>Die</strong><br />
unsterbliche Seele, die Vernunft, stellen für <strong>Kaschnitz</strong> das zweite dem Menschen inhärente<br />
Element dar. Sie macht deutlich, dass dies in dem Menschen genauso wie die „Erinnerung an
den Mutterschoß der <strong>Natur</strong>“ angelegt ist. Für die Vernunft sind die Gesetze der <strong>Natur</strong>, die<br />
Gesetze vom „Werden und Vergehen“ „undeutlich“, „sklavisch“ und „stupide“. Sie verlangt<br />
nach einer „Klarheit, Helligkeit, Einsicht“. 24 <strong>Kaschnitz</strong> schreibt weiter in Form eines<br />
Manifestes: „Endlich soll der Geist herrschen, der die Leiden des Menschen verringert“.<br />
<strong>Die</strong>sen Geist verortet sie in das Reich Gottes. Aus diesem Gedanken könnte man das Urbild<br />
des Gartens ableiten. <strong>Die</strong> <strong>Natur</strong> wurde durch die Idee und mathematische Ausführung eines<br />
Gartenplans gezähmt. Im Paradiesgarten herrscht Geometrie, Symmetrie, Vernunft und in<br />
seiner Mitte wächst der Baum der Erkenntnis. <strong>Die</strong> einzige Überwindung der schönen wie<br />
zugleich schrecklichen <strong>Natur</strong> sieht die Autorin in dem „noch <strong>im</strong>mer gebeugten Haupt des<br />
Menschen, der weiß und doch leidet, der aufbegehrt und sich endlich doch hingibt an das<br />
Ganze des Seins“. In der Verbindung von <strong>Natur</strong> und Gott will <strong>Kaschnitz</strong> nach Erlösung für<br />
den Menschen suchen. Der Paradiesgarten verbindet diese beiden Prinzipien und stellt<br />
Einklang zwischen ihnen her. <strong>Die</strong> <strong>Natur</strong> verwandelt sich unter der Hand Gottes, des ersten<br />
Gärtners, in ein wohlgeordnetes, lichtes Gebilde. Im Frühwerk der Schriftstellerin wird die<br />
<strong>Natur</strong> in ihrem ungezähmten, wilden, übermächtigen Wesen dargestellt. Das spätere <strong>Werk</strong><br />
verzichtet weitgehend auf die Schilderung dieser Begeisterung über die <strong>Natur</strong>, es ist eher eine<br />
vom Menschen geformte und gebildete <strong>Natur</strong>, wo nicht nur die Gesetze der <strong>Natur</strong> herrschen,<br />
sondern auch die Gesetze der Vernunft sichtbar werden. Dazu gehören Parkanlagen und<br />
Gärten.<br />
Das Spektrum der Beschäftigung mit dem Gartenmotiv ist bei <strong>Marie</strong> <strong>Luise</strong> <strong>Kaschnitz</strong><br />
umfangreich. <strong>Die</strong> Bedeutung des Motivs für ihr Schreiben wird auch an der folgenden<br />
Aufzählung einige Beispiele ihrer <strong>Werk</strong>e sichtbar: Es tritt auf <strong>im</strong> Roman Elissa (1937), <strong>im</strong><br />
Märchen Der alte Garten (1939), <strong>im</strong> lyrischen <strong>Werk</strong> z.B. Spiel der Wünsche (1929),<br />
Hochsommer (1935), <strong>Die</strong> Winde (1937), He<strong>im</strong>at (1950), Hirosch<strong>im</strong>a (1957), Sog der Wolken<br />
(1970), in den Erzählungen Der Gärtner (1948-1955), Gewisse Gärten (1963), Adam und Eva<br />
(1983) sowie in mehreren Essays und autobiographischen Prosafragmenten, die sie <strong>im</strong> Laufe<br />
ihres gesamten schriftstellerischen Lebens niederschrieb.
1<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, Gesammelte <strong>Werk</strong>e. Frankfurt am Main 1981-1982, II, S. 257.<br />
2<br />
Vgl.: Das neue Taschenlexikon, Bertelsmann 1992, S, 45.<br />
3<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW II, S. 257.<br />
4<br />
Vgl.: Kirchner, Doris: Doppelbödige Wirklichkeit. Magischer Realismus und nicht-faschistische Literatur. Tübingen<br />
1993, S. 47.<br />
5<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW II, S. 256.<br />
6<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW III, S. 466.<br />
7<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW V, S. 69.<br />
8<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW V, S. 63.<br />
9<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW. V, S. 68.<br />
10<br />
Kirchner, S. 65<br />
11<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW III, S. 826.<br />
12<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW III, S. 826.<br />
13<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 16.<br />
14<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 15.<br />
15<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW V, S. 124.<br />
16<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 15.<br />
17<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 15.<br />
18<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 15.<br />
19<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 18.<br />
20<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 17.<br />
21<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 381.<br />
22<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 19.<br />
23<br />
<strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 19.<br />
24<br />
Vgl.: <strong>Kaschnitz</strong>, GW VII, S. 19.